Rechtsordnung und Ethik der Solidarität: Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten 9783050047911, 9783050045504

In dieser Monographie wird, beginnend mit einem biographischen und zeitgeschichtlichen Grundriss, zum ersten Mal das umf

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German Pages 409 Year 2009

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Rechtsordnung und Ethik der Solidarität: Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten
 9783050047911, 9783050045504

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Gerd Irrlitz Rechtsordnung und Ethik der Solidarität Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

Sonderband

22

Gerd Irrlitz

Rechtsordnung und Ethik der Solidarität Der Strafrechtler und Philosoph Arthur Baumgarten

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004550-4 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2008 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Frank Hermenau, Kassel Druck: MB Medienhaus Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

Arthur Baumgarten (1884 – 1966)

Der Erinnerung an die deutschen antifaschistischen Intellektuellen gewidmet, deren Mut, ‚Wer, wenn nicht Du, wann, wenn nicht jetzt‘, und deren Zuversicht, dass der Mensch berufen ist, Neues zu beginnen, aus seinen Erfahrungen zu lernen und sich zu seinen Entscheidungen zu bekennen.

Inhalt

Vorwort ........................................................................................................................ 13

Erstes Kapitel Biographie, die Schriften, Leitthemen ................................................................ 17 1. Herkunft. Lebensweg ............................................................................................. 17 2. Die Schriften .......................................................................................................... 21 3. Leitideen ................................................................................................................. 23 a) Sensualistischer Pragmatismus in Philosophie und Rechtswissenschaft .......... 23 b) Neuer Idealismus und erfahrungswissenschaftliche Metaphysik ...................... 27 c) Aufnahme des Marxismus ................................................................................. 30 4. Wendung zum Sozialismus ..................................................................................... 37 a) Reflexion politischer Erfahrung ........................................................................ 38 b) Rechtstheoretische Erneuerungen ..................................................................... 44 5. Spätzeit in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft ............................................. 48

Zweites Kapitel Philosophie des Strafrechts .................................................................................... 63 1. Philosophische Probleme des Strafrechts. Sensualistisch-intersubjektive Begründung des Schuldbegriffs und des Vergeltungsstrafrechts .......................... 63 2. Die strafrechtlichen Arbeiten ................................................................................ 73 3. Eine Nachbemerkung ........................................................................................... 75 4. Einflüsse Adolf Merkels, Ernst Belings, Josef Kohlers, Hold v. Fernecks ........... 77 5. Die Lehre von der Idealkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz (1909) ................... 81 6. Recht und Moral in Baumgartens Vergeltungstheorie. Die sensualistische Tradition ............................................................................................................... 82 7. Irrationalität des Verbrechens und rationales Strafrecht Sensualistische Verbindung moralischer und rechtlicher Gesichtspunkte ............ 89 8. Vergeltungsstrafe und Vergeltungsgefühl ............................................................. 93 9. Baumgartens strafrechtlicher Schuldbegriff ......................................................... 95 10. Baumgartens Kritik einiger Interpretationen der Vergeltungstheorie ................... 99 11. Naivität der Baumgartenschen Strafrechtsphilosophie? ..................................... 102

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INHALT

12. Das Vergeltungsprinzip im Aufbau der Verbrechenslehre (1913) Rechtsbewusstsein und assoziierendes Verpflichtungsgefühl ............................. 104 13. Der Begriff des Rechtsverhältnisses .................................................................... 107 14. Rückführung materialer Elemente ins Strafrecht. Bindung des Strafrechts ans rechtliche Volksempfinden. Kritik der Begriffsjurisprudenz ........................ 108 15. Die Fragestellung von 1922: gegen Praktizismus; für eine philosophisch geführte Strafrechtswissenschaft ......................................................................... 113 16. Rückblick: Baumgartens frühe psychologische Verbrechens- und Straftheorie....115 17. Die strafrechtliche Fragestellung 1933 und 1939 ................................................ 120 18. Baumgarten und die soziale Zweckidee des Strafrechts in der DDR Die letzte strafrechtliche Schrift Die Idee der Strafe (1952) ............................... 124 19. Exkurs: Rechtsphilosophie des Strafrechts bei Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841): Recht als positiv fixierte Kommunikation .................................. 128

Drittes Kapitel Rechtsphilosophie ................................................................................................. 136 I. Baumgartens rechtsmethodische Fragestellung in ihrer Zeit ............................... 136 1. Erfahrungswissenschaftliche Methode der Rechtsbegründung ....................... 136 2. Allgemeine Leitsätze des Rechts. Begriffsjurisprudenz .................................. 142 3. Baumgarten über das logische Problem der Rechtsgenese ............................. 145 4. Kritik des neukantianischen Dualismus .......................................................... 147 5. Moralische und rechtliche Rationalität, Perfektibilitätsprinzip in Moral und Recht .......................................................................................... 152 6. Die konstruktive Rationalität des Rechts im teleologischen Sinne ................. 155 II. Baumgartens Rechtsbegriff .................................................................................. 159 1. Rechtserfahrung .............................................................................................. 159 2. Zugang zum Rechtsbegriff über die Sprache .................................................. 161 3. Positivität und Geltung .................................................................................... 165 4. Rechtszwang .................................................................................................... 170 III. Recht und Moral .................................................................................................. 171 1. Sensualistischer Pragmatismus und Theorie der Handlungsantriebe .............. 171 2. Moral als Grundlage des Rechts in der Tradition des Sensualismus und Liberalismus ............................................................................................. 172 3. Moral und Evolution des Rechts bei Baumgarten ........................................... 176 4. Metaphysische Verankerung des Rechts ......................................................... 177 5. Verschiedenheit von Moral und Recht ............................................................ 179 6. Krise der sensualistischen Moralphilosophie .................................................. 184 7. Baumgartens empiristische Grundlegung der Rechtsphilosophie ................... 187 8. Recht und Gerechtigkeit. Privatrecht, öffentliches Recht und „das Wirtschaftsrecht der Zukunft“ .......................................................... 192 9. Zwei Hauptpunkte des Völkerrechts bei Baumgarten ..................................... 198

INHALT

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Viertes Kapitel Philosophie ............................................................................................................. 201 I. Zwei unterschiedliche philosophische Einflusslinien ........................................... 201 1. Pragmatismus .................................................................................................. 201 2. Schopenhauer und das zivilisationskritische Denken des späten 19. Jahrhunderts ............................................................................. 206 3. Resultat: Aufklärerischer Eklektizismus ......................................................... 211 II. Erfahrungs- und Wahrheitsbegriff ........................................................................ 213 1. Empirismus ...................................................................................................... 213 2. Juridische Muster der Theoriebildung ............................................................. 216 3. Empiristischer Erkenntnisbegriff im handlungstheoretischen Horizont .......... 218 4. Der Wahrheitsbegriff ....................................................................................... 220 a) Die pragmatistischen Prämissen. „Diskurse“ ............................................. 220 b) Das Korrespondenzproblem im empiristischen Wahrheitsbegriff ............. 224 c) Erkenntnisantinomie .................................................................................. 225 III. Der Empirismus in der neuzeitlichen Philosophie ............................................... 227 1. Die Grundzüge ................................................................................................ 227 2. Der empiristische Wissensbegriff als Modell sozialer Evolution .................... 234 3. Widersprüche in den sensualistischen Erkenntnis- und Sozialisierungstheorien ....................................................................................236 4. Zusammenfassung wissenschaftslogischer Schwierigkeiten des Sensualismus .239 5. Gestaltpsychologie. Neue Begründungsmöglichkeiten des Empirismus ........ 241 6. Sensualistische Sozialisierungsthematik ......................................................... 243 Exkurs: Der konservativ-romantische Erfahrungsbegriff ..................................... 247 IV. Baumgartens Pragmatismus in der philosophischen Konstellation der Zeit ....... 253 1. Vier Grundlinien .............................................................................................. 253 2. Der Weltkrieg .................................................................................................. 255 3. Baumgartens frühe Fragestellung: Antinomik des Daseins gegen Schopenhauers Pessimismus ................................................................. 264 4. Eudämonismus und Liberalismus, aber Individualismus-Kritik ..................... 268 5. Gefühl, Wille, Intellekt. Baumgartens kommunikativer Subjektbegriff .......... 271 6. Der Gegensatz Liberalismus – Antiliberalismus in der deutschen Philosophie der Zeit ............................................................................................................ 274 7. Ausbildungsschritte des Baumgartenschen Liberalismus ................................ 285 8. Das Urteil über das 19. Jahrhundert in den liberalen und antiliberalen Theorien .......................................................................................................... 288 9. Baumgarten über das 19. Jahrhundert ............................................................. 293 10. Baumgartens Liberalismus im Übergang zur Fragestellung nach der sozialen Demokratie. Verfassungsrecht ............................................ 295 V. Die Gliederung der Philosophie Baumgartens ..................................................... 297 1. Philosophie als Wissenschafts- und als Weisheitslehre. Überschreitung des individualistischen Ansatzes der sensualistischen Moralphilosophie ....... 297 2. Antinomik ....................................................................................................... 304

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INHALT 3. Moralphilosophie ............................................................................................ 311 a) Moralistik ................................................................................................... 311 b) Das Problem der methodischen Struktur des moralischen Sensualismus. Der Eudämonismus .................................................................................... 314 c) Das Sollen und die Willensfreiheit; deren Kern: die Handlungsteleologie 316 d) Übergang zum moralischen Sollen ............................................................ 320 e) Der Andere in der Willensbildung und das Altruismusproblem. Pluralismus ................................................................................................. 323 f) Altruismus: Smith, Spencer, Psychoanalyse, Tarde .................................... 329 4. Natur und Geschichte ...................................................................................... 336 a) Empirismus und Systemphilosophie .......................................................... 336 b) „Krise der Anschauung“, Veränderungen in den Wissenschaften, die den Empirismus des 19. Jahrhunderts überschreiten ließen ................. 337 c) Baumgartens Empirismus in der veränderten naturwissenschaftlichen Problemlage. Entelechie – Prinzip Driesch ................................................ 340 d) „Bürokratisierung des Herrschaftsverhältnisses“ (Kocka) – Empirismus und die Veränderungen der Gesellschaft durch fortschreitende industrielle Revolution in Deutschland ...................................................... 345 e) Gestaltpsychologie und neuer Empirismus ................................................ 350 f) Neuer Empirismus und Geschichtsphilosophie .......................................... 356 5. Ästhetik und Künste ........................................................................................ 358 a) Ästhetische Erfahrung ................................................................................ 358 b) „Gefühle weisen über sich selbst aus“. Kritik einer ästhetischen Weltanschauung ......................................................................................... 361 6. Evolutionistische Metaphysik ......................................................................... 363

Dokumentenanhang .............................................................................................. 373 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Helmuth Plessner an Arthur Baumgarten, 30.3.1923 ........................................... 375 Brief und Gutachten Felix Meiners, 5.5.1923........................................................ 377 Karl Engisch: Rezension über: Arthur Baumgarten: Der Weg des Menschen ..... 380 Hans Driesch an Arthur Baumgarten, 12.2.1933 .................................................. 383 Die Schweizer National-Zeitung zu Arthur Baumgartens 50. Geburtstag ............ 384 Helmuth Plessner an Arthur Baumgarten, 6.4.1934 ............................................. 386 Hans Driesch an Arthur Baumgarten, 9.3.1939 .................................................... 387 Thomas Mann an Arthur Baumgarten, 30.5.1939 ................................................. 388 Anzeige und Besprechung von Arthur Baumgartens Grundzüge der juristischen Methodenlehre in der Schweizer National-Zeitung ..................... 389 10. Bericht Arthur Baumgartens an Dr. C. Miville, Herbst 1947 ............................... 391 Siglenverzeichnis ....................................................................................................... 402 Personenverzeichnis .................................................................................................. 403

Vorwort

Arthur Baumgarten war in der deutschen Philosophie des vergangenen Jahrhunderts der Vertreter des sensualistischen Pragmatismus der Richtung von James und Dewey gewesen. Sein Außenseitertum in den Zeiten des Neukantianismus, der Phänomenologie, der neuen Ontologie, der Lebens- und der Existenzphilosophien stellte sich als eine Vorwegnahme heraus, sieht man auf die voranführenden Linien der bundesdeutschen Philosophie seit den späten sechziger Jahren. Baumgarten repräsentierte in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft und Philosophie bereits während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts den Typus des liberalen westeuropäischen Intellektuellen und hatte zum kleinen Kreis der Akademiker gehört, die für die erste deutsche Demokratie einstanden und aus der bedrückenden Erfahrung heraustraten, wie J. Locke es genannt hatte, der „überwuchernden Vorurteile, dünkelhafter Anmaßung und der Einschränkung des geistigen Gesichtskreises“. (Über den richtigen Gebrauch des Verstandes, Leipzig 1920, S. 4) Als 1933 viele die Augen niederschlugen, auf die es angekommen wäre, verweigerte er sich und erwies sich als ein Liberaler für den Ernstfall. Die willfährige Preisgabe des Rechtsstaates durch die Oberschichten damals, um dessen sozialstaatlicher Evolution zu begegnen, war und blieb für ihn die deutsche Katastrophe des Jahrhunderts. Der Empirismus bildet, bei verschiedenen Ausformungen seiner langen Geschichte, die einzige durchgehende philosophische Arbeitsrichtung und Überzeugung der europäischen Philosophie. In seiner sanften Sachlichkeit, von Montaignescher Ironie erheitert, wenn von den Höhen der Spekulation die Geringschätzung seiner Plausibilität herabklang, spricht die Unnachgiebigkeit der Wahrheit. Unter allen philosophischen Strömungen vermag er es am wenigsten, zur Schule zu gerinnen. Er bleibt Methode des kulturellen Selbstverständnisses, und er gestattet dem Philosophen nicht, sich vor dem Echo seiner Worte aus dem Zeitgeschehen taub zu stellen. Aus diesen Gründen erschien die Zeichnung des Baumgartenschen altruistischen Eudämonismus und Utilitarismus gerade im Panorama der theoretisch so inkonsistenten deutschen Philosophie des frühen 20. Jh.s lohnend. Demokratie und Empirismus gehen auf gleichem Wege.1

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H. Hofmann sagte von der Staatsgründungsfunktion des Menschenwürde-Satzes des Grundgesetzes gegen spekulativ überlagernde Auslegungen: es sei „ein Grundsatz für ein säkulares, pluralistisches, freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen, was notwendigerweise den common sense zum Maßstab macht.“ (H. Hofmann, Methodische Prinzipien der Menschenwürdeinterpretation, in:

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VORWORT

Zugleich möchte die Studie den Blick auf das Gesamtwerk eines großen liberalen und zuletzt sozialistischen deutschen Philosophen und Rechtswissenschaftlers lenken. Die Einheit dieses Werkes wird übersehen und bleibt gar vergessen, wenn man z. B. Baumgartens sozialistische Entscheidung, um mit dem Titel des markanten Buches P. Tillichs von 1933 zu sprechen, und wenn man Baumgartens Aufnahme marxistischer sozialphilosophischer Theoriestücke als einen Abweg verkennt. Auf der anderen Seite wird sie ebenso vertan, wenn die Schriften der ersten drei Jahrzehnte des hoch geschätzten Strafrechtlers und Philosophen für eine seiner marxistischen Periode vorausliegende diffuse Masse angesehen werden. Das waren keine „Frühschriften“, mit denen man verfahren kann, wie seinerzeit der Schulmarxismus mit Marx’ Arbeiten der ersten vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Baumgarten hatte 1944, in der Zeit der sozialistischen Fortbildung seines Sozialliberalismus, das 60. Lebensjahr vollendet. Das zerteilende Unverständnis auf beiden Seiten übergeht Baumgarten als einen der wenigen unbeirrten Vertreter des sensualistischen Pragmatismus und sozialen Liberalismus in der deutschen Philosophie und Rechtsphilosophie der Weimarer Zeit. Wieder, wie schon während des Ersten Weltkriegs, erwies erfahrungsgeleitete Philosophie sich als unverbiegbar. Doch Baumgarten hatte in der Schrift seines Übergangs zu Marxschen methodischen Maximen, in den Grundzügen der juristischen Methodenlehre von 1939, in rechtsmethodischer Hinsicht nur vorweggenommen, was von der bundesdeutschen Rechtsphilosophie seit den sechziger Jahren nachgeholt wurde: die Verbindung der juristischen (und mitgehend der philosophischen) Methodenlehre mit soziologischen und politikwissenschaftlichen Methoden und Theorien. Allerdings geschah dieser nachholende Fortschritt zur gleichen Zeit, da sich einer der wesentlichen Unterschiede zwischen jener vergangenen Konstellation und der heutigen herausbildete. Als Baumgarten seinen Sozialliberalismus zum damaligen Sozialismus fortführte, gab es eine politische Arbeiterbewegung, also ein in die Härte des sozialen Daseins eingefügtes Transformationsprogramm gegenüber der spezifischen privatkapitalistischen Form der industriellen Gesellschaft. Heute gibt es diese Bewegung nicht mehr. Unausweichlich erfolgte die Selbstauflösung der sozialistischen Gesellschaften, die auf jenes Programm eines spezifisch proletarischen Sozialismus bezogen gewesen waren. Inzwischen sind viele von dessen Komponenten nicht mehr diskussionsfähig. Aber die um einen Jahrhundertschritt vorangekommene industrielle Zivilisation zeigt neuartige Heraussetzungen sozialer Pariaschichten, so sehr, dass unwürdige Beeinträchtigungen von Lebensgestaltungen die Postulate des sozialen Rechtsstaates europäischer Tradition in Frage zu stellen beginnen.2 Ökonomisierung der industriellen Prozesse und

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I. Appel/G. Hermes, Mensch-Staat-Umwelt, Wiss. Abh. u. Reden z. Philosophie, Politik u. Geistesgeschichte, Bd. 48, Berlin 2008, S. 67) Innerhalb der zehn Jahre von 1997 bis 2007 veränderte sich das Verhältnis von Normalarbeitsverhältnissen und den sog. atypischen, bei Einkommen und sozialer Sicherung zurückgesetzten, Teilzeit-, Zeit- und Leiharbeitsverhältnissen von 82,5:17,5 zu 74,5:25,5 Prozent. Gegenwärtig sind in Deutschland acht Millionen Menschen, das sind jeder zehnte Bürger, auf Sozialzuschüsse für ihre Lebensführung angewiesen, die eine Summe von 45 Milliarden Euro erreicht haben; neben Investi-

VORWORT

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Entsicherung der Arbeitswelt gehen im gleichen Schritt. Materieller Mangel in einem Kreis betroffener Familien über bestimmten Radius innerhalb einer Zivilisation hinaus greift den sozialen Zusammenhalt an. Fast mehr noch wirkt dahin die Erfahrung des Verlusts elementarer Verfahrensgerechtigkeit in den Betrieben bei den Beschäftigten in Zeit- und Leiharbeitsverhältnissen. Ein neuer Typus des pauperisierten europäischen Bürgers entsteht, jetzt ohne das Bild einer besseren Welt durch soziale Bewegung. Eine kurze Periode sozialer Sicherheit für die lohnabhängigen Schichten in den entwickelten Industriegesellschaften neigt sich ihrem Ende zu. Sie hinterlässt ein bedeutendes Erbe integrationistischer wirtschafts- und verfassungsrechtlicher Theorien und praktischer Lösungen für den Erhalt der Rechtsgemeinschaft der Bürger. Es muss sich zeigen, wie weit die sozialstaatlichen Einlassungen – soziale Palliative der Gerechtigkeit – ins privatwirtschaftliche Gefüge und in das verfassungsrechtliche Verständnis der Erwerbsfreiheit und der Eigentumsgarantie reichen können, um eine Rechtsgemeinschaft im Verständnis des europäischen Sozialliberalismus zu erhalten. Arthur Baumgartens Werke bezeichneten in ihrem anhaltenden Fortgang auch dieses Problem. Da neue Herausforderungen an die Stabilität unserer Lebensformen eintreten, die doch immer auf Bindungskräfte realer, von den Individuen selbst mitgeschaffener Gemeinwohlerfahrung angewiesen bleiben, erscheint es lohnend, einmal den Weg rückwärts zu den Theorien zu beschreiten, in denen sich, um Kurt Lewins Wort zur psychischen Genese zu benutzen, „Verhaltensweisen“ noch im „Kreis von Möglichkeiten“ ausgesprochen fanden. (Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin 1926, S. 14) Baumgartens weit ausladendes Werk des sensualistischen Empirismus öffnet sich uns mit seiner unbeirrten, wenn auch exemplarisch enttäuschten, Zuversicht für die menschliche Zuneigung zu intellektuellen Auflösungen kultureller Unzuträglichkeiten vor deren Anstieg zum sozialen Kriegsfall. Der immer wie geistig experimentierende, jedem Fragenden freundlich aufgeschlossene Gelehrte, bei einem schon kleiner gewordenen Kreis von Zeitgenossen als ein wundervoller akademischer Lehrer in Erinnerung, er bewegte sich mit der wohlbeschlagenen Selbstverständlichkeit auf den Themenfeldern des großen europäisch-amerikanischen Zeitalters der Aufklärung, als sollte es nie vergehen können. Die anti-etatistischen Leitgedanken seines Schuldstrafrechts, seine Bindung der Rechtsformen an die Moralphilosophie, die ganze Philosophie des altruistischen Eudämonismus waren so nahe der hohen Zeit des Fortschrittsoptimismus geblieben, dass man meint, in den Schrecken des 20. Jahrhunderts einen Denker der Idealwelt des europäischen Bürgers aus dem vorangegangenen Jahrhundert zu lesen. Dieses Bürgertum, wie L. Gall in seinem schönen Buch Bürgertum in Deutschland (1989) gezeigt hat, eine denkwürdig kurzzeitige Oberschicht mittelständischer Unternehmer und Kaufleute und deren glanzvoller geistiger Repräsentanten, es ist nun mehr den je vergangen. Wer wird bei den Signalen, mit denen die heutigen Anführer der anschwellenden Industrie- und Bankenimperien auftreten, nicht an die Abschilderungen der abenteuernden Condottieri in Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien denken? Sie lassen

tionszulagen, Finanzbürgschaften u. a. eine erstaunliche Komponente gemeinwirtschaftlicher Subventionierung des privatwirtschaftlichen Systems.

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VORWORT

ihre unsichtbaren Truppen anschleichen, erobern und triumphieren, bis sie einem noch mehr Wagenden weichen müssen. Inzwischen verliert bereits ein zu großer Teil der Rechtsgenossen unserer Tage das Vertrauen auf das eigentliche Ingenium des neuzeitlichen bürgerlichen Selbstverständnisses: dass jede Generation sich einen Aufstieg erarbeiten kann. Meine neuerliche Hinwendung zu Baumgartens Schriften war von der freundlichen Einladung Prof. Kurt Seelmanns zu einem Vortrag an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel veranlasst gewesen. So ist das Buch ein später Dank an ihn für den vertrauensvollen Entschluss gegenüber einem Nicht-Juristen. Ich danke Prof. Jürgen Kocka für die verständnisvolle Hilfe und für Ratschläge zum Projekt. Prof. Klaus Marxen, dem Strafrechtler und Rechtsphilosophen der Humboldt-Universität zu Berlin, danke ich für seine Mühe um das Kapitel zu Baumgartens Strafrechtsphilosophie und für wertvolle Hinweise. Mein herzlicher Dank geht an Dr. Mischka Dammaschke vom Akademie Verlag für die Aufnahme der Schrift ins Verlagsprogramm, vor allem aber für die anhaltende und eingehende Betreuung des Manuskripts. Meiner Frau danke ich für die Geduld gegenüber diesem, weit in meine eigene Studienzeit an der Leipziger Universität zurücksehenden, Versuch und, hier wie oft, für manchen besseren Rat. Berlin, im Oktober 2008 Gerd Irrlitz

Erstes Kapitel Biographie, die Schriften, Leitthemen

Die Zeit geht nicht, sie stehet still, Wir ziehen durch sie hin; Sie ist ein Karavanserai Wir sind die Pilger drin. Es ist ein weißes Pergament Die Zeit, und Jeder schreibt Mit seinem roten Blut darauf, Bis ihn der Strom vertreibt. Gottfried Keller, Die Zeit geht nicht

1. Herkunft. Lebensweg Arthur Baumgarten wurde 1884 in Königsberg geboren, an sehr norddeutschem und preußischem Platz mit aufklärerisch-liberaler verfassungsrechtlicher und theologischer Tradition, schon zur Zeit Kants. Der große altliberale Reformer Theodor v. Schön aus dem Kreise um Stein und Hardenberg, ein Schüler Kants, war seit 1824 Oberpräsident der Provinz Preußen gewesen. Er hatte nach den antinapoleonischen Kriegen die liberale Bewegung für eine Verfassung und für Pressefreiheit unterstützt. In der alten Handelsstadt Königsberg wirkte seit jeher die Verbindung zur englischen Kaufmannschaft für liberale Prinzipien. Baumgartens Mutter, Elisabeth Hay, stammte aus einer schottischen, in Königsberg eingewanderten Familie. Sein Großvater, Julius Hay, habe ihn in die Philosophie eingeführt, sagte Baumgarten. Der Vater war Bakteriologe, er entdeckte gleichzeitig mit Koch (1882) den Tuberkel-Bazillus, erhielt 1890 einen Ruf nach Tübingen, wo ihm ein chemisches Labor eingerichtet wurde. Mit sechs Jahren kam der Junge aus dem protestantischen Norden in den protestantischen süddeutschen Staat. Er legte 1902 am Tübinger Gymnasium das Abitur ab und studierte Jurisprudenz und Philosophie in Genf, Tübingen, Leipzig und Berlin, wo er 1909 mit der strafrechtlichen Untersuchung Die Lehre von der Idealkonkurrenz und der Gesetzeskonkurrenz promoviert wurde.1 Im Jahr der Promotion erhielt der junge Baumgarten einen Ruf an die Uni1

Breslau 1909, Nachdruck Frankfurt/M. 1977.

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ERSTES KAPITEL: BIOGRAPHIE, DIE SCHRIFTEN, LEITTHEMEN

versität Genf auf eine a. o. Professur für Strafrecht. Die Berufung eines 25-Jährigen gleich nach dessen Promotion – man glaubt sich an den Anfang des 19. Jahrhunderts oder noch weiter zurück versetzt. An der Baseler Universität hatte der ebenfalls 25-jährige Nietzsche auf Empfehlung seines Lehrers, des Philologen Fr. W. Ritschl, im Jahre 1869 noch vor der Promotion die Berufung auf eine Professur für klassische Philologie erhalten. Bonus animus magister vitae war offenbar auch am Beginn des 20. Jh.s noch immer die Devise der vertrauensvollen Schweizer Universitäten.2 1909 begann Baumgartens erste Schweizer Zeit mit der Professur für deutsches Strafrecht in Genf, später las er da auch Rechtsphilosophie. Im Sommer 1920, der erste Band seiner Wissenschaft vom Recht war soeben erschienen, wurde er als Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an die Universität Köln berufen, ab 1923 übernahm er den neugeschaffenen Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Basel. 1930 folgte er einem Ruf nach Frankfurt a. M., gab den Lehrstuhl aber 1933 von sich aus sofort und unter Verzicht auf Versorgungs- und Hinterbliebenenbezüge auf. Gleich zu Beginn der Nazizeit fragte ihn der Wissenssoziologe und Frankfurter Kollege Karl Mannheim, was er tun solle: Wenngleich er Jude sei, bei seinen Verdiensten könne man ihm wohl nichts anhaben. Baumgarten antwortete: Und wären Ihre Verdienste denen von Platon und Aristoteles gleich, verlassen sie umgehend Deutschland! Unter den Professoren der Jurisprudenz hatte sich Baumgarten als einer der Wenigen ehrenhaft verhalten. Der Hallenser Rechtshistoriker Guido Kisch, der sich im Frühjahr 1933 unter den 200 entlassenen Hochschullehrern aus den 23 juristischen Fakultäten im Deutschen Reich befand, schrieb rückblickend: „Im Ausland, das diese Vorgänge zunächst nicht begreifen konnte, dachte man vielfach, Hitler werde keinen Professor finden, der die Stelle eines wegen seiner Religion oder Abstammung fortgejagten Kollegen anzunehmen bereit wäre, wenn er auf sie berufen würde. Mir ist keiner unter den juristischen Professoren, die doch Repräsentanten von Recht und Gerechtigkeit sein sollten, bekannt geworden, der diese moralische Pflicht erfüllt hätte. Allein Arthur Baumgarten in Frankfurt hat meines Wissens, ohne dazu gezwungen zu sein, seine Professur in Deutschland aufgegeben, weil er als verantwortungsbewußter Rechtslehrer nationalsozialistische ‚Rechtsphilosophie‘ nicht vortragen zu können erklärte.“3 Mit einem ehrenhaften Akt hatte die Baseler Unterrichtsbehörde für ihn die Stelle einer Honorarprofessur für Rechtsphilosophie eingerichtet. Es begann die dritte Schweizer Zeit, in deren Verlauf er 1936 seine Einbürgerung beantragte. Er hatte in der Zeit 2

3

Der Rechtshistoriker J. Partsch (1882 – 1925), Schüler von L. Mitteis, ausgezeichneter Kenner des französischen Rechts und der Philosophie Frankreichs, war 1906 als 24-Jähriger nach Genf berufen worden. Zit. n. W. Benz, Von der Entrechtung zur Verfolgung und Vernichtung. Jüdische Juristen unter dem nationalsozialistischen Regime, in: H. Heinrichs, M. Stolleis u. a. (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 829. Neben Baumgarten ist der linksliberale Verfassungsrechtler und Kommentator der Weimarer Verfassung G. Anschütz zu nennen, der im Frühjahr 1933 an der Universität Heidelberg seine vorzeitige Emeritierung beantragte. (E. W. Böckenförde, Gerhard Anschütz, 1867 – 1947, in: ders, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1991, S. 377)

1. HERKUNFT. LEBENSWEG

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seiner ersten Baseler Professur (1923 – 1930) auch als Strafrichter und als Appellationsrichter gewirkt. Zum 50. Geburtstag, am 31. März 1934, brachten mehrere Schweizer Zeitungen anerkennende Artikel.4 1935 übernahm er die schwierige Aufgabe eines Gutachtens im Berner Prozess um die „Protokolle der Weisen von Zion“, mit dem er der nazistischen Ideologie und Politik entgegentrat.5 Im August und September des gleichen Jahres unternahm er eine von ihm selbst vorbereitete und finanzierte Studienreise in die Sowjetunion, wie sie viele westeuropäische und emigrierte deutsche Intellektuelle (u. a. H. Barbusse, L. Feuchtwanger) wahrgenommen hatten. Das Interesse für Russland gehörte zum kritischen Gewissen und auch zur romantischen Sehnsucht nach Ursprünglichkeit bei vielen Schriftstellern und Künstlern, man denke an Rilkes Russlandfahrten oder an die Tolstoi-Verehrung R. Rollands und Th. Manns. Die ästhetische und vor allem aber die moralische Russland-Verehrung übertrug sich in den dreißiger Jahren auf die Bewunderung des wirtschaftlichen Aufbaus in der Sowjetunion. Von 1936 bis 1938 las Baumgarten als Gastprofessor jeweils von September bis Weihnachten an der Universität Kaunas in Litauen.6 In der Schweiz engagierte er sich – und ebenso seine Ehefrau – in der antifaschistischen Bewegung bei der Unterstützung von Emigranten und nahm Verbindung zu sozialistischen Strömungen der Arbeiterbewegung auf. Das und seine Spätzeit in der DDR sollen gesondert betrachtet werden. Königsberg, Tübingen, Leipzig, Berlin, Genf, Köln, Frankfurt, Basel – ein Gelehrtenleben in diesen Zentren europäischer Wissenschaften, aber in welcher katastrophischen Zeit. Sie bildete diesen freien europäischen Geist, Schöpfer eines weit ausladenden philosophischen und rechtswissenschaftlichen Werkes, wie aus dem Elan und dem vornehmen Enthusiasmus der europäischen Aufklärer, mit der optimistischen Überzeugung, dass „Geschichte haben“ Vermögen der Perfektibilität bedeute. Die Schweizer Demokratie hatte ihn angezogen. Hier schloss er sich dem Pazifismus der Zeit des Ersten Weltkriegs an. In der Periode der ersten deutschen Demokratie ging er daran, sein ursprünglich individualistisch-liberales Rechtsverständnisses durch sozialliberale Reformideen („Wirtschaftsrecht der Zukunft“) zu überschreiten. Der Liberalismus trägt die Konsequenz in sich, dass die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Erwerbs 4 5

6

Vgl. den Beitrag von M. Schabad aus der National-Zeitung im Dokumenten-Anhang dieses Buches, S. 384-386. Baumgartens eingehendes Gutachten untersucht die juristische Verwertbarkeit der Texte im gegebenen Zusammenhang einer Klage rechtsgerichteter Schweizer Organisationen, die sich auf diese Fälschung der zaristischen Geheimpolizei für die Denunziation einer angeblichen jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft berufen hatten. Der Orientalist der Züricher Universität hatte es abgelehnt, ein Gutachten abzugeben. Die Klage hatten der „Bund nationalsozialistischer Eidgenossen“ und andere rechtsgerichtete Organisationen eingereicht, die auch mit einem Aufruf „An alle heimattreuen und blutsbewussten Eidgenossen“ in die Öffentlichkeit gegangen waren. Baumgartens Schrift im Nachlass im Archiv der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (im Folgenden abgekürzt: BBAW). (Vgl. zuletzt W. Benz, Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung, München 2007) Zur Biographie A. Baumgartens: Professor Dr. Arthur Baumgarten zu seinem 60. Geburtstag, Schriftenreihe der Partei der Arbeit, Nr. 1, Basel 1944; H. Klenner/G. Oberkofler, Arthur Baumgarten, Rechtsphilosoph und Kommunist, Innsbruck 2003.

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ERSTES KAPITEL: BIOGRAPHIE, DIE SCHRIFTEN, LEITTHEMEN

als eine Herrschaft über Sachen zugleich eine über Personen ist, so dass sich liberale Politik eigentlich bereits vom Ansatz her zu sozialer Reform öffnen muss. Im Sinne des homogenisierenden Sinns der rechtstaatlichen Verfassung hatte im Liberalismus bereits auf der Grundlage der preußischen Verfassung von 1850 das Bemühen begonnen, der Arbeiterschaft Integrationsperspektiven in der bürgerlichen Gesellschaft zu eröffnen.7 Das hatte am klarsten die evolutionäre Richtung des englischen Liberalismus gezeigt (J. St. Mill, J. Ruskin, der Sozialismus der 1883 gegr. Fabian Society). Die Weimarer Reichsverfassung hatte durch ihr Entstehen im Zuge rechtlicher und politischer Kompromisse die „offene politische Form“ (H. Heller) besessen, jede Art von Veränderungen der Grundrechte, der Gesellschaftsordnung und selbst der Staatsform nach bestimmten Modalitäten legal zu beschließen zu lassen (Art. 76 zu Verfassungsänderungen). Baumgarten hielt fest an den Intentionen der beiden Sozialisierungskommissionen der Weimarer Zeit (1919, 1920) und des von der Nationalversammlung im März 1919 beschlossenen Sozialisierungsgesetzes mit Art. 156 der Reichsverfassung, für die Vergesellschaftung geeignete Teile der Großindustrie in Gemeineigentum zu überführen. Man könnte für den Juristen Baumgarten sagen, die politische Erfahrung von 1933 habe seine Erwartung einer progressiven Vermittlung des individualrechtlich geführten subjektiven Rechts (Freiheit der Person, des Erwerbs, Eigentumsgarantie) mit dem objektiven Recht integrativ zu gestaltender sozialer Sektoren zerstört und ihn zur sozialistischen Lösung geführt: gesellschaftlicher Konsens nicht durch ergänzenden Sozialgestaltungsauftrag im Interesse der wirtschaftlich Schwächeren, sondern durch Sozialisierung des übermächtigen Großkapitals mit den Folgen verfassungsrechtlicher Erneuerung, sozialer Umverteilung und Wirtschaftsplanung. In Bezug auf die übergreifende geistige Atmosphäre dachte Baumgarten bereits am Beginn des 20. Jh.s recht verwandt mit Albert Schweitzer. Beide spürten an den Jahrzehnten nach der Reichseinigung durch Preußen und vorm Ersten Weltkrieg die mit dem nationalistischen Machtstaatsprogramm heraufziehende Krise.8

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Lange vor den Kathedersozialisten hatte L. v. Stein die „Republik des industriellen Besitzes“ und diejenige des „industriellen Nichtbesitzes“ unterschieden: „Für jene ist die Erlangung einer absolut freien Verfassung also der Schlusspunkt der Freiheit, für diese erst der Ausgangspunkt derselben.“ (Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unser Tage (1850), Bd. 3, München 1921, S. 178) „Wohl weiß ich, dass unsere Zeit zu allem, was irgendwie ‚rationalistisch‘ ist, absolut kein Verhältnis hat und es als eine Verirrung des 18. Jahrhunderts abgetan haben möchte. Aber die Einsicht wird schon kommen, dass wir wieder da einsetzen müssen, wo das 18. Jahrhundert stehen blieb. Was zwischen damals und jetzt liegt, ist ein Intermezzo des Denkens ... Sein unausbleibliches Ende war unser Versinken in Weltanschauungslosigkeit und Kulturlosigkeit, womit alles geistige und materielle Elend, in dem wir schmachten, gegeben ist.“ (Albert Schweitzer, Kultur und Ethik (1923), München 1960, S. 91)

2. DIE SCHRIFTEN

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2. Die Schriften Ein Magister der Philosophie hatte Baumgarten nicht werden wollen. Er sagte, die Beschäftigung mit der Philosophie könne kaum fruchtbar sein ohne das Studium einer Fachwissenschaft. So trat er aus der Familientradition der Naturwissenschaftler und Anatomen heraus und wählte die Jurisprudenz. Von ihr aber den Zweig, der der Philosophie immer eng verbunden gewesen war, die Strafrechtswissenschaft. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Rechtsphilosophie wieder zu Ehren kam, wurden vorwiegend Strafrechtler mit der Vertretung der Rechtsphilosophie betraut.9 Das Wesen der Strafrechtswissenschaft lautete 1923 das Thema seiner Antrittsvorlesung an der Baseler Universität. Baumgarten hatte hier seine Theorie der Strafe als der Vergeltung für Leidzufügung durch schuldhaftes Unrecht im Einklang mit den Bestrebungen der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ dargestellt, die die Ursachen des Verbrechens und die Behandlung des Täters mit Hilfe der Fachwissenschaften Psychologie, Psychiatrie, Soziologie u. a. präzisierte.10 Viele Themen des Strafrechts führen direkt in die Philosophie: freier oder determinierter Wille, individueller Antrieb wider das Gesetzliche und der Anteil des gesellschaftlichen Verhängnisses, das Leben mit einer moralischen Schuld, die Vergeltung des Bösen, die Erfordernisse und die Aussichten sozialpädagogischer positiver Generalprävention. Als Arthur Baumgarten am 27. November 1966 zweiundachtzigjährig in Berlin starb, war der deutschsprachigen Philosophie und Rechtswissenschaft ein reiches Lebenswerk vorgelegt, das zuerst in Genf, zum überwiegenden Teil aber dann in Basel entstanden war. Neben den 118 Aufsätzen und längeren Abhandlungen stehen die 23 selbstständigen Schriften, darunter die acht Hauptwerke: Aufbau der Verbrechenslehre (1913), Moral, Recht und Gerechtigkeit (1917) mit der in vielen Passagen leidenschaftlichen Kritik des Nationalismus in Europa, die dreiteilige Wissenschaft vom Recht und ihre Methode (1920/22, Neudruck 1978),11 die systematische Philosophie Erkenntnis, Wissenschaft, Philosophie (1927),12 eine zusammenfassende Rechtsphilosophie im Handbuch der Philosophie (1929, 21947), danach das sein ganzes Denken zusammenfassende 9 Vgl. A. Baumgarten, Vom Liberalismus zum Sozialismus, Berlin 1967, S. 9f. 10 Die Thematik der Baumgartenschen Antrittsvorlesung in C. Luders anerkennender Besprechung in den Basler Nachrichten v. 27.6.1924. 11 Eine Rezension (A. Egger) in: Schweizerische Juristen-Zeitung 1923/24, H. 6. In der Rezension des zweiten Bandes schrieb A. Mendelssohn-Bartholdy, hier sei die Jurisprudenz auf Philosophie gegründet und der logische Grundriß der Rechtswissenschaft und deren Abgrenzung von benachbarten Gebieten, insbesondere gegenüber dem Vordringen der Soziologie, so einsichtig durchgeführt, „daß ich der Lehre Baumgartens nach Stammler und nach der Nelsonschen Erschütterung die stärkste und wie ich meine auch nachhaltigere Wirkung auf unser rechtliches Denken zusprechen möchte.“ (Archiv des öffentlichen Rechts, 40 (1923), H. 3) 12 Eine anerkennende und ausführliche Rezension (Walz) in: Archiv des öffentlichen Rechts, 45 (1928), H. 16/3, S. 448-458. Karl Joels eingehende Rezension (Sonntagsblatt der Basler Nachrichten v. 27.5.1928) sagte: „Das Herz des Verfassers gehört dem Psychologen James, und überhaupt wird sehr verdienstlich die moderne amerikanisch-englische Philosophie ohne Überschätzung unserem Interesse erschlossen.“ (S. 104)

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Buch Der Weg des Menschen. Eine Philosophie der Moral und des Rechts (1933, Neudruck 1978),13 die Logik als Erfahrungswissenschaft (1939), die Grundzüge der juristischen Methodenlehre (1939),14 und schließlich die Geschichte der abendländischen Philosophie. Eine Geschichte des geistigen Fortschritts der Menschheit (1945), hervorgegangen aus seinen letzten Baseler Vorlesungen. Baumgartens Philosophiegeschichte zeigte den doppelten Einsatz der europäischen Philosophie, die durchgehende zwiefache Behandlung des Begründungsproblems der Philosophie: die platonisch-aristotelische Voraussetzung der eidetischen Präformationen aller Rationalität, die zugleich Seinsformen repräsentieren, von der anderen Seite die sensualistische und sprachpragmatische Linie der englischen Erfahrungsphilosophie. Bei einem Leipziger Verlag war 1949 eine überarbeitete zweite Auflage der Philosophiegeschichte über die Fahnenkorrektur des Autors bis zum Druck gediehen, konnte aber doch nicht erscheinen und die ausgedruckten Exemplare wurden eingestampft. Erst 1972 war es möglich, Teile daraus in einem Band von Abhandlungen und Vorträgen Baumgartens zu veröffentlichen, der Arbeiten von 1911 bis 1960 vereinigte.15 Die späten Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus, in Berlin 1957 erschienen, fanden entschieden ablehnende Rezensionen. Das war, mit Hebel zu reden, ein Glück, weil man kein größeres Unglück über ihn heraufziehen ließ. Die im eigentlichen Biographischen knapp gehaltene, vor allem dem Rückblick auf die Themen seiner Werke gewidmete Autobiographie, Vom Liberalismus zum Sozialismus (1967), die er schon unter den Mühen schwerer Erkrankung niederschrieb, erschien erst im Jahre nach seinem Tode.16 Im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften liegt ein 160 Schreibmaschinenseiten umfassendes, nachgelassenes Manuskript, Philosophische Essays, das seine Marxismus-Aufnahme im Zusammenhang mit seinem Pragmatismus und seiner Metaphysik zusammenfasst.17

13 Das Werk wurde von Karl Engisch in der Deutschen Literaturzeitung (1934, H. 31) mit sibyllinischer Anerkennung gewürdigt. Vgl. den Nachdruck des Textes im Dokumenten-Anhang dieses Buches, S. 380-383. Eine ausführliche Würdigung der liberalen Philosophie und Rechtswissenschaft Baumgartens brachte die Besprechung der Neuen Zürcher Zeitung v. 5.4.1933 (Arnold Gysin). 14 Neudruck Freiburg, Berlin 2005, mit Nachwort und ausführlicher Bibliographie der Schriften von und über Baumgarten v. H. Klenner 15 A. Baumgarten, Rechtsphilosophie auf dem Wege, Berlin 1972, S. 268-392; dass., Glashütten i. T. 1972. Der Epikur-Abschnitt der Philosophiegeschichte war 1956 in der althistorischen Zeitschrift Das Altertum erschienen, Bd. 2, H. 1, S. 8-14, die Helvétius-Darstellung in: W. Krauss, H. Mayer (Hg.), Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin 1955, S. 1-25. 16 Der Titel sollte mit einem Fingerzeig auf sein eigentliches soziales Bekenntnis und mit Relativierung des gegebenen Sozialismus „Vom Liberalismus zum Kommunismus“ lauten. Baumgarten ließ sich in der Akademie der Wissenschaften zur Änderung bewegen. 17 Archiv der BBAW: Nachlass Baumgarten, Nr. 60.

3. LEITIDEEN

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3. Leitideen a) Sensualistischer Pragmatismus in Philosophie und Rechtswissenschaft Arthur Baumgarten ist der vergessene Vordenker des Pragmatismus in der deutschsprachigen Philosophie. Er hatte vor dem Ersten Weltkrieg den europäischen sensualistischen Empirismus auf dem Stande des Pragmatismus von James (1842 – 1910), Dewey (1859 – 1952), Schiller (1864 – 1937) aufgenommen. Der Pragmatismus bedeutete für die geistige Situation auf dem Kontinent eine außerordentliche Neuerung, so sehr war vergessen, dass er eine Rückkehr darstellte, setzte er doch die offene Struktur der sensualistischen philosophischen Theorien des Aufklärungszeitalters fort. Die Außenseiterposition Baumgartens in der deutschen Philosophie seiner Zeit war von dessen Orientierung an den internationalen und insbesondere an den liberalen philosophischen Strömungen bedingt, wie sie sich in der deutschen philosophischen Kultur allgemeiner erst seit den sechziger Jahren des 20. Jh.s herzustellen begann.18 Baumgarten repräsentierte in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft und Philosophie bereits während der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s den Typus des liberalen westeuropäischen Intellektuellen. Vom Fach war Baumgarten Strafrechtler gewesen und hatte bereits vorm Ersten Weltkrieg den sensualistischen Pragmatismus im Zusammenhang seines rechtswissenschaftlichen Liberalismus zu einem antietatistischen Strafrecht geführt. Im Sinne der angloamerikanischen Tradition begründete er die Kriminalistik psychologisch, so dass die Straftat primär eine Leidzufügung darstellte, und die Strafe konsequent das gesellschaftlich gesetzte Gegenleid. Das Strafrecht diente dann nicht vor allem, die Rechtsnormen zu gewährleisten oder die Gesellschaft vor kriminellen Elementen zu schützen. Das sollte es auch. Aber Grundlage müsse bei Täter und Opfer die Erfahrung der Vergeltung bleiben, für die Theorie darum der Schuldbegriff. Das Strafrecht gründe darauf, beim Rechtsbrecher das Schuldbewußtsein zu bestärken und das Opfer der Gerechtigkeit zu versichern. Baumgarten hatte immer die Vergeltungstheorie der Strafe gegen die Zweckoder Schutztheorie vertreten. Unter den Bedingungen der Weimarer Republik – und vor allem in den Erwartungen an deren nachrevolutionäre demokratische Entwicklung – verband er dann Vergeltungs- und Zwecktheorie miteinander. Die eigentliche Idee der Strafe blieb ihm jedoch immer die moralische Schuld des Vergehens gegenüber den verschiedenen Utilitätserwägungen der Straf- und Besserungsverfahren.

18 G. Patzig sagte noch 1973 bedauernd, dass die Renaissance von Argumentationsweisen aus dem Umkreis des Utilitarismus angelsächsischer Theorien in der deutschen Philosophie bisher ausgeblieben sei. (G. Patzig, Ein Plädoyer für utilitaristische Grundsätze in der Ethik, in: G. Patzig, Gesammelte Schriften, Bd. I, Göttingen 1994, S. 99). Auch für den Juristen und Philosophen Baumgarten könnte Smends Wort über den Rechtshistoriker J. Partsch (1882 – 1925) gesagt sein, der gleich Baumgarten als 25-Jähriger nach Genf berufen worden war: Er habe geschrieben und gewirkt „aus seiner Kenntnis der Grundlagen gemeinsamer abendländischer Rechtskultur gegenüber der vorherrschenden geistigen Isolierung der deutschen Jurisprudenz“. (R. Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin ³1994, S. 531)

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Der von Baumgarten bis in seinen letzten strafrechtlichen Text (Die Idee der Strafe, 1952) festgehaltene psychologische Akzent in der Wechselerfahrung von Leid des Opfers und Strafleid des Täters ergab eine sensualistisch und altruistisch gedachte absolute Strafphilosophie. Die Basis bildete das wieder herzustellende moralische Achtungserfordernis zwischen Personen, das von der Tat gestört worden sei. Das erscheint heute, im Zeitalter der bandenmäßigen Massenkriminalität und der marktgestützten Wirtschaftskriminalität, recht altmodisch, als seien noch der Zundelheiner und der rote Dieter zu fangen und zu bewegen, dass sie wieder ehrlich werden möchten. Vielleicht auch nicht. Denn im Verhalten der Menschen der Industriegesellschaften greift mitten im Frieden die Zerstörung des Schuldbewusstseins um sich.19 Es kann ein Verfall mit schweren Folgen werden. Ihm wirken bis jetzt das gegenüber früheren Perioden stärkere Gerechtigkeitsbewusstsein der Mehrzahl der Bürger und auch fortschreitende Verrechtlichungstendenzen entgegen. Doch ohne moralisches Unrechts- und Schuldbewusstsein muss das Zusammenleben der Menschen Schaden nehmen. Im Zusammenhang der Strafrechtsentwicklung war Baumgartens frühes Strafrecht allerdings befangen in dem Personalitätsbezug der rechtsstaatlichen Verfassungsidee. Er mochte nicht den Strafrechtsreformern (v. Liszt, E. Ferri) zu folgen, die bereits von der de facto veränderten Position der Person in der industriellen Gesellschaft ausgingen, dass die Individuen „Exemplare“ sozialer Gruppen und Funktionen geworden seien und darum die sozialen Ursachen des Verbrechens zu beachten sind. Die Positivität des Rechts bestimmte Baumgarten so, dass es zweckmäßige, subjektive Setzung unterm Leitgedanken der austeilenden Gerechtigkeit sei und darum einen dynamischen, die Gesellschaft voranführenden Charakter besitze. Der voluntaristische Charakter des Rechtsformalismus war damit betont. Der verfassungskonform legitimierte Gesetzgeber besitzt die unbeschränkte Gestaltungsbefugnis zur fortgehenden materialen Ausbildung des homogenisierenden Verfassungsauftrags für eine vom Staat repräsentierte Bevölkerung. Der Zwangscharakter der Verfassungsorgane trat erst als mitgehendes Element hinzu. Positive Rechtswissenschaft sei „ein ideelles System, zu dem eine geltende, positive Lebensordnung fortzuentwickeln ist“.20 Sein Sensualismus ließ Baumgarten pragmatische Effektivitätsaspekte bei der Positivität des Rechts betonen. Gegen Ende der Weimarer Republik wandte er sich eingehender den materialen Gerechtigkeitsgehalten zu und untersuchte, was D. Grimm „das Versagen der Selbststeuerungsprämisse des Rechtssystems“ und das Erfordernis genannt hatte, „die Bedingungen eines gerechten Interessenausgleichs wieder von außen in die Rechtsbeziehungen der Individuen einzubeziehen.“21 Baumgarten beschäftigten z. B. juristische Sozialisierungsprobleme für ein „Wirtschaftsrecht der Zukunft“.

19 „Nicht übersehen werden kann aber, dass eine – möglicherweise medial beförderte – Zunahme an Phantasie für Gewalt oder List, kurz schrankenlosem Egoismus sich in der Realität bemerkbar macht.“ (K. Lüderssen, Recht und Verrechtlichung im Blick der Kulturwissenschaften, in: Fr. Jäger, B. Rüsen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, Stuttgart, Weimar 2004, S. 437) 20 Der Weg, S. 481. 21 D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 47.

3. LEITIDEEN

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Baumgarten hatte in den Zeiten des Neukantianismus, der Ontologie und der phänomenologischen und existenzphilosophischen Richtungen eine sensualistische Handlungs- und Bewusstseinstheorie vertreten, aus denen sich seine Moral- und Rechtsphilosophie ergaben. Der sensualistische Pragmatismus zeichnete sich dadurch aus, dass er mit den kleinsten Größen arbeitete, wie Wahrnehmungen und nicht kompakter Sinn, Handlungsziele in Verhaltensbezügen und nicht Werthierarchien, freies Wollen in individuellen, lebensweltlich überschaubaren Maßen und nicht definitives Sollen. Er ist eine handlungsorientierte Philosophie, das Denken für ihn die Innenseite des Verhaltens. Die Achse, auf der das ganze Theorieinstrumentarium sich bewegte, war die teleologische Überformung der Realkausalität durch die Willens- und Handlungsdetermination des Menschen. Das schloss die exzeptionelle Position einer Erkenntnistheorie in der Philosophie und damit auch die geschlossene Systemform überhaupt aus. Der Sensualismus weiß um die Verführungslust fertiger Ideen, die ihre Geltung dadurch beanspruchen, dass sie sich als das Große darstellen. Fürs Verständnis der verhaltensorientierenden Denkweise des Pragmatismus ist es hilfreich, auf deren Verwandtschaft mit dem Rechtsdenken zu sehen. Es erfasst einen Gegenstand stets in der Funktion eines anderen, und es optimiert sich ununterbrochen durch schrittweise Selbstkorrekturen, da es unter der Erfahrung seiner praktischen Folgen denkt. Baumgarten suchte einen Weg, die vorwaltende Teilung zwischen der Reduktion von Philosophie auf Erkenntnis-, bzw. Wissenschaftstheorie und holistischer Lebensphilosophie zu durchbrechen. Der materiale Charakter des moralisch-pragmatistischen Sensualismus ließ die soziale und historische Orientierung der philosophischen Rationalität festhalten. Dem Baumgartenschen Sensualismus kamen seinerzeit in der deutschen Philosophie, wenn überhaupt Arbeitsrichtungen, der psychologisch aufgeschlüsselte Kritizismus der neusokratischen Nelson-Schule und die Verbindung von Psychologie und Philosophie bei Hans Cornelius (1863 – 1947) am nächsten.22 Baumgarten nahm bei seiner Polemik gegen den Apriorismus erst, als er selbst Sozialist geworden war, wahr, dass die Marburger Schule F. A. Langes, H. Cohens, P. Natorps die Philosophie als Rationalitätsfundament einer sozialethischen Evolution der industrialisierten Arbeitsgesellschaft bis zu sozialistischen Reformen wiederhergestellt hatte. Der Marburger Neukantianismus ist die deutsche Quelle der Theorie des kommunikativen Handelns. Baumgarten dachte im Sinne des englischen Utilitarismus: Philosophie soll definierbare Sinnbezüge herstellen, aber im praktisch zu verantwortenden Kreis der konkreten Individuen. Damit ist sie nicht vollendet, aber auf jeden Fall ist das Eine festgehalten: die Bildung eines Charakters mit dem Bewusstsein für die Folgen seines Denkens in seinem Verhalten. Nicht wie der Gedanke zum Gedanken, sondern wie der Mensch mit seinem Denken zum anders denkenden Menschen komme, bildet das geistige Elixier. Pragmatismus hebt die Isolierung der Philosophie von der Realität verantworteter Er22 Horkheimer, wie auch die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal, waren Schüler von Hans Cornelius, des ersten Ordinarius für Philosophie an der Universität Frankfurt/M. (1914, zuvor seit 1910 o. Prof. an der Frankfurter Akademie für Sozialwissenschaften, wichtige Werke: Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1897; Völkerbund und Dauerfrieden, 1919)

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fahrung auf. Die Bindung des Denkens ans Verhalten führt vom Ausgangspunkt der sensualistischen Minima zur Bestätigung der Erfahrungen des Respekts, des Wohlwollens (benevolence in der englischen Tradition) und der Liberalität zwischen Gleichen. Baumgarten konnte darum sagen: „Ein Recht, das den Schwächeren so belastete, dass er besser daran täte, den Kampf dem Frieden vorzuziehen, trüge keinen Kompromisscharakter, es hätte aber auch keine Aussicht auf dauernde Geltung.“23 Baumgarten klärte die alte psychische und moralische Altruismus-Thematik des Sensualismus zum Solidaritätsproblem und kam unter der Erfahrung der obrigkeitsstaatlichen Erosion des Rechtsstaates, die direkt in die faschistische Diktatur überging, vom sozialen Liberalismus zum Sozialismus. Der sozialistische Gedanke hatte neben der Marxschen Theorie verschiedene religiöse, philosophische, wirtschaftstheoretische Varianten besessen, auch Prospekte des genossenschaftlichen Gemeineigentums. Baumgarten anerkannte am Marxismus, dass er eine umfassende struktur- und entwicklungstheoretische Gesellschaftslehre bot, die zugleich Handlungsziele einschloss. Er sah sozialistische Reformen als Lösung der Widersprüche der Kapitalgesellschaft an, blieb aber bei der zum experimentellen Gestus des Pragmatismus gehörenden Ablehnung des historischen Determinismus. In seinem letzten philosophischen Buch in der DDR wies er mit pragmatistischer Argumentation die Widerspiegelungstheorie und mit dieser natürlich die Verbindung des Wollens mit einem naturgesetzlichen Gang der Geschichte ab. Der Zusammenhang des Determinismus mit dogmatischen Denkmustern und im weiteren mit autoritären Falsifikationen der ideellen Programmatik lag ihm auf der Hand. Eine der ursprünglichen Leitideen Baumgartens, die er dann im Marxismus wiederfand, war der Fortschrittsgedanke der europäischen Aufklärung. Er sah den Fortschritt als ein intellektuelles und moralisches Element im Rahmen seines Empirismus. Unser Denken ist auf die Veränderung der Wirklichkeit bezogen, genauer: auf die Verbesserung unserer Bezüge zur Wirklichkeit. Daraus ergibt sich der experimentelle, perfektibilistische Charakter nicht nur des Bewusstseins, sondern unserer zivilisatorischen Existenz. Darin besteht ihr übergreifender Richtungssinn. Das aufklärerische perfektibilistische Geschichtsverständnis, das Marx für die analytische Begründung von der geistigen Ebene, für die es bei Fontenelle und Condorcet gefasst gewesen war, auf die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit übertragen hatte, leitete auch Baumgartens Sozialismus-Verständnis. Es war seiner Überzeugung nach an der Zeit, doch eben auch Sache in der Zeit. Der Übergang zu ihm könne schlimme Fehler enthalten.24 Im Ganzen sah er auf die gemeinwirtschaftliche Zivilisation seiner Generation als auf den nun begründeten Anfang einer Evolution immer neuer Selbstfindung der folgenden Generationen. Wie andere Sozialisten täuschte er sich bitter über die Reduktion rechtstaatlicher Prinzipien, die im Diktatur- und Parteikonzept des Leninismus fixiert waren und statt 23 Der Weg, S. 465. 24 Baumgarten sah so auf Fehler des politischen Strafrechts in der DDR während der vierziger und fünfziger Jahre: „Das alles gilt trotz der schlimmen Dinge, die in vielen Strafverfahren in den gespanntesten Zeiten des Klassenkampfes vorgekommen sind. Es handelt sich zum Teil um Irreparables, wie es im Lauf der Geschichte gerade beim Wechsel von extrem gegensätzlichen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung unvermeidlich werden kann.“ (Liberalismus, S. 114)

3. LEITIDEEN

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Fortschritt der Sache vielmehr deren Selbstzerstörung bedeuteten. Selbst ein deutscher Jurist von Graden, wie es Arthur Baumgarten gewesen war, stellte schließlich die geschichtliche Aktion unmittelbaren politischen Machtvollzugs, das illusionäre Postulat direkter Demokratie, für lange Zeit über die Rechtsform der ausmittelnden parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung. Die Philosophie erhält im sensualistischen Pragmatismus einen charakteristischen genetischen Aufbau. Die sensiblen Minima der lebenspraktischen Wahrnehmungen werden im ersten Schritt generalisiert zur teleologischen Struktur des Handelns. Im praktischen Verhaltensbezirk setzt überhaupt das Sollen ein. Bereits die volitive Orientierung schafft dem Subjekt ein Sollen. Diese psychologisch-moralische Erklärung der Idealität des Sollens richtete Baumgarten gegen religiöse und transzendentallogische Begründungen von Postulaten. Die Wahrnehmung der Wirkung meines Handelns schafft dann die soziale Realität. Sie ist eine mentale Wirklichkeit, darum experimentell offen. Erfahrungen der Widersprüche in der Realität treten ein. Sie werden von der psychologischen Bildung des Sensualismus vor allem als zu bewältigende Leiderfahrungen gesehen. Das fundamentale Glücksprinzip realisiert sich erst in der Erfahrung seines Gegenteils als ein soziales und dadurch ethisches Verhalten. Allerdings bedarf auch der Sensualismus, da er den transzendenten Vergewisserungen aufgekündigt hat, entweder der metaphysischen oder der gesellschaftstheoretischen Versicherung einer Einheits- und Sinn-Perspektive der Menschheit. Bei James war es sogar eine religiöse Metaphysik. Baumgarten dachte die Vielheit in einer Evolution bis hin zur Synthese in einer erfahrungswissenschaftlichen Metaphysik; nicht einer „archaischen Metaphysik“ des Wesenhaften im Ursprung, sondern eine Metaphysik sub specie futuri, wie er es nannte. Seine Metaphysik war nicht von James, sondern von Schopenhauer und Emerson beeinflusst, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s Gewicht gegen den materialistischen Positivismus gewannen. b) Neuer Idealismus und erfahrungswissenschaftliche Metaphysik Fürs Verständnis von Arthur Baumgartens Lebensweg ist es vielleicht geeignet, schon etwas von Baumgartens geistiger Welt vorauszuschicken. Baumgarten sah, dass eine erneuerte Psychologie des Empirismus erforderlich sei, den sozialen Gehalten des Liberalismus in der industrialisierten Arbeitsgesellschaft zu genügen. Dafür orientierte er sich zuerst an W. James’ Kritik der Assoziationspsychologie und später an der Psychoanalyse und der Gestaltpsychologie. Das sollte einen psychologisch begründeten eudämonistischen Altruismus ermöglichen, zu dem Baumgarten dann seine Moralphilosophie ausbildete. Baumgarten war Moralist. Auf den Einwand, wie sehr die Menschen doch egoistischen Interessen folgten, stellte er gern die Gegenfragen: Wie kommt es, dass sie es mit schlechtem Gewissen tun? Und warum wohl verschafft eine altruistische Handlung größere moralische Befriedigung als eine selbstbezogene? Also sei etwas angelegt in uns, dem aufzuhelfen sei. Baumgarten stützte sich dabei auf die am Jahrhundertende aufkommende Psychologie des Unbewussten und überformte seinen Sensualismus mit einer Metaphysik sich ausprägender Geist-Einheit der Menschheit. Freuds Unbewusstes steht bei ihm an der Stelle einer zivilisationshistorischen Deter-

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ERSTES KAPITEL: BIOGRAPHIE, DIE SCHRIFTEN, LEITTHEMEN

mination. Hier finden sich die Anlagen zum Streben nach Klarheit über sich selbst als Voraussetzung für Ausgleich und Versöhnung mit anderen versammelt. Baumgarten dachte eine anthropologische Perfektibilität, aber durch Aufklärung schmerzhafter Unglücksempfindungen. Die ansteigende Bedeutung der Wissenschaften für alle gesellschaftlichen Lebensprozesse bildete ihm die empirische Grundlage einer Entelechie der Geist-Einheit der Menschheit. Er nannte seine Metaphysik aber darum eine erfahrungswissenschaftliche, weil sie im pragmatistischen Sinne Sache gelebter Erfahrung sein werde, nicht nur ein logisches oder spekulatives Ideal, etwa im Leibnizschen Sinne. Das entsprach um die Jahrhundertwende dem Bestreben der Intellektuellen nach einem neuen Idealismus, als einer Reaktion auf die als „materialistisch“ und katastrophisch empfundene Industrialisierung. Eduard v. Hartmann (1842 – 1906) und Rudolf Eucken (1846 – 1926) hatten solchen neuen Idealismus gegen den Monismus und als materiale Philosophie gegen den Formalismus des Neukantianismus begründet, dabei aber Nietzsches elitäre Ästhetisierung und damit Simplifizierung der ganzen Problematik einer immanenten und aktivistischen Philosophie vermieden. Auf Baumgarten gewannen v. Hartmanns Metaphysik des Unbewussten und dessen Geschichtsphilosophie Einfluss. Es ist wenig beachtet, was bei v. Hartmann damit verbunden war: die Erwartung einer freien Assoziation der Bürger mit einheitlicher Organisation der Produktion auf der ganzen Erde und dem Zusammenschluss aller Republiken in einer WeltStaatenrepublik mit gemeinsamem Rechtsschutz. Zum neuen Idealismus gehörte auch die Pan-Europa-Idee Coudenove-Kalergis, die sich der Gründung des Völkerbundes parallel entfaltete.25 Selbst der Völkerbund, der im April 1919 aus den Versailler Friedensverhandlungen hervorging und diesem Augenblick französisch-englischer Suprematie Dauer verleihen sollte, enthielt ebenfalls einen Überschuss an neuem Idealismus: die Institution eines internationalen Sekretariats, Normen der Rechtsstaatlichkeit, ein Internationales Arbeitsamt für die Arbeitsgesetzgebung (Arbeitslosenhilfen, Gleichbehandlung jeweils ausländischer Arbeiter), Registrierung aller Verträge der Mitgliedsstaaten u. a. m.26 Zum Aufbruch in einen neuen Idealismus gehörten die ästhetischen Revolutionen des Futurismus, der neuen Wiener Kompositionsschule Schönbergs, Weberns, ebenso wie der amerikanische Transzendentalismus Emersons und Thoreaus, der in Europa in einer Verbindung von Literatur und Philosophie als ein Un-Animismus aufgenommen

25 R. Graf v. Coudenove-Kalergi, Pan-Europa, 1923. Der elitär-ästhetisierende philosophische Hintergrund des Pan-Europa-Gedankens Coudenove-Kalergis am klarsten in dessen späterer philosophischer Programmschrift: Los vom Materialismus, Wien, Leipzig 1931. 26 Auf der Tagung von 1929 legte Briand, der wie auch Stresemann die Pan-Europa-Bewegung förderte, das Projekt „Vereinigter Staaten von Europa“ mit einer Wirtschafts- und Zoll-Union vor. Der 25. Oktober 1929 war der „schwarze Donnerstag“ an der New Yorker Börse, die politischen und militärischen Folgen der davon ausgelösten, nicht verursachten, Weltwirtschaftskrise unterbrachen das Pan-Europa-Programm bis in die Mitte der fünfziger Jahre. Die mit den Römischen Verträgen (1957) wieder aufgenommene Politik einer Europa-Union besaß unterm Überschuss eines abendländisch-christlichen Idealismus zunächst ebenfalls die Aufgabe, die Resultate des II. Weltkrieges gegen sozialreformerische linke, latent sozialistische Regierungen in Westeuropa zu stabilisieren.

3. LEITIDEEN

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wurde. Man sieht ihn recht plastisch, schon mit pazifistischen und plebejisch-sozialkritischen Akzenten, beim Dichter-Philosophen Emile Verhaeren (1855 –1916).27 Ursprünglich hatte G. H. Lewes (1817 – 1878) die Verbindung des Empirismus mit einer erfahrungsmäßig gestützten Metaphysik geschaffen. Er hatte gesagt, das positive Erkennen reduziere den metaempirischen Bezirk auf wenige, doch wesentliche Annahmen von einem intelligiblen Absoluten, auf das unser empirisches Wissen und Verhalten im letzten Sinne bezogen sein müsse, um nicht kurzsichtiger Beliebigkeit zu verfallen. In der angloamerikanischen Empirismus-Tradition bildet die sog. erfahrungswissenschaftliche Metaphysik-Umfassung ein latentes Anti-Profit-Moment. Das Attribut „erfahrungswissenschaftlich“ sollte diese Metaphysik von der platonisch-aristotelischen Ontologie absetzen und sie als denknotwendiges unendliches Synthese-Postulat bezeichnen, das alle empirisch-unmittelbaren Akte übersteige. Die unendliche Kommunikationsgemeinschaft der Transzendentalpragmatik bezeichnet die gleiche Funktion einer erfahrungsgeleiteten Metaphysik. Sieht man auf die Metaphysik-Ebene des neuen Idealismus als Ganzes, so zeigt sich, dass Baumgarten dem Komplex der erfahrungsmäßigen Metaphysik, der von mehreren Vertretern der englischen Philosophie als ein Muster der Systematisierung des Empirismus entwickelt wurde (F. C. S. Schiller, A. N. Whitehead), erst die zeitliche Ebene verliehen hat, und zwar in der recht entschiedenen Weise einer persönlichen und zugleich rechtsstaatlich liberalen und sozialreformerischen Sinngebung des eudämonistischen Handlungsbegriffs. Alle diese Strömungen spielten in Baumgartens Metaphysik hinein. Für einen in den achtziger Jahren des 19. Jh.s geborenen deutschen Intellektuellen war es außerdem unmöglich, nicht Schopenhauer gelesen zu haben. Schopenhauer hatte seine pessimistische Lehre des tragischen Lebenswillens mit einer Metaphysik der geistigen Identität aller Wesen verbunden. Baumgarten erkannte im Verlauf der Nachkriegskrise der zwanziger Jahre, dass die kapitalistische Rationalisierung auch in der Konsolidierungsperiode keinen Ausgleich zwischen den sozialen Klassen, der Basis des Rechtsstaates, bringen würde.28 So bedeutete für ihn seine Frankfurter Zeit (1930 – 1933) eine Phase ungelöster Probleme, die seine rechtswissenschaftliche Methode berührten.29 Der neue Idealismus sozialer Sinn27 Verhaeren schrieb den Denkern und Dichtern die Aufgabe zu: „Die neue Formel finden für die neue Zeit. / Wir bringen, von der Welt und von uns selber trunken, / In das verlebte All ein neues Menschenherz. / Der Götter Bann und Gnade ist für uns versunken. / In uns nur lebt die Kraft, denn in uns war der Schmerz. ...“ (E. Verhaeren, Die Begeisterung, (dt. Nachdichtung St. Zweig), in: E. Verhaeren, Hymnen an das Leben, Leipzig o. J., S. 20) 28 Vgl. O. Bauer, Rationalisierung – Fehlrationalisierung, Wien 1931. 29 W. Abendroth erinnerte sich an die Wiederbegegnung in der Schweizer Emigration: „Ich kannte ihn von Frankfurt her. Damals war er noch nicht Marxist, näherte sich aber marxistischen Methoden. Daher kannten ihn in dieser Zeit auch alle linken Juristen in Frankfurt. Man konnte mit ihm sachlich diskutieren. Ihn interessierten zum Beispiel Probleme der praktischen Verteidigung demokratischer Rechtsnormen.“ (W. Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Frankfurt/M. 1976, S. 159) Ähnlich verlief der Lebensweg des Görlitzer Rechtsanwalts Dr. Hans Nathan (1900 – 1971), der der Deutschen Demokratischen Partei angehörte (der Partei W. Rathenaus), und den seine Erfahrungen 1938 in der Prager Emigration in die KPD führten. Er kehrte 1946 aus der englischen Emigration in die Ostzone zurück und arbeitete in verschiedenen Justizverwaltungen der DDR.

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findung zur Versöhnung der zerrissenen Lebensbereiche war dann nicht mehr nur philosophisch, sondern sozialrechtlich zu denken. Sein Denken nahm andere Richtung als die dominierende republikkritische Philosophie und Rechtswissenschaft der Zeit. Er gehörte, wie Benjamin, Bloch, Horkheimer, Jaspers, Liebert, Lukács, Mannheim, Nelson, Plessner und einige andere zu den in den achtziger und ersten neunziger Jahren des 19. Jh.s geborenen deutschen Philosophen, die am Beginn des neuen Jahrhunderts die Umbrüche jener Zeit – die chauvinistisch übertönte kleindeutsche Reichseinigung, das Sozialistengesetz, den seit den neunziger Jahren breit einsetzenden Industrialisierungsprozess – als die Öffnung der deutschen Gesellschaft zu starken sozialen Spannungen und zu den abenteuernden Ekstasen nationalistischer und militaristischer Gewalt erkannten und dem ihre rationalitätsbewahrenden und darum sozialreformerischen Theorien entgegensetzten. In den Jahren 1922/23 hatten Baumgarten und Helmuth Plessner vergeblich versucht, eine internationale philosophische Zeitschrift zu begründen, um die deutsche Philosophie der westeuropäischen philosophischen Kultur zu öffnen. 1934 wiederholten beide, nunmehr Emigranten, den Versuch: Plessner aus Groningen, Baumgarten aus Basel.30 c) Aufnahme des Marxismus Baumgarten kam im Reflexionsprozess seiner zeitgeschichtlichen Erfahrung zum Marxismus. Er sah noch 1933 als „bürgerlicher“ Liberaler auf die vorangehende obrigkeitsstaatliche Erosion des Rechtsstaates in Deutschland und anderen europäischen Staaten, die in einer zweiten Phase in die faschistische Diktatur oder die Kollaboration mit dem Faschismus überging. Seine Vorbehalte gegen den Marxismus hatte er immer wieder ausgesprochen. Sie bezogen sich im Theoretischen vor allem auf die soziologische Erklärung der Moral, die ihm die Rolle ideeller Vermögen des Menschen und die letztlich ideelle Vollendung der Menschheit zu mißkennen schien. Im Praktischen entsprachen sie noch direkter den überkommenen Ablehnungen, die der englische Sozialliberalismus ausgebildet hatte. Der revolutionäre Bruch mit dem sozialliberalen Rechtsstaat würde der integrativen, kompromissorientierten Verfassung der „industriellen Republik“, wie L. v. Steins saint-simonistischer Terminus lautete, widersprechen und Kräfte freisetzen, die stark im Umbrechen, doch unfähig zum Aufbauen seien. Einige immer latente Parallelen seines aufklärerischen Intellektualismus und zivilisatorischen Perfektibilismus mit dem historischen Materialismus nahm er nicht wahr. Erosion und in mehreren Ländern die direkte Zerstörung des Rechtsstaates offenbarten Baumgarten den grundsätzlichen Konflikt zwischen der integrativen Intention des Rechtsformalismus und der materialen strengen Ordnung der bürgerlichen Republik, dass die nichtbesitzenden Schichten sich dem Gebot des industriellen Erwerbs zur Verfügung zu halten haben. Das war für Baumgarten eine politische, eine verfassungsrechtliche Einsicht. Es war über das hinaus für ihn eine Korrektur seiner moralisch konzipierten Anthropologie.

30 Vgl. dazu die Dokumente im Anhang. Vgl. a. Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892 – 1985, Göttingen 2006.

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So setzte ein immer weiter greifender intellektueller Desillusionierungsprozess ein. Er sah die sozialbezogene Relativität im Handlungshorizont seines Pragmatismus und begann, sich des Marxismus als einer Philosophie zu vergewissern, die die Verbindung von Denken und Handeln auf eine Neukonstituierung der industriellen Zivilisation nach den sozialen und politischen Zielen der Arbeiterorganisationen übertragen hatte. Es war dieser Praxis-Impuls im ideellen Gefüge des Marxismus, der ihn anzog. Damit war verbunden, dass Baumgarten die Bedeutung der sozialen Strukturtheorie des Marxismus für die Rechtsgebiete anerkannte und diesen darüber hinaus als eine der wesentlichen sozialwissenschaftlichen und philosophischen Methodenlehren der Neuzeit zu erfassen begann. Er vollzog damit die Verbindung der rechtswissenschaftlichen Methode mit dem soziologischen und politikwissenschaftlichen Denken, wie es die Mehrzahl der deutschen Rechtswissenschaftler erst seit den sechziger Jahren wahrzunehmen begannen. Für sich selbst bekannte er 1944 ein, wie schwer ihm der Schritt zu dieser ihm so lange fremden Denkweise gefallen sei.31 Von der eigentlichen philosophischen Thematik des Marxismus sagte er zur gleichen Zeit mit gutem Blick, dass sie bislang wenig untersucht und im Grunde noch unentwickelt sei.32 Das entsprach der Situation dieser Theorie. Außerdem war es nicht verwunderlich für einen Mann, der selbst eine genaue Philosophie vertrat und dargestellt hatte. Baumgarten konnte darum den Marxismus nicht als ein System bestimmter Thesen, sondern als ein Reservoir methodischer Leitsätze annehmen, die für verschiedene Wirklichkeitsbereiche zu verschiedenen und nicht vorab zu bestimmenden Resultaten führen würden. Er betonte die Aufschlüsse, die ihm wie einem Lernenden zuteil würden. Alle Eitelkeiten lagen ihm trotz der Anerkennung, die ihm in seinem Fach zuteil geworden war, fern. Doch blieb er sich seines Problems eingedenk, die marxistische Methodik mit seinem sensualistischen Empirismus, seiner philosophischen Antinomik und mit seiner evolutionistischen Metaphysik sub specie futuri zu amalgamisieren.33 Gerade darum schätzte Baumgarten den Marxismus nun als die zeitgemäße und geschichtlich wirkungsvolle Fortbildung der weltimmanenten und perfektibilistischen Sozial- und Geschichtslehren der europäischen Aufklärung. Dazu kam ein weitergreifendes philosophisches Moment. Baumgarten vermochte, mehrere Konstanten seines sensualistischen Pragmatismus mit marxistischen Interpretationen zu verbinden. Das betraf neben dem Theorie-Praxis-Segment vor allem die Antinomik, die er seit den vierziger Jahren zur Hegel-Marxschen Dialektik in Beziehung 31 Vgl. Anm. 50. 32 Die Bindung des Marxismus an die soziale und politische Bewegung der Arbeiterschaft habe verhindert, „die marxistische Wirtschaftstheorie bis in ihre letzten Feinheiten zu verfolgen. Ähnlich verhält es sich mit den Ideen des Marxismus, die über das Wirtschaftliche hinausgehen. Wozu hätte der sehr erhebliche Kraftaufwand dienen sollen, den eine ernsthafte Kritik und Fortbildung der ausgesprochen philosophischen Partien des Marxismus erfordert?“ (Philosophiegeschichte, S. 336) 33 „Mein persönlicher Beitrag zur Philosophie ließ sich ohne Schwierigkeiten mit den marxistischen Einsichten vereinigen. Mein Bekenntnis zu einer sub specie futuri konzipierten Metaphysik, zu einem transzendenten Evolutionismus brauchte ich nicht zurück zu nehmen.“ (Philosophiegeschichte, S. 8)

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setzte. Außerdem fand er in der materialistisch gefassten Dialektik das MetaphysikElement seines Empirismus wieder: „Der Widerspruch bedarf, wie auch die Dialektiker zugeben, einer Lösung, und eine wohlberatene Dialektik, wie die marxistische, sieht sich zu der Feststellung veranlasst, dass eine abschließende Lösung aller Widersprüche in der Unendlichkeit liege.“34 Baumgarten nahm das auf in seine evolutionäre Metaphysik sub specie futuri. Sein Metaphysik-Verständnis schloss ein, dass sie Erfahrungssache werden solle, also nicht nur erfahrungswissenschaftlich begründet, statt apriorisch vorausgesetzt, sondern erfahrungsmäßig ins soziale Verhalten aufgenommen. Sie werde zu einem praktisch bewegenden Impuls des Denkens bei einer großen Zahl von Menschen werden.35 Nun fügte er 1939 hinzu, der Marxismus setze dem geschichtlichen Prozess das Ziel einer klassenlosen Gemeinschaft gleicher, freier, solidarisch verbundener Bürger, dessen sich keine idealistische Rechtslehre zu schämen brauche. Er nannte als dessen Verdienst, die Illusion beendet zu haben, dass das Recht nur von ideellen Faktoren gebildet werde.36 Speziell zur Rechtstheorie betonte er nun, dass die Positivität des Rechts über sich selbst hinausweise, ja, dass die Rechtswissenschaft „hypothetische Imperative“ zu ihrem Gegenstand gewinne und sich „als eine bestimmte Form der Rechtssoziologie“ entfalte.37 Das führte ihn zum Marxismus als Rahmen einer nicht mehr wertneutralen Rechtsmethode. Er erkannte in Marx’ sozialwissenschaftlicher Methode ein generelles strukturtheoretisches Konzept, um konkreteren materialen Gesichtspunkten seiner Rechtsmethode entsprechen zu können. Marx’ Strukturtheorie nahm er als Fortsetzung seiner eigenen materialen Orientierung der Rechtsmethode, die seinem sensualistisch-moralischen Denken entsprach, und die er in der Methodenlehre von 1939 zusammenfasste. Die Rechtsmethodik bedürfe in Krisenzeiten „hypothetischer Imperative“, gleichsam eines „hypothetischen Naturrechts“. Baumgarten kam durch seine Marx-Aufnahmen recht eigentlich erst dazu, um einen Ausdruck L. v. Steins zu benutzen, die wirkliche Republik von der abstrakten zu unterscheiden. An Marx’ Strukturtheorie der bürgerlichen Gesellschaft anerkannte Baumgarten die mögliche Verbindung mit einer sozialen 34 Ebd., S. 342. 35 Der Weg, S. 39f, S. 176f. 36 Die Verbindung der ursprünglichen empiristischen und sozialliberalen Auffassungen Baumgartens mit den marxistischen und sozialistischen Anschauungen seit den vierziger Jahren findet sich von Ch. Preschel gut dargestellt: Ch. Preschel, Arthur Baumgarten, in: H. Schröder, D. Simon, Rechtsgeschichtswissenschaft in Deutschland 1945 bis 1952, Frankfurt/M. 2001, S. 129-150. „Baumgarten sah im Marxismus/Leninismus eine Philosophie und damit auch ein Medium, das die Ideale der Aufklärung aufnehmen konnte und in dem er sein eigenes liberales Weltbild aufgehoben sah.“ (S. 131) „Die Ideale der Aufklärung waren sein eigentlicher und nahezu einziger weltanschaulicher Ausgangspunkt, an dem er im Verlaufe seines wissenschaftlichen Lebens festhielt.“ (S. 145) Ch. Preschel lässt nur in einem Punkt wesentliche Bezüge aus. „Baumgartens Entschluss, trotz anerkannter Position in Basel und guter Aussichten auf die Fortsetzung seiner ... Wissenschaftlerkarriere die ... Schweiz zu verlassen, ... war ungewöhnlich und erscheint gerade auch aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar. ... Baumgartens Motive für diesen ungewöhnlichen Schritt lassen sich schwer ermitteln.“ (S. 130) 37 Der Weg, S. 480.

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Bewegung, die dem ganzen juristischen Selbstverständnis der Industriegesellschaft eine neue Grundlage bieten würde. Marx’ praxisbezogenen Theoriebegriff, markant in den Feuerbachthesen, bezog er zugleich in seine pragmatistische handlungsorientierte Auffassung des Intellekts ein. Bei Marx fand er einen sozial und politisch konkretisierten Pragmatismus vor, mit dem er sein ganzes bisheriges philosophisches Werk synthetisieren konnte, und das zugleich seiner Auffassung vom Entscheidungsgehalt der eingetretenen Konstellation durch den Gedanken antagonistischer Klasseninteressen eine generelle Basis bot. War es bei Baumgarten ein „illegitimes Verhältnis mit dem Marxismus“, wie G. Scholem es von Benjamin schneidig dogmatisch gesagt hatte? Auch bei Baumgarten keineswegs. Freilich stand er unter den großen deutschen Juristen jener Zeit mit seiner Wendung zu marxistischen Auffassungen allein.38 Er hatte seinen sensualistischen Pragmatismus natürlich nicht aufgegeben, aber ihn durch bestimmte marxistische Theoriestücke ergänzt. Das betraf vor allem Aspekte der Marxschen sozialen Strukturtheorie: die Klassenscheidung der industriellen Gesellschaft, die Perspektive des Gemeineigentums an der großindustriellen Produktion sowie die Bindung der Auseinandersetzungen um Rechts- und Staatsformen an die Kämpfe sozialer Klassen; nicht so Marx’ Materialismus, den sozialen Prozess aus der gegenständlich-praktischen Arbeitstätigkeit herzuleiten. Baumgarten setzte bei konkreteren psychischen, darunter unbewussten, und bei moralisch-praktischen Vergesellschaftungsakten ein. Blochs, Benjamins, Fromms, Marcuses Adaptationen und Fortbildungen des Marxschen antiidealistischen Konzepts verliefen analog. Es gestattet, den Punkt zu bestimmen, der seinen originalen Platz in der Geschichte der deutschen Rechtsphilosophie und Philosophie ergibt. Ebenso wie die noch anhaltende Zurücksetzung Baumgartens in der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft und Philosophie, verfehlt die einfache Lobpreisung seines Übergangs zum Sozialismus mit faktisch angenommener pauschaler Marxismusübernahme das eigentliche Problem und damit Baumgartens Leistung. Baumgartens originaler Platz in der Geschichte der deutschen Jurisprudenz und Philosophie fasst sich darin zusammen, dass Baumgarten die sozialen Aspekte des europäischen Liberalismus für diesen zum Thema machte und einen neuen politischen Block für sozialistische Schritte zur Umwandlung der Großindustrie in Formen des Gemeineigentums für erforderlich erklärte. Darin liegt auch der Schwerpunkt seiner Marxismus-Aufnahme. Es gibt zwischen realisiertem Liberalismus und Sozialismus keine feste Schranke, wie es sie auch nicht zwischen den Linien des Pragmatismus und des Marxismus gibt. Solche Trennungen gehören einer vergangenen Periode der Industriegesellschaften und des Versuchs zu deren sozialrechtlicher Transformation durch die zentralistische Partei einer exklusiven sozialen Klasse an. Man wird die aus dem engagierten Pragmatismus von Dewey, Baumgarten, Rorty, Habermas zu entwickelnden Begründungen für immer weiter treibende soziale Veränderungen nicht verkennen.39 38 H. Klenner hat das für Kelsen und Radbruch gezeigt im Nachwort zu seiner Edition der Grundzüge der juristischen Methodenlehre, Freiburg, Berlin 2005, S. 310ff. 39 Texte von J. Rawls, einem der meistdiskutierten Autoren zu den Themen „Gerechtigkeit als Fairness“ und eines „übergreifenden Konsens“, zeigen freilich auch, wie zurückhaltend die Reichtums-

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Der schließliche Untergang eines über mehrere Generationen anhaltenden sozialistischen Gesellschaftsversuchs geschah nicht infolge einiger falscher Handgriffe bei deren Führungen, auch nicht wegen der Ungunst der Bindung an das alleinige, zudem vom Kalten Krieg ökonomisch überlegener Gegner auf seinen überholten Zentralismus zurückgedrängte Sozialismusmuster eines Entwicklungslandes. Diese sozialistischen Gesellschaften waren nach Marx’ Annahme aus dem 19. Jh. von einem exklusiven proletarischen Adressaten ausgegangen, der durch eine diktatorische Periode hindurch alle Produktionsmittel in den Händen des Staates versammele, planwirtschaftlich organisiere und, wie Marx in der Kritik des Gothaer sozialdemokratischen Programms von 1878 selbst etwas lapidar sagte, die alte in die neue Gesellschaft umwandle. Dem entsprach die zentralistische sozialistische Partei sog. neuen Typus und deren Trennung von der Masse der nichtorganisierten Bevölkerung, so dass aus dem sozialistischen Demokratismus, der eigentlich in einem alten plebejischen Vergemeinschaftungsbewusstsein seine Ursprünge besaß, ein nur sehr vorübergehend produktives Führungs-Gefolgschafts-Verhältnis hervorging. Die Marxsche Theorie wurde allen anderen liberalen Sozialtheorien gegenübergestellt und ihr anspruchsvoller methodischer Charakter schließlich gegenüber frühen, babouvistisch und blanquistisch beeinflussten sozialrevolutionären Annahmen von Marx und Engels aus der Vormärzzeit zurückgesetzt. Überhaupt stellt die Marxsche Zivilisationstheorie als Resultante der großen philosophischen und sozialwirtschaftlichen Theorieströme des 18. und frühen 19. Jh.s ein so komplexes und den empirischen Perioden und Prozessen gegenüber abstraktes szientifisches Gebilde dar, dass das Beginnen, daraus politische, verfassungsrechtliche und wirtschaftsorganisatorische Entscheidungen herleiten zu wollen, Hilflosigkeit erkennen lässt und die Verlegenheit erzeugt, das Procedere von Fehlentscheidungen in Ideologie zu verwandeln. Es war, als wenn man aus Grundrechten Verwaltungsgesetze abzuleiten begänne. Der vorliegende monographische Überblick gewann seine Motivation aus der Überlegung, dass Baumgartens Pragmatismus und empiristische Rechtsphilosophie sich nun zu gesellschaftstheoretischen Perspektiven jenseits der abstrakten Teilung „marxistisch“– „bürgerlich“ füge. Baumgartens altruistischer Eudämonismus entfaltete sich aus der Geschichte des sozialkritischen Denkens im europäischen Positivismus, der Linien des philosophischen und naturwissenschaftlichen Materialismus, auch des sozialliberalen Neukantianismus mit sozialistischer Tendenz, etwa bei Cohen und Nelson, nicht zuletzt des religiösen Sozialismus z. B. P. Tillichs oder L. Ragaz’. Mit Ragaz wirkte Baumgarten in der Schweiz zusammen. Baumgartens philosophisches und juristisches Erbe besteht in der Markierung der sozialen Problematik des Liberalismus und dessen Verbindung mit sozialistischen Maßnahmen zur Realisierung sozialer Gerechtigkeit; wie es in der Weimarer Zeit hieß, zu sich ausgestaltender „Wirtschaftsdemokratie“. Nach der Selbstauflösung der sozialistischen Gesellschaften, eines der weltgeschichtlichen Experimente, die die Menschheit sich auferlegt, geht die Sozialismustheorie, des exkluverteilung behandelt wird, gar eine effektivere soziale Verfügung über die aufgeschossenen materiellen und ideellen Produktivkräfte der Menschheit als Prämissen realer demokratische Selbstbestimmung der Bevölkerungen ausgespart bleibt. (J. Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1992)

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siven sozialen Adressaten mit deklariertem Monopolanspruch und daraus folgendem Diktaturgebot enthoben, zurück in die sozialen Gerechtigkeitskonzeptionen. Der Pragmatismus konsensualer und also nicht revolutionär-diktatorischer Lösungen für die sich neu ausprägenden Gerechtigkeitsdefizite der privatwirtschaftlichen Industriegesellschaft gewinnt Geltung im Schritt mit den erstaunlichen Umgestaltungen der industriellen Arbeitsprozesse und mit einem phantasielosen Bodensatz, als der sich die in einer sittlichen Verantwortung für einander bestimmten Bürger von Rechtsverfassungen wiederzufinden fürchten. Die Verschmelzung zwischen sozialliberalen und sozialistischen Verrechtlichungsschritten bildet das Elixier des Baumgartenschen Werkes, nicht dessen Zerteilung in zwei getrennte Kontinente. Überhaupt ist der sozialistische Gesellschaftsversuch im weiteren Rahmen der sozialen Auseinandersetzungen zu sehen, die zu den Entwicklungsschüben der industriellen Zivilisation gehören. Das spätere 19. Jh. überschritt bereits die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Damit entstand ein neuer Liberalismus. Ein Staat mit Beihilfefunktionen fürs Kapital und Verantwortung für die Behandlung sozialer Probleme war bereits kein Staat im Sinne des ursprünglichen Liberalismus mehr. Inzwischen zeichnet sich das Ende der kurzen Periode eines wirtschaftlich gesicherten Status der Lohnarbeit ab.40 Der ökonomische Abstieg abhängig Beschäftigter gewinnt Fahrt im gleichen Zug, wie die Selbstverwertungsprozesse des Kapitals sich universalisieren und sich nationalstaatlichen Eingriffen entziehen. Das verstärkt die autoritären Stabilisierungsmechanismen demokratischer Gesellschaften nach amerikanischem Muster. Doch die neue Armut als sozialer Adressat sozialliberaler und sozialistischer Programme vermag vorerst nicht, vergleichbar der Industriearbeiterklasse des 19. und 20. Jh.s, ein gemeinsames soziales Interesse und eine wirkungsvolle soziale Bewegung auszubilden. Es entstehen partikulare sog. Protestpotentiale gegen die gegebene Ordnung, doch nun vorerst ohne die soziale und politische Eigeninitiative für eine neue Ordnung. Das verändert die Handlungsstrategien für soziale Veränderungen und entzieht der überkommenen Revolutionstheorie den Boden, doch nicht der Zukunft politischer Machtkämpfe um die reale gesellschaftliche Verfügung an der alle Machthebel in sich sammelnden Großindustrie. Sieht man auf die Arbeiten Baumgarten zum Marxismus, so fällt mit den reellen Übernahmen beim lebhaften Bekennen zugleich auch bemühtes Anerkennen ins Auge. Das lag wohl daran, dass er unter den zeitgeschichtlichen Umständen „den Marxismus“ apostrophierte, als urbaner Gelehrter aus seiner philosophischen und juristischen Arbeit aber wusste, dass es solche Monolithe nur als Denkmale gibt, wissenschaftliche Theorien aber sich verzweigende intellektuelle Prozesse darstellen. Sieht man auf die zustimmenden Passagen der Texte zum Marxismus in Jurisprudenz und Philosophie, so bemerkt man am ausdrücklichen Bemühen doch auch, dass sie oft etwas deklamatorisch bleiben.41 Methodenlehre von 1939 und Philosophiegeschichte von 1945 boten auch in 40 Vgl. R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000; E. Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die Arbeitswelt?, T. 1, Wiesbaden 2008; A. Honneth, Arbeit und Anerkennung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2008, H. 3, S. 327-341. 41 „Der wissenschaftliche Sozialismus vermag zu zeigen, dass, wenn man den Sinn des Rechts darin findet, dass die Willkür des einen und des andern unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit

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diesen Teilen noch reelle Wertungen. Doch an späteren Texten, die vollzogenen Übergang zeigen möchten, sieht man das Bemühen eines Denkers, seine eigenes juristisches und philosophisches Denken mit Thesen eines ihm vorliegenden Systems zu verbinden. Baumgarten vermochte nicht mehr die Souveränität Gramscis, R. Luxemburgs, Blochs, Benjamins, Korschs, M. Raphaels, auch Brechts, die bereits in frühen Jahren Marxismus-Interpretationen ausgebildet hatten, im Umgang mit dem theoretischen Reservoir zu gewinnen. Er hatte, anders auch als Juristen wie K. Renner, H. Heller, P. Levi, K. Rosenbaum, E. Paschukanis, bis zum Ende der dreißiger Jahre dem Marxismus nicht nur ferngestanden, sondern ihn ausdrücklich abgelehnt. Ihm waren die Auseinandersetzungen zwischen Kautsky, R. Luxemburg, Gramsci, Deborin, Lukács, Horkheimer, Fromm, M. Adler und vielen anderen, in denen die marxistische Theorie sich bewegte und ausgestaltete, fremd geblieben. So ging er, inzwischen in der Mitte seines sechsten Lebensjahrzehnts, dank seiner Erfahrung in der Interpretation theoretischer Systeme, ins Zentrum der Marxschen Texte selbst. Interpretationsvarianten spielten keine Rolle. Man sieht das deutlich am Marxismus-Kapitel seiner Philosophiegeschichte von 1945. Das hielt Baumgarten von Anfang an von allen dogmatisierenden Schattierungen und deren Anfechtungen fern und hielt den Blick frei für wesentliche und unhintergehbare Beiträge von Marx zu den Sozialwissenschaften und zur Philosophie. Unter den deutlich und manchmal auch zeitbedingt etwas deklamatorisch ausgesprochenen Bekenntnissen zur Marxschen Soziologie wird man bei ruhigem Betrachten bemerken, dass diesen von weither gegangenen Gelehrten mit Forschergeist die Ergänzungs- und Konkretisierungsmöglichkeiten seiner sensualistisch-pragmatistischen Philosophie und Jurisprudenz interessierten. Das ist etwas anderes, als wenn er daran gegangen wäre, innerhalb des marxistischen Berings neue theoretische Ansätze zu entwickeln. Überhaupt möchte nicht übersehen werden, dass man einen Autor vom geistigen Herkommen und vom Rang Baumgartens klein macht, statt groß, wollte man ihm ein Lob mit der kahlen Ehre spenden, er habe sich nun ganz auf den Marxismus umgestellt; abgesehen vom ungenügenden Begriff „des Marxismus“, der den allerdings hochgefährlichen Beckmessereien zugehörte, Bloch sei kein Marxist, Lukács auch nicht, Korsch nicht und schließlich, wer überhaupt noch außer dem je-

verbunden wird, ein solches Gesetz nur in der sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft verwirklicht werden kann.“ Aus einem nachgelassenen Manuskript über Marxismus und Rechtswissenschaft, etwa von 1946, aus dem Archiv der BBAW publ. bei Klenner/Oberkofler, Arthur Baumgarten, a. a. O., S. 206-229, hier S. 208. Nach einigen solchen Deklarationen kommt Baumgarten doch aufs Nähere zu sprechen, und er führt in durch Konzentration beeindruckenden Darstellungen – sind es für ihn marxistische Theoriestücke? – seine eigene Strafrechtslehre, seine empiristische Methodenlehre des Rechts, seine eudämonistische Ethik und Metaphysik sub specie futuri aus, bringt Abgrenzungen zwischen mittelbarer und unmittelbarer Demokratie zur Sprache und schließt mit seiner Völkerrechtslehre, nicht die Vielheit der Staaten sei die Instanz des Völkerrechts, sondern „die Völkergemeinschaft als unorganisierte Gesamtperson“. Das nachgelassene Manuskript bringt wenig über Baumgartens Marxismus, ist aber ein anspruchsvoller und mit Genuss zu lesender Grundriss der Rechtsphilosophie dieses außerordentlichen Mannes im Rückblick auf die Reihe seiner Hauptschriften, lange vor dessen Marxismus-Aufnahmen.

4. WENDUNG ZUM SOZIALISMUS

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weiligen Parteibeschluss. Baumgartens Werk bietet seinen intellektuellen und menschlichen Reiz wohl durch seine Vielfalt und durch den mit ihm vollzogenen exemplarischen Lebensgang eines entschlossen für seinen pazifistischen und altruistischen Humanismus Partei nehmenden Mannes. Aber es zerfällt, wenn man es in zwei Teile zertrennt. Besser sieht man auf Baumgartens Marx-Aufnahme mit einer Rückwendung auf Baumgartens sensualistischen Moralismus und dessen Metaphysik der Zeit, und liest diese zugleich vorwärts auf den soziologischen Realismus des Marxismus und die sozialistischen Perspektiven fortgehender Effektivität der großindustriellen Produktion und sozialstaatlicher Reform. Im juristischen Bezug war Baumgartens Schritt zum Marxismus von der Erfahrung verursacht, wie leicht die Verfassungsgestaltung von 1919 zerstört werden konnte. In den seit 1923 wiederkehrenden verfassungsrechtlichen Krisen der Weimarer Zeit (Auflösung der gewählten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen, Duldung des rechtskonservativen Staatsstreichs v. Kahrs in Bayern, Erosion des Rechtsstaats in dessen Spätphase der Notverordnungen) wurde die Spannung zwischen dem republikanischen Normensystem und dem Staatsapparat zu einem rechtstheoretischen Problem. Die kommunistische Bewegung negierte die normative Realität der Verfassung mit dem vom Rätegedanken unmittelbarer Demokratie überdeckten Diktaturkonzept, die Mehrheitssozialdemokratie reduzierte sich auf die Identifikation mit dem Staat zu Lasten der normativen Gehalte der Verfassung. Nun zeigte sich, dass die Konstruktion der Verbindung von subjektiven Rechten der juristisch gesetzten Person und dem objektiven Recht, in dem sich die sozialen Strukturen bewegen, von nicht mitartikulierten Faktoren gesprengt wurde. Nicht nur die Institutionen des Staates, das Normensystem des Rechtsstaates selbst offenbarte seine reale Stabilisierungsfunktion für das privatkapitalistisch produzierende Eigentum, indem dessen Störung durch die nazistische Diktatur beseitigt werden sollte. Baumgarten entschied sich darum für die sozialistische Lösung, als soziales Strukturelement des objektiven Rechts das Gemeineigentum in der Form des Staatseigentums an der Großindustrie einzusetzen und auf dieser Grundlage den Bereich der subjektiven staatsbürgerlichen Rechte zu rekonstruieren. Das war das Marxsche Programm für die geschichtliche Bewegung der Arbeiterklasse bis hin zur Erlangung der politischen Macht gewesen, das Baumgarten nun anerkannte. Über die von Baumgarten natürlich geteilten Irrtümer des proletarisch-revolutionären Programms unter der zwei Generationen nach Marx entstandenen sozialen Gliederung der entfalteten industriellen Gesellschaft ist auch zu sprechen.

4. Wendung zum Sozialismus Baumgartens Übergang zur sozialistischen Programmatik ist ein komplexerer und eigenartigerer Prozess, als man annehmen möchte und als es gemeinhin – zustimmend oder ablehnend – dargestellt wird. Er hat vieles von einer späten, erweckenden Entscheidung, in den Fächern des Rechts und der Philosophie mit wenigen neuen, theoretisch durchzubildenden Einsätzen, sondern ist sehr auf die Synthetisierung mit seinen längst erarbeiteten und dargelegten Auffassungen gerichtet. Der Übergang erfolgte in

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drei Ebenen seines Handelns und Denkens als antifaschistischer Emigrant: zuvorderst politisch begründet, weitgreifend philosophisch eingefasst, zuletzt und am geringsten rechtstheoretisch analysiert. Er zeigt einen Philosophen in der Einheit seines Denkens und seines Lebens. Ein Liberaler für den Ernstfall, der eine Lösung suchte für seinen Pazifismus nach dem zweiten großen Krieg, ein Philosoph, der seinem altruistischen Moralismus eine reale Bewegung in der Welt entgegenstreben sah, und ein Jurist, der in der sozialen Gerechtigkeit die Unterlage der Rechtsgemeinschaft in der heutigen Welt erkannte. a) Reflexion politischer Erfahrung Ausgangspunkt und Antrieb war das blamable politische Geschehen. Nach den Erfahrungen mit der Übermacht konservativer nationalistischer Kräfte in der Weimarer Republik, angesichts der Katastrophe, die die Unterstützung der Großindustrie für die nazistische Diktatur in Deutschland angerichtet hatte, hieß nun für viele der emigrierten Intellektuellen, die Sozialisierung der Industrie- und Bankmonopole abermals zu versäumen, so viel, wie den gesunden Menschenverstand beleidigen.42 Wenn man auf die verschiedenen Entscheidungen, die in jener Zeit sinnvoll erscheinen konnten, mit Billigkeit und praktischem Sinn sieht, wird man bei Baumgarten zuerst bemerken, dass ein Gelehrter von seinem Rang aus der ihm seit 1909 vertrauten Schweizer akademischen Existenz, seit dem Sommer 1920 mit einer Arzttochter aus dem Graubündener Adel verheiratet, zu den seit Generationen Zurückgesetzten der unteren Schichten des deutschen Volkes ging. Er wandte sich einem von den vermögenden europäischen Staaten heftig befeindeten Gesellschaftsprojekt zu, das nicht die Wiederherstellung des Gewohnten anbot, sondern die Mühen verhieß, eines widerspruchsvollen, und für einen sehenden Mann, wie er es blieb, auch unabsehbare Veränderungen einschließenden, Erneuerungsversuchs der industriellen Zivilisation. Baumgartens sozialistische Entscheidung am Ende der dreißiger und für die ostdeutsche Nachkriegsgesellschaft in der Mitte der vierziger Jahre ist innerhalb der Bewegung der Zeit zu sehen. Die verschiedenen Phasen seiner Wendung zum Sozialismus vollzog Baumgarten vor allem auf Grund der politischen Erfahrung, die ihm die Erlebnisse der Emigrationszeit vermittelten, weitaus geringer in den Bahnen seines rechtswissenschaftlichen Denkens. Den Ansatzpunkt bildete Baumgartens Enttäuschung über die Resignation und die Kompromissbereitschaft der politischen Klasse der europäischen Gesellschaften gegenüber dem Faschismus.43 42 Bei den Reichstagswahlen im November 1932 war die Stimmenzahl für die NSDAP deutlich zurückgegangen, noch stärker bei den Thüringer Landtagswahlen im Dezember, während die Stimmenzahl für die beiden Arbeiterparteien anstieg. Schacht, Thyssen u. a. Industrielle richteten eine Petition an Hindenburg, er möge Hitler zum Reichskanzler berufen. Die Nazipartei kam zur Macht, als ihr Einfluss zurückzugehen begann. (Vgl. G. F. W. Hallgarten: Hitler, Reichswehr und Industrie. Zur Geschichte der Jahre 1918 –1933, Frankfurt/M. 1962) 43 Die profaschistische Haltung innerhalb der französischen Oberschicht zeigte M. Bloch in seinem autobiographisch-historischem Buch Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940 – Der Historiker als Zeuge, Frankfurt/M. 1992.

4. WENDUNG ZUM SOZIALISMUS

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Daraus kam Baumgarten zunächst als ein Intellektueller mit Gewissen zu dem aktiven Antifaschismus in der Schweizer Emigration. Er sah die pragmatistische Lehre von der moralischen Verantwortung der Philosophie vor der Bewährung. Bereits 1932 waren in der Schweiz die Bundesbediensteten, die Mitglieder der KP und ihr nahestehender Organisationen waren, vom Verwaltungsdienst ausgeschlossen worden. Die Passivität der westeuropäischen Siegermächte von 1918 bei der faschistischen Besetzung der entmilitarisierten Zone im Rheinland (1936), noch mehr die Aufgabe der Tschechoslowakei durch das Münchener Abkommen (1938), dann wieder die Bereitschaft der französischen Regierung zur Kooperation mit Hitler, um einer erneuten Volksfront zu begegnen (1939 hatte Daladier die Kommunistische Partei Frankreichs verboten), all das hatte auch Baumgarten zur Überzeugung geführt, dass die westeuropäischen Regierungen den Faschismus de facto tolerieren wollten. Nun sah er keinen anderen Ausweg als einen neuen politischen Block unter Führung der sozialen Interessen der Arbeiterschaft. Das brachte die sozialistische Fortbildung seines Liberalismus. Seine optimistische Erwartung wurde bestärkt, als die faschistische Herrschaft über Europa an der militärischen und menschlichen Macht der Bürger der SowjetGesellschaft zerbrach. Es führte den bekämpften und isolierten Staat als Großmacht in die Weltpolitik. Er verstand das als ein Ereignis für eine europäische Zukunft in Kooperation mit der Macht im Osten. Wie viele Sozialisten nahm er an, in diesem Prozess des Austritts aus der internationalen Isolierung würde das zentralistische System über seine ursprünglichen Schranken hinausgelangen. Ein unerwartetes Erlebnis wurde für Baumgarten und ebenso für seine Ehefrau die Erfahrung der enttäuschenden Neutralitätspolitik der Schweiz und des zunehmend restriktiven Umgangs mit den antinazistischen Emigranten. Das erweiterte seinen Blick hin zu grundsätzlichen Einschätzungen von Ideologien als Ausdruck von Klasseninteressen. (Eines der wiederkehrenden Themen seiner Leipziger Vorlesungen ab 1946/47 war dann die Ideologie-Thematik.) 1942 formulierte der Bundesrat v. Steiger die Konfrontation mit der Emigration in dem derben Wort, das Boot sei voll.44 1940 war die Kommunistische Partei der Schweiz verboten worden. Im gleichen Jahr erfolgte das Verbot der Organisation „Rote Hilfe“, die nicht nur für die kommunistisch orientierten Flüchtlinge Unterstützung organisierte, vielmehr trotz des Namens die letzte Organisation sehr wirkungsvoller und realer sozialdemokratischer, kommunistischer und bürgerlichliberaler Kooperation darstellte. Baumgarten erlebte hier entschiedene Nazigegner und suchte Abhilfe gegen die laue Schweizer Neutralitätspolitik. Er hatte viele Begegnungen mit dem ihm bald befreundeten Baseler Goldschmied und Kommunisten H. Stebler (1924 – 1994), dem Initiator zur Gründung der Schweizerischen Friedensbewegung. Frau Helene Baumgarten-v. Salis wirkte seit 1935 als Leiterin der von ihr mitbegründeten

44 Die vielfältige Bedrückung der Emigranten, deren Verbringung in Internierungslager, „Ausschaffung“ über die deutsche oder, im günstigen Fall, über die französische Grenze, in den Erinnerungen vieler Nazigegner: H. Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. 1, Frankfurt/M. 1988; H. Teubner, Exilland Schweiz. 1933 – 1945, Berlin 1975.

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Baseler Hilfsstelle für Flüchtlinge.45 Baumgarten wandte sich der Schweizer Gewerkschaftsbewegung zu. 1942 suchte er eine Erklärung von Intellektuellen für einen aktiven Antifaschismus zu organisieren.46 1943/44 bildeten sich zur Vorbereitung der Nationalratswahlen „Listen der Arbeit“, aus der 1944 die Partei der Arbeit hervorging. Baumgarten nahm daran teil.47 Es gab in der Schweiz noch die Erinnerung an die sozialdemokratische, die sog. Zimmerwalder Linke aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Schweizer Behörden hatten die geistigen und politischen Veränderungen des einst geschätzten Akademikers und Mitbürgers längst mit Besorgnis beobachtet. Bereits Baumgartens Grundzüge der juristischen Methodenlehre von 1939 konnten nur noch unter Schwierigkeiten in Bern einen Verlag finden. Das Werk führte v. Iherings Fragestellung nach dem sog. richtigen Recht zu den Fragen nach dem sozialen Kontext der Bewegung der Rechtsform und nach konkreten Möglichkeiten des Rechts, es für soziale Umgestaltungen einzusetzen. Es sprach die Schlussfolgerung aus, die ökonomische Macht des Großkapitals auf dem Wege von Volksabstimmungen über Sozialisierungsschritte zu brechen und ergänzte den integrationistischen Duktus der Jurisprudenz durch die Anerkennung nun möglicher Weise erforderlicher revolutionärer Neusetzung von Rechtsordnungen. Die Zurückhaltung der Akademiker gegenüber dem so lange hochgeschätzten Kollegen nahm zu. Die Behörden begannen, Dossiers über seine Vorträge und Kontakte anzulegen. Thomas Mann immerhin, dem Baumgarten ein Exemplar der Methodenlehre übersandt hatte, schrieb am 30.5.1939 zurück: „Gott erhalte die Schweiz. Ihrem Dasein verdankt man es, dass dies alles heute auf deutsch gedacht und gesagt werden konnte.“ G. Radbruch schrieb Baumgarten sehr zustimmend zu dessen Logik aus dem gleichen Jahre.48 Noch gab es auch in der Schweiz Kollegen, die in Baum45 Helene Baumgarten wirkte auch für die Rote Hilfe. Es ist wenig bekannt, dass es sich bei dieser Organisation bereits in der Weimarer Zeit um eine sozialistische Organisation handelte, in der die Auseinandersetzungen zwischen den Arbeiterparteien, wie auch zwischen deren einzelnen Fraktionen keine Rolle spielten. Es war, wenn man so will, eine große „Einheitsfront“-Organisation, die auch von nichtsozialistischen Demokraten unterstützt wurde. Umso zielstrebiger wurde versucht, sie in der öffentlichen Meinung zu diskreditieren. 46 Das Bekenntnis war, dass „wir Neutralen“ Mitschuld hätten, dass ein Volk nach dem anderen in den Staub getreten worden sei vom Nazismus, weil wir passiv dabeigestanden seien. Nun wollten die Unterzeichner „im Namen der entscheidenden Mehrheit des Schweizer Volks“ ihre Solidarität mit den angelsächsischen Demokratien, der Sowjetunion und allen unterdrückten Völkern bekunden. „Gruß an Euch, unterdrückte Völker. Glaubt nicht, dass wir mit unserem Herzen neutral seien“. (Der Theologe K. Barth, der zum Kreis der entschiedenen Unterstützer der Emigranten gehörte, zog in einem Brief v. 14.11.1942 an Baumgarten seine Zusage zurück, als Unterzeichner genannt zu werden.) 47 Die Partei wurde bei den Baseler Großratswahlen mit 18 Mandaten die zweitstärkste Partei nach der Sozialdemokratie. Sie zählte 1945 13.400 Mitglieder. (Vgl. Klenner/Oberkofler, Arthur Baumgarten, a. a. O., S. 66) 48 „Je älter ich wurde, um so mehr ist mir das empirische Element innerhalb meiner wertphilosophischen Gesamtanschauung hervorgetreten. ... Schließlich weiß ich mich mit Ihnen völlig einig in der positiven Einstellung zu dem großen Befreiungszeitalter, der Aufklärungszeit.“ (Erstpubl. in: H. Klenner, Nachwort zu: Baumgarten, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, a. a. O., S. 317)

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gartens Methodenlehre den Einsatz einer neuen Phase sozialliberaler Rechtsphilosophie sahen und als Diskussionsthema anerkannten.49 Radbruch freilich hatte Baumgarten 1939 auf die Grundzüge der juristischen Methodenlehre, die er als seinem Denken verwandt sehr anerkannte, auch geschrieben: „Nur eine wirkliche Differenz lassen Sie mich hervorheben, ich meine, je kollektivistischer der Staat wird, um so wichtiger wird die verwaltungsrechtliche [unleserlich]. Der Rechtsstaat muss jetzt das Hauptanliegen aller Juristen sein, mögen sie nun sozialistisch oder individualistisch denken.“50 Für die große Philosophiegeschichte von 1945 fand sich dann bereits kein Schweizer Verlag mehr. Unbeirrt ließ er sie in Genf im Selbstverlag erscheinen. Bittere Ironie der Geschichte, dass dann 1950 in der DDR die ausgedruckte Neuauflage nicht erscheinen durfte und eingestampft wurde. Drei Gesichtspunkte sind es, die Baumgartens weiteren Weg bestimmten, und ihn auch dem heutigen Urteil erschließen. Zum Ersten war es der Fortgang der hier nur knapp bezeichneten praktischen Konfrontationen, der den aufrechten Mann zum Sozialismus als der Entscheidung für einen grundsätzlichen Neuanfang nach dem Kriege führte. Der ernsthafte Wille ist in jeder gegebenen Situation ein asymmetrisches Element. Er sah die sozialistische Bewegung aus der Zeit kommen und in eine weitläufige Zeit gehen. Also überließ er seine Erwartung späterer Reifungen dem Fortgang der Sache selbst. Alle großen Entscheidungen der Menschen geschehen unterm Horizont des Beginnens, nicht des Endes, das sie oft gar nicht mehr kennenlernen. Den linkssozialistischen, nicht-leninistischen Gedankenkreis der Partei der Arbeit erkennt man gut an Baumgartens Referat bei der Versammlung der Liste der Arbeit vom März 1944 in der Mustermesse in Basel. Der Akzent sitzt auf dem Programm eines neuen Bündnisses sozialer Kräfte unter der Führung der Arbeiterorganisationen, um den herrschenden politischen Block der bürgerlichen Klasse abzulösen. Es war die Zeit der antifaschistischen, linkssozialistischen Wendung in der französischen und der italienischen Gesellschaft, wie auch auf dem Balkan. „Wir gehören zur sozialistischen Arbeiterbewegung. Jede fortschrittliche Bewegung muss heute getragen sein von der Arbeiterschaft. Es ist mir schwer geworden, mich zu dieser Überzeugung durchzuringen; 49 M. Schabad schrieb eine zustimmende Rezension Rechtswissenschaft im Sturm der Zeit, die am 23.7.1939 in der Schweizer National-Zeitung (Nr. 334) erschien. „Angesichts der drohenden Barbarei will nun Baumgarten an die Soziallehren der Aufklärung und an den großen Gedanken der Planwirtschaft anknüpfen, um den Gegensatz zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden aufzuheben, ... den Staat von seiner Abhängigkeit von großkapitalistischen Trusts und Kartellen zu befreien und den Menschen seiner wahren Bestimmung zurückzugeben.“ Die herrschenden Schichten benutzten den Krieg, um dem Klassenkampf entgegenzuwirken und dem Staat eine innere Einheit zu verbürgen. Für Baumgarten sei es nun „die Aufgabe der Rechtswissenschaft, auf allen Gebieten das ihre beizutragen, um das große Problem der Gegenwart – die Bewahrung der Ordnung und die Wiederherstellung der Einheit der Gesellschaft – auf dem einzigen Wege zu lösen, der übrig bleibt, wenn man den Krieg verabscheut: es sei dies der Weg der Integration durch eine vom Staat geleitete Gemeinwirtschaft“. „Viele Einwendungen drängen sich einem kritischen Leser auf, aber die so selten gewordene Unabhängigkeit des Denkens und die Tapferkeit der Gesinnung wird man der jüngsten Schrift Baumgartens nicht absprechen können.“ 50 Vgl. H. Klenner, Nachwort, a. a. O., S. 318.

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jetzt, da ich sie einmal gewonnen habe, ist sie für mich unwiderruflich.“ Darauf wird der Sozialismus aufs Ziel der Vergemeinschaftung der Produktionsmittel in der Großindustrie konzentriert. „Die Gesellschaft soll sich umwandeln in eine umfassende Arbeitsgemeinschaft, die jeden, der in die Welt tritt, zu ihrem freien, mit allen anderen gleichberechtigten Mitglied beruft, ... Sorge tragen werde für die Ausbildung seiner Anlagen und Fähigkeiten und ihm im Arbeitsprozess den diesen Fähigkeiten angemessenen Platz finden lassen werde.“ Es folgen die ausgesprochen nicht-leninistischen Erläuterungen zur Parteiorganisation, die keine Partei neuen Typus verspreche, darum „kein Credo, das auf Formeln gebracht wäre und auf das sich jemand, um Mitglied unserer Bewegung zu werden, zu verpflichten hätte. Sie bilden die geistige Atmosphäre, in der wir zusammenarbeiten ...“.51 Angebote für Listenverbindungen mit anderen sozialen Organisationen und an die Sozialdemokratische Partei der Schweiz folgen. Es hatte nach den schlimmen Misserfolgen der sektiererischen Linie der KPD vor 1933 mit dem VII. Weltkongress der KI 1935 eine Wendung zur Volksfrontpolitik gegeben, formuliert von den Vertretern der geschlagenen Parteien, Pieck und Togliatti. Als ebenso ruinös hatte sich die Duldungspolitik der Sozialdemokratie in der Ära Löbe erwiesen, die sich beim März-Parteitag 1933 noch von allen „nichtarischen“ Vorstandsmitgliedern getrennt und die Verbindungen zu den Exilgruppen abgebrochen hatte. Das alles erschloss neue Perspektiven einer sozialistischen Erneuerung der europäischen Zivilisation. Mit der Strategie der Kalten Kriegs, der gegen diese Perspektive gerichtet war, blieb der Sozialismus am Ende doch als ein fremder Bote vor den Türen der entwickelten Industrieländer Europas stehen, und das Erfordernis schrittweiser demokratischer Regeneration des realen Sozialismus konnte sich nicht erfüllen.52 Ein weiterer Gesichtspunkt der politischen Orientierung Baumgartens: Die Stalingrader Wende des Krieges zog neuen Blick auf die Sowjetunion. Dieses so unerwartete, wie befreiende Ereignis und die weiteren Erfolge des offensichtlich nicht nur von der deutschen Wehrmacht falsch beurteilten Staates ließen die Zukunft Europas in neuem Licht sehen. Das Verhältnis der europäischen Staaten und deren zeitweiliger Staatenbündnisse zu Russland, der großen eurasischen Kontinentalmacht, bildete immer eine weiterleitende Wegrichtung europäischer Politik. Mit der sozialistischen Öffnung nach den Erfahrungen des Krieges verbanden in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft keineswegs nur die KPD, sondern viele Intellektuelle, nachdenkende Kriegsheimkehrer, demokratische Politiker der Weimarer Zeit (J. Dieckmann, W. Külz, O. Nuschke u. a.) die Erwartung einer endlich anhaltenden europäischen Friedensperiode, wenn ein kooperatives Verhältnis zur größten osteuropäischen Macht herbeigeführt würde. Man sieht diese Vision recht gut an der sozialistischen Wendung des vorzüglichen österreichischen, katholischen Osteuropahistorikers Eduard Winter (1896 – 1982), der 1947 von der 51 Vgl. das Referat in: Klenner/Oberkofler, Arthur Baumgarten, a. a. O., S. 201-205. 52 Baumgartens Wirken in der Partei der Arbeit ward von den Hütern der reinen Lehre vom ersten Tag an beargwöhnt. Von Theoretikern der Französischen Kommunistischen Partei kamen Vorbehalte, der Neue verfehle politisch und philosophiehistorisch die richtigen marxistischen Einschätzungen. Georges Cogniot verstieg sich in La Pensée zu dem Satz: „Il n’est pas des notres“. Baumgarten entgegnete überlegen, aber doch deutlich betroffen, in der Zeitschrift der Partei der Arbeit.

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Prager deutschen Universität in die sowjetisch besetzte Zone kam und erst an der Universität Halle/Wittenberg, deren Rektor er von 1948 bis 1951 war, und dann an der Berliner Universität sowie an einer eigenen Arbeitsstelle bei der Akademie seine Arbeiten fortführte.53 Ein letzter Punkt betrifft schließlich die Eigentümlichkeit der damals noch existierenden sozialistischen Bewegung. Sie agierte noch im geistigen Rahmen einer der großen Sozialtheorien der europäischen Kultur. Theoretische Geschlossenheit und konzentrierte Handlungsrichtung der Marxschen Theorie übertrafen die anderen sozialen Programme der Zeit. Die produktive Selbsttäuschung der marxistischen Theorie, im Selbstverständnis revolutionärer Sprengung der kapitalistischen Produktionsweise tatsächlich aber auf dem Weg eigenständiger Organisation eine Integration der Arbeiterklasse in die verfassungsrechtliche Ordnung der Kapitalgesellschaft mit sozialrechtlichen Folgeschritten zu bewirken, war damals noch nicht als dominierender Aspekt herausgetreten. Darin begann sich abzuzeichnen, sieht man mit dem Abstand zweier Generationen zurück, dass der ursprüngliche soziale Adressat der sozialistischen Perspektive der Marxschen Theorie, eine politisch organisierte Industriearbeiterklasse, in ein neuartiges Feld lohn- und gehaltsabhängiger Gruppen überzugehen begann, so dass sich neue wirtschafts- und verfassungsrechtliche Erfordernisse für die Erneuerung der hochindustriellen Zivilisation ergaben. Baumgarten sagte nun, es sei das kapitalistische Großeigentum, das die Staaten im Inneren spalte. Es fordere für seine Steigerung und zugleich als Palliativ zur Integration der Bevölkerung die militärische Expansion. Darum sei die Sozialisierung der Großindustrie erforderlich; Programmpunkt vieler deutscher Parteien und auch einiger deutscher Länderverfassungen nach dem Kriege.54 Die antifaschistische Tätigkeit unter den alle Verbindungen und Überlegungen intensivierenden Bedingungen der Emigration bildete originale Sozialisierungsprozesse aus und schuf Übereinstimmungen für einen erforderlich gewordenen Neuanfang. Man muss diesen eigenständigen Sozialisierungsvorgang sehen, dessen Bindungsenergien die Entschlossenheit zum Zusammenwirken weit in zukünftige Errungenschaften hinaussehen ließen. Es war noch bei den antifaschistischen Intellektuellen der frühen Leipziger Nachkriegsuniversität so klar und gewinnend zu erkennen gewesen. In solchen Zusammenhang gehörte auch die Baseler Gründung des Zirkels „Freunde der neuen Enzyklopädie“, der Sozialisten und Liberale zu Vorträgen und Diskussionen zusammenführte. Es schien möglich, den proletarisch-elitären und für die frühere gewaltsame Machteroberung geschaffenen zentralistischen Stil dieser sozialistischen Richtung zu 53 „Gibt es die große Linie, von der ich schon länger träumte, und nach der ich seit April 1945 folgerichtig gehandelt habe: Nicht Kampf mit ihr, der Sowjetunion, sondern Zusammenarbeit, weil dies allein eine neue Katastrophe verhindern kann. Die Freundschaft mit der Sowjetunion ist dem Deutschen in seiner hoffnungslosen Lage zu erschließen.“ (E. Winter, Erinnerungen (1945 – 1976), Frankfurt/M., Berlin 1994, S. 47) 54 Solche Forderungen nicht, aber deren Verwirklichung unterschieden die ostdeutschen Anfänge von den westdeutschen. Das Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU vom Juli 1947 enthielt sie, ebenso wie Art. 39 der hessischen Verfassung vom Dezember 1946 und Art. 27 der nordrhein-westfälischen Verfassung vom Juni 1950.

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überschreiten. In der Schweiz fand sich Baumgarten mit Linkssozialisten zusammen, es waren ganz überwiegend gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, und sie waren weit entfernt von der dann in der DDR nach deren originalen Anfangsjahren erdrückenden Masse unbedingt parteihöriger, bzw. disziplinierbarer Mitglieder ohne kritische Distanz. b) Rechtstheoretische Erneuerungen Baumgarten sah das Aufkommen des europäischen Faschismus (Italien 1922, Portugal 1926, Deutschland 1933, Spanien 1936) als Ausdruck einer grundsätzlichen Schwäche des in der deutschen Jurisprudenz von K. F. Gerber und P. Laband herkommenden, dann in der Wiener Schule ausformulierten positivistischen Rechtsstaatkonzepts. G. Anschütz, der Kommentator des Kompromisswerks der Weimarer Verfassung in deren liberalem Sinne, hatte den Rechtspositivismus schließlich als ein Ideal erkennen müssen, das wesentlicher sozial- und verfassungsrechtlicher Sicherungen bedürfte, um gegen die divergierenden sozialen Interessengruppen die quasi-legale Beseitigung der Verfassung verhindern zu können. Baumgarten kam unter dieser Erfahrung von seiner moralischen Rechtsbegründung zur marxistischen Rechtssoziologie. Er sagte nun, der Positivismus habe die hinterm Recht stehende soziale Realität zurückgesetzt. Dadurch habe gegen ihn eine materiale Rechtswertbewegung Raum für meist konservativ gerichtete Ordnungs- und Entscheidungstheorien finden können. Seine Kritik konzentrierte sich darin, dass Laband den Zweckgedanken aus der Rechtsmethode ausgeschlossen habe. Das habe „den Abweg der Entwirklichung der Rechtsbegriffe“ geöffnet. „Einmal kommt aber dann doch der Punkt, an dem der Jurist zu der sozialen Angemessenheit der von ihm zu verarbeitenden Rechtsregeln Stellung zu nehmen hat.“55 Der Rechtspositivismus habe es ermöglicht, dass sich die in den Mittelpunkt gerückte Verwaltungsgesetzlichkeit von der Politik des Staates löste, der dann auf der anderen Seite die materiale Machtanwendung nach faktischen Erwägungen auf sich konzentrieren konnte. Solche Vorgänge kulminierten in der Endphase der Weimarer Republik. Die daraus folgende Wehrlosigkeit des parlamentarischen Rechtsstaates sah Baumgarten im Hinblick auf die soziale Struktur als Folge dessen, dass sich die relative paritätische und bewegliche Konstellation der sozialen Klassen innerhalb des gegebenen Rechts auflöste. Diese Äquivalenzprämisse hatte die Grundlage des liberalen Rechtsstaates gebildet.56 Die reale Gegensätzlichkeit der sozialen Interessengruppen aktualisierte sich, und das zerstörte die integrationistische Funktion der rechtsstaatlichen Verfassung. Baumgarten sah hier Grenzen des sozialen Liberalismus unter der Voraussetzung sozialrechtlicher Kompromisse zwischen Großindustrie und der lohn- und gehaltsabhängigen Klasse. Er verstand die Notverordnungsperiode ab 1930 als die Bereitschaft des Bürgertums, sich im Falle weiterer Verschiebungen der Klassenkonstellation des Rechtsstaates zu entledigen. Also würde eine Evolution sozialer Programme innerhalb der 55 Der Weg, S. 476-480. 56 „Die methodologische Wertneutralität wurde also in dem Augenblick preisgegeben, da konservative Werte vom Verfassungsrecht selbst nicht mehr begünstigt waren ...“ (D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 369)

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gegebenen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen letztlich nur durch politischen Kampf um die verfassungs- und sozialrechtliche Position der Arbeiterschaft im Staat möglich sein. Der Erfolg der faschistischen Beseitigung des ganzen rechtsstaatlichen Gefüges bei vielen sozialen Schichten, zunächst nicht bei der Arbeiterschaft, ließ ihn die Wege zu grundsätzlicher Neubildung des Verfassungsrechts im Zusammenhang mit der Arbeiterbewegung bedenken. Baumgartens Wendung zum Sozialismus vollzog sich, was den rechtstheoretischen Aspekt betrifft, auf der Ebene allgemeiner Rechtsmethodologie, wie es dann die Methodenlehre von 1939 zusammenfasste. Diskussion der unterschiedlichen Verfahrensweisen und die eigene empiristische Methodenlehre hatten bereits in seinen strafrechtlichen Schriften und im Hauptwerk von 1920/22 im Mittelpunkt gestanden.57 Baumgarten sah am Beginn der dreißiger Jahre, dass der Zusammenhang der Methodenlehre mit bestimmten Normgehalten eine soziologische Klärung erforderte. Die Kritik des Rechtspositivismus ging mit der Ablehnung des Marxschen geschichtlichen Determinismus einher, an der Baumgarten immer festhielt.58 Sein metaphysisches Fortschrittskonzept, in das der gegebene Sozialismus nun eingelassen wurde, ist im Philosophiekapitel für sich zu betrachten. Tatsächlich bedeutete die Kritik des Rechtspositivismus nicht von vornherein Demokratiegegnerschaft. Selbst eine sog. wertheoretische Rechtsphilosophie konnte linksliberal gewendet werden, wie Radbruchs Bindung an den südwestdeutschen Neukantianismus zeigte. In Baumgartens Frühzeit hatten Juristen der Kaiserzeit den Positivismus mit dem Ziel entwickelterer sozialer und parlamentarischer Rechtsgrundsätze und der rechtsschöpferischen Funktion der Rechtssprechung kritisiert. In der Abwehr sog. wertorientierter, real konservativer, Ordnungsauffassungen in der Weimarer Republik sahen sich demokratische und sozialdemokratische Juristen (neben Baumgarten etwa O. Kirchheimer und F. Neumann) zur Verteidigung formaler, wie heute auch gesagt wird, prozeduraler Rechtsauffassung veranlasst. Baumgarten betonte 1933 ebenfalls noch die Errungenschaft des Rechtspositivismus, durch eine Auslegungskunst oder Hermeneutik rationale Kriterien für die Postulate der Rechtssicherheit, der inhaltlichen Richtigkeit

57 „In meiner Studentenzeit erregte der Methodenstreit der Zivilisten erhebliches Aufsehen in der Juristenwelt. ... Indessen ist aus dem Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz und für neue Methoden der Rechtsfindung eine Erneuerung der Rechtswissenschaft nicht hervorgegangen. Die Hecksche Interessenjurisprudenz, die Freirechtsschule, die Ehrlichsche Rechtssoziologie können derartiges für sich nicht Anspruch nehmen ... Noch enttäuschender war das entsprechende französische rechtswissenschaftliche Schrifttum.“ (Aus einem nachgelassenen Manuskript, etwa von 1946, bei Klenner/Oberkofler, Arthur Baumgarten, a. a. O., S. 210) 58 Er sprach noch 1933 aus, worin er das Acquisit jedes Determinismus sah: „... der Fanatismus der Massen wird nicht weniger energisch auf sein Ziel lossteuern, wenn er sich mit Fatalismus verbindet, wofür die Geschichte des Marxismus hinreichende Belege bietet.“ (Der Weg, S. 391) In einem unveröffentlichten Manuskript, etwa von 1946, hat er seine Vorbehalte eingeschränkt: Nicht von fatalistischer Notwendigkeit spreche solcher wissenschaftlicher Sozialismus, sondern von Möglichkeiten der Entwicklung, die es auszunutzen gelte. (Klenner/Oberkofler, A. Baumgarten, a. a. O., S. 208)

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und der sachlichen Angemessenheit der Entscheidungen sicher zu stellen. Er hat das in der DDR gegen politisch motivierte, methodisch vulgarisierende Auffassungen wiederholt. Vom Rechtspositivismus sagte er, er habe eigentlich nur in der Begriffsjurisprudenz der gemeinrechtlichen Zivilrechtsdogmatik zu erfolglosen Versuchen strenger Anwendung geführt. Die Zweck- oder Interessenjurisprudenz habe bereits soziologisch orientierte Aspekte der Methode verfolgt, aber das positive Recht und insbesondere die Gesetze als ethisch und machtpolitisch wertneutrale, rationale Systematik festgehalten. Die Lösung konnte für den demokratischen Rechtsstaat, wie er von der Weimarer Verfassung entworfen war, nur in einer materialen, sozialstaatlichen Interpretation und Öffnung der Gesetzgebung und schrittweise auch des Verfassungsrechts bestehen. Das war durchaus mit dem Marxschen soziologischen Ansatz zu verbinden, der ja keinesfalls nur darin bestanden hatte, das Recht als Legalisierung der Suprematie einer Klasse über andere Klassen und Schichten zu enthüllen.59 Baumgarten nahm mit seiner Annäherung an den Marxismus einen Übergang zum soziologisch gestützten Methodenverständnis vorweg, wie es als ein begleitendes sozialwissenschaftliches Verfahren inzwischen auch in der Rechtswissenschaft Platz gefunden hat, ohne Bekenntnis zum Marxismus, oft ohne Kenntnis solcher Bezüge, und vor allem auch ohne sozialistische Orientierung.60 Sieht man auf Baumgartens rechtstheoretische Fragestellung bei dessen Übergang zur sozialistischen Idee, so fällt ins Auge, wie wenig er sich mit den spezifischen Fragen des Wirtschafts- und des Verfassungsrechts abgegeben hat. Dasselbe trifft auf seine Lehr- und Publikationstätigkeit in der DDR zu. Sowohl im zusammenfassenden Weg des Menschen von 1933 (§ 17, Das Wirtschaftsrecht der Zukunft) als auch in der Methodenlehre von 1939 verlief die sozialistische Argumentation primär moralphilosophisch und metaphysisch. Das Kapitel zu Baumgartens Rechtsphilosophie wird darauf zurückkommen. Die eingehende sozialisierungsrechtliche Literatur der zwanziger Jahre 59 Die aus dem Produktionsverhältnis sozialer Klassen entwickelnde Soziologie fasste das Recht ebenso als Stabilisierungs- und Kompromissregulativ in den je gegebenen Konstellationen einer Gesellschaft. Kautsky hat das gegen Engels’ Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates und dann wieder gegen Lenins und Trotzkis Staatsauffassung, doch in Verbindung mit den Bezügen des Staates zu den sozialen Klassen, dargelegt. (K. Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 2, Berlin 1927, S. 59 u. ö.; Abschn. 7, Der kapitalistische Industriestaat, S. 371-498) Marx’ Auffassung der Beziehungen zwischen Gegensätzen sozialer Klassen und politischen Herrschaftsformen ist bislang ohnehin kaum wirklich untersucht und von simplifizierenden Auslegungen einander entgegenstehender interessierter Seiten gelöst worden. 60 „Es geht um die historische Funktion der verschiedenen Methoden und die daran anschließende Frage, worin die Gründe ihres Entstehens, Erfolgs und Niedergangs liegen. Diese Fragen lassen sich nicht ideengeschichtlich, sondern nur sozialgeschichtlich beantworten.“ (D. Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, a. a. O., S. 348). Marx selbst hatte die Akzeptanz seiner ökonomischen Analyse des Kapitalverhältnisses, wie auch einiger allgemeiner Prämissen der historisch-materialistischen Gesellschaftstheorie, auch ohne die sozialistische Konsequenz, nicht nur für möglich erklärt, sondern es wenigstens von einem Teil der Fachgenossen seiner Zeit erwartet. Er war von deren intellektueller Befangenheit nach dem Erscheinen des Kapital (1867) sogar überrascht gewesen.

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fand sich nicht berücksichtigt.61 Auf den ersten Blick mag es als möglich erscheinen, im Verhältnis von subjektivem und objektivem Element des Rechts einfach den materialen Gehalt eines Glieds zu verändern, und dennoch das andere unbeschadet zu belassen. Warum nicht die objektive Struktur des Verfassungsrechts einschließlich der Gewaltenteilung auf dem Staatseigentum basieren und zugleich die subjektiven Rechte der öffentlichen Aktivität und persönlichen Unversehrtheit erhalten? Es hat sich erwiesen, dass es schwieriger ist als gedacht. Baumgarten hat diese Thematik bei seinem Übergang zur sozialistischen Überzeugung und dann auch während seiner Tätigkeit in der DDR nicht behandelt. Das ergab sich aus der davor stehenden politischen und aus der darüber hinausziehenden philosophischen Ebene seines Übergangs zum Sozialismus. Die spezifischen verfassungs- und wirtschaftsrechtlichen, ebenso die strafrechtlichen Probleme einer auf Staatseigentum basierten Rechtsgemeinschaft hat er nicht bearbeitet und, wenn überhaupt, dann nur partiell für sich reflektiert. Inzwischen ist die von der marxistischen Theorie konzipierte Bewegung einer politisch organisierten Arbeiterklasse bis hin zur Übernahme der Staatsmacht und der Expropriation der Bourgeoisie erloschen. Es gibt soziale Forderungen und Erfordernisse, es gibt manifeste neue Formen sozialer Ungleichheit und ökonomischer Ausbeutung durchs Kapitalverhältnis. Aber es gibt keine Klassenbewegung mit neuem revolutionärem Programm. An deren Stelle ist in Europa die Verfassung des nicht mehr nur liberalen, sondern des sozial intervenierenden, vorsorgenden und umverteilenden Rechtsstaates getreten.62 Der kontinuierlich wühlende Maulwurf bleibt die soziale Umstrukturierung im Gefolge der sich verändernden Produktivkraft der Arbeit. Die Frage ist, wie weit die Einlassung sozialstaatlicher Elemente in die vorliegende rechtsstaatliche Verfassung bei fortschreitender sozialer Ungleichheit hinreichen wird, die Rechtsgemeinschaft der Bevölkerung einer industrialisierten Gesellschaft zu stabilisieren und letztlich überhaupt zu erhalten (Art. 20, 28 GG). Die Erfahrungen der europäischen Geschichte zeigen, dass die für die rechtsstaatliche Verfassung erforderliche Kompromissbereitschaft der großen sozialen Gruppen bei der besitzenden Oberklasse in Krisen für das ökonomische Gefüge aufgekündigt wird. Immerhin können auch soziale Gruppen, da sie aus kulturell geprägten Individuen bestehen, lernfähig sein. Die sozialstaatliche Intervention in der privatwirtschaftlichen Gesellschaft besitzt Doppelcharakter. Sie mildert soziale Defizite bei den betroffenen lohnabhängigen Schichten ab. Für das privatwirtschaftliche System aber bedeutet sie einen Investitionsbeitrag. Dazu treten inzwischen etablierte Formen enormer Zuschüsse aus dem Gemeinvermögen als Zahlungen des Sozialstaats, Investitionszulagen, erlassener Steuerpflicht, Krisenbürgschaften u. a. Begünstigungen. Es sind faktische Modifikationen des privatwirtschaftlichen Systems, deren Doppelcharakter von der anderen Seite auf Tendenzen gesellschaftlicher Einflussnahme vorausweisen könnte. Über die Art und den Wirkungsradius der sozialen Strukturelemente, die in die rechtsstaatliche Verfassung 61 Man vgl. etwa G. Meyers Sammelrezension „Neue Literatur über Planwirtschaft“ in Jahrgang I der Zeitschrift für Sozialforschung (1932), die 48 Titel charakterisiert (S. 379-400). 62 E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/M. 1991, S. 143-169.

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einzubringen wären, ist keineswegs entschieden. Es kommt nur darauf an, den Rechtsstaat auch insofern zu bewahren, dass die unbeschränkte verfassungsändernde Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers erhalten bleibt. Sollte die Rechtsgemeinschaft in den realen Erfahrungen des normativen Gehalts auch der sozialstaatlichen Verfassung, wie etwa der Freiheit, der Gleichheit, der Menschenwürde in Erosion geraten, so würde sich die gegenwärtige Form der sozialstaatlichen Intervention als eine Übergangsperiode erweisen. Etwa schon die verfassungsrechtliche Garantie des Rechts auf Arbeit, verbunden mit dem Verfassungsprinzip der Menschenwürde, könnte bei fortschreitender Technisierung zu Schritten gesamtgesellschaftlicher Verfügung über die Produktionsmittel führen, die dann Prozesse verfassungsrechtlicher Einschränkungen des Prinzips der Erwerbsfreiheit und der Eigentumsgarantie nach sich ziehen würden. Die bis jetzt nur formellen Spannungen zwischen verfassungsrechtlicher Rechtsgleichheit und der materialen Bürgschaft des sozialen Anteils bei einer sich ausweitenden, verarmenden lohnabhängigen Klasse würden politisch und konstitutionell akut werden. Dann träten aber auch wieder die als rechtlich partiell und schrittweise instrumentell zu lösenden Probleme ein, an denen die vergangene Form der gemeinwirtschaftlichen Gesellschaft gescheitert ist. Wie nämlich die ökonomisch effektive Leitung der industriellen Prozesse eigentlich rechtlich zu gestalten wäre. (Der folgende Abschnitt wird auf Reformvorschläge von Ökonomen in der DDR zurückkommen, die Baumgarten interessierten, ohne dass er sich daran beteiligte.) Die Veränderungen in Bezug auf die subjektiven staatsbürgerlichen Rechte, die meist als Gegenpart in den Blick genommen werden, blieben akzidentiell, keineswegs kollektivistisch umgestülpt, zumal sich Einschränkungen der Erwerbsfreiheit und der Eigentumsgarantie nur auf die großindustriellen Unternehmen mit gesellschaftsbeherrschendem Einfluss beziehen würden. Den Tendenzen der realen Vergesellschaftung der Arbeit durch die Szientifizierung und Technisierung des materiellen Lebensprozesses der Industriegesellschaft würden gemeinwirtschaftliche Gesetzgebungsakte entsprechen können. Die großen privatwirtschaftlichen Unternehmen sind längst aus dem ursprünglichen personalen Erwerbs- und Eigentumsgedanken der bürgerlichen Verfassung herausgewachsen. Deren Manager sind Funktionsträger privatrechtlich konstituierter Eigentümergesellschaften, aber mit Verfügung über Prozesse im Radius gesamtgesellschaftlicher Tragweite. Sie verwalten nach den beschränkten Kriterien innerbetrieblicher Effektivität ein aus den personenrechtlichen Ursprüngen der rechtsstaatlichen Verfassung heraus- und der Rechtsgemeinschaft der Staatsbürger als ein eigener Machtsektor gegenübergetretenes Produktivkapital der Menschheit.

5. Spätzeit in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft 1945 hatte Baumgarten wohl auch erwartet, von der Frankfurter Universität zurückberufen zu werden, da er sie 1933 allein aus politischen Gründen verlassen hatte. Zu Vorträgen war er in die Westzonen eingeladen worden. Der Freiburger Jurist Fr. Beyerle lud ihn mit einem Brief vom 4.11.1946 zu einem Gastsemester ein, „weiteres werde

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man dann sehen“. Er schrieb gleich hinzu: Es sei „der Boden hier spröde und nicht weitherzig“.63 Baumgartens Erwartungen für Berufungsangebote wurden enttäuscht.64 So nahm er eine Einladung der provisorischen sächsischen Landesbehörde an und wirkte im Wintersemester 1946/47 und im Sommersemester 1947 als Gastdozent an der in einigen Fächern mit vorzüglichen neuen Professoren wieder beginnenden Universität Leipzig.65 Am Schluss jedes Semesters hielt er mehrwöchige Vorlesungen an der Berliner Universität. Die Themen waren Strafrecht, Völkerrecht, juristische Methodenlehre, Marx’ Ideologienlehre. Sein Bericht an den Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Basel-Stadt, Regierungsrat Dr. C. Miville, schildert die schwierige Situation der beiden Universitäten in den zerstörten Städten. Vor allem aber gibt es Einblicke in die Motivation Baumgartens, an der Erneuerung der Universitäten in der Sowjetischen Besatzungszone teilzunehmen. Baumgartens Entscheidung für die ostdeutsche Nachkriegsgesellschaft ist vor allem vom Anfang aus und von der realen Situation in den ersten Nachkriegsjahren her zu beurteilen, über die er sich zunächst einen eigenen Eindruck zu verschaffen suchte. Die späteren Phasen seiner manchmal wieder fast extern erscheinenden Mitwirkung bis zum Todesjahr 1966 setzten sich aus mehreren abhängigen Folgekomponenten der frühen Entscheidung zusammen, die er für sich und in Übereinstimmung mit seiner Frau getroffen hatte. Gleich auf der ersten Seite des Berichts an die Baseler Unterrichtsbehörde, die ihn für seine Gastprofessur beurlaubt hatte, heißt es: „Von einem militaristischen Geist, wie er sich in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg so augenfällig äußerte, ist jetzt in der dortigen Studentenschaft kaum etwas zu verspüren.“ Das führte er auf zwei Ursachen zurück. Durch die Hitlerkatastrophe sei die im deutschen Volk so weit verbreitete militaristische Gesinnung erschüttert. Später fällt aber im Zusammenhang der notwendigen und unausweichlich unterschiedlichen Führungsrolle der Besatzungsmächte der erschütternde Satz: „Wenn sich alle Besatzungsmächte aus Deutschland zurückzögen und freie Wahlen stattfänden, würden wir in Deutschland nach dem Urteil der besonnensten Beobachter aus den freien Wahlen binnen kurzem eine zweite Auflage des Nationalsozialismus hervorgehen sehen.“ In diesem Zusammenhang gewinnt die zweite Ursache 63 Archiv der BBAW, Nachlass Baumgarten, Sign. 116. 64 Der Freiburger Jurist F. Beyerle, Kollege Baumgartens aus der Frankfurter Zeit, der Baumgarten 1946 zu einem Gastsemester einlud und ihm den Übergang nach Freiburg vorbereiten wollte, schrieb ihm: „Ihre Gattin ist immer so tapfer mit ihnen mitmarschiert. ... es gibt im Leben halt auch äußere Kurven, welche den Wagen manchmal umzukehren drohen. ... Wo ein Mann aus innerer Überzeugung geht und unbekümmert um die Konsequenzen, was man im Dritten Reich ja nicht mehr tat, muss man den Hut ziehen.“ (4.11.1946, Archiv der BBAW, Nachlass Baumgarten, Sign. 116) 65 An die Leipziger Universität kamen u. a. der Ökonom Fritz Behrens, Ernst Bloch, der Mediziner und verdiente Pazifist der Weimarer Zeit Felix Boenheim, der Theologe Emil Fuchs, der Ökonom Henryk Großmann vom früheren Frankfurter Institut für Sozialforschung, der Romanist Werner Krauss, der Ethnologe Julius Lips, der Historiker Walter Markov, der Germanist Hans Mayer. (Archivalische Materialien zur Einladung Baumgartens, nicht den aufschlussreichen, realistischen Bericht Baumgartens an die Baseler Unterrichtsbehörde, benutzt die detaillierte Darstellung von Klenner/Oberkofler, Arthur Baumgarten, a. a. O., S. 82ff)

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seines Eindrucks ihren Platz. Baumgarten kannte die demokratiekritische Gesinnung der deutschen Akademiker gut und hatte es nicht nur als ein unmittelbar politisches Faktum gesehen, sondern hatte sich damit wiederholt in seinen Schriften als mit einem sozialpsychischen Phänomen von isoliert arbeitenden Intellektuellen in industriellen Massengesellschaften beschäftigt. Jetzt sah er in der verstärkten Zulassung und in der direkten Delegierung von Jugendlichen aus Arbeiterfamilien und überhaupt aus nicht den bisherigen Eliten angehörenden Schichten ein großes, verheißendes Signal des Ausstiegs Deutschlands aus der bisherigen Geschichte. Zeittypisch war Baumgartens Wahrnehmung, dass die sowjetischen Behörden mit hoher Sachkenntnis, weitsichtiger und liberaler wirkten als die deutschen Verwaltungen. Die Militäradministration sei vielfach beliebter als die deutschen Verwaltungen, heißt es. An der Spitze stünden freilich integre Leute und Sozialisten von großem Arbeitseifer. „An weniger hohen, aber darum nicht notwendig weniger einflussreichen Stellen der Verwaltung begegnet man, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, u. U. Fanatikern, mit denen in der Tat schwer auszukommen ist.“ Schließlich wandte sich der Bericht den politischen Parteien und Perspektiven zu. Die Entwicklung einer sozialistischen Ordnung wurde als ein lang anhaltender Übergang angesehen, der aber durch die Isolierungspolitik der Westmächte und überhaupt durch die Entfremdung zwischen den Siegermächten beschleunigt und dadurch verzerrt werden könnte; wie es dann auch wirklich geschah. Ein in Vorbereitung befindlicher Verfassungsentwurf wird sehr anerkannt. Tatsächlich hatte sich die erste DDR-Verfassung von 1949 an die Weimarer Verfassung angelehnt und proklamierte keinen sozialistischen Staat, wie es dann die fragwürdige neue Verfassung von 1968 mit ihren vielen verfassungsrechtlichen Rückschritten tat, z. B. Grundsätze der Gewaltentrennung zurücknahm, parteipolitische Zielsetzungen als Verfassungsziel fixierte. Die SED sei wohl eine sozialistische Partei: „Man sagt häufig, es ist sogar communis opinio, daß die SED ihre präponderierende Stellung der russischen Besatzungsmacht verdanke, dass sie bei ‚freien Wahlen‘ kein Übergewicht erlangt hätte. So verhält es sich wohl in der Tat.“ 66 Ging Baumgarten sehenden Auges in eine „Diktatur“? Der realistische Bericht sagt erstens, dass Baumgarten aus der deutschen Erfahrung eines engagiert liberalen Juristen einen politischen, diesmal auch durch Sozialisierung der Großindustrie gestützten, Neubeginn suchte. Er gibt zweitens zu erkennen, dass Baumgarten Sozialisierungsschritte unter pluralistischen Bedingungen erwartete. Das war auch von der frühen

66 Ich zitiere aus einer mir von Frau Helene Baumgarten im Jahre 1972 mit einigen anderen Unterlagen übergebenen Abschrift des 12 Seiten umfassenden Manuskripts. Die eben zitierte Passage aus Baumgartens frühem, klarsichtigem Urteil hätte den Juristen später nachdenklich werden lassen müssen. Denn der hier noch offen ausgesprochene Sachverhalt änderte sich während der auf vielen Gebieten erstaunlichen Entwicklung der DDR nicht wesentlich. Er war auch für die Sowjetunion der entscheidende Grund des über drei Generationen beibehaltenen diktatorischen Systems. In den ersten Jahrzehnten konnte es dort nicht gelockert werden, da sonst bei Wahlen die Richtungen der sozialrevolutionären Partei die Mehrheit gewinnen würden. Lenin entschied sich darum 1921, gerade nach dem Erfolg im Bürgerkrieg, für das Verbot aller Parteien neben derjenigen der Bolschewiki.

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gesamtdeutschen und blockfreien Option der sowjetischen Besatzungsmacht gestützt.67 Drittens schließlich zog den immer noch enthusiastischen 63-jährigen Mann die Möglichkeit des Wirkens unter unfertigen Bedingungen an. Er sah vor sich eine werdende Welt. Viel erwartete er vom Aufkommen einer unbelasteten jungen Generation aus Familien der Schichten, die bisher nicht die Eliten gebildet hatten. Er wollte mitwirken, wollte solcher Zukunft das Bildungsgut seiner Generation übergeben. „Es gibt kein Glück auf der Welt für den, der wartet, anstatt zu tun, und was mühelos gefällt, gefällt nicht lange“, hatte es 1932 bei Alain (d. i. Emile Chartier) in dessen Lebensalter und Anschauung geheißen, ein Wort des Baumgarten geistig verwandten Pazifisten und sozialliberalen Philosophen und Schriftstellers, das Baumgarten sehr schätzte. Die Erwartung an eine soziale Schicht, die Bildung und politische Verantwortung tragen sollte, ergab sich aus Baumgartens Erlebnis der sich ihm zuwendenden Schweizer Gewerkschafter. 1948 nahm Baumgarten eine Professur an der Berliner Humboldt-Universität an und übersiedelte 1949 mit seiner Frau Helene, geb. v. Salis, und den beiden Töchtern in die DDR. Er blieb Schweizer Staatsbürger und trat auch nicht der SED bei. Noch war es die Zeit, da die deutschen Verwaltungen den Beistand solcher Kräfte suchten und dankbar annahmen. In den Jahren zuvor waren Henryk Großmann vom früheren Frankfurter Institut für Sozialforschung, Werner Krauss aus Marburg, Ernst Bloch aus der amerikanischen Emigration und Hans Mayer aus Frankfurt/M. und andere antifaschistische Intellektuelle nach Leipzig gekommen. Von 1949 bis zum Januar 1951 wirkte er als Rektor der Brandenburgischen Landeshochschule in Potsdam. Im Frühjahr 1952 wurde er der Präsident der da neu gegründeten Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften. Die klangvolle, dabei einflusslose Präsidentenstelle der Potsdamer Akademie nahm er, wie sie gedacht war, als einen Ehrentitel wahr. Man hatte die Institutsstruktur verändert, als der erste Direktor, P. A. Steiniger, wegen eines früheren kompromittierenden Schrittes gegenüber den 67 Die Personalpolitik der sowjetischen Militäradministration war von dieser Option bestimmt und ließ der SED zunächst nicht viel Spielraum. Die Justizbehörden wurden überwiegend mit Beamten der Weimarer Republik und ergänzend auch aus Zivilverwaltungen der NS-Zeit besetzt. Die preußischen Dienstbezeichnungen galten fort. Leiter der Deutschen Justizverwaltung der Sowjetischen Zone war 1945 – 1948 E. Schiffer, Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und 1919 – 1921 Reichsfinanzminister, später Reichsjustizminister. Vizepräsident war der ausgezeichnete Jurist Melsheimer, SPD-Mitglied und Kammergerichtsrat auch im NS-Justizministerium bis 1945, später Generalstaatsanwalt in der DDR. Das alles war Baumgarten bekannt und ebenso die damalige staatsrechtliche Frage, ob das Deutsche Reich durch die totale Kapitulation untergegangen sei und die vier Mächte als Rechtsnachfolger sich im Potsdamer Abkommen verpflichtet hatten, einen neuen gesamtdeutschen Staat zu konstituieren. Anders hätte das Deutsche Reich seit Bismarck fortbestanden, die Gründung der Westrepublik wäre dann dessen Aufspaltung gewesen. Die Überlegung der Sowjetunion zielte darauf, über die Vereinigung der vier Zonen eine Verfassung analog derjenigen der Weimarer Republik wiederherzustellen, nun aber mit verbesserten Bedingungen für Transformation zu sozialistischen Maßnahmen, da die Besatzungsmächte eine Refaschisierung nicht zulassen könnten. Der Kalte Krieg hatte die Funktion, diese Möglichkeit abzuweisen. Nun wurde die Entscheidungsbefugnis der ostdeutschen Behörden verstärkt. Er führte in den ersten Jahren der Westrepublik zur markant konservativen und vereinigungsfeindlichen Politik, so dass Intellektuellen wie Baumgarten kaum eine andere Wahl blieb, als sich an der ostdeutschen Entwicklung zu beteiligen.

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Nazibehörden ausschied. Die Leitung oblag nun dem Rektor und den Prorektoren. Baumgarten hielt da philosophie- und rechtshistorische Vorlesungen. Teile der Vorträge veröffentlichte er 1957 als Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus. 1953 hatte er mit Ernst Bloch, dem Mathematiker Karl Schröter und Wolfgang Harich zu den Gründungs-Herausgebern der Deutschen Zeitschrift für Philosophie gehört, des in den ersten Jahren anspruchsvollen, marxistischen philosophischen Journals. Baumgarten hatte leider nur einen Aufsatz beigesteuert.68 Der Herausgeberkreis fand sich 1956 aufgelöst. An dessen Stelle ward (mit Heft 5/6) ein Redaktionskollegium geeigneter Leiter für die doktrinäre Zurückstutzung der Philosophie eingesetzt.69 Im April 1958 fand die Babelsberger Konferenz gegen den sog. Revisionismus falscher Schlüsse aus dem XX. Parteitag der KPdSU in der Rechtswissenschaft statt; ein KampagneStück politischer Disziplinierung der Intellektuellen auf schmalstem Nenner. W. Ulbricht trat selbst mit dem Hauptreferat auf. Der Präsident hatte zu eröffnen, und tat das mit einer Rede, die betonte, was gerade ausgeschaltet wurde: individuelle geistige Initiative, Diskussion verschiedener Auffassungen. So wurde allein der Vortrag des Präsidenten der Akademie im Protokollband nicht veröffentlicht.70 Baumgarten zog sich mit seinen Publikationen mehr und mehr auf die Drucke seiner Vorträge im Rahmen der damals noch gesamtdeutschen Berliner Akademie der Wissenschaften und der Friedensbewegung zurück. Ein öffentlich-rechtliches Buch hat er nicht wieder geschrieben. Einige Zeit plante er, seine Grundzüge der juristischen Methodenlehre zu überarbeiten und zu publizieren. Es kam nicht dazu. Im juristischen Fach ließ er während der 17 Jahre seiner Zeit in der DDR, neben dem außerordentlichen Akademievortrag Die Idee der Strafe (1952), vor allem kleinere Aufsätze zu völkerrechtlichen Fragen erscheinen. Die Thematik beschäftigte ihn, weil er das Verhängnis militärischer Blockbildungen zum dritten Mal wiederkehren sah. Auch im Hinblick auf die von ihm gewünschten rechtsstaatlichen Perspektiven der DDR lehnte er den repressiven völkerrechtlichen Bann der Hallstein-Doktrin ab. Baumgarten hielt an seiner, vielleicht mehr theoretisch-experimentellen, völkerrechtlichen Lehre fest, dass nicht eigentlich

68 Zur Methodologie der Rechtswissenschaft, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1 (1953), S. 314-327. 69 Von 1952 bis 1959 war Baumgarten Chefredakteur der Zeitschrift Staat und Recht (der stellvertretende Chefredakteur R. Arlt). 70 Dann in: R. Dreier u. a., Rechtswissenschaft in der DDR 1949 – 1971, Baden-Baden 1996, S. 41-44. Baumgarten sagte in seiner Eröffnungsrede u. a.: „Selbständigkeit, Spontaneität, Freiheit des Denkens braucht der Marxismus bei seinen Wissenschaftlern. ... dass nicht wenige von vornherein Bedenken tragen, ihrem Ingenium Freiheit zu gewähren, vielmehr sich selbst misstrauen oder die Geistespolitik der Partei missverstehen, nichts vorbringen, wofür sie nicht hinter irgendeinem Klassikerzitat Deckung finden.“ Vgl. H. Klenner, Die Babelsberger Konferenz von 1958, in: Utopie kreativ 174 (2005), S. 30ff. Klenner war der am stärksten Angegriffene, von Ulbricht selbst im Referat und später mit einem brandmarkenden Zwischenruf Attackierte, gewesen und war seiner Berliner Professur enthoben worden, die er als Nachfolger Baumgartens auf dessen Lehrstuhl angetreten hatte.

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die Staaten, sondern die Völker selbst die Subjekte des Völkerrechts seien.71 Das Kapitel zur Rechtsphilosophie wird darauf zurückkommen, dass damit eigentlich eine historiographische und politikwissenschaftliche Erweiterung der juristischen Methodenlehre verbunden war. Allerdings muss auffallen, dass Baumgarten während der 17 Jahre seines Wirkens in der DDR kaum wieder zu den juristischen Fachthemen aus dem Reservoir seiner großen Werke der Frühe des Jahrhunderts in dessen zweitem und dritten Jahrzehnt zurückkam. Darin wohl liegt das eigentliche Grave seines Entschlusses, sich dem ostdeutschen Neubeginnen anzuvertrauen. Wie ungerührt von der offiziösen marxistischen Doktrin wiederholte er den Hörern in seinen rechts- und moralhistorischen Vorlesungen, und nicht anders in den letzten Schriften, sein Festhalten an der sensualistisch-skeptischen Erkenntnistheorie, an seiner evolutionistischen Metaphysik und daran, dass auch das marxistische Zukunftsprogramm wie alles Zukunftsbewusstsein nur eine Sache des Glaubens und nicht des rationalen Wissens sein könne. Wie nebenher sprach er davon, was „nach dem gegenwärtigen Stand der Lehre als die marxistische [Auffassung – G. I.] angesehen werden kann“.72 Auf die in den fünfziger Jahren einsetzenden Vorgänge zur entschiedenen Aufzäumung des juristischen und philosophischen Doktrinarismus blickte er in stiller Erwartung kommender besserer Selbstfindung dieses Gemeinwesens. Er war vom Erfordernis überzeugt, dass die Elemente des ursprünglichen französisch-sensualistischen Sozialismus im Marxismus mit der Entfaltung der neuen Gesellschaft wieder aufgenommen würden. Die Marx-Darstellung seiner Philosophiegeschichte von 1945 hatte eindringlich diese französischen Quellen des Sozialismus gezeichnet, die ein Ferment des Marxschen Übergangs vom rechtsrheinischen Kölner Liberalismus zum linksrheinischen Sozialismus gewesen waren. Baumgartens Sozialismus war im Grunde die Fortbildung des sensualistischen Eudämonismus zu einer sozialistisch vertieften materialen Theorie des Altruismus. Als Jurist wusste er freilich, dass Kolosse, wie es die Staaten sind, ihre Zeit brauchen, sich zu reformieren. In Gesprächen bedauerte er die rasche Entschlossenheit vieler westdeutscher Politiker und Juristen-Kollegen, die er bei Reisen in den ersten Nachkriegsjahren sprechen konnte, für eine rheinisch-westdeutsche Separatrepublik. Baumgarten war nicht zu dem nach 1952 zunehmend autarken und von der Bevölkerung getrennten Führungszirkel gegangen.73 Unterhalb der politisch begradigten Zeichnung der Sache wirkten viele besser nachdenkende Sozialisten, die ihre Sache auch nicht bei schlechten Erfahrungen aufgeben mochten. Wie überhaupt in jenem Zeitalter verbissener Politisierung die Geisteswelt in diesem kleinen Lande nicht verkannt werden soll. In Literatur, Theater, Musik, malenden und bildenden Künsten, nicht anders in vielen Wissenschaften, hinterließ es seinen unverlierbaren Beitrag zur Geschichte der Deutschen in der heutigen Welt. Im Schul- und Gesundheitswesen, im sozialen Betriebsrecht und auf vielen Feldern des Zivilrechts (Gleichstellung, Scheidungsrecht usf.) ging es vielen Staa-

71 Besonders die Weltfriedensbewegung sah er in der Richtung seiner Auffassung wirken. Seine Konzeption gut in dem Akademievortrag von 1955: Die Weltfriedensbewegung in ihrer geschichtlichen Bedeutung für das Völkerrecht. 72 Erkenntnistheorie, S. 135. 73 Vgl. den Abschnitt III.8 zum „Wirtschaftsrecht der Zukunft“ im dritten Kapitel.

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ten Westeuropas voran. Das waren Gründe für Männer, die am Endpunkt 1945 eine Entscheidung für Lebensverantwortung als Intellektuelle suchten, sich bestätigt zu sehen. Der Kalte Krieg, die antisozialistische Hysterie förderten die innenpolitische Einschnürung des ökonomisch schwachen Staates im Gefüge der osteuropäischen Entwicklungsländer. An den wirtschaftlichen Durchbruch war aber die Erwartung verfassungsrechtlicher Liberalisierung gebunden. Das alles zusammen bedingte Baumgartens Auftreten in der DDR, wo er in seinen Vorlesungen und Schriften das Bild hoher wissenschaftlicher Kultur gegenwärtig hielt, für die ostdeutsche Gesellschaft, vor allem für deren sozialrechtliche Grundlagen, Partei ergriff, im übrigen durchaus seiner Meinung von der Vorläufigkeit vieler Einrichtungen des gegebenen Sozialismus Ausdruck verlieh. Er verstand die vorhandene Gestalt des Sozialismus als den Anfang einer sich durch weitere Umgestaltungen entwickelnden solidarischen Gesellschaftsform, die auf Basis des Gemeineigentums nun beitragen werde, eine in der Menschheit angelegte umfassende geistige Einheit ein Stück voranzubringen. Auch sah dieser Denker unbefangener Erfahrungsphilosophie auf die Leistungen der einfachen Leute im ganzen Lande, deren Tagewerke für ihn den Sinn des Versuchs einer solidarischen Gesellschaft bildeten. Die Grundgedanken seiner Werke verließ Baumgarten nicht. Er vertrat nicht nur weiterhin seine metaphysisch-teleologisch gedachte Perspektive über die gegebenen Gesellschaftsformen hinaus. Er vertraute ihr auch. Darum geschah, was manche seiner westdeutschen Juristen-Kollegen vielleicht mehr befremdete als der Übergang in die DDR: Er verließ sie nicht wieder. Baumgarten bewahrte bis zuletzt die experimentelle Erwartungshaltung seines Pragmatismus.74 Seine Kritik bestimmter Thesen der marxistischen Philosophie hielt er nicht zurück bezog in der DDR aber nicht die in den fünfziger Jahren beginnende Einengung der intellektuellen Öffentlichkeit und die Beschneidung der subjektiven staatsbürgerlichen Rechte in kritische juristische Überlegungen ein. Er bedauerte die restaurative und wiedervereinigungsfeindliche Politik der Westrepublik jener Jahre, deren politischen Zwang gegen sozialistische Organisationen und die nachdrückliche Aussonderung marxistischer Lehrmeinungen. Ein Mann seiner Generation sah durchaus Parallelen zu den zwanziger Jahren, nun internationalisierte im Kalten Krieg, wenn er den Einstieg der Bundesrepublik in die Wiederbewaffnung und die Atomwaffenstationierung bedachte, die doch wenigstens einige Zeit auch vom SPD-Vorstand toleriert wurde. Baumgarten mochte nicht in die Niederungen biographischer Querelen geraten, würde er zum Fall westdeutsch-ostdeutscher Polemik werden. Im Übrigen vertraute er den von ihm immer weit hinausgelegten Umbildungserwartungen des in den beiden Kriegskrisen der europäischen Zivilisation gleichsam ad hoc begonnenen sozialistischen Erneuerungsversuchs.

74 Der große Physiker und Experimentator v. Ardenne hatte 1945 in Berlin mit seinem kompletten Labor die sowjetische Armee kommen lassen. Als ihn die Offiziere fragten, warum er nicht, wie viele andere Fachleute, in die amerikanisch und britisch besetzten Westgebiete geflohen sei, antwortete er: Weil ich hier auf Sie gewartet habe. Er verstand sich damals und auch später nie als Sozialist im aktuellen politischen Sinne, arbeitete dann aber aus freien Stücken für sowjetische Forschungen. Warum wohl war ein Mann seines optimistischen Skeptizismus geblieben? Jedenfalls war es bei ihm, wie auch bei Baumgarten, das Gegenteil der Empfehlung Hugo v. Hoffmannsthals, nach verlorenen Kriegen solle man Komödien schreiben.

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Das erfolgreiche Kalkül der Adenauer-Politik, durch eine bis zu hysterischen Absurditäten gehende Ablehnung aller normalisierenden Beziehungen zur DDR die starrsinnigsten und sterilsten politischen Varianten und deren Personen zu stützen, und dadurch zugleich den Spielraum normaler intellektueller Reflexionen auf das sozialistische Verfassungsrecht einschnüren zu helfen, so dass schließlich das weit vorangeführte Sozialund Familienrecht mit der Zeit wie verloren und geringgeschätzt am Wege stand, es bewog auch Baumgarten, die Solidarität mit der neuen Gesellschaft festzuhalten, darum aber auch persönliche Überlegungen und öffentliche Stellungnahmen voneinander getrennt zu halten. Das war bei einem Manne von Zivilcourage, wie sie Baumgartens Lebensgang auszeichnete, nicht Ausdruck von Schwäche, sondern der kulturellen Souveränität, die sich verantwortliche Personen in einer Rechtsordnung oft auferlegen. Diese kennt neben Ausbrüchen unvermittelten Protests vor allem die innersystemische Einwirkung unterschiedener politischer Wegrichtungen, gleich dem Bewegen einzelner Steine auf einem Brett.75 Die Beispiele des Wechsels in die Westrepublik (Kantorowicz, Kofler, Bloch, Mayer u. v. a.) zeigten überdies, dass solcher Schritt mit der Verleugnung der DDR ohne jede differenzierende Beurteilung behangen war, was doch immer auch eine Anwandlung von Selbstverleugnung mit sich zog. Vor allem Vor- und Frühgeschichte der ostdeutschen Nachkriegsrepublik mit dem darin enthaltenen sozialreformerischen Ansatz, als die Entscheidungen vieler antifaschistischer Intellektueller reiften, sind heute die vergessene Periode des vergangenen Jahrhunderts. Es war ein sozialreformerisches, intellektuelles und ästhetisches kleines Zeitalter deutscher Geschichte für sich gewesen und ist in dieser Eigenart wohl einmal genauere und vor allem authentische Darstellungen wert. Die Bürgerbewegung der späten DDR war dann Resultat des unlösbaren Kontrasts zwischen eingetretener Realität und ursprünglichem Anspruch. Sie wollte nicht keine, sondern eine wiederberichtigte DDR. Die frühe Periode der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft zeichnete sich im intellektuellen Charakter durch drei Charakterzüge aus. Der erste und entscheidende: In allen Wissenschaften wirkten zugleich und in produktiver Differenz wie in achtungsvoller Kooperation nichtmarxistische und marxistische Fachleute zusammen. Zweitens wirkte der Einfluss der neuen sozialistischen Einheitspartei vor der unseligen Kampagne gegen den Sozialdemokratismus, die 1951 einsetzte, noch nicht allein bestimmend gegenüber Personen und vor allem nicht in die Fachinhalte hinein. Drittens schließlich bildeten die marxistischen Wissenschaftler selbst noch unterschiedene Konzeptionen aus und hielten ihre Forschungen den Varianten marxistischer und nichtmarxistischer Methoden offen. 75 „... was es auch vor Fehler geben mag denen die standhafteste Entschließung nicht allemal völlig ausweichen kann so ist doch die wetterwendische und auf den Schein angelegte Gemütsart dasjenige wohin ich sicherlich niemals gerathen werde ... und also der Verlust der Selbstbilligung die aus dem Bewußtsein einer unverstellten Gesinnung entspringt das größeste Übel sein würde was mir nur immer begegnen könnte aber ganz gewiß niemals begegnen wird. Zwar dencke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit was ich niemals den Muth haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen was ich nicht dencke.“ (Kant an Mendelssohn, 8.4.1766, Kant’s gesammelte Schriften, Bd. X, Berlin 1900, S. 66)

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Diese Charaktere zu sehen, erklärt den Reiz des ostdeutschen Nachkriegsbeginns für viele antifaschistische Intellektuelle, der noch vom Kontrast verstärkt wurde, den die restaurativen Züge in den frühen westdeutschen Jahren abgaben.76 Zum damals viel berufenen Widerspruch zwischen sog. bürgerlicher und sozialistischer Rechtswissenschaft mahnte Baumgarten, der Gegensatz beziehe sich nur auf den letzten Endzweck der beiden Rechtsordnungen. „Das schließt nicht aus, daß es eine große Anzahl von Mittelzwecken (Driesch) und Durchgangszwecken gibt, für deren Erreichung diese Verschiedenheit zurücktritt. Jede Rechtsordnung stellt sich eine große Anzahl von Aufgaben, die für alle in der gleichen oder in ähnlicher Weise zu lösen sind. ... Hieran liegt es, daß auch auf rechtswissenschaftlichem Gebiet die Arbeit der Vergangenheit nicht ohne weiteres zum alten Eisen geworfen werden darf ...“77 In der Rechtswissenschaft der DDR war die Frage nach dem sog. bürgerlichen Erbe in marxistischen Wissenschaften seit den fünfziger Jahren negativ entschieden worden. Es gebe keine Kontinuitätsmomente zwischen bürgerlicher und sozialistischer Rechtswissenschaft.78 Baumgartens Texte ließen schon immer mit anrührender Naivität die menschliche Erwartung erkennen, dass man sich Argumenten zum Wohle der Menschheit doch bei hinreichender Verständlichkeit öffnen werde. Was J. St. Mill vom Juristen und Sozialphilosophen J. Bentham sagte, trifft auch für Arthur Baumgarten zu: „Dieser seltenen Verbindung von Selbstvertrauen und feinem moralischem Gefühl verdanken wir alles“, was er geleistet hat.79 Baumgarten schrieb in der DDR zum Völkerrecht und zur Friedensthematik. Sonst zog er sich auf rechts- und philosophiehistorische Arbeiten zurück. Leicht wird jetzt übersehen, welchen großen Einfluss er mit seinen Vorlesungen und Vorträgen auf die junge Generation gewann und ihr mit den Bildungsstandards das Selbstbewusstsein erhielt, Intellektuelle in einer Kultur mit solidarischem Impuls zu sein. Auch seine späten Texte und seine Vorlesungen, Seminare und Vorträge blieben geprägt vom diskursiven Duktus entwickelter demokratischer Öffentlichkeit im Rahmen eines metaphysischen Perspektivismus. Es ist sein Schweizer geistiges Erbteil. Hier hatte er seine Prägung 76 Der Historiker W. Markov zeichnete den Geist der frühen ostdeutsche Marxisten gut (im Unterschied zu seinen verwunderlichen Interpretationen mancher späterer Ereignisse): „In Streitfragen, die der Dialog aufwarf, gab es unter uns weder postulierte Generalnenner noch ‚Schulhäupter‘. Nahezu jeder nahm für sich in Anspruch, eine Persönlichkeit mit einem fertigen Weltbild zu sein (Hans Mayer: ‚Die Mittelmäßigen haben es in Leipzig schwer‘), mit einer eigenen Lesart von den Klassikern des Sozialismus/Kommunismus. Kaum einer war bereit, das, was er sich in eigener geistiger Arbeit erdient hatte, in einen großen Kuddeltopf einzuspeisen.“ (W. Markov, Zwiesprache mit dem Jahrhundert, Gespräche mit T. Grimm, Berlin 1989, S. 188) 77 Liberalismus, S. 26 78 Solchem nur mit theologischen Streitereien zu vergleichendem geistfremden Eifer war Baumgarten schon im Januar 1953 auf einer Sondersitzung der Akademie der Wissenschaften entgegengetreten: In der DDR sei „eine neue, natürlich noch in sehr frühem Stadium befindliche Rechtswissenschaft“ entstanden. Er betonte die Bedeutung des Rechtspositivismus für die unterschätzte Rechtstechnik, um die Gesetzlichkeit befolgen zu können. (Dazu: D. Joseph, Die „Erbe-und-Traditions“-Diskussion, in: U.-J. Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995, S. 580-596) 79 J. St. Mill, Bentham (1838), in: ders., Vermischte Schriften politischen, philosophischen und historischen Inhalts, Bd. I, Leipzig 1874, S. 142.

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erhalten. Er hat das selbst ausgesprochen im Geleitwort zur von ihm 1930 herausgegebenen Schrift des Genfer Psychologen Théodore Flournoy Die Philosophie von William James, die seine Frau aus dem Französischen übersetzt hatte. „Als ich vor 20 Jahren als junger Dozent nach Genf kam, führte mich der Zufall in Flournoys Vorlesung über die Philosophie von William James. Ich empfing den stärksten geistigen Eindruck meines Lebens. Ich lag nie im Bann der neukantischen Philosophie oder einer der andern philosophischen Lehren, die zu meiner Zeit als schulgerecht galten. Erst James hat mich Vertrauen fassen lassen in die höhere Bestimmung unseres Denkens.“ Neben den positiven Wissenschaften, die mit dem unerschöpflichen Reservoir der Erfahrungen den Aufstieg des materiellen Daseins unterstützten, weise James den Weg, „eine metaphysische Weltanschauung zu begründen, die uns zu einem tiefern Einblick in Sinn und Zweck der Welt verhilft und uns aus solcher Erkenntnis brauchbare Anweisungen für unser praktisches Verhalten gewinnen lässt.“80 Ein kühnes Leben hoher Erwartung trägt auch Illusionen mit sich. Das war das Grave in Baumgartens Alter.81 Doch sein Denken griff weit über diese sozialistische Welt hinaus. Sein Werk besitzt seine Besonderheit in der deutschen Rechts- und Philosophiegeschichte durch die Verbindung von europäischer sozialliberaler und sozialistischer Tradition. In dieser theoretisch reizvollen Verzweigung stellt es eine originäre Einheit dar und gewinnt seinen bleibenden Wert. Denn an aller Erneuerung kann nur bestehen, was sich mit vergangenen Errungenschaften zu verbinden vermag. Das Unerfüllte an Baumgartens Mitwirkung beim sozialistischen Gesellschaftsversuch findet sich darin, dass er die Verbindungslinien zwischen den pragmatistisch-liberalen Beständen und den marxistisch-sozialistischen Aufnahmen seiner Schriften nicht als theoretisches und sozialpraktisches Programm aussprechen und durchbilden konnte. Für seinen Marxismus war kein Bruch mit dem Pragmatismus erforderlich gewesen. Vielmehr bedeutete Baumgartens Verbindung der beiden Denkweisen in der DDR eine, freilich abgewiesene, produktive theoretische Intervention. Die lange geübte Trennung zwischen beiden Ebenen des Gesamtwerks wird dem Reiz des Gesamtwerks nicht gerecht. Für Baumgarten war die Sozialismus-Thematik ein mit den Generationen gehendes Problem der kapitalistischen Industriegesellschaften. Er hatte in seinem Buch Der Weg des Menschen vom bolschewistischen Vorgehen als von einem Experiment geschrieben, das nun gelingen oder scheitern möge, doch in die Erfahrung der Menschheit eingehen werde. Das wiederholte er nicht, aber er dachte über die lineare und wie zwangshafte Realisierung des Sozialisierungsprogramms mit Vorbehalten. Um einen Punkt zu nennen: Ein einschneidender Vorgang war für den Juristen die fortgehende Auflösung der Vertragsfreiheit der Großbetriebe. Die Wirtschaftsverträge zwischen den großen Firmen wurden in den fünfziger und sechziger Jahren in einer Schrittfolge von Verordnungen dem Staat unterstellt. Die praktischen Probleme des Wirtschaftsrechts einer Gesellschaft 80 T. Flournoy, Die Philosophie von William James, Tübingen 1930, S. VIII. (Im Zitat gekürzter Text) 81 Lukas Gschwend hat das in seinem Abriss der philosophischen Rechtswissenschaft Baumgartens für die späte Zeit mit der Objektivität des Rechtshistorikers bezeichnet: L. Gschwend, Vom Liberalismus zum Sozialismus oder die Suche nach dem „richtigen Recht“ – Gedanken zum 40. Todestag Arthur Baumgartens (1884 – 1966), in: AJP/PJA, 2006, H. 12, S. 546-1560 .

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mit sozialisierter Großindustrie hatten in der Schrift von 1933 keine Rolle gespielt. Jetzt interessierten sie ihn, und er sprach das verschiedentlich aus. Eine Ökonomengruppe um Fritz Behrens, auch einer der frühen Leipziger, Arne Benary und Gunther Kohlmey hatte Ende der fünfziger Jahre in der DDR genau solche Probleme vorgetragen. Gerichtsverfahren folgten nicht, aber Sperrfeuer wurde abgeschossen gegen sog. Spontaneitätstheorie. Die schulbubenhafte Trennung von Plan- und Marktwirtschaft blieb das Panier. Baumgarten äußerte sich nicht mehr öffentlich zu Problemen des Wirtschaftsrechts, dessen Übergangswege vom Privatrecht zum öffentlichen Recht er früher behandelt hatte. Wie die Wirtschaftswissenschaftler hatte der Jurist mit analytischem Blick für die großen Folgen kleiner Verschiebungen beim Problem der Vertragsfreiheit der Großbetriebe den entscheidenden kleinen Punkt gesehen und in Diskussionen bezeichnet, der das ganze System aufs neue Gleis stellen und demokratisieren musste. Sozialismus wird unweigerlich Diktatur, wenn die Sozialisierung linear bis zur Beseitigung der vertragsrechtlichen Autonomie der großen Firmen verlängert wird. Erst dann entsteht die neue soziale Schicht, die den kolossalen, rechtsstaatfeindlichen Überbau schaffen und dessen politisch herrschende Kaste ausschwitzen kann. Anders dagegen würde das Wechselspiel unabhängig verantwortlicher Gruppen von Wirtschaftsdirektoren, den unweigerlich dazugehörenden freien Gewerkschaften und Partei- und Staatsfunktionären die offen liegenden Energien sozialer und politischer Dynamik freihalten. Die Konflikte der sozialen und politischen Gruppen würden an mindestens einem „runden Tisch“ in Permanenz Öffentlichkeit schaffen. Parlamentarische Strukturen gewohnter und neuartiger Formen würden sich reproduzieren. Baumgarten vertrat weiterhin seine philosophischen und rechtshistorischen Auffassungen und erfuhr, dass sie nicht als der Politik fernstehend angesehen wurden. Er fand Unverständnis und erhielt auch Abfuhr. Er sprach sich darüber wenig aus und meinte wohl mehr als die persönliche Zurücksetzung die fortzeugende Unbedachtheit der Verantwortlichen, die sich so geschmacklos gehen ließ. Seine Geschichte der abendländischen Philosophie war vom Leipziger Bibliographischen Institut in Verlag genommen worden und lag 1949 in den Korrekturfahnen vor. Baumgarten hatte dazu ein Nachwort geschrieben und seine Auffassungen gegen ihm bereits bekannte Einwände verteidigt. Ein bestelltes doktrinäres Gutachten von grotesker Simplizität verurteilte unterm Datum v. 21.11.1950 zunächst über einige Seiten auffallendes Fehlen marxistischer Termini, um schließlich die unmarxistische idealistische Denkweise des Autors festzustellen. Nach dem Muster der Kritik des KPdSU-Sekretärs Shdanow an Alexandrows Geschichte der westeuropäischen Philosophie hieß es: „Das Lehrbuch muß wissenschaftlich, d. h. auf dem Fundament der neuesten Errungenschaften des dialektischen und historischen Materialismus begründet sein. Dieser Bedingung wurde nicht genügt.“ Nur unter der Bedingung, dass Baumgarten als bürgerlicher Bundesgenosse, nicht aber als marxistischer Sozialist, auftrete, könnte das inhaltsschwere Buch nach wesentlichen Korrekturen veröffentlicht werden.82 Frau Baumgartens Notiz zum Gutachten endet:

82 Aus dem neunseitigen, mir von Frau Helene Baumgarten 1972 mit anderen Materialien übergebenen Gutachten, die sie nicht dem Akademie-Archiv übereignet hatte.

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„Das Erscheinen der ausgedruckten 2. Auflage wurde daraufhin untersagt.“ 1946 hatte die Schweizer Nationalzeitung eine Rezension der Philosophiegeschichte Baumgartens gebracht (M. Schabad) und war der Verbindung des Autors von marxistischem Sozialismus und Metaphysik besser nachgegangen.83 Bei diesem und bei anderen Fällen verfiel Baumgarten nicht dem Ritual der Selbstkritik. Er verteidigte seine Auffassungen meist freundlich und suchte sie gründlicher zu erläutern. Bitterkeit fehlte seinem Charakter ganz und gar, damals und auch bei den bildungsfremden, politisch auftrumpfenden Destruktionen von Philosophie und Jurisprudenz, die ihm gegenübertrat.84 Im Nachwort zur deutschen Ausgabe, dessen Ausdruck dem Autor vorliegt, führte Baumgarten aus, dass er die marxistische Ideologienlehre in einem Sinn verstehe, „der nicht von jedem Marxisten akzeptiert wird“. Die Philosophien besäßen Kernstücke bleibender Wahrheiten, die nicht ökonomisch zu erklären und nicht mit einem gegebenen Klasseninteresse erschöpft seien. (S. 627) Er erläuterte seine „metaphysischen Überzeugungen“ und setzte schließlich fort: „Soweit der Marxismus strenge Wissenschaft ist, ist er keine Weltanschauung, und soweit er Weltanschauung ist, nimmt er ein Element des Glaubens in sich auf. ... Aber um eine Weltanschauung zu sein oder sich im Bewußtsein seiner Anhänger zu einer Weltanschauung zu ergänzen, muß er eine Vorstellung von der kommenden klassenlosen Gesellschaft geben oder zu einer solchen anregen ... Und eine Vorstellung dieser Art kann weder in positiver noch in negativer Hinsicht ... eine wissenschaftlich beweisbare Erkenntnis sein.“ (S. 629f) Das entsprach seinem empiristischen Skeptizismus, und er beschloss nach dieser Erfahrung, auf die mit dem Zensurmesser geschnittenen Einwände ausführlicher zurückzukommen. So schrieb er sein letztes philosophisches Buch, die Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus, das 1957 im Akademie-Verlag erschien, der Schriften von Akademiemitgliedern nicht ablehnen konnte.85 Es ist eines der 83 Auch die sozialistische Wendung des Baseler Professors wurde sachgerecht erklärt: „Wir begegnen einem von Haus aus bürgerlichen Demokraten, der gerade als solcher, und von humanitär-idealistischer Gesinnung nach wie vor getragen, den Weg zum Sozialismus beschreiten mußte – aus Enttäuschung an einem Liberalismus, dem die ‚Plutokratie der Trusts und Kartelle‘ zum Verhängnis geworden sei ...“ (M. Schabad in: Bücherseite der National-Zeitung, Nr. 400, v. 1.9.1946) 84 Vgl. die schöne und tiefer sehende Würdigung Horst Schröders: Mein Lehrer Arthur Baumgarten, in: Arthur Baumgarten. Zum 100. Geburtstag eines hervorragenden Wissenschaftlers, Berlin 1984. 85 A. Baumgarten, Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus, Berlin 1957. „Die Erkenntnistheorie, die nach dem gegenwärtigen Stand der Lehre als die marxistische angesehen werden kann, ist die sog. Abbildtheorie. Ich verhehle nicht, daß ich gewisse Bedenken teile, die von nichtmarxistischer Seite gegen sie geltend gemacht worden sind. ... die Erkenntnis schlechthin als ein Abbild der an sich seienden Außenwelt zu bezeichnen, scheint uns nicht angängig. Man ist doch nur dann sicher, im Besitz eines Abbilds zu sein, wenn man das Original kennt.“ (S. 135) Im zweiten Teil der Schrift: „Die Bedeutung des historischen Materialismus für das Verständnis der Geistesgeschichte“: „Zwischen dem Platonismus und dem Marxismus besteht für manche Marxisten lediglich das Verhältnis der Gegensätzlichkeit. Aber es lassen sich auch positive Beziehungen feststellen. Max Scheler hat einmal beiläufig – in einer mündlichen Diskussion – die platonische Schule als eine ‚Erlösungssekte‘ charakterisiert. Immerhin bediente sich Platon zur ‚Erlösung‘ einer originellen Dialektik., die, so unvollkommen sie im Vergleich mit

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ERSTES KAPITEL: BIOGRAPHIE, DIE SCHRIFTEN, LEITTHEMEN

schönsten einführenden philosophischen Lehrbücher, die es gibt. Im klaren Duktus seiner immer wie pädagogisch erläuternden Gedankenführung erschloss Baumgarten hier der immer blasser und darum erregt dünnhäutig gewordenen marxistischen Philosophie nach einer kurzen philosophiehistorischen Einleitung am Leitfaden der Einheit-Vielheit-Relation die Kritik der Abbildtheorie, die logischen Probleme der mittelbaren Erkenntnis, des pragmatistischen Wahrheitsbegriffs, der Beziehung von Kausalität und rationeller Teleologie, der Selbsterkenntnis und der Erkenntnis des Fremd-Ich und kam schließlich zum Problem des normativen Sollens und der ästhetischen Bildhaftigkeit. Wer Baumgartens frühere Schriften kannte – der allbelesene und so großartig aufgeschlossene Leipziger Germanist Hans Mayer machte Studenten darauf aufmerksam –, der sah, dass Baumgarten hier Resultate seines letzten großen Vorkriegswerkes Der Weg des Menschen (1933) wiederholte und in einem Augenblick der Aufmerksamkeit zuführen wollte, da in Akten disziplinierender Gegenreformation zu einbekannten Moskauer Selbstzweifeln nach den unwürdigen Angriffen gegen Ernst Bloch (Januar 1957), der Verhaftung Wolfgang Harichs und einer konstruierten Gruppenbildung (November 1956) die dogmatische Erstarrung der marxistischen Philosophie kampagnemäßig mit Verwaltungsakten neu aufgezäumt wurde. Baumgarten erkannte den günstigen Moment für eine Neues eröffnende Schrift: Im Februar hatte der XX. Moskauer Parteitag mit der nach Westeuropa geleiteten Geheimrede Chruschtschows stattgefunden. Baumgarten wollte mittun, der Esprit des Augenblicks war sein Teil geblieben: „Wer, wenn nicht Du, wann, wenn nicht jetzt!“ Außerdem war er an dieser Wegstelle erwarteter Selbstreform offenbar vom Wunsche nach Selbstvergewisserung geleitet. Er wollte sich seiner Marx-Annäherung unterm Bewusstsein der Kontinuität seines Denkens versichern. Diese Schrift und ein nachgelassenes Buch-Manuskript des inzwischen 74-Jährigen bezeichnen herbe Momente der späten Jahre seiner geistigen und politischen Existenz in der DDR. Denn er schrieb das alles nicht aus Verachtung des Schmalspur-Marxismus, wie Bloch es nannte, auch nicht aus gelehrter Träumerei in schlechter Zeit. Es hielt am Grund seines Übergangs in die ostdeutsche Nachkriegsgesellschaft fest: mit dem Bildungsgut und der akademischen Erfahrung den aus den Unterschichten gekommenen Sozialisten beistehen und die geistige Welt des sich selbst suchenden Auswegs aus der kapitalistischen Zivilisation aufklären; den im Kampf hart und schmalsichtig gewordenen Verwaltungssozialisten die aufklärerische erfahrungswissenschaftliche und liberale Tradition Europas nahebringen. Weshalb er gekommen war, und die es anging, nun wollte es keiner von den Verantwortlichen mehr hören. Die Tröpfe meinten wohl inzwischen, man habe die Elite von Leuten wie Baumgarten, Behrens, Bloch, Fuchs, Krauss, Mayer eigentlich nur zum Anschieben gebraucht. Immerhin befleißigten sich die strikt ablehnenden Rezensionen zur letzten philosophischen Schrift Baumgartens eines verbindlichen Tons. Man wollte den westdeutschen Beobachtungsposten nicht ohne Not einen neuen Revisionisten zuführen.86 der materialistischen von Marx ... war, doch – ratione temporis habita – als ein geniales wissenschaftliches Unternehmen gelten darf.“ (S. 151) Baumgarten schätzte Schelers antikantianische Phänomenologie und war von 1920 bis 1923 in Köln Schelers Kollege. 86 Tagesspiegel, 13.3.1958: „Auch der Präsident der Sowjetzonen-Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft, Prof. Dr. Baumgarten (SED), ist jetzt bezichtigt worden, ein ‚Revisionist‘ zu sein.

5. SPÄTZEIT IN DER OSTDEUTSCHEN NACHKRIEGSGESELLSCHAFT

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Frau Helene Baumgarten, die eine vorzügliche Schrift über ihre Freundin Ricarda Huch verfasst hatte (Weimar 1964, 21968), sprach sich über die Beurteilung ihres Mannes in der DDR auch kritisch aus: Es seien – bei einer Publikation über ihn – bitte „meine Angaben über Genf, die Bedeutung der Genfer Zeit, sowie über die Ursachen der Wendung zum Sozialismus dem Sinne nach zu belassen. Das Verwischen der Tatsachen, wie es bisher doch Tendenz war, wie auch die Überbetonung des Juristischen gegenüber dem Philosophischen, entspricht nicht der Wahrheit.“87 Hohe Erwartung ist keine ohne die Kultur der Geduld. Baumgartens Spätzeit, er übersiedelte mit 65 Jahren nach Berlin, möchte den Heutigen vielleicht die Vollendung, vielleicht den Abweg bieten. Beides weicht dem Verstehen aus. Als die entscheidende Tragödie erschien jener Generation liberaler Männer nicht das entstellende Regime der sozialistischen Parteikaste. Die ernüchternde Katastrophe war für sie die Erfahrung, wie die europäische middle class und deren Bildungsbürgertum den liberalen Rechtsstaat preisgab, da doch am Tage lag, welches Regime und welcher Krieg dem folgen würde. Das begrub auch Baumgartens sozialliberale Erwartung. Er traf in jener Krisenzeit seine sozialistische Entscheidung nicht, weil er den Liberalismus gering schätzte, sondern weil er ihn ernst genommen hatte. Die diktatorischen Exzesse in der sowjetischen Krisenzeit, da in Europa der Faschismus aufmarschierte, sah er historisch, da er erinnerte, wie die bürgerliche Zivilisation sich in der Welt ihren Platz erobert hatte.88 Die Erwartung eines weit hinausführenden zivilisationsgeschichtlichen Übergangs trübte die Überlegung, ob das wohl nicht frühe Boten seien, dass auf solchem Weg der Fortgang sich erschöpfen möchte. In seiner Spätzeit hatte Baumgarten die noch immer festgehaltene Metaphysik gegen die dogmatische Fixierung empirischer Realisierungen der weitgreifenden sozialistischen Erneuerungsidee gewendet. Das faktisch Erreichte bleibe immer in den Sphären

Wie das Informationsbüro West mitteilt, gilt die Kritik vor allem Baumgartens Buch Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus, das reif zum Einstampfen sei ...“ SED-Mitglied war Baumgarten nicht geworden, auch nicht DDR-Bürger. Baumgartens Verhalten in der DDR war sehr davon bestimmt, dem zeitgenössischen politischen Spektakel möglichst keine Gelegenheit zu bieten. 87 An H. Klenner, 2.9.1970, Archiv der BBAW, Nachlass Baumgarten, Sign. 14. In der DDR suchte man den Frieden mit diesem Bundesgenossen von Graden dadurch zu bewahren, dass man ihn als Juristen, hier vornehmlich als Völkerrechtler, ehrte, als Philosophen aber ignorierte. E. Bloch und A. Cornu sahen das anders. Bloch an Baumgarten bei Gelegenheit von dessen Ehrung mit dem Nationalpreis 1951: Dessen Philosophiegeschichte sollte endlich erscheinen, „trotz des zu bemühten Pathos, mit dem Sie ausschließlich als Jurist und Rechtsphilosoph gefeiert werden.“ (An Baumgarten v. 11.10.1951, Archiv der BBAW, Sign. 117. Detaillierter noch Cornu im Brief v. 22.3. 1958, Sign. 122) 88 Zum politisierten Strafrecht nicht nur der DDR: Das Anerkennenswerte des sozialistischen Rechts „gilt trotz der schlimmen Dinge, die in vielen Strafverfahren in den gespanntesten Zeiten des Klassenkampfes vorgekommen sind. Es handelt sich zum Teil um Irreparables, wie es im Laufe der Geschichte gerade beim Wechsel von extrem gegensätzlichen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung unvermeidlich werden kann.“ (Vom Liberalismus, a. a. O., S. 114)

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ERSTES KAPITEL: BIOGRAPHIE, DIE SCHRIFTEN, LEITTHEMEN

des Falliblen und Unfertigen.89 Darum seien Aussagen über Zukünftiges nicht Wissenssätze, sondern Bezeichnungen für Glaubensüberzeugungen und Willensentscheidungen. In einem unpublizierten letzten Manuskript der sechziger Jahre fügte er die ganze Sozialismusproblematik perspektivisch in die evolutionistische Metaphysik einer Bewegung von der noch immer anhaltenden monadischen Individualität hin zur Überwindung der Materiebindung des Menschen ein. Das Manuskript entwickelte dabei immerhin, ähnlich wie Blochs letztes Buch Experimentum Mundi (1975), die PhilosophieThemen aus einer nicht-analytischen funktionalen Definition der Kategorien. Es hebt an mit der Substantialität des Ich (Reid gegen Hume), geht zum Primat des praktischen Gefühls und weiter zum freien Willen, zum davon bedingten Zeitbegriff, zu den Allgemeinbegriffen, dem Gesetzesbegriff und entwickelt als Konsequenz der sensualistischvolitiven Kategorienfolge die Überschreitung des individuellen Ich durch das universelle.90 Baumgarten hatte die gleiche Thematik schon in seiner Erkenntnistheorie von 1957 ausgeführt.91 Heute ist dieses Kapitel abgeschlossen. Die Handelnden leben unterm Lichtschein ihrer erstrebten Zukunft. Sie genießen und sie verschwenden ihren Mut im Drama der Gegenwart, die sie durchleben. Des Herzens Woge schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der alte stumme Fels, das Schicksal, ihr entgegenstünde. Hölderlin

89 Bis in die dreißiger Jahre stimmte Baumgarten mit Plessners Vermittlungsgedanken in dessen Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) überein. Die Schrift hatte Plessner „Arthur Baumgarten, Professor der Rechte in Basel, in Verehrung und Freundschaft zugeeignet.“ Die freundschaftliche Verbindung und der Austausch von Publikationen blieben bis zu Baumgartens Tod bestehen. Hans-Peter Krüger verdanke ich den Hinweis auf Plessners Verbindungen mit Baumgarten während der Emigrationszeit, u. a. beim Zeitschriftenprojekt Vox critica, und auf C. Dietzes Plessner-Buch Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner1892 – 1985, Göttingen 2006. 90 Philosophische Essays. Das Manuskript besteht aus 19 Kapiteln auf 270 Manuskriptseiten. „Der Durchbruch zu einer Universalität des Geistes erfolgt, wie sie mit der Individuation und der mit ihr verbundenen Fesselung das Psychischen an das Materielle nicht vereinbar ist.“ Die heutigen Vorkämpfer der neuen Gesellschaftsordnung sehen darin Phantasterei, „... aber die Zeit wird kommen, da man sich in weiten Kreisen, ohne einen Anachronismus zu begehen, für eine neue Metaphysik interessieren wird.“ (S. 65) Der Sozialismus schließe die Individuen in Arbeitsgemeinschaften zusammen. Dieser erreichbare Zweck innerhalb der Schranken der Individualität werde vom höheren Ziel künftiger Geist-Einheit der Menschheit überschritten. (S. 73) „Mit der Materie hat diese unsere Welt begonnen, und mit der Aufhebung der Materie wird sie enden, um einer besseren Platz zu machen.“ (S. 96, Archiv der BBAW, Nachlass Baumgarten, Sign. Nr. 60) 91 Erkenntnistheorie, S. 142-146. Der pragmatistische Denkstil gut zu erkennen: „Beweisen lässt sich hiernach unsere Hypothese vom Zusammenbestehen eines individuellen und eines universellen Ich nicht, aber sie kann immerhin plausibel gemacht werden ...“ (S. 143)

Zweites Kapitel Philosophie des Strafrechts*

„Wir sehen die Grundlage des heutigen Strafrechts in der Vergeltungstheorie, ohne deswegen den Einfluß der Interessen- oder Zwecktheorien als ausgeschlossen oder auch nur als geringfügig hinzustellen. Die Vergeltung fassen wir in dem Sinne der klassischen Theorien, speziell in dem Sinne einer durch sozial-ethisches Bedürfnis gebotenen Reaktion gegen das schuldhafte Wollen oder kürzer gesagt, die Schuld ist uns der freie Willensakt antisozialen Inhalts.“ A. Baumgarten, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1913

1. Philosophische Probleme des Strafrechts. Sensualistisch-intersubjektive Begründung des Schuldbegriffs und des Vergeltungsstrafrechts Dem juristischen Fach nach war Arthur Baumgarten Strafrechtler. Am 26. Juli 1909 war er von der Juristenfakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin für seine Dissertation Die Lehre von der Idealkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz (Breslau 1909) promoviert worden. Die Fakultätsbibliothek besitzt noch ein Exemplar mit der handschriftlichen Widmung „Herrn Professor Dr. Franz v. Liszt in Verehrung und Dankbarkeit überreicht vom Verfasser“. Der junge Referendar am Landgericht Tübingen hatte freilich in seiner literarisch wohlbeschlagenen, den selbstständigen Begründungsgang mit klaren Linien zeichnenden Arbeit die damals neuen soziologischen Elemente der Strafrechtstheorie des großen Strafrechtstheoretikers v. Liszt (1851 – 1919) abgelehnt (Der Zweckgedanke im Strafrecht, 1882; Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 1881, 25 1927).1 Auch einer seiner Lehrer, der Tübinger Zivilrechtler M. v. Rümelin (1861 – *

Der Autor ist Philosophiehistoriker, nicht Jurist. Darum liegt der Schwerpunkt der Interpretation bei Baumgartens Philosophie. In einer ersten monographischen Darstellung sollte nicht Baumgartens Rechtsphilosophie und nicht dessen ganz philosophisch geführtes Strafrecht übergangen werden. Die Darstellung beschränkt sich hier auf die Baumgarten leitenden philosophischen Aspekte der Fachgebiete. – Nur was Schrift geworden, kann den Erinnerungen der Generationen bewahrt bleiben. Vielleicht findet doch noch einmal ein Jurist das Interesse, die Schriften des großen liberalen und zuletzt sozialistischen deutschen Strafrechtlers und Rechtsphilosophen mit einer Monographie zu würdigen, und über diesen ersten Versuch hinauszugehen.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

1931), Sohn des bedeutenden liberalen süddeutschen Politikers Gustav Rümelin, war einflussreicher Vertreter der Interessenjurisprudenz gewesen. Baumgarten folgte noch der klassischen liberalen Strafrechtslehre K. Bindings (1841 – 1920; Die Normen und ihre Übertretung, Bde. 1-4, 1872-1920; Die Schuld im deutschen Strafrecht, 1919), die ihren Mittelpunkt im vom Staat zu wahrenden Vergeltungsprinzip bei Verletzung von dessen Normen besaß. Die Klarheit der begriffsjuristischen Bestimmungen und Ablehnungen, z. B. in Bindings Grundriß des Gemeinen Deutschen Strafrechts, 81914, macht die Lektüre auch für den fachfremden Leser zum Genuss. Den Vergeltungsgedanken hat Baumgarten gemäß seinem sensualistischen Pragmatismus vom Bezug der aktiven Ordnungsmacht Staat auf den zur Anerkennung sozialen Respekts zurückgezwungenen Delinquenten gelöst. Er hat ihn als ein fast persönliches Verhältnis zweier freier Individuen, eben von Täter und Opfer, entwickelt. Bindings Leitgedanken des Verbrechens als Normverletzung, fast als einer Pflichtverletzung gegenüber dem Ordnung repräsentierenden Staat, hielt Baumgarten seinem psychologisch-empiristisch begründeten Liberalismus fern.2 Baumgarten behandelte die philosophischen Probleme, die beim Strafrecht wie bei keiner anderen Rechtsdisziplin eine Rolle spielen, immer ausdrücklich und eingehend. Das betrifft zuerst die Willensfreiheit. Die Möglichkeit eines Strafrechts basiert nur auf der Voraussetzung der Willensfreiheit als einer verantwortlichen Urheberschaft des Einzelnen. Strafe bezieht sich auf Schuld im juristischen Sinne. Schuld ermöglicht und erfordert Zuschreibungsprozeduren. Der frühe Baumgarten sah hinterm anthropologisch und soziologisch fundierten Zweckstrafrecht v. Liszts die deterministische Handlungsauffassung und die Reduktion der Idee der Strafe auf Nützlichkeitserwägungen. Er lehnte es darum allezeit als leitendes Theorieelement ab.3 Die restriktiven Ankündigungen mancher Neurowissenschaftler, alle bewussten Handlungssteuerungen aus unbewussten neuronalen Gehirnprozessen erklären zu können,4 würden das Strafrecht vor interessante Schwierigkeiten bringen: ohne Willensfreiheit keine Schuld und also keine Strafe. Es blieben auf die Person des Täters bezogene therapeutische Hilfsangebote. Der natu1

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Der Jurist war ein Cousin des Komponisten und Pianisten Franz Liszt (1811 – 1886). – An der Berliner Juristischen Fakultät promoviert zu werden, setzte wohl gute Kenntnis des Streits der großen strafrechtlichen Grundrichtungen voraus. „In der Rechtsgeschichte war die Fakultät führend ... Im Strafrecht war sie geradezu der Ort fruchtbaren Austrags des Schulstreits, im öffentlichen Recht fruchtbarer Bemühung um den Sinn des neuen Verfassungsrechts“. (R. Smend, Zur Geschichte der Berliner Juristenfakultät im 20. Jahrhundert, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin ³1994, S. 544) K. Marxen zeigte in einem eigenen Abschnitt seiner die Geschichte von Strafrecht und Rechtsphilosophie verbindenden Arbeit: Der Kampf gegen das liberale Strafrecht. Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre, Berlin 1975, dass die konservativen Strafrechtstheoretiker Binding wegen dessen autoritärer Auffassung des Vergeltungsgedankens als einen ihnen Nahestehenden von der generellen Kritik des klassischen liberalen Vergeltungsprinzips ausnahmen. (S. 37-40) Seine Vorbehalte zusammengefasst in: Recht II, § 28. Vgl. das Manifest von elf Neurologen in Heft 6/2004 der Zeitschrift Gehirn und Geist. In den Heften 7/8 / 2005 wurden Stellungnahmen von Psychologen veröffentlicht.

1. PHILOSOPHISCHE PROBLEME DES STRAFRECHTS

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ralistische Determinismus könnte auch zur absurden vorausvollziehenden Sicherungsverwahrung bei solcher Marotte für Triebtäterschaft verleiten.5 Wenn es auch nicht geradezu auf Rechtsverletzungen ohne Strafrecht hinauslaufen möchte, so könnten doch manche bedenklichen Begleiterscheinungen des unweigerlich täterorientierten Strafrechts durch neurologische und psychiatrische Gutachterpraxis starken Aufschwung nehmen. Doch im Gedanken der aufgehobenen Willensfreiheit findet sich die naturwissenschaftliche Beschreibung materieller Hirnprozesse mit der geistigen Aktivität der Person verwechselt, die im sozialen Handlungsfeld auf der Grundlage von Begründungen operiert.6 Die abwegige komplette Naturalisierung des „Geistes“ ignoriert, dass den Herausforderungen durch soziale Situationen Handlungen entsprechen, die darum verstehbar sind, weil sie sich von Gründen leiten lassen. Man könnte darum die abstrakte naturwissenschaftliche Thematik neuronal determinierter Willensaktivität von der Handlungsfreiheit unterscheiden, die natürlich ein sozialpsychisches Problem der Persönlichkeitsprägungen darstellt. Gegen das naturalistische Schema spricht, dass es überhaupt die Folge von physiologischem Antrieb, Reflexion, Willensentschluss und schließlich ausgeführter Handlung vereinfacht. Es handelt sich um ein Geflecht von Konstitution, Erfahrungsniederschlägen, ideeller Vorwegnahme und Willenspsychologie, ein Gewebe, das selten restlos befriedigend vom Handelnden aufgelöst zu werden vermag; um so mehr, da viele Einzelakte im Handlungsablauf situationsbedingt erfolgen und weder mit ursprünglicher neuronaler noch mit rationaler Steuerung zu tun haben. Man kann den Menschen nicht trister aus seiner Welt hinauskomplimentieren. Die naturalistische Phantasie geht weit über Kleists romantische Maschinenhypothese in dessen Essay Über das Marionettentheater (1810) hinaus. Zur verantwortlichen Urheberschaft tritt, dass der handlungsbestimmende Wille verantwortlich gedacht wird im Sinne eines konkreten Lebens im Umkreis verpflichtender Gründe, innerhalb dessen der Einzelne seine Entscheidungen als Kennzeichen eigenen 5

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Genau das schlägt eine neuere Strafrechtsdissertation vor: G. Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektiven des Schuldprinzips, Berlin 2006. Der Autor argumentiert mit Neurowissenschaftlern (Libet u. a.), dass die bewegungsungseinleitende neuronale Aktivität bereits vor dem subjektiv erlebten Willensentschluss einsetze. Daraus wird mehr kühn als sachgerecht gefolgert, der Wille besitze weder Wahl- noch Initiativ- oder Vetofunktion, bis hin zur Konsequenz, das geltende Strafrecht befinde sich im Widerspruch zur Verfassung. Die Ethnologie berichtete seit langem von Straflosigkeit selbst bei schweren Vergehen, wenn mystische oder zauberische Einwirkungen den Handelnden geführt hätten. Das betrifft jedoch Zivilisationen, in denen die Trennung der Rechtsform von der Moral noch nicht vollzogen war. Vgl. R. Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft, Bd. 5: Werden, Wandel und Gestaltung des Rechts, T. VI., Die Missetat und ihre Bestrafung, Berlin und Leipzig 1934, S. 86-144; B. Malinowski, der die gentilgesellschaftlichen Einrichtungen modernisierend interpretierte in: Sitte und Verbrechen bei den Naturvölkern (³1940), Wien o. J., spez. T. II: Verbrechen und Strafe bei den Primitiven. Die Eingrenzung der Willensfreiheit gehörte zur Kritik des idealistischen Seelenbegriffs im naturalistischen Materialismus. Jeder Naturforscher werde „bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen, daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind ...“ (K. Vogt, Physiologische Briefe, 12. Brief, in: D. Wittich (Hg.), Vogt, Moleschott, Büchner, Bd. 1, Leipzig 1971, S. 17)

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

Handelns auszuweisen hat. Das Strafrecht basiert für die Rechtsphilosophen am nächsten auf intellektualistischer Fassung der Willensfreiheit. Dazu gehört ein Maßverhältnis zutreffender Gründe. Es wird erwartet, dass der Einzelne nicht nur imstande ist, kognitiv generalisierungsfähige (in diesem Sinn objektive) Gründe zu erkennen, sondern sie sich auch in der subjektiven Aktor-Perspektive willentlich zueignet.7 Baumgarten folgte dem nicht. Er ging von einem Kreis widerspruchsvoller sensualistischer Handlungsantriebe aus. Das bei ihm dominierende Glücksstreben erkannte den Menschen in der Antinomik seiner Willensentscheidungen an. Baumgarten setzte den Akzent auf den emotionalen Aspekt des Empirismus. Gefühl bedeutete ein nicht zu verschließendes moralisches Minimum des Mitgefühls, des Mitleids und der Mitfreude, gegenüber dem Anderen. Baumgartens betont intersubjektiver Aspekt einer Rechtsverletzung – strafbare Handlung als Leidzufügung – bedeutete für den Strafprozess psychologische Urteilsbereitschaft des Richters. Diese Philosophie des Strafrechts zeichnete zugleich dessen bewegliche Grenzen nach. Das führt auf die Einschränkungen der intellektualistischen Fassung der Willensfreiheit, ohne die ebenfalls das Strafrecht nicht zu gestalten ist. Es betrifft den Bruch bei der Übernahme rationaler Gründe infolge starker nicht-intellektueller Faktoren der Willensbildung. Individuelle Interessenbeschränkung, fehlgeleitete Selbstverwirklichung, das verkehrte Glücksverlangen, wie Baumgarten das zusammenfasste, halten sich die allgemeinen kognitiven Aspekte vom Leibe bis hin zur Feindschaft des Individuums gegen die Gesellschaft. Der Straftäter zeigt in der Tat unfertige Willensfreiheit durch kurzschlüssige Reflexion der Situation und durch unvermittelt interessierte Selbstreflexion. Die Willensfreiheit verkehrt sich zur Falsifikation der Willkür. Das führt die Rechtsphilosophie zur Psychologie des Strafrechts. Hierher gehören die Täter-Opfer-Beziehungen, die Baumgarten ins Zentrum stellte und mit der Thematik von Leid der Tat und Gegenleid der Strafe behandelte. Schon J. F. Herbart (1776 – 1841) hatte in seiner psychologisch begründeten Rechtsphilosophie das Strafrecht mit dieser von Fichtes Willenslehre des Handelns (Tätigkeit als Wechseltun und Wechselleiden) kommenden Relation behandelt. Baumgarten sah in der Soziologie der Zweckstrafe die Täter-Opfer-Beziehung zurückgesetzt. Die Abschreckungstheorie schied für ihn von vornherein aus, und er sah in der Besserungsidee die Auslieferung des Delinquenten an die übermächtigen fremden Staatsgewalten. So ging er vor der Rätselfrage, wie Strafe überhaupt zu begründen sei, für die abstrakte Grundlegung eigentlich auf ein absolutes Strafrecht zurück: nicht im Sinne eines Talionsstrafrechts und nicht im Hegelschen Sinne der Realisierung einer überempirischen Idee der Gerechtigkeit, sondern als empiristisch begründete, zwischenmenschliche Realität. Das intellektualistisch gedachte Individuum sah Baumgarten als Resultat einer vorgefassten Ordnungskonzeption. Wenn Moral, Rechtsphilosophie und Strafrecht mit reinen Sollenslehren operierten, werde der Liberalismus unterhöhlt. Darum 7

Vgl. J. Habermas, Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2006), H. 5, S. 669-707; H.-P. Krüger (Hg.), Hirn als Subjekt? Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie, Berlin 2007; P. Bieri, Das Handwerk der Freiheit. München 2001; G. Keil, Willensfreiheit, Berlin 2007.

1. PHILOSOPHISCHE PROBLEME DES STRAFRECHTS

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sei im Strafrecht bei der erlebnishaften Täter-Opfer-Beziehung anzusetzen. Konsequent sensualistisch sagte er, Verletzung des Rechts sei im Kern als Verletzung einer Person zu verstehen. Baumgarten nahm das Verbrechen als eine Falsifikation der zwischenmenschlichen Ich-Du-Beziehung, der Quelle aller sozialen Gestaltungen. Er hielt nichts von der intellektualistischen Begründung des Übergangs eines konstruierten selbstreflexiven Subjekts zu dessen gesellschaftlicher Qualität. Diese cartesianische Tradition der kontinentalen Philosophie führe auf eine autoritäre Ordnungswelt, wenn das autark gesetzte Individuum als soziales Wesen gedacht werden solle. Gattungswesen sei das Individuum in der Erfahrung seiner ursprünglichen Antinomik von Selbstinteresse und Wohlwollen gegenüber dem Anderen. Alle relativen Gesichtspunkte der Zweckstrafentheorien könnten erst daraus folgen und liberaler Strafrechtspraxis zugeführt werden. Baumgarten bildete damit auch eine methodische Linie von den Begriffen des Verbrechens und der Strafe überhaupt zur Vermittlung mit den konkreten Erscheinungsweisen beider. Eine solche methodische Genese vom principium zum concretum hatte einen Fortschritt des Hegelschen Strafrechts (mit dessen Konkretisierung im dritten Teil der Rechtsphilosophie) ausgemacht, gegenüber Kants methodisch unentwickelterer Behandlung des Talionsprinzips. Baumgarten nahm später und im Vertrauen auf die Möglichkeiten der Weimarer Demokratie Elemente der Zweckstrafentheorie auf, also insbesondere die sozialpädagogischen Aspekte des Besserungsgedankens. Hier freilich schränkte er gleich ein, die Besserung ziele doch eigentlich auf verbesserte Anpassung des Delinquenten an Ordnungspostulate. Der Primat der Normverletzung werde derart nur wieder bestätigt. Nach seinem Übergang zu sozialistischen Positionen und Erwartungen sah er das ungelöste Verhältnis von Vergeltungs- und Zweckstrafenlehren als Zeichen einer Übergangszeit. Erst nach in langer Gewohnheit ausgebildeter sozialistischer Mentalität der Bürger könne das Vergeltungsstrafrecht zurückgelassen werden. Die Zweckstrafenlehre mit ihrer Implikation der Besserung hätte das Strafrecht in eine tendenziell sozialistische Sozialpolitik einfügen müssen. Das habe sie vermieden und das Schuldproblem auf die psychologische Zurechnungsfähigkeit zur Straffähigkeit reduziert. Dann bleibe man auf dem Wege, die Willensfreiheit im von Baumgarten festgehaltenen philosophischen und indeterministischen Sinne aufzugeben. Zusammenfassend kann man sagen, dass Baumgarten die am Erscheinungsbild haftende Straftheorie der Generalprävention mit dem Zweck einer Normenstabilisierung ablehnte. Er sah das Verbrechen nicht primär als Normenverstoß oder gar in der moralisierenden und alle Spezifik des Rechts auflösenden Variante als Pflichtverletzung. In den Mittelpunkt rückte er die Rechtsgutverletzung, und zwar als der einer direkt oder sachhaft verletzten Person. Das führte er recht konsequent sensualistisch aus: Die Strafe basiert auf dem Vergeltungsgedanken, denn das Vergehen ist eine zu verantwortende Schuld. Philosophisch grundsätzlich gefasst, durchkreuzt das Verbrechen das Glücksstreben eines oder mehrerer Menschen. Baumgarten klärte damit das an sich bestehende Rätselwesen auf, wie überhaupt Strafe gerechtfertigt werden könne. Strafe gehört einer Welt zu, in der wir schuldig werden. Sie war und bleibt ein kreatürlicher Notbehelf. Daraus ergab sich für Baumgarten, wenn man in aktueller Terminologie so sagen will, ein opferorientiertes Strafrecht. Der Täter soll den humanen Gehalt der Strafe erfahren.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

Das sind: seine Pflicht, zur Genugtuung beizutragen und die Gelegenheit zum Sühnebewusstsein zu erfassen. Daraus erfolgten die Strafzwecke, wie Sicherheit in der Sozialordnung, Abschreckung, Resozialisierung, als relative Nützlichkeitserwägungen. In seiner zweiten Schweizer (1923 – 1930) und in der Frankfurter Zeit (1930 – 1933) warf er sogar die Frage nach der Annäherung des Strafrechts an zivilrechtliche Verfahren auf.8 In einem letzten strafrechtlichen Vortrag aus dem Jahre 1952 (in der Akademie der Wissenschaften) hat Baumgarten noch einmal gesagt, dass eine Idee der Strafe doch nur aus dem Schuldgedanken hervorgehe. Alle anderen Theorieaspekte beträfen Utilitätserwägungen. Die Idee der Strafe ergebe sich aus der Realität von Schuld und Sühne.9 Schließlich behandelte Baumgarten die zur Strafrechtsphilosophie gehörenden logischen Probleme des Strafrechts und speziell des Richterspruchs. Das Urteil soll die besonderen Umstände und Wirkungen der freien Willenshandlung als generalisierten rechtlichen Tatbestand bemessen, soll strafen im Zuge einer Vereinheitlichung von genereller und spezifischer Maßnahme und so dem Opfer Genugtuung geben. Es soll im Ganzen sogar den Rechtsfrieden wiederherstellen. Strafen soll das Urteil im Verständnis der Persönlichkeit des Delinquenten als einer dynamischen Ganzheit, einbezogen deren Genese und Wechselwirkung mit der Erfahrungswelt. Die logische Problematik des Strafrechts konzentriert sich in einer Logik der Urteilskraft. Das zur Beurteilung anstehende Geschehen ist wohl seiner juridischen Qualifikation nach Fall einer allgemeinen Regel. Im Blick auf die reale Handlungsteleologie der Straftat ist das Urteil individuelles Beispiel im Umkreis von Analogien. Analogien sind, wie G. Buck gut sagte, „eine Art von eingekleideten Aufgaben, deren logischen Gehalt man ausdrücklich wahrnehmen und vollziehen muß“. „Nur die Unterscheidung des Andersseins kann überhaupt so etwas wie Ähnlichkeiten bemerken.“10 Das Beispiel-Verstehen setzt ein Vorverständnis sich akkumulierender Erfahrung voraus, die die reflektierende Urteilskraft neben die Deduktion aus definierten allgemeinen Begriffen rückt. Urteilskraft operiert mit Beispielen und Analogien. In antiken Berichten fand sich die Weisheit des Richterspruchs sogar an die Rolle von Gleichnissen gebunden. Aristoteles hatte Lernen und Urteilen ins Verarbeiten von Beispielen (paradeigma) und ins Vergleichen mit Gleichnischarakter (parabole), die in der Funktion von archai stünden, gesetzt. Er verstand solche empirische Erfahrung, die der Jurist Bacon dann das Durchgehen von Instanzen nannte, als Aufnahme immer neuer Anfangsgründe des Verstehens (darum deren Funktion als epagoge, als Hinzufügung).11 Die Subsumtionslogik der Naturwissenschaften und der Technik des 19. Jh.s unterstützte den Aufstieg der Begriffsjurisprudenz. Die induktionistische Logik des Baumgartenschen Empirismus bot von vornherein antibürokratischen Gehalt auf. Mit dem 8 Anders K. Lüderssen, Abschaffen des Strafens?, Frankfurt/M. 1995. 9 W. Naucke, Arthur Baumgarten, in: B. Diestelkamp, M. Stolleis, Juristen an der Universität Frankfurt, Baden-Baden 1989, S. 136-147. 10 G. Buck, Lernen und Erfahrung, Darmstadt ³1989, S. 195, 219. 11 Aristoteles, Rhet. A2, 1356; B20, 1393. Kant behandelte den Unterschied diskursiver, direkt anschauender (intuitiver)und analogisierender Erkenntnis, die er auch die symbolisierende nannte, im § 59 der Kritik der Urteilskraft.

1. PHILOSOPHISCHE PROBLEME DES STRAFRECHTS

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Frühliberalismus der Aufklärung hatte der strafrechtliche Liberalismus zunächst als strikte Betonung des Rechtsprinzips schlechthin eingesetzt. Es war vor allem als antiabsolutistisches Gleichheitspostulat eingeführt worden. Dem entsprach das Identitätsprinzip, das so entschieden das Kantsche Strafrecht regierte: Punitur, quia peccatum est; Gestraft wird, „weil er verbrochen hat“.12 Im 20. Jh. ging der Liberalismus auch in den Rechtstheorien zu entwickelteren Formen der Logik des konkreten Falls fort, die auch von der Freirechtsschule gedacht worden war und immer ein Thema des analogisierenden Erfahrungswissens bei der Gesetzesanwendung bildete.13 Baumgartens intersubjektive Auffassung des Strafrechts bedeutete logisch eine Rückkehr zum Zusammenhang von Belehrung durch Analogisierung und Lebenspraxis. Der logische Formalismus der Begriffsjurisprudenz erschien ihm demgegenüber als Verteidigung eines in sich ruhenden Systems von Herrschaftssicherungen, obwohl einige seiner Vertreter in dieser Theorie das Recht als eine von staatlichen Interessen unabhängige Ordnung dachten. Logisch geschlossene Ordnung sollte kulturelle Autonomie bedeuten, analog dem Theorie-Verständnis der Naturwissenschaften. Die antiliberale Polemik operierte darum eingehend mit materialen methodischen Gesichtspunkten. Diese sollten zugleich den Individualismus als vermeintes Kennzeichen des Liberalismus mit einer sog. transpersonalen Rechts- und Staatsauffassung überwinden.14 Die materialen Aspekte des Baumgartenschen Strafrechts bezogen sich ganz anders auf einen Liberalismus konkreter Intersubjektivität. Die konkrete Täter-Opfer-Relation sollte rekonstruiert werden. Für die Vergeltungsauffassung der Strafe bildete der Schuldbegriff das Schlüsselthema, jedenfalls wenn die Vergeltung personal gedacht wurde. Baumgarten stellte das in den Mittelpunkt: Verbrechen war die Verletzung der Freiheitssphäre eines Individuums. Die Schriftenfolge von der Dissertation zum Aufbau der Verbrechenslehre (1913) stellte einen logischen Fortgang vom analytischen zum konkretisierenden Verfahren dar. Mit eingehender Diskussion der umfangreichen und noch von gravierenden Kontroversen geprägten Strafrechtsliteratur der Zeit behandelte die Dissertation die umstrittenen Theorien der einfachen oder mehrfachen Schuld beim Vorliegen mehrerer Delikte (Idealkonkurrenz) und die strafrechtlichen Bezüge einer kriminellen Handlung, die unter mehrere Paragraphen des Strafgesetzbuches fallen würde (Gesetzeskonkurrenz). Der Promovend hatte sich ein strafrechtliches Thema mit weitem rechtsphilosophischem Hintergrund gewählt. Theoretische Geschlossenheit und geistiger Schwung der ersten Schrift des jungen Baumgarten beruhten auf dem durchgehenden sensualistischen Gedankengang, der Bindings Schuld- und Vergeltungstheorie der Strafe charakteristisch 12 I. Kant, Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Werke, Akademieausgabe, Bd. VI, Berlin 1907, S. 331. 13 M. Herberger, D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen. Logik – Semiotik – Erfahrungswissenschaften, Frankfurt/M. 1980. 14 Entschieden so in Polemik gegen G. Radbruch: J. Binder, Philosophie des Rechts, Berlin 1925, § 9: Die Ideologien der politischen Parteien. Der Liberalismus mache den Einzelnen zum Atom und dadurch das Volk zur bloßen Masse (S. 301). Baumgarten polemisierte wiederholt gegen Binder, speziell gegen dessen – konservativ gewendeten – neukantianischen formalen Sollensbegriff: „eine Theorie, die mehr imponiert als überzeugt“. (Recht, I, S. 265)

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

abwandelte. Nicht die Majestät des Gesetzes wäre verletzt, worauf es Binding konzentrierte. Baumgarten sagte, der Person des Opfers wäre ein Leid zugefügt, das durchs Gegenleid der Strafe zu sühnen wäre. Er sah in der Straftat die Abwandlung des freien Willens zur Willkür, weit elementarer als die Verletzung staatlich sanktionierter Normen. Das trete erst hinzu. Die Straftat bestand für ihn in der Verweigerung, sich intersubjektiv geteilten Regelsystemen anzuschließen. Baumgarten ging sensualistisch für die immer schon geltenden Regelungen analytisch auf deren zwischenmenschlichen Charakter zurück. Die Allgemeinheit von Regelsystemen tritt im Strafrecht prägnant in der Rolle des Gerichts als der dritten Person an den Tag, die die Perspektive des unbeteiligten Beobachters realisiert.15 Mit seiner Version des Vergeltungsstrafrechts gab Baumgarten Hugo Grotius’ klassischer Formel eine fast strafpsychologische Wendung: Qui male fecit, malum ferat, eine aus der Antike kommende allgemeine Bestimmung, die Baumgarten später dann mit Bezug auf die Individualpsychologie der Zeit (A. Adler, F. Künkel u. a.) entwickelte. Grotius hatte gesagt: „Die Strafe ist in ihrer allgemeinen Bedeutung ein Übel, das man erleidet, weil man ein Übel getan hat.“16 Baumgartens Strafrechtslehre war allerdings von zwei Polen eingefasst. Der moralisch-psychologischen Schuld- und Vergeltungsidee stand als objektiver Bezug Ernst Belings Tatbestandstheorem gegenüber, das Baumgarten ebenfalls etwas abwandelte. So waren individuelle Rücksicht und sachliche juridische Struktur aufeinander bezogen. In dieser Vermittlung bewegten sich alle strafrechtlichen Begriffe. Ohne den Tatbestandsgrundsatz, ergänzt durch das Merkmal der Rechtswidrigkeit, wäre Baumgartens Schuld- und Vergeltungstheorie bei der Moralisierung des Strafrechts stehen geblieben. Doch er hat zur objektiven Tatbestandsmäßigkeit den Blick auf die qualitative menschliche, immer einmalige und tragische Seite des Verbrechens gelenkt. Baumgartens analytische Reduktion von Kriminalität, Schuld und Strafe auf Leid und Gegenleid gründete sich nicht nur auf die klassische liberale Rechtstradition. Seine Variante der sog. retributistischen Strafauffassung wurzelte in Baumgartens Empirismus. Die Anthropologie des Sensualismus führte auf die psychologischen Aspekte des Strafrechts. Baumgarten sah das Verbrechen als Aktion eines fehlgeleiteten Glücksstrebens. Damit verbunden war Baumgartens fast voluntaristische Handlungsauffassung. Vorsatz und Wille seien die entscheidenden Momente, nicht die vollzogene Handlung, wie v. Liszt und mit ihm der junge Radbruch sagten. Er lehnte die Auffassung der Straftat primär als Handlung ab, weil er darin eine Tendenz zur naturalistischen Verhaltensinterpretation sah. Den Willen der Person fasste Baumgarten indeterministisch auf. Er bezog sich dafür auf W. James’ antinaturalistische Komplexität der Bewusstseinsprozesse, dessen „stream of consciousness“. Später schloss er Resultate der neuen Gestaltpsychologie an, die die behavioristische Reiz-Reaktions-Gleichung für die Verhaltens15 Vgl. G. Kleinheyer, Vom Wesen der Strafgesetze in der neueren Rechtsentwicklung. Entwicklungsstufen des Grundsatzes „nulla poena sine lege“, Tübingen 1968. 16 H. Grotius, Das Recht des Krieges und des Friedens, B. II, Kap. XX (hier zit. n. Übers. u. Edit. v. Kirchmann, Berlin 1869, S. 40. „Zu dem, was die Natur für erlaubt erklärt und nicht verbietet, gehört, daß, wer Übles getan, Übles erleiden müsse“. (Ebd., S. 41)

1. PHILOSOPHISCHE PROBLEME DES STRAFRECHTS

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psychologie überschritt. Er ging von der dynamischen Einheit psychophysischer Gestaltkomplexe aus, die „Handlungsganzheiten“ darstellten, wie Kurt Lewin (1890 – 1947) dann sagte.17 Baumgarten sah die sich als strafbar erweisende Handlung am spezifischen Individuum, in der Komplexität von dessen Antriebsstruktur und in der Auseinandersetzung des Einzelnen mit der objektiven Disziplin der gegebenen familiären, beruflichen, politischen usf. Kollektive. A. Adler hatte in der Schrift Über den nervösen Charakter (1912) Neurosen und mögliche Straffälligkeit als krisenhafte Erscheinungsweisen beim Bildungsprozess personaler Disziplin interpretiert. Baumgarten konnte die Erscheinungen der Kriminalität psychologisch und indeterministisch erklären, wenn die Person sich bildet in den Auseinandersetzungen um lebensnotwendige Interiorisierungen objektiver Ordnungsanforderungen. Baumgarten verfolgte die psychoanalytische Literatur von Anfang an und kannte auch deren Abzweigung zur Individualpsychologie. Seine Auffassung des Verbrechens als eines aggressiven Ausbruchs, Leid zuzufügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, ist von der Psychologie der Zeit angeregt. Die individualpsychologische Auffassung der Kriminalität bildete eine Konstante des strafrechtlichen Liberalismus. Zur Bewahrung individueller Freiheitsrechte gehörte die konkrete Täter-Opfer-Beziehung im Strafrecht. In der Leid-Gegenleid-Korrelation ist weniger eine emotionale Ebene zu sehen als vielmehr das moralische und juridische Kriterium der Verantwortung der Person für ihre Taten. Der Staat vermittelt allerdings als neutraler Dritter den Ausgleich von Verletzung und Gegenverletzung der Freiheitssphären. Aber eben auch nicht mehr als das. Für Baumgarten richtete sich das Verbrechen erst in zweiter Linie gegen die staatliche Ordnung, gegen Eigentumsrechte oder andere objektive Rechtsgüter. Baumgarten wurde auch damit in der Weimarer Republik, die eine Zeit stark politisierten Strafrechts und staatlichen Unrechts gewesen war, zu einem Vorkämpfer des liberalen Strafrechts.18 In seinen frühen strafrechtlichen Arbeiten hielt Baumgarten den individualpsychologischen Aspekt der Rechtsverletzung und des Strafprozesses zunächst von der Strafrechtssoziologie der neuen Schule fern. Er rückte den juridischen Zusammenhang nahe an den moralischen, der ihm mit dem liberalen Impetus sowohl der materialen und seelischen Schadensheilung beim Opfer als auch der Bewahrung des subjektiven Rechts des Delinquenten nahe stand. Baumgartens Intersubjektivitätsansatz richtete sich auch gegen Tendenzen zum täterbezogenen Strafrecht, bei dem das Opfer de facto zurückge17 „Nicht minder wichtig wie die Einbettung in einheitliche Gesamt-‚Handlungen‘ ist der Zusammenhang mit bestimmten seelischen Energiequellen und bestimmten Spannungen.“ (K. Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin 1926, S. 15) 18 Detlef Krauß betonte die Individualität als Kriterium rechtsstaatlichen Strafrechts für die Gegenwart: „Wenn das Strafrecht heute überhaupt noch irgendeinen Sinn haben kann, dann liegt er in der Zuschreibung individueller Verantwortung eines jeden einzelnen für seine Tat. Ohne das Prinzip individueller Verantwortung verliert jedes politische Gemeinwesen sein Fundament.“ (Krauss in: Hamm, Möller (Hg.), Datenschutz und Strafrecht – ein Widerspruch in sich?, Baden-Baden 1997, S. 35) Zur Politisierung der Justiz in der Weimarer Republik außer der bekannten klassischen Publikation E. J. Gumbels (Zwei Jahre Mord, Berlin 1921) auch: H. Hannover, Politische Justiz 1918 – 1933, Frankfurt/M. 1966.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

setzt wird. Er teilte aber das unrichtige Urteil, die Lisztschen Gesichtspunkte sozialer Kausalauffassung des Verbrechens stünden im Widerspruch zur Willensfreiheit und setzten das Individuum zum Objekt determinierender Umstände herab. Zunächst zeichnete sich sein Strafrecht durch die Begrenzung auf die betroffenen Individuen aus. Das hielt ein unaufhebbares Moment der Individualität fest, schränkte aber die Fragestellung ein. Baumgarten distanzierte sich mit seiner psychologischen Straf- und Zivilrechtstheorie von der vorherrschenden Meinung nach der Reichseinigung, mit der Ausgestaltung der konstitutionellen Monarchie zur Rechtseinheit durchs Strafgesetzbuch, das Bürgerliche Gesetzbuch und die Reichsjustizgesetze, einen in sich ruhenden Rechtsstaat ausgebildet zu haben. Es war also von Baumgarten nicht an eine Rückkehr zur sog. Konstruktionsjurisprudenz gedacht, wenn er die Verselbstständigungstendenz von Straf- und Zivilrecht durch die Zweckjurisprudenz ablehnte. Baumgarten sah, dass dem die unausgesprochene Anerkennung der Rechtskonstruktion der konstitutionellen Monarchie der Art des Deutschen Reiches zu Grunde liege. So ergaben sich die moralischen Implikationen seines Strafrechts und seiner Rechtsphilosophie aus dem angloamerikanischen Liberalismus seines sensualistischen Pragmatismus.19 Baumgartens Strafrecht war von seinem markanten Rechtsbegriff bestimmt, dass das Recht eine spezifische Weise der Erziehung der Einzelperson durch die Gruppen von der Familie bis zur Gesellschaft als Ganzem darstelle, im Ganzen einer Erziehung, im Einzelnen der Disziplinierung, in deren Geschehen verschiedene pädagogische und strafrechtliche Eingriffe nur Knotenpunkte auf einer Gesamtskala bildeten. Vor allem in der Ontogenese stehe der Einzelne unter den Forderungen verschiedener Gliederungen der Gesellschaft. Sie legten regelnde Netze von Geboten und Verboten über ihn. Daraus erst entstünden die realen Ich-Wahrnehmungen, die, objektiv gesehen, sehr illusorisch sein könnten, und die Straffälligkeit sei letzten Endes die aggressive, Leid zufügende Form einer Kompensation von Verlust-Gefühlen oder, positiv gewendet, einer Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls. Damit rückte die Straftat nun doch, mehr als bei v. Liszt, in die Nähe der neurotischen Zwecksetzung. Die individualpsychologische Literatur der Zeit gab viel vom geistigen Umkreis der Baumgartenschen strafrechtlichen Arbeiten zu erkennen.20

19 M. Stolleis, Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert, Berlin, New York 1997, Abschn. 4: Konstitutionelle Monarchie und Rechtsstaat: „Die Exekutive erhielt sich ihr natürliches Übergewicht und der Rechtsstaat bewahrte obrigkeitliche Strukturen.“ (S. 12ff) 20 Die Beziehung von Individualpsychologie und Strafrechtstheorie wurde bereits am Beginn des 20. Jh.s in den Zusammenhängen einer Kulturpsychopathologie untersucht, wie der Terminus des Psychiaters Karl Birnbaum lautete (Grundzüge einer Kulturpsychopathologie, München 1924). Zivilisationskritische Aspekte der Individualpsychologie wurden insbesondere hinsichtlich der Pädagogik, des Familienrechts und des Strafrechts behandelt. Diese Themen waren überhaupt eine Ursache für die frühe Absonderung der Individualpsychologie von der originären Freudschen Psychoanalyse. A. Adler hatte das zusammenfassend in der Einleitung seiner Schrift Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie, München 1912, 41928 dargestellt. Das Verhältnis von Individualpsychologie und Strafrecht war in den Jahrzehnten der Baumgartenschen kriminalrechtlichen Schriften ein viel behandeltes Thema gewesen, insbesondere

2. DIE STRAFRECHTLICHEN ARBEITEN

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2. Die strafrechtlichen Arbeiten Baumgarten veröffentlichte 19 Aufsätze zu Strafrechtsfragen, zuletzt erschien der Akademievortrag Die Idee der Strafe (1952) des 68-Jährigen; ein Titel des Berliner Strafrechtlers J. Kohler (1849 – 1919) aus Baumgartens frühen Jahren war hier wiedergekehrt. Der Dissertation folgte die Studie zur speziellen strafrechtlichen Zurechnung Notstand und Notwehr (1911). Das systematische Buch seiner Frühzeit zum Strafrecht, Der Aufbau der Verbrechenslehre (1913), war im ersten, einer generellen Theorie des Strafrechtsverhältnisses gewidmeten, Teil eine rechtslogische Arbeit. Der zweite und materiale Teil entwickelte eine psychologisch argumentierende Vergeltungstheorie, die gegen den Primat des sachorientierten Handlungsbegriffs in der Verbrechenstheorie (v. Liszt, Meyer-Allfeld, der junge Radbruch mit seiner Heidelberger Habilitationsschrift21) den Akzent auf die innere Willensmotivation und darum auf die Schuld und den subjektiven Aspekt des Tatbestands setzte. Baumgarten vertrat entschieden Belings Theorie der Tatbestandsmäßigkeit und lehnte mit diesem auch den Handlungsbegriff als die Basis des Straftatsystems ab. Der 26-jährige Autor erörterte die Argumentationsweisen der unterschiedlichen Standpunkte und deren Konsequenzen eingehend und die Schrift lässt sich inzwischen wie eine Einführung in die Diskussion der Strafrechtswissenschaft am Beginn des 20. Jh.s lesen. Die Quintessenz des zweiten Teils hatte bereits der ganz allgemeinverständlich gehaltene kleine Aufsatz von 1911, Alte und neue Strafrechtsund Zivilrechtsauffassung, ausgesprochen.22 Der Tatbestandsbegriff gewann für Baumgartens Systematik des Verbrechensbegriffs Gewicht, weil er die direkte Zusammenführung der Begriffe Schuld und Rechtswidrigkeit verhindern sollte. Ohne die Präzisierung durch den Tatbestandsbegriff würde das Strafrecht unabsehbar moralisiert und die Strafbarkeit des schuldhaften Willens wäre der Tendenz zu Erweiterungen durch die Gerichte geöffnet. Baumgarten sagte, nach der herrschenden Lehre (1913) sei das Verbrechen in erster Linie Handlung und darum werde die Außenseite des Vergehens über die inneren Willensmomente gesetzt. „Das System der Verbrechenslehre ist ein Spiegelbild der in der Strafrechtsgeschichte zum Ausdruck gelangten menschlichen Neigung zur Haftbarmachung für den äußeren Erfolg.“ Der Gedanke leite noch immer, „daß eigentlich die rechtswidrige Tat an sich genügt, um das Bedürfnis nach strafrechtlicher Reaktion wachzurufen“. Doch nur die Schuldhaftung könne die Strafe nach sich ziehen. Das Hauptmoment am Verbrechen sei nicht der

unter den Möglichkeiten demokratischer Verfassung bei Schweizer praktischen Juristen und Medizinern. (Man vgl. z. B. den thematischen Band I der Zeitschrift für Individualpsychologie, H. 6-9, München 1916: Staatsanwalt H. Zeller: Das Strafrecht in seiner Beziehung zur Individualpsychologie; Strafrichter E. Hauser: Individualpsychologie und Kriminalpolitik u. a.) 21 G. Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Strafrechtssystem, Berlin 1903; v. Liszts Lob für Radbruch und Baumgartens Interpretation der Radbruchschen Schrift in: Verbrechenslehre, S. 199. 22 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 15 (1911), S. 387-398; wieder in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, a. a. O., S. 18-27.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

rechtswidrige Erfolg, sondern der Akt des schlechten Willens.23 Das vorherrschende Prinzip der Erfolgshaftung regiere etwa auch die Fahrlässigkeitsdelikte, da man einen schuldhaften Willensentschluss nicht ausmachen könne. Im Unterschied zum Zivilrecht sei fürs Strafrecht der antisoziale Wille des Zurechnungsfähigen das Wesentliche. Darum sei im Strafrecht die wie selbstverständliche Dreiheit von Wille, Körperbewegung und Erfolg, die den Handlungsbegriff konstituiere, zunächst einmal auseinander zu legen. Besser als der Begriff der Rechtswidrigkeit erfasse der Tatbestandsbegriff in der Beziehung zum schuldhaften Vorsatz den Kern der Rechtsverletzung. Die vorherrschende Auffassung sehe aber die Schuld erst als Merkmal des Tatbestands. Doch es könne begriffsmäßig nicht zum Tatbestand gehören, was nicht von der Schuld erreicht werde. Darum sei das Verbrechen als schuldhafte und tatbestandsmäßige Handlung zu definieren.24 Der Strafrechtsabschnitt der Rechtsphilosophie von 1929 fand sich noch einmal ganz auf Baumgartens sensualistische Grundlegung der liberalen, individualrechtlichen Straftheorie mit der Konstante eines Vergeltungsgefühls zurückbezogen. Bedenkt man die hohe Politisierung der Strafprozesse schon vor 1933, so kann die wie unberührte philosophische Gedankenführung bei einem führenden Vertreter des Liberalismus in der Rechtsphilosophie auch verwundern. In dem sich weit öffnenden geschichtlichen und staatsrechtlichen Erfahrungsraum des Ersten Weltkrieges, der Revolution und der ersten deutschen Demokratie führte Baumgarten im Strafrechtskapitel seines rechtsphilosophischen Buches Der Weg des Menschen (1933) die Ergänzung seiner frühen Auffassung über v. Liszt und die diesem folgende ältere soziologische Richtung der Strafrechtslehre (H. Kantorowicz, E. Ehrlich) hinaus bis zu entschieden sozialkritischen Elementen der Schutzstrafe. Der Gedanke umfassender gesellschaftlicher Reform nahm nun die seinerzeit schuldpsychologisch begründete Anerkennung der Individualität des Täters gegenüber einer exemplarisch disziplinierenden Bürokratie des Staates auf. Die Hauptresultate des strafrechtlichen Denkens Arthur Baumgartens finden sich dann in dem Vortrag von 1937, Die Lisztsche Strafrechtsschule und ihre Bedeutung für die Gegenwart, und im Strafrechtskapitel der Grundzüge der juristischen Methodenlehre (1939) zusammengefasst. Hier würdigte Baumgarten die sozialpädagogische Bedeutung der v. Lisztschen Lehre vom Strafzweck.25 Zum Ende hebt noch einmal der schöne Akademievortrag vom Jahre 1952, Die Idee der Strafe, den unverzichtbaren Schuldgedanken gegenüber den Utilitätsaspekten bei Urteilsfindung und Strafgestaltung mit der Nachdenklichkeit und der Klarheit des Alters in Erinnerung.

23 Ebd., 198ff. 24 Ebd., S. 243. 25 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 51 (1937) 1-14; wieder in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, S. 203-212; Methodenlehre, S. 127ff.

3. EINE NACHBEMERKUNG

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3. Eine Nachbemerkung Liest man heute von den so entschieden vorgetragenen unterschiedlichen strafrechtlichen Theorien des beginnenden 20. Jh.s, so erkennt man das hohe Vertrauen der Autoren auf theoretische Entschiedenheit und weiter noch auf gesellschaftliche Konsequenzen der Fachthematik. Die geistigen Eroberungen fielen schwerer, da machtbewußte Traditionen und weit hinaussehende Erneuerungen aufeinander stießen. Was kann nun, so möchte man sich heute fragen, der Schritt von der elementaren Theorie der Vergeltungsstrafe, wie Baumgarten dann selbst sagte, zur humanen Idee der Sicherung der Bürger und der Besserung des Delinquenten noch ausrichten, angesichts der über die Kontinente hinweg agierenden großen Verbrechermonopole, was gegenüber der Korruption als dem eingewurzelten Parasiten der Firmen und Behörden, was schließlich angesichts der Depravierung eines festen Teils der jungen Generation durch Ausstoßung aus der Gesellschaft ins aufgepresste Gefühl der Überflüssigkeit? Wie möchte man die um Millionen spielenden Wechselreiter und Bilanzfälscher des wahrlich Neuen Marktes oder großer politischer Parteien zu gesetzesfrommer Tagesarbeit bessern? Nicht Armut nur fällt ins Verbrechen. Reichtum rekrutiert es sich frech herausfordernd zu seinen Vorrechten. Es ist, als sollte sich nach den Erwartungen vergangener rechtswissenschaftlicher Grundsatzfragen nun der Sinn von Humanität gleich erschöpfen. In den Schlingen der Mafiabanden findet sich das Suum cuique tribuere mitgefangen. Die Idee der Schuldstrafe besitzt ihren Kern im unverlierbaren sittlichen Gefühl erforderlicher Wiedervergeltung beim Opfer, wie eben auch beim Täter.26 Das anthropologische Phänomen des Vergeltungsgefühls und dessen Eignung als moralischer Basis des Strafrechts sah Baumgarten noch in seiner Rechtsphilosophie von 1929 als die Schlüsselfrage an. Angesichts heutiger Erfahrung könnte v. Liszts rechtssoziologischer Anstoß wie eine wohlmeinende, doch hilflos unzureichende Übertragung des individualisierenden Vergeltungsprinzips auf einen sozialpädagogischen Besserungsgedanken erscheinen. Baumgarten hat das 1952 auch ausgesprochen. Die eingetretene Vergesellschaftung der Täterschaft hat eine hochorganisierte Nebengesellschaft entstehen lassen, in der das Schuld- und Sühnebewusstsein von der Gewissenlosigkeit berufsmäßiger Hasardeure und Verächter von Gesetz und Gerechtigkeit ausgetrieben wird. Die für unantastbar geltende Maxime der Profitmaximierung bereitet den Boden für die bei großen und kleinen Unternehmen aufblühende Gesetzesverletzung. Die Verluste der Firmen durch Kriminalität der eigenen Mitarbeiter gehen in die Hunderte Millionen. Kriminalität ist einer der erfolgreichsten Bereiche der auf triumphierenden Gewinn gestellten Zivilisation. Die Abkoppelung der Selbstbezogenheit der Verantwortungs-

26 „Die Verwendung des Ausdrucks Schuld für ein Merkmal des Straftatsystems ist kein besonders zweckmäßiger Sprachgebrauch, weil er zu viele poetisch-moralische Assoziationen weckt und insgesamt nicht zu einprägsamen Vorstellungen führt. Die Wendung ‚subjektive Zurechnung der Tat‘ wäre nüchterner. Die Wendung wäre auch offener, würde also die Offenheit des Schuldproblems im Strafrecht deutlicher zeigen.“ (W. Naucke, Strafrecht. Eine Einführung, Neuwied und Kriftel 10 2002, S. 235f)

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

träger in der Wirtschaft von den lohn- und gehaltsabhängigen Mitarbeitern hat parasitäres Ausmaß erreicht. Zugleich vollzieht sich ein moralisch und rechtspsychologisch bedenklicher Prozess. Er konzentriert sich in der Erosion des Schuldbewusstseins. Die unverzichtbare moralische Basis der Idee der Strafe, die dem Täter einwohnen muss, nicht der Gesellschaft und deren Ordnungs- und Rechtsbehörden, löst sich auf. Neben der rechtlich relevanten Kriminalität breiten sich die Felder der Entsolidarisierung und anstößiger Vorteilsnahme aus. Da seine Selbstsucht weiden zu lassen, gilt für entschlossene Klugheit. Die Mentalität eines latenten Beuteverhaltens unter Geschäftspartnern und Privatleuten breitet sich am Boden des gesellschaftlichen Umgangs aus, so sehr, dass die an den Grenzen des Legalen operierende Missachtung des Anderen das Vertrauen auf die Möglichkeit von Gerechtigkeit untergräbt. Mit dem Sinken der moralischen Selbstachtung der Bürger verschleifen sich das Verwerfliche und das Strafbare ineinander. Dazu tritt als entsprechende Verkehrtheit auf der Gegenseite die vulgäre, politisch so gut ausbeutbare moralische Überlagerung rechtlich genau begrenzter, auf jeden Fall zu begrenzender Verhaltensweisen von Bürgern in den geschichtlichen Abläufen der Gemeinwesen. Hier sind objektivierende Rechtssätze die Hürde gegen stimmungsgetragenen Fanatismus, als dessen tatsächliches moralisches Ingredienz sich in der Regel der Hass erweist. Die Entwicklung des Baumgartenschen Strafrechts bestand in der sich vertiefenden Vermittlung des Individualismus der Vergeltungslehre mit den Aspekten sozialer Solidarität im Zweckstrafrecht. Vom neuen Schweizer Strafrecht hieß es schließlich 1939: „Das neue Strafgesetz ist, wie alle bisherige Strafgesetzgebung, vorwiegend inspiriert durch die Vergeltungsidee und den Zweck der Generalprävention. Daneben trägt es in verhältnismäßig weitgehendem Maß der Besserung des Delinquenten Rechnung. ... es bedeutet gemäß der von uns vertretenen philosophischen Auffassung des Rechts einen Fortschritt im Prinzipiellsten, nämlich den Übergang von einer rein individualistischen Ethik zu einer mehr solidarisch konzipierten.“27 1952 nannte Baumgarten das eidgenössische Strafgesetzbuch von 1942 wegen des festgehaltenen Prinzips der vergeltenden Schuldstrafe, einschließlich dessen Katalogs sichernder und bessernder Maßnahmen, vorbildlich für die neue Strafgesetzgebung.28 Der individualrechtliche Schuldbegriff erweist sich in der Wirtschaftskriminalität und in den vielen Formen von Kriegshandlungen, wie sich jetzt für das UN-Tribunal zeigt, als schwer realisierbar für die relevanten Fälle in allen Staaten. Die persönliche strafrechtliche Verantwortung im Rahmen des Völkerrechts trifft zudem auf den Konflikt zwischen internationalem und staatlichem Recht. Baumgartens Völkerrecht war bereits seit den zwnziger Jahren auf die Völker als Rechtssubjekte gerichtet. Das befürwortete auch persönliche Haftung von Staatsmännern (Nürnberger Tribunal, Internationaler Strafgerichtshof). Neue Kriminalitätsformen fordern den Rechtsstaat zur Verteidigung der Bürger mit den Mitteln des Strafrechts heraus. Das tangiert den Anspruch der Bürger auf Rechtsschutz vorm Staat und dessen Maßnahmen. Die gegenwärtige unkluge militärische Be-

27 Methodenlehre, S. 7. 28 Baumgarten, Die Idee der Strafe, Berlin 1952, S. 10.

4. EINFLÜSSE

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handlung wirtschaftlicher und kultureller Widersprüche zwischen Teilen der Weltbevölkerung durch die Industriestaaten führt zur Ausdehnung von staatlicher Überwachung und Verdächtigung, die der Zivilgesellschaft Abbruch tun und rechtsstaatliche Prinzipien zurückzusetzen beginnen.29 In Bezug auf die aufschießende Wirtschaftskriminalität wird vorgeschlagen, statt der individuellen Schuldhaftung mit einem Verbands- oder Unternehmensstrafrecht den Schuldbegriff auf Firmen und Verbände als Rechtspersonen auszudehnen. Die Thesen und Vorträge der Alsberg-Tagung 1997 der Vereinigungen Deutsche Strafverteidiger und Deutscher Richterbund haben das zurückgewiesen, weil das Strafrecht nicht der Ort sei, komplexe soziale und politische Probleme zu klären und aufzuarbeiten. Die Aktualität der Baumgartenschen liberalen Strafrechtsauffassung wird deutlich: „Das Strafverfahren soll die Komplexität unserer gesellschaftlichen Probleme auf individuelle Verantwortung zurückführen und ‚dem Leid einen Namen geben’. ... es ist in seinem rechtlichen Instrumentarium auf die Lösung von Konflikten zwischen Menschen und nicht auf die Individualisierung von Verantwortung für gesellschaftliche und politische Störungen angelegt.“30 Herzog betonte, „daß die Exekutivbehörden des Staates auch eine Aufsichtsfunktion über die Sozialbindung des Eigentums und z. B. die wettbewerbs- und umweltgerechte Organisation von Betrieben haben.“31 Arthur Baumgarten hatte seinerzeit gegen die Omnipotenz des Staates den individuellen Schuldbegriff betont und mit diesem der strafrechtlichen Theoriebildung konsequent moralphilosophische und psychologische Aspekte beigegeben.

4. Einflüsse Adolf Merkels, Ernst Belings, Josef Kohlers, Hold v. Fernecks Die zeitgenössischen Strafrechtsautoritäten, die Baumgarten in seinen frühen strafrechtlichen Arbeiten sehr beeinflussten, waren offenbar Adolf Merkel (1836 – 1896, Vergeltungsidee und Zweckgedanke, 1892), Ernst Beling (1862 – 1932) und Josef Kohler (1849 – 1919, Das Wesen der Strafe, 1888). Der auch literarisch tätige Rechtshistoriker, Strafrechtler und neuhegelianisch orientierte Rechtsphilosoph Kohler, ab 1888 Professor für bürgerliches Recht, Strafrecht und Prozessrecht in Berlin, betonte die psychologischen Aspekte von Verbrechen und Strafe. Baumgarten folgte Merkel bei der Ableitung der Strafe aus der sozialen Sublimierung eines zur Natur des Menschen gehörenden 29 Felix Herzog beschrieb in einem Vortrag „Die Krise der geistigen und sozialen Grundlagen des reformierten Strafprozesses“ die Tendenzen zur Einschränkung der rechtsstaatlichen Verfahren: „Ausdehnung der Ermittlungsbefugnisse der Polizei, Beschleunigung der Strafverfahren durch den Abbau von Verfahrensförmlichkeiten und Verteidigungsrechten, ... Verschärfung der Strafen, das sind die wesentlichen Leitlinien der aktuellen kriminalpolitischen Diskussion.“ Er antwortete: „Nur diejenige staatliche Ordnung ist wirksam und legitim zugleich, die die Freiheiten der sich in dieser Ordnung zusammenschließenden Menschen anerkennt, die ihre eigene Macht zügelt und sich an die Gesetze bindet.“ (F. Herzog (Hg.), Vorträge der 11. Alsberg-Tagung 1997, Baden-Baden 1998, S. 21, 23) 30 Ebd., S. 81. 31 Ebd., S. 47.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

Vergeltungstriebes und bei der Beziehung der Strafe auf die Anmahnung und mögliche Beförderung eines konkreten zwischenmenschlichen Verantwortungsgefühls.32 Er hat im Strafrechtskapitel seiner Rechtsphilosophie (1929) eingehend das Vergeltungsgefühl als allgemeine Basis des Strafrechts behandelt. Im individuell-moralischen Sinne gehörte es zu den Voraussetzungen liberaler rechtsstaatlicher Strafauffassung. Baumgarten hatte auch Merkels kritische Beurteilung des Staates übernommen, von dem es bei Merkel geheißen hatte, er trage mit der Strafhoheit schwere Verantwortung, da er zugleich Richter und Partei sei. Weit befinde er sich noch von einem befriedigenden Strafsystem und Strafvollzug entfernt.33 Doch Baumgarten folgte auch in seinen nächsten Strafrechtsschriften nicht Merkels umfassender gesellschaftskritischer Kriminalitätsauffassung.34 Das war für das spezielle Dissertationsthema vielleicht auch nicht erforderlich gewesen. Sieht man auf die soziologische und anthropologische Wende der Theorien von Grund und Zweck der Strafe, die sich seit den achtziger Jahren des 19. Jh.s, auch unterm Einfluss italienischer Theoretiker (E. Ferri), vollzogen hatte, so werden an Baumgartens frühen strafrechtlichen Arbeiten Verhaftungen in einer vorangegangenen, philosophischen Periode der Strafrechtslehre bemerkbar.35 Der neuen, sich gesellschaftstheoretisch öffnenden Straftheorie kam auch die Problematik des Strafvollzugs in den Blick. Baumgarten schied das ebenfalls zunächst aus seinem Gesichtskreis aus. Es bedurfte noch der Erschütterung der europäischen Gesellschaft durch den Ersten Weltkrieg, dass Baumgarten den Zusammenhang von Recht und sozialer und politischer Bewegung in sein Denken

32 Grotius hatte in seiner erschöpfenden Behandlung so vieler Aspekte der Strafe diese auch als juristische Überformung eines Triebes der Verteidigung und der Abwehr eines Angriffes geschildert. (Das Recht des Krieges und des Friedens, a. a. O., S. 54) Gegenwärtig suchen die USA beim Feldzug gegen den sog. Terrorismus fast zu einem vorstaatlichen natürlichen Recht der Verfolgung von Gegnern zurückzukehren, mit denen man sich in einem Kriegszustande ohne völkerrechtliche Regeln befinde. Das wird von einer demokratischen Regierung als Rechtfertigung genannt, Verdächtige ohne Haftbefehl beliebig lange und ohne Rechtsbeistand gefangen setzen und misshandeln zu können. Grotius beschrieb „diese alte natürliche Freiheit“ für den Ort, wo keine Gerichte bestehen, für die See. Cäsar sei darum als Prokonsul gegen gefangene Seeräuber nicht gerichtlich verfahren, sondern habe sie auf dem Meere kreuzigen lassen. (Ebd., S. 57) 33 A. Merkel, Über den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Strafrechts und der Gesamtentwicklung der öffentlichen Zustände und des geistigen Lebens der Völker, Straßburg 1889, S. 5, 23, 28. 34 Merkel in ebd.: „Mehr und mehr richtet sich die Forschung auf die das Verbrechen begünstigenden allgemeinen Zustände und auf das Verhältnis, in welchem Staat und Gesellschaft mit ihrer Wirksamkeit dazu stehen.“ (S. 24) „... daher hinter den Delinquenten, welche wir verfolgen, die Gesellschaft selbst als irgendwie beteiligt auf der Anklagebank erscheint.“ (S. 26) Im Sinne des RechtsLiberalismus: Die Entwicklung des Strafrechts solle der Erkenntnis der menschlichen Interessen in der Gesellschaft, nicht dem Bezug auf eine jenseitige Welt dienen, und das erfordere „eine innigere Verknüpfung derselben mit der Gesamtheit aller anderen sozialen Aufgaben.“ (S. 28) 35 Louis Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Abt. 3,1: Die Strafgesetzgebung in Deutschland seit der Mitte des 18. Jh. bis zur Gegenwart, Erlangen 1895, Neudruck Aalen 1990.

4. EINFLÜSSE

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aufnahm. Die aus der englischen Tradition kommende psychologische, auf die Individuen in je besonderer Situation sehende Rechtsauffassung bestimmte seine frühen Strafrechtsschriften. Der Blick war auf die unter den sachlichen Verhältnissen handelnden einzelnen Individuen gerichtet. Das stand in liberaler Tradition, hielt aber zunächst weitergreifende sozialtheoretische Bezüge fern. Sicher wirkte der englische Einfluss damals überhaupt gegen sozialreformerische Bestrebungen.36 Der junge Baumgarten folgte vor allem Autoren, die die Bestrafung einer Rechtsverletzung aus dem unsittlichen Willen ableiteten, mit dem sich der Einzelne auf fehlgeleitete Weise einen Vorteil zu verschaffen suche. Das führte ihn früh von Bindings streng satzungsformaler Auffassung des Vergeltungsprinzips weg, aber nicht sogleich zu rechtssoziologischen Ergänzungen seines philosophischen Schuldbegriffes hin. Ernst Beling, dem der frühe Baumgarten in vielem folgte, hatte ebenfalls um der Anwendungssicherheit des Rechts willen sozialtheoretische Aspekte vom Straftatsystem abgewiesen. Baumgartens rechtspsychologischer Gedanke des Wechselleids von Delikt und Strafe war sicher von dem vielseitigen Berliner Strafrechtler Josef Kohler beeinflusst. Wie dieser sah Baumgarten in der Strafe eine läuternde Wirkung des Schmerzes, der dem durch die Tat dem Opfer zugefügten Schmerz folgen solle. Kohler verband das sogar mit Weiterungen zur Läuterung der Menschheit durch die Schmerzerfahrungen, die das Strafrecht vermittele. Das hatte dem begriffsjuristischen Positivismus fern gelegen, der Rechtsgründe und Rechtswirkungen von allen Vermischungen mit moralischen oder sozialen, allerdings auch mit religiösen und politischen Fragestellungen, freigehalten hatte. Baumgartens Auffassung des Verbrechens als eines zugefügten Leids, das durchs Gegenleid der Strafe beglichen werden solle, fand sich bei Kohler ausgesprochen.37 Kohler betonte, der Fortschritt des Strafrechts bestehe nicht primär in äußeren Aspekten (Abschaffung der Folter, Ausschaltung der Richterwillkür usf.), sondern in der innerlichen Vertiefung des Denkens weg von racheartiger Vergeltung zur verfeinerten Empfindung der Gerechtigkeit. „Man kann das Verbrechen nur begreifen, wenn man das Seelenleben mit seinen Zusammenhängen erforscht hat. ... Das psychologische Studium ist für das Strafrecht eine Hilfswissenschaft allerersten Ranges, sie legt den habitus der Seele klar und seine oft verwickelten Gestaltungen.“38 Kohler hatte Baumgarten sicherlich auch bei den Vorbehalten gegen die Besserungstheorie beeinflusst, von der Kohler gesagt hatte, dass die Besserung nie mehr als eine 36 In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s besaß der englische Einfluss im deutschen Verfassungs- und Verwaltungsrecht, anders als dann in G. Radbruchs Schrift, noch antidemokratische, gegen französischen Republikanismus gerichtete Bedeutung. Zusammenfassend so der nationalliberale R. v. Gneist nach seinem Englischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht (1857 – 63) in der rechtshistorischen Schrift Der Rechtsstaat, 1872, bes. Kap. III: Der Rechtsstaat in England. Vgl. E. Hahn, R. v. Gneist 1816 – 1895. Ein politischer Jurist in der Bismarckzeit, Frankfurt/M. 1995. 37 „... die Strafe nimmt daher folgenden Charakter an: sie ist ein Übel, welches die Bestimmung hat, den aus seinem Kreis hervorgetretenen Täter durch ein Leid in seinen Kreis zurückzutreiben, die Hoheit und Würde der Rechtsordnung wiederherzustellen und das sittliche Gefühl der Gesamtheit zu läutern.“ (Kohler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie (1908), Berlin u. Leipzig ²1917, S. 327) 38 Ebd., S. 329.

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Begleiterscheinung der Strafe sein könne. Deren Hauptfehler sei, dass sie die Willensfreiheit verneine. Baumgarten hat dann seit dem Strafrechtskapitel seiner Rechtsphilosophie (1929) wiederholt die Vereinbarkeit der rechtssoziologischen Auffassung der Kriminalität und des Besserungsgehalts der Strafe mit der Willensfreiheit dargestellt.39 Der vermeintliche Ausschluß der Willensfreiheit bei sozialer Interpretation des Verbrechens hatte Baumgarten bestimmt, die Vergeltungstheorie gegenüber den neueren rechtssoziologischen Aspekten des Strafrechts festzuhalten. Die psychologische Auffassung von Handlungen sollte direkt zu den Lebenswegen der einzelnen, selbstverantwortlichen Delinquenten führen und dann erst Handlungen auch im Kreis von Milieus sehen lassen. Der Dogmatismus der Willensfreiheit ergab sich bei Baumgarten aus dem abstrakten Begriff der Einzelperson, so dass die Umstände auf dem Gegenpol ebenso abstrakt als comtistische Verkettung sozialer Faktoren erschienen. Unter den Strafrechtlern, die ihn beeinflusst hätten, hob Baumgarten in seiner Autobiographie Hold v. Ferneck hervor. An v. Fernecks Betonung des Schuldbegriffs sah er eine philosophische Wendung „zurück zur Strafrechtstheorie“.40 Allerdings wandte sich v. Ferneck gerade darum gegen die psychologische Schuldinterpretation. Doch stimmte Baumgarten offenbar v. Fernecks moralphilosophischer Grundlegung zu, um die Thematik vom Primat der Ordnungsverletzung und der Schutzaspekte für Eigentum abzulösen. Ferneck sagte, bei Straftaten handele sich im Kern um moralische Verfehlungen. Kriminalität sei bereits im moralischen Sinne eine Art normwidrigen Verhaltens. Er verband damit die empiristisch-konventionalistische These, dass eine einheitliche psychologische Begründung der verschiedenen Delikte (Begehung, Absicht, Fahrlässigkeit) unmöglich sei. Die rechtliche Schuld zeige allein in der zusammenziehenden Auffassung des Gesetzgebers eine Beziehung der Psyche des Täters zum Erfolg. Ferneck betonte konsequent die menschliche Voraussehbarkeit eines normwidrigen Verhaltens als Basis einer vereinheitlichenden Schuldtheorie. Er stellte den moralischen Gesichtspunkt über die Psychologie der Vergeltung. Auf der anderen Seite begrenzte v. Ferneck die soziologischen Aspekte der strafbaren Handlung durch die Voraussehbarkeit der Normwidrigkeit, die jedem Täter zumindest als eine Empfindung einwohne.41 Baumgarten hatte auch in späteren strafrechtlichen Arbeiten moralische Aspekte der kriminellen Handlung hervorgehoben. Er kam dann zur vertieften Fassung der Vergeltungstheorie, die Vergeltung sei „die Behandlung des andern nach einer Norm, die man auf sich selbst 39 Kohler urteilte zunächst furios über die Besserungstheorie. Mit der Betonung sozialer Ursachen der Kriminalität mache man den Verbrecher zu einem Popanz, fast einer Ausgeburt von dessen Umgebung. Immerhin würden krankhafte soziale Erscheinungen von Kriminalität gleichsam angezeigt. (Ebd., S. 332) In seiner Schrift Recht und Persönlichkeit hatte dann auch Kohler das Erfordernis betont, die gesellschaftlichen Zustände zu bessern. 40 Recht II, 377. 41 „Haben wir vordem den Erfolg die Brücke von der Tat zur Strafe genannt, so müssen wir jetzt sagen: Handlung oder Erfolg bilden die Brücke vom Täter zur Norm. ... Die generelle Voraussehbarkeit ist demnach in letzter Linie auf die Norm zu beziehen: Der Täter erkennt das schuldhafte Verhalten in aller Regel als ein normwidriges.“ (Alexander Freiherr Hold v. Ferneck, Die Idee der Schuld, Leipzig 1911, S. 95)

5. DIE LEHRE VON DER IDEALKONKURRENZ UND GESETZESKONKURRENZ (1909)

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anzuwenden bereit ist. Der Standpunkt des Egoismus wird hier gegen einen universelleren vertauscht“.42 Die Auffassung der Moralität von möglichen und erforderlichen Prozessen der Universalisierung des Selbstverständnisses des Einzelnen her bildet nicht nur fürs Rechtsverhältnis von Schuld und Strafe den produktiven Ansatz, der die Betonung sozialer Kausalität der individuellen Moral ergänzt.

5. Die Lehre von der Idealkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz (1909) Die Dissertation des 25-jährigen Baumgarten beantwortete die Frage nach Mehrheit oder Einheit der strafbaren Handlung bei strafrechtlich mehrfachem Delikt mit einer psychologischen Willenstheorie der Gesetzesverletzung: Die Einheit des Verbrechens ergebe sich aus der Einheit des formalen Elements der Schuld. Dieses formale Element (im Unterschied zu den material verschiedenen qualitativen Handlungen) sei der schuldhafte Wille, bezogen aufs bestehende Gesetz. „Es ist nicht möglich, daß jemand zwei selbstständige schuldhafte Entschlüsse in einer Tätigkeit zur Ausführung bringe, denn der zweite Entschluß findet die innere Bestimmung zur Widersetzlichkeit gegen den übergeordneten Willen des Sittengebots, das in der hier auftretenden Form jedenfalls heteronom ist, bereits vor. ... Wollte man daher zu einer mehrfachen Schuld kommen, so müßte man in dem Festhalten an dem ersten Entschluß eine neue Schuld sehen, was zu der absurden Konsequenz führen würde, daß bei jeder strafbaren Handlung unbestimmt vielfache Schuld vorliegen könnte.“43 Der Autor lässt das wie für die vorsätzlichen Delikte (mit deren Unterform des dolus eventualis), so für die Fahrlässigkeit gelten, da in der strafrechtlichen Beurteilung die Verletzung eines generellen Willens vorausgesetzt werde, nichts zu tun, was der sozialen Lebensordnung widersprechen möchte. Für die Konkurrenz mehrerer Gesetze gilt ihm die analoge Lösung. Es ist, als wollte der junge Strafrechtler mit der genetischen sensualistischen Begründung der Straftat aus der moralischen Entscheidung zwischen gut und böse sagen: Wenn wir den Sünder schon strafen müssen, warum ihm zum Überfluss noch mehrfache Delikte und verschiedene Paragraphen aufladen? Trägt er nicht schon schwer genug an einer Schande? Baumgarten wiederholte oft, die Strafe sei der schwerste Eingriff in die Freiheitsrechte jedes Menschen. Mehr als das formelle Resultat dieser strafrechtlichen Arbeit ist dessen Begründung interessant. Der junge Baumgarten vertrat die Vergeltungstheorie und war sich der eigentümlichen Situation bewusst, eine für konservativ geltende Position zu halten, um den Delinquenten – als Spezialfall des freien Bürgers – vor pauschalem Zugriff des Staates zu bewahren. Er zitierte ein zustimmendes Urteil (Büttner) zu seiner Autorität Adolf Merkel, der das Verdienst besitze, „neuerlich gegenüber den Reformpolitikern unsere bisherigen Institutionen in ihrer wesentlichen Grundlage der Vergeltung mit Erfolg verteidigt zu haben“.44 Die Proportion zwischen Schuld und Strafe bildete einen Leit42 Rechtsphilosophie, S. 84. 43 Idealkonkurrenz, S. 52. 44 Ebd., S. 34. Der junge Tübinger Referendar verstand sich hin und wieder auf naive Bekundungen für die Amtsträger der Staatsgewalt: Delikte gegen den Staat charakterisierten sich durch den

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gedanken der Erstlingsschrift des jungen Kriminalisten. Der Äquivalenzgedanke war nicht als die vom Paragraphen gesetzte Quantität zwischen Tat und Strafmaß gedacht. („Was kostet ein Einbruch, was ein dabei mitgehender Totschlag?“) Es handele sich ja bei der schuldhaften Handlung des Täters, der Beeinträchtigung des Opfers und schließlich der Strafe ohnehin um qualitativ verschiedene Akte. Vom Prinzip der Proportionalität zwischen Strafe und Schuld her sprach sich Baumgarten dagegen aus, die Strafe allein aus der formellen Beziehung der Handlung aufs allgemeine Gesetz zu deduzieren, das den besonderen Fall niemals vollständig erfasse. Mit einer Schrift gegen die Theorie der Schutzstrafe ging Baumgarten auf eine rechtslogische Kardinalfrage zu und gab den Rechtsphilosophen am Strafrechtler zu erkennen. Es war die Abhandlung Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung, die 1911 in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht erschien: Man müßte der modernen Theorie der Schutzstrafe ohne weiteres beitreten, „wenn nicht die Auffindung einer völlig rationellen Strafe ein Ding der Unmöglichkeit wäre“.45 Also die Grundfrage des Rechts überhaupt: Was leistet, was ist das rechtliche Sollen überhaupt gegenüber dem empirisch-faktischen Verhalten? Die Crux eines idealen Seins, das nur Sollen ist, besteht nicht nur in dem auf der Hand liegenden Umstand, dass es verletzt werden kann und konstant mit Vorsatz und Lust verletzt wird. Das möchte die Integrität einer autoritativen Setzung, wie sie das Recht darstellt, noch nicht antasten. Es wäre der von der erwartbaren Determination abweichende Zufall. Nein, das Gesetz selbst lässt sich nur tendenziell realisieren. Es kann sich den Fall nie ganz unterordnen. Die gesetzte ideelle Einheit kann nur den Typus beschreiben, nicht die empirisch gegebenen unendlichen Variationen. Die Freirechtsbewegung hatte bei generellem antiautoritärem Akzent mit dieser rechtslogischen Thematik ihre antipositivistische Position begründet

6. Recht und Moral in Baumgartens Vergeltungstheorie. Die sensualistische Tradition Baumgarten gelangte von seiner sensualistischen Anthropologie her zur Begründung der individuellen Freiheit und zur Begrenzung staatlicher Ordnungsansprüche. Aus der Konzentration auf die Täter-Opfer-Beziehung ergab sich seine Auffassung, der Ausgleich des von der Tat zugefügten Leids durch das Gegenleid der Strafe stelle das wesentliche Element des Strafrechts dar. Baumgarten sprach damit eine materiale Strafrechtsauffassung aus. Sie gehörte eigentlich zur antiliberalen Rechtslehre, die spezifische inhaltliche weltanschauliche und politische Rechtsbegründungen gegen die normaideellen Gesetzesbezug, nicht durch die angegriffene Person. Etwa bei gewaltsamem Widerstand gegen einen Polizisten „wird die Gesellschaft gut tun, ... besonders streng zu bestrafen, damit das Gute, welches die staatliche Vollziehungstätigkeit schafft, ungehindert vor sich gehen könne und der Staat Leute finde, die im Vertrauen auf seinen Schutz seine Befehle auszuführen geneigt sind.“ (S. 72) 45 A. Baumgarten, Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung, Nachdr. in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, S. 20.

6. RECHT UND MORAL IN BAUMGARTENS VERGELTUNGSTHEORIE

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tive Gesetzesinterpretation rückte.46 Baumgarten gelangte zu seiner These jedoch von der prononciert liberalen Position aus, die Freiheit des einzelnen Bürgers gegen die Auffassungen der Gesellschaft als einer organischen Ganzheit mit dem omnipotenten Staat als Repräsentanten zu verteidigen. C. Schmitt sprach in einer „Staatsethik“ nicht nur von über die Nonresistance hinausgehenden Pflichten gegenüber dem Staat. Er erhob den Staat zum „autonomen ethischen Subjekt“.47 Wie lässt sich rechtsstaatlicher Liberalismus begründen, wenn über die einfachen pragmatischen Gründe hinausgegangen werden soll, die schnell an alltäglichen Utilitarismus streifen? Letztlich wird man auf eine sensualistische Anthropologie des Glücksverlangens zurückgehen müssen, wie es Baumgarten getan hatte. Das ist psychologisch gut auszuführen und Baumgarten hatte sich, wie im Philosophiekapitel zu zeigen ist, für seinen Empirismus konsequent auf die Psychologie seiner Zeit berufen. Vom individuellen Eudämonismus her entwickelte Baumgarten einen eudämonistischen Altruismus und gelangte so zu seinen konkreten ordnungsrechtlichen Thesen. Die Beziehung Straftat-Leidzufügung/StrafeGegenleid begründete das Strafrecht auf einem wiederherzustellenden moralischen Äquivalenzverhältnis, das in der Rechtsform erscheine. Tatsächlich leiteten Baumgartens vergeltungstheoretisches Strafrecht sehr bestimmte philosophische Überzeugungen, die über das zwiefache direkte Aufeinandertreffen von Täter und Opfer – bei der Tat und vorm Richter – hinausgingen. Vom archaischen Vergeltungsverständnis, den Übeltäter durch eine Verletzung zu schädigen, nicht mehr körperlich, sondern durch Geldbuße oder Freiheitsentzug, und so dem Opfer doch eine Genugtuung im alten Sinne zu verschaffen, war der auf den konkreten zwischenmenschlichen Bezug gerichtete Gedanke ganz entfernt. Im Zentrum stand die Auslösung des Sühnebewusstseins durch die Strafe. Baumgarten dachte als sensualistischer Aufklärer. Die als Gesetzwidrigkeit in Erscheinung tretende Handlung bildete für den Handelnden eine fehlgeleitete, fast wider besseres Wissen unternommene Aktivität. Das war, in intellektualistischer Fassung, Sokrates’ Bekenntnis gewesen: Niemand tut freiwillig Unrecht. Es fehlt am Wissen des richtigen Tuns. Baumgarten ging aber auf die grundsätzliche sensualistische Position zurück, dass Lust- oder Unlustempfindung die Bewertungen von gut oder schlecht bestimmten.48 Sein Strafrecht war von der sensualistischen Theorie des moral sense bestimmt. Der Mensch besitze bestimmte ursprüngliche sozialisierende und insofern „moralische“ Anlagen, ebenso wie er über Sinnesempfindungen und Wahrnehmungen als Erkenntnisorgane verfüge. Das war die Lehre der Sensualisten wie Locke, Smith und Fergusons gewesen, ebenso des platonisierenden Sensualisten Shaftesbury und dessen Systematisators F. Hutcheson (1694 – 1747). Locke und Ferguson hatten ihren ganzen sozialen Evolutionismus auf anthropologischen Konstanten errichtet. Die Basis-Relation bildeten Luststreben und Leidvermeidung. Lust war als Glücksstreben im allgemeinen Sinne von durch Tatkraft materiell, intellektuell und moralisch gestei46 Vgl. Marxen, a. a. O., S. 71ff: „Recht und Wert“ im konservativen Rechtsverständnis; K. Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962. 47 C. Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Kantstudien 35 (1930), S. 41. 48 J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Buch II, Kap. XX, § 2: „Demnach sind die Dinge nur in Beziehung auf Freude und Schmerz gut oder übel.“ (Berlin 1962, Bd. 2, S. 271)

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gerter Persönlichkeit verstanden worden. Nach Hutcheson enthielt der moral sense ein ursprüngliches Wohlwollen (benevolence), und darum vermöchten Sein und Sollen, Natur und Norm einander parallel zu wirken. Unter dieser Voraussetzung stand Baumgartens Moralisierung des Strafrechts. Rechtssätze sind dann spezifizierende positive Ordnungsgebote, die das moralische Verhalten in Details erweitern. Dem Täter zugefügtes Leid bewusst zu machen, könne nur dann bessernd und generell kriminalitätsmindernd wirken, wenn das Strafverfahren einen ursprünglichen moralischen Sinn im Menschen aktivieren könne. Die elementare Voraussetzung des Sensualismus lag zu Grunde, dass der gesunde Mensch verabscheue, was Leiden verursache. Darum die elementare Darstellung des Verbrechens nicht als Ordnungsverletzung, sondern als Leidzufügung. Der Täter müsse durch die Leiderfahrung der Strafe geradezu psychologisch notwendig den Abscheu vor seiner Tat verinnerlichen. Das biete überdies ganz andere kriminalitätsverhindernde Möglichkeiten als der Zusammenstoß mit der Macht der Ordnung oder mit der Unantastbarkeit fremden Eigentums. Die sensualistisch-liberale Moralphilosophie, auf die Baumgarten bei seiner Strafrechtslehre zurückging, näherte Moral und Recht einander an. Beide Ordnungen stellten Übereinkommen dar und enthielten Regeln oder Gesetze: die moralische die natürlichen oder stillschweigenden, die juridische die positiv vereinbarten und erzwingbaren. Das war nicht Kants Gegenüberstellung von innerer Moralität und äußerlichem Recht. Locke sagte, alle konstanten Wunsch- oder Vermeidungsziele setzten Gesetze als Regeln. Das Recht besitze durch den Staat eine direktere Sanktionskraft. Doch die moralische Hochschätzung oder Missbilligung erzwinge ebensowohl, wenn auch über längere Frist, durch die Öffentlichkeit die Anerkennung bestimmter Regeln. Das bildete den Kern der sensualistischen Verschwisterung von Moral und Recht. Die hohe Kraft der öffentlichen Meinung sollte als Ordnungsfaktor freier Bürger betont werden. Im Hintergrund stand die Forderung der freien Meinungsäußerung. Mit der elementaren moralischen Ebene des Strafrechts wurde die ordnungspolitische Kraft der Zivilgesellschaft betont. Baumgartens Schuld- und Vergeltungsstrafrecht befand sich ganz in diesem sensualistischen Gedankengang. Es bezog das liberale Prinzip der freien Öffentlichkeit in die Wirkungsbedingungen des Strafrechts ein. Verletztes Gesetz und Strafmaß seien das eine, die Verletzung des Opfers und der Heraustritt des Täters aus dem moralischen Gesetz das andere und entscheidende. Locke hatte im Zusammenhang mit seiner Dreiteilung aller Gesetze als göttlicher, bürgerlich-staatlicher und moralischer auch den Zwangscharakter von Recht und Moral einander angenähert. Es sind für ihn verschiedene, aber durchaus analoge Regelbefolgungen, bzw. Regelverletzungen.49 Der Täter müsse im Strafprozess erkennen, welches Leid er mit seinem egoistischen Glücksbestreben verursacht habe. Es werde ihn auf dem bitteren Weg eigenen Strafleids zur Auflösung von verführerischen Idolen und zur Selbsterkenntnis führen. Der Strafzweck 49 „Unter zehntausend ist nicht einer so unbeugsam und so unempfindlich, als dass er die fortgesetzte Missbilligung und Geringschätzung von seiten seiner eigenen Gesellschaft ertragen könnte.“ (Ebd., Buch II, Kap. XXVIII, § 12, a. a. O., S. 448) Lockes Dreiteilung der Gesetze sozialen Verhaltens ist ganz als imperativische Normtheorie, nicht als Gliederung sozialer Struktur- oder Bewegungsgesetze gemeint. (Vgl. ebd., § 7ff)

6. RECHT UND MORAL IN BAUMGARTENS VERGELTUNGSTHEORIE

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ist die Vertreibung falscher Ideen und durch Selbstaufklärung die Besserung des Willens. Alte europäische Glaubens- und Ideenmuster führten in der aufklärerischen sensualistischen Moral- und Rechtsphilosophie die Strafrechtswissenschaft des frühen Baumgarten. Merkwürdig genug, interessierte der Strafvollzug den jungen Akademiker kaum. Das entsprach sicher auch der Tendenz in der Rechtswissenschaft der Zeit nach der Strafrechtsreform, in der auch die Spruchtätigkeit der Juristenfakultäten endete, dass sich materielles Strafrecht und Prozessrecht voneinander ablösten. Baumgarten war in seinen ersten Arbeiten auch diesem Resultat der Spezialisierungen in der Rechtswissenschaft gefolgt. Er hatte allerdings in seiner ersten Baseler Zeit (1923 – 1930) nebenamtlich als Straf- und Appellationsrichter gewirkt.50 Unterm rechtsmethodischen Bezug bildete Baumgartens psychologisch und ethisch begründetes Strafrecht eine Vermittlung der Rechtsnorm mit dem Gedanken der Billigkeit. Die grundsätzliche Rechtsherrschaft über das Individuelle wird mit dem individuellen Rechtsempfinden vermittelt. Die Rücksicht auf das rechtliche Volksempfinden tritt hinzu, das v. Ihering das „moralische Volksprinzip“ beim Recht genannt und als „ein von innen gesehenes“ Recht bezeichnet hatte. Die Freirechtsbewegung hatte mit Bezug auf die verfahrensrechtliche Funktion des Richters daran angeschlossen. Baumgartens frühe Strafrechtslehre stand in diesen Zusammenhängen. Sie sollte am Recht ein vertrauensvolles Moment menschlicher Begegnung in einer Krisensituation aktivieren. Das über die psychologische und die moralische Ebene eingeführte materiale Element richtete sich gegen die formale Konsequenz des bloßen Bezugs der Straftat aufs verletzte Gesetz. Es orientierte das Formale des Gesetzes auf die Gerechtigkeit, eine Relation der Billigkeit, die in jedem konkreten Fall neu auszumessen bleibe. Die Idee der Gerechtigkeit verband hier Rechtsregel und Einzelfall. In der Dissertation und wieder in seiner Systematik des Verbrechensbegriffs im Aufbau der Verbrechenslehre (1913) verwies Baumgarten auf das alte Volksempfinden für Gerechtigkeit als eines Ausgleichs und Schutzes, das den juristischen Vergeltungsbegriff moralisch trage. Tatsächlich richtete sich der Gedanke primär auf die moralische Basis der Beziehung zwischen zwei Individuen. Er ging zu diesem subjektiven Bezugsraum zurück, in den zwei oder mehrere Personen durch die willentliche Tat der Rechtsgutverletzung, also auch der körperlichen Verletzung eines Menschen, geraten. Hier bilde sich das eigentümliche menschliche Verhältnis von Täter und Opfer aus. Von den moralischen Aspekten des Verbrechens- und des Schuldbegriffs her erst erschließe sich dieses Verhältnis nächster Nähe innerhalb der weitesten Distanz der Paragraphen des Strafgesetzbuches. Baumgarten betonte diese elementare Zelle der strafrechtlich objektivierten Beziehung zwischen Menschen im Zusammenhang seiner sensualistischen Grundorientierung. Seine subjektive Verbrechenstheorie setzte noch vor der körperlichen Handlung des Täters bei dessen Willen an, so dass das Strafrecht wohl über eine Gesetzesverletzung auf Grundlage sachlicher Handlungen und Resultate befinde, diese aber aus einem Willensentschluss hervorgingen.

50 Vgl. zur Trennung von systematischer Straftattheorie und Justizpraxis K. Marxen, Straftatsystem und Strafprozeß, Berlin 1984, S. 82f.

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Der große Unterschied, auf den es Baumgarten innerhalb der Vergeltungstheorie ankam, bestand darin, ob primär die Verletzung des Opfers vergolten werde oder ob der Staat die Verletzung seiner Gesetzesmacht vergelte. Bindings Vergeltungsgedanke war auf die Schuld infolge einer Verletzung der staatlichen Ordnung gerichtet gewesen. Der Bezug des Täters auf die Rechtsordnung, nicht auf das Opfer einer Straftat, stand im Mittelpunkt. „Die Strafe ist also das geltend gemachte Recht auf Befolgung der staatlichen Normen behufs notwendiger Bewährung der Autorität der verletzten Gesetze.“ „Es gibt keinen Strafzweck, der jenseits der Exekution läge.“51 Baumgarten folgte Binding in der Betonung des Willens als des entscheidenden Schuldmerkmals. Aber statt der Beziehung der Schuld auf die Normverletzung fasste Baumgarten die Schuld als Leidzufügung. Binding bezog die Schuld auf die Normverletzung, weil er dem damals aufkommenden Präventionsgedanken entgegentreten wollte, an dem er eine Tendenz zur Auflösung der festen Verbindung von Schuld und Strafe sah. Hier sah Baumgarten zutreffend den Zug zur Stabilisierung der Rechtsbürokratie. Schuld, sagte Binding, sei immer Normverletzung gewesen. Auch der moralische Norm- und Schuldgedanke sei ursprünglich den Rechtsbegriffen nachgebildet worden. Die Betonung des Willensmoments und der Einheit von Willen und Handlung in der normverletzenden Tat diente bei Binding der Festigung des Strafbegriffes. Ganz anders Baumgarten, der mit dem Willensbezug den konkreten Menschen in der tragischen Situation der Verletzung eines Anderen in den Blick rücken wollte.52 Außerdem geriet bei der Konzentration auf die Normverletzung das Opfer ganz außer Blick. Baumgartens lange Zeit anhaltende Ablehnung der v. Lisztschen Spezialprävention53 war zweifellos vom Einfluss der Bindingschen Schuld- und Willenslehre verursacht. Baumgarten benutzte die Themen jedoch für entgegengesetzte Schlussfolgerungen. Sein Ziel war nicht die Erhärtung der Strafdogmatik, sondern die Konzentration auf die liberalen Aspekte der Strafpsychologie. Baumgarten sagte mit Merkel, bereits aus der organismisch bedingten Abwehr und Gegenwirkung bei Verletzungen der Person ergebe sich ein „Gesetz der notwendigen Verknüpfung zwischen Übeltun und Übelleiden“.54 Das Verdienst der auf die Unverletzbarkeit der staatlichen Rechtsordnung konzentrierten Vergeltungstheorie hatte darin bestanden, überhaupt erst einmal eine durchgehende Gesetzgebung des „peinlichen Rechts“ auf der Basis des Tatbestandsbegriffs geschaffen zu haben, gegen ständische 51 K. Binding, Grundriss des Gemeinen Deutschen Strafrechts, Leipzig 51897, S. 172. „Zweck der Strafe kann also nicht sein, den Rebellen gegen die Rechtsordnung in einen guten Bürger zu verwandeln. ... Es kann vielmehr nur darum gehen, von dem Delinquenten Genugtuung zu erhalten für den unaufhebbaren Schaden, den er der Rechtsordnung zugefügt hat. ... Somit ist die Strafe nicht Heilung, sondern Zwang gegen den Schuldigen, zwangsweise Unterwerfung des Verbrechers unter die Rechtherrlichkeit, Rechtsmachtbewährung“. (S. 167) 52 Vgl. zu Binding: Stephan Stübinger, Schuld, Strafrecht und Geschichte. Die Entstehung der Schuldzurechnung in der deutschen Strafrechtshistorie, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 260ff. Damit wendet sich Binding „gegen eine ‚Verflüchtigung der Schuld‘ durch ihre Reduzierung auf eine ‚psychische Beziehung zu einem objektiv rechtswidrigen Erfolge‘ “. (S. 266) 53 Seine Vorbehalte zusammengefasst in: Recht II, § 28. 54 Verbrechenslehre, S. 37.

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Privilegien, denen ständische Diskriminierungen entsprachen. Die entstandene Begriffsjurisprudenz des Reichsstrafgesetzbuches (1871) überging die sozialen Ursachen der Kriminalität. Die bereits vorm Ersten Weltkrieg eingeführte Aussetzung geringer Freiheitsstrafen zur Bewährung geschah als praktische justiztechnische Maßnahme, weniger als der Strafrechtswissenschaft folgende Änderung des auf den Staat orientierten Strafrechts.55 Unterm Einfluss der Schopenhauerschen romantischen Willensbestimmung des Handlungs- und Lebensverständnisses emotionalisierte sich im letzten Drittel des 19. Jh.s das Rechtsverständnis des deutschen Bürgertums, ebenso wie das der Arbeiterschaft, hier freilich mit ganz anderer Aufbruchsstimmung.56 Beim Bürger geschah es auf eigene, vaterländisch pathetische Weise. R. v. Ihering hatte das Rechtsgefühl des selbstbewußten Mannes, geradezu eine „pathologische Affektion des Rechtsgefühls“ als Ausdruck der „moralischen Lebensbedingungen der Person“ in seinem Kampf ums Recht (1872) beschworen.57 Iherings Polemik gegen den romantischen Wachstumsgedanken in Bezug aufs Recht erfolgte über einen emotionalen, in vielen Passagen schon appellhaften Aktivismus. Ganz auffällig gewann das Rechtsgefühl mit seiner hohen Wertschätzung Kampfcharakter. Die verschiedenen Stände werden genannt – Offizier, Bauer, Bürger – und die Ehre, Besitzdenken, Freiheit der Person als Inhalte des Rechtsgefühls gepriesen. Auch ein Volk, das seine Ehre wahre, werde nicht den Verlust einiger Meter Landes hinnehmen. Von solcher patriotisch-kämpferischer Apotheose des Gefühls im Recht war Baumgartens Begründung des Strafrechts mit dem sozialen Sensualismus weit entfernt. Bei v. Iherings Emotionalisierung des Rechtsbegriffs bildete die methodisch unscharfe Vermischung von personalem und volkhaftem Gefühl, „sein Recht“ zu behaupten, das eigentlich bedenkliche Element; ganz abgesehen davon, dass ein „RechtsGefühl“ einen schwierigen Punkt bildet, da es doch eigentlich einen moralischen Impuls darstellt. Die Strafrechtsdisziplin war immer besonders eng mit der Philosophie verbunden gewesen, weit über die Rechtsphilosophie im Besonderen hinaus.58 Baumgarten meinte, die Strafrechtswissenschaft erhebe sich mit ihrer Theorie vom Sinn der Strafe philosophisch über das Niveau der anderen Rechtsdisziplinen. Das bedeute ebenso umgekehrt: „Daher kann die Strafrechtswissenschaft als ein Organ der Philosophie betrachtet 55 Vgl. U. Wesel, Geschichte des Rechts, München 22001, S. 461, 469f. 56 Vgl. N. Hoerster, Aktuelles in Schopenhauers Philosophie der Strafe, ARSP 58 (1972), S. 555ff; H. Münkler, Das Dilemma des deutschen Bürgertums. Recht, Staat und Eigentum in der Philosophie Arthur Schopenhauers, ARSP, LXVII, 1981, H. 4, S. 379-396. 57 R. v. Ihering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872, Photomechanischer Nachdruck, Freiburg, Berlin 1992, S. 38. 58 Vgl. G. Küpper, Richtiges Strafen. Fragestellungen zwischen Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 53-82, und die da angegebene Literatur. Außerdem O. Höffe, Proto-Strafrecht: Programm und Anfragen eines Philosophen, in: Eser, Hassemer, Burkhardt (Hg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, München 2000, S. 307-337; Neumann, Moralphilosophie und Strafrechtsdogmatik, ARSP, Beiheft 44 (1991), S. 248-259.

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werden.“59 Er bezog die Verbindung vor allem aufs Problem der Willensfreiheit. Aber bereits die Tatsache eines so schweren Eingriffs der Gesellschaft in das Leben eines Individuums, wie ihn die Rechtsstrafe darstelle, führe mit der Veränderung meines Bildes in der Gesellschaft, das ich recht wesentlich bin, auf die Philosophie. Baumgartens Gedankengang verlief anders als derjenige v. Iherings: Das Rechte und das Unrechte bildeten Spezifikationen des Guten und des Schlechten. Der Gegensatz werde zunächst nur als eine Folge relativer Abstufungen und mehr gefühlsmäßig als rational wahrgenommen. Der Mensch, zugleich Individuum und Teil der Gesellschaft, präge sowohl eine mehr individuell als auch eine mehr sozial gerichtete Gewissenshaltung aus. Die Stimme des sozialen Gewissens müsse man befragen, „wenn man die Schwere der rechtlichen Schuld einer Handlung ermessen will“. Das wird alles sensualistisch immanent und ohne theologische Bezüge gesagt.60 Die Vergeltungstheorie besitze den Vorzug, „daß sie uns auf ein tief eingewurzeltes Gerechtigkeitsgefühl und nicht auf die Zweckerwägungen eines einzelnen verweist“. „Dadurch behaupten meines Erachtens die ethischen Anschauungen ein Übergewicht über die Zweckerwägungen des Verstandes, ... dass sie ein Resultat bieten, zu dessen Erzielung der Verstand alle seine Kräfte vergebens aufwendet. Wenn wir ausrechnen wollen, welches die für die Gesellschaft zweckmäßigste Strafe ist, so müssen wir den Einzelnen dabei als eine Ziffer einsetzen.“61 Dieser Konflikt zwischen dem Interesse der Gesellschaft und dem Selbstgefühl des Einzelnen bilde das grundsätzliche philosophische Problem des Strafrechts. Baumgarten wird später wiederholt auf die mitgehende Irrationalität des Strafrechts zurückkommen, wenn mit ihm versucht werde, dem Individuum adäquate soziale Konsequenzen des Strafurteils festzulegen.62 Der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft, sagte Baumgarten mit auffallender Betonung der gefühlshaften Repräsentation des Sozialen, der Konflikt „löst sich nicht verstandesmäßig, da inkommensurable Größen dabei in Betracht kommen, er ist aber gelöst in dem Gefühl des Einzelnen, dass ein der Verschuldung entsprechendes Übelleiden und Übelzufügen dem Recht der Persönlichkeit und der Achtung vor derselben nicht widerstreben.“63

59 Liberalismus, S. 10. 60 Binding beschränkte den Begriff des Strafzwecks gegen v. Liszt: „Nicht unbedenklich erscheint für die richtige Auffassung des Strafzweckes, wenn man statt ihn exakt zu abstrahieren aus dem Zweck der einzelnen Strafvollstreckung ihn allgemeiner zu bestimmen sucht aus der erwünschten Folge des Strafvollzuges im Ganzen.“ (Binding, a. a. O., S. 173) 61 Liberalismus, S. 10. 62 W. Hassemer hat in verwandtem Zusammenhang von einer Antinomie der Strafziele und der Vollzugsziele gesprochen: W. Hassemer, Strafzumessung, Strafvollzug und die „Gesamte Strafrechtswissenschaft“, in: A. Kaufmann (Hg.), Die Strafvollzugsreform, 1971; hier zit. n. A. Büllesbach, Systemtheorie im Recht, in: A. Kaufmann u. a. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 72004, S. 440. 63 Verbrechenslehre, S. 48.

7. IRRATIONALITÄT DES VERBRECHENS UND RATIONALES STRAFRECHT

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7. Irrationalität des Verbrechens und rationales Strafrecht Sensualistische Verbindung moralischer und rechtlicher Gesichtspunkte Baumgartens Blick aufs Irrationalitätsmoment in der Strafrechtsthematik ergab sich aus dessen Überzeugung von einer normalen Empfindung des Menschen für die Unverletzlichkeit einer Person. Dann ist jedes rechtliche Vergehen zugleich auch ein moralisches und darum mehr als eine Ordnungsstörung. Es ist ein Sturz in Abgründe. Die Ungerechtigkeit, der Widerpart aller guten Erwartung und Vernunft, in der es dem Leben rettungslos graust, sie vollbringt in der Straftat ihr Exempel. Baumgarten sagte wohl, beim Verbrechen handele es sich um extreme, vielmals auch um irrationale Willensentschlüsse. Doch seine These vom fehlgeleiteten Glücksstreben, so richtig sie formell ist, wird der Besessenheit für die Tat, die das Vergehen oft anführt, wohl kaum gerecht. J. Kohlers Schrift Verbrechertypen in Shakespeares Dramen (1902) enthielt solche Musterstücke der Getriebenheit zu ungeheueren Handlungen unter der blendenden Strahlkraft selbst vollbrachter Taten. Die tiefere Sicht auf die Tragik der mit einem Male hereinbrechenden Ungeheuerlichkeit des Verbrechens und auf die letztlich immer unfertige Antwort der Strafe darauf, bildete ein Erbstück der antiken Rechtsauffassung. Die Untat lebt fort, sie ergreift ganze Gemeinwesen, bis endlich eine Sühnetat die Pein löst. Der psychologischen und sensualistischen Handlungstheorie sollte eigentlich das Element der leidenschaftlichen Entschlüsse nahe liegen. Aber bei Locke hatte die Lust bereits die heidnische Kraft verloren. Sie war nicht nur christlich milde gestimmt worden. Der europäische Besitzbürger legte nach der Renaissance-Epoche, in der das Handelskapital das Geschäft noch mit offen liegendem Mord, Seeräuberei und Brandstiftung verband, den Mantel des soliden Gründers und Buchhalters um.64 Der aufklärerische Sensualismus heftete die Lust ans Glück durch Fleiß, Sparsamkeit und Erfolg. Benjamin Franklins Autobiographie bot ein Lehrbuch solcher Maximen, die auch jedem nicht Bevorrechtigten Erfolg und Anerkennung brächten. Freude bereitete, das Seine innerhalb einer gesicherten Rechtsordnung zu betreiben. Der bürgerliche Gleichheitsgedanke schuf ein handlungs- und erfolgsgeleitetes Person-Verständnis. Das führte für dessen Realisierung auf eine Mentalität, in der man auf sich selbst mit den Augen des neutralen Beobachters sah, um nicht gleich zu sagen, mit dem Blick des Richters. Das Außerordentliche der Idee der natürlichen, interessehaften Individualität bestand darin, dass sie mit einem intersubjektiven Objektivitätshorizont verbunden war, der alle Handlungen vom Individuum her bedürfnishaft verstand und 64 Locke lenkte den Blick auf den in der glorious revolution zur Ruhe gekommenen Bürger. Das trug den Rechts-Liberalismus der Parallelisierung von Recht und Moral, und auf ihr nur konnte die klassische englische Ökonomie von Adam Smith errichtet werden, des Ethik-Professors in Edinburgh. Shaftesburys Sololoquy (1710), später als Locke, dem Geiste nach aber näher der Leidenschaft des Renaissance-Zeitalters, sprach noch das Abgründige der Sozialisierung Freier aus. Recht ist dann das Zweitgeborene, nämlich das aufs Unrecht Reagierende. Ein ideologiefreier Naturwissenschaftler wie Lichtenberg nahm das in der gesitteten deutschen Aufklärung und zu deren ironischer Spiegelung wieder auf, in seiner Satire auf die naturalistische Simplifizierung der Individualität in Lavaters Physiognomik: Über Physiognomik, 1801.

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zugleich mit dem Blick des neutralen Dritten auf sie sah. Die maßvolle Temperierung dieses Sensualismus ergab sich auch aus der Errungenschaft dieser menschlich immanenten Doppelung. Als solche Parallelisierung von Moralität und Recht vermochte die Theorie der autonomen Individualität ohne transzendente und ontologische Voraussetzungen das gleiche logisch disziplinierte und allgemeinorientierte Denken zu lehren wie die theonome Metaphysik. Im Bezug des Strafrechts auf die moralische Beziehung zwischen Individuen sprach sich neben Baumgartens sensualistischem Empirismus aus der angloamerikanischen philosophischen Orientierung ein zweiter Einfluss aus, dem sich kaum ein deutscher Philosoph der zweiten Hälfte des 19. Jh.s entziehen konnte. Schopenhauer hatte den aufklärerischen sensualistischen Intellektualismus umgebildet, um dessen deutscher nachkantischer Steigerung zur Methodik sich stufenweise selbsterkennender Geistformen entgegenzutreten. Er hatte diesen Intellektualismus umorientiert, indem er dem aufklärerischen Kritizismus einen pessimistischen Ton gab und das Sensus-Element als Willenstrieb, und zwar ganz elementarisch als Lebenswillen schlechthin fasste. Das war nicht mehr das rokokohaft schöne Glücksverlangen. Es war zuunterst unsere Triebnatur. Die konservative Romantik war seit dem Ende des 18. Jh.s der Platzhalter des Biologismus in der Philosophie. Für Schopenhauers Rechtsverständnis ergab sich eine subjektive Weltkugel aller zwischenmenschlichen Beziehungen als von Willensakten ausgelöst. Im Strafrecht erschienen sie als Verstrickungen. Das Verbrechen war dann nicht primär Handlung, sondern willensleitender Vorsatz, wie das Baumgarten, anders als v. Liszt und Radbruch, sagte. Doch Schopenhauer nahm die entscheidende Verbindung der Idee der autonomen Individualität mit der neutralen Objektivierung der Person unter allen Personen zurück, die der aufklärerische Sensualismus erreicht hatte.65 Baumgarten folgte Schopenhauer nicht in die Abgründe des Lebenstriebes, wie auch Schopenhauers Strafrechtsphilosophie ganz anders gerichtet war. Das Vergehen ist Folge des Willenstriebes. „... dieser aber ist schlechterdings unveränderlich. Daher ist eigentliche moralische Besserung gar nicht möglich; sondern nur Abschreckung von der Tat.“66 Den Fortschritt der Rechtsform über die Rache setzte Schopenhauer nur darein, dass das Recht auf Zukunft gerichtet sei. Es beendet den Eingriff in die Willenssphäre eines Anderen und schließt durch Abschreckung Straftaten aus. Baumgartens subjektive Strafphilosophie hatte wohl indirekten Bezug zu Schopenhauer. Baumgarten sah die auf der Hand liegende Konsequenz, die Schopenhauers Subjektivierung der sozialen Verhaftungen im Willen zum Pessimismus geführt hatte: Warum ist überhaupt so etwas wie Verbrechen in der Welt und nicht nur Eintracht auf Grund des ohnehin erforderlichen Zusammenwirkens? Er blieb beim empiristischen Muster von Bewusstseinsgraden auf einer Dunkel-Hell-Skala. Unter den vielen Motiven und 65 „... dass die erforderte Durchschauung der principii individuationis in Jedem vorhanden sein würde, wenn nicht sein Wille sich ihr widersetzte, als welcher, vermöge seines unmittelbaren, geheimen und despotischen Einflusses auf den Intellekt, sie meistens nicht aufkommen lässt; so dass alle Schuld zuletzt doch auf den Willen zurückfällt; wie es auch der Sache angemessen ist.“ (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, Leipzig 1938, S. 690) 66 Ebd., S. 686.

7. IRRATIONALITÄT DES VERBRECHENS UND RATIONALES STRAFRECHT

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Handlungsteleologien des freien Willens kommen die der kurzschlüssigen und insofern beinahe unrichtigen Reflexion aufs eigene Wohl vor. Das wirkliche Problem des bösen Willens zum Verbrechen, dieses tiefen Unglücks, das einen Menschen heimsuchen kann, nimmt der wohlmeinende Spätaufklärer insofern etwas vereinfacht auf, und zwar getreu seinem Pragmatismus des tätigen Willens. Das Verbrechen geschieht als kurzschlüssige Aneignung von Vorteilen. Immerhin muss es für den Täter selbst als reale Opfer-TäterKonfrontation bewältigt werden. Die Strafe kann nur ein unzulängliches Hilfsmittel sein. Baumgarten blickte wie ein wohlwollend distanzierter Richter auf die Irrationalität einer verbrecherischen Unternehmung. Er sprach vom unaufgelösten Verhältnis zwischen Verstand und Gefühl und berührte damit sehr wohl die eigentliche menschliche, und das ist die tragische Sphäre der Strafrechtsproblematik. Mit diesen schwer rational rekonstruierbaren Voraussetzungen geraten die der Tat nachhinkenden Aufklärungsund Abgeltungsversuche bis hin zur Strafe durch Unbeteiligte wie Staatsanwalt, Richter, Verteidiger und Vollzugsbeamte zwischen die Gegenwelten von individuellen Handlungsgeschicken und den generalisierenden Verbotstexten der Gesetze. Das Asoziale der Rechtsverletzung und damit die Schuld bestand für Baumgarten darin, dass eine uns gleichsam mitgeborene Achtung der Person des Anderen aufgekündigt werde. Das überwiegt das Moment der Straftat, eine drastische Verletzung der Willenssphäre eines Anderen zu sein. In der metaphysischen Begründung des Altruismus folgte Baumgarten Schopenhauer allerdings. Die metaphysische Identität aller Wesen, hatte es bei diesem geheißen, uns intuitiv gewiss, sei die Grundlage aller Tugend.67 Das Verbrechen zerreiße die mitgeborene Geist-Einheit, innerhalb deren sich doch alles Leben vollziehe. Der strafrechtliche (ebenso der disziplinarrechtliche) und der moralische Schuldbegriff betreffen zwei verschiedene Verhaltensaspekte. Die Begriffsjurisprudenz legte den Akzent auf die Trennung. Bei der rechtlichen Beurteilung sollte Schuld nur innerhalb der Relation zwischen Tatbestand und Gesetz betrachtet werden. Das negierte nichtjustitiable moralische Aspekte natürlich nicht schlechthin. Aber bei pointierter Trennung lag die Gefahr nahe, hinter den vergleichsweise präzisen Rechtsbestimmungen eine diffuse Sphäre moralischer Verworfenheit anzusiedeln, die zu enger Auslegung des Gesetzes anhalten konnte. Binding hatte einmal für die Rechtsfolgen formuliert, es könne nur die Alternative „schneidige Strafe und heilende Besserung“ geben.68 Der moralische Bezirk sei also innerhalb der juristischen Sphäre auszuscheiden. Das Moment des schuldhaften Willens bildete für Baumgarten das Zentrum der Straffähigkeit eines Individuums. Für dessen sensualistische Strafrechtsidee, die sich auf den moralischen und insbesondere auf einen gefühlten Bezug (stark im Vergeltungsgefühl) zwischen Täter und Opfer konzentrierte, gewann die Rechtsform vom Schuldgedanken her einen eigenen charakteristischen Gehalt. Sein Strafrecht konnte wie ein moralisch-praktisches Bewährungsfeld der Schopenhauerschen Lehre vom Leiden durch den Lebenswillen erscheinen. Das Recht des Staates zur Strafe geriet dann ebenfalls unter diesen psychischen Horizont, das Leiden zu neutralisieren. Die Rechtsform sollte die ursprüngliche

67 Ebd., S. 690. 68 K. Binding, a. a. O., S. 169.

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und eigentliche moralische Ebene des Sachverhalts objektivieren, aber nicht verdrängen. Das Recht bildet dann den unvermittelten Wechselschmerz von Tat und Rache zu einem Ausgleich über eine generalisierende Symbolisierung um. Der Sachverhalt war zu einer gleichnishaften und dadurch festen, im juristischen Sinne positiven Verpflichtung der jeweiligen Personen auf ihre spezifische Handlung und Erfahrung als auf ein gesellschaftliches Geschehen geworden. Unter diesen erreichten zivilisatorischen Bedingungen wollte Baumgarten mit der psychologisch und geradezu interpersonal angelegten Schuldtheorie der Strafe die unverwechselbare Individualität jeder Rechtsverletzung bewahren, die im Racheakt wie naturwüchsig durchgeschlagen hatte. Die Theorie der Spezialprävention lehnte Baumgarten wegen deren autoritären Komponenten ab. Sie könne, wie die Erfahrungen nicht-rechtsstaatlicher Rechtsordnungen zeigten, bis zum Gesinnungsstrafrecht abführen. Beispiele erreichten noch das Strafrecht der beiden deutschen Nachkriegsrepubliken: in der DDR mit dem ideologischen und politischen, aber juridisch firmierten Begriff der staatsfeindlichen Handlung, in der BRD in weniger gravierender Gestalt mit der, weite Kreise einschüchternden, Praxis der Berufsverbote, die nach Schätzungen immerhin von 1951 bis 1964 zu mehr als 100.000 direkten Ermittlungsverfahren geführt hatte.69 Hatte Radbruch den Vergeltungsgedanken, wenn er das Strafrecht konstituieren solle, einmal „ein widerspruchsvolles Mischprodukt aus Rache und Selbstmissbilligung“ genannt,70 so kam er noch vor der Erfahrung des gesetzlichen Unrechts des faschistischen Staates zu einer Baumgartens Auffassung nahe stehenden Feststellung hinsichtlich der Vergeltungsstrafe. Radbruch argumentierte nicht wie Baumgarten sensualistisch-moralisch. Aber er zielte auf die unverlierbare moralische Basis des Rechtsgedankens, indem er den immer persönlich zu erleidenden Gehalt von „Strafe“ im Strafrecht hervorhob. Nicht nur solle der Täter vor der Tat gesehen werden, sondern hinterm Täter der Mensch. Gegen viele Mängel der Zweck-, Besserungs- und Sicherungsgedanken „bewährt der Vergeltungsgedanke eine größere methodische Leistungskraft“. Er diene der Rechtfertigung der Strafe und deren Zweckbestimmung, erfülle den Gedanken der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit. Selbst im Sinne der Besserungsidee stelle er sich zweifellos als „Strafe“ dar, während ein folgerichtig im Sinne der Besserungs- und Sicherungstheorie gestaltetes Strafrecht aufhöre, „Strafrecht“ zu sein.71

69 Bereits vor dem KPD-Verbot (1956) war das Erste Strafrechtsänderungsgesetz erlassen worden, nach dem Mitglieder der KPD verurteilt wurden. 70 G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1914), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, Heidelberg 1993, S. 82. Ebd.: „Die Auffassung der Strafe als Vergeltung ... ist nur mit dem Indeterminismus verträglich, gerechtfertigt nur, wenn der Täter auch anders hätte handeln und wollen können. Da aber Vergeltung an einem andern geübt wird und nach der vorgetragenen Lehre der andere immer unfrei ist, ist die Vergeltung widersinnig.“ 71 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), a. a. O., S. 398f.

8. VERGELTUNGSSTRAFE UND VERGELTUNGSGEFÜHL

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8. Vergeltungsstrafe und Vergeltungsgefühl Baumgarten hob das Vergeltungsthema als das eigentlich interessante Moment des Strafrechts heraus, im Grunde ergiebiger als das der Strafe selbst. James habe vom elenden Problem der Strafe gesprochen und damit sagen wollen, dass der Sinn der Strafe nicht so unendlich tief sei, sondern nur von den Eigentümern in unendlichen Bemühungen geadelt worden sei. Über die Abschreckungsidee Feuerbachs seien nicht viele Worte zu verlieren. Auf der Gegenseite sei nämlich der Gedanke der Besserung ebenso einleuchtend wie die Generalprävention. Der kultivierte Mensch finde Straffälligkeit und Strafe eigentlich ebenso wenig interessant wie Waffen. Nur die Gedanken der Vergeltung und der Besserung, meinte Baumgarten, böten wirkliches menschliches und philosophisches Interesse.72 Die Vergeltungsstrafe gründete Baumgarten, seinem Sensualismus gemäß, auf das Vergeltungsgefühl. Man reagiere auf eine schwere Beeinträchtigung zuerst mit einem Willen zur Gegenwehr. Das Vergeltungsgefühl sei aber nicht der Rachewunsch, denn es werde eben nicht vom Angriff als solchem, sondern durchs Bewusstsein hervorgerufen, einem gewollten Angriff ausgesetzt gewesen zu sein. Die Entrüstung ergebe sich aus dem Gefühl, der Andere stehe in der Freiheit zu einem Vergehen, ebenso doch auch dazu, es zu unterlassen. Darum trete das Vergeltungsgefühl auch ein, wenn dritte Personen geschädigt würden. Mit dem Vergeltungsgefühl rückte die Täter-Opfer-Beziehung in den Mittelpunkt, nicht oder auf jeden Fall erst von dieser Voraussetzung her die Beziehung des Täters auf den Paragraphen des Strafgesetzbuches. Baumgarten sah darin auch allein die Möglichkeit, den Täter vom Opfer her zu beeindrucken und unter Umständen Reaktionen auszulösen, die Wiederholungstaten erschweren.73 Auf der moralischen Ebene sollte die im Präventionsgedanken gedachte Abschreckung erreicht werden. Die psychologische und moralische Grundlegung der Rechtsgemeinschaft war fast ein Versuch absoluter Strafbegründung. Der Gedanke des Vergeltungsgefühls, eine Konsequenz der Theorie der Vergeltungsstrafe schlechthin, sollte einen Grundgedanken des Liberalismus ins Strafrecht bringen: die verantwortliche Freiheit der Einzelperson. Ebenso elementar werde ein altruistischer Aspekt mitgesetzt. Wir wünschen bei jeder Verletzung eines anderen eine Vergeltung. „Das Entscheidende bei der Umwandlung des primitiven Racheinstinkts zum Vergeltungsgefühl, ... ist die Behandlung des andern nach einer Norm, die man auf sich selbst anzuwenden bereit ist. Der Standpunkt des Egoismus wird hier gegen einen universelleren vertauscht.“ Baumgarten verband diese zentralen methodischen Schritte der Objektivierung der freien Einzelperson oder deren Selbsterkenntnis als verantwortlichen gesellschaftlichen Wesens von seinen Voraussetzungen des Sensualismus her mit einer interessanten, recht an M. Proust erinnernden, 72 Die Darstellung folgt hier dem Strafrechtskapitel in Baumgartens Rechtsphilosophie, München 1929, S. 83ff. 73 Gern bezog sich Baumgarten auf M. Proust, wenn er auch, merkwürdig genug, C. Spitteler diesem gegenüber für weit wesentlicher ansah. Proust hatte über die Unruhe des Schuldbewusstseins gesagt: „Denn nirgends ist das Vergehen so schlecht aufgehoben, wie im Geiste des Schuldigen selbst.“ (Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 4, Berlin 1975, S. 151)

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Erweiterung. Die Freiheit des Einzelnen schließe ein, dass der Mensch in sich „das Begehren trage nach einer Umgestaltung der Vergangenheit“. „Denn die Vergangenheit ist nicht ganz entschwunden, wir erleben sie erneut in Gedanken und wir ändern dabei unsere Beteiligung an ihr, soweit sie vom Standpunkt der Gegenwart aus nicht mehr unsern Beifall findet ...“ Der Sensualismus denkt den Menschen im Strome der bewussten und unbewussten Linien seines Selbstbewusstseins, und er denkt ihn dadurch als wandlungsfähig. Wir gewinnen uns in der Vergegenwärtigung der vergangenen – und nur scheinbar verlorenen – Zeit immer neu. Darum verbinde die eudämonistische Moralauffassung das Vergeltungsgefühl mit dem Besserungsgedanken: „... dann ist es im Grunde die Liebe, die die Rache ablöst.“74 Rache und Vergeltung sind des Menschen und Gottes unwürdig. Baumgarten sah die ganze Strafrechtsthematik im Zusammenhang seiner Auffassung, dass die Vorstellung einer transzendenten Macht des Göttlichen aus der Vergangenheit in die Zukunft verlegt werde, in eine Zukunft, an der der Mensch selbst mitwirke. Das Strafrecht solle den Menschen nicht in die Qual des Schuldgefühls treiben. Der Vergeltungsgedanke halte den generalpräventierenden Charakter der Strafe fest. Die Strafe müsse als Übel erfahren werden. Aber der Gedanke der Zukunft des Straftäters nach dem vergoltenen Vergehen in der Konfrontation mit dem Opfer bilde den tiefer greifenden Zweck der Strafe. So meinte Proust, der Mensch suche in der Wiedererinnerung der vergangenen Zeit seine Zukunft. Der individualisierende Vergeltungsgedanke besitzt charakteristische Schwächen, die zugleich mit seiner Tiefe verbunden sind. Die Vergeltungsstrafe soll beim Täter vor allem ein Bewusstsein der Achtung vor der geschädigten Person erzeugen, bzw. wieder herstellen. Daraus ist eine hindernde Wirkung gegenüber Straftaten nur bei zwei Voraussetzungen herzuleiten: einem hohen Vertrauen in ein durch die Erfahrung des Verbrechens und der Konfrontation mit dem Opfer zu erweckendes Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Anderen und außerdem aus personaler Selbstachtung des Täters. Allerdings ergab diese moralische Fassung der Vergeltungstheorie einen Übergang zur Generalprävention und Baumgarten führte das auch aus. Das generalisierende Verfahren der Theorie der Schutzstrafe dagegen sah er als vereinfachende Strafrechtstheorie an. Sie gehe vom vorbestehenden Gesetz aus und gewinne daraus die generelle Warnung, es zu verletzen. Das Verbrechen erscheine dann primär als Normverletzung im Sinne einer Gehorsamsverweigerung. Hier öffne sich der Weg zum konservativen konkreten Ordnungsbegriff mit der Folge, dass das Leben in der Gesellschaft als genau beobachtete Pflichterfüllung erscheine. Baumgarten hatte das immer abgewiesen und in seiner Aversion auch Kants Pflichtenethik als Ausdruck solcher Anerkennung autoritärer Obrigkeit aufgefasst. Dagegen setzte er, der innere Grund des Schuldvorwurfs liege darin, dass der Einzelne sich nicht gemäß der Verantwortung gegenüber dem anderen Menschen und der Würde der eigenen Person verhalten habe.

74 Rechtsphilosophie, S. 85. Mit erweiterter geschichtsvertrauender Sicht hat Baumgarten zuletzt unseren Zug geschildert, sich der Vergangenheit immer mit dem aussichtslosen Verlangen zu erinnern, sie doch ändern zu können. (Die Idee der Strafe, 1952)

9. BAUMGARTENS STRAFRECHTLICHER SCHULDBEGRIFF

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Heute wird Baumgartens psychologische und moralische Straftheorie in vielem als naiv erscheinen. Im ausgedehnten Bereich der Wirtschaftskriminalität ist das Strafverfahren nur selten unter Einberechnung des Vergeltungsgefühls und auch nicht im Gedanken der Leidzufügung zu führen. Die Kriminalität hat sich vergesellschaftet. Zu hohen Bußgeldern verurteilte Firmen leiden nicht im moralischen Sinne. Baumgarten ging vom handelnden Individuum aus. Die unveränderte Stärke seiner Strafphilosophie besteht im festgehaltenen Schuldbegriff. Das ist von hohem Wert bei zunehmender Erosion des Schuldbewusstseins in den gegenwärtigen industriellen Gesellschaft materieller Bedürfnisorientierung und der Anonymisierung der Individuen.

9. Baumgartens strafrechtlicher Schuldbegriff Von der Moral rächender Vergeltung war es ein weiter Weg zum staatlichen Strafgesetz gewesen, ein noch weiterer zur Verbindung des Unrechtsbegriffs mit dem der persönlichen Verschuldung.75 Baumgartens Schuldbegriff bildete die Grundlage seiner Strafzweckauffassung. Er steht in kritisch fortbildendem Bezug zur intensiven christlichen Schulddogmatik. Die religiöse Fragestellung mit deren im Grunde nicht zu bewältigenden Widersprüchen überführte Baumgarten auf moralphilosophische Aspekte von fehlgesteuertem Verhalten. Für gläubige Menschen musste das Verhältnis von Erbsünde und persönlicher Verschuldung die natürlichen Selbstreflexionsakte des Gewissens mit peinigender Dunkelheit überziehen. Die unentrinnbare Schuld machte den Einzelnen zum Schuldner einer Leistung, die er unabhängig von der Institution der Kirche nicht, und mit deren Hilfe immer nur partiell abtragen konnte. Die katholische Herabspannung der Thematik, indem sich Schuld und Verdienst in der Reue doch ausgleichen können, stellte einen Kompromiss mit der saturierten spätmittelalterlichen Lebensanschauung dar. Sie war zugleich Ausdruck der fortgeschrittenen Verselbstständigung der Kirche als büromäßiger Institution gegenüber den Gläubigen. Die Kirche war Heils-Verwaltung mit formellem Verhältnis zur Gemeinde geworden. Der reformatorische Rückschlag gegen die bürokratische Verdinglichung des christlichen Schuldverständnisses bedeutete einen inhaltlichen Rückfall auf die unauflösbare Dialektik einer individuell zurechenbaren Erbschuld. Die Auffassung einer verhängten Strafe ohne individuelle Schuld – das philosophische Moment in Augustinus’ Theologie der Prädestination – entsprach der archaischen organologischen Schuldauffassung als konkreter Blutschuld von Familien oder Gemeinwesen, auch als Verhängnis vorgängiger Verfehlungen, das die antike Tragödie schilderte. Die ursprüngliche Verbindung von Sakralrecht und Recht der Gemeinde verlangte darum auch bei zufälliger Rechtsverletzung Sühnemaßnahmen. Der Verschuldungsgedanke besaß neben der individuellen Ebene realer Verbrechen eine transzendente Basis. 75 „Erst allmählich nimmt der Begriff des Unrechts das Moment der Verschuldung in sich auf; an der Vertiefung der Schuldlehre bemißt sich der Fortschritt des Strafrechts.“ (F. v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, Berlin und Leipzig ²1884, S. 148). Vgl. zum Schuldbegriff: K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, Frankfurt/M. 2005.

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Für die moderne juristische Auffassung bildet diese Verdoppelung eine Mystifikation. Schuld muss immer mit konkreter Zurechenbarkeit des Tatentschlusses und mit der Verwirklichung eines Tatbestandes verbunden sein. Im Erbsünde-Theorem ist dagegen die Menschheit im Ganzen Miterzeugerin eines nicht auszugleichenden Rechtsbruches. Bei der Unaufhebbarkeit des Vergehens des Menschen gegen die Ordnung Gottes, also daran, dass sie Sünde sei, setzte Baumgartens moralische und juristische Umbildung der religiösen Tradition ein. Das alles tragende Schuldverständnis erschließt sich aber vom Ende her, von der Strafe. Schuld meint die Verpflichtung einer Leistung. Inwiefern kann die Strafe eine Leistung darstellen, die einen Ersatz für die Verletzung des Opfers (dessen körperliche Versehrung, Eigentumsschädigung) bedeutet? Ein solcher Ersatz ist durch keine korrekte Strafe möglich. Für die theologisch konsequente Auffassung der Erbsünde blieb analog auch nach der Reue eine Aufhebung der Sündenverhaftung ausgeschlossen. Die religiöse Dogmatik geht hier zur Barmherzigkeit Gottes über, die das Schuldbewusstsein nicht aufhebe, sondern vertiefe.76 Baumgarten sah als Konsequenz seiner immanenten psychologischen Umbildung des Schuldproblems den realen Ersatz für den Schuldausgleich nach dem Vergehen nicht primär in der Strafe gegeben, sondern in der Verzeihung des Opfers. Er setzte hinzu, dass erst mit der verzeihenden Anerkennung durch den Verletzten oder Geschädigten die Reue des Täters im ernsten Sinne eintreten könne. Sonst bleibe es beim Bedauern, ungeschickt gewesen und erwischt worden zu sein. Die Reue aber, die allein aus der Verzeihung durch das Opfer hervorgehen könne, und die natürlich nicht auf die Tat, sondern auf die Person des Täters bezogen sei, sah Baumgarten als den eigentlichen Strafzweck an. Die Verzeihung setzt das Verstehen des Täters und dessen Vergehens voraus. Das ist nur bei individuell gerichtetem Schuldbegriff möglich, der den zentralen Punkt der Baumgartenschen Strafrechtslehre bildete. Mit der ganzen Vergeltungstheorie fasste Baumgarten das Verbrechen als freien schuldhaften Willensakt. Das Kriterium der Schuldhaftigkeit sah er, mit Polemik gegen Bindings Normentheorie, im Verhältnis der Tatbestände zu den Strafrechtssätzen, nicht aber zu den Normen als Rechtsbefehlen. Für Binding wurden die Tatbestände gleichsam zu vermeidbaren Ungehorsamsdelikten gegenüber den Normen. Baumgarten folgte Ernst Belings (1866 – 1932) Theorie der Tatbestandsmäßigkeit und legte Wert darauf, dass er diese Lehre konkretisiert habe.77 Er hatte mit seinem systematischen Aufbau der Verbrechenslehre das Ziel verfolgt, „eine allgemeine Tatbestandstheorie“ zu schaffen, „die uns ermöglichte, die Merkmale der einzelnen Verbrechenstatbestände in Beziehung zum Strafzweck zu setzen“, sie nicht nur nebeneinander aufzureihen, sondern „als Glieder von wahren kriminalistischen Einheiten zu entwickeln.“78 Die Veränderungen bezogen sich eigentlich auf Abmilderungen einiger formalistischer Tendenzen Belings. Beling hatte im Interesse der Rechtsanwendungssicherheit ein zu erstellendes Muster des Straftatbestands gedacht, das sich gleich einer Schablone 76 Vgl. M. Kählers Artikel „Schuld“ in: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 17, Leipzig ³1906, S. 787. 77 Recht II, S. 397. 78 Ebd., S. 391.

9. BAUMGARTENS STRAFRECHTLICHER SCHULDBEGRIFF

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an den deskriptiven Deliktsmerkmalen des Gesetzes ausrichtete und an den jeweils empirischen Fall anzulegen war. Der unvermeidliche fiktionale Gehalt des Strafrechts wurde dadurch noch aufgewertet. Das konkrete Verfahren des Strafprozesses mit der Täter-Opfer-Begegnung mußte folglich herabgestuft werden. Die ermittelnde Behörde erhielt – insbesondere vor dem dann auch noch folgenden Prozess – die ganze Verantwortung. Das Verhältnis von Gesetz und Straftat war im Grunde bereits geklärt.79 Das war für die starke psychologische Komponente in Baumgartens Straftatauffassung unannehmbar. Baumgarten betonte die sog. dezentrale Prozessauffassung, für die das Agieren von Klägern und Beklagten eine wesentliche Rolle spielte. Die Demonstration staatlicher Gewalt sollte zurückgesetzt werden. Außerdem trug Baumgarten zur allgemeinen Tendenz bei, Belings „scharfe Trennung zwischen objektiver Rechtswidrigkeit und subjektiver Schuld“ „durch die Annahme subjektiver Unrechtselemente“ aufzugeben.80 Er richtete seine subjektive Strafrechtsauffassung – Tatbestand mit dem Vorsatzinhalt – gegen den Formalismus „unserer automatenhaft gewordenen Strafrechtswissenschaft“, die eine einheitliche Theorie aller Verbrechensaspekte verfehle und vor allem den Weg zu einer „ethisch orientierten Psychologie“ des Schuldbegriffs versperre. Das Problem sei aber nicht die rechtswidrige Handlung schlechthin, sondern der schuldhafte Wille, der sich in Vorsatz und Zurechnungsfähigkeit darstelle. Woraus aber entsteht dieser Wille? Das beantwortete Baumgarten von den Voraussetzungen seiner philosophischen Ethik her. Das Glücksstreben des Menschen bilde die allgemeine Basis aller Motivationen. Der schuldhafte Wille stelle dessen Fehlleitung dar, nämlich sich durch Schädigung eines anderen einen Vorteil zu verschaffen. Erst in einem folgenden Schritt der logischen Gliederung erscheine der schuldhafte Wille als die Rechtsverletzung. Baumgarten sagte, „daß brutaler Egoismus irregeleitetes, notwendigerweise erfolgloses Glücksstreben ist.“ Diese Einsicht beim Delinquenten zu erreichen, sei der wichtigste Strafzweck.81 Baumgartens Strafrecht ist die aufklärerische, intellektualistische Umformung der christlichen Sündenidee, dass der Mensch infolge seiner Freiheit in den Stand der Sünde geraten sei. Die dem menschlichen Verhalten beiwohnende verschuldende Kraft erklärte er aus der Antriebswidersprüchlichkeit des frei gedachten Subjekts. Baumgarten brachte zu diesen Beständen hinzu, dass das Verbrechen die Verletzung der anthropologischen Anlagen und kulturellen Erfahrungen des Altruismus bedeute. Damit war der subjek79 Hier erwachsen auch die Möglichkeiten, das zeitaufwendige und kostenintensive Prozessduell und doch mit ihm zugleich die objektivierende Behandlung eines Falls zu umgehen, indem gleichsam im Büro des Staatsanwalts die Entscheidung vereinbart wird. Bei der Behandlung der strafbaren Praktiken großer Firmen (Korruption bei Auftragsaquisitionen, Gründung von durch die Firma bezahlten Gegengewerkschaften u. a.) wird das auch in Deutschland immer häufiger benutzt, um Rufschädigungen der Firmen oder prominenter Manager zu mindern. 80 Vgl. Marxen, Straftatsystem, a. a. O., S. 124f. 81 Recht II, S. 375. Baumgarten verankerte Schuld und Strafzweck tief in einer pantheistischen Weltsicht. Kaum ein Gesetz weise uns so deutlichen Einblick in die Bestimmung des Menschen, „wie das Karma, das Gesetz, demzufolge die Selbstsucht, welche die eigentliche Unsittlichkeit ist, statt der erhofften Befriedigung Leiden im Gefolge hat.“ (Ebd.)

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tiven Verbrechensauffassung ein breiteres moralisches Fundament bereitet. Die Spannung ist hier bereits angelegt, die Baumgarten später zum Sozialismus führte. Der strafrechtliche Gedanke in Bezug von Handeln als Schuld und der Strafe als Buße lässt eine Welt denken, in der diese unselige Verführung nicht mehr wirken würde. Die christliche Sündenlehre hatte gemeint, dass die Sünde eine Verletzung der sich dem Menschen darbietenden Gottesgemeinschaft darstelle. Baumgarten griff zurück auf eine hinter dem Rechtsverhältnis stehende Geist-Verbundenheit der Individuen, die z. B. juristisch im Gerechtigkeitsproblem erscheine. „Die Vergeltungsstrafe findet ihre tiefste Begründung in Wahrheit darin, daß das durch den verbrecherischen unsittlichen Willensakt gegen den Täter heraufbeschworene Leiden eines der wichtigsten Mittel zur Herbeiführung einer echten Sinnesumkehr, einer inneren Läuterung ist.“82 Merkwürdig genug, verband Baumgarten seine antietatistische Strafrechtslehre mit eingehender Polemik gegen die damals neue soziologische Strafrechtsschule. Er meinte, gerade die Schuld- und Strafzwecklehre erfordere „die eingehende Darlegung der sozialen Gefährlichkeit und sittlichen Verwerflichkeit des Verhaltens“.83 Seine Vorbehalte richteten sich gegen, wie er sagte, ins Unendliche gehende Utilitätsüberlegungen ebenso wie gegen „die materialistische Geschichtsauffassung und sonstige soziologische Theorien“, die mechanische Gesetzmäßigkeiten an die Stelle von Personen treten ließen.84 Baumgarten zitierte das soziologische und medizinische Material der Kriminalstatistik als ein Hilfsmittel, doch mit einiger Herabsetzung. Er sah darin offenbar die eingetretene Auflösung einer geschlossenen Schuld- und Strafzwecktheorie, die er an Bindings Arbeiten trotz aller Kritik hochschätzte. Außerdem erblickte er hinter der Soziologie des Strafzwecks den weiten Bereich behördlicher Verstauung der straffällig gewordenen Menschen. Er betonte die Verantwortlichkeit der Person. Zudem hingen Tatbestandsmerkmale der Delikte und Strafbemessungen sehr oft von sekundären Umständen ab, so dass an ihnen die von einem Täter ausgehende Gefahr für die Gesellschaft nicht festgemacht werden könne. Baumgarten sagte wohl auch darum, es sei ein Ding der Unmöglichkeit, ein der Tat völlig adäquates Strafmaß zu bestimmen. Auch ist Baumgartens Zurücksetzung des, wenn man so sagen will, einfachen Äquivalenzhandels bei der Abwägung von Tat und Strafe, womit der Sache Genüge getan sein sollte, anzuerkennen. Er sah hier die Gleichgültigkeit eines repressiven Strafrechts und suchte, dessen präventiven Charakter zu stärken. Das auffallende Ungenügen der Begründung seines Standpunktes liegt sicher darin, dass der junge Baumgarten bei der Bezeichnung des Willensaspekts stehen blieb, während doch daran die Aufschlüsselung der Faktoren der Willensbildung anzuschließen wäre. Das würde weit in die Ängste und die Hoffnungen hineinreichen, denen die Menschen in den Konfliktmassen der individualistischen und gewinnorientierten Zivilisation ausgeliefert sind. Baumgarten meinte wohl, das seien nicht Themen einer Strafrechtssystematik. Seine auf den freien Vorsatz zur asozialen Tat orientierte Schuldauffassung 82 Recht II, S. 375. 83 Recht II, S. 393. 84 Im § 28 der Wissenschaft vom Recht: „Die soziologische Färbung der neuesten strafrechtlichen Bestrebungen“ (II, S. 372ff)

10. BAUMGARTENS KRITIK EINIGER INTERPRETATIONEN

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lässt zu Vieles unausgesprochen. Wie, wenn Staatsanwälte und Richter den subjektiven Gesichtspunkt ausdehnen zur Veranlagung schlechter Gesinnung bei bestimmten Menschengruppen? Die subjektive Theorie, auf Vorsatz und Willen zur Tat gerichtet, könnte verlangen, das Strafverfahren überhaupt aufzuteilen in die einfache Tatbestandsmäßigkeit eines Vergehens und in den von verschiedenen Fachleuten zu beratenden Urteilsspruch. Strafvollzug, Bewährung, Strafaufschub usf. wären noch weiter zu spezialisieren. Baumgarten ließ all das aus und versäumte dadurch sicher auch die synthetischen Möglichkeiten der Strafphilosophie, die seinem an sich anspruchsvollen moralisierenden Schuldbegriff gegeben waren. In seiner späteren Methodenlehre von 1939 hat er die Berufung der Rechtsgelehrten und auch die Spruchpraxis der Gerichte zur Entwicklung des Rechts hervorgehoben.

10. Baumgartens Kritik einiger Interpretationen der Vergeltungstheorie Baumgarten wandte sich gegen die formelle Interpretation des Vergeltungsgedankens, nach der die Verletzung des Gesetzes vergolten werden sollte. Er sah hier den Kurzschluss, was für die Person gelte, treffe ebenso für den Staat zu, dessen Gesetze übertreten worden seien. Es sei gleichsam die Würde der verletzten Staatsperson wiederherzustellen. Merkel hatte diese unbefriedigende organologische Person-Analogie des Staates benutzt. Der antiliberale Aspekt bestand darin, dass für die Legitimation der Personbildung des Staates sittliche und religiöse Kräfte angenommen werden müssen, die die Rechtsgenossen in der Idee einer dem Einzelnen übergeordneten Gemeinschaft verbinden würden. Solche politische Gefühlsgemeinschaft tendiert, wenn das auch nicht sogleich ausgesprochen wird, nach innen zu Dienst- und Unterordnungsverhältnissen, nach außen zur Kampf- und Eroberungsgemeinschaft. Unübersehbar hatte Baumgarten selbst mit seiner Altruismus-Begründung eine ursprüngliche Gattungsverhaftung hinter seinen Liberalismus gesetzt. Die Schuld- und Vergeltungstheorie war immer mit der Voraussetzung der Willensfreiheit verbunden worden, einer Voraussetzung der liberalen Persönlichkeitsauffassung.85 Mit der Schuldfähigkeit sind die verantwortliche Handlungsentschließung, die Vorwerfbarkeit und überhaupt die Würde der Zurechnungsfähigkeit verbunden. Die deterministische Persönlichkeitsauffassung hatte konsequent zur Theorie der Abschreckungsstrafe geführt. Nur die Straffurcht könne den prädestinierten Willen zurückhalten. Die Widersprüche des Determinismus sind damit nicht auszuräumen. Die Verringerung der Schuld, die aus der deterministischen Theorie auch hervorgehen müsste, war nur zu umgehen, wenn die Persönlichkeit sozial determiniert wurde.86 Insofern war v. Liszts Erneuerung 85 Baumgarten hatte die wesentliche philosophische Ebene im Strafrecht, die Thematik der Willensfreiheit, noch einmal zusammengefaßt in der Abhandlung: Strafrecht und Willensfreiheit, in: Festschrift für Karl Joel, Basel 1934, S. 28-43. 86 „Gesellschaftliche oder soziale Faktoren (des Verbrechens – G. I.), so Bildung, Ernährung, Gesundheitszustand, ökonomische Lage der Bevölkerung. So steht die Höhe der Getreidepreise zur Zahl der Eigentumsdelikte in geradem, zur jener der Sittlichkeitsdelikte im umgekehrten Verhält-

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des Strafrechts wohl auch als eine Vermittlung von uralten – und naturalistisch umgebildeten – deterministischen Traditionen mit dem Indeterminismus des modernen Liberalismus gedacht. Tatsächlich ergeben beide Auffassungen für sich allein unwirkliche Abstraktionen. Gegen den Determinismus, meinte Baumgarten, sprächen schon die Erscheinungen des bösen Gewissens. Baumgarten argumentierte gern so. Da er in seiner ganzen Rechtsauffassung der Psychologie großen Raum gab und überhaupt gern menschenfreundlich optimistisch auflöste, erklärte er die deterministische Verbrechenstheorie auch aus dem begreiflichen Bestreben des Übeltäters, sich das Schuldbewusstsein tunlichst zu verringern. Die Interpretationen der Willensfreiheit konnten sehr verschieden ausfallen. Binding vindizierte dem Willen des Delinquenten das arglistige Bewusstsein der Rechtswidrigkeit, bezog die Schuld also auf den Gesetzesbruch.87 Er hatte dagegen polemisiert, die Rechtssphäre mit moralischen oder soziologischen Gesichtspunkten zu vermischen. Baumgarten ging mit seiner liberalen Rechtsauffassung über die Gesetzwidrigkeit hinaus. Er suchte überhaupt, die Rechtsform aus konkreten Relationen zwischen Individuen zu entwickeln. Die intersubjektive Handlungswelt erzeuge erst soziale Gefühle, Einstellungen und Beurteilungen. Im realen Handlungsfeld erfahre jeder die Willensfreiheit in dem genauen Bezug, sich einem Anderen kooperativ verbunden oder sich ihm willentlich oder fahrlässig schadend zu verhalten. Diese Urteilsfähigkeit aktiviere die Strafe und bewirke eine Sinnesänderung, bei der erst die einzelnen Besserungsmaßnahmen ansetzen könnten. Baumgarten lehnte mit seiner Kritik soziologischer Elemente in der Theorie der Schutzstrafe nicht die Einbeziehung der sozialen Ursachen der Kriminalität in die Gestaltung des Strafrechts ab. Aber er argumentierte gegen die mit der speziellen und allgemeinen Prävention einhergehenden staatlichen Verfügungen über die Delinquenten. Sein Rechtsdenken war gegen die Autarkie der sich über der Gesellschaft erhebenden staatlichen Gewalten gerichtet. Das war eine neue und berechtigte Fragestellung nach der Beseitigung des Privilegienrechts. Kants Vergeltungsstrafrecht war noch mit dem Gedanken der entschiedenen Notwendigkeit von Strafe und eben gleicher Strafe für alle Bürger gegen das ständische Recht gerichtet gewesen. Baumgarten lernte den Staat des deutschen Kaiserreiches als eine über der Gesellschaft stehende, nach innen selbstherrliche, nach außen aggressive Macht kennen. Der staatsrechtliche Positivismus entsprach der Hochschätzung eines auch dem einzelnen Bürger gegenüber autarken Staates. Die Freirechtsschule hatte den vereinfachenden Subsumtionsgedanken für Rechtsentscheidungen aus dem Gesetz als Ausdruck des etatistischen Rechtsverständnisses erkannt. Sie suchte dem mit der rechtsschöpferischen Funktion des Richters entgegenzuwirken. Baumgarten erkannte die Kritik der Freirechtler an der Begriffsjurisprudenz an, sah aber nisse. ... Die gesellschaftlichen Faktoren lassen sich beeinflussen ... durch jede Verbesserung der sozialen Verhältnisse.“ (F. v. Liszt, a. a. O., S. 4) Für seine Konkretisierung des Zweckgedankens der Strafe forderte v. Liszt den Ausbau der Reichsjustizstatistik nach dem Vorbild der französischen Statistik, wie es inzwischen in allen europäischen Ländern die jährliche gerichtliche und polizeiliche Kriminalstatistik gibt. 87 K. Binding, Grundriss des Gemeinen Deutschen Strafrechts, a. a. O., S. 99ff.

10. BAUMGARTENS KRITIK EINIGER INTERPRETATIONEN

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deren Zielpunkt ohne rechtsphilosophische Grundlegung zu eng gefasst, so „daß man sich selbst in den Kreisen der äußerst fortschrittlich gesinnten Juristen nach einem Mittel umgesehen hat, um dem Gesetz wieder einen größeren Einfluß ... zu sichern.“88 Der Abwehr des polizeistaatlichen Machtanspruchs diente Baumgartens Rückgang auf die Psychologie von Schuld und Sühne im Strafrecht. An Binding verehrte Baumgarten den Duktus rechtsphilosophischer Systematik, sah aber vor allem auf den Widerspruch zwischen Liberalismus und der Qualifikation des Verbrechens als Normenverletzung, Normen, die hinter dem StGB stünden. Baumgarten verstand das als autoritäre Überhöhung des Strafrechts. Binding führte z. B. eine Reihe von Fällen auf, in denen dem Gesetz nur mit Schuldvermutungen zu Ungunsten der Bürger Genüge zu tun wäre.89 Er suchte, das Problem rechtstheoretisch generell zu lösen, indem er z. B. die verschiedenen Schuldarten nicht sogleich als Gesetzesverletzungen, sondern logisch ursprünglich als Normwidrigkeiten definierte. Von diesen aus seien dann die relativen Kriterien der Gesetzesverletzungen erst zu bestimmen. Baumgarten sah hier gerade gegen Bindings Absicht eine gefährliche Verengung der Vorwerfbarkeit von Handlungen. Tatsächlich sagte Binding auch zweischneidig: „Das Dasein der Schuld ist vom Dasein eines Strafgesetzes vollständig unabhängig.“90 Baumgarten: „Für Binding spielen zufolge seiner Normentheorie nicht sowohl die Tatbestände zu den Strafrechtssätzen, als vielmehr die Tatbestände zu den Normen, den Rechtsbefehlen, eine überwiegende Rolle im System des Strafrechts.“ Bindings vermeidbarer Ungehorsam gegenüber einer Norm könne nicht das wesentliche Moment einer Bestrafung sein. Baumgarten griff bereits 1922 weit aus: „Dies ist vielmehr das in der Handlung enthaltene Maß an materieller sittlicher Verschuldung oder, um eine geläufigere Ausdrucksweise zu wählen, an antisozialem Gehalt.“91 Baumgartens sensualistische Grundlegung, um nicht zu sagen, Durchleuchtung des Schuldverständnisses beginnt, sich einem neuen kulturellen Horizont des Strafrechts zuzuwenden. 88 Recht I, S. 296. Baumgarten sah die Freirechtsschule als einen Flügel der neuen rechtssoziologischen Kritik des Rechtspositivismus, nach der „künftighin der Richter die Normen für seine Entscheidungen im wesentlichen nicht den positiven Anordnungen des Gesetzgebers, sondern den Lehren der neu aufgekommenen Gesellschaftswissenschaften zu entnehmen habe.“ (Ebd., S. 393) Eugen Ehrlich selbst hielt er zugute, dass er der Auslegung aus dem System noch einen Wert zugestehe, sich aber damit unter seinen Parteigängern allein finde. 89 Binding nannte das Pressgesetz von 1874, verschiedene Polizeigesetze, die Auffassung von Begehungsdelikten durch Unterlassung als vorgeblicher Übertretungen von Gesetzen. Durch rechtsphilosophische Mängel sei etwa auch der Dolusbegriff so ausgedehnt worden, dass man eine große Zahl fahrlässiger Delikte auf den Titel von dolosen zur Bestrafung bringe. Inzwischen werde ein Teil schuldloser Handlungen für schuldhaft und strafbar erklärt. „Der Strafgesetzgeber wird als Despot Pfleger der Ungerechtigkeit. ... Wenig geneigt, sich offen für Bestrafung Schuldloser zu erklären, wird er das Ziel durch Aufstellung von Schuldvermutungen zu erreichen suchen.“ „Die spezifische Vorsatzauffassung der juristischen Bureaukratie zuungunsten des Angeklagten“ sei die Folge der Koppelung eines schuldhaften Willens an das begrifflich fixierte Strafgesetz. (K. Binding, Die Schuld im deutschen Strafrecht, a. a. O., S. 6f, 19, 24, 33) 90 Ebd., S. 23. 91 Recht II, S. 391, 611.

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11. Naivität der Baumgartenschen Strafrechtsphilosophie? Vielleicht mutet Baumgartens frühe, individualisierende Strafrechtsauffassung inzwischen naiv gemüthaft an. Dem Täter-Opfer-Verhältnis scheint durch die zunehmende Verwicklung des Menschen in anonyme Ursachenkomplexe des je eigenen Lebens längst alle Hebelsche überschaubare Nähe der Zundelheiner-Kriminalität verloren gegangen zu sein. Heute zeigt die große Zahl von strafbaren Handlungen infolge wirklicher und eingebildeter gesellschaftlicher Zwänge oder Notsituationen und auf Grund virulenter Psychopathologien den Selbstverlust der handelnden Personen an. Sie agieren oft, als seien sie Sachstücke ihnen verborgener Triebkräfte. Basis ist die fortschreitende Entkoppelung der Individuen von stabilen Gruppenbindungen. Bindings scharfer Ton vom arglistigen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit, fast als ein Wollen der Widerrechtlichkeit um ihrer selbst willen, könnte wieder treffen, wenn nicht inzwischen das Bewusstsein der gesellschaftlichen Ursachen so massenhafter Arglist hinzugekommen wäre. In solchem Notstand gewinnt das Vergehen manchmal etwas von moralisch legitimer Notwehr. Gravierende soziale Unterschiede zwischen Personen und Völkern seien die Folge quasi-illegitimer ökonomischer und politischer Ordnungen, die aber juristisch legitimiert würden. Der Große Senat des Bundesgerichtshofes begründete 1952 mit bemerklichem Einsatz idealistischer Voraussetzungen ein Urteil auf dem Prinzip der Willensfreiheit: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, ... daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt ... ist. ... Voraussetzung dafür, daß der Mensch sich in freier, verantwortlicher, sittlicher Selbstbestimmung für das Recht und gegen das Unrecht entscheidet, ist die Kenntnis von Recht und Unrecht.“92 Der letzte Satz bezieht sich auf den in einem Verfahren wegen Nötigung vom Beklagten angeführten Entschuldigungsgrund des Verbotsirrtums. Die zitierte Urteilsbegründung war 1968 vom Bundesrichter W. Sarstedt in einem Vortrag als zu bombastisch bei einem fürs normale Rechtsempfinden auf der Hand liegenden Tatbestand kritisiert worden. Er bestritt natürlich nicht, dass sie als theoretisches Prinzip einen Grundpfeiler des Strafrechts darstellte. Angesichts der inzwischen eingetretenen Kriminalitätsentwicklung wird man fragen – und das bezieht sich auch auf Baumgartens Strafphilosophie –, inwieweit die klassische allgemeine Formel der individuellen Willensfreiheit noch dem realen Rechts- und Unrechtsbewusstsein entspricht. Wie, wenn die Mehrzahl der Delikte im zynischen Bewusstsein begangen wird: Die Welt ist nicht viel wert, alle leben ihren Egoismus und auf den Erfolg kommt es an? Der Wille, angesichts düsterer Zeiten guten Gewissens nun auch Unrecht zu versuchen,

92 BGHSt. Bd. 2, S. 200f; hier zit. n. W. Sarstedt, Die Willensfreiheit des Menschen – Utopie oder Wirklichkeit in der Strafrechtspflege, in: ders., Rechtsstaat als Aufgabe. Ausgewählte Schriften und Vorträge 1952 – 1985, Berlin, New York 1987, S. 28f.

11. NAIVITÄT DER BAUMGARTENSCHEN STRAFRECHTSPHILOSOPHIE?

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operiert jenseits der klassischen Alternativen Willensfreiheit und Determinismus und Kenntnis von Recht und Unrecht. Hier erweist sich Baumgartens Straftheorie als gar nicht so naiv. Denn sie ist nicht allein eine Strafrechtslehre auf der Voraussetzung der Willensfreiheit. Dazu gehört die Offenheit des sensualistischen Personbegriffs für die situative Bedingtheit des Willens und damit in Verbindung für die Latenz des durch Erfahrung sich verändernden Menschen. Unter der abstrakten Benthamschen These Baumgartens, das Verbrechen sei ein falscher Versuch, sich einen Glücksvorteil zu verschaffen, verbarg sich die Einsicht, im Strafrecht die realen Entscheidungsbedingungen konkreter Menschen zu berücksichtigen. Seine Strafphilosophie ist dem Gesichtskreis des praktisch tätigen Richters nicht fern, dem es darauf ankommt (oder ankommen sollte), unterm leitenden Gesichtspunkt der realen Wirksamkeit der Rechtsnorm Recht zu sprechen.93 Baumgartens empiristisches Verständnis der Willensfreiheit steht der heutigen sozialen Theorie und Gestaltung des Strafrechts nicht so fern, wie es zunächst scheinen mag.94 Eine der neueren Auffassungen ist hier nicht zu erörtern, es habe lediglich Sinn, von einer normativen Zuständigkeit für eine Schuld zu sprechen, so dass nicht das psychische „Können“, sondern nur die normative Zuständigkeit Kriterium der Schuldfähigkeit sei und die Thematik der Willensfreiheit aus dem Strafrecht ausgegliedert werden könne.95 Baumgartens Auffassung steht jedoch einer heute vertretenen Theorie der Strafe als symbolischen Ausdrucks öffentlicher Missbilligung nahe. Der expressive Gehalt des Strafspruchs konzentriere sich in der schmerzenden Missbilligungserfahrung. Hier werden Strafprozess und Vollzug ebenfalls wieder sensualistisch auf ein unmittelbar erlebendes Individuum bezogen.96 Baumgartens frühe Strafphilosophie der Vergeltung war auf die direkte Konfrontation zwischen Opfer und Täter gerichtet, die vom Gericht eigentlich nur in objektive, der Generalisierung fähige Form zu bringen sei. Für das Gericht ist damit gesagt, dass das Strafverfahren sich immer auch beim einfachen menschlichen Verständnis für das Opfer und beim in Schuld geratenen Täter halten solle. Das heißt nicht, das Gericht solle über den ganzen Menschen urteilen. Das vermag es nicht und darf es nicht. Aber es solle über die Tat menschlich urteilen. Baumgartens frühe Schriften förderten mit ihrer empiristischen Strafrechtsauffassung die allgemeine Tendenz zur Subjektivierung eines Täterstrafrechts. Das zeigte sich an der Rolle der Täterpersönlichkeit und deren Lebensumständen, auch des Täterwillens, Faktoren, die Baumgarten gegenüber der das Strafverfahren auslösenden und das Strafmaß bestimmenden Typik eines faktischen Hergangs betonte. Den mit der Subjek93 „Aber es ist nichts Neues, daß die Wirksamkeit nicht von der Entsetzlichkeit der Strafdrohungen abhängt, sondern von der Gewißheit des Eintritts der Strafe.“ (W. Sarstedt, a. a. O., S. 37) 94 Vgl. G. Patzig, Philosophische Bemerkungen zu: Willensfreiheit, Verantwortung, Schuld, in: ders., Gesammelte Schriften I, Göttingen 1994, S. 190-208. 95 Vgl. dazu G. Küpper, Richtiges Strafen. Fragestellungen zwischen Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 11 (2003), S. 71. 96 Vgl. Günther, Die symbolisch-expressive Bedeutung der Strafe, in: Festschrift für K. Lüderssen, Baden-Baden 2002, S. 205-219; Hörnle, v. Hirsch, Positive Generalprävention und Tadel, GA 1995, S. 261-282.

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tivierungstendenz neu erstehenden Möglichkeiten und Versuchen für eine Gesinnungsjustiz stand Baumgarten fern. Freilich hat er sich in seinen späten Jahren in der DDR dieser Tendenz auch nicht öffentlich entgegengestellt.97 Das Problem der staatlichen Tendenzjustiz verschärfte sich hier auf absurde Weise dadurch, dass das Gericht die subjektive Tendenz des Täters gar nicht mehr heranziehen mußte, da der Gesetzgeber eine ganze Reihe staats- und gesellschaftsfeindlicher Tatbestände des politischen Strafrechts kodifiziert hatte, die sonst dem Ermessensspielraum des Gerichts überlassen geblieben wären. Von der Theorie der Schutzstrafe sah Baumgarten den Delinquenten den bürokratischen Verfügungen des Staates überantwortet. Die „Gesellschaft“ stehe für die Schutzstrafe im Mittelpunkt. Sie gewinnt jetzt Zug bei der sog. Terroristenabwehr. Manche volkstümlich gehaltenen, bemerklich konservativen Auffassungen erinnern noch an diese autoritär überziehende Interpretation des Strafrechts. So etwa, dass der Staat die Pflicht habe, das abendländische Menschenbild und in diesem Bezug die Menschenwürde zu schützen.98

12. Das Vergeltungsprinzip im Aufbau der Verbrechenslehre (1913) Rechtsbewusstsein und assoziierendes Verpflichtungsgefühl Baumgartens erstes umfangreicheres Werk, Der Aufbau der Verbrechenslehre (Tübingen 1913), behandelte in jeweils zwei Abschnitten zuerst das rechtslogische Thema des Strafrechtsverhältnisses und darauf eine materiale Verbrechenslehre, die vom Handlungsbegriff auf den Willensbegriff zurück ging und die Tatbestandsmäßigkeit zur Qualifikation der gesetzwidrigen Handlung genauer zu bestimmen suchte. Vor allem zeigte sie den Willen zu systematischer Geschlossenheit der Strafrechtstheorie. Das angewandte besondere Strafrecht ermangele einer theoretischen Basis und argumentiere mit wechselnden Grundbegriffen. Daraus entstünden Konflikte der Verantwortungszuweisung.99 Gegenüber der von v. Liszt vertretenen sog. Vorstellungstheorie der rechtswid-

97 Selbst für die rechtsstaatlichen Verfahren der Bundesrepublik sagte Sarstedt: „Der – wirkliche oder vermeintliche – Gewinn an ‚Gerechtigkeit‘, der mit dem Täterstrafrecht, mit zunehmender Subjektivierung der strafrechtlichen Tatbestände erzielt werden soll, muß nicht selten mit einer Einbuße an Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens erkauft werden.“ (W. Sarstedt, Täterstrafrecht und Rechtsstaat, in: ders., Rechtsstaat als Aufgabe, Berlin, New York 1987, S. 72) 98 Vgl. die Kritik dessen bei G. Patzig, Moral und Recht, in: ders., Gesammelte Schriften I, a. a. O., S. 140f. 99 Am Beispiel von Differenzen zwischen Teilrechtsordnungen wie dem Umweltstrafrecht, Verwaltungsrecht, Zivilrecht hatte Kurt Seelmann das generelle Problem der Einheit der Rechtsordnung behandelt. K. Seelmann, Verantwortungszuweisung, Gefahrensteuerung und Verteilungsgerechtigkeit. Zielkonflikte bei der Akzessorietät des Strafrechts gegenüber anderen Rechtsgebieten, in: K. Seelmann (Hg.), Aktuelle Fragen der Rechtsphilosophie, Frankfurt/M. 2000, S. 41-57. „Die postmoderne Skepsis gegenüber dem Einheitlichen und die Vorliebe für das Differente haben die Rechtstheorie erfasst.“ (S. 41)

12. DAS VERGELTUNGSPRINZIP IM AUFBAU DER VERBRECHENSLEHRE (1913)

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rigen Handlung suchte Baumgarten die Einheitsauffassung des strafbaren Willens von Ernst Belings Theorie der Tatbestandsmäßigkeit her zu entwickeln. Der Begriff der Tatbestandsmäßigkeit sollte genauer als der bloße Vorsatz des gewollten oder nicht gehinderten rechtswidrigen Erfolgs auf das Wollen aller Deliktmerkmale als Kriterium der Strafbarkeit sehen.100 Erst dann wäre die erforderliche einheitliche Strafrechtstheorie wirklich durchführbar und würde auch Sachverhalte wie die Kausalität der Unterlassung, den Versuch, den Gefährdungsvorsatz mit erfassen. Vom Begriff der Tatbestandsmäßigkeit her ergebe sich der Begriff eines einheitlichen Willens zur rechtswidrigen Handlung. Baumgarten vermisste die auf einer geschlossenen Strafrechtstheorie gegründete Lehre von der Bildung der Tatbestände des Besonderen Teils der Strafgesetze. Die allgemeinen Einleitungsbegriffe der Lehrbücher brächten nicht viel: Rechtsgutsverletzungen, Rechtsgutsgefährdungen oder gar die völlig abwegige Konstruktion des sog. „reinen Ungehorsams“. Auch die gebräuchlichen Unterscheidungen von Rechtsgütern des Individuums, der Gesellschaft oder des Staates vermöchten nichts über den Zweck der Strafe selbst zu sagen. Im 18. Jh. war noch gegen die Erziehungsstrafe mit dem Vergeltungsgedanken der Schuldstrafe eingewandt worden, jene ermögliche den Richtern zu große Beliebigkeit im Strafermessen. Baumgarten erkannte jetzt in der modernen Auffassung einen utilitaristischen Beiklang. Er selbst spreche nicht gegen voraussehenden Schutz der Gesellschaft durch Prävention und Erziehung, aber für eine entschiedene Beschränkung der Theorie der Schutzstrafe.101 Außer den befundenen Zweckmäßigkeitsmaßnahmen sei das tief eingewurzelte Rechtsgefühl zu bedenken, ein Entwicklungsprodukt des menschlichen Zusammenlebens. Hier ist bereits Baumgartens spätere Begründung des Rechts überhaupt aus einem assoziativen Verpflichtungsgefühl zu erkennen. Seine Wissenschaft vom Recht und ihre Methode von 1920/22 lehrte dann, das Recht erweise sich wohl äußerlich als vom Staat gesetzte Ordnung und Unterordnungspflicht. Es gehe aber hervor aus einem Assoziationsgefühl der Nachahmung und der Kooperation. Dieses Rechtsgefühl gebiete im Strafrecht, dem Verstoß gegen die Regeln des Zusammenlebens ein gegen den Täter sich richtendes Übel folgen zu lassen. Das sittliche Empfinden fordere das Vergeltungselement der Strafe, zumal es für Menschen unmöglich sei, „verstandesmäßig eine völlig zweckmäßige Maßregel gegen die Verbrecher ausfindig zu machen“.102 Hier kehrte Baumgartens Formel von der Unmöglichkeit einer völlig rationellen Strafe wieder. Er meinte darum, der Verbrecher solle erfahren, 100 Herbarts psychologisch argumentierendes Strafrecht beeinflusste Baumgarten wahrscheinlich auch in diesem Punkt. Vgl. Herbart zur Strafminderung bei unvollständigem Tatwillen im Exkurs dieses Kapitels. 101 Baumgarten hat die Thematik rückblickend, in einigen Punkten sich selbst korrigierend und mit hoher Würdigung v. Liszts, in seinen Grundzügen der juristischen Methodenlehre von 1939 zusammengefasst. (S. 127ff) Die strafrechtliche Tatbestandstheorie wird ebd., S. 137, resümiert. Vgl. a. Baumgartens Berliner Akademievortrag: Die Idee der Strafe, a. a. O. 102 Baumgarten, Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung (1911), in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, S. 25.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

dass einem Vergehen die eigene Erfahrung eines Übels kraft ethischen Gebotes folgen müsse. „Wie die Sünde, so die Strafe“, sage ein altes Rechts-Sprichwort. Vom strafrechtlichen Tatbestandsbegriff her müsse das Grundelement der Schuld als Kernstück des Strafrechts gesehen werden, das die für die Bestrafung ausschlaggebende Bedeutung besitze. Das sei für die Idee der Strafe unterm zentralen Gesichtspunkt der Vergeltung nicht die Rechtsgutverletzung, sondern „der schuldhafte Wille“.103 Das Tatbestandstheorem diene dazu, den freien Willen des Täters im Tatvorsatz festzuhalten und dessen Fähigkeit, die Zusammenhänge der einzelnen Deliktsbestandteile zu übersehen. Daran sei dann der Platz des Gewissens in der Vergeltungsstrafe gebunden. v. Liszt dagegen habe große Abneigung gehabt gegen alles, was freier Wille heiße.104 Gehe man aber von der Willensfreiheit der Person aus, so erlange der moralische Gehalt der Tat weit höhere Bedeutung und man werde zur Vergeltungstheorie neigen. „Wir sehen die Grundlage des heutigen Strafrechts in der Vergeltungstheorie, ohne deswegen den Einfluss der Interessen- oder Zwecktheorien als ausgeschlossen oder auch nur als geringfügig hinzustellen. Die Vergeltung fassen wir in dem Sinne der klassischen Theorien, speziell in dem Sinne einer durch sozial-ethisches Bedürfnis gebotenen Reaktion gegen das schuldhafte Wollen oder kürzer gesagt, die Schuld. Schuld ist uns der freie Willensakt antisozialen Inhalts.“105 Damit war der Schuldbegriff ins Zentrum des Strafrechts gerückt. Der Vorsatz und nicht das Bewußtsein der Strafbarkeit sollten den Schuldbegriff auf der Grundlage einer Theorie der realen Tatbestandsmäßigkeit der gegebenen Handlung bestimmen. Die allgemein geltende Definition lautete nach v. Liszts Lehrbuch: „Verbrechen ist die mit Strafe bedrohte, schuldhafte, rechtswidrige Handlung“. Baumgarten fügte der Formel ein, dass Verbrechen der Willensakt eines zurechnungsfähigen Menschen sei, „der sich auf die Verwirklichung eines der im Strafgesetz aufgezählten Tatbestände richtet und den Tatbestand tatsächlich verwirklicht“.106 Baumgarten nahm mit seinem Anschluss an Belings Tatbestandstheorem zugleich dessen Tendenz auf, Entlastungselemente in der Straftatsystematik zu fixieren und zu betonen. Der Angeklagte sollte erweiterte Möglichkeiten erhalten, mit objektiven Entlastungsgründen, etwa auch durch einen Freispruch, der harten Spruchpraxis des autoritären Staates entzogen zu werden. Klaus Marxen hatte diese einmal „die inquisitorische Grundstruktur im Verhältnis zwischen staatlicher Strafgewalt und betroffenem Bürger“ genannt.107

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Methodenlehre, S. 131 Ebd., S. 134. Verbrechenslehre, S. 110. Ebd., S. 89. Vgl. dazu auch den ausführlichen Rückblick in der Autobiographie: Liberalismus, S. 14ff. 107 K. Marxen, Straftatsystem, a. a. O., S. 118.

13. DER BEGRIFF DES RECHTSVERHÄLTNISSES

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13. Der Begriff des Rechtsverhältnisses Der nach systemfähigen Begriffen suchende Autor holte in seinem ersten größeren Werk weit aus. Voraussetzung des Verbrechensbegriffs sei der Begriff des Strafrechtsverhältnisses. Dieser wiederum setze den des Rechtsverhältnisses überhaupt voraus. Die Schrift fragte also zuerst nach „einer allgemeinen Theorie der Entwicklungsstadien des Rechtsverhältnisses“.108 Gemeint waren nicht historische Rechtsformen, sondern logische Konkretisierungsstufen des Begriffs. Er wollte damit die theoretisch ungenügende Bezeichnung von sog. keimhaften oder unfertigen Rechtsverhältnissen im Unterschied zu den an eine bestimmte rechtsgeschäftliche Bedingung geknüpften Verhältnissen überwinden, ebenso die Unterscheidungen von bedingtem und unbedingtem sowie von betagtem und fälligem Recht. „Das vor Erfüllung einer rechtsgeschäftlichen Bedingung bestehende Rechtsverhältnis ist geradeso gut ein Rechtsverhältnis wie das nach Eintritt der Bedingung oder das vor dem Abschluss des Rechtsgeschäfts gegebene. ... Bedingt sind nicht Realitäten wie die Rechtsverhältnisse, bedingt sind die Urteile, die den Imperativen zugrunde liegen, welche ihrerseits wieder die Rechtsverhältnisse hervorbringen.“109 Rechtsverhältnisse seien also auch vor der jeweiligen Aktualisierung nicht Gedankendinge, sondern Realstrukturen. Unabhängig von der wirklichen Bestrafung bestehe z. B. der Strafanspruch und dieser bilde ein Rechtsverhältnis. Das Rechtsverhältnis bestimmte Baumgarten hier wie dann auch in seiner dreiteiligen Wissenschaft vom Recht und ihre Methode (1920/22) als ein widerspruchsloses System von Imperativen zur positiv bestimmten Regelung der Lebensordnung.110 Positiv bedeutete den Unterschied zum weiten moralischen Verhältnis. Baumgarten sagte, das Recht unterscheide sich von der Moral nicht durch den Zwangscharakter, sondern durch seine Positivität im Sinne von detaillierten Festlegungen zweckmäßig korrespondierender Geltungen durch eine subjektive Vernunft (im Unterschied zur objektiv gewachsenen Moral). Die Auffassung des Rechtsverhältnisses in Analogie zur Soziologie des ökonomischen Wertverhältnisses (Paschukanis) lag Baumgarten fern. Seine These vom elementaren Rechtsverhältnis gehörte seiner sensualistischen analytischen Rechtsund Moralphilosophie zu, die alle komplexen sozialen Strukturen nicht mehr aus

108 Verbrechenslehre, S. 44. 109 Ebd., S. 45. Tatsächlich sind Normen und Gebote des Gesetzes nur je spezielle Erscheinungsformen von Rechtsverhältnissen, in denen Akteure stehen. Zahlungsforderungen, Eigentümeransprüche, alle punktuellen Ansprüche ergeben sich aus der gesetzten Relation des Rechtsverhältnisses, in dem die Menschen als punktuelle Gläubiger, Eigentümer usf. stehen. Es sind spezifische Relationen, die nur in der Gestalt von Begriffen ausgesprochen werden können und der Historischen Rechtsschule gleich lebenden Wesen erschienen, die sich teilen, verbinden und fortzeugen. Der Begriff des Rechtsverhältnisses stellt eine der entscheidenden Übernahmen der Relationskategorie der neuzeitlichen Naturwissenschaften dar, mit der diese die antike Überlagerung des Begriffs des wesentlichen Verhältnisses mit dem Substanzbegriff überwunden hatte. (Vgl. zur Historischen Rechtsschule in diesem Zusammenhang: O. Behrends im Nachwort zu R. v. Ihering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, Göttingen 1998, S. 117f.) 110 Recht I, S. 162.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

anthropologischen oder psychologischen Antrieben im Subjekt erklärte, sondern aus sozialen Relationen, die die Individuen in ihrer Lebenstätigkeit eingingen. Fürs Strafrecht bedeutete das Theorem des Rechtsverhältnisses, dass zwischen Täter und Opfer ein reales Verhältnis entstehe. Die Tat aktualisiere ein Rechtsverhältnis, das potentiell bereits bestehe. Baumgarten lehnte sich an die naturhistorische Methode R. v. Iherings an. Das Rechtsverhältnis entstand für die Zweckjurisprudenz aus dem Interessenkampf, unter den auch der Kampf um Gerechtigkeit schlechthin fiel. Dadurch befänden sich die Individuen gleichsam naturgesetzlich in Rechtsverhältnissen. Baumgarten befürwortete diese etwas direkte Art der Konstitution einer sozialen Formbestimmung. Näher nannte er als das Eigentümliche des Rechtsverhältnisses z. B. dessen Kausalgehalt. Es beinhalte Befehle, Drohungen, Verheißungen, Machtgewährungen.111

14. Rückführung materialer Elemente ins Strafrecht. Bindung des Strafrechts ans rechtliche Volksempfinden. Kritik der Begriffsjurisprudenz Für seinen Begriff des Rechtsverhältnisses berief sich Baumgarten auf das allgemeine Rechtsempfinden, das in seiner ganzen Rechtstheorie eine große Rolle spielte. Ein „sozial-ethisches Vergeltungsbedürfnis“ ergebe sich aus dem indeterministischen Personbegriff. Eine Reaktion, „es hätte anders gehandelt werden können“, sei für die Mehrheit der Rechtsgenossen bei einem Vergehen selbstverständlich.112 Baumgarten hatte seine psychologische Strafphilosophie gegen den Formalismus der Begriffsjurisprudenz gerichtet, die unabhängig von moralischen und sozialen Aspekten lückenloses positives Recht dachte. Er führte mit der psychologischen Unterbauung des Strafrechts, wie es v. Liszt mit soziologischen Fragestellungen zum sozialen Gesamtzweck des Strafrechts getan hatte, materiale Gesichtspunkte in die Rechtswissenschaft zurück. Die Begriffsjurisprudenz hatte gegenüber der theologischen Rechtsbegründung und für die Fixierung einer antiständischen und durch Formalisierung objektiven Rechtsauffassung ihre Bedeutung besessen. Das entsprach der Rechtserwartung des liberalen und durchaus kaisertreuen Bürgertums – auf jeden Fall für den zivilrechtlichen wie für den strafrechtlichen Verkehr unter seinesgleichen. Der Rechtspositivismus bildete eine Parallelerscheinung zur Hochschätzung der sog. exakten Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Die Juristen waren vom Bestreben gleichartiger Präzision geleitet. Baumgarten hatte noch im hohen Alter – und damals in der DDR mit kritischer Absicht – die Leistung der Begriffsjurisprudenz sehr anerkannt. Der „Begriffskultus“ sei von den Modernisten zu Unrecht kritisiert worden. „Dem Recht, das unter jedem Regime das Gesellschaftsleben zu organisieren und zu disziplinieren hat, sind scharf abgegrenzte Rechtsbegriffe unentbehrlich ...“ Gerichtliche Entscheidungen müssten tunlichst voraus-

111 Recht I, S. 328, zu Ihering II, S. 54f . 112 Ebd., S. 111.

14. RÜCKFÜHRUNG MATERIALER ELEMENTE INS STRAFRECHT

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sehbar sein. „Die Begriffsjurisprudenz ist ein Teil der Rechtstechnik und daher durchaus nicht immer notwendig lebensfremd, wie von den Modernisten behauptet wird.“113 Zwei allgemeinere Ursachen hatten zum Bedürfnis geführt, den Rechtspositivismus der Begriffsjurisprudenz zu überschreiten und sich wieder materialen Rechtsaspekten zuzuwenden. Der Formalismus der Begriffsjurisprudenz löste den materialen Begründungszusammenhang auf, den die historische Schule in einem spekulativen ontologischen Sinne unter Zuhilfenahme romantischer und theologischer Prämissen vertreten hatte. Nun wurde dieser notwendige, einseitige Schritt zu abstrakt unmittelbarer Herausstellung der Rechtsform wieder abgelöst durch die Rückbeziehung der Form auf das sich ausfaltende soziale Geschehen. Das geschah, indem die wesentlichen beiden Errungenschaften der Begriffsjurisprudenz festgehalten und in erweitertem Zusammenhang fortgeführt wurden. Das war die logisch immanente Begründung der Rechtsform lediglich aus einem formalen Ordnungsbedürfnis sozialer Ereignisse schlechthin. Daraus ergab sich zum anderen die Konzentration auf innersystematische Widerspruchsfreiheit als Kriterium sog. richtigen Rechts. Die von Baumgarten vertretene Rückkehr materialer Aspekte des Rechts von persönlichkeits- und sozialpsychologischen Gesichtspunkten her betonte zur gleichen Zeit Max Weber in seiner Rechtssoziologie (1911/12, publ. 1922). Der äußere Handlungserfolg verlange bei entwickelter kapitalistischer Produktions- und Austauschform eine „gesinnungsethische Rationalisierung“. Große Teile des Wirtschaftens seien „nur auf Grund weitgehenden persönlichen Vertrauens auf die materiale Loyalität des Verhaltens anderer möglich“. Darüber hinaus schiebe „die Rationalisierung des Rechts durchweg an die Stelle der Wertung nach dem äußeren Verlauf vielmehr die Gesinnung als das eigentlich Bedeutsame in den Vordergrund.“ Im Kriminalrecht dominierten rationale ethische und utilitaristische Strafzwecke und das trage „ebenfalls zunehmend unformale Momente in die Rechtspraxis hinein.“114 Weber fasste hier materiale psychische und moralische Aspekte ganz innerhalb der Stabilitätskriterien des bürgerlichen Wirtschaftsverkehrs. Das ist nicht Baumgartens Blickrichtung, dem es mit seinem psychologisch begründeten Vergeltungsstrafrecht gerade um ein Korrektiv gegen den alltagspraktischen Utilitarismus der Kapitaleigner als der dominierenden intersubjektiven Wahrnehmung ging. Der Zug zur Erneuerung des Rechts durch Wiederverbindung mit materialen Gesichtspunkten speiste sich aus unterschiedlichen gleichzeitigen Tendenzen. Baumgarten hatte diese Arbeitsrichtung in seiner Frühzeit psychologisch und moralisch, seit den dreißiger Jahren dann zunehmend gesellschaftskritisch verfolgt. Sein Strafrecht von 1913 enthielt mit den materialen Aspekten eine kritische Öffnung zu Aspekten der „Volksjustiz“, die nichts mit „Kadijustiz“ gemein hatten. Das Rechtsempfinden und die Rechtserwartung des einfachen Bürgers bildeten das eigentlich bewegende Element der Strafrechtstheorie Baumgartens. „Wenn wir der Vergeltungstheorie zuneigen, so bestimmt uns dazu vor allem die Rücksicht auf die vor dem Forum der Vernunft nicht zweifelsfrei zu legitimie-

113 Liberalismus, S. 25. 114 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd., Tübingen 21925, S. 506.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

renden althergebrachten Anschauungen des Volks.“115 Zwischen Baumgartens früher und dessen späterer Strafrechtsauffassung besteht eine durchgehende Tendenz der Spezialprävention zur Ausprägung materialer gesellschaftstheoretischer Gesichtspunkte. Tatsächlich ist auch bei entwickelter Rechtsstaatlichkeit in allen Rechtsbereichen ein gewisser Konflikt zwischen dem Rechtsformalismus und den materialen Voraussetzungen der Rechtsgenossen permanent, das geschriebene Recht für sich gewährleistet zu sehen. Von der materialen Seite betrachtet, kann das Recht dann bei den Armen geradezu als der Lückenfüller erscheinen, der das Schlimmste verhütet, aber zugleich mit der Vergeblichkeit der hohen Erwartung auf Gerechtigkeit abspeist. Materiale Faktoren sind es, die wesentliche Veränderung des Rechts bewirken. M. Weber hatte den kritischen Aspekt an der Differenz von formaler Rechtsebene und materialer psychischer und sozialer Wirklichkeit ebenfalls gesehen, die oberflächlich nur als ein Problem der relativen Rechtsanwendung erscheint: „Denn jene durch formale Justiz gewährte maximale Freiheit der Interessenten in der Vertretung ihrer formal legalen Interessen muss schon infolge der Ungleichheit der ökonomischen Machtverteilung, welche durch sie legalisiert wird, immer wieder den Erfolg haben, dass materiale Postulate der religiösen Ethik oder auch der politischen Räson verletzt erscheinen.“ In vielen Fällen verfehle die formale Justiz „inhaltliche Gerechtigkeitsideale durch ihren unvermeidlich abstrakten Charakter“.116 Baumgartens frühes Vergeltungsstrafrecht suchte durch die psychologischen Aspekte erlebnishafter Begegnung zwischen Opfer und Täter den materialen Boden des volkstümlichen Rechtsempfindens gegen die verschlossene „Rechtsmaschinerie“, wie v. Ihering es einmal nannte117, zurückzugewinnen. In viele Rechtsgebiete (Mietrecht, Rechte der Kinder, Beseitigung herkunftsbezogener Bestimmungen u. a.) sind inzwischen Schutzbestimmungen eingelassen worden, um der strukturellen Ungleichheit zwischen den aufeinander treffenden verschiedenen Interessengruppen Rechnung zu tragen. Im deutschen Strafrecht erfolgten die ersten grundsätzlichen Aufnahmen des v. Lisztschen sozial humaneren Zweckgedankens, dem Baumgartens moralphilosophisch begründete psychologische Straftheorie ebenfalls diente, gegenüber der herrschenden Interpretation der Vergeltungslehre erst in der Weimarer Republik. 1923 vereinbarten die Länder im Reichsrat ein Stufensystem der Resozialisierung. In der Bundesrepublik setzte seit dem Ende der sechziger Jahre eine Erneuerung des Strafrechts weg von der Tradition des Vergeltungsstrafrechts ein.118 Die Freirechtsbewegung für schöpferisch rechtsbildendes Wirken der Richter und für der Lebenswirklichkeit nähere Kriminalverfahren hatte durch verfahrensrechtliche Lockerungen gleichsam von „innen“ die Verbindung von Gesetz und materialem individuellem Fall geschmeidiger machen wollen. Die Wendung zu den materialen Gegebenheiten vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s nicht nur im Strafrecht. Die deutsche Jurisprudenz reagierte auf die Dyna115 Verbrechenslehre, S. 207. 116 M. Weber, a. a. O., S. 470 117 R. v. Ihering, Der Kampf ums Recht, Wien 1872, S. 14 (photomech. Nachdruck Freiburg, Berlin 1992). 118 Vgl. U. Wesel, Geschichte des Rechts, München ²2001, S. 468, 561.

14. RÜCKFÜHRUNG MATERIALER ELEMENTE INS STRAFRECHT

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mik und auf die sozialen Gegensätze der sich entfaltenden kapitalistischen Industriegesellschaft. Eine große Rolle spielte bei v. Ihering und v. Liszt die Überwindung der konservativen Restaurationsperiode der Jahrzehnte nach der gescheiterten verfassungsrechtlichen Bewegung der vierziger Jahre und der Märzrevolution. Ihering nannte Stahl nur noch eine Karikatur der konservativen Romantik Savignys.119 Dem schloss sich dann die Wahrnehmung der sog. Arbeiterfrage in der Volkswirtschaftslehre (Brentano, Schmoller), in der philosophischen Sozialtheorie (F. A. Lange, Herkner) und in der Rechtswissenschaft (A. Menger) an. Beim Strafrecht genügte der in Bewegung geratenden Klassengesellschaft am Ende des 19. Jh.s die Verbindung des Feuerbachschen strafrechtlichen Grundsatzes der Generalprävention mit der Begriffsjurisprudenz nicht mehr. Mit seiner subjektiven Auffassung des Verbrechens als eines Willensaktes entschied Baumgarten, dass die Fahrlässigkeitsdelikte keine Verbrechen im eigentlichen Sinne darstellten und dass bei der unbewussten Fahrlässigkeit kein schuldhaftes Wollen vorliege.120 Baumgartens psychologische Qualifizierung von Schuld und Strafe spricht dem Menschen hohen rationalen Anspruch zu. Alle Schuld kann im Grunde nur bewusste Schuld sein. Irgendeine Vorstellung eines schädlichen Erfolgs oder einer Pflichtwidrigkeit, um die Fahrlässigkeitsschuld festzuhalten, könnten nicht den wirklichen Sachverhalt verdecken, dass Schuld ein Bewusstsein der Verletzung oder Gefährdung enthalten müsse. Baumgarten gründete das Strafrecht entschieden auf der Ethik.121 Fast wie bei Binding, doch ohne dessen begriffsjuristische Konsequenzen, hieß es dann bei Baumgarten, ein Unrechtsbewusstsein werde immer vorhanden sein bei einer Rechtsgutverletzung. Denn das ursprüngliche Sympathiegefühl zwischen den Menschen gebe mit dem Bewusstsein des moralisch Guten auch die Voraussetzung für die Anerkennung des Rechts. Im Philosophiekapitel wird der Bezug der Baumgartenschen Strafrechtsauffassung zur sensualistischen Moralphilosophie und deren Altruismus-Theorie deutlich werden, insbesondere zur von A. Smith kommenden Theorie der Sympathiegefühle. Smith verstand den Anblick fremden Leids als eine der Wurzeln des Altruismus. Baumgarten meinte nun, im Täter werde durch Einsicht in das zugefügte Leid seine Altruismus-Anlage aktiviert. Im übrigen dachte er auch hier anti-etatistisch. Er gab den kulturellen und gesellschaftstheoretischen Rahmen seiner Strafrechtslehre mit den Worten zu erkennen: Würden unbewusste Fahrlässigkeit und unausgeführter Vorsatz strafrechtlich qualifiziert, „so ergibt sich ... die absolute Herrschaft eines unumschränkten Güter- und Motivabwägungsprinzips, die dem Rechte die Festigkeit raubt und zu einer unerträglichen Vormundschaft der Behörden über die einzelnen führt.“122 Baumgarten verstand

119 R. v. Ihering, Der Kampf ums Recht, a. a. O., S. 17. 120 Verbrechenslehre, S. 116ff. 121 „Wir weigern uns, den Gegnern auf das Gebiet der Erkenntniskritik und Metaphysik zu folgen, weil u. E. der Jurist die unmittelbar evidenten Data der sozialethischen Beurteilung als sein Fundament ansehen und in der Sprache des täglichen Lebens zum Ausdruck bringen darf.“ (Ebd., S. 151) 122 Ebd., S. 146.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

seine psychologische subjektive Verbrechens- und Strafauffassung als eine Verteidigung der Zivilgesellschaft gegen sich selbst überlassenes Wirken der Rechtsorgane des Staates. Der pragmatisch-psychologische Standpunkt und die induktive Methode bestimmten Baumgartens Vorbehalte gegen die Theorie der Generalprävention. Die Vergeltungstheorie lasse die Merkmale, die zum Tatbestand einer Rechtsgutverletzung gehören, klar und nachvollziehbar angeben. Die Präventionstheorie aber könne oft nur mit Schwierigkeiten entscheiden, ob die Verbrechensmerkmale auch Tatbestandsmerkmale seien. Die Generalprävention nehme den Täter nicht als Person, sondern als Exemplar, das unter eine Rechtsordnung falle. Darum stimme die Präventionstheorie bei der strafrechtlichen Qualifizierung auch das Erfordernis der Kenntnis der Tatbestandsmerkmale herab. Doch „zu einem jeden Verbrechen ist das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit erforderlich. Anders ausgedrückt: Die Rechtswidrigkeit ist Tatbestandsmerkmal.“ Erlaubtes und Verbotenes würden vom Gesetzgeber vielfach willkürlich festgesetzt „und es ist daher durchaus nicht notwendig ein Zeichen antisozialer Gesinnung, wenn jemand die Grenze anders gezogen glaubt, als es dem positiven Recht entspricht.“123 Baumgarten warnte vor der immer vorhandenen Tendenz, für die Bedingungen der Strafbarkeit wie auch für den Rechtsschutzanspruch vom Standpunkt des Beamten aus, wir könnten heute sagen, allein unterm Gesichtspunkt wirklicher oder vermeinter Erfordernis der Staatssicherheit, auf die Voraussetzungen konkreter Verfolgungs- oder Vollstreckungsakte zu sehen. Seinen Vorbehalt gegen die bürokratische Verfügungsgewalt der staatlichen Institutionen über die Individuen und gegen die Theorie der Schutzstrafe hatte Baumgarten bereits in einer grundsätzlichen Gegenüberstellung Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung (1911) formuliert.124 Er sah eine strikte Alternative: versuchte Bewahrung der Gesellschaft vorm Verbrechen durch Strafzwang oder „Herbeiführung einer echten Sinnesumkehr, einer inneren Läuterung“ durch das vom verbrecherischen Willensakt selbst heraufbeschworene Strafleiden.125 Er nannte es ein geradezu natürliches Gefühl, „daß der Übeltat eine Übelzufügung kraft ethischer Gebote folgen müsse, ganz ohne Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit solcher Übelzufügung für dritte Personen.“126 Die dritte Person ist hier kein Geringerer als die Gesellschaft. Der Staat spreche sich mit der Theorie der Schutzstrafe die Verfügung zu, was der Gesellschaft diene und was ihr schade. Es komme aber darauf an, die Zivilgesellschaft von der zwischenmenschlichen Einstellung der Bürger her zu stärken.

123 Ebd., S. 181f. 124 „... daß der Bürger keinesfalls dem freien Ermessen des staatlichen Beamten ausgeliefert werden soll“. (Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 24 (1911), H. 4, S. 387-398; wieder in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, S. 18-27. 125 Recht I, S. 375. 126 Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung, a. a. O., S. 21.

15. DIE FRAGESTELLUNG VON 1922

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15. Die Fragestellung von 1922: gegen Praktizismus; für eine philosophisch geführte Strafrechtswissenschaft Das umfangreiche Methodenwerk von 1923, Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode, mit dem Baumgarten begann, die juristische Thematik fortan im Zusammenhang einer generellen philosophischen Theorie darzustellen, wiederholte und systematisierte in einem konzentrierten Strafrechtskapitel des zweiten Teils die psychologische Vergeltungstheorie. Es gab auf 50 Seiten einen Abriss der Strafrechtsdiskussion der Zeit. Eine große Zahl strafrechtlicher Themen wurde unterm Leitgedanken des Strafzwecks skizziert, der von den meisten Arbeiten der Zeit außer Acht gelassen worden sei. Baumgartens kritische Bemerkungen zur zeitgenössischen Strafrechtswissenschaft richteten sich darum gegen einen kriminalpolitischen Praktizismus und forderten die Rückbesinnung auf eine philosophisch geführte Strafrechtstheorie. Der theoretische Sinn Karl Bindings (1841 – 1920) wurde hervorgehoben, der bei Vielen verloren gegangen sei.127 Wie mit einer fixierten Begriffsjurisprudenz würden die Worte der Gesetze ohne Rücksicht auf den ganzen Strafzweck ausgelegt. Zentrale strafrechtliche Themen finden sich umrissen: Wille oder Handlung, die Kausalität beim Delikt, die Unterlassung, Fahrlässigkeit, der dolus eventualis, der Versuch, der Irrtum u. a. Die theoretisch interessanten logischen Bezüge der Themen finden sich nicht aufgenommen. Die begrifflichen „Merkmale“ der speziellen strafrechtlichen „Fälle“ bieten ja tatsächlich nur den Rahmen der Beurteilung meist sehr komplexer Sachverhalte. A. Kaufmann hat das Erfordernis wechselseitiger Annäherung von Vorverständnis, Rechtssätzen und „Fällen“ mit der Logik einer „hermeneutischen Spirale“, anstelle der begriffsjuristischen Deduktion, erörtert. Das hatte den formalen Zirkel handhabbar zu machen gesucht zwischen Verständnis des Falles, der zum Sachverhalt konstruiert werde, und der Spezifizierung der Gesetzesnorm zu einem Tatbestand.128 Das wurde in der Literatur, z. B. für die Ermittlung eines bedingten Vorsatzes oder der bewussten Fahrlässigkeit, diskutiert und es wird inzwischen eine typologische Methodenlehre im Gegensatz zum praktizistischen begriffsdefinitorischen Verfahren, dieser „philologischen Artistik“, vorgeschlagen.129

127 1920 hatte Baumgarten einen Nachruf auf Binding veröffentlicht, der ebenfalls hervorhob, dass der große Kriminalist die strafrechtlichen Fragen immer auf ethische Probleme und auf Postulate der Gerechtigkeit bezogen habe. Bindings Begründung der Strafe auf den Normen als Rechtsbefehlen, so dass das Verbrechen als eine Verletzung des staatlichen Rechts auf Botmäßigkeit und die Strafe als Bewährung der Rechtsautorität gegenüber Ungehorsam zu qualifizieren sei, wies Baumgarten ab. (Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 33 (1920), S. 187-191, Nachdr. in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, S. 28-33) 128 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, München ²1997, S. 82, 89 u. ö. 129 Das Strafrechtsdenken sei trotz gegenteiliger Versicherungen noch immer formell begriffsjuristisch geprägt. „Erst die typologische Begriffsbildung ermöglicht es – und zwar durch Verknüpfung von additiver und disjunktiver Definitionsweise –, den extensionalen Bereich in seiner gesamten Breite und Tiefe einzufangen und dabei die Unterschiede des jeweiligen Einzelfalles differenziert kenntlich zu machen: Denn der Typusbegriff setzt sich aus einer Mehrzahl von Kategorien zusammen ....“ Er fülle das jeweils zum Kriterium erhobene Merkmal (etwa Billigung der Tat,

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

Der Ton des Strafrechtskapitels von 1922 war kritisch gegenüber einer „Strafrechtswissenschaft der Zeit“ und der „modernen Kriminalistenschule“ mit deren „sich ins Endlose verlierenden Utilitätspolitik“. Ägyptische Finsternis herrsche auf dem Gebiet der Methodologie. Der Einwand kehrte wieder, „die Anhänger der modernen Richtung der Strafrechtswissenschaft“ erlägen dem Irrtum, von den Standpunkten der Kriminalund Sozialpolitik sowie der medizinischen Therapie her mit einer „auf das Wohl der Gesamtheit abstellenden Utilitätspolitik“ bestimmen zu wollen, wie die Gesetzgebung auszugestalten sei.130 Seine antietatistische Position ergänzte Baumgarten gern mit seiner empiristischen Erkenntnislehre und hielt noch an seinem früheren Vorbehalt fest: Man müsste der modernen Theorie der Schutzstrafe ohne weiteres beitreten, „wenn nicht die Auffindung einer völlig rationellen Strafe ein Ding der Unmöglichkeit wäre“.131 Das meinte, jede Strafe überziehe ohnehin den allemal individuellen Fall mit einem Schematismus, so dass deren Schutzzweck mit dem Bezug auf die Gesellschaft gleich ins Unbestimmte gerückt werde. Energisch vertrat Baumgarten noch einmal die Vergeltungstheorie der Strafe. Sie fasse das Verbrechen richtig als „freien schuldhaften Willensakt“, so dass bei der Einheit des körperlichen Verhaltens eine Mehrheit derartiger Willensakte ausgeschlossen erscheine.132 Die Straftat, als Handlung gefasst, führe dagegen zu äußeren Einflüssen auf den Täter, verringere die individuelle Willensfreiheit zugunsten des Determinismus und tendiere zur Zwecktheorie der Strafe. Am dolus eventualis suchte Baumgarten die Schwäche der Handlungsauffassung der Straftat und der Zwecktheorie der Strafe zu zeigen. Zum mindesten müsse man doch „ungenügender Abscheu“ konzidieren, wenn die Tat als verdammenswert erschienen sei. „Mit solcher ethisch orientierten Psychologie“ sollte man die Strafrechtsprobleme zu lösen suchen. Statt dessen mache sich „unsere automatenhaft gewordene Strafrechtswissenschaft“ an die Untersuchung der Frage, wie ein Willensinhalt zu definieren sei. Es werde mit Formeln der Kausalität gearbeitet, die man eher in einem Kompendium der Scholastik erwarte als in juristischen Abhandlungen. „Da die Strafe in ethischen Prinzipien ihre Erklärung findet und der Sprachgebrauch des täglichen Lebens in weitem Umfang durch ethische Erwägungen beeinflusst wird“, bestehe keine Gefahr, die Strafrechtslehre mit allgemeinsprachlichen Termini zu beschädigen. Die Strafrechtswissenschaft „darf nicht einen Begriff des Willens bilden, der in

Ernstnahme der Tatbestandsrealisierung, Abschirmung der Gefahr, Einsichtigkeit des Gefährdungspotenzials usf.) flexibel aus, „und erst diese sind es, welche die Entscheidung in Wahrheit bedingen, nicht schon das angeführte Merkmal selbst.“ (G. Duttge, Zum typologischen Denken im Strafrecht. Ein Beitrag zur „Wiederbelebung“ der juristischen Methodenlehre, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), S. 124, 110) Vgl. bereits K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft, Heidelberg 21968. 130 Recht II, S. 372ff. 131 A. Baumgarten, Alte und neue Strafrechts- und Zivilrechtsauffassung (1911), in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, S. 20. 132 „Die vergeltende Strafe darf nur den Taterfolg berücksichtigen, der durch Vermittlung der Vorstellung in den freien Willen eingegangen ist.“ (Recht II, S. 385)

16. RÜCKBLICK

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striktem Widerspruch mit dem Willensbegriff des täglichen Lebens steht“.133 Ethische Grundlegung des Strafrechts, Willensfreiheit der Täter-Individualitäten und Vergeltungsprinzip nahe an den lebenspraktischen Auffassungen und deren ethischen Qualifikationen – das stellte Baumgarten der „ateleologischen begriffsjuristischen Methode“134 des ethischen Determinismus, der Handlungsauffassung und den Präventionstheorien der Strafe gegenüber. Diesen Kontrast meinte das Postulat, die Strafrechtswissenschaft wieder philosophisch und im Gesamtzusammenhang einer systematischen Rechtswissenschaft aufzufassen.

16. Rückblick: Baumgartens frühe psychologische Verbrechensund Straftheorie Baumgarten schien mit den Leitprinzipien der Schuld und der Vergeltung eine absolute Straftheorie zu vertreten, wie sie z. B. auch im Zusammenhang mit dem Entwurf zur deutschen Strafrechtsreform von 1962 wieder bekräftigt worden war.135 Doch Baumgartens Strafphilosophie zeigte mit dem empiristischen Gesamtcharakter Eigentümlichkeiten einer absoluten Theorie. Er konzentrierte das Strafrecht aufs Täter-Opfer-Verhältnis. Damit bleiben Verbrechen und Strafe innerhalb der subjektiven Beziehung zweier Personen. Die psychische und ethische Unmittelbarkeit der Fragestellung engte den sozialen Horizont ein. Die Analogie von Verbrechen und Strafe mit einem Vertragsverhältnis lag Baumgarten ganz fern. Das marktähnliche Äquivalenzdenken, mit dem Vergehen und Strafe abgetan werden, rechnete er zu den Bedenklichkeiten in der Praxis wie in der Theorie. Ihn leitete das Bestreben, soziales Geschehen von solcher personaler Intensität, wie es Verbrechen und Strafe sind, im Nahen der erlebnishaften Erfahrung zu halten. In seiner Distanz zum Apparat staatlicher Behörden, der das Allgemeine der Rechtsausmittelung übernimmt, ließ Baumgarten zurücktreten, dass ein Wesenszug der Strafe darin besteht, das Geschehen unpersönlichen Charakter annehmen zu lassen und den vorerst verborgenen allgemeineren Charakter der ganz in die Eigenheit des Täters versenkten Tat zur Erscheinung zu bringen. Verwunderlich bleibt am Vergeltungsstrafrecht des frühen Baumgarten, dass der Vergeltungsgedanke gegenüber einer Schuld nicht mit dem Zweckgedanken der Strafe in Bezug auf die Gesellschaft verbunden ward. In der sensualistischen Tradition fand sich das klar ausgesprochen. Grotius hatte in seinem eingehenden Strafkapitel nach der elementaren Formel von der Strafe als einem zu erleidenden Übel, weil man ein Übel getan habe, in den nächsten Paragraphen sogleich mit dem Thema des Strafzwecks die unmittelbare Folgerung jener allgemeinen Bestimmung der Strafe behandelt. Wie überhaupt hinter Grotius’ humanistisch ausschweifendem Zitatenstil, hinter dieser rechts133 Ebd., S. 386f. 134 Ebd., S. 384. 135 Der Entwurf hält „mit neuer Entschiedenheit am Gedanken sühnender Vergeltung und damit an einem echten Schuldstrafrecht“ fest. (H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, Berlin 1962, S. V)

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

historisch ausleuchtenden Methode, eine genaue Gedankenfolge und beim Strafrecht speziell ein menschlich zurückhaltendes, die Würde des Unglücklichen im Blick haltendes Denken stand. Grotius leitete seine Darstellung der Strafzwecke mit der Frage ein: „Was soll aber von der Strafe gelten, soweit sie nicht die Vergangenheit beachtet, sondern die Zukunft sichern soll.“136 Die Absicht des Strafenden dürfe sich nicht mit dem Übel des Anderen begnügen. Es würde sonst der Affektbereich der Seele, wie das 17. Jh. sagte, dominieren, der aber vom Vernunftteil gezügelt und geleitet werden solle. Je weniger ein Mensch des Gebrauchs seiner Vernunft mächtig sei, desto mehr neige er zur Rache. Grotius brachte für die Zweck- und Besserungsstrafe die ontologische repraesentatio-Lehre ins Spiel, nach der das Falsche eigentlich ein Trug sei, den es aufzuklären gelte. Hegels These von der Unwirklichkeit des Verbrechens gibt diese ontologische Tradition noch zu erkennen. Grotius nannte das Verbrechen eine vom trügerischen Affekt fehlgeleitete Überlegung. Baumgarten hat das aus der englischen sensualistischen Umbildung übernommen: Die Straftat ist ein irrtümliches Abweichen vom adäquaten Glücksstreben. Auch bei Grotius hatte sich mit dem Irrtumsgedanken der Strafzweck verbunden, den Delinquenten über seinen Fehler aufzuklären. Das sollte nach Grotius durch eine vom Straftäter als angemessen zu akzeptierende Strafhöhe und durch Rücksichten erreicht werden, die darauf zielen, dass der Gestrafte wieder in die menschliche Gesellschaft zurückkehren werde. Herbart hatte in seiner Strafrechtsphilosophie, in der er Grotius hervorhob (und Kants, Fichtes, P. J. A. Feuerbachs Auffassungen zurückwies), gut gesagt, es komme eben auf dieses Leben nach der Strafe an. Doch Strafprozess und Vollzug seiner Zeit, fügte Herbart hinzu, machten die Menschen oft schlechter, als sie zuvor gewesen seien.137 Die Liebe fordere, niemand für ganz verderbt zu halten, und Grotius wendete das gegen die zu häufige Verhängung der Todesstrafe. Eine Eigentümlichkeit der Baumgartenschen Auffassungen besteht darin, dass weder in der Schrift über die Ideal- und Gesetzeskonkurrenz noch in der systematischen Verbrechenslehre rechtspraktische Fragen eine Rolle spielen. Zur moralischen Erziehung des „Verbrechers“, heißt es einmal, gehörten eingehende Sachverhaltsermittlung, Vermeidung kurzer Freiheitsstrafen, Resozialisierungsmaßnahmen u. a. Sonst bleiben Rechtspraxis und insbesondere Strafprozess dem akademischen Horizont fern. Eigenartig genug, erkannte der junge Baumgarten mit einem Mal auch ein Erfordernis an, die Gesellschaft vor denjenigen zu schützen, „denen ein unausrottbarer Hang zum Verbrechen eingepflanzt ist“, ebenso „gewerbsmäßige Verbrecher, Vagabunden, Trunkenbolde, liederliches Volk aller Art“. Aber gegenüber dem „normalen Verbrecher“, der zu keiner Gruppe gehöre, dem im Interesse der Gesellschaft eine strenge Behandlung gebühre, müsse der Vergeltungsgedanke die Grundlage des Strafrechts bilden.138 Das würde für die Gerichte nicht leicht zu entscheiden sein, wer beim liederlichen Volk einzustufen und wer als normaler Verbrecher anzuerkennen sei. Baumgarten urteilte offenbar etwas

136 H. Grotius, Das Recht des Krieges und des Friedens, a. a. O., S. 63. 137 Vgl. den Exkurs zu Herbart in diesem Kapitel, S. 128ff. 138 Verbrechenslehre, S. 23.

16. RÜCKBLICK

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unsicher in Bezug auf die den Angeklagten herabsetzende Prozessführung und auf den erniedrigenden Strafvollzug seiner Zeit. Er kannte auch die zum Strafprozess unterm Gedanken des Schutzes der Gesellschaft hinzutretende Praxis, den Straftäter Verachtung spüren zu lassen, ihn durch Strenge einzuschüchtern und ihn durch Demütigung doch faktisch auf Wiederholungsdelikte hinzustoßen. Es gab nicht nur keine Wiedereingliederung des Menschen nach Haftende, sondern der Betreffende galt oft zeitlebens als Verbrecher schlechthin. Baumgartens Polemik gegen die Schutzstrafe war vor allem von den theoretischen Kontroversen der Zeit, kaum von der hinter dem Schutzstrafengedanken stehenden Gerichts- und Verwahrpraxis bestimmt. Baumgartens Augenmerk war ganz auf die Rechtsbegründung, gar nicht auf die Rechtsanwendung gerichtet. Die Tatbestandsthematik behandelte er näher. Ihn interessierte dabei das logische Thema. Wie hoch ist der Erfolg anzuschlagen – abgesehen von kleinen ländlichen Gemeinschaften oder im aktiven Kreis von Kleingruppen, in denen moralische Sozialisierungskriterien eine wesentliche Rolle spielen –, die Zufügung von Leid mit dem Vergehen durchs Gegenleid der Strafe zurückzudrängen? Der bei Conan Doyle literarisch wirkungsvolle Kettenmord unter den Familienerben erhob bereits die erlebnishaft unmittelbare Straftat zu einer charakteristischen gesellschaftlichen Erscheinung, die am wirkungsvollsten in exklusiven Kreisen anzusiedeln war. Es enthielt auch Trostfunktion für weniger Begüterte, nicht dazuzugehören. Ursprünglich hatte die „soziale Frage“ bei Baumgartens Entscheidung für die Schuldstrafe keine Rolle gespielt. Er war in seiner Frühzeit weit von der sozialistischen Position A. Mengers entfernt gewesen.139 Doch auch v. Liszts Strafrechtsreform war ja nicht aus einer Sympathie für die proletarischen Massen entstanden. Liszt sah ein elastischeres Ordnungserfordernis des Strafrechts unter den Bedingungen der entwickelten kapitalistischen Massengesellschaft. Baumgartens Blick war, ohne Augenmerk für soziale Nöte, auf die Unverletzbarkeit des freien Bürgers und gegen die inneren Machtstaatendenzen gerichtet gewesen. Die spätere Abhandlung aus seiner ersten Baseler Zeit (1923 – 1930), Die Gesamtpersönlichkeit im Licht der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie (1927), nahm dann etwas zusammenhanglos die Scheidung sozialer Klassen auf, die über die politischen Parteien auch die Gesetzgebung beeinflussten.140 Baum-

139 A. Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890, 41908; Die sozialen Aufgaben der Rechtswissenschaft, 1895. 140 „Hinter den Forderungen der politischen Parteien steht nicht ein konkret-individuelles, sondern das typische Lebensbedürfnis sozialer Klassen. Solche Forderungen werden mit einer Wucht der Energie vertreten, die die Kraft eines Einzelnen weit übersteigt. Damit ist nicht gesagt, dass die Individualpsychologie außerstande sei, die Lebensbetätigungen der politischen Parteien zu erklären. Wer sich eingehender mit dem politischen Parteiwesen befaßt, wird schwerlich auf die Hypothese verfallen, dass in den Parteien eine von den Parteigenossen verschiedene Überseele wirksam werde; er wird sich mit der bescheideneren Annahme begnügen, daß sich einzelne Menschen ... zu gemeinsamer Aktion zusammenfinden.“ (A. Baumgarten, Die Gesamtpersönlichkeit im Licht der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 40 (1927), S. 72) Erst für vehementere massenpsychologische Phänomene, wie sie die kampagnehafte Ideologien patriotischer Kriegsbegeisterung und Herabsetzung der Bürger an-

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garten glaubte aber, auch solche Kollektivinteressen individualpsychologisch erklären zu können. Die hier auftretenden Termini der „Überseele“ und des „überindividuellen Menschheitsgeists“141 geben den Bezug auf den von Emerson übernommenen philosophischen Ideenrahmen zu erkennen. Der Akzent der strafrechtlichen Auffassung saß noch immer auf den gegen die fiktive Rechtssubjektivität des Staates zu bewahrenden subjektiven Rechten des Bürgers. Wirkliches Rechtssubjekt sei nur die Persönlichkeit. In sehr eingeschränktem Sinne und nur mit großer Vorsicht könne man den Staat als Rechtssubjekt auffassen. „Es ist geradezu beängstigend, wie sich eine Auffassung immer mehr verbreitet, derzufolge im Vergleich mit der Erhabenheit der Staatspersönlichkeit das Individuum zu gänzlicher Bedeutungslosigkeit verurteilt ist.“142 Es sei eine offene – und von Baumgarten bejahte – Frage, „ob nicht sämtliche staatliche Lebensbetätigungen aus einem mit den Mitteln der Individualpsychologie zu erklärenden Zusammenwirken der einzelnen Staatsangehörigen abgeleitet werden können.“143 Die Individualpsychologie, die beim Strafrecht ihre Berechtigung besitzt, verunklarte jetzt Baumgartens verfassungsrechtliche Fragestellung. Sie wird hineingemischt, weil sie dazu diente, die Rechte des einzelnen Bürgers gegen staatliche Verfügungsgewalten zu verteidigen. In einem so entschiedenen wie besorgten moralpsychologischen Liberalismus ist überhaupt die Wurzel der strafrechtlichen Vergeltungstheorie des frühen Baumgarten zu sehen. Die Bürgerrechte wurden psychologisierend, für die rechtsphilosophische Systematik im Ganzen aber metaphysisch gefasst. Zweifellos gibt es nicht nur einen Strafzweck und vielleicht nicht einmal nur einen voran stehenden, der für alle Fälle gelten würde. Auf dem ganzen Feld der verschiedenen Strafzwecke wird unvermeidlich der interpersonelle Rahmen der moralpsychologischen Schuld- und Vergeltungsauffassung verlassen, die Baumgarten im Rahmen seines sensualistischen Geistseelenbegriffs und mit kritischer Intention unter den Bedingungen des Obrigkeitsstaates vertreten hatte. Täter und Opfer waren für diese Auffassung Einzelseelen einer Geist-Einheit, die den Personen freilich unter den unfertigen Bedingungen der gegenwärtigen Zivilisation verhüllt bleibe. Das mochte zugleich ein perspektivisches Konzept sein. Es zeigte die philosophische Überlagerung der Strafrechtslehre Baumgartens. Die unterschiedenen Gebiete des materiellen Strafrechts, des Strafverfahrensrechts, des strafrechtlichen Gerichtsverfassungsrechts, die Themen der Ordnungswidrigkeiten, der Jugendstrafen u. a. behandelte Baumgarten gar nicht. Mit seiner subjektiven Strafrechtsphilosophie holte Baumgarten die Urbanität des westeuropäisch-liberalen Denkens ins deutsche Strafrecht. Die heutige positive Prävention in der Zwecktheorie des Strafrechts enthält mit ihrer austeilenden Gerechtigkeit der besonderen Umstände der Straftat und der Wiedereingliederung des Täters nach der Strafe auch den Vergeltungsgedanken, doch nicht mit derer Staaten darstellten, sieht Baumgarten ein Versagen der Individualpsychologie und verweist auf die frühe französische strukturalistische Soziologie von E. Durkheim und L. Lévi-Bruhl. (Ebd., S. 74) 141 Ebd., S. 77f. 142 Ebd., S. 69. 143 Ebd., S. 71.

16. RÜCKBLICK

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dem Baumgartenschen erlebnishaften Täter-Opfer-Verhältnis. Sie fügt das dem umfassenderen Bezug ein, dass die Zurechnungsfähigkeit der Person nicht nur dem anderen Individuum gegenüber, sondern auch vor der Gesellschaft einzufordern sei. Bedrohliche politische Tendenzen der Verteufelung von Menschengruppen, weil sie einer Großmacht unbotmäßig erscheinen, führen bereits zur Wiederbelebung der negativen Generalprävention, also der Abschreckung, und erreichen nicht viel mehr als die Erosion des Rechtsstaates in der gesuchten Permanenz der Konfrontation.144 Die positive Generalprävention entspricht mit ihrem Horizont einer in wechselseitiger Verantwortung stehenden Bürgergemeinschaft der zivilisatorischen Intention des demokratischen Verfassungsstaates. Ein theoretisch starker und für die unterschiedlichen Deliktformen sehr entwicklungsfähiger Aspekt der moralisch-psychologischen Schuld- und Vergeltungstheorie Baumgartens bestand in der Qualifikation des Adressaten des Delikts als eines Opfers. Baumgarten wechselte den Blick vom Täter und dessen Beutestücken zum Geschädigten als einem Opfer. Beim obrigkeitlichen Vergeltungsgedanken setzten sich die Tat und die mit der Tat verbundenen Sachverluste ins Zentrum. Der unter der Kriminalität als einer in der Gesellschaft verbreiteten Verhaltensrealität leidende Mensch trat dagegen zurück, bzw. erschien in der abstrakt juridischen Gestalt des geschädigten Eigentümers. Baumgarten legte den Finger auf diesen Punkt: Unrecht ist mehr als NichtRecht, es bedeutet Leiden und Trauer innerhalb der Gesellschaft. Man kann das weiterführen zu den verheerenden Folgen so sachhaft neutraler Vergehen wie der Wirtschaftskriminalität als der Massenerscheinung, die sie inzwischen geworden ist. In den Weisen von Skeptizismus und Deprimiertheit bildet sich dadurch gleichsam ein Leiden sozialer Pathologie aus. Auch die nicht unmittelbar Geschädigten empfinden sich als Opfer einer fehlsteuernden Gesittung. Eine andere individualistisch gerichtete Strafrechtstheorie setzt den Akzent ebenfalls auf die Voraussetzung freier und gleicher Individuen, geht aber nicht von der Leidzufügung im Täter-Opfer-Verhältnis aus.145 Die Rechtsverletzung bilde eine unfaire, willkürlich angeeignete und darum durch Verbot auszuscheidende Sonderfreiheit. Das steht ebenfalls innerhalb des angelsächsischen empiristischen Gedankenrahmens. Die Interpretation der Straftat als Aneignung eines Sondervorteils richtet einen entschärfenden Blick auf die hochwogende Welt der Kriminalität und bildet gleichsam den kleinsten gemeinsamen Nenner für das, was die Generation v. Liszts, Bindings, Merkels und was der junge Baumgarten noch Verbrechen nannte. Die wesentliche Folgerung für die Funktion des Strafrechts aus dem Gedanken unfairer Vorteilsaneignung geht in die

144 Die Schwelle der rationalen Rechtsauffassung wird überschritten, wenn etwa völkerrechtliche Probleme der Konfliktbewältigung, eben auch durch Fixierung auf Lösungsversuche mittels Kriegen, in strafrechtliche Zusammenhänge gerückt werden. Das führt konsequent zur Vulgarisierung der Straftatsystematik, so dass Staaten auf dem bekannten großflächigen Freund-FeindSchema zu „Schurken“ gestempelt werden. 145 Vgl. Jean-Claude Wolf, Strafe als Wiederherstellung eines Gleichgewichts, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 11 (2003), S. 199-216, und die da angegebene Literatur.

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strukturalistische Richtung. Die Strafe stellt einen Gleichgewichtszustand wieder her, der vom übertriebenen Freiheitsakt gestört worden war. Baumgartens Strafrecht stellte eine in sich konsequente Position dar, bevor das Strafrecht nun Synthesen der früher gegeneinander vorgetragenen Elemente verfolgte, wie Vergeltung, Schutz der Mitglieder der Rechtsgemeinschaft durch den „psychologischen Zwang“ der Strafandrohung (Generalprävention), Besserung des straffällig Gewordenen (Spezialprävention). Seine antietatistischen Überzeugungen hatten ihn zu einer schwierigen individualmoralischen Überlagerung des Problems der austeilenden Gerechtigkeit im Strafrecht geführt, wozu man die Spezialprävention im Ganzen rücken kann.146 Warum hatte sich der junge Baumgarten fürs strafrechtliche Fach entschieden? Er hat es in seinem am stärksten autobiographisch geprägten, systematischen Werk ausgesprochen: „Die am meisten durchdachte und in methodischer Hinsicht am weitesten fortgeschrittene Rechtsdisziplin ist das Strafrecht.“147

17. Die strafrechtliche Fragestellung 1933 und 1939 Das die allgemeine Philosophie und die Rechtsphilosophie zusammennehmende Buch vom Ende der Frankfurter Zeit Baumgartens, Der Weg des Menschen (1933), brachte Baumgartens positivere Beurteilung der Zwecktheorie der Strafe. Zweifellos spielte Baumgartens veränderte Einstellung zum Staat eine Rolle. Immer von hohem idealisierendem Anspruch, schätzte Baumgarten die sozialen und rechtlichen Perspektiven der ersten deutschen Demokratie hoch ein. Sieht man näher zu, ging es Baumgarten um eine Relativierung, besser gesagt: um eine Präzisierung, seiner Theorie der Vergeltungsstrafe. Am eigentlichen rechtsphilosophischen Problem, das er mit ihr verbunden hatte, hielt er fest. Die Verschwisterung der Strafe mit dem Gedanken der Schuld, der in der Vergeltung realisiert sei, verbinde die Strafe mit der Willensfreiheit und also mit der Personalität des Verbrechers. Dieser sage sich, ich hätte anders handeln können. Jeder Andere finde die Strafe gerechtfertigt, weil er sich selbst die Strafe zubilligen würde, hätte er sich ein Vergehen zuschulden kommen lassen.148 Gleichsam ein besseres Ich

146 Vgl. A. Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, München 1994, S. 148-151 (Gerechtigkeit und Billigkeit, Exkurs: Die gerechte Strafe). Unter den vier Arten der Strafrechtstheorien nennt W. Naucke als vierte die „Vereinigungstheorie“, die sich um verschieden wertende Kombinationen der verschiedenen Straftheorien bemühe. (Naucke, Strafrecht, a. a. O., S. 34) L. Günther stellte fürs 19. Jh. „eine höchst schwankende, ja geradezu widersprechende Beurteilung von Seiten der verschiedenen Schriftsteller“ fest. Die Lösung habe sich aber in der Vermittlung von absoluter Theorien vergeltender Gerechtigkeit mit „relativen Theorien nach verschiedenen äußern Zweckmäßigkeitsgedanken“ ergeben. Durch die „Kombination an sich heterogener Elemente“ habe man „mit einem gewissen Eklektizismus das Passende bald aus dieser, bald aus jener Theorie zusammengestellt“. (L Günther, Die Idee der Wiedervergeltung in der Geschichte und Philosophie des Strafrechts, Abt. III, 1. H., a. a. O., S. 192f). 147 Methodenlehre, S. 125. 148 Der Weg, S. 573.

17. DIE STRAFRECHTLICHE FRAGESTELLUNG 1933 UND 1939

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in uns spreche dem schlechteren die gerechte Strafe zu. Die Hauptthese lautet nun konsequent: „Dagegen ist die generalprävenierende Strafe von vornherein als eine öffentlich-rechtliche Maßregel konzipiert. Sie entspringt unmittelbar weitausschauender Fürsorge für die Allgemeinheit.“149 Das meinte positive Generalprävention sowohl als Einschärfung und tendenzielle Stabilisierung der Rechtsnormen und auch „Besserung“, also Hilfe zur Rückkehr in die Lebensordnung. Baumgartens Hinwendung zum Zweckgedanken im Strafrecht war auch Ausdruck und selbst ein Teil der Vermittlungstendenzen zwischen den verschiedenen Straftheorien, die in der Weimarer Republik einsetzten. Einige Standard-Einwände gegen die Ausgestaltung des Strafrechts, dem Straftäter wieder aufzuhelfen, erörterte Baumgarten und wies sie ab. Erfordernisse des praktischen Strafvollzugs und der Strafprozessordnung, die Baumgarten früher übergangen hatte, bezieht er jetzt ein. Vor allem aber behandelte er die Befürchtungen, die abschreckende Wirkung der Strafe werde bei humaner Ausgestaltung der Strafe oder gar beim Verzicht auf sie untergraben. Solche Überlegungen könnten heute angesichts der neuen internationalen Dimensionen der Kriminalität wieder Zuspruch finden. Die öffentliche Meinung neigt in Strafrechtsfragen zum Urteil aus Emotionen und reagiert auch die Wahrnehmung sozialer Krisenerscheinungen über die illusionäre Erwartung an gesteigerte Strafen ab. Vorfälle unterschwelliger Toleranz gegenüber rechtsextremen Gewalttaten zeigen die verqueren Ventile sozialer Unzufriedenheit.150 Im Ganzen bewirkte der neue Blick auf die Perspektiven der Gesellschaft Anerkennung und Auszeichnung des Schutzgedankens. Baumgarten wechselte den Blick vom Individuum hin zur Gesellschaft. Er sah eine Epoche sozialer Reformen herangekommen. Die individuelle Blickrichtung hatte die moralisierende Fragestellung bedingt und sie hatte auch eine gewisse Statik der Gesellschaft seiner Frühzeit vorausgesetzt. Gegen Ende der zwanziger Jahre verließ Baumgarten die individualpsychologische Voraussetzung seiner bisherigen Strafrechtstheorie. Nun hieß es, von der „Besserungstheorie“ gelange man zu einer die Kriminalpolitik umfassenden Sozialpolitik. Die Verantwortung der Gesellschaft für die sozialen Zustände, die den Hang zum Verbrechen nährten, trete nun in den Mittelpunkt und hier gelangten „ die Strafgesetzentwürfe in die Tiefen, in denen die großen Umwälzungen unseres Gesellschaftslebens sich vorbereiten.“151 Baumgarten band seine veränderte Strafrechtsauffassung gegen Ende der Weimarer Republik an die Erwartung demokratisch-sozialstaatlicher Reformen, die er im Kapitel dieses Buches zum Wirtschaftsrecht eingehender behandelte. Das ging weit über die tatsächlichen Neuerungen des Strafrechts in der Weimarer Zeit hinaus, die wohl gegen starken Widerstand der konservativen Kräfte ein Jugendgerichtsgesetz und ein Geldstra149 Ebd., S. 574. 150 Vgl. dazu G. Patzig: Moral und Recht, in: ders., Ges. Schriften, Bd. I, a. a. O., S. 140-162. „Moralische Missbilligung, für sich genommen, ist überhaupt kein Grund für staatliches Strafen. Vielmehr fällt ein bestimmter Ausschnitt der moralisch normierten Verhaltensweisen mit einem bestimmten Ausschnitt der durch Rechtsvorschriften normierten Handlungstypen zusammen.“ (Ebd., S. 151) 151 Der Weg, S. 576.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

fengesetz gebracht hatten, im übrigen aber die republikfeindliche und antisozialistische Gerichtspraxis wenig behinderten. Baumgarten sprach nun endlich auch von erforderlichen Verbesserungen in den Vollzugsanstalten. Freilich: Die zahllosen republikfeindlichen politischen Prozesse, das skandalöse Urteil des Reichsgerichts gegen C. v. Ossietzky wegen Landesverrats im Jahre 1931, die antisozialistische Tendenz des Staatsgerichtshofs, der mit dem Gesetz zum Schutz der Republik von 1922 eingerichtet worden war – all das wurde von Baumgarten nicht erwähnt. Er bezog sich bei seiner Erwartung einer herannahenden generellen Umwälzung offenbar vor allem auf die am Ende der Weimarer Republik zugespitzten sozialen und politischen Widersprüche in der deutschen Gesellschaft und nahm an, dass die beiden Arbeiterparteien Teilschritte hin zur Vergesellschaftung der Großindustrie durchsetzen würden. Baumgarten richtete seine idealische Erwartung auf die herankommende „Epoche, da der Gemeinsinn verbreitet und machtvoll genug sein wird, um gegenüber dem Normalmenschen die brutale Strafandrohung entbehrlich zu machen, da Verbrechen im wesentlichen von Menschen zu befürchten sind, die man am besten einer sachverständigen therapeutischen Behandlung überweist.“ Er band das Faktum der Straftaten an den noch vorherrschenden Individualismus. Doch alle Individuen seien „letztlich im Glück solidarisch“.152 In der herannahenden höheren Zivilisationsstufe würden die Menschen zunehmend zum Bewusstsein ihrer geistigen Einheit und Solidarität über die körperliche und alltagspraktische individuelle Existenz hinaus gelangen. Hier bereitete sich Baumgartens Übergang zu sozialistischen Positionen vor, der in den vierziger Jahren erfolgte. Nicht mehr die Strafe ist es, die mit dem Leid Reue und Besserung bewirke. Die Gesellschaft entfalte sich zu Gemeinsinn und erreiche höhere Resozialisierungsmöglichkeiten. Die individuelle Läuterung, die Baumgarten ursprünglich mit der Psychologie der Täter-Opfer-Beziehung verbunden hatte, wird auf die sozialethische Steigerung der Gesellschaft übertragen. Diese Erwartung hat Baumgartens weiteren theoretischen Weg und dann auch seine politischen Entscheidungen bestimmt. Am Ende des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges, als Europa in den Kalten Krieg geriet, verließ ihn seine Hoffnung auf eine sozialstaatliche Selbstkorrektur der Gesellschaft des Großkapitals. Er richtete die hohen Erwartungen seiner immer mitgehenden Metaphysik von einer Überwindung des sozialen Egoismus gemäß der sich ausfaltenden seelischen Einheit auf die vorhandene sozialistische Gesellschaft, die in der außerordentlichen Prüfung des Krieges unerwartete technische, politische und moralische Energien offenbart hatte. In den Grundzügen der juristischen Methodenlehre (1939) fügte Baumgarten seinen neuen Gedanken über die wesentliche soziale Ursache der Verbrechen hinzu. „Wer im Kampf gegen das Verbrechen dem Übel die Axt an die Wurzel legen will, der muss die Gesellschaft so umgestalten, dass sie aufhört, ein günstiger Nährboden für das Verbrechen zu sein.“153 Die v. Lisztsche Strafrechtsschule bestätige im philosophischen Bezug den Empirismus, indem sie die vielfältigen empirischen Bedingungen der Rechtsver-

152 Ebd., S. 575, 570. 153 Methodenlehre, S. 127ff.

17. DIE STRAFRECHTLICHE FRAGESTELLUNG 1933 UND 1939

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letzung einbezogen habe. Die Thematik der Willensfreiheit trat aus der einfachen Alternative heraus, sich fürs Recht (und fürs „Gute“) oder für das Verbrechen (und für die „schlechte Handlung“) zu entscheiden. Die formell freie Entscheidung zwischen Recht und Unrecht wird überlagert vom Interesse, der Rückständigkeit und der Ungleichheit zu entkommen. Das Unrechtsbewusstsein ist ohnehin eine historisch veränderliche Größe. Vom Strafzweck zurück zur Verbrechensthematik, bekräftigte Baumgarten seine frühe Schrift über die Idealkonkurrenz und die Gesetzeskonkurrenz. Es gehe für die Lösung der Thematik nicht um die Handlung schlechthin, sondern um die vom schuldhaften Willen ausgelöste „Körperbewegung“. Das führte zur Erörterung der Kausalität und des Adäquatkausalzusammenhangs zwischen Handlung und deren Folgen, einschließlich der sog. Begehungsdelikte durch Unterlassung.154 Liszt habe eine Abneigung gegen die Lehre vom freien Willen gehabt. Darum sei seine Lehre vom dolus eventualis von seiner allgemeinen Strafrechtslehre abgelöst erschienen und habe deshalb nicht die verdiente Anerkennung gefunden. Wenn zum problematischen Urteil über die Möglichkeit des Eintritts eines Handlungsresultats das assertorische Urteil hinzukomme, die Folge werde gewiss nicht eintreten, so sei der Betreffende nicht in dolo. Das sei nicht so logisch widersprechend, wie man gegen v. Liszt gemeint habe. Ein problematisches und ein assertorisches Urteil seien durchaus vereinbar, da das erstere die theoretische Möglichkeit eines Ereignisses betreffe, das zweite sich aber durchaus auf einen praktisch wirksamen Glauben der inneren Überzeugung beziehen könne. Auch die Themen der Fahrlässigkeit, der Teilnahme und des Versuchs wurden eingehend erörtert. Im Ganzen zeigte sich, dass Baumgarten in seiner neuen Schrift das Erfordernis sah, sein indeterministisches Willensverständnis und seinen Schuldbegriff zu präzisieren. Bei den mehr ins Einzelne der Standpunkte gehenden Erörterungen des Versuchs und der Teilnahme an strafbaren Handlungen zeigten sich wohl auch die praktischen Erfahrungen des Straf- und Appellationsrichters Baumgarten während seiner ersten Baseler Zeit (1923 –1930). Sein Bemühen galt der durchgehend klaren Begriffsbildung. Bei der sog. Akzessorität der Teilnahme an einer strafbaren Handlung, etwa der Anstiftung zu ihr, kritisierte er, dass die Strafrechtswissenschaft den Gesetzgeber nicht dazu anhalte, solche Vergehen geradezu als eine Art der Täterschaft zu fassen. Bei ausgeführtem oder versuchtem Verbrechen erweise sich die begriffliche Trennung der Akzessorität der Teilnahme als überflüssig. Verweigere dagegen der Angestiftete die Tat, so bleibe der Anstifter dank der Akzessorität verkehrter Weise straflos. Hier wie auch bei der Auffassung von der Straflosigkeit des untauglichen Versuchs zeige sich ein unmethodisches „Regime der Quacksalberei“.155 Präzise bestimmte Baumgarten noch einmal in der Logik als Erfahrungswissenschaft (1939) den Unterschied zwischen den Auffassungen des Verbrechens als Herbeiführen eines üblen Erfolgs und dem „Willensstrafrecht“. Die subjektive Auffassung müsse zugleich eine Adäquatkausaltheorie sein. Das Unterlassen der Abwendung eines Erfolgs sei als Verursachung einzuschätzen wie dessen Herbeiführung. Das Verbrechen sei weder

154 Ebd., S. 132f. 155 Ebd., S. 139ff.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

nur rechtswidrige strafbare Handlung (v. Liszt) noch vermeidbarer Ungehorsam gegen die Rechtsnorm (Binding). Der antisoziale Gehalt des Willens stelle das eigentliche Problem dar, der jedoch einen strafrechtlichen Tatbestand erfüllen müsse. „Dadurch dass die Strafrechtswissenschaft an Stelle der Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit setzte, versperrt sie sich den Weg zu der so dringend erforderlichen allgemeinen Tatbestandlehre.“156

18. Baumgarten und die soziale Zweckidee des Strafrechts in der DDR Die letzte strafrechtliche Schrift Die Idee der Strafe (1952) Es könnte als die Ironie der geistigen Entwicklung Baumgartens erscheinen, dass der individualpsychologisch und kommunikationstheoretisch argumentierende Schuldstrafrechtler, um die Verfügungsgewalt des Staates über straffällig gewordene Bürger zu beschränken, sich nach seinem fünfundsechzigsten Lebensjahr in der DDR einem Staat verband, der auf unbedingte Weise nicht nur das Strafrecht, sondern alle staatlichen Funktionen mit außerordentlicher, rechtsstaatliche Maximen verletzender Machtvollkommenheit ausstattete. Es wurde nicht gerade die Straftat als Pflichtverletzung behandelt – dazu war es im nazistischen Strafrecht gekommen –, aber für einen schweren Normverstoß galt das strafrechtlich relevante Vergehen immerhin. Hatte Baumgarten sich zum Gegenteil seiner frühen Überzeugungen bekehrt? Die guten Gründe seiner Heimkehr aus der Emigration 1946 in die ostdeutsche Nachkriegsgesellschaft, sein optimistischer Einsatz für die neue Gesellschaftsordnung, dann auch die Enttäuschungen und manche Selbsttäuschungen, stehen auf einem eigenen Blatt und sind gesondert betrachtet worden. Er wusste als Jurist, dass jeder Staat mit der Ordnungsfunktion zugleich Entscheidungs- und also Machtansprüche aufzunehmen habe. Im Strukturverständnis der sozialistischen Gesellschaft trieb die Rechtsform jedoch in die fragile Position zwischen moralisch argumentierendem Führungsanspruch einer politischen Elite und der ebenfalls moralisch verstandenen Einordnung des alltagspraktischen Verhaltens der Bürger unter der Voraussetzung von deren Einverständnis mit faktisch unbeeinflusster politischer Führung. So wurde seine Position in der DDR prekär und seine Langmut geriet vor immer neue Prüfungen. Sehr weit ausgestalteten Rechtsgebieten wie dem Sozialrecht, dem Schul- und Bildungsrecht, was sich aus dem moralischen Bauprinzip der Gesellschaft ergab, stand das gering reflektierte System des subjektiven Rechts gegenüber. Baumgarten fand im Recht der sozialistischen Gesellschaften wohl eine Lösung der Spannung zwischen psychologischem Ausgangspunkt und metaphysischem Endpunkt seiner Rechtsphilosophie. Die psychologische Strafrechtsauffassung gewann hier – außer bei politisch interpretierten Tatbeständen – erst breite gesellschaftliche Anerkennung und Anwendung. Das Strafrechtsverständnis der DDR-Justiz war vom politischen Ordnungsverständnis der Führungspartei bestimmt. Gerade daraus ergaben sich eigentümliche

156 Logik, S. 33f.

18. BAUMGARTEN UND DIE SOZIALE ZWECKIDEE DES STRAFRECHTS IN DER DDR

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Differenzierungen bei der Behandlung verschiedener Straftaten. Politisch qualifizierte Straftaten wurden unverhältnismäßig hart und de facto oft ohne rechtlichen Schutz der Täter behandelt. Es war ja auch die Rechtsverletzung kaum positiv zu definieren. So kam es zur unqualifizierten politisch-moralischer Erosion des Strafrechts. In anderer Hinsicht aber wurden Wirtschaftsstraftaten, Betrug, Verletzung von Personen oft gering geahndet. Das Strafrecht tendierte hier zur Annäherung an die Behandlung zivilrechtlicher Tatbestände. Das war erleichtert, weil die Kriminalität überhaupt gering war im Vergleich mit den privatkapitalistischen Industriegesellschaften. Außerdem entsprach es dem pädagogischen Duktus im kulturellen Selbstverständnis der Gesellschaft. Bei seinen Aspekten der Anerkennung der sozialen Zweckidee im Strafrecht hatte Baumgarten seine psychologisierende Läuterungsidee des Delinquenten beibehalten. Er hat nur deren metaphysische Sinngebung in das vorwiegend moralische Gesellschaftsverständnis des sozialistischen Gemeinschaftsgedankens hineingerückt. Baumgarten hielt sich damit die immer latente Unterstellung politischer Diskreditierung des Staates auch durch ganz zivile kriminelle Handlungen fern und ebenso die meist ausgesprochene Beschuldigung gegen den Delinquenten, er verweigere sich dem sozialistischen staatsbürgerlichen Bewußtsein. Wenn im Prozess der versuchten Rückvergemeinschaftung der Gesellschaft auf der Basis des Gemeineigentums moralische und politische Ordnungsvorstellungen die juridischen Objektivationen der Bürgergesellschaft überwogen, dann schien die Leitvorstellung der Schuld- und Vergeltungsstrafe bis hin zur Konsequenz eines ins Gewissen des Delinquenten rückenden Besserungsgedanken geradezu soziales Programm geworden zu sein. Diese Überlegungen hatte Baumgarten auf die sozialistische Programmatik und auf seine Erwartung an die Evolution der sozialistischen Gesellschaften projiziert, so dass er im Alter wohl auch glaubte, zur Wiederkehr seiner frühen Intentionen im Gange harter Verwirklichung gelangt zu sein. Die hohe, für eine rationell denkbare Perspektive irreale, Erwartung der Verüberflüssigung des Strafrechts ging allerdings in den sozialistischen Gesellschaften mit. Kriminalität ward für ein Überbleibsel von Lebensgewohnheiten aus kapitalistischen Gesellschaften angesehen. Dem entsprach tatsächlich eine markant geringere Kriminalität in den Bevölkerungen, insbesondere bei den schweren Delikten. Doch die erwartungsstarke These und deren scheinbare statistische Bestätigung untergruben die methodische Konsistenz der Strafrechtswissenschaft und vor allem die Gerichtspraxis. Mit dem neu belebten Ordnungsverständnis staatlicher Omnipotenz entstanden nicht nur beachtliche Verbindungen von Strafrecht und Sozialpädagogik, sondern ebenso Verkehrungen des Prinzips der Tatbestandmäßigkeit und des präzise zu bestimmenden schuldhaften Willens. Der alte Schuld- und Vergeltungsgedanke in der von Baumgarten vermiedenen Variante, dass bei der Straftat willentliche Gesetzesmissachtung und Ordnungsverweigerung vorlägen, immer auf dem Sprunge zu aufrührerischer Empörung und Gemeinverderben, kam vor allem beim intensivierten Bereich der politischen Strafsachen wieder zum Zuge. In einem letzten Vortrag vom Jahre 1952 hatte Baumgarten die Philosophie seines Strafrechts resümiert. „Nicht alle Strafzwecke, die gegenwärtig auf die Strafrechtspflege Einfluss haben, können als Strafideen bezeichnet werden. Die Unschädlichmachung des gemeingefährlichen Verbrechers z. B. hat sicherlich nicht den Charakter einer Idee. Auch

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die Generalprävention durch Strafdrohungen ist eine Sache reiner Nützlichkeitspolitik. Anders verhält es sich mit der Strafe als Vergeltung der schuldhaften freien Übeltat und mit der Besserung.“ Doch auch die Vergeltung werde heute im Sinne eines Bewährungstriebes verstanden, der Staat bewähre seine physische Überlegenheit über den Verbrecher. „Das ist eine einigermaßen primitive Reaktion.“157 Das Rätsel der Beziehung der Strafe auf das Vergehen zeige sich erst dem Blick auf den freien Willen. Bei unfreiem Willen, hätte der Determinist v. Liszt gesagt, sei vergeltende Strafe eine Versündigung des Herzens und eine Verirrung des Verstandes und darum auch die Theorie der Vergeltungsstrafe abgelehnt. Baumgarten sah aus der deterministisch-soziologischen Erklärung des Verbrechens die ganze Zweckjurisprudenz des Strafrechts hervorgehen, mit der eigentlich nur der omnipotente Staat sich selbst als Hort der Eigentumsgüter beweise. Die Idee der Strafe zeige sich erst, wenn sie auf den für sein Handeln moralisch verantwortlichen Menschen bezogen werde. Nur dann sei ein schuldhafter Wille zu bestimmen, dem die Strafe den Weg zur Reue öffne. Dann nämlich könne der Mensch sich vorm Rückfall ins Verbrechen bewahren. Anders als Hegel es meinte, ist hier die Strafe als Anerkennung der Menschenwürde des Verbrechers verstanden. Übers Reuebewusstsein, nicht aus Angst vor neuer Strafe, möchte der Täter neues Vergehen vermeiden. Baumgarten legte dann noch einmal seine tief emotionale Strafphilosophie dar. Der Mensch wünscht, dass die Vergangenheit doch anders gewesen wäre und sieht sich dem Gesetz der Zeit ausgeliefert, „dass die Vergangenheit ihren Raub nicht zurückgibt. Aus solchen Gedanken geht der Schmerz der Reue hervor, und diesen Schmerz rächt man an sich selbst, indem man die Strafe, die der Richter verhängt, willig entgegennimmt“. Die von der Strafe doch nur ausgelöste Reue stelle ein Element des Selbstverständnisses des Menschen dar, in dessen Qual, Vergangenes wieder gegenwärtig zu wünschen und verändern zu können. Das nun rückte Baumgarten in eine weit hinaussehende Perspektive. Gegenwärtig sei der Mensch als ein zum Handeln bestimmtes Wesen noch „in den Anfängen der Entwicklung, in denen wir uns wohl immer noch befinden“. Er sehe die Werte des Lebens nur in engem Umkreis und die unzufriedene Beschäftigung mit Vergangenem ziehe ihn herab. In diesem Umkreis stehen Schuld und gerechte Vergeltung. Die Vergeltungsstrafe trage den Stempel einer archaischen Weltanschauung. An die Stelle einer rückwärts gewandten (archaischen) Lebensauffassung könne einmal eine „Weltanschauung sub specie futuri“ treten, die den Menschen nicht mehr auf Verlorenes lenke, sondern auf gemeinschaftliche Tätigkeit.158 Nach diesen philosophischen Maßsetzungen erörterte Baumgarten noch einmal die strafrechtlichen Schulmeinungen und kam zum Schluss, dass v. Liszts und E. Ferris Programm der Schutzstrafe die darein gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt habe. Der Utilitarismus dieser Schule wollte die Kriminalpolitik zum Teil einer umfassenden Sozialpolitik machen. Das hätte wohl einer Weltanschauung sub specie futuri zuarbeiten können. Doch vom Strafrecht, dem nur sanktionierenden Recht, sei sie nicht zu be-

157 A. Baumgarten, Die Idee der Strafe, a. a. O., S. 3. 158 Ebd., S. 7.

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wirken. So sei das aufgegeben worden und man habe sich ganz auf die Maßnahmen zweckmäßiger Kriminalpolitik beschränkt; Schutz der Gesellschaft vor gefährlichen Elementen. Aber die Besserung sei keine ethische Zielsetzung? Hier wies Baumgarten auf v. Grolmann (1781 – 1854) hin, den Chefpräsidenten des Berliner Gerichtshofs und Mitglied des Staatsrats, der einbekannt habe, Besserung sei nicht moralisch zu verstehen, sondern als staatsbürgerliche Besserung, d. i. als Anpassung an die jeweilige Gesellschaft. Vorbildlich nannte Baumgarten wieder das neue Schweizerische eidgenössische Strafrecht von 1942, das die Strafe als Vergeltung der schuldhaften Tat fasse. So schloss Baumgarten sein strafrechtliches Werk mit dem Bekunden, dass diese drei schweren Zeichen, Verbrechen, vergeltende Schuldstrafe und Reue, einer unfertigen Menschheit zugehörten. Die Lösung sah er von der neuen Weltanschauung einer Menschheit ausgehen, „die sich zu einer umfassenden solidarischen Arbeitsgemeinschaft aller ihrer Mitglieder umgestaltet hat.“159 Baumgarten dachte Opfer und Täter immer als Personen der Zivilgesellschaft und stellte das Strafrecht in die Nähe des Privatrechts. Philosophiehistorisch gesehen, vertrat Baumgarten eine recht aristotelische Auffassung der Strafe. Er setzte die genaue Aufnahme des realisierten Tatbestands voraus, Gewähr aller Rechtssicherheit. Dazu trat die Abwägung der Schuldart. Dann aber sollte mit dem Gesetz eine natürliche Billigkeit der Vergeltung das Maß der Strafe setzen. Jeder besitze das Empfinden der natürlichen Billigkeit, niemanden zu übervorteilen, zu berauben usf. Das Strafgesetz wurde Ausdruck der Gerechtigkeit im Sinne der Billigkeit. Es diene zunächst einmal nur, unendliche Streitigkeiten wegen der billigen Erwartung ans Verhalten eines anderen zu vermeiden.160 Für Baumgartens zivile Auffassung lag natürlich die Streitschlichtung auf dem Wege der Mediation nahe. Bei optimistischer sozialer Perspektive ergab sich aus Grundsätzen, wie sie Baumgarten vertrat, schrieb Radbruch einmal, nicht das Ziel eines besseren Strafrechts, sondern eines Bewahrungs- und Besserungsrechts, das klüger und menschlicher sei als das Strafrecht.161

159 Ebd., S. 12. 160 Vgl. diese aristotelische Auffassung der Strafe bei Chr. Wolff in dessen Deutscher Politik (1721), in: Chr. Wolff, Deutsche Politik, München 2004, (bearb., eingel. und hg. v. H. Hofmann), S. 347f. 161 Vgl. Radbruch, Rechtsphilosophie 1932, Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 154.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

19. Exkurs Rechtsphilosophie des Strafrechts bei Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841): Recht als positiv fixierte Kommunikation „Immerfort sprechen die unvergoltenen Taten; aber keiner ist berufen, sie zu hören. Die Empfänger, welche man für berufen halten möchte, haben sogar zu verhüten, sich vom Übelwollen nicht anstecken zu lassen, und das Wohlwollen nicht zu kränken durch Abbezahlung, welche die Wohltat zu töten scheint. Allein eben darum, weil kein Einzelner verbunden ist, zu beachten, was gleichwohl Alle vernehmen, fällt auf sie Alle, die da vernommen haben, die Sorge, die Stimme des Missfallens zum Schweigen zu bringen.“ Herbart, Allgemeinen Praktische Philosophie, Strafrechtskapitel: Lohnsystem, 1808

Unter den philosophischen Strafrechtstheorien des endenden 18. Jh.s und der ersten Jahrzehnte des 19. Jh.s bildete Herbarts Strafrecht dasjenige, das mit unserem heutigen Aggregat der positiven Generalprävention, in dem die Aspekte mehrerer früher getrennter Auffassungen synthetisiert werden, am weitesten übereinstimmt. Es ist zugleich das unbekannteste. Unerschöpflich folgen einander die Bemühungen, Kants und Hegels Strafrecht der Gegenwart anzunähern. Das hält insbesondere die eingehenden Versuche in Gang, sich das Kantsche harte Talions-Strafrecht durch interpretierende Zergliederung doch irgendwie genießbar zu machen, so als müsste man eine unzugängliche Bergwand für allgemeine Wanderschaft herrichten. Der außerordentliche methodische Schritt Hegels in der Philosophie des Strafrechts tritt deutlich zurück. Neben dem rechtshistorischen Fleiß bleibt Herbarts sozialpsychologische Wendung der Rechtsphilosophie ganz unbeachtet, als wollte man von den inneren Charakterzügen unserer moralischen und rechtlichen Kultur, werden sie analytisch zergliedert, geflissentlich absehen.162 Herbart hatte 1794 in Jena noch Fichte gehört und begann mit einer lebensphilosophisch kritischen Umbildung der Fichteschen Ich-Nicht-Ich-Relation. Während seiner Schweizer Hauslehrerzeit (1797 – 1800) lernte er Pestalozzi kennen, dessen Einfluss sich in seiner späteren Psychologie und Pädagogik zeigte. Herbart begründete eine sublime materiale Moral- und Rechtsphilosophie, die er gegen Kants transzendentalen methodi162 Die Philosophiehistoriker lassen zurücktreten, auf welchen Gebieten Herbarts Erbe um die Jahrhundertwende einflussreich gewesen war, nachdrücklich befördert durch mehrere vorzügliche Zeitschriften, die der große Kreis der Herbartschüler begründet und herausgegeben hatte. Es waren: Allihns, Zillers und später auch Flügels Zeitschrift für exakte Philosophie, 1860 – 1874 und 1883-1896; Flügels und Reins Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik, 1894ff; Lazarus’ und Steinthals Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1859-1890, Fortsetzung ab 1890 als Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, hg. v. K. Weinhold. Lazarus (1824 – 1903), auch bedeutend als Sprachwissenschaftler, und Steinthal (1823 – 1999) begründeten unter Herbarts Einfluss die Völkerpsychologie. G. T. Fechner (1801 – 1887) nahm mit seiner Psychophysik Herbarts Idee der mathematischen Formalisierung psychischer Gesetzmäßigkeiten auf. W. Wundt (1832 – 1920) setzte Herbarts psychologische Begründung der praktischen Philosophie fort und entwickelte daraus eine Sprach- und Kulturpsychologie.

19. EXKURS: JOHANN FRIEDRICH HERBART

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schen Formalismus und ebenso gegen Hegels panlogische Systematik absetzte. Der methodische Aufbau seiner praktischen Philosophie zeigte sich im logisch-genetischen Fortgang vom Abstrakten zum Konkreten Hegels Methode nahe. Die Moral- und Rechtsphilosophie bildete bei Herbart einen Teil der Ästhetik, nicht im Sinne von Kunstphilosophie, sondern in der ursprünglichen Bedeutung der Aisthesis, also der sinnlichgegenständlichen Wahrnehmung, nämlich der Wirkung eines anderen Willens. Herbart sagte noch nicht, der Wirkung eines anderen Menschen oder, wie Feuerbach, der IchDu-Relation. Aber er ging von einer Beziehung aus. Das war nicht die Wechselwirkung von Handlungen, sondern das Geflecht von über die Akte und durch sie hindurch agierenden Willen. Hier findet sich eine Quelle der Baumgartenschen Willensauffassung der Straftat. Die Willensverhältnisse hatte Herbart nach der theoretischen Seite in seiner umfassenden Psychologie als Vorstellungsrelationen ausgeführt, Vorstellungen, die als ein Ganzes zu beharren suchten, aber durch neue Vorstellungen verändert und gezwungen wurden, die neuen aufzunehmen oder sie abzulehnen, also auf jeden Fall Voraussetzungen für Gefallen oder Missfallen zuzubereiten. Herbart hatte in einer „Mechanik des Geistes“ für die Intensitätsrelationen der Vorstellungen bereits feste Gesetze angenommen, die es ermöglichen sollten, psychische Strukturen mit mathematischen Verfahren darzustellen.163 In der Keimzelle der nicht stillzustellenden Vorstellungen, die primäre Intensitäten, Komplikationsgrade und zur Stabilisierung des Subjekts bestimmte „Hemmsummen“ ausbilden, fand Herbart auch die Grundlage der immer erforderlichen Reaktionen der Geschmacksurteile nach Wohlwollen oder Missfallen. Wir könnten den Reaktionen auf unsere Willensäußerungen und den Wirkungen der Willensäußerungen anderer nicht ausweichen, sondern beziehen immer Stellung. Darin wurzele das Geflecht unserer ästhetischen, moralischen und juridischen Geschmacksurteile. Als den Gegenstand der praktischen Philosophie bestimmte Herbart die Geschmacksurteile, die Kant erst in seiner empirischen Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hatte zu Wort kommen lassen. Die praktischen Stellungnahmen unter der Voraussetzung von nicht primär kausal bedingten, sondern zweckhaften Willensakten ergaben sich notwendiger Weise aus dem Grundbedürfnis der inneren Freiheit, nämlich der Übereinstimmung unseres praktisch-sittlichen Urteils mit unserem Willen.164 Das Ideal solcher Übereinstimmung nannte Herbart die Idee der Vollkommenheit und ging dann von seinem, dem frühen 19. Jh. noch gewohnten, Ausgangspunkt beim Individuum über zur ursprünglichen sozialen Relation, dem Wohlwollen, das sich bei der

163 J. F. Herbart, Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf Psychologie anzuwenden (1822), in: J. Fr. Herbart’s Sämmtliche Werke, hg. v. Hartenstein, Siebenter Band, Schriften zur Psychologie, Dritter Teil, Leipzig 1851, S. 129-172; die „Mechanik des Geistes“ in: Herbart, Psychologie als Wissenschaft, gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824), in: ebd., Fünfter Band, Leipzig 1850. 164 „Vielmehr, gerade darin liegt das spezifisch eigne des Verhältnisses, welchem wir die Benennung: innere Freiheit, zugestanden haben, daß es zwei ganz heterogene Äußerungen des Vernunftwesens verknüpft, den Geschmack und die Begehrung.“ (Herbart, Allgemeine praktische Philosophie, in: ebd., Achter Band, Leipzig 1851, S. 84)

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

Übereinstimmung meines Willens mit einem anderen Willen einstelle. Hier kehrte das benevolence-Motiv der englischen Moralphilosophie wieder. Der zentrale Gedanke bestand darin, dass jede Willensäußerung, gewollt oder ungewollt, eine Wirkung auf ein anderes Individuum hervorrufe und darum jede Tat vergolten werde, im elementaren Sinne durch Lohn oder Missbilligung. Zwei allgemeinere Regeltypen entfalteten sich daraus. Dringe die Wirkung eines Willens nicht bis zu einem gegenüberstehenden Willen hindurch, sondern bleibe in der äußeren Sphäre der Person stecken, so ergebe sich keine soziale Beziehung. Es muss also eine Ergänzung hinzutreten, dass ein gleichsam indirektes Verhältnis der Willen entstehe, da es sich um ein „absichtsloses Zusammentreffen mehrerer Willen“ handele. Als diese Ergänzung fasste Herbart das Recht. „Recht ist Einstimmung mehrerer Willen, als Regel gedacht, die dem Streit vorbeuge.“ „Ohne die Voraussetzung mehrerer voneinander unabhängiger Beurteilungen, wäre es unmöglich, hier nicht in ein Labyrinth zu geraten.“165 Reiche die Tätigkeit eines Willens ganz hinüber zum anderen Willen und solle diesem nicht nur zufällig begegnen, sondern bei jenem eine Wirkung kraft der Absicht des Handelnden tun, so ergebe sich das moralische Verhältnis, das Herbart die Regel der Billigkeit nannte. Die auf den anderen Willen zielende Tätigkeit bezeichnete Herbart mit Fichte als Leiden. Wir existieren als handelnde Willen und befinden uns darum in den Wechselverhältnissen von Tätigkeit und Leiden. Es kommt darauf an, die ursprüngliche Idee des Wohlwollens durch die Regelungen des Rechts und der Billigkeit zu realisieren. Herbart nannte die Regelwelt, die uns die Wirkungen solcher Willensakte überbringen, die Medien. Das Wechseltun und Vergelten ist das soziale Verhältnis. Die Vergeltung nannte Herbart auch dessen Symbol. Die Tat bestimmt den sie erleidenden Willen zum wirklichen Wohl oder Wehe. Man sieht den Fichteschen Ausgangspunkt des Wechseltuns und Wechselleidens. Aber aller Unterwerfungsgedanke unter den Zwang der Pflicht fehlte. Der Akzent saß auf der Relation des Willens von Personen.166 Man sieht ebenso den romantischen Einfluss, nicht nur an der geschichtlichen Ansicht vom Recht167, mehr noch daran, dass die Willen ganz ohne das Pathos der Freiheit wirken. Innerhalb von Medien teilen sie sich wohlwollend oder missbilligend mit. Herbarts Reihung lautete: Wohlwollen – Dank – Zutrauen – Glaube an die Aufrichtigkeit. Dem schon vorgegebenen Motiv der Vollkommenheit aller Intelligenzen, einander zu spiegeln und sich als getreue Spiegel richtig, d. i. ohne Falsch, abzubilden, gab Herbart die tiefe Wendung, dass wir in den beiden Bezugswelten des Rechts und der Moral der Billigkeit in einer Symbolwelt erscheinen, in der jeder sein Bild sei. „Ob nun ein Jeder sein Bild, wie es sich vorfindet in den Übrigen, bemerke, und sich zuschreibe, und als das Seine zu besitzen beschließe: 165 Ebd., S. 50. 166 Der Ursprung des Rechts habe nicht in dinglichen Rechten bestanden, „sondern in Verhältnissen, die zwischen bestimmten Personen von beiden Seiten gebildet werden, die nur für diese Personen gelten.“ (Ebd., S. 51) 167 Herbart formulierte mit der romantischen Naturanalogie gegen „unbehutsame (!) Neuerungen in den Gesetzen“: „Langsam, wie ein lebender Organismus sich durch seinen Stoffwechsel erweitert und reinigt, soll die Gesetzgebung sich fortbilden.“ (Ebd., S. 368)

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dies mag dahin gestellt bleiben.“168 Das Medium bestimmte Herbart weiter als die erforderliche gemeinschaftliche Sphäre des Tuns und Erleidens, da die inneren Akte verschiedener Individuen sonst wie in einem Bewusstsein konzentriert gedacht werden sollten. Die Sprache helfe auch nicht über das (deutlich im romantisch-spekulativen Sinn gedachte) „Mangelhafte unsrer Communication“ hinweg. Doch die Realität reiner Ideen enthalte in sich die praktische Weisung, aus dieser ideellen Realität „gewisse Verhältnisse, die einen Wert haben, in der Wirklichkeit so genau als möglich zu realisieren“. Ein Orientierungspunkt sei wohl die Hypothese einer „vollkommenen Kommunikation“. Doch gebühre der erste Platz jener Art von Vermittlung, wie sie hinreiche, Recht und Billigkeit hervortreten zu lassen. Die Ausbildung der jeweils zweckmäßigsten Sprache ergebe sich als die direkteste und zugleich weittragendste Aufforderung.169 Etwas vom geistigen Quellgebiet der gegenwärtigen Kommunikationswissenschaften, natürlich auch der expliziten Theorie des kommunikativen Handelns, wird hier sichtbar. Wie sich zeigen wird, fand es sich lange vor diesen neueren Errungenschaften bereits in der Moralphilosophie und Logik Arthur Baumgartens. Moral und Recht wurden so ganz in einem Gang begründet und Kants Trennung von äußerer und innerer Gesetzgebung fand sich ausdrücklich abgewiesen.170 Jede Willenshandlung sei zu vergelten, die wohltuende mit verdientem Lohn, die missfallende mit verdienter Strafe. Nur die unvergoltene Wohl- oder Wehetat könnte ganz und gar gleichgültig sein. Doch die Nemesis werde immer herbeigerufen. Die rechtliche Vergeltung gelangte ganz in die Nähe der moralischen, wie es dann die Rechtsphilosophien J. Kohlers und seines Berliner Hörers Baumgarten wieder ausführten. Die interessante Moralphilosophie Herbarts ist hier nicht weiter zu betrachten. Sie umriss eine Symbolwelt des immer schuldigen Dankes, einer vorauszusetzenden Ehrerbietung des Anderen. Die Rechtsform dann wurde von Herbart aus einer Psychologie von Individuen entwickelt, die einen gewissen Reichtum von Gütern für den eigenen Gebrauch besitzen. Ein Reichtum an Produkten, nicht die Armut, schaffe die Anlässe zum Streit. So sei das Recht eine dem Streit, den alle teilnehmenden Personen missbilligen, vorbeugende Einrichtung. Daraus erst folge der Auftrag, Regeln der Schlichtung zu setzen. Herbart fasste das elementare Element der Rechtsform nicht als Tauschregel, sondern als eine Vereinbarung wechselseitigen Überlassens, und zwar in dem Sinne, dass jeder dem anderen überlasse, was er gerade habe. Die ganze Gedankenführung war auf qualitative Gebrauchswerte aus der Erzeugung und darum in der Verfügung der material bedürfnishaft und vergemeinschaftet lebenden Individuen gerichtet, nicht auf den aus dem Tauschwert hervorgehenden Verkehr. Konsequent wurde das Rechtsverhältnis aus dem Zugestehen von Gütern zwischen zwei einander benachbarten Individuen entwickelt. Diesem Verhältnis treten Dritte bei, wenn sie ebenso etwas der Verfügung Anderer überlassen wollen, wie es einander schon an168 Ebd., S. 68. 169 Ebd., S. 75. 170 Ebd., S. 60f. Herbarts Kritik des Strafrechts von Kant, Fichte, Schleiermacher und P. J. A. Feuerbach zusammenfassend in dessen später Analytischer Beleuchtung des Naturrechts und der Moral (1836), in: ebd,, S. 318ff.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

dere Personen zugeschrieben hatten.171 Herbart band die fixierende Positivität als die Spezifik des Rechtsverhältnisses an das sachhafte Element des Warenverkehrs zwischen Personen. Woher sollte sonst auch die abscheidende und unterteilende Maßtabelle im zwischenmenschlichen Verhalten kommen? Es ist ein ganz anderes Gefüge als die bewegliche moralische Bindung. Von der Positivität ging Herbart im nachklassischen ökonomischen Sinne des Gütertauschs zum Rechtsverhältnis als einem verbindenden Wollen, das in einem letztlich überempirischen ideellen Ganzen spiele. Nicht das Abgrenzende sollte das tragende Prinzip sein. Nicht die Rechtsgrenzen zwischen egoistischen Individuen treten in den Vordergrund, sondern das Beitreten zur geregelten Gemeinschaft einander im Zugestehen oder Überlassen Verbundene. So komme „ein allgemeines, aktives Wollen in die Rechtsgesellschaft, die sonst scheinen würde, die Einzelnen bloß in ihre Grenzen einzuschließen, ohne sie wahrhaft zu verbinden.“172 Der psychologische Ausgangspunkt qualitativ tätiger und kommunizierender Individuen ließ Herbart alle dinglich gebundenen Verhältnisse des Privat-, Straf- und Staatsrechts aus dem Willen sich verständigender Personen hervorgehen. Den vom subjektiven Willen getragenen Personbegriff verband er, wie später Baumgarten ebenso, mit der Voraussetzung eines wechselseitigen Wohlwollens. Dessen Verletzung lasse also eine moralische Schuld auf den Verursacher zurückfallen, die eine Reaktion der Strafe erzeugen könne. Konsequent könne die Strafe nicht ihren Zweck in sich selbst besitzen, sondern bedürfe eines moralischen Motivs. Herbarts Ausgang von H. Grotius’ moralischer Auffassung der Rechtsgesellschaft mit der Voraussetzung eines ursprünglichen Wohlwollens der Menschen füreinander, führte zu einer materialen Moral- und Rechtsphilosophie, wie sie dann Baumgarten gegen den Neukantianismus auch entwickelte. Die Idee der Strafe ergebe sich folgerichtig aus der moralischen Missbilligung. Strafe werde vom Missfallen an unvergoltenen Taten herbeigerufen und solches Missfallen zu tilgen, vereinigten sich die Beteiligten und errichteten ein Lohnsystem dafür. Doch die „Rechtsgesellschaft“ sei nicht nur zur Vermeidung des Streits gerufen. Es bedürfe der ordnenden Verwaltung der vorrätigen Energien. Nach der dabei eintretenden Idee der Vollkommenheit steigere sich das Rechtssystem im „Kultursystem“, und wo dieses zum Leitpunkt der inneren Freiheit mehrerer werde, da schwinde der Gegensatz zwischen dem Einen und dem Anderen. „Die Vereinigten machen eine beseelte Gesellschaft.“ Zu verhüten sei, „daß die eben bezeichneten Ideen mit dem Staate verwechselt werden“.173 Alle diese Gedanken finden sich, fachjuristisch entfaltet und dem sozialgeschichtlichen Denken des 20. Jh.s übergeben, in Baumgartens Moral- und Rechtsphilosophie wieder. 171 „Recht ist die Einstimmung mehrerer Willen, als Regel gedacht, die dem Streit vorbeuge.“ „... daß der Ursprung alles Rechts keineswegs in dinglichen Rechten zu suchen ist, die Jemand sich zuschreiben, und kraft deren er alle übrigen ausschließen dürfte; sondern in Verhältnissen, die zwischen bestimmten Personen von beiden Seiten gebildet werden, die nur für diese Personen gelten, und nur als solche gelten, wie sie sind gebildet worden.“ (Herbart, Allgemeine praktische Philosophie, a. a. O., S. 50f) 172 Ebd., S. 82. 173 Ebd., S. 77.

19. EXKURS: JOHANN FRIEDRICH HERBART

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Die Konzentration aufs Willenshafte als aufs sozial tätige Element hatte bei Herbart – ebenso wie später bei Baumgarten – nichts mit der Irrationalität von Willensakten zu tun. Es ging um den Ausgleich in einem erfahrungsmäßig zu realisierenden Bezugssystem wechselseitigen Wohlwollens. Das Rechtssystem entstehe, weil die immerfort sprechenden unvergoltenen Taten, seien sie auch an einen Einzelnen gerichtet, von Allen vernommen würden. Die Kunde vom Frevel und vom Verdienste laufe um und so werde ein Rechtssystem gebildet als eine Systematisierung des Wohlwollens bei Willensaktivitäten, die nicht darauf zielen, bis zum Willen des Anderen durchzudringen. Es sei darauf angelegt, zu vermeiden, dass das Wohlwollen durch Streit unterbrochen würde. Die Strafe vergilt die Übeltat, „demnach, wenn Vergeltung einer Übeltat unmittelbarer Zweck ist, dass man das vergeltende Übel darum, damit der Übeltäter ein Übel erleide, ihm zuzufügen beschließe.“174 Von einer zu schützenden und durch die Straftat verletzten Ordnung ist keine Rede. Hier findet sich der romantisch-kommunikative Ursprung des Baumgartenschen frühen Vergeltungsstrafrechts. Zwei Bedingungen setzte Herbart hinzu: Die Strafe erwidere eine Tat nicht bloß als Tat. Sie solle auf die Willensempfindung des Täters als ein Leiden wirken. Hier trat bei Herbart die Forderung der Moral ein, wie es dann Baumgarten ebenso vortrug. Zweitens dürfe es keine Strafe geben, bei der die Moral der Billigkeit nicht als beschränkendes Prinzip mitwirke. Herbart führte nicht den Begriff der Gerechtigkeit ein. Aber es ist klar, dass die Strafgerechtigkeit sich bestimmte aus der Verbindung von Vergeltung nach dem Tatbestand und dem Gebot der moralischen Billigkeit. Die Strafe werde dann nicht eine Handlung für sich ausmachen, „sondern bloß dem Missfallen an der frühern Tat seinen gehörigen Ausdruck geben.“ Sie ist Mittel, niemals Zweck. Recht aristotelisch wurde Strafe so zu einem Mittleren zwischen Wohlwollen und Übelwollen. Besserung als Zweck der Strafe, auch das partielle Moment der Abschreckung können hinzutreten. Das seien psychologische Rücksichten, die nicht zur praktischen Philosophie, sondern zur juristischen Durchführung gehörten. Kritisch merkte Herbart an: „... während die jetzt gewöhnlichen Strafen sich nur selten darauf einlassen, in dem Verbrecher selbst einen Zweck zu erreichen; vielmehr die öffentliche Sicherheit schon soviel Sorgfalt und soviel Aufwand erfordert ...“. „Man möchte doch wenigstens bedenken, ... daß nach jeder andern Strafe eine Zeit folgt, wo der Gestrafte in die Gesellschaft zurückkehren muß“. Die mäßigende Funktion des Vergeltungsgedankens formulierte Herbart, wie später Baumgarten, als Mahnung gegen die Omnipotenz des Staates: „Mögen also diejenigen, welche bei der Sicherung der Rechte bloß an Abschreckung, und bei der Abschreckung bloß an Strafen des Staates denken, sich fragen, ob ihre Theorie fertig ist ... Wollen sie Sicherheit durch Zwang, ohne Rücksicht auf Vergeltung, so wird ihre Theorie einen

174 Ebd., S. 84.

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ZWEITES KAPITEL: PHILOSOPHIE DES STRAFRECHTS

polizeilichen Umfang durch unvermeidliche Konsequenz erlangen, wovor sie selbst erschrecken müssen.“175 Die mit romantischem Einschlag versehene Bindung des Strafrechts an die Moral der Billigkeit (nicht an die Moral der Pflichten des gesellschaftlich lebenden Individuums oder gar des Staatsbürgers) führte die Strafe auf das menschlich erforderliche Maß zurück. „Strafe erhebe keinen Streit“.176 Darum dürfe man sich die Willigkeit, Strafe zu erdulden, nicht zu ausgedehnt vorstellen, denn Vergeltungsstrafrecht fordere ein Maß der Vergeltung, dass sie angenommen werden könne. Was über das Gefühl des Verdienten hinaustreibe, verfehle das Prinzip der Vergeltung. Mit feiner Analyse des behutsam zu bedenkenden Problems, das eine strafende Gesellschaft überhaupt darstellte, lenkte Herbart den Blick auf die Fragen, bei denen der gestrafte Wille stehen bleibe und dem das Leiden fühlbar werde: Wer straft eigentlich hinter den vortretenden Behörden? Kann der Strafleidende das Maß der Billigkeit erkennen und anerkennen oder kehrt die Billigkeit sich wider sich selbst? Aus diesem Kreis der moralischen Zugehörigkeit dürfe kein Strafleidender ausgestoßen werden. Er dürfe sich daraus auch nicht ausgeschlossen fühlen. Herbart wusste die Konsequenzen seiner auf der Psychologie der Willensakte begründeten Verbindung von Strafrecht und Moral deutlich zu umreißen. Gegenüber der Strafgesetzgebung seiner Zeit schrieb er mäßigend. Das Motiv des leidenden Gefangenen, das schon der vorromantischen Literatur der Empfindsamkeit zugehörte, spielte zweifellos hinein. Herbart endete das Kapitel seiner Strafrechtsphilosophie mit der Forderung, dass die Gesetze gestatten müssten, Tatbestände zu qualifizieren, und so auch den Grad der Achtsamkeit aufs Verbotene einschärften. Unwillkürliche Achtlosigkeit könne nicht gestraft werden, bevor sie nicht verboten sei und nicht härter als angedroht. Die versehentliche Tat oder ein in vorübergehender Stimmung verübtes Vergehen, so dass die Person sich hinterher selbst nicht mehr wiedererkennen könnte: „so würde die Tat dieses Vorsatzes nicht ganz zu der Person gerechnet werden können“. „Schuld und Vorsatz machen alsdann eine Summe: und die Zurechnung richtet sich nach den Begriffen von beiden zugleich.“177 Herbart schloss mit einem Entwurf des ursprünglichen Widerspruchs der Rechtsgesellschaft zur Billigkeit. In der Rechtsgesellschaft finde sich der Gleichheitsgrundsatz des Überlassens und Nehmens verletzt. Das Recht nehme dieses positive Faktum hin. Würden die Gleichheit beachtet und die Unterschiede nur nach dem Verdienst gezogen, so stiege der Wert der rechtlichen Einrichtungen. Es ist eine Überlegung zum RousseauThema, doch ohne liberale oder gar demokratische Schlussfolgerungen. Herbart wies 175 Ebd., S. 318f. „Die Strafen und die Belohnungen dürfen die Menschen nicht schlechter machen, als sie waren, wie in Gefängnissen, wo ein Verbrecher den andern unterrichtet ...“ (Ebd., S. 368) 176 Das ist eine alte Bestimmung von Grotius: „Da indes die Untersuchung des Tatbestandes viel Mühe, und die Bestimmung der Strafe viel Klugheit und Billigkeit erfordert, damit nicht aus der Überschätzung des eigenen Schadens, welcher die anderen nicht beitreten, Streit entstehe, haben die gerechten Gemeinschaften der Menschen beschlossen, dazu die Besten und Klügsten auszuwählen.“ (H. Grotius, a. a. O., S. 59) 177 Ebd., S. 88.

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still auf den Untergrund einer Welt hin, in der bei Ungleichheit des Überlassens und Nehmens die Übeltat und deren Vergeltung durch Strafe das Wechseltun und Wechselleiden aus dem eigentlichen Medium des Wohlwollens herausgeführt hätten. Der moralische Stachel ging in diesem psychologisch-moralischen Strafrecht mit, dass eigentlich nur das Verdienst die Stellung der Personen scheiden könne, denn was das Recht unbestimmt lasse, „dies zu bestimmen, unternimmt die Billigkeit, indem sie die Gleichheit vorschreibt.“178 Die moralische Grenzziehung des Strafrechts kam als der trotz allem noch verfügbare Rest der Gleichheit aller tätigen Willen in einer Welt, in der Recht die Ungleichheit verwalte.

178 Ebd., S. 90.

Drittes Kapitel Rechtsphilosophie

„Die Jurisprudenz ist diejenige praktische Wissenschaft, in der das spekulative Talent sich wie in keiner anderen verwerten läßt [...] Nur der Unkundige kann es belächeln, wenn die Jurisprudenz, ich meine nicht die Rechtsphilosophie, sondern jene von der Philosophie oft über die Achsel angesehene praktische Jurisprudenz, die juristische Dogmatik, sich, wie Ulpian es tut, Philosophie nennt.“ Rudolf v. Ihering, Gesammelte Aufsätze, I (1881), S. 16

I. Baumgartens rechtsmethodische Fragestellung in ihrer Zeit 1. Erfahrungswissenschaftliche Methode der Rechtsbegründung Als Baumgarten nach seinen frühen strafrechtlichen Schriften am Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jh.s in die allgemeine rechtswissenschaftliche Diskussion eintrat, stellten die Gegensätze von naturrechtlicher Fundierung höchster Rechtsprinzipien, von romantischer Auffassung eines unbewusst das Rechtsverständnis schaffenden Volksgeistes und des strikten Positivismus der Begriffsjurisprudenz bereits eine überschrittene Phase der Rechtsphilosophie dar. Die Begründung des normativen Charakters des Rechtszwecks und andererseits die kausale soziologische Erklärung der Rechtsordnung spielte in der rechtsphilosophischen Diskussion eine große Rolle. Stammlers Neukantianismus orientierte auf eine voraussetzungslose Rechts-Logik von Ordnungsgefügen, der Baumgarten vorwarf, das äußere Merkmal der Sanktion zum primären Kriterium zu nehmen und so das Recht als „wahrhafte soziale Zwangsregelung“ zu fassen. Er setzte dagegen, die Sanktion bilde nur ein mitgehendes Merkmal der Rechtsordnung, die primär doch ein unverletzliches, verbindendes Wollen darstelle, das zum möglichst geschlossenen System einer positiven Lebensordnung formuliert werde.1 Auf der Gegenseite sah Baumgarten die soziologische Richtung E. Ehrlichs. Hier schloss er sich dem Vorwurf an, dass Sitte und Recht miteinander vermengt, auf jeden Fall nicht präzise geschieden würden. Baumgarten schätzte zunächst den Wert der soziologischen kausalen Erklärung der Rechtsformen für die praktische Handhabung der

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Recht I, S. 26, 28, 34.

I. BAUMGARTENS RECHTSMETHODISCHE FRAGESTELLUNG IN IHRER ZEIT

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Rechtsgebiete gering ein. Er sah einen Dualismus der Positionen, die er beide nicht teilte. Der Konstruktion von Rechtszwecken unterm Primat einer formalen Systematik stünden die kausalen Erklärungen des rechtlichen Ordnungsgefüges gegenüber. In der für sich stehenden kausalen Beschreibung des Rechts sah er schon den Ansatz der obrigkeitlichen Verselbstständigung des Ordnungsaspekts gegenüber den in Wechselbeziehungen agierenden Rechtsgenossen. Die Rechtsphilosophie sei geteilt gewesen in die Aspekte der Handlungsteleologie der Subjektivität – einschließlich der neukantianischen Logik einer Zweckordnung der Handlungen – und der Objektivität der faktischen Rechtsordnung. Das entsprach der Teilung der philosophischen Strömungen in sprachlogisch oder lebensphilosophisch, später psychologisch-existentialistisch geführte Subjektivitätstheorien und material-objektive Richtungen der Phänomenologie der HusserlSchule, der daraus hervorgegangenen neuen Ontologie N. Hartmanns, G. Jacobys, auch der Wirklichkeitsphilosophie H. Maiers.2 Baumgartens Rechtswissenschaft ist von der Philosophie über die Taufe gehalten. Sie ging aus dem sozialen Eudämonismus seines Pragmatismus hervor. Das Recht stellte sich ihm als das wichtigste Feld zur Verwirklichung des höchsten Sollensprinzips im Sinne des sozialen Eudämonismus dar.3 Als der junge Genfer Strafrechtler sich in der europäischen Krisenzeit des endenden Ersten Weltkriegs zu seinem dreiteiligen, enzyklopädischen Werk Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode (1920/22) niedersetzte, war er in der deutschsprachigen Philosophie der Zeit ein Außenseiter. Er vertrat den sensualistischen Empirismus des angloamerikanischen Pragmatismus der Jamesschen und Deweyschen Richtung. Die methodische Intention von W. James’ Pluralismus sah Baumgarten in Vorurteilslosigkeit und Gewissenhaftigkeit gegenüber der wechselnden Erfahrung.4 Das korrespondierte seinem Liberalismus. Mit der erfahrungswissenschaftlichen Begründung seines Rechtsbegriffs betonte er das Erfordernis induktiver Methodik. Das verstand Baumgarten nicht im Sinne kulturgeschichtlicher Fragestellung. Er suchte eine analytische Keimzelle dessen, was dem Begriff des Rechts zum Grunde liegt, und hob zwei Aspekte heraus. Der erste bezog sich auf den intellektuellen Typus 2

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In den damals noch produktiven marxistischen Richtungen standen sich analog die Praxis-Philosophie Gramscis, des Lukács von Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), Lenins Theorie der schöpferischen Rolle der Parteiorganisation (Was tun?, 1901), und die Kautsky-Hilferdingsche und die austromarxistische (K. Renner, O. Bauer) Evolutionsauffassung der verschiedenen Phasen des kapitalistischen Produktionsverhältnisses einander gegenüber. Das Verzeichnis der Rechts-Kapitel in dem zusammenfassenden philosophischen Werk Der Weg des Menschen von 1933 gibt das zu erkennen. Auf die Moralkapitel folgen: § 5 Das objektive Recht, § 6 Die Quellen des Rechts, § 7 Das Verhältnis des Rechts zu Sitte und Religion, § 8 Die zur rechtlichen Regelung geeigneten Lebensbeziehungen, § 9 Der sittliche Standard des Rechts, § 10 Das Recht als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, § 11 Die Begriffe Rechtspflicht, subjektives Recht und Rechtssubjekt, § 12 Rechtsgemeinschaft und Staat. Darauf folgt erst das spezielle Rechtsprogramm mit sieben Kapiteln zum Verfassungsrecht, Familien- und Schulrecht, Wirtschaftsrecht, Strafrecht, Völkerrecht. W. James, A pluralistic Universe, 1909, dt. Leipzig 1914. Die Kritik der monistischen Metaphysik Bradleys, die James hier formuliert hatte (S. 24f), kehrte in B. Russells Logical Atomism (1924) wieder, den er bereits 1918/19 im Monist vertreten hatte.

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DRITTES KAPITEL: RECHTSPHILOSOPHIE

des Rechts. Es sammele soziale Erfahrungen und generalisiere sie, im Horizont durchschnittlich häufiger Ereignisse, nach Verständigungsmaximen zwischen Interessengruppen. Recht entstehe anders als naturwissenschaftliche Theorien. Vor allem aber setze es nicht nur die Anerkennung durch die einzelnen Rechtsgenossen voraus, sondern im Hinblick auf die erforderlichen Verständigungsprozesse zwischen sozialen Gruppen bedürfe es tiefer blickender Verstehensleistungen für die Verhaltensmotivationen und die ideellen Wertvorstellungen der Menschen eines Gemeinwesens. Baumgartens Rechtsverständnis, dass es im Ganzen um ein Verstehen von idealisierenden Setzungen der Lebensführungen gehe, und Baumgartens pragmatistischer Induktionismus und Eudämonismus entsprachen einander. Man möchte sagen, er habe als Jurist sich dem Pragmatismus zugewandt und als pragmatistischer Empirist das Rechtsdenken für die nächste Anwendung dieser Philosophie erkannt. Von diesen methodischen Grundsätzen her vertrat Baumgarten einen sehr modernen, verständigungsorientierten, nicht an den mitgehenden Zwangselementen haftenden Rechtsbegriff. Dazu trat ein zweiter Aspekt. Er korrespondierte dem volitiven Gehalt des Pragmatismus, der nicht nur auf zustimmungsfähige Thesen sah, sondern ebenso auf ein Denken, das entscheidungsfähig und dadurch handlungsorientierend sei. So stellte das Recht für Baumgarten eine jeweils von Individuen oder von einem berufenen Gremium bewusst gesetzte Lebensordnung dar. Im Unterschied dazu bilde die Moral eine nicht gesetzte, sondern sich unbewusst ergebende Ordnung mit weiten und den Individuen überlassenen Verhaltensregelungen. Dennoch sei das Recht sittlich bindende Pflicht.5 Aus diesen Voraussetzungen entwickelte Baumgarten seine Theorie der Rechtswissenschaft de lege lata. Die erfahrungswissenschaftliche Methode gründete also auf dem doppelten Ausgangspunkt der auf der Hand liegenden zweckgerichteten gesetzgeberischen Tätigkeit und auf dem gegebenen Rechtsbewusstsein einer Gesellschaft, das aus Leitlinien einer bestehenden sittlichen Lebensordnung ausgegliedert werde. Den ersten Gesichtspunkt führte Baumgarten als Positivität des Rechts aus, den zweiten als nahes Verhältnis des Rechts zur Moral. Im wissenschaftslogischen Zusammenhang kam Baumgarten zur Rechtsphilosophie vom Problem des Verhältnisses zwischen empirisch faktischer Realität und Rechtssatzung. Auf dem komplizierten Feld der wechselseitigen Beziehung von pluraler Empirie und definitiver Bestimmung einer unifizierenden Setzung, die darum Normcharakter gewann, sah er den eigentümlichen Geltungscharakter des Rechts und die Thematik der juristischen Logik. Der Normcharakter gründe formallogisch letztlich auf dem Gegensatz von Einheit und Vielheit. Die Rechtsform fasste er gegenüber dem weiten und individuell variablen Regelcharakter der Moral, der Pädagogik und auch der Religion als eine enge und an den Satzungstext gebundene Ordnungsform. Den Naturwissen5

Recht I, § 11. „Die Rechtswissenschaft nimmt ihren Ausgangspunkt von der geltenden Ordnung des Zusammenlebens, zu entwickeln hat sie dieselbe jedoch als eine geltensollende. Dieses Geltensollen, das auf die allgemeine ethische Erwägung, die Interessenabwägung unter dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Förderung des Wohls der Gesamtheit führt, ist das Ziel der rechtswissenschaftlichen Untersuchung auch insoweit, als die Voraussetzungen der Gültigkeit von Gesetzen in Betracht kommen.“ (S. 193)

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schaften sei der empirisch feststellbare Vorgang sogleich ein erscheinender Einzelfall des – möglicher Weise erst zu findenden – Naturgesetzes. Der juristischen Methode könne die deduktive Urteilsbildung nur eine der Linien sein. Der Einzelfall sei nicht Beispiel im strengen Sinn. Er sei der analoge Fall, im aristotelischen Sinn von παράδειγµα als παραβολή. Das Verstehen von Rechtsfällen als von Beispielen bedeute also vor allem das „Verstehen“ von Analogien. Das ist kein Verstehen im weiten, lebenspraktischen Sinn. Verstehen von Analogien setzt eine in langer empirischer Erfahrung einzuübende Gliederung und Aktivierung von Vorverständnissen voraus.6 Darum habe der praktisch tätige Jurist das empirische Verhalten der Individuen unbefangen kausal zu denken. Der Widerspruch dieser weiten Art praktisch bezogener Hermeneutik bleibe auch bei den Ermessensspielräumen bestehen, die der fixierte Gesetzestext sogleich freilasse. Auch in der gegenläufigen Richtung der Formulierung von Gesetzestexten sei der Hauptgesichtspunkt einer Regelung mit möglichst vielen Beispielfällen zu vermitteln. Die Besonderheit der Beziehung von Allgemeinem und Besonderem zeige sich im Erfordernis der Kommentarliteratur. Baumgarten suchte mit der empiristischen Grundlegung seines Rechtsbegriffs solche logische Konstanten der Fixierung von Rechtstexten und der praktischen Rechtsfindung zu erfassen. Nach der Schrift zur Verbrechenslehre ging er daran, den Pragmatismus zur philosophischen Grundlegung seiner Rechtswissenschaft durchzubilden; immer geleitet von dem ursprünglichen Anliegen, die den Obrigkeitsstaat fixierenden Theorien des Strafrechts, des Zivil- und Verfassungsrechts und schließlich auch des Völkerrechts zu überwinden. Hier formulierte Baumgarten die altruistische Ethik der Solidarität, die fortan die unveränderliche Konstante aller seiner folgenden rechtsmethodischen, philosophischen und sozialtheoretischen Auffassungen bleiben sollte. Starken zeitkritischen Zug erhielt die erfahrungswissenschaftliche und darum moralische Grundlegung des Rechtsbegriffs durch die Verurteilung des Ersten Weltkrieges und des sozialen Ideals des siegreichen Krieges überhaupt. „Wenn nun sonach der Nationalismus Aussicht hat, in weiten Kreisen praktisch die Rolle eines Moralprinzips zu spielen, so wird es andererseits kaum möglich sein, ihn bei ruhiger Überlegung theoretisch zum Moralprinzip zu proklamieren.“ Der deutsche Staatsbürger „wird es sich nicht einreden zu lassen brauchen, daß die Förderung der Prosperität irgendeines dieser Staaten das oberste Moralgesetz für ihn darstellen sollte. ... Aber auch ganz abgesehen von diesen Fällen erscheint es dem normalen Menschen kaum erträglich, daß das allgemeingültige Handlungsprinzip zu einer gegenseitigen Bekriegung und Unterdrückung der einzelnen Menschengruppen führen sollte.“7 Der Genfer Rechtsprofessor trat zum Kreis der pazifistischen Gegner des Weltkrieges der imperialistischen Großmächte, der die Schweiz zu seinem publizistischen Zentrum erhoben hatte. Baumgartens lebhafte, auf solidarische Verhaltensmaximen zielende, dabei nie doktrinäre Geistesart kennenzulernen, es gibt kein besseres Beispiel unter dessen zahlreichen Schriften als diese knappe, nur 150

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Vgl. G. Buck, Lernen und Erfahrung, Darmstadt ³1989, S. 178f (Teil 3: Analogie und Analogieverstehen) Moral, S. 50f.

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Seiten umfassende Skizze seiner Theorie von Rechtsordnung und Ethik der Solidarität unter der bestürzenden Erfahrung der ersten europäischen Katastrophe des 20. Jh.s. Baumgarten hat den Empirismus seiner logischen Begründung des Rechts in allen späteren Schriften nicht nur beibehalten, er hat ihn psychologisch erweitert. Für den sensualistischen Empirismus – im Unterschied zum logischen oder sprachanalytischen – hatte die Psychologie immer die zentrale fachwissenschaftliche Quelle gebildet. In seiner späten Methodenlehre des Rechts von 1939 führte Baumgarten die empirischfaktische Geltung einer Rechtsordnung gegen den Gedanken des Gehorsams aus der Furcht vor Zwangsmaßnahmen bis auf den Nachahmungstrieb, auf eine Perseveranz der Gewohnheit, zurück. Die Rechtspflicht stelle nicht einen gesonderten geistigen Gegenstand dar, wie ihn der Neukantianismus logisch-apriorisch, die Phänomenologie als „geschauten“ Gegenstand auffasse. Sie sei etwas Psychisches, ihre Wurzeln reichten bis zum Unbewussten hinab. „Versuchen wir Empiristen, der Rechtspflicht ihr Rätsel zu entlocken, indem wir mit Hilfe der Erfahrung den zunächst dunklen, verborgenen psychischen Gehalt der Pflichtgefühle allmählich ans Licht ziehen ...“ Für die Phänomenologen sei Rechtspflicht eben der vom psychischen Vorstellen verschiedene Gegenstand als solcher. Darum habe W. Wundt von der Phänomenologie gut gesagt, bei ihr laufe alles auf identische Urteile hinaus. Ein solches vereinfachendes Verfahren „enthebt uns der Mühe, den Wurzeln nachzugehen, die das Recht in den Tiefen unseres Innern hat.“8 Den psychologischen Akzent des Empirismus dieser Methodenlehre entfaltete der besorgte Autor im Zusammenhang mit der Konzentration seines Liberalismus auf eine gemeinschaftliche, menschheitliche Verantwortung der Bürger für eine kommende Rechtsordnung sozialer Gerechtigkeit und eines kommenden bindenden Völkerrechts. Das traditionell zur empiristischen Richtung gehörende psychologische Element hatte in Baumgartens Rechtstheorie ursprünglich eine einschränkende, die neueren soziologischen Öffnungen der Begriffsjurisprudenz abwehrende Funktion ausgeübt. Das zeigte sich am deutlichsten in Baumgartens frühem, psychologisierendem und folglich individualisierendem Strafrecht. Baumgarten sah eine Teilung zwischen subjektiven und soziologisch (auch romantisch) ganzheitlich gerichteten objektiven Richtungen der Rechtsphilosophie.9 Später rechnete Baumgarten sogar Smends Integrationstheorie zu den konservativ ganzheitlichen Theorien. Er behandelte in seiner Wissenschaft vom Recht (1920/2) das methodische Problem der Rechtssystematik, das der Begriffsjurisprudenz

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Methodenlehre, S. 180-183. „Wie auf so vielen Gebieten moderner Wissenschaft tobt auch auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft der Kampf zwischen Idealismus und Empirismus. Die einen wollen im Recht nur das soziale Gebilde, das Produkt menschlichen Handelns erblicken, ihnen ist die Rechtswissenschaft eine Erfahrungswissenschaft, sie operieren methodisch mit dem Begriff der Kausalität, die anderen sehen im Recht die Rechtsnormen, das Recht ist ihnen eine ideales Gebilde, die Rechtswissenschaft eine normative Wissenschaft.“ (F. Schreier, Über die Lehre vom „möglichen Recht“. Zugleich eine Besprechung von Kelsens Allgemeiner Staatslehre, in: Logos, XV (1926), S. 364)

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zu Grunde lag. (§§ 15, 16 des ersten Teils).10 Er verband damit eine kritische Übersicht der rechtsphilosophischen Strömungen der Zeit. Der Rechtspositivismus als eine Anerkennung der Gesetze ohne Wertung von deren Inhalt, spielte für den Binding-Schüler Baumgarten immer noch eine Rolle. Ein eigenständiger Aspekt bestand in Baumgartens Hochschätzung der Psychologie, die eigentlich vom empirisch verfahrenden Rechtspositivismus, insbesondere von E. R. Bierling (1843 – 1919), vertreten wurde. Bei Baumgarten war außerdem der JamesEinfluss wirksam. Er sagte später, noch in der Weimarer Zeit hätten die Juristen nicht viel von Psychologie gehalten. Baumgarten öffnete sich erst in der Erfahrung von Weltkrieg und Revolution den neuen soziologischen Tendenzen der Rechtsphilosophie, die von Iherings Interessenjurisprudenz und auch vom Kathedersozialismus schon im späten 19. Jh. vorbereitet worden waren. Er sah in der Begriffsjurisprudenz eine Barriere gegen die Gefahren des metaphysisch oder naturrechtlich gedachten absoluten Rechts, und ebenso gegen Eingriffe moralischer und vor allem politischer Wertsetzungen. Die schlimmsten Erfahrungen lagen noch in der Ferne, die dann nach dem Faschismus auch Radbruch von den neukantianischen Wertprinzipien seiner Rechtsphilosophie her bestimmten, zu absoluten humanitären Rechtsprinzipien gleichsam naturrechtlicher Art zurückzuleiten. Baumgarten ging an diesem Wendepunkt der europäischen Erfahrung in der Linie seines Pragmatismus zu sozialistischen Positionen über. Der Pragmatismus betonte den volitiven Charakter der Rechtssätze. Ihm stand darum der Formalismus der Begriffsjurisprudenz nahe. Baumgarten konnte so noch 1939 sagen, selbst ein für ungerecht angesehenes Gesetz müsse um der Rechtssicherheit willen befolgt werden. Allerdings sei der übersteigerte „Begriffskultus“ eines „substanzontologischen Subsumtionsdenkens“ mit dem Rechtspositivismus verbunden worden.11 Baumgarten hielt daran fest, dass der Rechtspraxis die Voraussetzung eines objektiv richtigen Rechts zu Grunde liegen müsse, und dass diese Voraussetzung in der Positivität der Gesetze zum Ausdruck komme. Die vom Gesetzgeber gesetzte Positivität ist für den Pragmatismus der entscheidende Geltungsgrund des Rechts. Aus ihr folgen zugleich die spezifische Zweckgerichtetheit der Geltung und deren Überschreitung gemäß veränderten Zwecken.12

10 „Begriffsjurisprudenz und Auslegung aus dem System zusammengenommen, stellen die Methode des Rechtspositivismus dar.“ (Recht I, S. 402) 11 Methodenlehre, S. 82. Entschieden hatte er sich 1920 gegen Tendenzen ausgesprochen, dass der Richter die Normen für seine Entscheidungen nicht so sehr den positiven Anordnungen des Gesetzgebers als vielmehr gesellschaftswissenschaftlichen Theorien entnehmen solle. 12 L. Schulz, Das rechtliche Moment der pragmatischen Philosophie von Ch. S. Peirce, Ebelsbach 1988; St. Schlüter, Individuum und Gemeinschaft. Sozialphilosophie im Denkweg und im System von Ch. S. Peirce, Würzburg 2000.

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2. Allgemeine Leitsätze des Rechts. Begriffsjurisprudenz Vom Rechtspositivismus sagte Baumgarten, er gebe zwei Probleme auf. Wie sei die Verbindung der allgemeinen Gesetzesformel mit dem konkreten Ereignis herzustellen? Vor allem aber komme es auf die Entstehung der niedergelegten und geltenden Gesetze an, wenn deren Positivität als das Zentrum des Rechts anerkannt werden solle. Für beide Punkte, die sich auf gegenläufige Prozesse beziehen, setzte Baumgarten seinen Empirismus ein. Dadurch überschritt er die abstrakte positivistische Auffassung. Zunächst zum ersten Punkt. Die Brücke vom Rechtsbegriff zum einzelnen Tatbestand könne nicht einfach durch Deduktion aus dem System der Rechtssätze gebildet werden. Rechtsprechung sei nicht „ein rein logischer Akt der Anwendung des abstrakten Gesetzes auf den konkreten Tatbestand“.13 Die normative Anforderung, mit der das Gesetz dem empirischen Verhalten begegne, sei nicht durch die innere Systematik des Gesetzeswerks allein, auf der anderen Seite ebenso wenig durch einfache empirische Anschauung mit der Realität zu vermitteln. Baumgarten sagte, hier müssten „Leitsätze der Praxis“ eintreten, die dann klassifizierende Konstruktionen von Sachverhalten und Tatbeständen vorbereiteten. Er verstand das ganz im heutigen Sinne der typologischen Methode, Lebenssachverhalte und Rechtsnormen zueinander zu öffnen, so dass die offenen Grenzen der Typisierungen bei der Gesetzesanwendung Interessenabwägungen und Ermessensspielräume ermöglichten und erforderten.14 Baumgarten dachte von seinem Empirismus her „eine einfache und anschauliche Formulierung der Rechtssätze“, die durch ein „Transponierungsverfahren“ mit den konkreten Sachverhalten vermittelt und natürlich auch untereinander in Beziehung gesetzt werden könnten.15 Die Transponierung oder Übertragung diene der Anschaulichkeit der einzelnen Bedingungen des Rechtsverkehrs, im Sachenrecht etwa der Abtretung oder der Hemmung von Rechten durch Einreden.16 Der Wirklichkeitsbezug der Rechtssätze richte sich nicht auf einzelne Ereignisse im unmittelbaren Sinne, sondern auf „komparative anschauliche Abstraktionen“, wie es H. Maier genannt und als „Typenobjekte“ oder „fingierte Individualobjekte“ dargestellt

13 Recht I, S. 403. 14 Vgl. A. Kaufmann, Die historische Entwicklung der neueren juristischen Methodenlehre, in: Kaufmann, Hassemer, Neumann, Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 72004, S. 109-137. 15 Recht I, S. 381. 16 „Der naturhistorischen Methode Iherings, dem Transpositionsverfahren, liegt ein Analogieschluss zu Grunde. Das Rechtliche wird dadurch veranschaulicht und auf kurzen Ausdruck gebracht, daß man es sich übertragen denkt in die Sphäre des Physischen. [...] der Vorteil dieses Verfahrens besteht in der Erhöhung der Anschaulichkeit und Erleichterung des Ausdrucks, denn unserem Geist ist das Körperliche deutlicher und vertrauter und unsere Sprache ist auf ersteres gemünzt.“ (Recht, III, 630f) Baumgarten teilte Bergsons Auffassung von der elementaren Funktion des räumlichen Bewusstseins, lehnte aber mit Bergson die naturalistische Transposition ebenso konsequent ab, weil sie die teleologischen Aspekte der Rechtsgenese und dadurch den Primat des Zeitbewusstsein bei den Handlungen zurücktreten lasse.

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hatte.17 Baumgartens Empirismus lehnte die Auffassung zeit- und situationsinvarianter Rechtssätze und auf der anderen Seite ebenso eine naive Unmittelbarkeit vermeinter lebensechter Anschauung ab. Die Rechtsanwendung benötige eine topologische Logik, da sie auf Gebilde typischer Situationen gerichtet sei. Baumgarten folgte darum nicht den heftigen Angriffen der Freirechtsschule auf die Begriffsjurisprudenz.18 Er betonte die Bindung der Objektivität der Rechtsanwendung an die Positivität des Gesetzes in deren systematischen Bezügen und blieb im Übrigen bei der alten These, dass die Rechtsprechung der Gerichte ebenso wie die Rechtswissenschaft an der Rechtsentwicklung mitwirke. Hinsichtlich der Auslegungsmethode betonte er die Objektivität des Gesetzestextes. Als Strafrechtler hatte Baumgarten noch in seinem Aufbau der Verbrechenslehre (1913) die klassische Schule Karl Bindings gegen die neueren Richtungen F. v. Liszts und Eugen Ehrlichs (Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913) vertreten. Das wirkte in seiner Schätzung der Begriffsjurisprudenz und überhaupt in seiner Auffassung von Positivität des Rechts als bewusster, zweckgerichteter Konstruktion nach. Es hat schließlich auch seine Haltung in der späten Zeit zur Gesetzlichkeit der DDR beeinflusst. Aus dem Gesetzestext sei nach den Kriterien der Fachsprache, der Gerechtigkeit und der Billigkeit der Tatbestand zu konstituieren und die Entscheidung zu treffen. Die juristische Hermeneutik sei durch den Text auf Sätze mit objektivem Sinnbezug orientiert. Subjektive Kriterien, wie etwa die Genese einer Norm und die Funktion von Präjudizien, ließ Baumgarten zurücktreten. Was schließlich der Gesetzgeber gewollt habe, sei oft nicht eindeutig feststellbar. Überhaupt gehe es nicht um Intentionen. Diese seien von Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie zu behandeln. Baumgarten hätte auch wie Radbruch sagen können, das Gesetz müsse klüger sein als dessen Verfasser. Baumgartens Hochschätzung der Positivität der Gesetze gehörte zu seiner Auffassung von der integrativen Funktion des Rechts. Zugleich war seine empiristische juristische Hermeneutik mit einer weit ausgreifenden Sicht verbunden, die über die Logik von Fall und Regel hinausging. Baumgarten dachte eine Stufung von der richterlichen Praxis zur Gesetzgebung und weiter zur systematischen Reflexion der Rechtsform. Mit seinem empiristischen Erfahrungsbegriff sah er diese Strukturgliederung in der Zeitebene als einen sich immer verlängernden Erfahrungsraum der Menschheit. Wir gewännen durchs Recht die Kontinuität von Geschichte, mehr noch als durch geistige Traditionen, da das Recht positive Lebenswirklichkeit darstelle. In der Kontinuität von Rationalität, wie sie die Geschichtlichkeit des Rechts zeige, sah Baumgarten die Bündelung von Erfahrungen, 17 Baumgarten schätzte H. Maier (1867 – 1933) wegen dessen erkenntnistheoretischen Realismus (vgl. Baumgarten, Erkenntnis, S. 505ff; H. Maier, Philosophie der Wirklichkeit. Erster Teil. Wahrheit und Wirklichkeit, Tübingen 1926, S. 206ff; Dritter Teil. Die psychisch-geistige Wirklichkeit, Tübingen 1935, S. 312-318). G. Duttge hat für die juristische Methodenlehre jetzt wieder auf H. Maier hingewiesen: G. Duttge, Zum typologischen Denken im Strafrecht. Ein Beitrag zur „Wiederbelebung“ der juristischen Methodenlehre, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 11 (2003). Im gleichen Sinne K. Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft, a. a. O. 18 Vgl. Recht I, S. 393f. R. v. Iherings Geist des römischen Rechts (1852/65) sei noch immer die beste und eine überzeugende Darstellung der Theorie der Begriffsjurisprudenz. (S. 396)

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die dann in den einzelnen Fällen der Rechtsanwendung als typisierende Leitsätze der Beurteilung wiederkehren würden. Mit seiner empiristischen Auffassung der Rechtserfahrung vermochte er die Krise und den Umbruch des deutschen öffentlichen Rechts am Ende des Ersten Weltkrieges vorurteilslos aufzunehmen. Es ist bekannt, dass die Mehrzahl der deutschen praktischen Juristen und der Rechtswissenschaftler Distanz zum Recht der Weimarer Republik hielten. Die Kontinuität des kulturellen Selbstverständnisses, auf der Existenz und Legitimitätsbewusstsein des deutschen Bürgertums ruhten, erhielt 1918 einen derben Stoß. Anfangs schien es gar, als würde der neue Rechtsstaat seine konstituierende Trias von Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie gegen gemeinrechtliche und sozialrechtliche Einlassungen auflösen. Das Bürgertum hatte die ursprüngliche parlamentarisch-liberale Orientierung seiner nationalen Einheitsbewegung vor der aristokratisch-junkerlichen Bildung des sehr spezifischen Einheitsstaates zurückgesetzt. Das prägte schließlich nicht nur das Kontinuitätsbewusstsein der Oberklassen, sondern zunehmend ebenso das der Arbeiterschaft. Nach dem „tollen Jahr“ 1848 war der Rechtsfortschritt des 19. Jh.s im Lichte eines sich kontinuierlich stabilisierenden Ordnungsgeschehens erschienen. Die Gesetzgebung des 19. Jh.s hatte, dem Handelsrecht nachfolgend (Deutscher Zollverein 1834, Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch 1861), eine allgemeine Rechtseinheit in Deutschland geschaffen. 1877 wurden die Reichsjustizgesetze, nach jahrzehntelangen Verhandlungen wurde 1896 schließlich das Bürgerliche Gesetzbuch erlassen.19 Der Rechtspositivismus entsprach der Erwartung, die Gesellschaft mit deren unterschiedenen Sphären der Unverletzlichkeit der Person, der Wirtschaft, Familie, Erziehung verfassungs- und verwaltungsrechtlich, privatrechtlich und strafrechtlich integrieren zu können. Dieser Eindruck simplifizierte die Logik der juristischen Methodenlehre, indem er empiristische Leitsätze, wie sie Baumgarten vertrat, zurücktreten ließ. Die Geltungsweise der Rechtssätze sollte mehr noch als gemäß einer Logik der Analogie nach deduktivem Muster vollzogen werden können. Schon gegen den 1888 veröffentlichten Entwurf des BGB wurde eingewandt (neben der Sozialdemokratischen Partei, die das Gesetzeswerk dann auch im Reichstag abgelehnt hatte, auch von Juristen wie A. Menger, O. v. Gierke), unterm formalen Gleichheitsprinzip diene das Gesetzbuch einem Manchesterkapitalismus. Trotz der gewerberechtlichen Arbeiterschutzgesetzgebung (1869) und einer staatlichen Zwangsversicherung der Industriearbeiterschaft (1881, Kodifikation 1911) fehlten soziale Rechte wie ein Arbeitsrecht, der Platz von Gewerkschaften in der Gewerbeordnung, ein soziales Mietrecht. Das konfrontierte den Rechtsformalismus mit den realen Interessengegensätzen der Klassen und mit der Perspektive unkontrolliert eintretender Veränderungen. Schon seit den sechziger Jahren des 19. Jh.s waren die deutschen Staaten England und Frankreich mit einer gewerkschaftlich und politisch eigenständigen sozialen Bewegung nachgefolgt. Das beendete für die sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen das Vorurteil der ideellen Immanenz.

19 Ch. Starck (Hg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, Göttingen 1992, darin u. a.: M. Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Rechtsvereinheitlichung, S. 15-41.

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Für die Jurisprudenz bedeutete es das Ende der pandektistischen Methode der Selbstentfaltung eines, wie R. v. Ihering es als Puchta-Schüler selbst gedacht hatte, „universellen Rechtsalphabets“, dessen Ursprünge erfahrungstranszendent seien.20 Die von v. Ihering seit den sechziger Jahren begonnene Kritik am kontemplativen Historismus der historischen Rechtsschule und an der ihr rechtspraktisch entsprechenden positivistischen Begriffsjurisprudenz erstreckte sich in verschiedenen Phasen bis in die erste Hälfte des folgenden Jahrhunderts. Baumgarten hat wiederholt vom großen Einfluss der Schriften v. Iherings auf sein Denken gesprochen.21 Er sagte zugleich von der modernistischen Bewegung der Zivilrechtswissenschaft im Ganzen, sie habe in rechtsphilosophischer Hinsicht enttäuscht.22 Im Kriege und mehr noch in dessen Folge, in der Revolution, zerbrach schließlich der „charakteristische Dualismus zwischen monarchischer und parlamentarischer Gewalt“, der die konstitutionelle Monarchie des deutschen Kaiserreichs geprägt hatte.23

3. Baumgarten über das logische Problem der Rechtsgenese Baumgarten setzte mit dem Unterschied zwischen der Logik der Rechts-Entstehung und derjenigen der Rechtsanwendung ein und betonte gegenüber den deduktiven und analogisierenden Anwendungsaspekten die genetisch-induktive Thematik der Rechtsgenese. Gemeint war damit nicht die historische Entstehung des Rechts, sondern die Theorie der Rechtsbegründung. Die logische Problematik der Rechtsbildung kann monistisch (naturrechtlich oder institutionalistisch), dualistisch formalisierend oder genetisch-induktiv aufgelöst werden. Monistisch verfuhren nach dem theologischen und dem aufklärerischnaturalistischen Naturrecht die konservativen Ganzheitslehren (F. J. Stahl im 19. Jh.) mit dem Gedanken des Primats der rechtssetzenden Institutionen. Der neukantianische Dualismus besitzt eigene Verdienste seiner Durchführung bei genereller Schwäche der Prämisse der apriorischen logischen Sphäre und überhaupt beim reinen Formalismus der Rechtskonstruktion (Kelsen).24 In der 2. Hälfte des 19. Jh.s begann der Aufstieg der Richtungen der genetisch-induktiven Rechtstheorien, dessen Ursprünge in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zurückreichten (K. Marx, B. Bauer, A. Ruge, auch L. v.

20 Vgl. A. Hollerbach, Art. R. v. Ihering in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 123f; H. Klenner (Hg. u. Anhang,), H. v. Jhering, Der Kampf ums Recht, Freiburg, Berlin 1991. 21 Zu seiner Studie Notstand und Notwehr (1911): „In meiner Auffassung der Notwehr war ich angeregt durch Iherings Kampf ums Recht, wie überhaupt die Schriften Iherings starken Eindruck auf mich machten.“ (Vom Liberalismus, S. 13) 22 „In keiner seiner Varianten – Zweckjurisprudenz Iherings, Interessenjurisprudenz Philipp Hecks, Rechtstatsachenforschung, Freirechtsschule, Rechtssoziologie Eugen Ehrlichs – drang er ins philosophische Gebiet vor.“ (Ebd., S. 24) 23 Vgl. das einleitende Kapitel in: M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München 1999. 24 H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden ²1990.

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Steins Gesellschaftslehre. 1. Abt., Der Begriff der Gesellschaft und die Lehre von den Gesellschaftsklassen, Stuttgart/Augsburg 1856). Iherings Zwecktheorie des Rechts, ebenso v. Liszts Übergang zu soziologischen Aspekten des Strafrechts, bildeten das genetisch-induktive Verständnis der Rechtsgenese fort. Baumgarten ist der Rechtsphilosoph, der die Rechtsgenese auf der Grundlage eines durchgebildeten philosophischen Empirismus entwickelte. Für die Praktikabilität der Tatbestände und überhaupt für die Ökonomie des Rechts komme es auf die Erfahrungssätze an, von denen her die Gesetze formuliert würden. Das richtete das Geltungsproblem auf die Veränderlichkeit der sozialen Konstellationen, denen das Recht genügen müsse. Der normative Charakter des Rechts war bewahrt, doch zugleich die Unbedingtheit der Geltung mit der sich verändernden sozialen Erfahrung verbunden. Das allgemeine Problem, wie die Bildung von Gesetzen zu interpretieren sei, löste Baumgarten nicht im marxistischen Sinne, dass die stärksten sozialen Interessen das Recht setzten. Ebenso wenig nahm er eine eigene Wertsphäre idealer Geltungen als letzter Quelle der juridischen Normierungen an.25 Er fasste den Rechtsbildungsvorgang im Ganzen als Summen von Optimierungsprozessen. Optimiert würde die gesellschaftliche Funktionalität des Handelns realer Subjekte. Ein Zeichen dieses praktischen Gehalts seien die dabei vorgenommenen Bildungen fingierter Rechtssubjekte. Mit den Handlungsintentionen empirisch realer Individuen, von denen ausgegangen werden müsse, verband Baumgarten den Rationalitätsgehalt des Rechts. Die Sollensbestimmungen autonomer Individuen schüfen überhaupt rationale Muster optimaler Zweckverwirklichungen. Dieses pragmatistische Modell übertrug Baumgarten auf die Rechtsbildungsvorgänge. Den Bedeutungsgehalte fingierenden Begriffen lägen die Rationalitätserfordernisse sozialer Wechselwirkung zu Grunde. Das Recht sei darum ebenso wie durch Rationalität durch ein Perfektibilisierungsprinzip ausgezeichnet. Baumgarten nannte das Recht deshalb ein „soziales Kausalverhältnis“.26 Die Optimierung der Wechselwirkungen der Individuen bei deren Zweckhandlungen, denn darauf laufe es hinaus, geschehe unter bestimmten, sich verändernden Kriterien, in denen sich die verschiedenen sozialen Interessen artikulierten und vermittelten. Der Akzent Baumgartens bestand im Gedanken, das Recht stelle eine positiv geltende Ordnung aller Handlungsformen dar. Recht bedeute Geltung, für Moral dagegen solle man von Gültigkeit sprechen. Das Prinzip der Perfektibilisierung stand im traditionellen empiristischen Sinne dafür, dass die Auswahl von Handlungen sich gemäß deren positiver oder negativer Bewertung ständig verändere. Die Rechtssätze stehen nicht nur der Verschiedenheit der faktischen Akte, sondern zugleich deren qualitativer Veränderung gegenüber. Das Recht sanktionierte Handlungen unterm Gesichtspunkt der möglichst weitgehenden Universalisierbarkeit von deren Rationalität. Das stand in Bezug zu Baumgartens philosophischem Pragmatismus, dass Sollensbestimmungen sich aus der Handlungsteleologie schlechthin ergäben. Dann lag freilich alles daran, wie der Selektionsprozess von Zwecksetzungen aufgefasst würde. 25 Vgl. E.-W. Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1992, S. 67-91. 26 Recht III, S. 635.

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Baumgarten hielt an dessen rationalem Charakter fest. Das schloss fürs Recht das Postulat ein, dass Gesetzgebung und Rechtswirklichkeit immer wieder unterm leitenden Gesichtspunkt eines dynamischen Gleichgewichts der Handlungsintentionen aller Individuen und Gruppen neu vermittelt werden sollten. Baumgarten trat mit seiner pragmatistischen Auffassung der mit Erlebensganzheiten oder dezisionistisch argumentierenden Liberalismuskritik und bis in die frühen dreißiger Jahre ebenso dem sozial kontrastierenden und volitiv umbrechenden Marxismus entgegen.

4. Kritik des neukantianischen Dualismus Baumgarten grenzte seine Rechtsphilosophie von den positivistischen und von den dualistischen Theorien ab. Den Positivismus sah er als Bekenntnis zu einer atheoretischen Jurisprudenz.27 Sein Empirismus richtete sich ebenso gegen die neukantianische Annahme, das Recht gehöre, wie Moral, Religion, einem eigenen Reich des Sollens und der Werte zu. Er lehnte den Methodendualismus beim Begründungsproblem der Rechtssätze ab, ging aber nicht so weit wie der Positivismus, Rechtssätze schlechthin für Existentialurteile ohne normativen Charakter anzusehen.28 In der positivistischen Position sah er die Gefahr der für selbstverständlich liegengelassenen Trennung von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit. Doch die Kontrastierung der Empirie gegen den normativen Charakter des Rechts, ob als „Rechtswille“ oder als „Rechtsempfinden“, könne zur dezisionistischen Untergrabung der Rechtsgeltung geführt werden. Die dualistische Trennung von sog. Wertsetzungen und Rechtswirklichkeit biete keine logische Voraussetzung, der realen Bewegung der Normsetzungen gerecht zu werden. Es schwäche darum die Widerlegung der irrationalistischen, lebensphilosophischen Gegenüberstellung von Ratio und Wille, die sich in der rechtsphilosophischen Kritik der Weimarer Republik wiederfand.29 27 Der Freirechtler Hermann Kantorowicz, dem Radbruch seine erste Rechtsphilosophie von 1914 gewidmet hatte, sah 1911 nach dem Abebben des Historismus den Positivismus aufkommen, der die Rechtswissenschaft zwischen „dem nur das unmittelbar Nützliche begreifenden Handwerk“ und einer für sich stehenden Philosophie aufteile. „Noch freilich ist die Rechtsphilosophie das Stiefkind der offiziellen Jurisprudenz; aus dem Unterricht fast ganz, aus der Prüfung ganz ausgeschlossen, fristet diese in Deutschland brotlose Kunst [...] ihr Dasein zumeist in kleineren Schriften jugendlicher Idealisten.“ (H. Kantorowicz, Anzeige von: M. Rumpf, Volk und Recht, 1910, in: Logos, II (1911/12), S. 129). 28 So damals z. B. Fritz Sander, Der Begriff der Rechtserfahrung, Logos, XI (1922/23), S. 285-308. „Und so bestehen alle Rechtssätze aus zwei Doppelurteilen. Das erste Urteilspaar (die ‚Rechtsvoraussetzung‘) enthält ein Urteil eines ‚Organs‘ über einen Tatbestand, das zweite Urteilspaar (die ‚Rechtsfolge‘) enthält ein Urteil über ein Tatbestandsurteil eines anderen Organs. ... Wir dürfen also das Dogma von der Normativität des Rechtes als völlig entwurzelt betrachten: Alle Urteile des Rechtes sind Seinsurteile, sind Existentialsätze.“ (S. 302f) 29 Das Irrationalitätselement markant in einem Gedenkaufsatz für den Rechtshistoriker Heinrich Mitteis (1859 – 1921) von 1927: „Das Irrationale der Rechtswirklichkeiten spottet allem Bemühen, sie in ein begriffliches Muster zu zwingen und sie in einem solchen darlegen zu können. Das Weltrecht

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Ebenso wie die positivistische oder lebensphilosophische existenziale Ontologie lehnte Baumgarten den Dualismus von Sein und Sollen ab, den vor allem vom südwestdeutschen Neukantianismus beeinflusste Juristen, darunter auch G. Radbruch, vertraten.30 Den methodischen Mangel sah Baumgarten in der grundsätzlichen Trennung rein formaler Normative von den materialen Gehalten.31 Der außerhalb materialer Intentionen konstituierte Pflichtenkanon führe in der Konsequenz auf die Anmaßung eines lückenlosen Systems rechtlicher Regelungen und verfehle den methodischen Grundsatz sachlicher Angemessenheit rechtlicher Regelungen.32 Baumgarten ging in seiner Antipathie gegenüber dem Neukantianismus so weit, dessen Sollensbegriff vorzuwerfen, dieser könne autoritären Tendenzen dienen. Der Neukantianismus bildete jedoch (mit der Ausnahme B. Bauchs, der zum Nazismus schwenkte) auch in der Rechtsphilosophie den Hauptstrang des liberalen Denkens in der deutschen Tradition, mit sozialistischer Tendenz bei Cohen und in der Sozialpädagogik Natorps. Die Trennung von Sollen und Sein bedeutete nur ein methodisches Prinzip, und es war in diesem Rahmen – wie heute in der Transzendentalpragmatik – auch sinnvoll. Der Neukantianismus suchte eine innerlogische Abwehr absoluter materialer Prinzipien. Er richtete sich, wie gegen jede Ontologie, so gegen naturrechtliche, theologische und metaphysische Rechtsontologien. Richtig wandte er gegen die Richtungen ein, fürs Absolute gäbe es keine Relativität, kein wirklich Neues, eigentlich nicht einmal einen realen Übergang. Dieser wäre nur das Spiel, das das Absolute sich selbst aufführe.33

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als künstlich erdachte und erschaffene identische Rechtswirklichkeit ist nicht minder Utopie, wie das Naturrecht.“ „Das Auseinanderfallen zwischen Recht und Rechtswirklichkeit kann verursacht sein nicht durch ein Zurückbleiben der Legislative hinter dem Rechtsleben, sondern umgekehrt durch eine allzu tatenfrohe Handhabung der Gesetzgebungsmaschine, von deren Erzeugnissen dann die Rechtswirklichkeit vielleicht ganz abseitig ist.“ (F. Holldack, Recht und Rechtswirklichkeit, in: Logos, XVI [1927], S. 6, 8) Der Aufsatz behandelte die eigenständige Kontinuität der deutschen Rechtsbildung seit dem Untergang des Reiches am Beginn des 19. Jh.s gegenüber der Staatengeschichte. Er richtete sich nun insbesondere gegen die Angleichung der Weimarer Verfassung an westeuropäische Verfassungsmuster. Im gleichen Heft behandelte K. Larenz die Wirklichkeit des Rechts als Ausdruck des „Willens der Gemeinschaft, und zwar des Willens der Gemeinschaft auf ihren Bestand als solcher“. Die Wirklichkeit des Rechts bestehe in einer Sinn-Wirklichkeit des Gemeinschaftswillens. Larenz benutzte für die volitive Mystifikation der Relation von Handlungsintentionen realer, rechtlich freier Individuen die lebensphilosophische Umlegung des Hegelschen Geistbegriffes. (K. Larenz, Die Wirklichkeit des Rechts, in: Logos, XVI (1927), S. 208) Radbruchs Neukantianismus, aus der Bekanntschaft mit E. Lask auch im direkten Austausch geprägt, klar in dessen knappem frühem Aufsatz Über den Begriff der Kultur, in: Logos, II (1911/ 12), S. 200-207. Die Grundgedanken kehren in den späteren Rechtsphilosophien wieder. Baumgarten stellte seine Kantianismus-Kritik zusammenfassend dar in: Methodenlehre, S. 76f. Der Weg, S. 470f. Der junge Lukács schrieb in seinem Essay Metaphysik der Tragödie mit positivem Bezug auf den Neukantianismus, den er mit Emil Lask diskutierte: „Vor einem Gott hat nur das Wunder Wirklichkeit. [...] Vor ihm gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Schein und Wesen, zwischen Erscheinung und Idee, zwischen Geschehnis und Schicksal. Die Frage von Wert und Wirklichkeit hat hier

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Baumgarten begründete seine liberale Rechtsphilosophie empiristisch. Willenstendenzen unterlägen als Teile der Wirklichkeit Kausalgesetzen. Sehe man näher zu, so zeige sich das Sollen als ein Kausalgesetz, ebenso wie das eudämonistische Prinzip oder andere Ursachen von Willensbestrebungen.34 Die Rechtsbegriffe mit ihrem Sollensgehalt wären darum von Erfahrungssätzen aus zu bilden und zwar so, dass deren Anwendung nicht die Gewinnung neuer komplexer Erfahrungssätze voraussetze. Der neukantianische Dualismus von apriorischen und aposteriorischen Sollensgesetzen verletze das Wissenschaftsgesetz der Denk-Ökonomie.35 Baumgarten sah den Dualismus von Sein und Sollen mit dem Folgeproblem unbefriedigender Wahrheitsqualifikation der Rechtssätze belastet. Werde das rechtliche Sollen vom eudämonistisch und kausal gefassten Sollen der Handlungsintention abgelöst, so sei das logische Verifikationsprinzip der Rechtssätze in Frage gestellt.36 Baumgarten hat die logische Thematik in seiner Logik als Erfahrungswissenschaft (1939) zusammengefasst. Tatsächlich haftet für die neukantianische Logik am Begriff der empirischen Realität ein Element unauflöslicher Irrationalität. Rickert sagte es selbst: „Man versuche doch einmal wirklich, das denkbar einfachste Objekt so zu beschreiben und durch Begriffsverknüpfung so zu rekonstruieren, dass man nirgends einen anschaulichen Rest zurücklässt, dann wird man über die totale Irrationalität alles Wirklichen nicht mehr im Zweifel sein.“37 Baumgarten ging für das damit verbundene rechtsphilosophische Problem der sog. individuellen Kausalität im Gegensatz dazu gerade von der Rationalität empirischer Sollensgebote in der Handlungsteleologie aus. Diese Rationalität erweitere sich letztlich nur auf das Geflecht von Wechselwirkungen der Handlungsintentionen als auf die soziale Kausalität, die im Recht fixiert werde. Baumgartens rechtsphilosophische Kritik des Neukantianismus lässt das Verdienst zurücktreten, nach dem romantischen Historismus mit dessen Monismus absoluter Werte und der positivistischen Behandlung des Rechts die Eigenständigkeit erkenntnistheoretischer und rechtslogischer Fragestellungen aufgenommen zu haben. Hinter dem von Baumgarten kritisierten Formalismus steckte ein methodisches Problem, das Radbruch

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ihren Sinn verloren: der Wert wird hier die Wirklichkeit schaffen ...“. (G. v. Lukács, Metaphysik der Tragödie, in: Logos, II (1911/12), S. 81) Recht, I, S. 129. Prägnant fand sich die neukantianische Logik in der Rechtsphilosophie H. Kelsens formuliert. Er ging vom Gegensatz zwischen explikativem Gesetzesbegriff in Naturwissenschaften und normativem Gesetzesverständnis in Logik, Ethik und Recht aus. Das Recht sei als ein Sollenszusammenhang in sich vollendet. Die Verwirklichung erscheint dann als logisch akzidentiell. Die Rechtswirklichkeit sei nur eine von seinsanalogen Urteilen. Eine empiristisch-pragmatische Rechtsnormauffassung, heißt es kurzschlüssig, „müßte ja den Dualismus von Sollen und Sein, von Wert und Wirklichkeit aufheben.“ (H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Wien 1922, S. 70) F. Kaufmann hatte in seiner Schrift Logik und Rechtswissenschaft (1922) im dualistischen Sinne Rechtssätze als Wunsch- und Befehlssätze bestimmt, deren intendierte Sachverhalte sich in keiner adäquaten Anschauung erfüllt fänden. Die Unmöglichkeit der empirischen Verifikation schließe aus, juristischen Urteilen Wahrheit zuzusprechen. H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Freiburg 1913, S. 321.

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den Unterschied von Rechtswert- und Rechtswirklichkeits-Betrachtung genannt hatte. Baumgarten wandte ein, auch die Werte seien Setzungen des Menschen. Rickerts Wort von der Irrationalität des Faktischen sollte unterstreichen, dass soziale Existenz und menschliche Weltaneignung nur auf der Grundlage von rationalen Setzungen möglich sei.38 Es kam darauf an, unter welchen Kriterien ihre Inhalte bestimmt würden. Für Radbruch hatte das Resultat der Unterscheidung von Wert und Wirklichkeit in der Relativität im Sinne einer kritischen Methode bestanden, die materialen Rechtssätze stets nach bestimmten Richtsätzen zu hinterfragen. Er hatte das 1934 noch einmal in den französischen Archives de philosophie du droit gegen die nazistische Rechtspraxis dargestellt. „Der Relativismus mündet aus in den Liberalismus. [...] Er fordert den Rechtsstaat“.39 Doch auch der Faschismus operierte mit relativistischer Argumentation, jedoch im Sinne eines antiintellektuell-volitiven und ganzheitlichen Praktizismus. Generelle methodische Ablehnungen der Philosophie des Faschismus argumentierten darum mit einer Kritik des Relativismus.40 Radbruch fasste den Relativismus im Sinne eines aufklärerischen („Nathanschen“) Aktivismus auf, immer nach den besten Lösungen zu streben. Das konnte das Ungenügen nicht übersehen lassen, eine sozialliberale oder gar sozialistische Rechtslehre mit dem neukantianischen Formalismus zu begründen. Der Relativismus bewährt sich vor allem im Zusammenhang historischer Betrachtung als ein Gesichtspunkt, das Recht als Rechtssicherheit im übergreifenden Zweck der Gerechtigkeit zu bestimmen.41

38 Rickert hatte diesen Gesichtspunkt in einer Kritik irrationalistischer lebensphilosophischer Strömungen dargestellt in: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920. 39 G. Radbruch sagte mit Recht vom Methodendualismus: „Die Neubegründung des Methodendualismus, die ‚Rückkehr zu Kant‘, war für die Rechtsphilosophie aber erst die verdienstvolle Tat Rudolf Stammlers. Er vindiziert neben der Erforschung gesetzten Rechtes endlich wieder für die Beurteilung, die innerhalb gesetzten Rechtes unrichtiges und richtiges Recht sondert, ihre selbständige Methode und setzt sich deren Analyse zur Aufgabe.“ (G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, Heidelberg 1993, S. 38) Zum Relativismus vgl. ebd., S. 40ff. Vgl. auch G. Radbruch, Der Relativismus in der Rechtsphilosophie, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 3, Heidelberg 1990, S. 17-22. Wie Radbruch urteilte damals auch H. Kantorowicz in seiner Schrift: Zur Lehre vom richtigen Recht, Berlin, Leipzig 1909. 40 So Nicolai Hartmann, Neue Wege der Ontologie, in: ders. (Hg.), Systematische Philosophie, Stuttgart, Berlin 1942. Hartmann wies insbesondere den Relativismus der Rassentheorie zurück. Im gleichen Band: H. Wein, Das Problem des Relativismus. Von Hartmann angeregt auch J. Thyssen, Der philosophische Relativismus, 1941, ³1955. Die Schrift war die ausgezeichnete Einsendung auf eine Preisfrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1936 gewesen: „Die inneren Gründe des philosophischen Relativismus und die Möglichkeit seiner Überwindung“. Hartmann und Spranger zeichneten die Arbeit aus, in der es, wie Thyssen 1947 im Vorwort zur zweiten Auflage sagte, um denjenigen Relativismus ging, „der einer der Tragpfeiler nationalsozialistischer Weltanschauung war: den Relativismus der Rasse.“ 41 Das philosophische Ungenügen des Relativismus wird deutlich: „Die hier dargelegte Methode nennt sich Relativismus, weil sie die Richtigkeit jedes Werturteils nur in Beziehung zu einem bestimmten obersten Werturteil, nur im Rahmen einer bestimmten Wert- und Weltanschauung,

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Außerdem suchte der südwestdeutsche Neukantianismus durchaus eine materiale, kulturphilosophische Grundlegung der Rechtswissenschaft. Dem dienten die Gliederungen des Wertbegriffes. Radbruch nahm sie nach der generellen Dreiteilung von Sittlichkeit, Wahrheit, Schönheit fürs Recht vor. An der Spitze stand die Gerechtigkeit, die sich in die Werte der Zweckmäßigkeit und der Rechtssicherheit entfalte. Gerechtigkeit bedeute im Kern Gleichheit vor dem Gesetz. Doch der Formalismus der Werte zeigte tatsächlich nur bei Eingabe bestimmter inhaltlicher Voraussetzungen seinen Sinn. Er geriet schnell vor die Gefahr leerer Systematisierungen, etwa wenn Radbruch z. B. in der Rechtsphilosophie von 1932 (§ 7) fortsetzte mit der Teilung in Individualwerte, Kollektivwerte und Werkwerte. Baumgarten sah sich im Laufe der Jahrzehnte wohl zu Recht immer mehr in seinem material-genetischen Konzept bestätigt. Die Willenshandlung des Menschen sei von vornherein primär als rationale Intention anzusehen. Daraus folge das Recht als eine Rationalisierung oder eben Optimierung von Summen kausaler Relationen. Der methodische Weg führte hier vom faktischen Gegebenen zu den partiellen Komplexen der Verrechtlichungen. Die Liberalismus- und Rechtsstaatspostulate waren methodisch konsequenter zu entwickeln. Es liegt auf der Hand, dass Baumgartens pragmatistische Kausalauffassung der Rechtsgenese, die sich auf der Rationalität der individuellen Handlungsteleologie aufbaute, ohne große methodische Schwierigkeiten mit der marxistischen soziologischen Rechtsauffassung zu verbinden war, zu der Baumgarten in seiner Methodenlehre von 1939 überzugehen begann. Man erkennt daran die Verbindung von empiristischem individualrechtlichen Liberalismus und sozial konstituierendem Sozialismus. Es ist die Verbindung, mit der Baumgarten in der deutschen Rechtsphilosophie den ihn auszeichnenden Platz gefunden hat. Zunächst aber schloss sich Baumgartens Rechtsphilosophie an die entwicklungsgeschichtliche Auffassung an, die A. Merkel (1836 – 1896) im Zusammenhang eines generellen positivistischen Evolutionismus vertreten hatte. Er verband damit die Gedanken des Rechtsfortschritts und auch gewisser Voraussehbarkeit kommender höherer Rechtsinstitute. Baumgarten hat diesen Gedanken progressiver Evolution übernommen, er lag ihm durch seine angloamerikanische aufklärerische Philosophie ohnehin nahe. Er hat seinen intellektualistischen Evolutionismus jedoch, anders als die „allgemeine Rechtslehre“ des Positivismus im 19. Jh., im Rahmen seines Pragmatismus entwickelt.

nicht aber die Richtigkeit dieses Werturteils, dieser Wert- und Weltanschauung selbst festzustellen sich zur Aufgabe macht.“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, ³1932, a. a. O., S. 235) Was, wenn der Relativismus sich wie selbsttätig auf „oberste“ Werte in der Festsetzung behaupteter Allgemeininteressen ausdehnt, etwa auf fort und fort generierende vorbeugende Sicherheitsinteressen des Staates?

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5. Moralische und rechtliche Rationalität, Perfektibilitätsprinzip in Moral und Recht Baumgartens empiristische Methodenlehre basiert auf dem altruistischen Eudämonismus seiner Moraltheorie. „Da das Recht eine alle Provinzen des Lebens umfassende Ordnung ist, hat die Untersuchung seiner angemessenen, richtigen Gestaltung notwendig ethischen Charakter.“42 Das Verhältnis von Recht und Moral ist in einem gesonderten Abschnitt zu betrachten. Hier sind nur zwei Gesichtspunkte von Baumgartens methodischer Gleichstellung des Rechts mit der Moral zu betrachten. Der erste betrifft die Verbindung von moralischer und rechtlicher Rationalität. Baumgarten fand in der realen kausalen Wechselwirkung moralischer Antriebe das empirische „Sein“ von Sollensgesetzen. Die Individuen handeln unter den Sollensbestimmungen ihrer eigenen Handlungsintentionen. Die kooperativen und altruistischen Antriebe des Menschen, so sehr sie auch gehemmt seien, trügen zur Befolgung des Rechts schon durch sittlichen Antrieb bei. Das im handelnden Menschen agierende Sollen stelle teleologisch überformte kausale Selbstbestimmungen des handelnden Menschen dar. Diese bildeten die Basis der Bildung von Sollensbestimmungen des Rechts als einer positiv niedergelegten Ordnung normativen Geltens. Moral habe weitgefasste tendenzielle und individuell variierende Gültigkeit. Das Recht besitze faktische Geltung. Das führt zum zweiten Gesichtspunkt. Positivität des Rechts bedeutete bei Baumgarten auch, geltendes Recht ist das bis zum heutigen Zeitpunkt verwirklichte, gegenüber einem durch fortschreitende Rechtsbildung möglichen. Baumgartens leitender Aspekt beim Gedanken der das Gesetz bildenden Erfahrungssätze war die Einheit der Rechtsgemeinschaft als eines voranschreitenden Prozesses. Die sensualistische Anthropologie vertrat eine emotionale und gegenständlich aktive Basis der Sozialbindung des Menschen. Sie vertrat auch, wenn sie konsequent war, einen konzeptualistischen, letztlich nominalistischen Geistbegriff. Im folgenden Philosophiekapitel ist zu betrachten, warum Baumgarten dieser Konsequenz mit seiner Metaphysik sub specie futuri nicht folgte. Zu alledem gehörte bei Baumgarten als drittes ein Perfektibilitätsprinzip in der Auffassung des Sozialen als eines Voranschreitens durch Versuch und Irrtum. Es ist der Punkt, der heute gern als antiquierte Illusion abgetan wird. Doch wurde denn gesagt, der Fortschritt geschehe als einfache Summierung von Erfahrungen? Den Platz der Irrtümer besetzen die Rückschritte und Katastrophen. Sie fallen freilich ins Auge und lassen sich auch ohne tieferes Verständnis dankbar darstellen. Die integrationistische Funktion des Rechts bedingt auch dessen evolutionären Charakter. Eben darum kann es dem Außenstehenden gegenüber Moral und Künsten so langweilig erscheinen wie aufgezählte Fortschritte, da dessen kulturelle Welt doch in Wirklichkeit kaum weniger dramatisch ist. Erfahrungsgebundenes Verhalten kann nicht anders, als sich zu optimieren. Baumgarten setzte darum zum Begriff der Rechtswirklichkeit immer das Element der Perfektibilisierung hinzu. Darin war mitgedacht: Gesellschaften sind Einheiten, die sich durchs Gesetz entfalten können und sollen. Baumgartens empiristische Rechtsbe-

42 Philosophiegeschichte, S. 407.

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gründung erfolgte ausgesprochen bürgernah und pazifizierend. Sein ausgeprägtes Entwicklungsverständnis der Zivilisation war legalistisch und in diesem institutionellen Bezug demokratisch. Die von den Gesetzen zu gewährleistende Rechtssicherheit sei mit der aufbauenden, optimale soziale Kausalreihen ermöglichenden und Kooperation stiftenden Funktion des Rechts verbunden. Darum lehnte er bis in seine späte Zeit die marxistische These ab, das Recht sei vorwiegend Legalisierung von Klasseninteressen.43 Baumgarten hatte den Entwicklungsaspekt im Positivitätselement von Gesetzen bereits in seinen frühen strafrechtlichen Arbeiten zur Zeit des deutschen Kaiserreiches betont. Er glaubte damals, ihn z. B. auch in der Psychologie seines Strafrechts fassen zu können. Baumgartens Liberalismus war unter englischem Einfluss mit weitergreifenderer Begründung als bei der Mehrzahl deutscher Juristen auf sozialen Ausgleich gerichtet gewesen. Er verstand die industrielle Zivilisation so, dass die Menschheit nach den in kleinen Einheiten organisierten und insofern partikularisierenden antiken und feudalen Lebensbedingungen den Weg zu sozialer Kooperation eingeschlagen habe. Unter den deutschen Juristen der zwanziger Jahre waren ihm darin am ehesten G. Radbruch und auch R. Smend mit Aspekten seiner Integrationslehre vergleichbar. Baumgartens sozialer Eudämonismus war Smends emotional orientierter, aber nicht totalitärer Verfassungslehre verwandt. Baumgarten hielt freilich entschieden am handelnden Individuum als dem Ausgangspunkt der Verfassung als einem Gemeinschaftszustand fest.44 Der damals im gleichen Zusammenhang aufgeworfene Pan-Europa-Gedanke lenkte auf Probleme völkerrechtlicher Integration. Er gewann nach der elitär-metaphysischen Begründung durch Coudenove-Kalergi während der französischen Volksfrontregierung neue Kraft durch L. Blums antifaschistische Idee eines sozialistischen Gesamteuropas. Baumgarten nahm das Thema in seiner Methodenlehre von 1939 auf. Neben der Fabian-Society beeinflussten Baumgarten die in den zwanziger Jahren einflussreichen Schriften B. Russells, wie Principles of social reconstruction, 1916, dt. 1921 oder Roads of Freedom, 1918, dt. als Politische Ideale, 1922. Russell wandte sich gegen den Egoismus des Privatbesitzes und forderte unterm Eindruck der Verelendung der arbeitenden Schichten durch Krieg und die Kriegsfolgen die Förderung der altruistischen sozialen Antriebe im Menschen. Allerdings bekannte sich Baumgarten 1922 noch entschieden zum individualrechtlichen Liberalismus und lehnte marxistische, wie überhaupt sozialistische Kon43 „Es gibt so etwas wie einen wirtschaftlichen Klassenkampf, und die wirtschaftlich stärkere Klasse weiß sich des Rechts zu bedienen. ... Damit ist aber noch nicht gesagt, daß das Recht überhaupt nichts anderes ist, als der Ausdruck des Kräfteverhältnisses der Wirtschaftsklassen. Diese weiterreichende These der Marxisten haben wir abgelehnt und haben uns insofern der idealistischen These angeschlossen, als wir davon ausgingen, daß dem Recht eine Tendenz zum Sittlichen innewohnt.“ (Methodenlehre, S. 24) 44 Hart urteilte Radbruch über Smends Integrationslehre als einer Aktualisierung der konservativen organischen Staatsauffassung. Die politische Funktion beider Theorien bestehe darin, „auch nichtdemokratische Verfassungsformen auf den Volkswillen, zwar nicht den Willen der Volksmehrheit, aber den integrierenden Willen der Volkheit, [...] einer nach Belieben konstruierbaren Volksgemeinschaft, gründen zu können.“ (Radbruch, Rechtsphilosophie, 31932, a. a. O.

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zepte ab.45 Sein idealisierender Gedanke war, dass die universalisierende Tendenz der modernen Industrie den Liberalismus der Individualrechte und das demokratische Verfassungsrecht aufrufe. Baumgartens altruistischer Eudämonismus und seine daraus 1933 folgenden Ideen von einem „Wirtschaftsrecht der Zukunft“ waren im Sinne solchen Liberalismus gedacht. Baumgartens Liberalismus hatte durchaus antikapitalistische Aspekte. Sein Problem bestand allerdings weniger darin, durchs Recht der Depravation der Massen entgegenzuwirken. Er meinte, die bewusst gestalteten Rechts-Gesetze sollten der überwältigenden Macht der spontan wirkenden ökonomischen Gesetze entgegenwirken. Die Menschen würden zum Spielball anonymer Mächte, so der Aktiengesellschaften, der Börse. Baumgarten sah für die Erneuerung der Gesellschaft das Erfordernis einer Überwindung des „Materialismus“. Er hielt noch am Kontrast von Materie und Geist fest. Das schöpferische Element sah er freilich nicht in der ästhetischen Revolution der Wahrnehmung und des Gefühls, sondern in schrittweiser Ausgestaltung der Rechtsordnung auf der Grundlage der demokratischen Verfassung.46 So einfach Baumgarten 1920/22 noch die leitende Erfahrung für die Rechtsbildung formuliert hatte,47 sein rechtsmethodischer Erfahrungsbegriff erweiterte sich mit seiner eigenen Erfahrung von Krieg, Revolution und Gefährdung der ersten deutschen Republik zur Idee der Rechtsgemeinschaft als eines auch periodisch wechselnden krisenhaften Prozesses. Er behandelte das positive Recht unterm methodischen Gesichtspunkt der konstruktiven Idee von der Menschheit in einer zukünftigen Rechtsordnung. Darum war Baumgartens Rechts-Empirismus nicht praktizistisch gehalten. Er betonte nicht nur das Erfordernis einer allgemeinen Rechtstheorie, sondern sah mit den realen Kämpfen in der Weimarer Republik viel weiter greifend die Rechtsphilosophie im Geiste des eingangs zitierten Gedankens von R. v. Ihering. Baumgarten setzte der kulturphilosophischen Rechtsbegründung v. Iherings in seiner Rechtsphilosophie von 1929 eine Zukunftsperspektive hinzu, und er suchte, dem logischen Dualismus des Neukantianismus und zugleich dem volitiven Ganzheitsgedanken der konservativen Strömungen entgegenzutreten.

45 Das juristische Argument lautete: Der Sozialismus weise „dem Gesetzgeber kein erhabeneres Ziel als das möglichst geschickter Anpassung an den in seinen großen Zügen durch die Gesetzmäßigkeit der wirtschaftlichen Vorgänge von vornherein festgelegten Lauf der Ereignisse“. (Recht III, S. 572) 46 Die Zerstörung des Menschen durch die Selbsttätigkeit unpersönlicher sozialer Gesetze sprach die mit Familie Baumgarten befreundete Ricarda Huch in ihrer Essaysammlung Entpersönlichung von 1922 aus. Eine unheimliche Neigung, Gesetze zu erkennen und anzuerkennen, habe nach den Naturwissenschaften auch die Lebens- und Geisteswissenschaften erfasst. Alle schöpferische Energie werde von der Mechanik der Gesetze erdrückt. „Nur der Stoff steht unter dem Gesetz, und Stoff ist alles das, was keine Zukunft mehr hat.“ Geist und Phantasie allein sind unsere schöpferische Energie. (R. Huch, Über das Aufsuchen von Gesetzen und die Entpersönlichung des Abendlandes, in: Entpersönlichung, Leipzig 1922, S. 7-13. 47 Allerdings sei der Zweck das A und O des Rechts. „Der treibende Gedanke in allem Recht ist der der Verwirklichung eines für die Menschen möglichst glücklichen Zustands des Zusammenlebens.“ (Recht I, S. 370) Das richtete sich gegen die Auffassung vom Recht als Ordnung schlechthin.

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6. Die konstruktive Rationalität des Rechts im teleologischen Sinne Baumgarten hatte sich in allen seinen Schriften mit der Logik der Rechtswissenschaft beschäftigt. Wiederholt sagte er, der deutschen Jurisprudenz fehle es an theoretischer Durchdringung ihrer verschiedenen Materien. Die Regulierung der sozialen Wechselwirkungen der handelnden Individuen, Gruppen und Institutionen durchs Recht bilde einen durchgehenden Rationalitätsstrang in der Geschichte der Zivilisationen. Individuelle Willkür, alltagspraktische und gewohnheitsrechtliche Regelungen würden durch Kodifizierungen überschritten. Im Recht würde der immanente Rationalitätsgehalt der Handlungsteleologie des Menschen hervortreten und seine kulturelle Anerkennung erfahren. Am Recht zeige sich im analogen Sinne die einigende kulturelle Funktion des Wissens als einer Handlungsweise. Die Noblesse des Rechts bestehe in dessen Distanz gegenüber dem willensgebundenen faktischen Geschehen. Das erlebnishaft Wirkliche finde sich von generalisierenden logischen Schemata eingeklammert. Diese würden in gut empiristischem Sinne aus Analogisierungen von Sachverhalten gewonnen.48 Baumgarten sah die Jurisprudenz als Erfahrungswissenschaft. Aus anfangs unklaren Sachverhalten und verwirrenden Einlassungen der Thesen und Gegenthesen solle ein nachprüfbarer Tatbestand gewonnen werden, der einem Gesetz angeglichen werden könne. Die Wirklichkeit der Handlungskausalität werde in der Rechtsform so rekonstruiert, als ob sie rational organisiert wäre. Darum sei das Recht als Ganzes keine Fiktion. Es sei, wie Baumgarten sagte, die soziale Kausalität nicht primär in generalisierter, sondern in optimierter Gestalt. Als solche sei es in der Relation auf den Einzelfall das Normative. Das Auszeichnende des Baumgartenschen Rechts-Empirismus bestand darin, dass er das interessierte empirische Verhalten der Einzelnen und die juristische Rekonstruktion eines optimierten Verhaltens Aller in einer durchgehenden Rationalitätsebene sah. Dadurch blieb sein verfassungsrechtliches Integrationsverständnis konsequent liberal. Das richtete sich gegen die idealistische Fixierung einer apriorisch für sich gesetzten Rationalität des jus, zu der die Empirie dann als irrationales Ungefähr in Kontrast gerate. Optimierung war vermittelnd auf den Interessenausgleich gerichtet. Er wiederholte auch in seinen späten ostdeutschen Jahren gern den Gedanken, den er 1933 in seiner Methodenlehre so formuliert hatte: „Ein Recht, das den Schwächeren so belastete, dass er besser daran täte, den Kampf dem Frieden vorzuziehen, trüge keinen Kompromisscharakter, es hätte aber auch keine Aussicht auf dauernde Geltung.“49 Die innersystematischen Generalisierungen der einzelnen Teilgebiete, wie Strafrecht, öffentliches Recht, internationales Recht usf., zielen auf ein logisch durchgehendes Gesamtgebilde geltenden Rechts. Baumgarten fügte von seinem Standpunkt der Erfahrungsgebundenheit aus gern hinzu, die Konsistenz der einzelnen Rechtsteile stehe im umgekehrten Verhältnis zur innerlogischen Rechtssystematisierung. Am eingehendsten 48 Francis Bacon hatte die Teile seiner ratio inveniendi in der tätigen Mitte des Analogieverfahrens zusammengefügt. Er war Kronjurist gewesen und nannte die Abfolgen von Beobachtung, Experiment, Analogie und induktivem Schluss bezeichnender Weise den Weg der Instanzen. Erfahrung stand also zugleich unter der Metapher des Verhörs. 49 Der Weg, S. 465.

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sei der Bezug der Rechtssätze zur unendlichen Verschiedenheit der zu regelnden realen Sachverhalte behandelt worden. „Begriffsjurisprudenz und Auslegung aus dem System zusammengenommen, stellen die Methode des Rechtspositivismus dar.“ Baumgarten betonte, dass die Brücke vom Rechtsbegriff zum Tatbestand durch Erfahrungssätze, durch Leitsätze der Praxis, gebildet werde.50 Er hob die Autoren hervor, die den Analogieschluss untersuchten (Kohler, Wüstendörfer). Bei den „lodernden Streitschriften“ der Freirechtsautoren (Fuchs, Kantorowicz), wie er 1922 sagte, anerkannte er die Abwehr des Missbrauchs von Begriffskonstruktionen. Baumgarten rückte die teleologische Funktion der Rechts-Rationalität ins Zentrum. Charakteristisch für seine Auffassung von der induktiven Begründung des Rechts ist die Voraussetzung gleichgerichteter Rationalität von Willenszielen im methodischen Sinne in Moral und Recht. Wie der Mensch sich in den Handlungsbedingungen und in der Erfahrung von Versuch und Irrtum seiner Handlungen die rationale Komponente der Persönlichkeit aufbaue, ebenso entstehe das Recht in erfahrungsgebundenen Integrationsprozessen und bilde sich in ihnen um. Er dachte die Rationalität der Rechtsform nicht primär in der Frage, wie das Allgemeine des Gesetzes die unendliche Verschiedenheit der individuellen Fälle unter sich begreifen könne. Diese Akzentuierung sah er als den Schaden des Neukantianismus, und damit waren ihm, nicht eigentlich berechtigter Weise, Möglichkeiten für offiziöse Tendenzen in den Geistes- und Sozialwissenschaften verbunden. Überhaupt solle nicht der Syllogismus im Mittelpunkt der Rechts-Logik stehen. Der Zweckgehalt des Rechts führe auf dessen erfahrungsgebundene Bildungsprozesse. Dennoch nahm Baumgarten erst spät das Programm einer produktiven Zweckjurisprudenz gemäß konkreten sozialen Interessen und gesellschaftlichen Erfordernissen auf. Den Naturalismus einer erneuerten romantischen Rechtsphilosophie v. Iherings, die sog. naturhistorische Methode einer Analogisierung der Verbindungen, Trennungen und Veränderungen von Rechten gemäß den Bewegungen natürlicher Körper, nannte Baumgarten einen Irrweg.51 Ihering suchte, mit Hilfe des damaligen naturalistischen Monismus die romantische Vergangenheitsbezogenheit bei der Darstellung der geschichtlichen Bewegung der Rechtsformen abzustreifen. Baumgarten sah darin, dann auch in Philipp Hecks Wendung zur Interessenjurisprudenz, das Zeichen, dass die Rechtswissenschaft der 2. Hälfte des 19. Jh.s „keine ausreichende theoretische Begründung der höhern Jurisprudenz in der methodologischen Literatur“ gefunden habe.52 Er hatte die deutsche Kritik der naturalisierenden, wie der positivistischen Methode verfolgt (er nannte Zitelmann, Bierling, Kohler, Ehrlich, den Freirechtler Ernst Fuchs u. a.). Er selbst war von der französischen rechtsphilosophischen Literatur beeinflusst gewesen (Geny, G. A. Meumann, dem der 2. und 3. Teil der Wissenschaft vom Recht gewidmet sind). 50 Recht I, S. 369. „Es ergibt sich, daß es nicht möglich ist, die Rechtssprechung zu einem rein logischen Akt der Anwendung des abstrakten Gesetzes auf den konkreten Tatbestand stempeln zu wollen.“ (Recht I, S. 402f) 51 So v. Ihering in seiner Abhandlung Unsere Aufgabe im Eröffnungsband der Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (1856). Baumgarten noch einmal ausführlich dazu in seiner Methodenlehre von 1939, § 6. 52 Recht I, S. 396ff.

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Insbesondere nach der europäischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges sah Baumgarten die Problematik der Verrechtlichung der gesellschaftlichen Strukturen grundsätzlicher, als es von der Methodendiskussion der Zeit zwischen Begriffsjurisprudenz, sittengeschichtlicher und soziologischer Interessenjurisprudenz, Freirechtslehre erfasst worden sei.53 Das Problem der Rechtsform bezeichnete er nun mit dem schwerwiegenden und auch leicht zu missbrauchenden Wort von der „Beherrschung des Lebens durch das Gesetz“.54 Er meinte freilich die Beherrschbarkeit des Lebens durch Rationalität als die Aufgabe des Rechts. Das ergab sich für Baumgarten nicht allein aus der aktuellen Erfahrung von Krieg und Revolution. Baumgartens sensualistisch offene Anthropologie und Ethik und die darin gedachte ursprüngliche Beweglichkeit der Menschen, fast deren mitgehende Unfertigkeit, und natürlich deren Freiheitsansprüche in den privaten Bereichen und als Bürger, führten auf den eigentlich schwierigen Punkt des Rechts und der Rechtswissenschaft. Wie können die unendlich mannigfaltigen und sich verändernden Lebensvorgänge nicht nur in bestimmte Erfahrungssätze, sondern in Systeme stabiler Rechtsnormen eingefasst und durch Interessenausgleiche zur Ruhe gleichförmiger Abläufe gebracht werden? Darum hielt er eine philosophische Begründung des Rechts für erforderlich. Seine Kritik der rechtsphilosophischen Lösungen der Zeit fasste sich darin zusammen, dass man die Rechtsformen entweder als naturhistorische Selbstverständlichkeit hinnehme oder als Setzungen einer für sich stehenden Rationalität interpretiere. Es gelte, die beiden Einseitigkeiten zu vermeiden und doch „die zwiespältige Natur des Menschen, die Egoismus und Gemeinsinn verbindet“, zu erkennen und in die Rechtsform zu führen.55 Die Beherrschung des Lebens durch das Gesetz sah Baumgarten von den Umbrüchen der deutschen Geschichte durchbrochen, die außerhalb der Gesetze gewirkt hätten. Er stellte das als eine Frage an die Gestaltung des Rechts. Damit wandte er sich gegen die Heroisierung des Willens zum Schicksal des Rechts. Dem ganzen Recht liege eine rationale Teleologie der Optimierung der Handlungskausalität zu Grunde. Die teleologische Struktur der Rechtsverhältnisse ergebe sich aus der teleologischen Überformung der Handlungskausalität der miteinander agierenden Individuen und Gruppen. Die besonderen Zweckverfolgungen würden durchs Recht in feste Formen gebracht. Sie würden dadurch erst miteinander vermittelbar. Die Zwangsaspekte von Ordnung durchs Recht traten in diesem liberalen Pragmatismus zurück. Die ganze konstruktive Jurisprudenz bilde mit Hilfe von Fiktionen verschiedenen Grades einen „Schematismus des Zweckgedankens“.56 Die teleologische Bestimmung der Rechtsform setze im Grunde nur die empirische Handlungsteleologie fort, wenn diese als interaktive realisiert werden solle. Mit seiner Auffassung des Zweckcharakters des Rechts gab Baumgarten dem Recht einen schöpferischen Impetus. Alle Rechtseuphorie hielt er sich fern. Im Zweck53 Vgl. A. Gängel, K. Mollnau (Hg.), Gesetzesbindung und Richterfreiheit, Texte zur Methodendebatte 1900 – 1914, Freiburg, Berlin 1992. 54 Recht I, S. 364, 367 u. ö. 55 Methodenlehre, S. 82. 56 Recht III, S. 631ff.

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gehalt des Rechts sah er die Übertragung der Aktivität lebendiger Subjekte auf eine analoge objektive soziale Form. Das sei mehr als eine möglichst effektive Wechselwirkung der einzelnen interessierten Handlungen und deren Wirkungen. Das Recht bringe als „Beherrschung des Lebens“ den dynamischen Impuls des „Kampfs ums Recht“ zum Ausdruck und führe zu immer weiter greifenden Synthesen der Einzelhandlungen. So enthalte es einen immanenten Zukunftsbezug. Den Gedanken der immanenten Teleologie des Rechts verband Baumgarten in materialer Hinsicht mit seiner optimistischen Sicht einer letztlich tragenden Tendenz der Industriegesellschaft. Die Menschheit befinde sich auf dem Wege zu einer umfassenden Welt-Arbeitsgemeinschaft. Er dachte im Sinne des Fabier-Sozialismus und auch wie H. G. Wells, den er zitierte und der den egoistisch verkürzten Zeithorizont der kapitalistischen Gesellschaft kritisierte: Wissenschaften und Technik hätten einen neuen Typus von umfassend planender Praxis ausgebildet, die einen gemeinschaftlichen Willen der Völker hervorbringen werde. Das kapitalistische Industriesystem aber sei kurzfristig orientiert und über die Bewältigung dieses Widerspruchs werde sich dessen Überwindung vollziehen. (Wells, A modern Utopia, 1905; First and last things, 1908, 1917). Baumgarten schrieb 1933: „Die Leitsätze der Wellsschen Soziallehre könnte ich fast ohne Vorbehalt unterschreiben, es scheint mir bei Wells nichts zu fehlen als das metaphysische Fundament, das ich für unbedingt erforderlich halte.“57 Baumgarten band die Überwindung des Widerspruchs zwischen rationalem Typus der technisierten Großindustrie und privatkapitalistischer Praxis an die Ausbildung einer neuen metaphysischen Weltanschauung des letztlich verbindenden Geistes der Handelnden. Sonst blieben die neuen Möglichkeiten in technokratischen Sozialplänen stecken und verschütteten mit der Zeit das Erbe des europäischen Liberalismus. Die Großindustrie eröffne nach den antiken und feudalen Wirtschaftssystemen die Perspektive des Gemeinschaftshandelns. Die Menschheit werde zum „Gemeinschaftshandeln“ gedrängt „und das Gemeinschaftshandeln, durch das sie sich die metaphysische Weltanschauung zurückgewinnt, bedarf der Vermittlung durch die Wissenschaft.“58 Der Jurisprudenz gab Baumgarten dabei eine besondere Verantwortung, da ihre Rationalität, gleich derjenigen der Pädagogik, auf Realisierung im Leben bezogen sei. Baumgarten hielt die aufklärerische intellektualistische Trias fest: Recht, Moral und Pädagogik.

57 Der Weg, S. 407. Die Philosophiegeschichte von 1945 enthielt einen eigenen Abschnitt über Wells als verspäteten Saint-Simonisten. (S. 503-506) 58 Der Weg, S. 407.

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II. Baumgartens Rechtsbegriff 1. Rechtserfahrung Eines ist die positive Konstitution von Rechtssätzen, ein Anderes deren Wirkung zur „Beherrschung des Lebens“, wie Baumgarten von der Aufgabe des Rechts gesagt hatte. Hier kam sein pragmatisches Rationalitätsverständnis zu Wort. Er dramatisierte das Problem nicht. Seine erfahrungswissenschaftliche Jurisprudenz ließ ihn die Rechtsbefolgung an die Sittlichkeit und damit an die Einübungen von Gewohnheiten binden. Baumgarten sah den sozialen Charakter des Menschen in dessen kooperativer Veranlagung. Gewohnheitsbildung durch Nachahmung bilde die erfahrungsmäßige Basis von Akzeptanz und Wirkungsweise der Rechtsordnung. Die Steigerung der kooperativen Einstellungen bildeten für ihn altruistische Verhaltensweisen. In der Hochschätzung altruistischer Handlungen spreche sich die überwiegend solidarische soziale Natur des Menschen aus.59 Baumgarten setzte darum für die dem Recht eigene Ordnungsfunktion und für die Perfektibilität des Rechts auf die erfahrungsgeleiteten Verhaltensweisen der Rechtsgenossen. Auch die Auslegung des richtigen Rechts gewann dadurch ein pragmatisches Aussehen. Sie konfrontierte den Gesetzestext mit den spezifischen Verhaltensweisen unter dem teleologischen Gesichtspunkt, dass das Verhältnis beider optimiert werden solle. Baumgarten konzentrierte die Rechtserfahrung auf diese Relation. Der soziale Empirismus zeigte immer ein pazifizierendes, wenn man so will, ein unheroisches Menschenbild. Unglücklich seien die Zeiten, hieß es bei Brecht, die Helden brauchten. Baumgarten verankerte die Eingliederung der Rechtssätze im Bestreben der Rechtsgenossen nach kooperativem Verhalten, das durch Gewohnheit gesichert sei. Das Recht bilde gleichsam Erfahrungen aus in seiner eigenen Verwirklichung. Dieser pragmatische Erfahrungsbegriff sagte etwas anderes als die positivistische Auffassung, die soziale Wirklichkeit bilde die Basis des Rechts. Er verschloss sich willenshaft elitären Theorien der Rechtsbegründung. In der Weimarer Zeit lehnte er in diesem Verständnis nicht nur die konservative, sondern ebenso die marxistisch-kommunistische Kritik dieser Demokratie ab. Er teilte diesen Leitgedanken der Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus des mit ihm befreundeten Philosophen Helmuth Plessner von 1924, die der Autor Arthur Baumgarten gewidmet hatte, und mit dem er in dieser Zeit versuchte, eine weltoffene philosophische Zeitschrift gegen die antidemokratischen Tendenzen in der deutschen Philosophie zu begründen. Mit der Auffassung von den Erfahrungsquellen des Rechts war die Antwort auf die Frage nach dem Geltungsgrund des Rechts verbunden. Nehme man nur die Wirklichkeit 59 Baumgartens ursprünglich evolutionistische Orientierung, wie sie dem ganzen Pragmatismus eigen war, wurde durch die Erfahrungen der Jahre 1933 – 1945 relativiert. Er sah das Erfordernis eruptiver Veränderungen, und das führte volitive Elemente in seinen intellektualistischen Optimierungsgedanken ein. Hier liegt die rechtsmethodische Ebene seines Übergangs zum Sozialismus in der damals von ihm als kulturell progressives Programm gegebenen Gestalt. Er war mit einer methodischen Paradigmenverschiebung zu revolutionärem Umbruch im Ringen sozialer Interessen verbunden.

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schlechthin als Grund der Rechtserfahrung, so werde die Geltung mit der Wirksamkeit in eins gesetzt. Es gelte, was befolgt werde; ein offenbar praktizistisch kurzschlüssiger Grundsatz Bierlings, den Baumgarten zurückwies. Die am Recht orientierten Verhaltensweisen sah Baumgarten mit erforderlichen moralischen Einverständnissen verbunden. So gewann die Geltung des Rechts in der Rechtserfahrung der breiten – nicht nur einer qualifizierten – Mehrheit der Bürger einen aktiven Gehalt im Sinne konkreter Ausprägungen und evolutionärer Umbildungen. Baumgarten lehnte natürlich auch zwei andere Antworten auf die Geltungsfrage ab. Das betraf die Varianten der naturrechtlichen Begründung, die auf überhistorische, nicht von Erfahrung geleitete Ausgangssätze hinausliefen, gleich ob in theologischer oder vernunftrechtlicher Form. Den anderen Abweg habe die historische Schule beschritten. Akzeptanz durch Gewohnheitsbildung bleibe hier gleichsam anonym. Dahinter verberge sich die Autorität als Rechtsquelle und gerade nicht die kollektive Erfahrung der Rechtsgenossen. Baumgartens Erfahrungsbegriff war aktiv und liberal gehalten und in diesem Sinne individualisierend. Außerdem teile sich der konservative Erfahrungsbegriff in eine elitär heroische Perspektive der Rechtsschöpfung und auf der ebenso abstrakten Gegenseite in die Auffassung einfacher Fortdauer der Vergangenheit in der Gegenwart. Der Fehler besteht dann tatsächlich darin, dass der Anfang die Fülle besessen habe und der geschichtliche Fortgang eine Abschwächung des Eigentlichen bedeute, wie es das Säkularisierungstheorem besagte. Baumgartens Begriff der Rechtserfahrung war demgegenüber auf das aktive Zusammenspiel aller Gruppen und, in der liberalen Konsequenz, der einzelnen Bürger orientiert; damit zugleich auf permanente und bewusste Erneuerung des überkommenen Rechts. Baumgarten verband die drei Elemente des Rechts miteinander: Geltung, Anerkennung und Erfahrung. Das richtete sich gegen die Logifizierung der ganzen Beziehung. Er bestritt Bierlings These, dass nur die obersten Rechtsgrundsätze anerkannt werden müssten, die anderen dann als Folgesätze gleichfalls akzeptiert seien. Das Recht tendiere zur Symmetrie seiner einzelnen Teile, bilde aber kein deduktives System. Baumgarten wies seit dem Ende der zwanziger Jahre solche Tendenzen zur Logifizierung des Rechts mit der Überlegung zurück, dass Verfassung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit sehr wohl jede für sich in konkrete Demokratisierungsprozesse geführt werden sollten. Ebenso lehnte er den einfachen Anschluss der Geltung an die Anerkennung im Sinne faktischer Wirksamkeit ab. Die Geltung könne sich nicht in der aktualen Realisierung von „Organakten“ (A. Verdroß) erschöpfen. Hier wies Baumgarten auf innersystematische Bezüge hin, die Elemente der Wirksamkeit sein müssten. Er hat das ausführlicher am Verhältnis von Staatsrecht und Völkerrecht behandelt, das ihn in seinen letzten ostdeutschen Jahren vor allem beschäftigte. Baumgarten sah das Recht als soziale Vermittlungen und Generalisierungen der zu bestärkenden rationalen Hauptkomponente des menschlichen Verhaltens. Dessen Anerkennung werde lebhaft unterstützt von den altruistischen sozialen Anlagen. Das ließ ihn das Verhältnis von Freiheit und Ordnung nicht dramatisch nehmen. Der unbedingte Pflichtenkanon und ein betonter Zwangsgehalt des Rechts waren ihm zum einen Teil misanthropische Gespinste, zum anderen schlecht verborgene Herrschaftsinteressen. Die Kontinuität der Rationalitätserfahrung, die die Rechtsgeschichte darstelle, verleihe der

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Jurisprudenz eine besondere Kompetenz zur Klärung sozialer Fragen. „Die spezifische Zuständigkeit erwächst der Jurisprudenz aus ihrer besonderen Erfahrung. Nur die berufsmäßige Beobachtung des Rechts, wie es sich im gegenseitigen Verkehr der Rechtsgenossen und in der Behördenpraxis auswirkt, öffnet den Blick für gewisse Anforderungen einer positiven Ordnung des Gesellschaftslebens und führt zur Entdeckung der Mittel, mit denen sie sachgemäß erfüllt werden können.“60

2. Zugang zum Rechtsbegriff über die Sprache Bei Baumgartens Suche nach einer adäquaten Rechtsphilosophie trat zur Sicht auf die markanten theoretischen Alternativen und auf den zeitgeschichtlichen Umbruch wahrscheinlich das Bedürfnis nach einer erweiterten Begründung seiner Auffassung der vergeltenden Schuldstrafe hinzu. Weltkrieg und Nachkriegskrise hatten die moralische und rechtliche Zuversicht des Bürgertums im Gefolge der obrigkeitlichen Reichseinigung derb gestört. Eine generelle Verunsicherung trat ein, verstärkt durch die Angriffe auf das Freiheitsverständnis des Rechtsstaats im Sinne von dessen stabilisierender Aufgabe für die personbezogene Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie. Das machte das Bürgertum anfällig für obrigkeitsstaatliche Erosionen des Rechtsstaates, um sozialen und politischen Krisen zu begegnen. Der Weg in die politische Gewalt zwischen den Klassen und Parteien der Bürger war beschritten. Von der geistigen Atmosphäre der Genfer Westschweiz ursprünglich bestimmt, was Baumgarten bis in seine Berliner Spätzeit festhielt, wandte er sich in der Krisenzeit verstärkt dem nominalistischen Element seines pragmatistischen Rechtsbegriffs zu. Hier soll Baumgartens Zugang zur Methodenlehre der Rechtswissenschaft nur an den späteren konzentrierten Darstellungen seines Baseler Rektoratsprogramms Wissenschaft und Sprache von 1935 und der Grundzüge der juristischen Methodenlehre von 1939 skizziert werden. Bei der rechtswissenschaftlichen Methodenlehre Baumgartens tritt uns immer wieder die Betonung deren empiristischen Charakters entgegen. Wir sollen für den Begriff des Rechts nicht von im praktischen Rechtswesen verfestigten Formeln ausgehen, sondern von der in der Sprache vorliegenden gelebten Erfahrung. Unsere formalisierten juridischen Konstrukte erheben sich auf langem „Bildungsprozeß der wissenschaftlichen Sprache“. Das schließt ein: „Die geistige Arbeit, die einer Sprache, auch einer wissenschaftlichen Sprache, zugrunde liegt, ist nur zum Teil eine bewusste.“61 Baumgarten gab der grammatikalischen Seite der juristischen Auslegungslehre eine erweiterte philosophische Begründung. Die empiristische linguistische Sicht auf philosophische Themen, ebenso Baumgartens Hochschätzung Bindings und der Begriffsjurisprudenz, ließen ihn die Erweiterung seines rechtsmethodischen Fundus bei der Frage nach der Herkunft der Rechtsbegriffe ansetzen. In welchem Verhältnis steht die Rechtssprache zur allgemeinen Sprache? Baumgarten vertrat entschieden die Verbindung der Fach-

60 Methodenlehre, S. 62. 61 Ebd. S. 48, 15.

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sprache mit der Umgangssprache. R. v. Ihering war darin vorangegangen.62 Das gelte besonders für die Bezeichnung der Tatbestände, an die Rechtsfolgen geknüpft würden. Die Kunstsprache der Juristen betreffe vorwiegend die Rechtsfolgebegriffe. Baumgarten erläuterte das gern an allgemeinen Termini wie Ursache, Wille, Gerechtigkeit. Selbstverständlich beinhalte der Terminus Kausalität spezifische Aspekte, wenn es um die Verursachung eines Ereignisses im Sinne der strafrechtlichen Bedingungstheorie von verantwortlicher Täterschaft gehe (analog die zivilrechtliche Lehre vom sog. Adäquatkausalzusammenhang). Der rechtswissenschaftliche Spezifikationsprozess sei von reellen praktischen Erfordernissen der Ordnung und der Verfügbarkeit des Begriffsmaterials bestimmt. Das ergebe spezifische Rechtsfolgebegriffe wie subjektives, obligatorisches oder dingliches Recht, jus ad rem, Anspruch, Einrede usf. Kann der Vergleich der Fachsprache der Juristen mit der allgemeinen Sprache methodologische Bedeutung gewinnen? Baumgarten bejahte das mit einem empiristischen induktiven Argument und mit dem Bezug auf die pragmatische Genese der Termini. Die Begriffe Recht, Verbrechen, Schuld usf. im rechtlichen Sinne verwendeten wir nicht nach formellen Definitionen, sondern gemäß dem uns vertrauten Sinn im alltagspraktischen und ebenso im juristischen Verkehr. Um die Rechtswissenschaft an deren Bezug zu den gesellschaftlichen Erfordernissen zu orientieren, sollte die Verbindung zur alltagspraktischen Verkehrssprache tunlichst so weit wie möglich erhalten bleiben. Die Rechtsbegriffe des allgemeinen Bewusstseins einer Kultur veränderten sich mit den Lebensweisen in der Gesellschaft. Ein Rahmen allgemeinsprachlicher Verständigung über Rechtsbegriffe bleibe unverzichtbar für eine Kultur als einer Verständigungsgemeinschaft über sinnhafte Bedeutungen und diene der Selektion gemeinschaftlicher Orientierungen. Das werde beeinträchtigt, wenn die Rechtssprache, wie etwa in der Wiener Schule, sich von der allgemeinen Sprache weitgehend ablöse. Zweitens und vor allem aber sei die Genese der allgemeinsprachlichen und der fachsprachlichen Termini einander verwandt. Warum würden bei der Namengebung die Tatbestände so abgegrenzt, würden die Begriffslinien so eingezeichnet, wie es der Fall sei? Darüber entschieden nicht die Weltanschauungen, nicht das Sprachgefühl. Letztlich bestimme das der allgemeine Sprachgebrauch, da es um Verständigungsweisen über praktische Verhaltensweisen gehe. Die juristische Begriffssprache bilde sich wie die allgemeine Sprache in einem langen, im Ganzen unbewussten Prozess heraus, wenngleich der Anteil bewusster Begriffsschöpfungen in der Rechtsgeschichte höher sei als in der Umgangssprache. Baumgarten sah auf das unbewusste Moment in der ganzen Begriffsgeschichte des Rechts und kam hier zum Leitgedanken seines methodologischen Bezugs von Fach- und Allgemeinsprache. „Wie die Umgangssprache hat die juristische

62 Das Recht beruhe auf dem Sittlichen und diene ihm. Darum handele es sich bei den Grundlagen des Rechts nicht „um dem Urteil des Volkes fernliegende Probleme, sondern um psychologische Erfahrungstatsachen“. „Die Resultate dieser durch Millionen und Milliarden von Menschen bekundeten inneren Erfahrung sind in der Sprache niedergelegt.“ (R. v. Ihering, Der Zweck im Recht, Leipzig 1883, S. 14f)

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Begriffssprache einen tiefen, verborgenen geistigen Gehalt.“63 Die Begriffe dienten, fernab jeder Idealvorstellung, eine praktikable positive Rechtsordnung zu konstruieren. Diese könne die Bewegung der Gesellschaft nicht vorwegnehmen. Darum vollziehe sich ein Bedeutungswandel der Begriffe. Doch entscheidend sei: „Der geistige Zusammenhang wurde dabei nicht unterbrochen.“ Worin besteht er? Das Recht ist Mittel zur rationalen Klärung und Abwägung sozialer Interessen und zur systematisierenden Durchbildung gesellschaftlicher Strukturen. Darin fasste sich für Baumgarten der Entstehungsprozess und der Begriffswandel der juristischen Begriffssprache zusammen. Da das Recht nicht zukünftige Konstellationen zu regulieren habe, sondern im Unterschied zu moralischen, ästhetischen, religiösen Ideen auf gegenwärtige Verwirklichung gerichtet werde, sei es vom Widerstreit verschiedener Kräfte erfüllt. Baumgarten betonte, das Recht oktroyiere nicht primär dominante Interessen, sondern schaffe rationale Bewältigungen eines an sich ungestalten Geschehens. In dieser Leistung verbinde sich auch der faktisch regulierende und der normative Gehalt der Rechtsform. Wie in der Geschichte der Allgemeinsprache und der Geschichte der naturwissenschaftlichen Terminologien, so bilde sich fortschreitend eine Bestimmung der Gegenstände der spezialisierten Sprachen aus. Die Sprache schaffe dem Menschen mit den Bedeutungen eine geistige Welt zur gelebten realen. Die Bedeutung ist der Gegenstand, für den das Wort steht, sagte dann Wittgenstein.64 Baumgarten hatte die Rechtssprache, mit Wittgenstein zu reden, als ein spezifisches „Sprachspiel“ dargestellt, in dem die Auswahlkriterien der Bedeutungen „zu möglichst zweckdienlichen Denk- und Verständigungsmitteln ausgestaltet“ würden. „Wenn von den unzähligen Kombinationen von Gegebenheitselementen nur ein infinitesimaler Teil mit einem besonderen Wort benannt wird, so liegt das daran, dass nur er unter dem Gesichtspunkt der den Menschen erforderlichen Verständigung diese Auszeichnung erhält.“65 Wittgensteins Prägung von den verschiedenen Begriffsbildungen als Sprachspielen weist nicht nur auf die Verschiedenheit von Terminologien hin. Es ist vor allem der praktisch-experimentierende Bildungsprozess der Begriffe gemeint. Nominalismus oder, wie heute gesagt wird, sprachanalytische Philosophie nimmt die Worte als Zeichen für Bedeutungen. Das beinhaltet vor allem, dass sie die Terminologien pragmatisch auffasst: als experimentelle Prozesse sich optimierender Verständigung über je bestimmte koordinierte Verhaltensweisen. Für die juristische Ausbildung fügte Baumgarten an, dass die Rolle der Wörter im jeweiligen Sinngefüge nicht primär durch Definitionen zu erfassen seien, sondern durch Teilnahme an der betreffenden Sprache.66 Die Evolution der Rechtssprache vollziehe sich, aufs Ganze gesehen, in einer „unbewußten oder undeutlich bewußten Zusammenarbeit vieler Generationen“. Das gleiche die Fachsprache 63 A. Baumgarten, Wissenschaft und Sprache, Rektoratsprogramm der Universität Basel, 1935, in: Rechtsphilosophie auf dem Wege, a. a. O., S. 196. 64 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), Nr. 1. 65 Methodenlehre, S. 40. Wittgenstein, der seine nominalistische Sprachanalyse gern handwerklichgegenständlich erläuterte, notierte sogar: „Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten“. (Ebd., Nr. 11) 66 Vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin, Heidelberg u. a. 1992, S. 87ff.

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der Sozial- und Geisteswissenschaften dem allgemeinen Sprachgebrauch an, der „im Unterbewußtsein verlaufenden Zusammenarbeit der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft“.67 Baumgartens Resultat: In der Geschichte der juristischen Begriffsbildung bildet sich eine Rechtsidee aus. „Ähnlich wie der Sprache des täglichen Lebens eine praktische Weltanschauung zu Grunde liegt, liegt der juristischen Begriffssprache eine allgemeinpraktische Begriffssprache zu Grunde.“ Sie ziele auf eine „Idee aller Rechtsordnungen“: der rationalen Bewältigung des gesellschaftlichen Zusammenlebens.68 Er hatte an diesem Erbe des Rationalisierungsimpulses seiner frühen Begriffsjurisprudenz festgehalten und es zuletzt auch auf die sozialistische Gesellschaftsordnung bezogen. Die in langer Evolution gewachsene Rechtssprache überliefere wertvolle geistige Schätze. „Wenn die Juristen nicht wagen, sich zu höchsten, das Recht fundierenden sittlichen Prinzipien zu bekennen [dies 1939 gesagt, d. Verf.], ist es doppelt wertvoll, dass in der juristischen Begriffssprache die Rechtsvernunft als eine ars boni et aequi immer noch zu Worte kommt.“69 Baumgartens Empirismus verband die historische Gebundenheit der Bedeutungen mit einem Grundbestand rechtsethischer Normative. Die materiale Festlegung auf sozialliberale, später auf sozialistische Grundsätze gründete sich nicht auf Wertsetzungen, sondern bildete eine Konsequenz der Auffassung vom Recht als von einem verzweigten Instrumentarium rationaler sozialer Verständigung.70 An dieses Resultat band Baumgarten die vorsichtige Erwartung einer Annäherung der sozialen Ideen und Handlungsmaximen der sozialen Gruppen und der Individuen. Zu einer völligen Einigung werde es freilich nicht kommen. Die über die Erde verbreiteten, unzähligen Individuen möchten sich wohl im Laufe der Zeit mehr und mehr als Kinder eines Geistes fühlen lernen. „Aber was sollte die Vielheit der Exemplare noch bedeuten, wenn einmal alle ganz die gleichen Gedanken denken, ganz die gleiche Sprache sprechen sollten?“71 Die kulturelle Perspektive des Annäherungsgedanken als Konsequenz der von der Sprache ausgehenden Rechtsmethodologie vertiefte Baumgarten auf charakteristische Weise. Seien die Worte Zeichen für Bedeutungen, so ergebe sich, dass die Begriffsinhalte an den Rändern unscharf würden, einander überlappten, und dass sie sich mit der Veränderung der sozialen Gefüge wandelten, in denen sie steckten. Das schaffe Dispute auf Grund ungeklärter Bedeutungsvarianten herbei. Baumgarten meinte freilich, wie es schon Kant gesagt hatte, dass wesentliche Kontroversen im Fach nicht auf sprachlichen, sondern auf inhaltlichen Unterschieden beruhten. Die Verschiedenheit 67 Methodenlehre, S. 40f. 68 Baumgarten, Wissenschaft und Sprache, a. a. O., S. 197. 69 Methodenlehre, S. 45. „Jahrhunderte hindurch ist das Gesellschaftsleben bewußt bearbeitet worden unter dem Blickpunkt der Gewinnung eines Vorrats an Begriffen, die für den systematischen Aufbau einer vernünftigen positiven Ordnung die geeigneten Elemente bilden. Diese Arbeit äußert sich in der Sprache, im Vokabularium der Rechtswissenschaft.“ (Ebd. S. 48) 70 Baumgartens Überlegungen zur Logik der Rechtssprache als einer normativen Verkehrssprache berührten sich mit Ch. S. Peirces Behandlung der normativen Urteile in dessen Vorlesungen über Pragmatismus von 1903, die Baumgarten natürlich nicht kannte. Die ersten Bände (I-VI) der Collected Papers of Charles S. Peirce erschienen 1931/35. 71 Wissenschaft und Sprache, a. a. O., S. 202.

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der Definitionen, überhaupt die juristischen Dispute entstünden weniger aus speziellen sprachlichen und theoretischen Differenzen, sondern besäßen „ihre tiefste Wurzel in einer Verschiedenheit der juristischen Weltanschauungen“.72 Da die Menschheit seit Jahrhunderten nicht müde geworden sei, über weltanschauliche Fragen wissenschaftliche Diskussionen zu führen, so dürften wir das als ein Zeichen der Annäherung durch Argumente ansehen. Nur über solche Verständigung bei den grundsätzlichen weltanschaulichen Fragen könne eine zukünftige synthetische Kultur entstehen. Die Rechtssprache als ein spezifisches Verständigungsmittel zwischen Fachgenossen zur Prägung typischer Situationen bilde mit ihrer Rationalisierungsintention sozialen Verhaltens eine wesentliche Kraft der sozialen Evolution.

3. Positivität und Geltung Baumgartens letzte Zusammenfassung seiner Rechtsphilosophie von 1939 war nicht nur vom theoretischen Ungenügen sowohl der neukantianischen normlogischen als auch der positivistischen Rechtslehre bestimmt. Mit den politischen Parteien der Weimarer Demokratie waren zugleich die liberalen Theorien gegenüber der politischen Gewalt und der willenshaft kollektivistischen Rechtsideologie der faschistischen Bewegung gescheitert. Baumgarten sah, wie sich viele deutsche Rechtslehrer zum Arrangement mit dem diktatorischen Regime wendeten. Der Positivismus wurde von der faschistischen Ideologie nicht mehr naturrechtlich oder freirechtlich kritisiert, sondern nun am Zielpunkt lang bereitliegender Tendenzen verhöhnt. Das geschah nach der einen Seite mit der relativistischen Aushöhlung des Rechts durch einen Willen zu politischer Führung und in entgegenlaufender Richtung mit einem Institutionenrecht, das vor allem dem diktatorischen Staat diente, der nicht mehr von Gewaltenteilung gehindert werden sollte. Baumgarten sah seine vom frühen psychologischen und moralischen Strafrecht bis zum Verfassungsliberalismus der Rechtsphilosophie von 1929 individualrechtlich gefasste Theorie in eine Krise geraten. Er begann, das innere soziale Gefüge der an der Oberfläche erscheinenden politischen und geistigen Kämpfe wahrzunehmen und in seine Rechtsmethodologie einzufügen. Der ungeliebten marxistischen Rechtstheorie gab er die Soziologie der Beziehung des öffentlichen Rechts aufs Wirtschaftsrecht zu, das mit der Kapitalform des Eigentums längst aus dem Privatrecht herausgetreten war. Doch an den Hauptpunkten seines Rechtsbegriffs hielt er fest. Änderungen betrafen den sozialen Bezug der formalen Bestimmungen. Der springende Punkt musste hier das bis heute ungelöste Problem sein, wie die Beziehungen zwischen dem auf übermächtige Konzerne zugeschnittenen Wirtschaftsrecht, dem objektiven öffentlichen Recht des Staates im In72 Ebd. S. 201. „... die endlosen Streitereien der Juristen, [...] weil sie unter dem gleichen Wort Verschiedenes verstünden. Das ist, wie uns scheint, eine oberflächliche Auffassung. ... Es liegt in der Mehrzahl der Fälle nicht an der kleinlichen Rechthaberei der Streitenden, sondern daran, daß die tieferen Wurzeln des Streits in der Diskussion nicht aufgedeckt werden“. Es handele sich um manchmal unbewußte, oft aber uneingestandene Unterschiede in der Auffassung von der Rechtsidee. (Methodenlehre, S. 50)

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teresse der sozialen Gestaltung und den der demokratischen Verfassung entsprechenden subjektiven Rechten der Bürger zu gestalten sei. Vergleicht man die Darlegungen des Rechtsbegriffs in den Schriften von 1920 bis 1939, so zeigt sich, dass Baumgartens sozialistischer Rechtsbegriff aus dem Sensualismus seines altruistischen Eudämonismus hervorgehen konnte. 1920 hatte es geheißen, „... daß das Recht sich bestimmen lasse als ein ideelles System positiver geltender Normen, durch die für eine zusammenlebende Menschengruppe meistens mit Sanktionen versehene sittliche Pflichten sowie Machtbefugnisse begründet werden.“73 Der Baumgarten eigene Akzent saß auf den Rechtspflichten als moralischen Pflichten. Zur geltenden Lebensordnung hieß es weiter, sie werde in der regelmäßigen Befolgung von der altruistischen Seite der Emotionalität, sogar mit gewisser suggestiver Kraft, getragen. Geltung sei „regelmäßige Nachachtung“.74 Zur rationalen und möglichst präzise zweckmäßigen Rechtssetzung gehöre die Geltung in der praktischen Anerkennung, im idealen Ziel bis hin zur Gewohnheitsbildung. Baumgarten legte großen Wert auf die Unterscheidung der Rechtswissenschaft als Auslegung geltenden Rechts (Wissenschaft de lege lata), als Ermittlung des richtigen Rechts und als neue Begründung und Systematisierung des Rechts (de lege ferenda). Die Auslegung bilde eine ideale Form der positiv geltenden Rechtsordnung. „Die Rechtswissenschaft widmet sich als ethische, also in letzter Linie das Wohl der Menschheit zum Gegenstand nehmende, Disziplin der Auslegung der positiv geltenden Rechtsordnung.“ Den ethischen Gehalt der Jurisprudenz ließ Baumgarten damit einsetzen, dass diese bereits die Pflicht, der Rechtsordnung zu gehorchen, als eine ethische enthalte. Daraus ergebe sich die Aufgabe, „den Inhalt der Rechtspflichten mit Rücksicht auf eine möglichste Beförderung des Glücks der Gesamtheit darzulegen.“75 Die Definition der Methodenlehre von 1939 ist der Bestimmung von 1920 dem Wortlaut nach fast gleich geblieben. Die materiale Erwartung der erforderlichen Ausformung der Wohlfahrt der Gesamtheit begann sich allerdings zu verschieben. „Das Recht ist eine dem sittlichen Ziel dienende, positive, geltende, die verschiedensten Gebiete umfassende Ordnung des menschlichen Zusammenlebens.“76 Den Kern der Definition bildet die „positive, geltende Ordnung“. Die ausweitenden Bestimmungen vom „sittlichen Ziel“ der Rechtsordnung und dem „Zusammenleben“, das die Bürger als Menschen moralisch qualifiziere, gehörten immer zu Baumgartens sensualistischem Empirismus. Er sagte auch, ein Recht ohne „ objektive rechtsethische Prinzipien“, die H. Hofmann als materiale Grundbegriffe der Rechtsphilosophie zusammenfasste, bleibe ohne systematischen Gehalt.77 Es könne dann um so leichter der Machtpolitik einzelner Gruppen dienen. Baumgarten fasste die Verbindung des Rechts mit der Moral als Element der logischen Systematik. Er setzte, konsequent liberal, den Staat hinters Recht zurück. Staat und Po73 74 75 76 77

Recht III, S. 533. Der Weg, S. 445. Recht I, S. 152ff. Methodenlehre, S. 17. H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, S. 34ff.

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litik dienten dem Recht, indem sie es anwendeten. Die Einheit des Staates im logischen Sinne bestehe selbst nur darin, dass die geltenden Rechtssätze auf ein Zentrum bezogen werden könnten: auf die Verfassung. Für den Staat selbst ist der Rückbezug auf die Verfassung das Kriterium der Staatseinheit. Kelsen nannte das Verhältnis von Staat und Recht geradezu ein Scheinproblem. Definitionen des Staates würden in der Konsequenz zu Definitionen des Rechts. Baumgarten meinte ebenfalls, ohne Kelsens Rechtslogik beizustimmen, die Souveränität des Staates sei eigentlich der Ausdruck der Unabhängigkeit der Rechtsordnung. Man dürfe nicht Recht und Staat wie zwei metaphysische Wesenheiten nebeneinander stellen: der Staat etwa als die soziale Tatsache politischer Gewalt, das Recht dagegen als Norm des Sollens. Das habe auf die inadäquate Frage geführt, ob das Recht die Voraussetzung des Staates oder umgekehrt der Staat Basis des Rechts sei. Baumgarten führte seinen Liberalismus im pragmatischen Sinne dazu, dass alle Versuche gescheitert seien, einen spezifischen Rechtszweck ausfindig zu machen, außer den sittlichen Bestimmungen des Menschen, die sich daraus ergäben, dass der Bürger sowohl freie Person als auch in Gemeinschaften agierendes Individuum sei. Die Positivität des Rechts verstand Baumgarten nicht im unmittelbar faktischen Sinne. Da wäre der Rechtssatz positiv, indem er befolgt werde, also gelte. Die Definition nennt Positivität und Geltung nacheinander. Baumgarten setzte die Positivität auch nicht – etwa wie die Stufenlehre Merkels – in Begründungszusammenhänge bis hin zu einer die Einheit der Rechtsordnung garantierenden Ursprungsnorm. Darum musste seine Definition beschreibenden Charakter erhalten. Die Einheit der Rechtsordnung führte er pragmatisch in deren sittlichem Zweck zusammen. Das rückte Baumgarten 1939 über die alte liberale Bestimmung hinaus, dass das Eigenleben der Einzelnen mit dem Miteinanderleben der Vielen vereinbar bleiben solle. Jetzt hieß es, die Positivität der Rechtsordnung „soll auch die Gemeinschaftsarbeit der Menschen organisieren“.78 Das setzte die Positivität des Rechts von dessen Geltung ab. Rechtsgeltung bedeutete ihm unbedingte Befolgung, im Unterschied zur weiten Gültigkeit sittlicher Konventionen, die der persönlichen Freiheit gemäß den je originalen Situationen überlassen bleiben. Positiv sei die Geltung erstens als rationale Setzung durch konkrete Personen und zweitens durch ihre daraus folgende Realität, ins Einzelne gehende Bestimmung zu sein. Drittens trage die Positivität teleologischen Charakter. Recht ist Festsetzung mit genau bestimmtem Zweck. Gern zitierte Baumgarten v. Iherings Wort, das Recht müsse praktikabel sein. Die Positivität stelle darum material meist eine Verbindung von Organisation und Kompromiss dar.79 Im Sinne seines Liberalismus verband Baumgarten die Positivität des Rechts mit dem Gedanken, systematische Rationalität gewinne eine Vereinheitlichung der Lebensordnung zurück, die sonst durch die persönliche Freiheit verloren ginge. Den Liberalismus dieses Positivitätsbegriffs hatte Baumgarten 1920 deutlich vorausgesetzt: Die Auslegung der Gesetze „geht von der Voraussetzung aus, dass die Gesetze auf eine Persönlichkeit zurückzuführen sind, die konsequent denkt und handelt und 78 Methodenlehre, S. 19. 79 Der Weg, S. 443. „Ein Recht, das den Schwächeren so belastete, daß er besser daran täte, den Kampf dem Frieden vorzuziehen, trüge keinen Kompromißcharakter, es hätte aber auch keine Aussicht auf dauernde Geltung.“ (Ebd., S. 465)

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unbeschadet ihrer sich in den Gesetzen äußernden Individualität, soweit die von ihr getroffene Regelung Lücken aufweist, eine Ergänzung aus dem objektiv vernünftigen Denken erwartet.“80 Als Rechtsquellen sah er primär mit hohem Idealismus die Rechtsüberzeugungen der Bürger an, die aus deren sittlichen Überzeugungen hervorgingen. Gewohnheitsrecht, Juristenrecht der communis opinio doctorum, die freie richterliche Rechtsfindung und die bereits bestehenden Gesetze würden hinzutreten. Positivität des Rechts, von einem Zentrum konkret zielgerichteten Denkens und Wollens entworfen, sei „die Subjektivierung des der Natur der Sache nach Richtigen“ und als solche „eine der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienende Ordnung“. „Sind die Ansätze zu einer sittlichen Ordnung des Gemeinschaftslebens in ein Bewußtsein aufgenommen und von ihm geformt worden, um dann in dieser Form von einer Gruppe zusammenlebender Menschen als maßgebliche Gesellschaftsordnung anerkannt zu werden, dann ist ein Recht zustande gekommen.“81 Der idealisierende Überschuss dieser Bestimmungen lässt erkennen, dass Baumgartens Rechtsphilosophie immer auf eine mögliche Zukunft bezogen war. Das Recht selbst fasste Baumgarten auf Grund seines rationalen Korrektivs als wesentliche Triebkraft der Veränderung. Als einen Rechtsbegriff zweiter Stufe nannte er die Ordnung, „die durch ein Ineinanderspielen konkreter Rechtsgeschäfte und unbewußter sozialer Ordnungsfaktoren zur Entstehung kommt.“82 Seine optimistische Denkweise begann Baumgarten angesichts der Nachgiebigkeit der europäischen Demokratien gegenüber dem Faschismus zu überdenken. Er suchte nach Korrektiven, die republikanische Rechtsidee gegen ihre eigene Wehrlosigkeit angesichts faschistischer Tendenzen in mehreren europäischen Staaten zu sichern. Dabei verfestigte sich seine Erwartung, die neue Sozialordnung der Union der Sowjetrepubliken auf Basis des Gemeineigentums könnte die Erneuerung der europäischen Rechtsordnung vorwegnehmen. In der Erfahrung, dass sich die Sowjetunion zum einzigen wirklichen Hindernis für die faschistische Neuordnung des europäischen Staatensystems erwies, erwuchs die zunehmende Anerkennung der sozialistischen Gesellschaftsidee. Man darf sich jedoch nicht täuschen, wie zwanglos sozialistische Grundsätze aus Baumgartens liberalem Positivitätsbegriff und aus seinem altruistischen Eudämonismus hervorgehen konnten. Am Beginn der dreißiger Jahre, noch vorm Machtantritt der Nazi-Partei und vor seinem Übergang zur sozialistischen Idee, sagte Baumgarten, nichts sei so wichtig für den Fortschritt der Menschheit, wie die Fortbildung des Rechts, „in der sich das Bewußtsein umfassender Gruppen auf die Frage der richtigen Regelung des Gemeinschaftslebens konzentriert, und die vorläufigen Lösungen alsbald der Bewährungsprobe unterwirft.“ Die Rechtsidee gehe nun über die einfache Gerechtigkeitsidee hinaus, die schon die Alten aufgestellt hätten. „Sieht man näher zu, dann äußert sich doch in unsern Rechtseinrichtungen mit zunehmender Deutlichkeit der Gedanke, dass ein Volk, ja die Menschheit eine große Arbeitsgemeinschaft ist“. Das letzte Ziel dieser Arbeitsgemein-

80 Recht I, S. 194. 81 Der Weg, S. 442. 82 Ebd., S. 456.

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schaft könne freilich nicht im Diesseitigen liegen. „Wenn nicht alles sinnlos sein soll, [hat] der historische Prozeß der Herbeiführung eines transzendenten Endzustandes zu dienen.“83 Man würde Baumgartens Sozialismus und dessen Mitwirkung in der DDR simplifizieren, wollte man sagen, das sozialistische Gesellschaftsbild sei an die Stelle der Transzendenz-Erwartung getreten. Baumgarten sah die sozialistischen Gesellschaften seiner Zeit im Gegenteil als Bestätigungen der metaphysischen Bestimmung der Menschheit und als Schritte auf diesem Weg. In seiner Philosophie des Rechts ging überhaupt der Gedanke mit, alle Rechtsordnungen seien etwas Vorübergehendes, etwas mit der rationalen Ordnungsbestimmung des Rechts immer Weitertreibendes. Wie sollte er das im erwartungshohen, doch unter den kruden Zwängen gewaltsamer Realisierung autoritären Sozialstaat vergessen haben? Rechtspositivismus hatte generell bedeutet, das Recht nicht mehr auf unveränderlichen naturrechtlichen Prinzipien zu begründen. Eine Rechtsordnung galt Baumgarten für positiv, indem sie in einzelnen Bestimmungen gelte. Die Endlichkeit der einzelnen Rechtssätze stelle die andere Seite der Energien immer erneuerter Regelungen dar. Als Abfolge endlicher Bestimmungen schließt Positivität Veränderungen ein, immer in Bereitschaft, gerechtere Regelungen zu ermitteln. Mit seinem hohen Optimismus glaubte Baumgarten, „die Tendenz zum Sittlichen geradezu zum Begriffsmerkmal des Rechts machen zu sollen“. „Die Auslegung umfasst die Fortentwicklung der in den Gesetzen enthaltenen Vorschriften zu einer möglichst vollkommenen, in sich geschlossenen Lebensordnung.“84 „Die Geltung ist ein unentbehrliches Merkmal des Rechtsbegriffs, aber sie hat für ihn nicht die gleiche spezifizierende Bedeutung wie die Positivität. Auf die Positivität muß man den Akzent legen, wenn man das Recht in seiner Eigentümlichkeit verständlich machen will, die Geltung gesellt sich dann ganz von selbst hinzu als die unerläßliche Begleiterscheinug der Positivität.“ Das sollte Recht und Moral unterscheiden. Moral besitze auch Geltung, sei aber nicht positiv, nicht „durch ein individuelles bewußtes Denken“ gesetzt.85 Das Geltende ist ein Fall des möglichen Rechts, das wirklich werden kann, in dem Sinne etwa, wie Leibniz die für uns wirkliche Welt als einen Fall der möglichen Welten ansah. Wollte man das Verhältnis von Positivität und Geltung bei Baumgarten nach einer klassischen Relation philosophischer Begriffe beschreiben, so könnte man sagen: Positivität sei die Energeia der Rechtssätze, Geltung deren jeweils realisierter Stoff. Die Positivität verwirklicht sich in den Geltungen.86 Das wirkliche Recht ist Teil des möglichen. Dann sitzt der Akzent auf der Entwicklung. Die Eigenständigkeit der Geltung einer gesetzten Rechtsnorm trete schon dadurch heraus, dass diese einer Ergänzung bedürfe: der Sanktion für den Fall der Nichtbefolgung. Das führe bei ungenügender rechtsphilosophischer Theorie zu idealistischer Substantialisierung des Rechts als eines 83 84 85 86

Ebd., S. 461. Recht, S. 194. Der Weg, S. 445. „Das Recht ist nicht nur eine positive, sondern auch eine geltende Ordnung. Es muß eine geltende Ordnung sein, wenn es den Nutzen bringen soll, den wir uns von seiner Positivität versprechen.“ (Methodenlehre, S. 22)

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Seinsollenden schlechthin. Der Begriff der Positivität bedeute eine spezifische mögliche Regelung, insofern eine zufällige. Die Frage bliebe, welchen Status die allgemeinsten Rechtsgrundsätze erhielten und wie das erst zu schaffende Recht einzuordnen sei. Die letzten Grundsätze wären insofern ebenfalls für positiv anzusehen, da selbst sie Teile des zivilisatorischen Prozesses bildeten. Platon hatte Gerechtigkeit als die Ordnung bestimmt, in der jeder das Seine tue: im Sinne einer ideell ursprünglichen Scheidung ungleicher Stände. Die Lex ferenda wäre, streng genommen, noch gar kein Recht, sondern Teil der Politik. Baumgartens Ausführungen zu den konstitutiven Rechtsprinzipien, seine ausgewogene Vermittlung von subjektiver und objektiver Auslegung, der Rechtsprimat gegenüber den Institutionen, die durchgehende Orientierung auf die Verbindung des Rechts mit der sittlichen Anschauung der Mehrheit eines Volkes, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik nach und nach allgemeine Auffassung der Rechtswissenschaftler. Baumgarten wirkte mit seinem Liberalismus bereits zwischen den Weltkriegen in diesem, damals erst vorausweisenden Sinne. Seine moralische Entschlossenheit ließ ihn nach der deutschen Erfahrung von Faschismus und abermaligem Krieg den Weg für einen Neubeginn mit der Sozialisierung der Großindustrie und mit den demokratischen Potenzialen der großen Arbeiterparteien beschreiten. Er blieb selbstverständlich bei seiner Entscheidung, die bestärkt gewesen war von der Preisgabe der staatlichen Einheit Deutschlands durch die Behörden der Westzonen, die glaubten, nur damit der Sozialisierung der Großindustrie begegnen und einige eigentlich unerlässliche antifaschistische Klärungen vermeiden zu können.

4. Rechtszwang Das Erfordernis einer von autoritativer Stelle gesetzten Ordnung leitete Baumgarten nicht aus menschlichen Trieben zu Egoismus und Pflichtverweigerung ab, ebenso wenig aus dem repressiven Charakter des Privateigentums. Als unbedingtes Gebot galt ihm das Recht, weil es genau umgrenzte und in vielen Fällen wiederkehrende Verhaltensweisen und Sachverhalte durch rationale Setzungen regele. Das entsprach für ihn dem rationalen Sollenszwang, den der Mensch sich selbst als zweckmäßig Handelnder auferlege. Mit jeder rationalen Festlegung verknüpfe sich eine Organisationsanforderung. In den übergreifenden gesellschaftlichen Netzen aller Zweckhandlungen könnten diese nur über Verfahrensrichtlinien und über die Möglichkeit von Sanktionen Geltung erlangen. Die rechtlichen Setzungen dienten primär, optimale kooperative Verfahren zu gewährleisten. Vom Blickpunkt der einzelnen Interessen her müssten sie nicht die selbstverständlichen sein. Nur als in der Tendenz allseitig optimale Regelung könne das Recht Friedensordnung sein. Doch solle der Zwang nicht überschätzt werden. „Man tut es, wenn man, wie es so häufig geschieht, den Zwang als wesentliches Begriffsmerkmal des Rechts bezeichnet. Der Zwang ist ein naturale, nicht ein essentiale des Rechts.“87

87 Methodenlehre, S. 20.

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Baumgarten fasste die Rechtsbefolgung als sittliche Pflicht des Einzelnen. Eine geltende Ordnung werde in sittlicher Hinsicht immer unvollkommen sein, habe jedoch um der Friedensordnung willen einen sittlichen Wert und legitimen Anspruch auf Befolgung. Was, wenn einzelne Gebote einer Rechtsordnung in sittlicher Hinsicht erhebliche Bedenken erwecken oder gar „eine geltende Rechtsordnung in der Gesamtheit ihrer Bestimmungen einer unsittlichen Zielstellung unterstellt sein sollte“? „Der Fall wird sich schwerlich je ereignen“, hieß es, merkwürdig genug, noch in der Methodenlehre von 1939. Wenn ja, dann an geschichtlichen Wendepunkten, an denen der Bruch des alten Rechts auf die Tagesordnung trete, „wenn schon nicht für jedermann, so doch für den, der überhaupt einigermaßen zum Revolutionär geschaffen ist.“ Im leichteren Fall des Pflichtenkonflikts aber werde der Jurist so entscheiden, „daß eine nach den jeweils geltenden Verfassungsnormen zu Stande gekommene Anordnung der mit der Rechtssetzung betrauten Behörden als Recht zu bezeichnen ist, auch wenn sie wegen ihres unsittlichen Inhalts der sittlichen Verbindlichkeit entbehren sollte.“88

III. Recht und Moral 1. Sensualistischer Pragmatismus und Theorie der Handlungsantriebe Die Beziehung des Rechts auf die Moral bildet für die sensualistische Rechtsphilosophie einen wichtigen Punkt. Der Sensualismus konzentriert seine Sozialtheorie nicht auf objektive Strukturen, sondern auf subjektive Bedürfnisse und Handlungsintentionen. Mit genetischer Methode sucht er das kausale Entstehen und die anhaltende Wiederkehr der strukturalen Ordnungsformen nachzuzeichnen. Die phänomenologisch-genetische Methode, Strukturen von analytisch letzten Subjektivitätselementen her aufzubauen, bietet wohl den Zugang zu Verhältnisbestimmungen. Doch ob sie den Naturalismus von Triebfaktoren, die Simplifizierung sensualistischer Sozialphilosophie, zurücksetzt, das hängt von der Art des analytischen Ausgangspunktes ab. Baumgarten ging von zwei Prämissen aus. Die erste bestand im Wechselbezug von Selbsterhaltungsantrieben und altruistischem Wohlwollen gegenüber Anderen. Das ergab bereits im Ansatz eine Verhältnisbestimmung und setzte naturalistische Fixierungen zurück. Die unmittelbaren Quellen dieses Ansatzes bei Spencer und für den Pragmatismus bei Dewey liegen auf der Hand. Die andere Voraussetzung bestand in der pragmatistischen Intellektualisierung der bedürfnishaften Antriebe. Denken ist, direkt oder mittelbar, aufs Handlungsgeschehen bezogen. Es kann nur intellektualistisch als kontinuierliches soziales Geschehen vollzogen werden. Im Unterschied zum Naturvorgang trägt das Handlungsgeschehen teleologischen Charakter. Die Handlungsteleologie vollzieht sich über rationale Prozeduren, die nur als sprachlich vermittelte intersubjektive Akte zu denken sind. Damit waren für Baumgarten die naturalistischen und ebenso die romantischen ganzheitlichen Konzepte ausgeschlossen. 88 Ebd., S. 23f.

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Baumgarten bestimmte die Positivität des Rechts recht eigentlich mit dem Ziel, es von der Moral abzugrenzen. Moral ist die nicht durchs Prisma eines bewussten, individuellen Denkens hindurchgegangene Lebensordnung. Er rückte seine Fragestellung deutlich ab von der damals bei den Juristen verbreiteten Unterscheidung, die Merkel bündig formuliert hatte: Der Moral sei es wesentlich, Pflichten aufzuerlegen, das Recht wolle in erster Linie Rechte gewähren. Baumgarten wandte ein, auch der Moral sei der Begriff der Berechtigung nicht fremd. Im Gegenteil. Ihre Inhalte seien Erwartungen mit besonders intensivem psychischem Berechtigungsbewusstsein. Auch meine das Wort, wir sollten Jedem das Seine geben, gut sensualistisch, dass wir ihm geben sollten, was er erwarten dürfe. Die Moral kenne ebenso Sanktionen, wie sie die Geltungssphäre des Rechts begleiteten. Der wesentliche Unterschied bestehe also darin, dass die Moral nicht positiv gesetzt sei. Zunächst ist die Verbindung beider Sphären zu betrachten, danach kann Baumgartens Unterscheidung von Recht und Moral gewürdigt werden, die der Positivität des Rechts eine interessante Aktivität gegenüber der Moral zusprach.

2. Moral als Grundlage des Rechts in der Tradition des Sensualismus und Liberalismus Die Parallelisierung von Recht und Moral stellte einen zentralen Bereich der insgesamt auf harmonisierende Evolution gerichteten Gesellschaftslehre des Sensualismus dar. Der naturalistische Sensualismus ersetzte das hierarchische Prinzip der feudal-theologischen Gesellschaftslehre. Er führte elementare psychische Bedürfnisse und Reaktionsweisen von Individuen als analytisches Prinzip ein zur rationalen Rekonstruktion aller kulturellen Bereiche wie Recht, Pädagogik, Wirtschaft, Künste und selbst Religion. Die Moralphilosophie bildete die Basis des neuen, sog. natürlichen Systems der Sozialwissenschaften. Damit erhielt das Recht eine moralphilosophische Grundlegung. Baumgartens Rechtsphilosophie ist ganz von dieser sensualistischen Theorie der englischen und französischen Aufklärung bestimmt. Die analytische Basis des neuen, nicht mehr theologischen und nicht mehr metaphysischen, Systems der Sozialwissenschaften bildete die Psychologie. Dieses analytische Prinzip trug außerordentliche methodische Konsequenzen. Die Einzelperson war aus einem Baukasten stabiler psychischer Elemente zu erklären. Das bedeutete nicht deren statische Fixierung, sondern ergab ein Variationsmuster von möglichen Verhaltensweisen. Entscheidender wurde, dass die psychologische Grundlegung des Sozialgefüges gleichsam das Modell eines lebendigen Gebildes ergab, das sich unablässig durch kleinste Umlagerungen aufeinander wirkender psychischer Kräfte Verändernde. Es war der außerordentliche Schritt zur Kausalauffassung des dynamisch verstandenen Gesellschaftsganzen, einer Kausalerklärung, die den Akzent auf anhaltende Verschiebungen und darum rechtliche Reform richtete.89 Baumgartens

89 „So entstand aus der psychologischen Grundlegung das sog. natürliche System der Geisteswissenschaften, das das 18. Jahrhundert zum großen Jahrhundert der Rekonstruktion der Ethik und der anderen Geisteswissenschaften auf psychologistischer Basis gemacht hat ...“ (E. Troeltsch, Die

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Verbindung des Rechts mit der Moral steht durch Vermittlung des englischen Pragmatismus in dieser psychologisch-analytischen und aktivistischen Tradition, und sie gewann aus dieser ihren sozialreformerischen Geist. Dieser methodische Duktus hatte freilich den kulturellen Zusammenhang verkehrt dargestellt. Das soziale Interesse der Middle class suchte eine neue Verrechtlichung der Individuen und sozialen Klassen. Dafür schuf sie die Idee einer voraussetzungslosen moralischen Begründungsweise, die über die psychologische Analytik als die natürliche erschien. Mit der unterschiedlichen moralischen Charakteristik wechselten die typischen verfassungs- und privatrechtlichen Lehren. Der konsequente individualistische Sensualismus konzentriert die Emotionalität auf das interessehafte Individuum. In der Linie Machiavelli, Hobbes bis zu Nietzsche zeigte sich, dass damit das Erfordernis eines autoritären Staates zu verbinden war. Die Umgestaltung des Sensualismus durch Shaftesbury und in dessen Nachfolge durch die schottische Common-sense-Schule (Reid, Hutcheson, Smith, Ferguson) zielte auf einen Ausgleich zwischen Individualismus und einer ursprünglichen sozialen Natur auch des persönlich freien Menschen. Das schuf dem Eudämonismus erweiterte Möglichkeiten, sozialwissenschaftlichen Disziplinen als philosophische Grundlage zu dienen. Ein Sensualismus, der von einer Relation im sog. natürlichen Individuum ausging, wie eben der von Selbstbezug und Mitgefühl, konnte die Rechtsstruktur in einem fortlaufenden geschichtlichen Bewegungsvorgang konkreter sozialer Interessen zeigen. Das Perfektibilitätsprinzip des Naturalismus des 18. Jh.s war durch solche Verhältnisbestimmung von einfacher Antriebsstruktur in Analogie technischer Aspekte des Arbeitsprozesses auf umfassend soziale Prozesse übertragbar. Daran blieben die Postulate der liberalen Bewegungen des 19. Jh.s gebunden und diese waren überhaupt wesentlicher Inhalt des Fortschrittsoptimismus der damaligen Industriegesellschaft gewesen. Die sozialistische Programmatik der Sozialdemokratie bildete seit dem Fall des Sozialistengesetzes (1890) und den Wahlerfolgen der Partei zunehmend einen „linken Flügel der demokratischen Front“, wie es F. Friedensburg genannt hatte.90 Die mehr historisch denkenden Aufklärer, wie z. B Montesquieu, Hume oder Ferguson, gingen von schon bestehenden sozialen Gebilden, der Familie oder der feudalen Gefolgschaft, aus und setzten den Akzent auf die Umbildung des Verfassungsrechts im Sinne der Gewaltenteilung.91 Die Beziehung des Rechts zur Moral trat zurück, wie englischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Tübingen 1925, S. 405) 90 Im Vorwort zu seiner Geschichte der Weimarer Republik, die 1934 als Manuskript vorgelegen hatte, aber damals nicht veröffentlicht werden konnte: Die Weimarer Republik, Berlin 1946. Friedensburg war damals Präsident der Deutschen Zentralverwaltung der Brennstoffindustrie in der Sowjetischen Besatzungszone gewesen. 91 So Humes Essays and treatises on several subjects, 1753/54, übersetzt u. in diesem Sinne kommentiert v. Chr. J. Kraus: D. Hume’s politische Versuche, Königsberg 1813. Hume behandelte die Gesellschaft als Erweiterung der Familienordnung und die dann erforderliche Rechtsordnung als die Gerechtigkeit nach den Bedürfnissen der Sicherheit im wechselseitigen Verkehr. Gehorsam werde dann die Pflicht um der Gerechtigkeit willen „und das Band der Billigkeit muß durch das Band der

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später auch Hegel die Genese des Rechts aus der Moral als individualistische Schimäre abtat. Die in Wirklichkeit theoretisch anspruchsvolle Konstruktion entwickelte J. Locke in seinen Two treatises of government (1690). Die erste Abhandlung war gegen R. Filmers Patriarchia und deren Verteidigung der absoluten Monarchie gerichtet gewesen. Filmers Thesen lauteten: „Die ersten Könige waren Väter von Familien“, „Es ist unnatürlich für das Volk, zu regieren oder Herrscher zu wählen“, „Positives Recht beeinträchtigt nicht die natürliche und väterliche Gewalt der Könige“.92 Lockes Begründung des Rechts auf einer individualistischen Moralphilosophie bildete die Gegenposition dazu. Die erste Abhandlung wies die theologische Begründung des Absolutismus aus der Abstammung aller Herrschaft vom Dominium Adams über die Welt zurück. Darauf folgte im zweiten Stück die charakteristische Verbindung von Moral und Recht im Konstrukt des Naturzustandes, der eine völlige Freiheit und Gleichheit der Individuen zeige. Die Naturrechtslehre wurde vom Sensualismus des 18. Jh.s zu einer zwar juridisch formulierten, doch im Kern moralischen Doktrin umgebildet. Nur durch eine eigene RechtMoral-Beziehung waren die patriarchalischen Färbungen des Moralelements in den vorangegangenen theologischen und absolutistischen Naturrechtslehren zu überschreiten. Die theoretische Leistung der individualistisch-sensualistischen Bindung des Rechts an die Moral stak in der logischen Gegenüberstellung zweier verschiedener Zustände, eines fast mathematisch abstrakten Naturrechts, das eigentlich eine Moraldoktrin war, und der reichen Gliederung der konkreten Rechtsordnungen. Der Ausgangspunkt musste geschieden sein vom vor Augen liegenden Erscheinungsbild. Locke entwickelte, mit gutem Bedacht in Anlehnung an den Begründer der anglikanischen Theologie, R. Hooker, die Rechtspflichten aus ursprünglichen moralischen Verpflichtungen von Individuen, wie es dann noch bei Baumgarten wiederkehrt.93 Die historische Inadäquatheit einer ursprünglichen Individualmoral ist aufschlussreich für den immer kulturell bedingten Rahmen selbst solcher Grundlegungen. Die individualistische Fragestellung ging dem Wort nach von moralischen Antrieben aus. Tatsächlich stellte die Moralform der Behandlung des Rechts eine perspektivische (und Untertänigkeit befestigt werden.“ (Vom Ursprung der Regierung, a. a. O., S. 223) Das verfassungsrechtliche Ziel der moralischen Grundlegung des Rechts war die Gewaltenteilung. 92 Vgl. R. Filmer, Patriarchia oder Die natürliche Gewalt der Könige, dt. in: J. Locke, Zwei Abhandlungen über Regierung, Halle 1906. 93 „Dieselbe natürliche Veranlassung hat die Menschen zur Erkenntnis gebracht, daß es nicht weniger ihre Pflicht ist, andere zu lieben als sich selbst, weil sie sehen, daß Dinge, die gleich sind, ein Maß haben müssen.“ „Ich wünsche, von des Menschen Hand Gutes zu empfangen, so muß ich das gleiche Verlangen an Anderen erfüllen. Wenn ich Leid zufüge, muß ich erwarten, auch selbst zu leiden.“ Baumgartens Strafrecht des Liberalismus hat diese moralische Begründung treu bewahrt. Der Übergang von der Moral der Wechselseitigkeit zum Recht erfolgt als natürliches Gesetz der Vernunft, „daß, da alle gleich und unabhängig sind, niemand dem anderen an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.“ Aus der Gleichheit der Fähigkeiten wird mit kühnem aufklärerischem Schluß gefolgert, „so kann auch unter uns keine Unterordnung angenommen werden, die uns ermächtigte einander zu vernichten“. (J. Locke, Zwei Abhandlungen über Regierung, a. a. O., S. 224f)

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hier keineswegs utopische) Vorwegnahme der liberalen Rechtsordnung dar. Recht wurde vom Sensualismus als positive Realisierung moralischer Anlagen ausgeführt. Reell war die Moraltheorie eine Projektion genauer rechtlicher Postulate, recht eigentlich des einen: dass der Mensch frei geboren sei, also des überschwänglichen Ausdrucks für eine Tatsache, die nie existierte. Baumgartens Rechtstheorie bewahrte die aus der psychologischen Analytik hergeleitete moralische Grundlegung. Das war dann an den innertheoretischen Begründungen seiner sozialstaatlichen und schließlich sozialistischen Postulate eines neuen Wirtschaftsrechts deutlich zu erkennen. Er ging von einem zentralen kooperativen und darum altruistischen Antrieb des Menschen aus und begründete von da her das Recht vom Privatrecht bis zum Verfassungs- und Völkerrecht als eine Form der organisierten Gemeinschaftsarbeit der Menschen. Die Tatsachen der Existenz und der dauernden Umbildung des Rechts galten ihm als der Beweis für eine solche Hauptlinie gemäß der sozialen Anlagen, die der eudämonistische Altruismus formulierte. Baumgartens Begriff der Gerechtigkeit erhielt darum lange vor seiner sozialistischen Entscheidung starke moralische Gehalte in der Linie seines Altruismus. Die Erhebung der Moralphilosophie zur Basistheorie des Rechts in der bürgerlichneuzeitlichen Weise, wie es der Sensualismus mit der Psychologie individueller, soziale Beziehungen erst setzender Antriebe ausgeführt hatte, bot die Möglichkeit, einige wesentliche rechtsphilosophische Thesen in einem allgemeinen sozialtheoretischen Rahmen zu begründen.94 Zu diesen Thesen gehörte vor allem die evolutionäre Auffassung des Rechts eben durch dessen artifizielles Positivitätsverständnis, wie es auch Baumgarten vertrat. Die Gerechtigkeit als Ziel der kooperativen Funktion des Rechts wurde eine historisch transitive Größe. Mit der Voraussetzung einer Relation von selbstbezogenen und sozialen Anlagen der Individuen grenzte die sensualistische Rechtsphilosophie grundsätzlich die autoritären Aspekte der Rechtsordnung ein. Baumgartens Relativierung des Zwangscharakters des Rechts entspricht dem. Der Gedanke permanenter Rechtsevolution diente ursprünglich dazu, die theologische Substantialisierung der sozialen Struktur abzulösen. Später richtete sich der Evolutionismus des Rechts gegen demokratiekritische Tendenzen. Die moralphilosophische Grundlegung war über die Zurücksetzung des Naturalismus unmittelbarer egoistischer Antriebe zu einer perspektivischen Setzung des Liberalismus ausgebildet worden. Baumgartens Verbindung von Recht und Moral zeigte, dass die konservative Polemik das Problem verschob, wenn sie den Liberalismus primär als ein individualistisches Rechtsverständnis im Widerspruch zu vorgeordneten sozialen Ganzheiten kritisierte. Tatsächlich primär war für den Liberalismus die evolutionäre Auffassung des Rechts. Die Ganzheiten wurden als in Bewegung befindliche Verhältnisse zwischen Gruppen und Individuen entschlüsselt. Spencers Grundgesetz der Evolution dachte eine Bewegung, 94 Auch der antike griechische Rechtsbegriff legte ein moralisches Prinzip zu Grunde: die Gerechtigkeit. Hier war die Bürgergemeinschaft als strukturale Gesamtheit moralisch, aber nicht individualistisch gedacht. Das hochentwickelte römische Privatrecht löste die archaische Setzung von Recht als Moral und umgekehrt. Baumgarten behandelte die Thematik im Zweiten Teil, § 21, seines Weg des Menschen (S. 312ff)

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in deren Verlauf sich die Interessen der Individuen und sozialen Schichten durch Differenzierungsprozesse vermitteln würden. Evolution war gedacht als Stabilisierung eines Systems durch Bewegung von diffuser Gleichartigkeit des Ganzen zu spezifisch bestimmten und ungleichartigen Teilsystemen. Auch Baumgartens Begriff der Positivität des Rechts zeigte diese Verbindung von fortgehender Bewegung und Differenzierung.

3. Moral und Evolution des Rechts bei Baumgarten Baumgarten setzte für den Liberalismus den evolutionären Aspekt über die individualistische Herkunft des Rechtsbegriffs. Die Evolution ergab sich aus dem Erfordernis anhaltender Interessenvermittlung der Bewegungen kompakter Klassen und Verbände unter den Bedingungen der entfalteten industriellen Gesellschaft. Das ließ ihn das Erfordernis einer Moral des kooperativen Altruismus als Basis der Rechtsentwicklung betonen. Der Mensch solle nicht nur das Wohl des Nebenmenschen fördern, er wünsche sich das auch als seine irdische Bestätigung: „Die altruistische Moral drängt uns ins aktive Leben hinein. ... Die metaphysische Auffassung des werktätigen Altruismus muß annehmen, daß die Aufgabe der Menschheit ... auf die Verwirklichung eines höhern Zustands als des ursprünglich gegebenen gerichtet ist.“95 Dieser Tendenz diene das Recht. Es sei durch seine subjektiv gesetzte Positivität ein auf Perfektibilisierung angelegtes System. Es heißt dann geradezu, das Recht verändere und führe voran. Es fixiere eine Ordnung im Voranschreiten. Die Zweckmäßigkeit des Rechts, eines seiner Kriterien, erneuert sich nicht nur (technizistisch) aus sich selbst. Sie bedarf dafür des moralischen Impetus menschlicher Einsicht für Verantwortung. Die Soziologie der Moral – Baumgarten nannte sie explikative Morallehre gegenüber der normativen – zeige das Bestreben der Individuen, sich im Rahmen der Gemeinschaftsformen und auch der damit verbundenen Erwartungen zu bewegen. Er bezog sich dafür gern auf die Psychologie seiner Zeit, auf Wundts volitive Persönlichkeitsauffassung und auf die strukturalen Gesichtspunkte der Gestaltpsychologie. Die Psychologie stütze die Auffassung, dass das moralische Wollen auf eine rechtliche Lebensordnung hinführe. Moralität in der Doppelheit von realisierter Gewohnheit und Erwartung eines kooperativen sozialen Verhaltens beuge sich nicht nur freiwillig dem Recht. Sie strebe auch zu ihm hin in der Erwartung, von ihm gesichert zu werden. Darum setze sie die integrativen Leistungen von Rechtsordnungen durch deren Positivitätsgehalte frei. Moral befreie sich von der Last der Ungewissheiten ihrer Realisierung durch Delegation bestimmter Regelungen ans Recht. Im Kompromiss-Aspekt des Rechts führte Baumgarten ein Bewegungselement in den Strukturbegriff ein, der mit der Bestimmung des Rechts als positiver, gesetzter Ordnung gegeben ist. Er grenzte die Statik des Ordnungsgehalts des Rechts schon in der Epoche des kaiserlichen Deutschlands um seiner Kritik der etatistischen Verselbstständigung des Rechts willen ein. Der assoziierende Auftrag des normativen Charakters der Rechtsordnung trat dann gegenüber vertikalen

95 Recht, S. 66.

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Aspekten in den Mittelpunkt. Die kooperationspsychologische und solidarmoralische Rechtstheorie stellte wohl auch eine noch rudimentäre soziologische Auffassung der Rechtsform mit Blick auf den geschichtlichen Wandel dar. Die Moral sei als eine objektive Lebensordnung nicht direkt zu beeinflussen und erweise sich gegenüber dem Recht als ein ruhendes Gebilde. Baumgarten richtete seine Harmonisierung von Recht und Moral gegen die voluntaristischen Theorien des Rechts als einer autoritären und erzwingbaren Willenssetzung. Er formulierte die theoretische Alternative: „Das rechtliche Sollen beruht entweder auf Furcht vor Strafe oder gewaltsamer Erzwingung des Geforderten oder auf dem sittlichen Motiv.“96 Selbstverständlich lehnte Baumgarten auch die vereinfachende Kantsche Trennung von Moral und Recht mit der Trennung von Innen- und Außenbezirk des Verhaltens ab, die ihren Akzent auf der Übernahme des protestantischen Glaubensverständnisses als eines individuellen inneren Vorgangs zum Muster für die moralische Autonomie des Menschen gegenüber den Bedingungen des absolutistischen Ständerechts besessen hatte. Baumgartens parallelisierende Auffassung von Recht und Moral als einander ergänzender und wechselseitig unterstützender Motivationsbereiche setzte den Akzent auf die kooperative Einstellung des aktiven Menschen. In der langen Geschichte des Rechts dokumentiere sich die kooperative moralische Qualität des Menschen. Es ist deutlich kein individualistisches Aktivitätsverständnis mehr. Denn das Ziel einer kooperativen Moralität reicht über den je endlichen Zweck hinaus. Wie das altruistische Bewusstsein die Rechtsbefolgung nahe lege, ebenso erneuere und bestärke die Rechtsordnung immer wieder die innere Stimme in der Anerkennung des Gemeinwohls. Wechselseitige Entsprechung und Beförderung, darin lässt sich die pazifizierende Beziehung von Recht und Moral bei Baumgarten zusammenfassen. Nicht der Wille eines Gesetzgebers oder Führers müsse darum der Grund für die Befolgung der Rechtsordnung sein, das leiste, je länger desto mehr, die Vernunft des Gesetzes. Baumgarten sagte bereits 1920, über den autoritativen Willen des Rechts bestünden tiefe Kontroversen. Nicht der Wille dürfe im Vordergrund der Positivität des Rechts stehen, sondern „die in der Aufstellung eines einheitlichen Lebensplanes sich offenbarende individuelle Vernunft.“97

4. Metaphysische Verankerung des Rechts Die zehn Jahre nach der Wissenschaft des Rechts erschienene enzyklopädische Philosophie des Weg des Menschen (1933) hielt in einem eigenen Kapitel (§ 7) die allgemeine Parallelisierung von Moral und Recht bei, setzte aber einen stärkeren Akzent auf die 96 Recht I, S. 149. „Das rechtliche Sollen ist moralisches Sollen. ... wenn wir von einem rechtlichen Sollen reden, denken wir an die motivierende Kraft, welche die Gebote der Rechtsordnung um ihres Zusammenhangs mit der Moral willen für sich in Anspruch nehmen dürfen.“ (Ebd., S. 144) 97 Recht, S. 150. „Der Unterschied zwischen Moralordnung und Rechtsordnung beruht also nicht auf dem Gegensatz zwischen Vernunft und Wille, sondern darauf, daß die Vernunft der moralischen Ordnung eine andere ist als die der rechtlichen.“ (Recht, S. 146) Die Gebote der Moral bildeten ein objektives, unbewusst entstandenes Gefüge. Das Recht entstehe aus subjektiver, zweckgerichteter Setzung einer gesetzgebenden Körperschaft.

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progressive Rolle der Rechtsbildung. Sie erläuterte die spezifische anwendungsgerichtete Teleologie der juridischen Rationalität, die in Gesetzen, Verordnungen und Durchführungsbestimmungen niedergelegt werde. Das Recht soll nicht nur gültig sein. Das ist die Moral auch. Es soll eine geltende Lebensordnung sein. Naturwissenschaftliche oder historische Rationalität ist beschreibend, wie natürlich auch diejenige der Rechtswissenschaft als Disziplin für sich. Der praktische Zweck kann hinzutreten. Der Geltungsanspruch des Rechts verleiht ihm seine voranführende Bestimmung. „Nichts ist so wichtig für den wahren Fortschritt als die Fortbildung des Rechts, in der sich das Bewußtsein umfassender Gruppen auf die Fragen der richtigen Regelung des Gemeinschaftslebens konzentriert, und die vorläufigen Lösungen alsbald der Bewährungsprobe unterwirft.“ Nicht die Morallehren stellen eine aktive, verändernde Kraft dar. „Nur durch das Medium der positiven weltlichen Gesetzgebung kann man den sittlichen Habitus der einzelnen formen.“98 Hier kehrt eine klassische aufklärerische Leitidee wieder. Das Recht lenkt und erzieht die Individuen zur Beachtung der Anderen. Es ist ein realistisches und darum ein intellektualistisches Prinzip. Ein solcher Gedanke habe nur Sinn, wenn er mit einem umfassenden Ziel gedacht werde. Dieses Ziel lautet, „daß ein Volk, ja die Menschheit eine große Arbeitsgemeinschaft ist“. „Alle Menschen sind in den höchsten Zielen, die sich ein sittliches Verhalten stellen kann, solidarisch.“ Der Weg dahin könne aber nicht in der kurzen Spanne eines individuellen Daseins, sondern nur in der Universalgeschichte durchmessen werden. Baumgarten erkannte der Religion das Verdienst zu, die Probleme der Lebensführung der Einzelnen und der Lebensordnung im Ganzen als letzte Fragen über alle zeitbedingten alltagspraktischen Aufgaben und Wünsche hinaus aufgeworfen zu haben. Aber die Religion verkürze das Problem auf die Unmittelbarkeit individueller Hinwendung zum Absoluten und setze die weltimmanente Funktion des erziehenden Rechts zurück. Immerhin seien die letzten Fragen Gemeinschaftsaufgaben. So trete das Recht neben die Religion – nicht als deren Ersatz –, doch um an der höchsten Bestimmung der Menschheit mitzuwirken. Es bilde um und führe voran kraft seiner zwecktätigen Rationalität. Mit der modernen Industrie entstehe eine „ökumenische Arbeitsgemeinschaft“ und dieses Ziel werde „durch keinen Faktor des sozialen Lebens so sehr gefördert, wie durch die positive Ordnung, die den Namen Recht trägt.“99 Das Recht sei darum mehr, als es die verschiedenen Schulen der Gerechtigkeitsethik schon seit der Antike sagten. „Wenn nicht alles sinnlos sein soll“, stehe der historische Prozess unter der Bestimmung eines transzendenten Endzustands. Das Recht wird bei Baumgarten zum Vollstrecker der höchsten Bestimmung der Menschheit. Menschliche Kraft und Würde des Rechts können nicht stolzer gedacht werden. Der materiale Gehalt der Transzendenz ist nichts anderes als die Solidarität der in einer umgreifenden irdischen Arbeitsgemeinschaft vereinigten Menschheit.

98 Der Weg, S. 461f. „Immerhin sind die Menschen innerhalb gewisser Grenzen erziehbar, und die Gesetzgeber gehören zu ihren Erziehern. Durch die Gesetzgebung kann das sittliche Niveau eines Volkes gesenkt oder gehoben werden.“ (Ebd., S. 467) 99 Ebd., S. 451.

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Eine der bleibenden Differenzen zwischen Baumgartens Rechtsphilosophie und der seinerzeit fixierten marxistischen Auffassung bestand darin, dass die marxistische Theorie das Recht als Sanktionierung partieller und zwar antagonistisch gerichteter sozialer Interessen betonte, so dass dessen Bewegung primär als alternativ ausschlagender Vorgang gesehen wurde. Baumgarten erkannte das umstandslos an, sah aber mit den Resultaten seiner Schriften auch darüber hinaus. Er verstand die übergreifende integrationistische Funktion des Rechts und verstand darum auch deren Folge: die evolutionären Umbildungsvorgänge innerhalb einer rechtlich verfassten Lebensordnung als Zeichen der aktiven, öffnenden Leistung des Rechts. Baumgarten vertrat in der deutschen Jurisprudenz sehr früh eine inzwischen verbreitete Auffassung. Meine monographische Studie besitzt ihren Beweggrund auch darin, an Baumgartens moralphilosophisch geführter Rechtslehre deren Einheit von sozialliberaler und sozialistischer Orientierung zu zeigen, um dieses weit ausgreifende Werk deutscher Philosophie und Rechtsphilosophie – nun nach dem Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsversuchs an einem überlegenen sozialen Gegner, oder nach dessen Selbstauflösung, dessen Selbstzerstörung, welche Aspekte man immer hervorheben möchte –, in die wissenschaftliche Diskussion und die kulturelle Selbstfindung der Gegenwart einzuführen.

5. Verschiedenheit von Moral und Recht Als den nächstliegenden Unterschied könnte man die Ungewissheit wahrnehmen, ob durch eine Handlung das gemeinhin mit ihr verbundene moralische Gebot erfüllt werde oder nicht. In der Moral ist alles möglich. Im Recht nicht. Das Recht schafft zur Willensfreiheit einen Raum von Verlässlichkeit durch Rationalität. Im moralischen Bezug gibt es ein persönliches Forderungsrecht nicht. Es gibt tiefe Schuld, aber in ganz anderem Sinne als dem der Rechtsmacht einer Haftung und des Leistensollens. Baumgarten sagte darum mit den Scholastikern, die Moral sei, im Unterschied zum Recht, ab agente, also von einer jeweils wirkenden Ursache bestimmt. Die allgemeine Moralordnung sei eine gültige, nicht eine geltende Ordnung. Hemmungen, veranlasste Verkehrtheiten aller Art, alle Mächte der Finsternis im menschlichen Herzen verhinderten, dass die Menschen sich ihrer Bestimmung bewusst zeigten, für das höchste Glück Aller zu wirken. Mit regelmäßiger Befolgung der Morallehre sei nicht zu rechnen. Dagegen „der Gesetzgeber und der Rechtslehrer können von den rechtlich gebotenen Handlungen in ähnlicher Weise reden, wie die Astronomen von den Mond- und Sonnenfinsternissen.“100 Sie können das sogar in noch höherem Maße für die fixierten und von jedem Täter berechenbaren Stufungen der Folgen, wenn das Rechtsgebot verletzt wird. In der Moralordnung entsprechen dem nur mögliche Sanktionen: eine der moralischen Verfehlung oder auch nur Enttäuschung analoge Auslassung des üblichen Verhaltens als eine Antworthandlung. Stärker wird reagiert in den Graden der Geringschätzung. Die Eigenart der Moralität ist vielleicht am besten von deren Doppelbezug als Aktivität und Passivität her zu erfassen. Der Ausgang vom Pflichtgebot stellt sogleich ein 100 Recht I, S. 159.

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äußeres Moment voran, das aus den inneren Verhältnissen erst zu entwickeln wäre. Baumgarten fasst Moral als eine spezifisch motivierte Handlungsweise. Der moralische Gehalt einer Handlung, auch wenn diese soziologisch als Aktualisierung objektiver sozialer Ordnungsformen qualifiziert wird, liege darin, dass sie die Erwartung eines Anderen erfülle. Sie kann auch die Untunlichkeit der Erfüllung überzeugend verstehen lassen. Die Handlung kann in einem Gespräch, bereits in einer Geste bestehen. Das moralische Moment des Verhaltens bezieht sich auf eine – ausgesprochene oder stumme – Erwartung. Die Erwartung zu erfassen, darin besteht die moralische Ehre eines Menschen, sie zu verkennen oder zu versagen, nimmt diese Würde. Das Wesentliche besteht im Erfassen von etwas Unausgesprochenem. Es ist nur möglich durch denkendes Verstehen dessen, was man sieht oder erfährt. Die moralische Ebene der Person verläuft im emotional geführten Nachdenken. Eine reale Situation, im Weiteren ein reales zwischenmenschliches Verhältnis, wird zu einem ideellen Modell geformt. Dieser Formungsprozess eines Verhältnisses zum geistigen Gegenstand bildet das Gewissen der Person. In der Handlung nach diesem im Inneren geformten Bilde von der Erwartung eines Anderen liegt die Freiheit des Menschen im moralischen Sinne. Um das Referat der Auffassung Baumgartens fortzusetzen: Das Moralverhältnis zeichnet sich in seinem elementaren Bestand gegenüber dem Rechtsbezug gerade dadurch aus, dass es keine positive Verpflichtung enthält. Die Erwartung kann – unbemerkt oder willentlich – übersehen oder ignoriert werden. Dann setzt sich das Verhältnis auf schmalerer Bahn fort. Der Ausgang von Parallelen und Unterschieden fixer Moral- und Rechtspflichten verstellt alles. Das Außerordentliche der Freiheit im moralischen Sinne liegt darin, dass es zunächst gar keine moralische Pflicht gibt. Sie muss im Verhalten jedes Individuums erst geschaffen werden. Darum kann ein moralisches Versäumnis ein schwereres Vergehen sein als eine ordnungs- oder strafrechtliche Verfehlung. Die Üblichkeiten der Tradition erzeugen bei genauem Hinsehen nicht das genannte moralische Modell, wenn man will: nicht das Gewissen, sondern lassen lediglich die bereitliegenden konventionellen Formen von Handlungen aufnehmen. Auch lässt die Erwartung als stumme den Grad der Berücksichtigung frei. Es existiert nur, was wahrgenommen wird. Von diesen Elementarpunkten aus entwickelte Baumgarten die spezielleren Aspekte des Moralverhältnisses: Erwartung des Anderen erfassen, ein ideelles Bild meiner Beziehung darauf schaffen, Handeln nach diesem inneren Bild. In der weiteren Entwicklung des Grundverhältnisses treten natürlich die Bezüge auf Gewohnheiten, Pflichten, Reputation usf. hinzu. Das Rechtsverhältnis bezieht sich nicht auf eine Erwartung, sondern auf einen Vertrag mit positiven Verpflichtungen, den ich als Ehepartner, Geschäftspartner usf., de facto auch als Staatsbürger eingegangen bin. Den Vertrag einzuhalten, kann auch Sache meines Gewissens sein. Auf jeden Fall ist es Pflicht. Zwischen Recht und Moralität stehen Grenzbestimmungen, wie des Vertragsschlusses im guten Glauben oder der augenblicklichen Hilfeleistung gegen Fremde. Als nächste einfache Bestimmung des moralischen Verhältnisses gegenüber der Rechtsbeziehung ergibt sich: Moral wirkt im Unterschied zum Recht textlos. Sie beruft sich nicht aufs geschriebene und vorgeschriebene Wort. Sie bleibt nicht stumm. Doch sie benennt sich nicht selbst. Es wäre ihr schon abträglich wie äußeres Gebaren. Ihre Rede lenkt von sich selbst ab, während sie auf unvorgeschriebene, gern auf unvorher-

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gesehene Weise handelt. So tauschen Achtung und Dank sich in wegsehenden Zeichen aus. Nur auf diese bezieht sich die nachfolgende Rede, als stünden die materialen Zeichen für sich selbst. Der Unterschied zum Recht wird am deutlichsten darin sichtbar, dass Moral – darin guter Pädagogik verwandt – die Sanktionen am besten nur symbolisch zeigt, und sie auch nur vorübergehend im unmittelbaren Wechselverhältnis andauern lässt. Dennoch vermag gerade die moralische Missbilligung schneidenden Zwang auszuüben. Eindeutige juristische Sanktionen kann moralisches Fehlverhalten in den Grenzfällen seiner Verbindung mit Rechts-Akten erfahren, wenn etwa sog. sittenwidrige Verträge geschlossen werden. Die Ermessensspielräume behalten hier ihr Feld. Die Unsicherheit, ob das moralisch Gebotene erfüllt werde, und die Sanktion in den Variationen der Missbilligung bilden nur die äußeren Erscheinungsweisen, in denen sich Recht und Moral trennen. Über das Satzungshafte geht hinaus, dass die moralische Handlung als nicht-positive ungenau erfolgt. Sie tritt ein, aber es bleibt dem Genius des Herzens und dem Augenblick überlassen, wann und wie sie erfolgt. Das ist vielleicht doch mehr, was Baumgarten mit dem Wort sagte, als er sein Temperament auch einmal abmindernd sprechen lassen wollte, die Moral sei nur ab agente. Denn dies ist der Reiz unserer Freiheit, immer die Erwartung des Anderen und die Gelegenheit zu erspüren. Darum auch verfügt Moral über ein weites Spektrum der Realisierung. Sie wohnt jeweils bestimmten Beziehungen von Individuen und Situationen ein. Ihr Glanz haftet am besonderen Fall. Das Recht besitzt seinen Stolz in der Generalisierung des jeweils Vorfallenden. Die Besonderungen, in denen Strafen variieren, eine Kulanz bei Beschädigung eines Vertrages eintritt u. ä., stellen die Ausnahmen dar und betonen die generelle Regelhaftigkeit des Rechtsverhältnisses. Moralische Normen stellen ebenfalls allgemeine Regeln dar. Doch die Logik des Verhältnisses zwischen Allgemeinem und Besonderem variiert viel mehr, da das generelle Gebot nur tendenziell wirkt. Das wiederum ergibt sich aus der vielfach höheren Verschiedenheit von Handlungsereignissen. Die Individualität des empirisch vorfallenden Ereignisses verzweigt sich fort durch die Besonderheiten der zwischenmenschlichen Bezüge, innerhalb deren eine Handlung geschieht. Dazu tritt ein weiteres, für die Moral-Relation wesentliches Moment. Es ist von der religiösen Überformung der Moralthematik eingehend, zu Zeiten dramatisch, verhandelt worden. Die emotionale und intellektuelle Innenseite einer Handlung spielt für deren Bewertung eine unvergleichlich größere Rolle als sie etwa fürs Rechtsverhältnis mit den Verantwortungsgraden von Zurechnungsfähigkeit, Vorsatz, Fahrlässigkeit, der mittelbaren Täterschaft, akzessorischer Teilnahme usf. für ein eingetretenes Ereignis beachtet wird. Immerhin ist das Zustandekommen eines Rechtsgeschäfts auch an die rechtlich relevante und spezifische Absichtserklärung gebunden. Der bloße Anschein einer Willenserklärung schafft keine Verantwortlichkeit, ja nicht einmal das Erklärte kann schlechthin für gewollt angesehen werden. Die Motive einer Willenserklärung schließlich spielen für deren Rechtsbeständigkeit in der Regel keine Rolle.101 Der Wille im rechtlichen Sinne ist stets auf den besonderen und in seinen Bedingungen

101 Vgl. Recht I, §11, S. 184ff: Näheres vom Rechtsgeschäft: Wahrer Wille und Willenserklärung; das Rechtsverhältnis als Inhalt des Willens.

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genau zu definierenden Fall bezogen. Eine Generalerklärung, stets die Gesetze befolgen zu wollen, bliebe wegen ihrer Gegenstandslosigkeit abwegig. Staatliche Amtsträger sprechen sie in spezifischem Sinne aus. Gern erfolgt sie bei alltäglichen Geschäften gerade dann, wenn das Gegenteil ins Kalkül gezogen wird. Darum stellt sie eine Versicherung im moralischen Sinne dar. Ganz anders bei der moralischen Qualität einer Handlung, bzw. bei deren Unterlassung. Hier ist der wirkliche Wille und ist die innere Verbundenheit zu einer Handlung das Entscheidende. Es ist außerdem gegenüber der rechtlichen Erklärung ein weit hinausziehender Wille, der aus einer unendlichen Innenwelt kommt, und der, so sehr er das Handlungsresultat will, es der Einstellung nachordnet. Die christliche Morallehre hat die innere Einstellung zum zentralen Problem der moralischen Qualität der Person gemacht, so weitgehend, dass die gegenständliche Handlung zurücktreten konnte. Es war nicht eigentlich der disziplinierende, sondern der zwischenmenschlich kultivierende Zweck, dass bereits die ideelle Ausmalung einer sittenwidrigen Tat ebenso Sünde sein sollte wie deren Ausführung. Der Sündenbegriff fixierte das moralische Versäumnis als folgerichtiges Korrelat religiöser Heiligung der moralischen Normalität. Der Protestantismus hat die aus der frühchristlichen Gegnerschaft zu spätantiken Tendenzen der Bindung der Moral an den gegenständlichen Erfolg hervorgegangene Gesinnungsmoral gegen die katholische Praxis der gestuften Absolutionen wiederhergestellt. Der Vorwurf lautete, dass die streng personal gehaltene Moralität des Gläubigen im Grunde in die Nähe eines Rechtsverhältnisses, ja eines Rechtshandels im Sinne des Do ut des mit Gott gerückt würde. Das setzt bei der Ontologie objektiver Wertordnungen ein.102 Der Primat der reinen Innerlichkeit spontaner Freiheit war in der religiösen Ethik an eine generalisierende Begründung durch die Dogmatik der Glaubensregeln gebunden. Die Einfassung der Moral in diese spekulative Idealität bot zugleich die Grundlage der realen Universalisierung moralischer Normen gegenüber allen Menschen. Das Freiheitsproblem des moralischen Entschlusses ist mit dem inneren Modell der von der Erwartung eines Anderen oder einer Gruppe Anderer getragenen Handlungsintentionen verbunden. Dann folgen die weiteren Schritte einer theoretischen Genese der Moralität hin zu den situativ gebundenen und den individuellen Variationen moralischer Verhaltensweisen. Hier liegen die Unterschiede zur vergleichsweise präzisen Eindeutigkeit der Rechtsbeziehungen auf der Hand, bei der die positiv festgesetzte juristische Verpflichtung regiert. Baumgarten vertrat in den Arbeiten zu allen philosophischen und rechtsphilosophischen Themen die Theorie der Willensfreiheit. Sein frühes Strafrecht sagte, Verbrechen sei der willentliche Entschluss, einer anderen Person Leid zuzufügen (nicht primär zur Gesetzesverletzung). Das hatte ihn lange Zeit die soziologischen As-

102 Die katholische Ethik wird als Sittenlehre ausgeführt. Das Menschsein erfüllt sich im Dienst an den gestuften Ordnungen. Voran stehen die objektiven Werte des Guten. „Dem Charakter des Guten als personalen Eigenwertes muß seitens der Person eine ihm entsprechende Gesinnung antworten ... Im Guten als normativem Wertgehalt ist das menschliche Pflichtbewußtsein objektiv begründet.“ (T. Steinbüchel, Die philosophische Grundlegung der katholischen Sittenlehre, Düsseldorf 1951, 2. Halbbd., S. 87)

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pekte der v. Lisztschen Kriminalistik unterschätzen lassen.103 Er bestimmte die moralische Freiheit sehr genau mit dem Blick für zwei Handlungsebenen. Im alltäglichen Verhalten erweise sich die Wahlfreiheit als eingeschränkt. Man könne nicht schlechthin nicht danken, nicht Hilfe verweigern. Die verschiedenen sozialen Verbände, von den Kleingruppen bis zu nationalen Parteien und Interessenorganisationen, in denen eine Bevölkerung ihr Leben führt, regulieren ihre Wirkung und ihre Kontinuität über genaue Verhaltenskodices, die von den Individuen zu Gewohnheiten verinnerlicht werden. Die Freiheit besteht nicht in der Alternative zwischen Einordnung oder Verweigerung, sondern darin, ob die Veranlassung zur moralisch gebotenen Handlung erfasst wird, und wie sie unter den je konkreten Umständen ausgeführt wird. Es handelt sich um Variationen auf einer Skala von Qualitäten und letztlich bleiben das charakterliche Ingenium, etwas wahrzunehmen, die Willensbegabung zu einem Entschluss und die unvergleichbaren Ausgestaltungen der Handlung. Baumgarten sah außerdem ein Feld der Willens- und Handlungsfreiheit an ganz anderer Stelle: bei der Entscheidung für weitergreifende Erneuerungen gewohnter Umstände und Einrichtungen. Hier zeige die Freiheit ihre Glorie, eine Entscheidung zu sein, mit der sich ein Mensch bekenne und, im guten Falle, den Verlauf der Dinge wende. Segensreich oder verhängnisvoll werde solche Freiheit vollen Sinnes in der politischen Welt wirken. Im Verhältnis zum Recht sei sie oft der Ort des Konflikts zwischen beiden Sollenssphären. Nicht nur mit dem einen Entschluss, der ein Leben auszeichnen kann, gibt sich die Person zu erkennen. Die Konstanz des inneren Modells vom Verhältnis zum Anderen ist das, worauf es ankommt. Kein gutes Zeitalter, sagte Brecht, das Helden nötig hat.104 Moralität, nicht Rechtsbefolgung prägt das Bild des Menschen. Das geschieht bereits durch den je qualitativen Charakter moralischer Handlungen gegenüber der vorgegebenen Strecke der Rechtsnormen. Oft ist gesagt worden, rechtlich einwandfrei gehandelt zu haben, sei das Minimum des gut geführten Lebens. Bleibt es ohne moralische Energie persönlicher Bindungen und Überschüsse, so kann hier die Ironie des Lobes treffen: Ich brachte alles hinter mich, gottlob, recht tugendlich. Moralischer Impetus einer Handlung hält sich an die qualitative Seite der Person, mit der ein Charakter wirkt. Qualitativ meinte für Baumgarten im Sinne seiner eudämonistischen Ethik, dass die Moralität um der Freude willen gesucht werde, noch um so lebhafter empfunden bei altruistischen Handlungen. Tatsächlich werden Gesetze für Realisierungssicherheiten beobachtet, wie man sich bei einer Reise am besten an den Fahrplan hält. Die Rechtsbefolgung lässt sich als linearer Verlauf beschreiben. Sie steht im anonymen Bezug auf die Allheit der An103 Seine Vorbehalte zusammengefaßt in: Recht II, § 28. 104 Im KZ Dachau ließ das SS-Kommando im Jahr 1944, also nach Stalingrad, die Häftlinge zum Appell antreten und jeder Einzelne wurde gefragt, ob er bereit sei, für die Bewahrung des deutschen Volkes vorm Bolschewismus an der Ostfront gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Einer der Ersten, er war 1928 von der SPD zur KPD übergetreten, antwortete über den Platz aus seiner Reihe, nein, er sei nicht bereit, gegen dieses Volk zu kämpfen. Es blieb ihm ein Rätsel, warum er das überleben konnte. Nach einem einjährigen Kursus an der Berliner Parteihochschule der SED schrieben ihm seine Lehrer in die Abschlussbeurteilung, er neige zu versöhnlerischen Auffassungen aus edlen Beweggründen.

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deren im betreffenden Verhältnis als völlig Gleichen. Die Moralität von Handlungen schafft Verhältnisse der Nähe und bildet sie durch. Jeder Akt manifestiert ein Ereignis für sich. Moralisch motivierte Handlungen stehen auch in einem Äquivalenzverhältnis, wie es das Recht mit dem Do ut des kennt. Aber die personale Beziehung erneuert bei allen Wiederholungen die Aura des ersten Tages. Es ist ein Verhältnis von Geben und Nehmen, von Bitten und Gewähren, und nur der schwache Charakter dankt nicht. Die Paragraphen 10 und 11 der Wissenschaft vom Recht behandelten das Verhältnis von Recht und Moral, und der mit 36 Jahren noch immer junge, aufgeschlossene und weit ausholende Autor zeigte lebenskundige Zurückhaltung beim Moralurteil. Ganz anders das Recht, das mit der egoistischen Rücksichtslosigkeit der Menschen zu rechnen habe. Hier tue die Schärfe der Eindeutigkeit not. Fürs moralische Urteil klingt dem taktvollen Autor alles wie zu Rechtsbestimmungen Verschnürte zu laut, zu ausdrücklich, ja im Grunde anmaßend und autoritär. Das Recht dagegen ist positive Ordnung, weil es in Geltung steht und wenigstens in der Regel befolgt wird. Also dieses Postulat des sog. Rechtspositivismus sei anzuerkennen. Aber dessen weitergehender Wertrelativismus wird abgewiesen.105

6. Krise der sensualistischen Moralphilosophie Die formell parallelisierenden und unbefriedigenden Aufstellungen über das Verhältnis von Recht und Moral bei den meisten Autoren des frühen 20. Jh.s zur Rechtsphilosophie sind aus der Krise des Sensualismus zu verstehen. Leitend war immer noch die Kantsche Unterscheidung von moralischer Innen- und rechtlicher Außensphäre des Verhaltens geblieben. Baumgarten hatte das immer ausgeschlossen. Er sah darin die Vorherrschaft des Strukturgedankens über die intersubjektiven Handlungsintentionen realer Individuen. Er verstand den Innen-Außen-Kontrast am Verhalten richtig als ein statisches Muster. Kants Teilung war einer der Gründe für dessen metaphysische Logifizierung von Sittlichkeitssphären gewesen. Sie schirmte die Gewissensfreiheit gegen religiöse und absolutistische Ansprüche ab und postulierte eine Mechanik in sich laufender Gesetzlichkeit ohne Ansehen der Person.106 Kant wollte die Vermischung von emotionaler Moralisierung sozialer Bindungen und feudalem Verfassungsrecht überschreiten und den naturalistischen Utilitarismus als Leitmotiv in der Moralität des frühbürgerlichen Liberalismus zurücksetzen. Darum hatte er materiale (ethische, ästhetische, alltagspraktische) und formale (moralische, rechtliche) Bereiche geschieden. Der Sensualismus dachte induktiv und ging genetisch von den konkreten materialen Vorgängen zu methodischen Sonderungen voran. Baumgarten baute auf einer sensualistischen Moraltheorie 105 H. Hofmann charakterisiert den Positivismus: dass „moralische Aussagen darüber, wie das Recht sein sollte, sog. nonkognitive, also beliebige Ausdrücke von Gefühlen ... und folglich nicht rational begründ- und beweisbar“ seien. (H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, a. a. O., S. 5) 106 Vgl. ebd., S. 165ff (Kants Begriff der Autonomie des Menschen in der staatlichen Zwangsordnung); H. Klenner (Hg. u. Einl.), Immanuel Kant, Rechtslehre, Schriften zur Rechtsphilosophie, Berlin 1988.

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nicht nur sein Strafrecht, sondern seine ganze Rechtslehre auf. Er wurde zu einem Außenseiter in der deutschen Philosophie und Jurisprudenz der Jahrzehnte vor und nach dem Ersten Weltkrieg. In der deutschen Philosophie des 20. Jh.s geriet die sensualistische Ethik des Glücksstrebens, wie überhaupt der Sensualismus als methodischer Leitfaden einer systematischen Philosophie, in den Hintergrund. Das stellte einen markanten Unterschied der deutschsprachigen Philosophie zur angloamerikanischen und deren bewährtem Verfassungsliberalismus dar. Auch in der französischen Philosophie erhielt sich die ihr eingeborene sensualistische Tradition der Verbindung von ästhetischer und sozialer Anthropologie. In der deutschen Philosophie schmolz der Sensualismus zur fachwissenschaftlichen Methodik zusammen. Es entsprach den Verengungstendenzen der Philosophie zur Wissenschaftstheorie und hatte bereits um die Jahrhundertwende mit der Spezifizierung des Empirismus zum Empiriokritizismus und dem Monismus eingesetzt. Der außerordentliche Durchbruch der frühen Psychoanalyse zu einer kritischen Kulturphilosophie von der unbewussten Gefühlshaftigkeit her ward von der Philosophie erst spät in der Frankfurter Schule, dann aber mit entwickelter sozialphilosophischer Anwendung, aufgenommen. Blickt man auf die leitenden Tendenzen der deutschsprachigen Philosophie der Zeit, so zeigt sich wohl ein Abgehen vom Neukantianismus. Man fand es ungenügend, vor den realen Sphären des Erlebens und Handelns ein methodisches Gitter aufzurichten. Das Lebensgefühl war materialistisch geworden und sah doch zugleich die Gefährlichkeit des eingetretenen industriellen Zeitalters der materiellen Direktheit und der Offenlegung der sozialen Konflikte. Die deutsche Philosophie registrierte das auf doppelte Weise. Die Orientierungsprobleme unter der Voraussetzung einer erlebnishaften Wirklichkeit sollten durch den Rückstieg in eine existentiale Identität des Ich vor dessen auseinanderziehenden Realisierungen neu gebündelt werden. Die existenzialistischen Philosophien hielten das romantische Erbe der Gefühlshaftigkeit der Person fest, vermieden aber die sensualistische Öffnung, weil sie die Richtung sozialisierender Aktivität im Individualitätsbegriff als Gefährdung zurückstuften. In andere Richtung und als akzentuierte Gegentendenz dazu gingen die materialen Theorien des Primats von natürlichen, sozialen und geistigen Ordnungsstrukturen gegenüber den Intentionen der Subjekte aus. Husserls die Phänomene sondernde Methode sollte die Gebilde der Natur und des Handelns als stabile eidetische Seinsformen feststellen und dadurch Voraussetzungen für rationalen kulturellen Konsens schaffen. Die Phänomenologie hatte das Problem der empirisch-sinnlichen Realität des gesellschaftlich vernetzten Menschen noch am deutlichsten ausgesprochen. Husserl hatte in sorgfältigen Analysen die Verdrängung der konkreten Wahrnehmung (der sog. „Füllen“) durchs szientifische Fachdenken als eine grundsätzliche Verengung der Problematik eines rational gestaltungsfähigen kulturellen Selbstverständnisses dargestellt. Die Moralphilosophie der phänomenologischen Schule trat in A. Pfänders Psychologie der Gesinnung (1922/30) als eine spekulative Seelenlehre hervor. An sensualistische Aspekte der ursprünglichen Phänomenologie schloss später die philosophische Anthropologie Schelers und Plessners an.107

107 Jetzt die Schriftenreihe Philosophische Anthropologie, Berlin 2006 ff, Bd. 1-7. Der Begriff Anthropologie ist allerdings auch zu einer Klammer für ganz unterschiedliche Arbeitsrichtungen

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Die Wendung zu vorgeordneten Objektstrukturen wurde in der neuen Ontologie zu einer hochsystematischen realistischen Philosophie geführt. Nicolai Hartmanns Kategorialanalyse setzte Husserls Methode der Einklammerung und der eidetischen Sonderung fort. Die materialistischen Aspekte der allgemeinen Ontologie traten jedoch in der Ethik als einer strengen Wertlehre zurück. Eine Ausnahme stellte M. Schelers Anthropologie und dessen frühe materiale Ethik in dessen Wesen und Formen der Sympathie (1913, ²1926) dar. Die Problematik des sinnlich-konkreten Individuums war hier allerdings von allen Öffnungen zu sozialen und kulturellen Möglichkeiten des Eudämonismus ferngehalten. Überhaupt war die Verlegenheit gegenüber der Thematik des sinnlich-gegenständlichen Individuums mit den sozialtheoretischen Konsequenzen des Sensualismus verbunden. Die neuen ontologischen Wendungen zur vorgeordneten Objektstruktur boten und enthielten oft auch direkte Vorbehalte gegenüber der liberalen Rechtsphilosophie. Baumgarten suchte mit dem Sensualismus des handlungsorientierten Pragmatismus eine systematische philosophische Grundlegung des Liberalismus. Radbruch hatte seinen demokratischen Sozialismus mit der Wertlehre des südwestdeutschen Neukantianismus verbunden. Es bedeutete eigentlich eine eingeschränkte Begründungslinie, gestattete aber die Fixierung gesonderter Formen in einer relativistischen kulturellen Wertlehre.108 Die apriorische Einteilung von Persönlichkeitswerten, gegenständlichen sog. Werkwerten und Gemeinschaftswerten zielte auf eine erschöpfende systematische Gliederung. Sie ward mit einem zugleich vertretenen rechtsphilosophischen Relativismus verbunden, um eine ganzheitliche objektiv-idealistische Systematisierung zu vermeiden. Der logische Positivismus richtete sich auf sprachliche Bedeutungen, der Neukantianismus ging in seiner realistischen Würzburger Richtung (O. Külpe, A. Messer) auf die Psychologie zurück. Die letzten Ursachen für die Krise des Sensualismus liegen weitab von den philosophischen und juristischen Fachproblemen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s standen einander kompakte und hochorganisierte soziale Klassen der Industriegesellschaft in akuten Auseinandersetzungen um Vorherrschaft gegenüber. Das ließ Strukturgesichtspunkte – recht eigentlich als Ordnungslehren – in den Vordergrund treten. Der Sensualismus gehört einer kulturellen Erwartung der allmählichen Umbildung zu. Nach dem Absturz des Bismarckschen Kaiserreiches und der späten demokratischen Revolution im Gefolge einer militärischen Niederlage ging es um Entscheidungen und umbrechendes Machen, nicht um allmähliches Fortbilden.109 Die Krise des Sensualismus in der deutschen Philosophie stand zur Schwäche des Liberalismus in Bezug. Der Sensualismus war von der Sache her mit der Anerkennung lebendigen kooperativen Handelns freier Individuen verbunden. In Deutschland traten der Weimarer Demokratie sogleich autoritäre Ordnungsmuster entgegen. Dem entsprach eine ontologische, bald auszuweiten, etwa bei E. Tugendhat, Anthropologie als erste Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 2007, H. 1. 108 Radbruch unterschied Persönlichkeitswerte der Sittlichkeit, szientifische und ästhetische gegenständliche Werte und die Gemeinschaftswerte der Gerechtigkeit. (Rechtsphilosophie, 1914, a. a. O., S. 95; ders., Gesamtausgabe, Bd. 2, S. 101) 109 H. Klenner, Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert.

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darauf existentialontologische, Wendung zur vorgeordneten Seins- und Objektstruktur. Die verschiedenen Formen materialer Wendung der Philosophie trugen dazu bei, den westeuropäischen Sensualismus und in dessen individualrechtlicher Tendenz auch den Liberalismus herauszuhalten oder wenigstens so zu überformen, dass er die ihm immanenten verfassungsrepublikanischen Aspekte nicht entfalten würde. Deutlich zeigte sich das an der lebensphilosophischen Linie, die mit Hilfe romantischer Einsprüche eidetischganzheitliche Schemata gegen die sozialen Antagonismen im Gefolge der Industrialisierungsprozesse richtete. Der lebensphilosophische Begriff kultureller Prozesse denkt Zusammenbrüche geglaubter Überzeugungen als Schicksal des Scheiterns.110 Der Empirismus denkt durch Konflikte hindurch Kontinuität.111

7. Baumgartens empiristische Grundlegung der Rechtsphilosophie Baumgarten sah, dass die sensualistische materiale Moralphilosophie in einer entwickelten Industriegesellschaft das perspektivische evolutionäre Element, das der sensualistischen Gesellschaftslehre immer eigen gewesen war, in zweifacher Hinsicht neu fassen musste. Sie sollte ein Äquivalent des Kantschen Formalismus finden, der mit seinem Apriorismus logischer Geltungstypen (theoretisch, moralisch-praktisch, ästhetisch in den drei Kritiken) die Idealität durchgehender Sachgesetze der gesellschaftlichen Bewegung ausgesprochen hatte. Es kam darauf an, dass sie eine gewisse logische Hilflosigkeit gegenüber der zunehmenden sachhaften Komplexität der gesellschaftlichen Lebensprozesse überwand. Denn ihr theoretisches Arsenal stammte aus weit einfacheren Produktions- und Lebensformen der bürgerlichen Zivilisation. Die Fragestellung des Empirismus und Liberalismus nach den rechtskonstruktiven Begründungen des vorausgesetzten Freiheitswillens zweier selbstständiger Bürger fand sich überschritten. Diese Einsicht hatte Baumgarten auch in den zwanziger Jahren dazu geführt, den ursprünglichen elementaren Schuldbegriff seines Strafrechts zu erweitern. Der Übergang des sensualistischen Empirismus zum Formalismus des logischen Empirismus war, nach der soziologischen Seite betrachtet, ein Lösungsversuch dieser Problematik. Er trennte aber die theoretisch leichter zu verwertenden instrumentalistischen Aspekte des Empirismus von den sensualistischen ab und bot wenig Spielraum für die Begründung der Rechts110 J. Ebbinghaus hatte am Ende des Zweiten Weltkrieges die Zerstörung eines analytischen, empirischen Sachbewußtseins und der verbindenden kulturellen Funktion philosophischer und kulturwissenschaftlicher Rationalität prägnant im Rahmen einer Kritik der Lebensphilosophie zusammengefasst: J. Ebbinghaus, Über die gegenwärtige Lage der Geisteswissenschaften in Deutschland, in: H. Barth, W. Rüegg (Hg.), Natur und Geist, Festschrift Fritz Medicus, Erlenbach-Zürich 1946, S. 72-84. 111 „Wenn die Versuche der Menschen, ihre Ideale zu verwirklichen und die Gesellschaft zu reformieren, ohne sich selbst zu reformieren, mit Unglück geendet sind und sie, durch Leiden ernüchtert, sich von Neuem der strengen Disziplin unterworfen haben werden, die uns so weit gebracht hat, kann ein weiterer Fortschritt gemacht werden.“ (H. Spencer, Die Prinzipien der Ethik, Bd. II, Stuttgart 1895, S. 520)

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form. Baumgartens Empirismus war außerdem schon von seinem Anti-Apriorismus her immer auf materiale Begründungen gerichtet gewesen. So musste ein aktualer neuer Sensualismus zweitens materiale Tendenzen aufweisen, die eine soziale Gesamtheit der Bürger im Entstehen zeigten, über die allgemeine Konstruktion des klassischen Liberalismus hinaus. Um im 20. Jh. eine sensualistische Moralphilosophie mit einer für alle Rechtsgebiete durchzuhaltenden Rechtsphilosophie verbinden zu können, war es erforderlich, den individualistischen Sensualismus als eine spezifische und überwindbare Gedankenlinie abzusetzen. Baumgarten suchte, dem Sensualismus für die Sozialtheorie mit Hilfe der neueren Psychologie, insbesondere der Psychoanalyse und der Gestaltpsychologie, ein verbessertes methodisches Gerüst zu geben. Von der Psychologie übernahm Baumgarten James’ Begriff der „feelings of relations“. Keimzelle aller sozialen Strukturen sei eine Ich-Du-Beziehung zwischen Individuen. Denkt man an die kulturgeschichtliche genetische Auffassung seit der Mitte des 19. Jh.s von der ursprünglichen sippengenossenschaftlichen Einbindung der Individuen (Maurer, Morgan u. a.), so war das eine dem Kantianismus durchaus analoge methodische Annahme von hohem konstruktivem Anspruch. Außerdem entwickelte Baumgarten aus der psychoanalytischen Thematik des Unbewussten eine Theorie objektiver Determination, deren Tendenzen Kooperationsbeziehungen der Individuen und sozialen Schichten ausbilden würden. Damit verband er moralischen Antrieb und soziale Orientierung durchs Recht auf der Basis einer sich entfaltenden Geist-Einheit der Menschheit. Die utilitaristische Moralphilosophie vermochte nur unter zwei Voraussetzungen, ihr Ziel zu erreichen, nämlich das Hobbes-Theorem von zivilisierter Ordnung allein durch Macht zu überschreiten.112 Sie konnte auf die konstante Verbindungen erfordernde und herausbildende Marktstruktur des Wirtschaftshandelns setzen. Das war die sozialphilosophische Folgerung der englischen ökonomischen Theorie von Petty zu Smith und Ricardo gewesen. Der eigentliche philosophische Gedanke der Parallelisierung von stabiler ökonomischer und rechtlicher Struktur hatte weniger in der einfachen Fortsetzung des ökonomischen Interesses zu rechtlichen Sicherungen bestanden. Das hätte den Utilitarismus sehr vereinfacht und eigentlich zur anspruchsvollen sozialphilosophischen Theoriebildung ungeeignet werden lassen. Außerdem trüge die ökonomische Interessiertheit relativ fixer Strukturen das frühe Ende verlässlicher Bindung in sich, da es ja gerade unter privatwirtschaftlicher Voraussetzung ebenso sehr das Erlöschen von Beziehungen nach Erfolgssättigung und das Chaos des Wechsels zwischen Konkurrenten aus sich gebären würde. Das reelle und entwicklungsfähige Problem bestand in der innersubjektiven Komponente der erforderlichen Rationalität des zweckmäßigen Handelns. Damit war der Wille erst sozialtheoretisch diskussionsfähig zu machen, und also auch die in diesem Mixtum compositum gegebene Aktivität als soziabel zu behandeln. Denn 112 Hobbes bestritt – er war Gehilfe bei Übersetzungen des historisch beschlagenen Bacon gewesen und war selbst ein hervorragender Altphilologe seiner Zeit – natürlich nicht, dass gentilgenossenschaftliche Verbände stabile Ordnungsstrukturen besitzen können. Es waren für ihn nicht nur waldursprüngliche Gesellschaften, sie standen vor allem außerhalb des eigentlichen Problems: Sie besaßen nicht die individualistisch diversifizierten Moral- und Rechtsansprüche des 17. Jh.s.

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das rationale Element der Handlungsteleologie trägt generalisierungsfähige Elemente in sich selbst. Es stellt für sich bereits die Überschreitung des individuellen Horizonts dar, einfach durch Reflexion von Folgekomponenten einer Handlung. Baumgarten teilte die Parallelisierung der Regelungskonstanz von privatwirtschaftlichen Tauschakten und Rechtsordnung nicht. Es war für ihn Ausdruck des „Materialismus“ der Weltanschauung, der sich im 19. Jh. ausgebreitet habe. Auch ohne diese Ideologie des neuen Idealismus, die er noch Anfang der zwanziger Jahre teilte, hatte er Recht. Denn die Rechtsform ist Ausdruck viel weiter greifender Integrationserfordernisse der Gesellschaften auf dem je gegebenen Stand von deren Entfaltung. Darum schied für Baumgarten diese erste Begründungslinie materialer utilitaristischer Rechtsphilosophie aus.113 Das schloss ein, den Vertragsgedanken als Basis der Rechtsregelung zurückzustellen. Er kommt hinzu, aber die Tiefen der Gleichgewichts- und Beständigkeitserwartungen als Unterpfand von Rechtsbildungen werden davon nicht erhellt. Man sieht, welch weiten Abstand Baumgartens sensualistische Rechtsbegründung immer der Tendenz nach vom bourgeois-konformen Denkstil eingehalten hatte. Die andere sensualistische Begründungsmöglichkeit konstanter Sozialregelung durch die Rechtsform bestand und besteht in der altruistischen Interpretation des Eudämonismus. Diesen Weg beschritt Baumgarten. Die Lebensverrichtungen finden sich von vornherein mit positiven Erwartungen verbunden, die sich nur aus emotionalen Näheverhältnissen speisen können, und darum Wiederkehr des Gleichen in variierenden Geschehnissen und die Konstanz von Erwartungssicherheit wünschen. In der nichtnaturalistischen Auffassung des Altruismus, sondern eben verbunden mit rationaler Handlungsteleologie, verliert er auch die abstrakte Gegenüberstellung zu individualistischen Veranlagungen und Motivationen. In diesem Zusammenhang befindet sich Baumgartens ausdrückliche Verbindung von Moral und Recht, die eigentlich weder damals noch jetzt wirklich geteilt wird. Sie ist im ersten Teil des Kapitels dargestellt worden. Im Laufe der zwanziger Jahre sah Baumgarten das Erfordernis, seine altruistisch-eudämonistische Begründung der Rechtsphilosophie zu präzisieren. Sein Denken bis zum Übergang zu sozialistischen Konsequenzen der bei ihm immer philosophisch gestützten – oft sogar zum Nachteil analytischer Präzision philosophisch überlagerten – sozialliberalen Rechtswissenschaft ist davon bestimmt, dieses Erfordernis immer gründlicher durchzubilden. Ansatzpunkte dafür fand er in zeitgeschichtlicher Hinsicht. Immer optimistisch gehalten, sah er den Selbstbezug im utilitaristischen Handeln zurückgesetzt, indem er ihn mit der im 20. Jh. zu Ende gehenden Periode des Manchesterkapitalismus in Verbindung brachte. Die sozialrechtlichen Maßnahmen der Weimarer Republik sah Baumgarten am Beginn der dreißiger Jahre als Schritte auf dem Weg zu einer sozialen – nicht sozialistischen – Republik. Darunter fielen die Art. 151 und 165 der Reichsverfassung, die auf eine sozialrechtliche Parität von Kapital und Arbeiterschaft zielten, ebenso die Gründung einer „Zentralarbeitsgemeinschaftsvereinbarung“ von Kapital und Gewerkschaften vom November 1918. Ebenso zählte Baumgarten darunter die Anerkennung der

113 Zum Problem materialreich und mit hohem diskursivem Anspruch: W. Gephart, Recht als Kultur. Zur kultursoziologischen Analyse des Rechts, Frankfurt/M. 2006.

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Berufsverbände (Art. 159, 165), die erst die Ausbreitung von Tarifverträgen ermöglichte, den während der ganzen Weimarer Republik fortdauernden Kampf um die Arbeitszeitverordnungen zum gesetzlichen Achtstundentag, die Gesetze über die Sozialfürsorge, den sozialen Wohnungsbau und vieles andere. Das Arbeitsrecht stand zwischen privatem und öffentlichem Recht. Dem privatrechtlichen Arbeitsvertragsrecht standen das öffentlich-rechtliche Arbeiterschutzrecht, die Sozialversicherung, auch das Betriebsrätegesetz von 1920 gegenüber. Zwischen beidem befanden sich das Streikrecht und die Tarifvertragsverordnung von 1918. 1926 wurde mit dem Arbeitsgerichtsgesetz eine eigenständige Gerichtsbarkeit in Arbeitssachen begründet. H. Sinzheimers Grundzüge des Arbeitsrechts war bereits 1921 erschienen. Baumgarten hatte seine evolutionäre Rechtsauffassung zunehmend mit Problemen des Übergangs nicht nur des Arbeitsrechts, sondern des Wirtschaftsrechts generell von privatrechtlichen zu öffentlichrechtlichen Themen verbunden. Man muss auch sehen, dass Baumgarten sein Verständnis des Sozialismus nicht aus dem ursprünglichen proletarischen und auch Marxschen Ansatz gewann, sondern zum einen aus der immanenten Konsequenz seiner altruistischen Begründung der Rechtsevolution und dazu natürlich aus der Erfahrung der katastrophischen Verwerfungen der Zivilisation infolge der militärischen Großmachtpolitik der Industriestaaten im 20. Jh. Darüber hinaus fand Baumgarten schon bei den schottischen aufklärerischen Moralphilosophen und dann wieder bei W. James die metaphysische Überbauung der Theorie der Emotionalität vorgebildet. Er brachte der sensualistischen Anthropologie mit der perspektivischen Funktion der Metaphysik des sich ausprägenden, sozial verbindenden Menschengeistes ein Element zu, das eine formale Einheitsfunktion übernehmen sollte. Baumgarten stützte einen solchen, wenn man sagen möchte: sensualistischen Formalismus durch die Psychologie des zielhaft wirkenden Unbewussten ab. Das waren philosophische Überbauungen seines sich sozialrechtlich entwickelnden Sensualismus. Der spezifisch Jamessche Pragmatismus, der nicht die analytische Präzision der semiotischen Metaphysik von Peirce erreichte, ist aus der philosophischen Problemlage der damaligen Zeit zu verstehen. James folgte dem evolutionären Determinismus des Positivismus mit dessen Gedanken des Aufstiegs zu höheren Zivilisationsstadien durch den Wechsel von Ungleichgewichts- und Gleichgewichtszuständen bereits nicht mehr. Man könnte sagen, dieser neue pragmatistische Empirismus habe bereits Jahre vorm Einschnitt der europäischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs gespürt, dass der alte deterministische Evolutionismus der vorangegangenen Generation der Empiristen nicht mehr realitätsgerecht sei. James, selbst empirisch arbeitender Psychologe, gewann durch die Verbindung seines neuen Empirismus mit der Psychologie eine impressionistisch offenere Persönlichkeitsauffassung und mit dieser unmittelbar lebenspraktisch gerichtete Handlungs- und Freiheitskonzepte. Das bezog sich bei James nicht nur auf die individuelle Potenz, sondern durchaus auch auf den sozialen Horizont. Um die Jahrhundertwende bedeutete es soziale Präzisierungen der Gerechtigkeitsansprüche, bei James auch einen moralisch-antiimperialen Pazifismus, der den frühen europäischen Liberalismus aktualisierte, den B. Constant am Beginn des 19. Jh.s vertreten hatte. In die Veränderung der empiristischen Methodenlehre Baumgartens flossen seine ursprünglichen historischen und sozialpsychologischen Auffassungen ein. Historisch

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insofern, da das Recht einer Epoche nicht gedacht werden dürfe, als sei es nach einer höchsten Rechtsidee errichtet. Es sei erfüllt vom Widerstreit verschiedenartiger Kräfte und könne unmöglich von einer fixen sittlichen Idee gemeistert werden. Das ergab seine Idealismus-Kritik. Sozialpsychologisch gerichtet ist die Methodenlehre hinsichtlich der materialen Genese des spezifischen Geltungscharakters des Rechts. Als „geltende Lebensordnung“ beruhe das Recht auf den verschiedenartigsten sozialpsychologischen Momenten (Nachahmungstrieb, Handlungsgewohnheit, altruistischer Glücks-, d. i. auch Erfolgserwartung usw.). Weiterhin nennt Baumgarten ein „assoziatives Zwangsgefühl“.114 Wir fühlen uns gehalten, den Anderen durch bestimmte verlässliche Verhaltensweisen zu respektieren und erwarten das Gleiche von Jenem. Baumgarten konstruierte mit den Mitteln der zeitgenössischen Psychologie. Die Rechtsphilosophie soll beim Diminuendo des weit vor der Rechtssatzung liegenden und unmittelbar praktischen Ordnungsbedürfnisses und Ordnungsverständnisses ansetzen. Wo Menschen zusammenleben, bilden sie in den wechselnden Situationen gleichbleibende, aber unbewusste Ordnungsregeln aus. Ohne das wäre schon der Begriff des Wechsels irreal. Baumgarten lässt das Recht aus einem gefühlsmäßigen und assoziativen Nachahmungs- und Ausgleichsverhalten hervorgehen. Also nicht ein Führungs- und Gefolgschaftserfordernis, schon gar nicht ein staatliches Zwangsgebot, sondern ein Ordnungsbedürfnis und mit ihm ein Entlastungsgewinn bilden den Ausgangspunkt der Rechtsmethodik. So kann Baumgarten geradezu von „den Wurzeln“ sprechen, „die das Recht in den Tiefen unseres Innern hat.“115 Dadurch besitze das Recht primär eine konstruktive, gesellschaftliche Kooperation organisierende Funktion.116 Baumgarten entfaltete aus der skizzierten Keimzelle eines moralischen „Zwangs“ der Nachahmung und der Kooperation tatsächlich alle Hauptteile der allgemeinen Rechtslehre. Seiner Rechtsphilosophie liegt ein Angleichungs- und Sympathiegefühl zu Grunde. Das ist nicht nur ein deutlicher Gegensatz zur sog. bewußtseinsphilosophischen Immanenz des Rechtssubjekts bei Kant, sondern ebenso zur diskurstheoretischen und gleichsam gesprächstherapeutischen Transformation des Kantianismus. Die republikanische verfassungsrechtliche Intention des gegenwärtigen, sprachanalytisch rekonstruierten Kantianismus, etwa in Apels Transzendentalpragmatik, kann gar nicht in Zweifel gezogen werden. Sie konzentriert sich darauf, den normativen Gehalt des Rechts vom Prinzip der zu stärkenden individuellen Mündigkeit in diskursiven Prozessen her durchsichtiger und gestaltbarer zu machen. Die diskurstheoretische Aufschlüsselung von Kants Fundierung der gleichen Bürgerrechte in einer ursprünglichen Vernunftautonomie des Subjekts geht in der materialen soziologischen Auffassung der Rechtsform und deren Genese nicht weiter zurück als bis zur schließlichen lebenspraktischen Einsicht in das Erfordernis des Diskurses.117 Baumgartens materiale Rechtstheorie gewann mit der erweiterten sensualistischen Rechtsbegründung in sich konsequente, nicht-kantische Kontur 114 Recht I, S. 4f. 115 Methodenlehre, S. 183. 116 Vgl. zum ganzen Zusammenhang: Kurt Seelmann, Rechtsphilosophie, München 1994, S. 40ff (Normative und soziologische Rechtstheorien. Der Kelsen-Ehrlich-Streit). 117 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 133f.

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und verdiente sicher neue Aufmerksamkeit. Es würde sich dann zeigen, dass der sensualistische Pragmatismus hier antibürokratischen Gehalt trägt und den vielfältigen kritischen Tendenzen in der heutigen Industriegesellschaft entspricht, die qualitativen Aspekte verantwortungsvollen Zusammenlebens von Geschlechtern, von Generationen, von unterschiedlichen kulturellen Traditionen gegenüber dem anonymen Mechanismus der marktgesteuerten Systeme zu definieren und zu stärken. Baumgartens Rechtsphilosophie trug bereits vor der sozialistischen Entscheidung reformierenden Charakter und zielte auf eine in vielem andere Gesellschaft als es die noch gegenwärtige ist. An ihr bewährt sich der Rang des Empirismus als einer systematisierenden philosophischen Methode. Baumgarten ließ die Vergesellschaftung von einem kooperativen Nachahmungszwang her entstehen. Er ergibt sich aus einer elementaren sozial-psychischen Affinität und aus den sich ausgestaltenden unterschiedenen Formen des Zusammenwirkens. Der Zwang im Staatsverbande, durchaus und selbstverständlich akzeptiert, gewinnt dann eigenen Charakter. Er ist nicht primär die erforderliche Nötigung gegen die Gefährlichkeit des Einzelnen, wenn er nur frei seinen Antrieben überlassen sei, so dass er gebändigt werden müsse. Die staatliche Organisation ist mehr ein technisch-organisatorisches Erfordernis für die gleichzeitige Bewegung großer Massen in integrierende Richtungen. Nicht ein ursprünglicher Egoismus mit seinen Folgen für die Schädigung der Mitmenschen erfordert den Staat als Institution mit der Macht zum Zwange. Baumgarten ging von den Sympathiegefühlen aller auf Wohlbefinden gerichteten Individuen aus. Der staatliche Zwang ist dann kein substanzieller, sondern nur ein mitgehender Gehalt des Staates. Dessen Qualität als Ordnung von Institutionen wird deutlich herabgestuft. Fast möchte man sagen, die Reglementierungen bildeten eine Äußerlichkeit gegenüber der wirtschaftlich und kulturell organisatorischen Berufung des Staates, so dass auf dessen Beitrag zur Entfaltung der Gesellschaft und eigene Vervollkommnung das ganze Licht fällt. Wenn ein Nachahmungszwang schon die moralische Grundbefindlichkeit des sich vergesellschaftenden Menschen bildet, warum sollte dann ein großes Zwangsprogramm des Staates und des Rechts überhaupt konstruiert werden? Baumgartens Denken bietet mit dieser elementaren philosophischen Achse Anregungen für die zur Lösung der Probleme des öffentlichen Rechts erforderlichen neuen sozialrechtlichen Ansätze.

8. Recht und Gerechtigkeit. Privatrecht, öffentliches Recht und „das Wirtschaftsrecht der Zukunft“ Baumgarten sah die zivilisatorische Mission des Rechts darin anheben, „daß in den Gesetzen über Zeiten und Raum hin jedem gesunden Gefühl die Mindesterfordernisse gegenseitiger Rücksichtnahme erscheinen“. Damit setze die Gerechtigkeit des Rechts ein: Der Einzelne ist schon der Natur der Sache nach gehalten, bei einer Forderung an den Anderen sich die Vertauschung der Position vorzustellen. Das Recht trage in sich diese Äquivalenztendenz.118 Insbesondere das römische Privatrecht habe mit seiner be118 Der Weg, S. 313.

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griffstechnischen Durchbildung und seinen Regeln über Austausch und Ausgleich ausgebildet, was „dem normalen menschlichen Rechtsempfinden als gerecht erscheine“. Auf der dem Recht einwohnenden Tendenz zur Rücksichtnahme baute Baumgarten die weitergreifende Tendenz jeder Rechtsregel auf. Die Geschichte des Rechts widerlege die Individualpsychologie, die den Menschen vorwiegend als Egoisten fasse. Sie zeige, dass das Recht die kooperativen Grundtendenzen des menschlichen Daseins konzentriere. Das Recht festige wohl auch die sozialen und politischen Hierarchien, seine wesentliche Leistung aber bestehe darin, die Mitglieder der verschiedenen Klassen und Gruppen zu den Formen des Zusammenwirkens aufeinander hinzuordnen. Baumgarten unterschied die legale und die moralische Gerechtigkeit. Die legale Gerechtigkeit des Suum cuique tribuere sah er eben „in jener gemeinschaftlichen Kulturarbeit, ohne die die Existenz des Menschen auf Erden keinen verständlichen Sinn hätte“. Sie sei eine historische Größe, anfangs fast „ein sozialer Instinkt, der die Individuen befähigt, gesellschaftliche Gebilde hervorzubringen“.119 Die rechtsethische Basis aller Legalität zeige sich in der höchsten Synthesis aller Rechtssätze, in der Leitidee der Gerechtigkeit. Hier finden sich Moral und Recht noch verbunden, und die Differenz von Recht und Gerechtigkeit wird man nicht nur als Rechtsmangel, sondern auch als moralische Fragwürdigkeit ansehen. Weder im juristischen noch im moralischen Sinn lasse sich ein absoluter Begriff der Gerechtigkeit finden. Solle es nun das Recht auf gleiche Befriedigung der materiellen Bedürfnisse sein, solle es die Güterverteilung nach dem Verdienst sein? Die Gerechtigkeit als die Ratio scripta könne auf einer ersten Ebene nur die richtige Auslegung des geltenden Rechts sein. Das seien die wechselseitigen Verpflichtungen der Individuen und Gruppen, die sich aus der bindenden Kraft der Verträge, aus der Bewältigung von Delikten, aus ungerechtfertigten Bereicherungen u. a. m. ergäben. Es könne sich also nur um eine den menschlichen Maßen immanente Gerechtigkeit handeln. Sie gehe mit den Wandlungen mit, die das Recht als organisierende Kraft der gesellschaftlichen Zusammenarbeit erfahre. Wolle man die legale Gerechtigkeit auf einer zweiten Ebene in der historischen Tendenz bestimmen, so könne das nur heißen, „daß die Menschen, unter möglichster Beschränkung ihres Egoismus und möglichster gegenseitiger Respektierung ihrer schöpferischen Freiheit, jedem nach Maßgabe seiner Fähigkeiten an einer Gemeinschaftsarbeit teilnehmen lassen, deren letztes Ziel für alle eines ist.“120 Der moralische Sinn von Gerechtigkeit bezeichne nur ein solches Postulat realisierten Altruismus. Baumgarten stützte es mit seiner Metaphysik des gemeinsamen Geistes, dem die Einzelwesen sich in langem Prozess aufschlössen. Also entstehe die Frage, wie sich legale und moralische Gerechtigkeit aufeinander zu bewegen könnten. Das führe auf die Fragen des öffentlichen Rechts, des pluralistischen Staates und eines Wirtschaftsrechts der Zukunft. Der Staat stelle als die bewusste gemeinnützige Organisation des Gesellschaftslebens die höchste Form des Rechts dar. Baumgarten setzte das Moment der Gewaltanwendung zurück. „Weil der Staat von Haus aus sozial gesinnt

119 Ebd., S. 435. 120 Ebd., S. 441.

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ist“, werde man ihn allmählich zu „einem bescheidenen Organ der Rechtsgemeinschaft“ machen können. Aus rechtstechnischen Gründen würden Staat und Behörden als juristische Personen konstruiert werden. Der wesentliche Akzent sitze aber darauf, dass das Rechtssubjekt Rechtsgemeinschaft der Gegenspieler zum Rechtssubjekt Individuum sei. Baumgarten verteidigte gegen autoritäre und gegen naturrechtliche Auffassungen den Liberalismus der Positivität, geradezu den subjektiven Charakter der obersten Rechtsprinzipien. Alles andere „erweckt die Illusion, daß wir unmittelbar von der objektiven Wahrheit regiert würden. ... Und sind wir einmal so weit, dann ist es geschehen um die Freiheit des Individuums“.121 Soll nun der Staat die egoistischen Sonderinteressen von Gruppen und Individuen untereinander vermitteln und ausgleichen – mehr ist nach Baumgartens Gerechtigkeitsbegriff gar nicht möglich –, so müsse dessen pluralistischer Charakter entwickelt werden. Hier folgt nun der schwerwiegende Satz: „Nun kann eine Diktatur vorübergehend in Zeiten schwerer Erschütterung ... Dienste leisten, aber ihre Umwandlung in eine dauernde Staatsform mit Vernunftgründen rechtfertigen wollen, wäre ein vergebliches Unternehmen. Auf wen wollte sie sich stützen, wenn nicht auf Garden primitiver gewalttätiger Menschen ...“122 So stelle sich das Problem der Gerechtigkeit praktisch als die Aufgabe dar, das öffentliche Recht zu entwickeln. Wirtschaftsrecht und Arbeitsrecht stünden bereits zwischen privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Bestimmungen. Innerhalb der Privatrechtsgeschichte mache sich der Einfluss des Gemeininteresses in steigendem Maße bemerkbar. Das Privatrecht wandle sich in eine Mischform von öffentlichem und privatem Recht um. Eingehend diskutierte Baumgarten Sinzheimers Arbeitsrecht. Tatsächlich sei das Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht nur ein freies Verhältnis zwischen gleichstehenden Rechtssubjekten, sondern mit den Verfügungen über den Arbeitsplatz zugleich ein Gewaltverhältnis. Die liberale Bewegung sei nun an dem Punkt angelangt, dass sie die juridische Gleichheit vor den Gesetzen durch Stärkung des öffentlich-rechtlichen Charakters der Wirtschafts- und Arbeitsgesetzgebung untermauern müsse. Baumgarten sah im Sinne der sozialdemokratischen Programmatik das Betriebsrätegesetz, die Tarifverträge, ein neues Mietrecht als solche Schritte. Indem nun Elemente des öffentlichen Rechts in Rechtsinstitute eindrängen, die bislang rein privatrechtlichen Charakter getragen hätten, trete schließlich das Wirtschaftsrecht als solches auf die Tagesordnung. Diese Punkte der von Baumgarten als „Rechtsprogramm“ bezeichneten empiristischen Rechtsphilosophie, denn darum handelt es sich eigentlich, zeigen doch, wie sehr er Leitlinien der bundesdeutschen Rechtswissenschaft nach 1945 vorweggenommen hatte. Wie Baumgarten die Engelssche These ablehnte, der Ursprung des Staates liege primär im Bedürfnis, eine Klassenherrschaft von dem Stadium an zu stabilisieren, in dem der soziale Gegensatz die Gesellschaft zerreißen würde,123 ebenso wenig folgte er 121 Ebd., S. 514f. 122 Ebd., S. 521. 123 F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (1884). Kautsky hatte Engels in seiner Materialistischen Geschichtsauffassung (2 Bde., 1927) in einem Sinne korrigiert, der ganz Baumgartens These vom eine Gesellschaft organisierenden Charakter des Staates

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dem einfachen Sozialismus-Schema der Verstaatlichung der Großindustrie. „Ob es möglich ist, auf der Grundlage des Gemeineigentums eine allumfassende Planwirtschaft aufzubauen, das mag freilich fraglich sein.“124 Ein eigener Organismus, wie die Wirtschaft, sei nicht einfach als ein Teil der öffentlichen Verwaltung zu behandeln. Auf jeden Fall könne die Gemeinwirtschaft nur ein Projekt der Weltwirtschaft sein. Eine durchgreifende Reform der Wirtschaft unter autarken Einzelstaaten sei nicht denkbar. Darum sei die Sozialisierung zum guten Teil ein Problem des auszubildenden Völkerrechts. In der russischen Revolution äußere sich wohl die große Idee eines neuen sozialen Eudämonismus, wenn Baumgarten 1933 auch deren „materielle Inspiration“ mit der Folge eines diktatorischen Staates noch ablehnte.125 Baumgarten hatte alle solche Bedenken dann in den vierziger Jahren zurückgestellt. Sein immer experimentell offenes Denken, sein Zutrauen zu mit den humanen Erwartungen des Volkes verbundenen, entschlossenen Menschen, schließlich seine Affinität zur kühnen Geistesart der europäischen Aufklärer, ließen ihn auf das marxistische Planwirtschaftskonzept einschwenken. Man erkennt vieles von dieser Entschlossenheit, mit der ganzen Schwäche des sozialstaatlichen Beginnens der Weimarer Republik und deren Sozialliberalismus Schluss zu machen, am Bericht über die ersten Leipziger Vorlesungen an das Baseler Erziehungsdepartement (s. den Text im Anhang). Die sozialistische Entscheidung für Planwirtschaft besaß bei ihm auch zwei Merkpunkte, die nicht die sich dann durchsetzende Simplifizierung der Sache unterstützten. Baumgarten richtete seinen Akzent aufs Erfordernis der Überführung des großen Industrie- und Bankkapitals in Gemeineigentum. Wie das nach Vollzug ohne oder mit Kauf ausgestaltet würde, war die zweite Frage. Der andere Punkt: Gemeineigentum bedeutet nicht per se Einparteienherrschaft. Als Baumgarten in die ostdeutsche Besatzungszone kam, auch in den Anfangsjahren der DDR, war das noch nicht vollzogen. Inzwischen haben Baumgartens Bedenken neue Bestätigung erhalten. Sie zeigen den Realismus seines Denkens nicht nur vor seinem Übergang zum vergangenen sozialistischen Gesellschaftsversuch, sondern auch über diesen hinaus. Baumgarten sah auf das ganze Sozialisierungsproblem nicht vom Aspekt ungleicher materieller Versorgung aus. Für die industrialisierten Gesellschaften gehe es wohl auch um die ausgewogene Wohlfahrt aller sozialen Gruppen. Doch Baumgartens zentrale Fragestellung war, recht seinem Moralismus entsprechend, auf die effektive Organisaentsprach. (Vgl. Kautsky, Die materialistische Geschichtsauffassung, Berlin 1927, Bd. 2, S. 6174: Die Engelssche Hypothese und deren Kritik) Engels war von Morgans Forschungen über die Gentilordnung ausgegangen und hatte die Entstehung des Staates aus der Erosion einer angenommenen Gleichheit der Mitglieder der Gens infolge der Erblichkeit gesellschaftlicher Funktionen, dem Aufkommen von Reichtumsverschiedenheiten und der Entstehung von Klassen erklärt. 124 „... fordern, daß der Staat das ganze Gesellschaftsleben planmäßig bis aufs letzte organisiere, das übersteigt bei weitem die Grenzen, die der bewußten Organisationsfähigkeit des Menschen gesetzt sind.“ (Der Weg, S. 529) 125 „Das ‚Experiment des Bolschewismus‘ ist, welches auch immer sein vorläufiger Ausgang sein mag, ein weltgeschichtliches epochemachendes Ereignis. Die russische Revolution ist das Seitenstück zur französischen Revolution, die sie nach der wirtschaftlichen Seite ergänzt.“ (Ebd., S. 566)

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tion der Wirtschaft und auf die Zurückdrängung irrealer Produktionsziele gerichtet. „Der Hauptmangel unserer heutigen Privatwirtschaft ist dieser: es hat sich in ihr von ihren anarchischen Anfängen her ein System der Schaffung künstlicher Bedürfnisse zum Nutzen gewinnsüchtiger Produzenten eingenistet, das mit dem Ergebnis geendet hat, daß die Menschheit nur sehr notdürftig mit dem versehen ist, was sie braucht, und eine Unmenge von Dingen hat, die sie nicht braucht.“126 Baumgarten ging natürlich über die populäre Luxuskritik hinaus, die immer Teil der plebejischen Tradition gewesen war. Er behandelte das Sozialisierungsproblem als das einer staatlichen Einflussnahme und Lenkung in Bezug auf die Wirtschaftsplanung im relativen, längere Zeit experimentierenden Sinne. Das Völkerrecht solle die Verminderung der erdrückenden Rüstungslasten herbeiführen. Die Ungleichheit des Lebensniveaus der verschiedenen Völker sei zu verringern. Insbesondere aber sei das expansive Gewinnstreben der Großindustrie zu überwinden. „Das moderne Recht sucht Mittel und Wege, die soziale Natur des Privatrechts unter Durchbrechung der engen, individualistisch konzipierten Schemata des frühern Rechts zu immer stärkerer Entfaltung zu bringen.“127 Baumgarten verstand das Sozialisierungsproblem vom generellen, vom sozial organisierenden Charakter des Rechts her. Diesen führte er zurück bis zu „den unbegrenzten Verständigungsmöglichkeiten, die durch den Zusammenhang aller Menschen im Unterbewußten geboten werden.“128 Das ließ ihn auf die Verantwortung des Staates sehen und die Tendenz zur Selbstverfügung einer Großindustrie einschränken, die inzwischen so große Folgen für die Menschheit erlangt habe. Im pluralistischen Staat müssten die Fäden für wesentliche Zielstellungen zusammenlaufen. „Die volle rechtliche Autonomie eines Teils des Gesellschaftsganzen, wie der Wirtschaft, ist mit diesem Postulat unvereinbar.“129 Deutlich ist zu erkennen, welch eigenen Weg Baumgarten bei seinem gemeinwirtschaftlichen „Wirtschaftsrecht der Zukunft“ einhielt. Daraus erklärt sich auch, dass die Begründung für dessen Erfordernis sehr zurückhaltend nur juristisch erfolgte. Auch die Fachliteratur zur Sozialisierungsthematik, in die er doch sicher Einblick genommen hatte, benutzte er nicht.130 Noch in der Methodenlehre von 1939 erfolgte die Begründung der Gemeinwirtschaft vorwiegend moralphilosophisch und metaphysisch. Baumgarten fasste das Sozialisierungsthema beinahe vorausschauend, wie in Bezügen auf die heutigen Aufgaben der völkerrechtlich verbundenen und gebundenen Staaten, die Entwicklung der Zivilisation zu sichern, und darum die Selbstverwertungsgesetze der Großindustrie zurückzudrängen, um sie direkter und effektiver mit den Lebensbedürfnissen aller Völker zu vermitteln. Seine gemeinwirtschaftlichen Schlussfolgerungen aus der zweiten großen Krise der europäischen Industriegesellschaften gewinnen Interesse angesichts der Euphorie, das Monopolkapital noch einmal im Licht des Überwinders auftreten zu sehen. „Die kommende Menschheit, wenn auch vielleicht nicht das 126 127 128 129 130

Ebd., S. 559. Ebd., S. 546. Ebd., S. 558. Ebd., S. 511. In ersten Kapitel war bereits verwiesen worden auf G. Meyers Sammelrezension zu 48 Arbeiten über Planwirtschaft in Jahrgang I der Zeitschrift für Sozialforschung (1932), S. 379-400.

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Rußland des 20. Jh.s, wird die Übel der bolschewistischen Revolution überwinden, das Gute an ihr wird sie weiter entwickeln müssen, denn es wird sich als unüberwindlich erweisen.“131 Sieht man auf Baumgartens Argumentation für den Übergang zum Gemeineigentum, so fällt am Werk vom Beginn der dreißiger Jahre auf, wie sehr der Gedankengang von moralphilosophischen Überlegungen geführt ist. Eingehend werden die Aussichten des Gemeinsinns gegenüber dem wirtschaftlichen Egoismus erörtert, denn es geht Baumgarten tatsächlich um eine moralische Entscheidung. Volkswirtschaft oder gar Weltwirtschaft auf Planwirtschaft umzustellen, sei ein so ungeheures Unternehmen, dass man damit nicht so rasch zu Streiche kommen werde, wie mit der Organisation von Gerichtswesen und Polizei. „Aber: es muss uns doch gelingen. Jene Nationalökonomen rechnen nicht genügend mit den unbegrenzten Verständigungsmöglichkeiten, die durch den Zusammenhang aller Menschen im Unterbewussten geboten werden.“132 Baumgarten sieht drei Fehler der privatkapitalistischen Ökonomie, die deren Übergang zu einer genossenschaftlichen und gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftsform erfordern. Es ist erstens die Teilung der Gesellschaft in bevorrechtete und zurückgesetzte soziale Schichten, zweitens „ist der Hauptmangel unserer heutigen Privatwirtschaft“ „die Schaffung künstlicher Bedürfnisse zum Nutzen gewinnsüchtiger Produzenten“. Drittens schließlich hält die Privatwirtschaft die Menschen auf einem unfertigen, weil individualitätsverhafteten Entwicklungsstand fest. So rückt das Postulat der Gemeinwirtschaft – ohne dass überhaupt der Terminus „Sozialismus“ fällt – in eine sozialpsychologische Perspektive der Bildung einer Menschheit auf neuer Stufe des Gemeinsinns. Solchen Schritt erfordern „die Übel unserer Epoche“, so „dass man vom Staat ein Eingreifen zugunsten der Sozialisierung erwartet.“ Von solchem Programm wird der reale Übergangsprozess zu einer gemeinwirtschaftlichen Ordnung deutlich abgesetzt. Eine funktionierende Planwirtschaft könne erst nach langen Experimentalphasen entstehen. Verschiedene Theorien (Gide, Oppenheimer) und das „Experiment des Bolschewismus“ werden erörtert. Ein erfolgreicher Übergang zur höheren Wirtschaftsform sei aber nicht in den Grenzen der Nationalstaaten, sondern nur in einer Weltgesellschaft möglich. Mit einem Mal kommt dann der hellsichtige Satz: „Selbst wenn einmal die ‚Gefahr‘ des Bolschewismus von einem aufatmenden Europa als überwunden betrachtet wird ...“, fordert dessen Idee „... eine Auseinandersetzung, die nicht mit einer egoistisch aktivierten Privatwirtschaft, einer aufs äußerste gesteigerten Technik, einer dialektischen Geisteswissenschaft, sondern nur damit enden kann, dass aus einem vergeistigten, freiheitliebenden Gemeinsinn eine bessere Kollektivwirtschaft als die des heutigen Russland geboren wird.“133 Die Methodenlehre von 1939 bleibt im genannten Gedankenkreis, spricht aber entschiedener aus, dass die Zeit des Übergangs zu gemeinwirtschaftlichen Reformen gekommen sei, da inzwischen die Handlungsfähigkeit des Staates auf dem Spiel stehe, so

131 Der Weg, S. 566. 132 Ebd., S. 558. 133 Ebd., S. 566.

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dass dieser, wenn er Herr im eigenen Hause bleiben wolle, zu sozialstaatlichen Reformen sich entschließen müsse. Interessant wird das mit dem Gedanken begründet, dass die Rechtsaufgabe der Verfassung in der Integration aller Staatsbürger bestehe, diese aber durch die fortgehende privatwirtschaftliche Dynamik in Frage gestellt werde. „Wenn im Staatsrecht das Integrationsproblem die Aufmerksamkeit besonders auf sich zieht, ist es das große Anliegen des Privatrechts, Freiheit und Gleichheit im Verkehr der Individuen untereinander zu gewährleisten.“134

9. Zwei Hauptpunkte des Völkerrechts bei Baumgarten Aufschlussreich kommt Baumgartens menschlich nahe, moralisch fundierte sensualistische Rechtstheorie beim Völkerrecht zur Geltung. Er sah auf diesem Feld das interessante Geschehen der Rechtsentstehung als einen gegenwärtigen Vorgang.135 Wer ist das Rechtssubjekt, das Völkerrecht setzt? Es seien nicht die Staaten, sondern die Völkergemeinschaft oder genauer die „internationale Rechtsgemeinschaft“. Die Staaten handelten als deren Organe, wo sie objektives Völkerrecht schüfen. Das wirft die Frage auf, welche Art juristisches Subjekt die internationale Rechtsgemeinschaft sei. Diese nicht organisierte juristische Person besitze durchaus Organe in den Staaten, in den internationalen Schiedsgerichten, in der Völkerrechtswissenschaft, die dem praktischen Völkerrecht voranschreite, in den internationalen Schiedsgerichten, den zahlreichen privaten Verbänden und Initiativen für Völkerverständigung, schließlich in Presse und Schrifttum als eines Sprachrohrs „für diejenigen, die die Notwendigkeit der Verrechtlichung der Welt spüren und sich für sie einsetzen.“136 Baumgarten sieht auch eine Rechtsgenese aus dem Umkreis engagierter Bürgerbewegungen. Eine der anspruchsvollen Bestimmungen lautet, „dass der Staat ein anderer ist, wenn er an der Begründung völkerrechtlicher Normen mitwirkt, als wenn er ausschließlich seine eigenen innern oder auswärtigen Angelegenheiten besorgt“.137 Wir sehen Baumgarten weit vorausgehen auf dem Gebiet des Völkerrechts, das er ein noch embryonales Recht nannte, das sich aber entfalten solle von einzelnen zwischenstaatlichen Verträgen zu einer feststehenden internationalen Rechtsordnung. Eine der vorausweisenden Schlussfolgerungen aus der These von der internationalen Rechtsgemeinschaft als dem Subjekt des Völkerrechts lautete, dass nicht nur Staaten, sondern konsequent auch Einzelpersonen Adressaten des Völkerrechts seien. Verpflichtungen aufs Völkerrecht könnten nicht allein auf die staatlichen Organpersonen bezogen werden. Das würde das Völkerrecht ans Landesrecht zurückbinden und so neutralisieren. Nicht die Staaten seien das eigentliche Subjekt des Völkerrechts, „in Wahrheit ist das Rechtssubjekt, das das Völkerrecht setzt, die Völkergemeinschaft; die einzelnen Staaten 134 Methodenlehre, S. 175. 135 „Auch ist es besonders lehrreich, Bildungsprozesse in ihren frühen Entwicklungsstadien zu beobachten, und im Völkerrecht haben wir den Keim eines Rechtes vor uns ...“ (Methodenlehre, S. 159) 136 Ebd., S. 162. 137 Ebd.

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werden, soweit sie sich an der Schaffung objektiven Völkerrechts beteiligen, als Organe der Völkergemeinschaft tätig.“ Mehr noch als auf den einzelnen Bürger als „Weltbürger“ mit Weltbürgerrechten zielt Baumgarten auf eine „internationale Rechtsgemeinschaft“ analog der „nationalen, nicht verstaatlichten Rechtsgemeinschaft“ als rechtsetzenden Subjekts.138 Das Völkerrecht dürfe nicht durch ein Staatenrecht ersetzt werden. Die psychologische und moralische Grundlegung des Rechtsbegriffs führte über die Rechtsgemeinschaft als des Subjekts des Völkerrechts – nicht nur der „Staatengemeinschaft“ – konsequent zu natürlichen Personen, die ebenfalls Adressaten völkerrechtlicher Verantwortung und Rechenschaft darstellten. Wie im Zivilrecht hinter der fiktiven Verpflichtung die reale Vermögenshaftung der juristischen Person stehe, ebenso solle die völkerrechtliche Verpflichtung in realer Verantwortlichkeit von Personen ihren Normadressaten finden. „Der heilige Respekt vor der Souveränität des nationalen Staates“ stehe dem im Wege, z. B. dadurch, dass Beamte nur vom Landesrecht verpflichtet würden und das Völkerrecht nur auf Landesrecht beruhen könnte. Baumgarten dachte den gegenwärtigen Resultaten und Problemen voraus.139 Alle diese Punkte gewannen wenige Jahre nach Baumgartens Büchern von 1933 und 1939 ihre Aktualität bei der Gründungsurkunde der UNO, beim Nürnberger Prozess und bewähren sich heute beim internationalen Strafgerichtshof, auf bemerkenswerte Weise z. B. auch mit der Anzeige des spanischen Anwalts gegen Pinochet bei dessen Englandbesuch im Jahre 2002. Baumgarten nimmt, ohne sich darauf zu beziehen, Kants Gedanken eines Weltbürgerrechts als eines Rechts von Völkern und Individuen auf. Die Individuen seien nicht nur Bürger ihres jeweiligen Staates, hatte Kant geschrieben, sondern ebenso Mitglieder eines „weltbürgerlichen gemeinen Wesens unter einem Oberhaupt.“ Das Weltbürgerrecht anerkenne die Personen „als Bürger eines allgemeinen Menschenstaates“.140 Im charakteristischen Begriff des Völkerrechts, dessen Rechtssubjekt die Völkergemeinschaft als internationale Rechtsgemeinschaft darstelle, zu deren Organen auch die Staaten gehören, findet sich ein Gedanke des aufklärerischen Republikanismus (St. Just, Robespierre) wieder. Baumgarten interpretierte ihn nämlich so: „Der Wert des Begriffs der unorganisierten Gesamtperson Rechts- oder Volksgemeinschaft besteht hauptsächlich darin, dass er die für das Verständnis der Revolution erforderliche juristische Kate-

138 Ebd., S. 161. 139 Baumgarten hatte in seinen Vorträgen auf den dritten Davoser Hochschulkursen im März 1930 seine Thesen zum Völkerrecht dargestellt. Sie wurden anerkennend und ausführlich in der Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht referiert (E. Härle, Bd. II, H. 3/4, 1931) 140 I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kant’s Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VIII, Berlin 1912; I. Kant, Zum ewigen Frieden, in: ebd. J. Habermas hat die Kantsche Thematik unterm Gesichtspunkt der Erfordernisse einer neuen Weltordnung in der eingetretenen „postnationalen Situation“ diskutiert: J. Habermas, Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften, Bd. X, Frankfurt/M. 2004, T. IV: Das Kantische Projekt und der gespaltene Westen, S. 113 ff.

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gorie darstellt.“141 Baumgarten verstand offenbar den formellen Begriff des Völkerrechts als Teil eines weiteren Bezugs von „Rechten“ der Völker: „wie unsere Staaten von heute zustande gekommen sind in revolutionären, metajuristischen und metastaatlichen Akten, durch die die Völker, die Kontinuität ihres bisherigen Verfassungslebens durchbrechend, neue Staatswesen ins Leben gerufen haben.“142 Baumgartens Rechtslehre preist die Bürgergesellschaft und fundiert die Integrationsleistung des Rechtsstaates letztlich auf einer im Menschen angelegten, sich weiter ausprägenden Moral des altruistischen Utilitarismus und darum der Solidarität. Ein nobles Vertrauen auf die Kraft des zivilen Geschmacks regiert das Denken dieses Juristen. Ein Bewusstsein der Offenheit des Handelns, auch der sich immer wieder einstellenden Unsicherheit, wie Baumgarten gern mit den Franzosen sagte: À coté de la question, und dennoch zu leben im Bewusstsein: La vérité est en marche, das verstand Baumgarten unterm erfahrungswissenschaftlichen Rechtsbegriff des Pragmatismus. Von seinem Lehrer F. v. Liszt schrieb Baumgarten 1937 in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht, Liszt verdanke seine Leistung „seinem Temperament, seiner unermüdlichen Spannkraft, seinem unerschütterlichen Vertrauen in Vernunft und Wissenschaft als des Menschen allerhöchste Kraft, seinem schönen, großen Glauben an den Fortschritt der Menschheit. Er war ...fast mehr ein Kind des siècle des lumières als des 19. Jh.s. Aber er war nichts weniger als antiquiert. Ein Mann wie er ist ein prächtiges Geschenk an jede Zeit ...“.143 Wir dürfen diese Worte dem Andenken des Juristen und Philosophen Arthur Baumgarten selbst widmen. Die entschlossen über ihre Zeit hinaus Denkenden sind es, die mit unerfüllten Erwartungen dahingehen.

141 Nachgelassenes Manuskript über Marxismus und Rechtswissenschaft, in: Klenner/Oberkofler, a. a. O., S. 216. 142 Der Weg, S. 503. 143 A. Baumgarten, Die Lisztsche Strafrechtsschule und ihre Bedeutung für die Gegenwart, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 51. Jahrgang, 1937, S. 1-14, wieder in: A. Baumgarten, Rechtsphilosophie auf dem Wege, a. a. O., S. 208.

Viertes Kapitel Philosophie

„Alle einzelnen Geisteswissenschaften schweben in der Luft, wenn sie nicht dem menschlichen Dasein einen vernünftigen Sinn und Zweck zugrunde legen, wenn sie nicht in einer Weltanschauung gefestigt sind. Ist Weltanschauung Glaubenssache, so gehört eben Glaube mit zur Wissenschaft. Schließlich sucht aber auch der Glaube immer wieder nach Gründen. [...] Sapere aude. Philosophie ist Wagnis und Bekenntnis, und Philosophie muss man betreiben, wenn man bei der Beschäftigung mit geistigen Dingen auf die letzten Fragen stößt.“ A. Baumgarten, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1939

I. Zwei unterschiedliche philosophische Einflusslinien 1. Pragmatismus Arthur Baumgarten ist, wie bereits im ersten Kapitel betont, der vergessene Vordenker des Pragmatismus in der deutschsprachigen Philosophie. Von seinen Schriften sagte er zusammenfassend, sie zeigten einen „Empirismus mit pragmatistischem Einschlag“.1 Mit dem Pragmatismus trat Baumgarten in die englische empiristische und liberale Tradition der europäischen Philosophie ein. A. Pope hatte bereits gesagt: „Die Theorie ist die beste, deren Anwendung die beste ist.“ Seinen Gegner hatte der Pragmatismus in den idealistischen und dualistischen philosophischen Systematisierungen der wissenschaftlichen Theorien und sozialen Erfahrungen erkannt. Die Annahmen des Bewusstseins als einer eigenen Substanz, der daraus folgende epistemologische Dualismus waren für ihn mit der Tradition geschlossener Systeme verbunden, aus denen die Trennung von Denken und Handeln folgte. Solche Konstruktionen erschienen James und Dewey – und Baumgarten folgte ihnen darin – nicht nur als unzeitgemäß gegenüber der Fallibilität voranschreitender wissenschaftlicher Theorien und angesichts des Übergangs der sozialen Dynamik zu den Auseinandersetzungen zwischen großen, verfassungsrechtlich frei beweglichen sozialen Klassen. Sie wurden für schädlich erachtet, weil sie als illusorische Theorien monadischer persönlicher Freiheit der Lebenswirklichkeit der Menschen 1

Der Weg, S. V.

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in den entstandenen Massengesellschaften widersprachen und dadurch eine Mentalität der Privatheit stützten. Der Pragmatismus verband die sozialwissenschaftliche Ausprägung der Handlungstheorie mit der funktionalen Gruppensoziologie im Sinne G. H. Meads (1863 –1931). Die strukturale theoretische Übersetzung der Interessen und Aktionen der Einzelnen wirkte gegen die arbeitsteilige Spezialisierung, dass die Individuen sich von sozialer Verantwortung abkoppelten. Der entwickelte Empirismus des Pragmatismus verband darum auch die verschiedenen handlungstheoretischen Linien, die J. Habermas für den Begriff des kommunikativen Handelns analysiert hatte.2 Die deutsche Philosophie kultivierte bis in die Weimarer Zeit die bildungsbürgerliche Tendenz sehr, Probleme des allgemeinen Interesses in für sich stehende theoretische Fragmente zu verschieben und so einen universalistisch und sozial gerichteten Verhaltenshorizont der Akademiker zu verschließen. Das bildete eine der methodischen Brücken, sich antiliberalen politischen Bewegungen zu akkomodieren. Der Pragmatismus dagegen verlagerte das Personalitätsverständnis vom Leitbild substanzialer, ringförmig sich ausprägender Innerlichkeit – etwa im klassischen Muster des Wilhelm Meister – auf die Beziehung zwischen Intentionen und gegenständlichen Realisierungsprozessen in den hervortretenden Bereichen zwischen privaten und öffentlichen (das waren bisher staatliche) Interessen, wie sie Parteien, Verbände, Presse, Kirchen darstellten.3 Der generelle kulturelle Impuls des Pragmatismus bestand darin, eine philosophische Methode auszubilden, die der Vermittlung zwischen privaten und öffentlichen Interessen auf argumentativem Wege nachgeht. Das war insofern ein in der Tradition des Empirismus verankertes, erfahrungswissenschaftlich orientiertes Anliegen, da es der Tendenz demokratischer Verfassung entsprach, dass die sozialen Gruppen sich gehalten sehen, ihre eigenen Zielstellungen als mit öffentlichen Zwecken verbunden auszuweisen. Der Pragmatismus bildete solche Legitimationspostulate methodisch durch. Baumgarten folgte dem mit seiner psychologischen Begründung der altruistischen Moralphilosophie. Die Behandlung der Moralprobleme in Form einer (letztlich ästhetischen) Schau von an sich seienden Wertordnungen (Heidelberger Neukantianismus, Ontologie Schelers und N. Hartmanns), dem Gegenstück zum abstrakten Personalismus, war vom Pragmatismus natürlich ebenfalls überschritten worden. Baumgarten hatte sich mit dem Neukantianismus eingehend, in kürzeren Abschnitten seiner Schriften und in einem speziellen Vortrag mit Hartmanns Ethik auseinandergesetzt.4 Scheler stand ihm wegen der psychologischen Begründung seiner materialen Wertethik und, merkwürdig genug, in Bezug auf Schelers Metaphysik näher. Der verhaltensbezogene, nicht mehr substanziale, sondern relationale und aktivistische Subjektbegriff führte den Pragmatismus zu veränderten Bestimmungen beim Verhältnis von Intellekt und Emotionalität, qualifizierte den Eudämonismus der empiristischen Tradition handlungstheoretisch und bildete diesen zu einem operationalen Utilitarismus 2 3 4

Er unterschied teleologische, normengeleitete und dramaturgische Aspekte der Handlungstheorien (J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 1. Bd., Frankfurt/M. 1988, S. 216ff.) Vgl. H. Hofmanns Artikel: „Öffentlich/privat“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, S. 1131-1134. Zusammenfassend in: Methodenlehre, S. 76f.

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um. Im Verhältnis von Moral und Recht gewann so das Recht die Funktion des progressiven, gestaltenden Agens. Es wirkte analytisch präzise und veränderte sich ständig unter den Kriterien realer Zweckerfüllung. Moral setzte sich als eine nach wie vor ganzheitlich gehaltene Verhaltensbereitschaft davon ab. Die Philosophie des Pragmatismus bezieht ihren methodischen Impuls überhaupt weitgehend aus dem rechtswissenschaftlichen Erfahrungsverständnis.5 Juristische Sätze – natürlich am stärksten die auf Anwendung gerichtete Jurisprudenz – bilden Synthesen kontinuierlich verfolgter Erfahrung. Sie reagieren zweitens auf die Wirkung von Vorschriften, und, nicht zu vergessen, sie sind bei Formulierung und Geltung auf die Zustimmung gesellschaftliche relevanter Gruppen angewiesen. Die Rechtswissenschaft ist diejenige kulturwissenschaftliche Disziplin, die umfassend den Kriterien öffentlicher Anerkennung verpflichtet ist. Von allen philosophischen Methoden entspricht diejenige des pragmatistischen Empirismus diesen Kriterien am direktesten.6 Für Baumgarten bildete die Position des Erfahrungsbegriffs im rechtswissenschaftlichen Rationalitätsverständnis die zentrale Linie, sich unterm Eindruck der Genfer psychologischen Schule um Flournoy und Claparède, die James um 1900 noch neue Psychologie aufgenommen hatte, dem Empirismus und Utilitarismus des Pragmatismus anzuschließen. Die offensichtliche Parallele des pragmatistischen Denkens zur Verbindung von szientifischen und technisch-praktischen Elementen der Intellektualität wirkte für die soziale Thematik dahin, dass die Prozesse der Konstituierung einer demokratischen Massengesellschaft unterm Horizont zu realisierender Gerechtigkeitsansprüche zum zentralen Methodenproblem praktischer Philosophie erklärt wurden. J. Rawls, R. Rorty und in Deutschland J. Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns stehen in dieser Tradition. Zu seiner Zeit schloss sich Baumgarten Deweys entschiedener Verbindung des Philosophiebegriffs mit dem gesellschaftlichen Auftrag von Philosophie für demokratische Verfahrensrationalität an. Im eingehenden Nachwort von 1945 zu seinen Reconstructions in Philosophy (1920) hatte Dewey diesen Gedanken seines Buches zusammengefasst: Philosophie besitze im Zeitalter der Fachwissenschaften die Aufgabe, deren offene erfahrungswissenschaftliche Rationalität auf die übergreifenden moralischen und gesellschaftlichen Themen zu übertragen, so dass aus den für sich selbst verworrenen industriellen und sozialen Bedingungen eine neue moralische Ordnung hervorgehen könne.7 In dieser entwickelten Fassung nahm auch Baumgarten das alte Sapientia-Element von philosophischer Wissenschaft auf und zog daraus die zeitgemäße Konsequenz öffentlicher Wirkung der Philosophie zur Behebung gesellschaftlicher Konflikte. Der Pragmatismus war das Stadium der abendländischen Philosophie, in dem alle diese Einsichten sich gleichsam zum methodischen Laboratorium vieler spezieller Arbeitsrichtungen der Philosophie ausgestalteten. 5 6

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K. Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, Frankfurt/M. 1972. L. Schulz, Das rechtliche Moment der pragmatischen Philosophie von Ch. S. Peirce, Ebelsbach 1988; St. Schlüter, Individuum und Gemeinschaft. Sozialphilosophie im Denkweg und im System von Ch. S. Peirce, Würzburg 2000. J. Dewey, Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989, S. 13, 37, 42; parallel: A. Baumgarten, Methodenlehre, S. 74ff.

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Im Hinblick auf seine philosophischen Quellen war der Pragmatismus die Fortbildung des Positivismus des 19. Jh.s. Dessen beide Leitideen, der erfahrungswissenschaftliche Induktionismus und der moralphilosophische Eudämonismus, wurden zu zwei sich stärker verselbstständigenden Richtungen fortgebildet: zur zeichentheoretischen Logik (Peirce, Russell) und – auf der Grundlage der anti-assoziationistischen Psychologie von James – zur Grundlegung einer kooperativen Sozialtheorie, die das überkommene sensualistische Thema der Glücksmotivation des Menschen handlungstheoretisch fasste und damit die substanzial-anthropologischen Reste im Eudämonismus des 19. Jh.s auflöste. Vor allem war die leidige Opposition zurückgesetzt, ob der Mensch im wesentlichen selbstbezogene oder gleichermaßen altruistische Anlagen besitze. Beide Richtungen des Pragmatismus setzten den Evolutionismus des positivistischen Empirismus unter den wissenschaftstheoretisch und soziologisch fortgeschrittenen Bedingungen fort.8 Man erkennt Baumgartens pragmatistisches Selbstverständnis am besten in dessen großer Philosophiegeschichte von 1945, Geschichte der abendländischen Philosophie. Eine Geschichte des geistigen Fortschritts der Menschheit, ein Werk ganz modernen, wissenschaftstheoretisch und sozial progressiv orientierten Verständnisses von Philosophie; in seiner Zeit nur mit Russells History of Western Philosophy (1946, dt. 1950) und H. Reichenbachs Rise of Scientific Philosophy (1951, dt. 1953) vergleichbar. Die Verbindung mit den Fachwissenschaften, der empiristische Wissenschaftsbegriff überhaupt, der auch für die Philosophie zu entwickeln sei, sind es, was Baumgarten an James’ Schriften hervorhob. Das zielte nicht nur gegen die Isolierung der akademischen Philosophie von den Problemen des realen Lebens.9 Baumgarten sah am Pragmatismus eine Korrektur der europäischen Philosophie wiederkehren, die der Empirismus seit der Frühaufklärung vorgetragen hatte. Das empirisch wahrnehmbare Geschehen sei nicht ein mitgehendes, sekundäres Phänomen, während die Substanzen gleich blieben. Es entsteht wahrhaft Neues, in uns selbst wirken schöpferische Kräfte, die Gesellschaft und natürliche Welt als a growing universe bereichern, wie James sagte. Den Jamesschen Gedanken des pluralistic universe verstand Baumgarten richtig als eine evolutionäre Perspektive hin zu einer Einheit der Welt bei herausprozessierter Vielfältigkeit, die bis-

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Die Verwurzelung des Pragmatismus schon im frühesten Aufklärungsanschluss des Positivismus sieht man am „pragmatistischen“ Schlusskapitel von Comtes Cours de Philosophie positive (1830/ 42): Die intellektuelle Neigung des menschlichen Geistes sei auf die Vorliebe für das Einfache, Stetige und Allgemeine gerichtet. Darum suche die Erforschung der Naturgesetze „eine solche Darstellung der Außenwelt zu erkennen, welche die wesentlichen Neigungen unserer Intelligenz so vollständig befriedigt, als dies mit dem für die Gesamtheit unserer praktischen Bedürfnisse erforderlichen Grad von Genauigkeit vereinbar ist.“ (Zit. n.: J. St. Mill, A. Comte und der Positivismus, in: Mill’s Gesammelte Werke, Bd. 9, Leipzig 1874, S. 43) Das operationalistische Wahrheitsverständnis des Pragmatismus mit der Ausschließung des individualistischen Utilitarismus findet sich hier von den Prämissen des aufklärerischen, wahrnehmungstheoretischen Geistbegriffes her vorgebildet. „Wie atmet man auf, wenn man, ermüdet von den unendlichen Verbalismen der neuesten philosophischen Literatur, diesem Mann begegnet ...“ (Philosophiegeschichte, S. 382)

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her nur angelegt sei.10 Hier wirkte beim Juristen Baumgarten wieder das verfassungsrepublikanische Problem mit, eine Vielheit von Interessen als offene Einheit, also diese zugleich als frei bewegliche Differenzen zu begreifen. Der integrative Auftrag des demokratischen Rechtsstaates entspricht diesem philosophischen Begriff eines Systems in der Bewegung von dessen Elementen. Die synthetisierende Kraft des zivilisatorischen Prozesses – für Baumgarten im entelechetischen Sinne und so in der ganzen Natur – sei der Geist des Menschen. Er wirke in den Wissenschaften, in der technischen Bewältigung der Lebenserfordernisse, im republikanischen Recht und im produktiven Widerspruch zwischen Selbstbezug und Wohlwollen, Baumgarten sagte mit den englischen Autoren gern benevolence, als des moralischen Fundus des Menschen. Es war ein Empirismus mit aufgeschlagenen Augen. Eine aktivistische Willensauffassung ging mit dem erfahrungswissenschaftlichen Prinzip zusammen. Baumgarten nahm den von James’ Psychologie begründeten Schritt über den behavioristischen Empirismus hinaus auf. Die Phänomene des Bewusstseins sind nicht in Begriffen des Organismus zu beschreiben, sondern als Interaktivität von Organismus und Umwelt, speziell von miteinander kooperierenden Menschen und vorgefundener Realität.11 Im Zusammenhang der Baumgartenschen Metaphysik ist auf die Verbindung des empiristischen Skeptizismus mit dem handlungsorientierten „Glauben“ einzugehen, den James vertrat. James war bis zu einer religiösen Fassung des Zukunftsverständnisses gegangen. Dewey und ebenso Baumgarten folgten darin nicht. Das Problem, bei empiristischer Grundauffassung auch über die faktisch gegebenen Interessen und Bewusstseinsinhalte hinauszudenken, um einen Zukunftsbegriff sich voranzuhalten, der dem aktivistischen Willensverständnis doch nahe liegt, es brachte Baumgarten zu seiner Metaphysik des sich entfaltenden einen Geistes der Menschheit, die alle Schichten und Völker zu einer universalen Arbeitsgemeinschaft zusammenführen werde. Er sah das Unbefriedigende, den Generationen die Rationalität von Tendenzabwägungen zu vindizieren. Handeln ist durch sein volitives Element ein diachronischer Akt, ist ein Eingriff. Zugleich ist das Handeln teleologisch verfasst, und das nicht nur in Bezug auf den unmittelbaren Handlungszweck, sondern auch in Erwartung weitersehender objektiver Verläufe. Die Frage bleibt, wie weit die Voraussicht gelangen möchte. Baumgarten löste das Problem durch eine Zeit-Metaphysik des sich konstituierenden Geistes. Er wandte sie, wie gegen die theologische Eschatologie, auf der anderen Seite gegen den Evolutionismus des englischen Positivismus des 19. Jh.s und gegen den marxistischen materialistischen Determinismus. Dafür ist auf einen anderen Einfluss zu sehen, der Baumgartens Philosophie prägte, und erst den ganzen Horizont dieses Empirismus und engagierten Liberalismus sichtbar werden lässt.

10 J. Rawls hatte den Gedanken eines übergreifenden Konsenses bei privatwirtschaftlich und verfassungsliberal organisierter Gesellschaft wiederholt erörtert: J. Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1992. 11 Dazu J. Dewey, Erfahrung und Natur (1929), Frankfurt/M. 1995, Kap. 1: Erfahrung und philosophische Methode; J. Dewey, Das verschwindende Subjekt in der Psychologie von W. James, in: ders., Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt/M. 2004, S. 63-76.

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2. Schopenhauer und das zivilisationskritische Denken des späten 19. Jahrhunderts Baumgarten sah auf den aus dem englischen Empirismus des 19. Jh.s hervorgegangenen Pragmatismus mit den Augen eines liberalen deutschen Juristen und Philosophen. Er wusste den romantisch-konservativen Geist ebenso wie die im Grunde elitäre kulturelle Verfasstheit der akademischen Philosophie zurückzusetzen. Aber er sah innerhalb der kontinentaleuropäischen Erfahrung klarer auf die Widersprüchlichkeit, eigentlich auf die Zerrissenheit der sozialen und politischen Entfaltung der industriellen Gesellschaft, die neben der konstitutionell-aristokratischen und der liberalen Richtung eine politische Arbeiterbewegung zur revolutionären Sprengung der privatwirtschaftlich verfassten Industriegesellschaft geschaffen hatte. Das ließ ihn über den optimistischen Evolutionismus des Empirismus des späten 19. Jh.s (Spencer, in Deutschland Laas, der Monismus) neu nachdenken. In gleicher Richtung wirkten die Veränderung des Anschauungsbegriffes sowohl der Natur- als auch der Sozialwissenschaften und die kulturkritischen Ansätze der frühen Psychoanalyse um die Jahrhundertwende, die eine veränderte Problemlage für den Empirismus ergaben. Baumgarten besaß schon von seinem liberalen Elternhaus her Distanz zum Wechsel des politischen Stils in der Regentschaft Wilhelms II., dem „persönlichen Regiment“, wie damals gesagt wurde, und zur Falsifikation des Nationalgedankens zum imperialen Nationalismus nach der Thronbesteigung des 29-jährigen Wilhelm II. (1888), dessen Geringschätzung des Reichstages bekannt war. Darum hatte er sich um die Berufung an die Universität Genf in der Westschweiz bemüht. Zuerst die europäische Krise des Ersten Weltkriegs, darauf die deutsche Geschichte der zwanziger und dreißiger Jahre, hatten ihm seinen geschärften Realismus bestätigt. So nahm er die zivilisationskritischen Theorien – Schopenhauer, J. Ruskin, T. Carlyle, Tolstoi, Dostojewski, Nietzsche, E. v. Hartmann – als reellen Ausdruck der Not der Zeit und verstand sie fast wie in deren besserem Sinn.12 Der Sozialtheorie und geschichtlichen Perspektive der Marxschen Theorie stand er bis zum Ende der zwanziger Jahre fern. Erst die Erfahrungen, wie leicht die Oberklasse den liberalen Rechtsstaat aufgab, und das nicht nur in Deutschland (Italien, Portugal, Spanien, Österreich, Vichy-Frankreich), ließen ihn seine bisherige zivilisationskritische Sichtweise durch marxistisch-sozialistische Theoreme ergänzen. Zunächst aber ging Baumgarten, um eine Konkretisierung des pragmatistischen Empirismus zu erreichen, bis zum Pessimismus Schopenhauers als zu einem Grundstock jenes kritischen europäischen Erbes zurück. „Er war die Nemesis. Der Geist der Epoche hatte in herrlichen Monologen Gott und die Welt gepriesen, er hatte sich in den luftleeren Raum der formalen Ethik des kategorischen Imperativs aufgeschwungen, er hatte ein Reich der Vernunft auf Erden begründen wollen. ... Man überbot sich gegenseitig in den kühnsten Gedankenkonstruktionen und drohte darüber die Realität des Leidens und die Unzulänglichkeit der menschlichen Natur zu vergessen. Es wäre merkwürdig gewesen, wenn die aufdringlichste aller Realitäten sich nicht zu Worte gemeldet und in dieser an großen Geistern so reichen Zeit nicht einen genialen Menschen gefunden hätte, der ihrem Protest den gebührenden Ausdruck zu geben wusste. Sie fand ihn in Schopen12 Vgl. W. Drost, Fortschrittsglauben und Dekadenzbewusstsein im Europa des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1986.

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hauer. ... Schopenhauers Bedeutung für seine Epoche liegt darin, dass er zu ihrer überwiegend optimistischen Philosophie in seinem Pessimismus das unentbehrliche Gegenstück lieferte. Um keinen Preis möchten wir diesen steinernen Gast an dem Bankett missen, das damals gefeiert wurde.“13 Der ganze antispekulative Akzent des Baumgartenschen Empirismus zeigt Schopenhauers Hohn auf die Wortakrobatik der Philosophen. Nicht die Einübung von Wortassoziationen, wie Russell einmal von den Metaphysikern sagte, sei Philosophie, sondern die Übersetzung der konkreten Anschauung des Leidens und der Ungerechtigkeit innerhalb einer erfahrungswissenschaftlichen Methodik sei deren Aufgabe. Das christliche Bild des leidenden Menschen war bereits von Schopenhauer zurückgelassen worden. Baumgarten sah auf das Leiden als auf eine wesentliche Moralthematik natürlich auch von seinem Strafrecht her, das die Rechtsgutverletzung primär als ein willentlich verursachtes Leiden durch den Täter bestimmte. Baumgarten stellte die Strafe als ein Gegenleid ins Zentrum der strafrechtlich gebotenen Genugtuung des Opfers. Doch viel wesentlicher rückte bei Baumgarten unterm Eindruck des Weltkrieges als des offengelegten Schreckens der „materialistischen“ industriellen Zivilisation das soziale und moralische Leiden an die Stelle. Darum nahm er ein altes Gedankenmotiv der Philosophie in seinen Pragmatismus auf: Die Antinomik des Bewusstseins und, folgerichtig, deren Metaphysik-Konsequenz. Das erst und der aktuale Empirismus bildeten zusammen das philosophische Konzept seiner mit dem Ersten Weltkrieg eingetretenen Desillusionierung über das bürgerliche Zeitalter. Die Besonderheit der philosophischen Schriften Baumgartens in der deutschsprachigen Philosophie des 20. Jh.s besteht darin, dass sie den fortgeschrittenen Empirismus des Pragmatismus aufnehmen, ihn aber mit Schopenhauers Antinomik des leidenden Willens verbinden. Die Antinomik verlieh dem empiristischen Evolutionismus den Realismus der Negativität, und andererseits trennte ihre Verbindung mit dem Empirismus die Zivilisationskritik vom elitär anarchischen und konservativen Gestus Nietzsches und Spenglers ab. Baumgartens Schriften zeigten, dass theoretische Tiefe mit dem Blick aufs ungeheuerliche Unstimmige in uns und antiliberaler Hochmut nicht unweigerlich zusammengehören. Baumgarten sprach so die Lösung eines der wesentlichen Gebrechen der kontinentalen Philosophie seiner Zeit aus. Schopenhauer hatte seinen Pessimismus auf das Rätsel der Individuation begründet. Wir existierten in der Antinomie von Einheit und Vielheit. Als Wille an sich seien wir alle Eines und gleichsam ein Ding an sich. Diesem substanzialen Willen zum Leben stehe die verworrene Vielheit der individuellen Willensakte in der Zeit gegenüber. In diesem zerstreuenden Wechsel vollziehe sich die Pein des Lebens und öffne sich dessen Scheitern.14 Schopenhauer zog daraus die romantische Schlussfolgerung, wir müssten 13 Philosophiegeschichte, S. 318f. 14 Schopenhauer wies für einen Ausweg aus der Pein des Lebens allerdings mit elitärem Anspruch und sogar mit einem mediokren Haken auf den „Enthusiasmus des Künstlers, welcher ihn die Mühen des Lebens vergessen lässt.“ (!) „Alles beruht darauf, dass, ... das Ansich des Lebens, der Wille, das Dasein selbst, ein stetes Leiden und teils jämmerlich, teils schrecklich ist“. (Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. A. Hübscher, Bd. 2, Leipzig 1938, S. 315)

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den Willen zum Leben verneinen. Baumgarten hob durch die Verbindung des europäischen Pessimismus mit dem Empirismus beide aus den Verankerungen ihrer Traditionen. Er trennte den Leidensgedanken vom Pessimismus, und er löste den Empirismus grundsätzlich vom individualistisch gefassten Evolutionismus ab. Mit dem Rückgriff auf Schopenhauers Begriff eines Gattungswillens nahm er, tiefer greifend als der amerikanische Pragmatismus seiner Zeit, den individualistischen Zuschnitt aus dem sensualistischen Empirismus heraus. Baumgarten hatte sich nicht nur bei seiner Theorie der Antinomik von Schopenhauer anregen lassen. Auch seine Metaphysik der Bewegung zu einer moralischen und sozialen Geist-Einheit der Menschheit besitzt in Schopenhauers Lehre von der Einheit der Weltwesen eine Quelle. Sie fand weitere Anregungen durch den sog. neuen Idealismus und durch den vom amerikanischen Transzendentalismus (Emerson, Thoreau) herkommenden Un-Animismus am Beginn des 20. Jh.s. Durch die Prämissen der Gattungseinheit und der Antinomik veränderte Baumgarten den Sensualismus. Er war von seinen Begründern im 18. Jh. als ein dynamisches System gedacht worden, das alle ihm immanenten Widersprüche für seine eigene Produktivität realisiere.15 Baumgartens Antinomik in der Verbindung mit dessen Empirismus war eine originale Schopenhauer-Rezeption in der deutschen Philosophie. Sie zeichnete sich gegenüber den bekannten und einflussreichen Schopenhauer-Aufnahmen Nietzsches und E. v. Hartmanns durch eine Projektion des Schopenhauerschen Pessimismus auf die aufklärerischen theoretischen Vorlagen aus, gegen die Schopenhauer seine Philosophie gerichtet hatte. Ein zentraler Punkt der Schopenhauerschen Metaphysik des Lebenswillens war deren Konzentration um einen romantisch spekulativen Natur- und Instinktbegriff gewesen. Schopenhauer vermochte so sein antiaufklärerisches Konzept in Bezug auf die soziale Thematik reduktiv moralisierend durchzuführen. Er schuf damit eine Prämisse der Existenzphilosophie des 20. Jh.s, die allerdings von den Vertretern zurückgehalten und von den Interpreten wenig beachtet wurde. Tatsächlich stellte aber neben Kierkegaards Problem des Selbstseinkönnens des Individuums das Schopenhauersche Thema der irrationalen, instinktverhafteten Quellen des Denkens ein ebenso grundlegendes Motiv des

15 Der Moralphilosoph an der Universität Edinburgh, Adam Smith, sah als Ökonom den Produktionsund Zirkulationsprozess des Kapitals als ein offenes System, das seine immanenten Widersprüche für seine Bewegung selbst produktiv mache. Es war auch die Sicht der sensualistischen Moralphilosophie des 18. Jh.s auf eine immanente Produktivität der Antagonismen zwischen den interessierten Willen freier Individuen. Natürlich lag mehr als die Idealisierung der freien Konkurrenz vor. Ein Überschuss innerweltlichen Optimismus wurde gegen den christlichen Gedanken der Kreatürlichkeit des Menschen eröffnet. Seit dem Ende des 18. Jh.s kehrte der Leidensbegriff des religiösen Erbes in verwandelter ästhetischer und organologischer Form wieder. Die romantische Trauer formulierte den Gegenpol zur aufklärerischen Verbindung von Sensualismus der Individualität und gattungsgeschichtlicher Evolution. Die pragmatistische Erneuerung des aufklärerischen Sensualismus nach dessen Spätform im englischen Positivismus J. St. Mills und Spencers erweiterte Baumgarten durch die Umbildung des romantischen Pessimismus zu einer realistischen Sicht auf die katastrophische Bewegung der europäischen Gesellschaften. Darauf baute Baumgarten seine sozialkritische Konzeption des altruistischen Eudämonismus auf.

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europäischen Existenzialismus dar. Man sieht das besser als an der deutschen Existenzialismus-Diskussion, die nun schon eine Generation zurückliegt, am französischen und insbesondere am italienischen Existenzialismus, wo dieser Thematik, besser gesagt: dieser Stimmung des Denkens, dann auch der sog. postmoderne Dekonstruktivismus folgte.16 Baumgarten ging an Schopenhauers Willensbegriff mit den Verhältnisbestimmungen kooperierender Individuen heran. Die kommunikative Grundlegung des Handlungsbegriffs eröffnete eine Zeitperspektive statt der antiaufklärerischen Pseudoaktivität auf der Basis reiner Innerlichkeit, die in den dezisionistisch aufsprengenden Willensbegriff umschlug, der die konservativen deutschen Philosophien im 20. Jh. versammelte. Der sensualistische Begriff sozialer Relation rechtlich gleicher Individuen ließ Baumgarten die Schopenhauersche Ethik des Mitleids zum ganz anders akzentuierten Solidaritätsgebot umformen.17 Baumgarten suchte eine Ausgangskonstellation seiner Philosophie, die weit über die im Kontrast zwischen Selbstverständnis und realer kultureller Wirkung verharrende deutsche Philosophie um die Jahrhundertwende hinausblickte. Er gehörte mit seinen Werken von Anfang an in den kleinen Kreis der europäisch und kosmopolitisch orientierten Denker in der deutschsprachigen Philosophie und Rechtsphilosophie; ganz abgesehen von der Sonderstellung nach dem noch bevorstehenden, heroisierenden Gang der deutschen Philosophen zu den „Ideen von 1914“. Die spätere sozialistische Entscheidung Baumgartens entstand innerhalb der kritischen Spannung seines Liberalismus, die sich verstärkte nach dem in den neunziger Jahren einsetzenden Aufschwung der Industriegesellschaft und dem Kurs auf endlich zu realisierende Großmachtansprüche. Windelband sah 1907 das neue Problem deutscher Philosophie im entstandenen Weltanschauungsbedürfnis.18 Er fand einen Verfall der Philosophie nach der Periode des „deutschen Idealismus“ im Kraft-und-Stoff-Materialismus (Büchner, Moleschott, Haeckel) und im Pessimismus Schopenhauers mit dessen Konsequenz der Verneinung des (bei Schopenhauer vitalistisch gefassten) Willens zum Leben. Windelband schien es, die Rationalitätsparameter des primär methodisch konzipierten Marburger Neukantianismus reichten nicht mehr hin. So kam es zu dem eigentlich untauglichen Versuch, den methodisch gedachten transzendentalen Formalismus Kants zu einer materialen Philosophie umzubilden. In deren Zentrum rückte dann der Wertbegriff, und das war noch eine Vorstufe des Einbruchs einer durchgehend lebensphilosophischen und existenzialistischen, holistischen Strömung in der deutschen Philosophie. Denn der südwestdeutsche Wertbegriff ließ noch Bezirke methodischer Distanz zum empirisch Faktischen frei. 16 Der Bezug Existenzialismus – Schopenhauerscher Irrationalismus deutlich beim italienischen Existenzialisten N. Abagnano, Philosophie des menschlichen Konflikts, Hamburg 1957. 17 Es ist wenig bekannt, dass auch Marx die Ethik des Mitleids an Schopenhauers Pessimismus erfasste und anerkannte. Er hat sich 1867 darüber ausgesprochen, während seines Aufenthalts im Hause des Hannoveraner Arztes Kugelmann, wo er die Korrekturen zum ersten Band des Kapital las. 18 „Wir sehen uns umstürmt von einer Mannigfaltigkeit tief an die Wurzel des Lebens greifender Aufgaben. Durch unser Volk geht ein gewaltiges Sehnen; es ist in ihm etwas von dem Gefühl, über sich selbst hinauszuwachsen, ein Hinausstreben in noch Unbestimmtes und Unbekanntes ...“ (Windelband, Über die gegenwärtige Lage und Aufgabe der Philosophie, in: ders., Präludien, Bd. 2, Tübingen 1924, S. 3)

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Ganz anders erkannte Baumgarten den philosophischen Extrakt des von ihm als krisenhaft gesehenen endenden 19. Jh.s. Baumgartens Antinomik kam direkt von der Kulturkritik des europäischen Pessimismus her. Baumgarten erkannte den außerordentlichen Einfluss „dieser philosophierenden Schriftsteller“, wie er sagte. „Wie Schwerter durchdringen ihre scharf geschliffenen Worte den Harnisch veralteter Systeme und lassen deren innere Leere erkennen.“19 Er analysierte den rationalitätskritischen Gehalt und den verhängnisvollen elitären Gestus dieser modischen Literatur. Er beklagte, dass die besten Köpfe, die ohne Umschweife die Gegenwart als Krisis aussprachen, sich vom Liberalismus-Erbe der europäischen Aufklärung abwandten und einige von ihnen, wie etwa Nietzsche, die Zukunft abenteuernden Prospekten ausliefern wollten. Die philosophische Theoriebildung der Jahrhundertwende war von der Atmosphäre sich verdichtender sozialer und internationaler Widersprüche der industriellen Gesellschaft geprägt. Nietzsches Wirkung setzte ein, weil man hier das Empfinden ausgesprochen fand, eine ganze Welt, die friedlich ihre Fortschrittsillusionen träumte, entblöße doch nun ihre auf Massenbedürfnisse herabgekommene Nichtigkeit. Nietzsches Zukunftsbegriff ist eines seiner intensiven und durch die Schriften aller Perioden hindurchgehenden Themen. Die Botschaft lautete, dass ein aufreizendes und hochgefährliches europäisches Zeitalter anbreche, das einen neuen aristokratischen Typus des herrscherlichen Menschen und auf der Gegenseite eine zu verwaltende Masse erzeuge. Viel weiter als M. Weber vorausschaute zu einer entstehenden Verbindung von Industrialisierung, Diversifizierung der Aktivität der sozialen Klassen und neuartiger Bürokratisierung der zu demokratisierenden Gesellschaft, höhnte Nietzsche die liberale Ideologie und sprach verklärend den autoritären Charakter der sich ausformenden Industriegesellschaft aus. In durchaus traditioneller philosophischer Befangenheit rankte er seine aphoristische Doktrin um die Krise des liberalen Ehrbegriffes.20 Die beiden Leitmotive Nietzsches wurden von vielen deutschen Philosophen der ersten Jahrhunderthälfte in Schattierungen variiert: evolutionskritische Ordnungsmuster mit Vorbehalten gegen die Demokratie und deren sog. seelenlose Mechanik der Zahl, holistisch oder dezisionistisch formuliert, und zweitens die Kultivierung einer ästhetisch-intuitiven Innerlichkeit, die ihr Leiden an der Gegenwart mit Ausschlägen zu heroischer Willensemphase übertönt. Baumgarten erkannte am Pessimismus an, die Thematik des Leidens in den Blick gerückt zu haben; sowohl des Leidens in den sozialen Konflikten und, elementarer noch, an der Unbeständigkeit des gefühlshaften, zwischen Gewohnheit und äußerer Veränderung stehenden Menschen, letztlich an den Grenzen der Individualität überhaupt. Dieses geradezu archaische, aus der späthellenistischen Philosophie und Religion kommende Thema wurde mit der liberalen Anerkennung des bürgerlichen Individualitäts19 Der Weg, S. 51. 20 „Die physiologische Reinigung und Verstärkung. Die neue Aristokratie hat einen Gegensatz nötig, gegen den sie ankämpft: sie muss eine furchtbare Dringlichkeit haben, sich zu erhalten. Die zwei Zukünfte der Menschheit: 1) die Konsequenz der Vermittelmäßigung; 2) das bewusste Abheben, Sich-Gestalten. Eine Lehre, die eine Kluft schafft: sie erhält die oberste und die niedrigste Art (sie zerstört die mittlere).“ (F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, 4. Buch, in: Nietzsches Werke, 2. Abt., Bd. XVI, Leipzig 1912, S. 335)

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anspruchs verstärkt, und es wurde natürlich aus dem überlieferten religiösen Ort herausgelöst. Damit erst konnte es seine auf viele philosophische Strömungen ausgreifende Wirkung gewinnen. Baumgarten überschritt mit dieser lebensphilosophischen Zivilisationskritik den linearen Evolutionismus des positivistischen Empirismus des 19. Jh.s, doch um seinem altruistischen Eudämonismus Zug zu geben. Er meinte, dessen voranführende Kraft gründe darin, dass der Mensch Leiden immer überwinden wolle. Er könne es nur, indem er beim Handeln die Schranken seiner Individualität zu überschreiten beginne. Baumgartens Empirismus und Eudämonismus ergeben eine aktivistische und, als solche, eine sozial integrative Philosophie. Die Folge seiner Schriften zeigt, dass der altruistische Eudämonismus den qualitativ ausfächernden emanzipativen Bewegungen der Gegenwart aufklärerischen Geist zuzuführen vermag. Baumgarten öffnete dadurch die Evolution sich akkumulierender Zivilisationsprozesse den Katastrophen der wirklichen sozialen und politischen Vorgänge. Schopenhauers Pessimismus des Leidens aber stieg hier zum widerstrebenden Element auf, das den Weg des Menschen begleite. Baumgarten verband diesen Leidensbegriff mit der um die Wende zum 20. Jh. entstandenen Psychologie des Unbewussten für einen vertieften evolutionären Humanismus. Die Menschen suchen Glück und die Menschheit schreitet fort, weil sie das immer neu aufkommende Unheil überwinden will. Baumgarten führte den Eudämonismus der sensualistischen Tradition bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s zu neuem altruistisch-sozialen Gehalt. Daraus ging dann unter der Erfahrung, wie leicht die Oberschicht den liberalen Rechtsstaat in sozialen Krisen aufgibt, Baumgartens sozialistische Wendung zur damals noch vorhandenen politischen Arbeiterbewegung hervor. 3. Resultat: Aufklärerischer Eklektizismus Um die Voraussetzungen zusammenzufassen, die sich Baumgarten aus der Vermittlung zweier so unterschiedlicher geistiger Linien, eigentlich einander entgegenstehender kultureller Typen, schuf: Selbstständigkeit und die verdienstliche Unzeitgemäßheit dieser Philosophie ergeben sich aus deren eklektischer Eigenständigkeit. Das eklektische Element ist alter antidogmatischer, aufklärerischer Ehrentitel, wenn aus Schuldogmen und Systemdenken herausgetreten werden soll.21 Baumgarten blickte auf das aus drei preußischen Einigungskriegen hervorgegangene neue deutsche Kaiserreich, auf das die alteuropäische Gesellschaft erst wirklich zurücklassende 19. Jh., auf die Verwicklungen der 21 In seinem denkwürdigen Encyclopédie-Artikel Eklektizismus sagte D’Alembert: „Der Eklektiker ist ein Philosoph, der das Vorurteil, die Überlieferung, alles Althergebrachte, die allgemeine Zustimmung, die Autorität, ja alles, was die meisten Köpfe unterjocht, mit Füssen tritt und daher wagt, selbständig zu denken, auf die klarsten allgemeinen Prinzipien zurückzugehen, sie zu prüfen und zu erörtern, kein Ding anzuerkennen ohne das Zeugnis seiner Erfahrung und seiner Vernunft ...“ (Artikel aus Diderots Enzyklopädie, Leipzig 1972, Art. „Eklektizismus“, S. 321ff) D’Alembert richtete sein Urteil gegen den Dogmatismus der Schulphilosophien, da sich eine Gesellschaft ihrer inneren Konflikte und ihrer einsetzenden Umbildung bewusst zu werden begann. Es war Baumgartens Blick aufs bürgerliche Zeitalter in den Erfahrungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s.

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europäischen Staaten durch neuartige imperiale Ansprüche – und er hielt keine der philosophischen Arbeitsrichtungen für allein hinreichend, der eintretenden Konstellation gerecht zu werden. Das entsprach der Realität, da die bürgerliche Zivilisation in der ersten Jahrhunderthälfte in eine große Krisen- und wie experimentelle Auflösungsphase geriet, darauf aber in eine erstaunliche Konsolidierungsperiode eintrat; bis in die Gegenwart so weitgehend, dass sie ein wesentliches Resultat des 19. Jh.s, Entstehen und Entfaltung einer politischen Arbeiterbewegung, wieder aufzehrte. Baumgarten sah als deutscher Jurist und Philosoph mit geschärftem Fernblick vom freien Schweizer Eiland aus auf den Kontinent. Ein vom angloamerikanischen Pragmatismus und der kontinentalen Kulturkritik geprägter Eklektizismus war der vom deutschen akademischen Schulzwang der philosophischen Gedankenbildung am weitesten entfernte geistige Ort. Die historische Erfahrung verlief anders in Europa als in den Vereinigten Staaten und zum guten Teil auch als in Großbritannien.22 Das bedingte die verschiedenen Charaktere der amerikanischen und der kontinentaleuropäischen Philosophie. So konnte Baumgarten dem einfachen Problemlösungsdenken des Empirismus nicht folgen, ohne auf die europäische Erfahrung konvulsivischer sozialer und politischer Bewegung zu sehen. Ebenso wenig war eine evolutionistische Erfahrungsphilosophie den romantischen Abbiegungen zivilisationskritischer Wahrnehmungen anzuvertrauen. Baumgartens Verbindung von pragmatistischem Empirismus und Schopenhauerscher Antinomik löste vom zivilisationskritischen Denken die Last des elitären Konservativismus. Der Pragmatismus schärfte den Blick für die qualitativ neuen Möglichkeiten der industriellen Gesellschaft, um deren pazifizierende Varianten und soziale Gerechtigkeitsansprüche zu durchdenken. Er wies die holistischen lebens- und existenzphilosophischen Varianten kritischer Reflexion ab. Der ursprünglichste lebensphilosophische Pessimismus der Schopenhauerschen Aufklärungskritik ließ Baumgarten auf die Antinomien des Denkens und Verhaltens im sozialen Feld sehen. Baumgartens Eklektizismus spricht sich am direktesten in dessen Kritik des philosophischen Idealismus und des transzendentalen Dualismus aus. Er hielt dafür, die Schulphilosophien glätten die Erfahrung der Realität, führen die akademische Philosophie in reduzierten elitären Horizonten und schaffen dadurch affirmative Ideologien. Baumgarten gewann über die Aufnahme so unterschiedlicher theoretischer Motivstränge den weitesten geistigen Raum für sein immer experimentell offenes, wie er sagte: erfahrungswissenschaftlich gehaltenes philosophisches Denken. Es führte seine Rechtsphilosophie schon in den dreißiger Jahren zu den Grenzen sozialstaatlicher Einlassungen in den liberalen Rechtsstaat unter der Trias von Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie; Grenzen, die jetzt nach dessen Konsolidierung in den Lebensspannen von zwei Generationen eben wieder erreicht werden.

22 Das im 19. Jh. erfolgreichste kapitalistische Wirtschaftssystem brachte in England eine große sozialliberale Literatur hervor. Das setzte bereits mit dem Gesetz über die Fabrikinspektoren in den 50er Jahren des 19. Jh.s ein. In England hatte John Ruskin (1819 – 1900) von der sensualistischen Tradition her bereits seit 1870 die Entpersönlichung der Menschen durchs Industriesystem verurteilt. (Time and Tide, 1867). Der Reform-Sozialismus der Fabian Society (1883 gegründet, B. u. S. Webbs, Wells, Shaw) setzte das mit dem Genossenschaftsgedanken in der Arbeiterbewegung fort.

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Die einleitenden Überlegungen ergeben die Abfolge der einzelnen Themen bei der Darstellung der Philosophie Baumgartens: Erfahrungs- und Wahrheitsbegriff, Antinomik, einige Notizen zur Ästhetik, Moralphilosophie, Geschichtsphilosophie anhand der Philosophiegeschichte von 1945, Metaphysik.

II. Erfahrungs- und Wahrheitsbegriff 1. Empirismus Baumgartens Empirismus findet sich am besten skizziert in der Logik als Erfahrungswissenschaft. Studien zur Reform der Logik von 1939. Die Logik solle eine Methodenlehre sein und sich dafür den Methoden der Fachwissenschaften öffnen, um dadurch für sie Methodik der philosophischen Untersuchungen überhaupt dienen zu können. „Der Logiker hat sein Erfahrungsmaterial an den Wissenschaften, die er vorfindet.“ Ihr formaler Charakter bestehe darin, dass sie nicht auf die Gegenstände der Wissenschaften, sondern auf deren Verfahrensweisen gerichtet sei. Baumgartens Ziel ist, der Verselbstständigung der erkenntnistheoretischen Thematik entgegenzutreten, in der er die verkehrten Suprematieansprüche der Systemphilosophien ansetzen sah. Dafür entwickelt er die formale Logik als „allgemeine Wissenschaftslehre“.23 Beim richtigen Impuls bleibt die Fragestellung unfertig. Baumgarten umgeht den zeichenlogischen Formalismus, weil er ihn offenbar unterschätzt. Er hat sich bei seinen Pragmatismus-Studien kaum oder gar nicht mit Peirces Schriften befasst. Doch auch ohne das war eine Logik in den dreißiger Jahren nicht gut ohne Freges frühe Grundlegung des logischen Positivismus zu entwerfen. Peirce hatte den Symbolcharakter sprachlicher Zeichen darin gesehen, dass sie Träger von Bedeutungen sind und als intendiertes Interpretans Gegenstände, nicht „Objekte“ im Sinne realer „Dinge“ repräsentieren. Dazu gehörte für Peirce, dass es isolierte Zeichen im alltagspraktischen und im szientifischen Sinne nicht geben könne. Alle einzelnen Zeichen oder Zeichensysteme sind Bestandteile einer sequenziellen Menge von Zeichen. Der erfahrungswissenschaftliche Gesichtspunkt der Logik kann hier nur darin bestehen, dass bereits der zeichenlogische Ansatz einschließt, dass Zeichen schlechthin unendliche Reihen bilden. Worin kann dann der von Baumgarten so nachdrücklich befehdete Systemcharakter bestimmter Zeichengruppen oder Zeichenmengen bestehen? Natürlich nur darin, dass die sequentielle Reihe von Zeichen eine Ordnung dadurch erhält, weil sie auf eine bestimmte Summe von Bedeutungen, auf eine „Schlussfolgerung“ zulaufen soll. Es ist eine Bewegung der Zeichen, durch die die später eingeordneten als die Interpretanten der früheren dienen. Diese Konsequenz ist vor allem die Tendenz fachwissenschaftlichen Denkens, wie Peirce sagte: Jeder Gedanke müsse in einem anderen interpretiert werden. Daraus ergibt sich ein mit dem Empirismus durchaus verträgliches systemisches Erfordernis des philosophischen Denkens, und es steht mit dessen skeptizistischer Offenheit keineswegs im Widerspruch.

23 Logik, S. 1, 5, 43 u. ö.

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Baumgartens Weigerung, sich der zeichenlogischen Entwicklung des Empirismus anzuschließen, hat ihre Quellen in einer grundsätzlichen Schranke der ursprünglichen neuzeitlichen Erfahrungsphilosophie, die schon von Telesio und Bacon errichtet wurde. Philosophische Leitideen werden meist als Gegenthesen zu einer vorherrschenden Lehre formuliert, deren man überdrüssig zu werden beginnt. Der europäische Sensualismus des 16. und 17. Jh.s richtete sich zunächst gegen den scholastisch gedeuteten Aristotelismus, danach jedoch ebenso gegen die Ausdehnung der mathematischen Formalisierung von der Astronomie auf die terrestrische Physik. Der rhetorisch expressive Bacon glaubte, an der Galileischen Mechanik sogar Gefahren einer neuen Art von Scholastik zu bemerken. Der an der unmittelbaren Wahrnehmung haftende Erfahrungsbegriff war bei ihm mit zwei Zielstellungen verbunden gewesen: mit der Emanzipation des qualitativen Naturbegriffs von substanzialen Wesenheiten und mit dem direkten Bezug auf anwendungsorientierte Kenntnisse zur Umgestaltung der Natur und in der ferneren Folge zur Reform der Produktionsmethoden und Organisationsformen der Gesellschaft. Bacon hatte wohl einige Galileische Resultate zur Kenntnis genommen, die quantifizierende Methode der klassischen Mechanik aber abgewiesen.24 Der unfertige Gedanke war, dass reelle Erkenntnis aus materialen Bezügen gewonnen werde, Mathematik aber nur der formellen logischen Präsentation von Wissen diene. Es war eine unrichtige Auffassung, die Baumgarten in seiner Philosophie von 1927 wiederfindet. Das griff für die Verbindung von Präzision und Universalität der Erkenntnis zu kurz, zwei Aspekte, ohne die die massenhafte Anwendung wissenschaftlicher Daten nicht möglich ist. „Ontologisch“ liegt die Unterschätzung der schon vom Platonismus und in der frühen Neuzeit von N. v. Kues untersuchten Infinitesimalen des unendlich Kleinen zu Grunde, das Teil der realen „Dinge“ sein solle, nur nicht wahrnehmbar sei. Das unendlich Kleine „ist“ Relation, und deren nur mathematisch darstellbare, nicht sinnlich wahrnehmbare Realität ist der Prozess. Baumgarten verfolgte in seiner Erkenntnistheorie konsequent die von Bacon herkommende und von J. St. Mills Induktionslogik erneuerte Auffassung der Zahl als einer begriffslogischen Abstraktion gleich anderen Abstraktionen wie Farb- oder Tonunterscheidungen. Der ungenügende Gedanke war, dass mathematische Formeln nicht einmal Sachverhalte, sondern geradezu empirisch wahrnehmbare „Tatsachen“ aussprächen.25 Bei Baumgarten war, wie in der ganzen psychologischen Umbildung der aristotelischen metaphysischen Logik, das Grundverhältnis von Dingen und deren Eigenschaften erhalten geblieben. Die mathematische Formalisierung verließ dieses wahrnehmungsverhaftete Muster durch den Relationsbegriff. Erst damit ist das Modell von universeller Gattung und einer Mehrheit ihr zugehörender Einzeldinge überschritten. Baumgarten hielt mit seinem sensualistischen Empirismus an der psychologischen Begründung logischer Universalisierungen fest. Es waren Konzentrations- und Wiederholungsleis24 Vgl. F. Bacon, Neues Organon, Buch II, Art. 8, 36, 39, 46, 47 u. ö. 25 Vgl. E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, Kap. 4. Für Mill stelle der Satz 3 – 2 = 1 keine Definition mit Hilfe von Symbolen dar, „sondern er berichtete von einem empirischen Tatbestand, den unsere räumliche Wahrnehmung uns bisher stets in derselben Weise dargeboten hat.“ (S. 36)

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tungen. Das hält die Abstraktion bei Gedächtnisfähigkeiten fest. Die mathematischen Grundbegriffe des Punktes, der Linie usf. sind nicht auf diese Weise zu gewinnen. Logische Konstruktionsleistungen sind nicht als psychologisch kompliziertere Verdichtungen von empirischen Wahrnehmungen darzustellen. Es handelt sich um freie symbolische Konstrukte. Konnte das Mill und Baumgarten nicht einleuchten? Zweifellos. Sie bestritten es auch nicht. Aber sie setzten es mit dem praktischen Interesse ihres Empirismus zurück. Sie waren damit nicht allein, sondern die Logik-Lehrbücher der Zeit, etwa Wundts, Erdmanns, Sigwarts Standardwerke, legten die traditionelle Gattung-Art-Struktur der Begriffsbildung zu Grunde. Eine Vielzahl von Eigenschaften lasse sich in Pyramiden zu immer allgemeineren Gattungsbegriffen ordnen. Das behielt, wenigstens auf dem naturwissenschaftlichen und technischen Stand der Jahrhundertwende, auch noch seinen pragmatischen Wert. Innerhalb dieser logischen und wissenschaftspraktischen Situation dachte auch Baumgarten. Er verband damit seine Kritik des epistemologischen Dualismus, also insbesondere des Neukantianismus. Er dehnte das auf die Beurteilung der Leistung der Mathematik im Bildungsprozess der Rationalitätskultur aus.26 Der eigentliche Vorbehalt, den Baumgartens psychologische Begründung des Erkenntnisproblems und des Empirismus überhaupt im Auge hatte, bestand darin, dass der Gegenstand des konstruierenden Geistes in der produzierenden Tätigkeit aufgehe, und dass damit letzten Endes das Subjekt sich selbst in die Prozesse seiner geistigen Prozeduren auflöse. Das handelnde Subjekt aber sei nur als wahrnehmbar tätiges und so auch nur als sozial kooperierendes zu denken.27 Um mit Baumgartens philosophischer Basis-Thematik zu sprechen: Es geht um die Antinomien des Bewusstseinsbegriffs. Dem sensualistischen Empirismus liegt eine elementare induktionistische Logik zu Grunde. Diese bindet den Bewusstseinsbegriff an den wahrnehmungs- und unvermittelt erfahrungsorientierten Selbstbewusstseinsbegriff. Das wissende Subjekt soll den Anschluss an das sich selbst wissende behalten, und das wird aufs konkrete Subjekt bezogen. Der Geringschätzung der mathematischen Symbolbildung für die Universalisierung von Bedeutungen liegt eine Zurücksetzung der industriell-technischen Realität der Naturwissenschaften zu Grunde. Der sensualistische Pragmatismus ging von den moralisch-intellektuellen Qualitäten des selbstreflexiven Subjekts aus, und er suchte, wie es in der deutschen Philosophie neben Baumgarten L. Nelsons psychologischer Kantianismus oder auch H. Cornelius vertraten, die Anwendung der philosophischen Rationalität auf die moralischen, rechtlichen und sozialen Bereiche der Gesellschaft zu befördern. Dafür eignete sich die naturwissenschaftlich26 In seiner Kritik des Cassirerschen Funktionsbegriffs betont er den mühevollen Prozess realer Erkenntnis: „Um zur Substanz zu gelangen muss man die Erscheinungen zum Stillstand zwingen ... Das mathematische Denken dagegen bewegt sich ruhelos an den Erscheinungen hin, nur ihre oberflächlichen Beziehungen flüchtig erfassend.“ Es gelte eben darum für den Prototypus der Erkenntnis. In Wahrheit sei „es kaum mehr etwas Geistiges und eher etwas rein Mechanisches.“ (Erkenntnis, S. 453) 27 „Die wissenschaftliche Methode besteht ... in einem Arrangement, einer Gruppierung von Erfahrungselementen, die zur Einsicht in gesetzmäßige Zusammenhänge anregt.“ (Erkenntnis, S. 640)

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technische Methodik weit weniger als die psychologische, an der sich der Sensualismus orientierte. Baumgarten sah hinterm mathematischen Methodenideal den epistemologischen Dualismus.28 Der Apriorismus aber erschien ihm mit seiner Theorie des reinen Sollens als eine autoritäre Entmündigung des sich selbst bestimmenden Menschen durch Gehorsamsimperative. Das entsprach durchaus Tendenzen der damaligen Kant-Ablehnung in der angloamerikanischen Philosophie. Baumgartens Kant-Kritik fiel drastisch aus. Der Kantianismus erschien ihm als das Muster einer offiziösen Ordnungsethik. Er übersah dabei auch die Rolle der neukantianischen Bewegung in der Geschichte des deutschen Sozialliberalismus. „Was der Kantschen Ethik die ungeheure Durchschlagskraft verliehen hat, ist nicht ihre transzendentallogische Begründung, sondern ihre Übereinstimmung mit der Staatsmoral.“ „Wenn eine Philosophie, wie dies für die Kantsche zutrifft, die Pflicht inhaltsleer lässt, dann liefert sie den Einzelnen den Mächten aus, die die Regelung des äußern gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmen.“29 Was an Kant gesucht und gefunden werde, das sei die innere Gehorsamsbereitschaft. Unbefriedigend blieb Baumgartens Verwechslung der intellektualistischen methodischen Funktion des kategorischen Imperativs mit einer die herrschenden Mächte bedienenden materialen Pflichtenethik. Ansatzpunkt sensualistischer Kant-Kritik kann nur die Abwertung des empirisch interessehaften Verhaltens im Konzept der reinen praktischen Vernunft sein. Auf der Gegenseite war Kants Verurteilung des erkenntnistheoretischen und moralischen Sensualismus an den produktiven Aspekten des Empirismus vorübergegangen. Kant suchte die Frage nach der synthetischen Funktion einer Reihe von Vorstellungen, die natürlich nicht Element dieser Reihe sein könne, nicht induktionistisch und prozessgerichtet, sondern durch den Apriorismus zu lösen. Er setzte dann freilich ebenso polemisch den Erkenntnisvorgang beim Empirismus zu einer „Rhapsodie von Wahrnehmungen“ herab.30 2. Juridische Muster der Theoriebildung Der traditionelle sensualistische Skeptizismus wurde von Baumgarten im Sinne eines immer zu korrigierenden aktiven Gestaltungsanspruchs interpretiert. Seine Fassung des Empirismus ging deutlich auch aus einem juridischen Modell des „Subjekt-Objekt“Verhältnisses hervor. Es konzentrierte wohl auf methodisch gesetzte Strukturen. Aber sie waren noch vom psychologischen Analysedenken her zu konstituieren. Hier gab es dann auch durch die Verbindung von Positivität und Geltungsanspruch der Rechtssätze 28 „Es ist die Identitätslogik ihres Anspruchs ... für verlustig zu erklären und durch eine konkrete Logik zu ersetzen, die nichts anderes ist als das Vertrauen in die Fähigkeit des menschlichen Geistes angesichts des Tatbestandes, den er vorfindet oder sich selbst gibt ...“, die Widersprüche zu überwinden oder in Kauf zu nehmen. (Der Weg, S. 406) 29 Ebd., S. 68. 30 „Die Möglichkeit der Erfahrung ... beruht auf einer Synthesis nach Begriffen vom Gegenstande der Erscheinungen überhaupt, ohne welche sie nicht einmal Erkenntnis, sondern eine Rhapsodie von Wahrnehmungen sein würde ...“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. III, Berlin 1904, S. 144)

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keine Trennung von Theorie und Praxis. Unter der rationalen Formbildung nach dem Muster der Rechtssetzung war noch eine emotionale Ebene auszumachen. Gerade hier legte Baumgarten durch die Ich-Du-Kommunikationen die Grundlage für eine pragmatistische Überschreitung der für sich stehenden, empirisch-dinghaft genommenen Subjekt-Objekt-Relation. Wirklichkeit erscheint dann primär als eine Funktion der individuellen und sozialen Handlungsformen, die ihrerseits von den elementaren Sollensgeboten der Bedürfnis- und Willensdetermination bestimmt sind. Hinter den unmittelbar praktischen Handlungszielen stehen weitergreifende Sinnansprüche des Handelns, die Bezirke von Glaubensintentionen abstecken und die Sinnfragen der empirischen Zweckhandlungen betreffen. Baumgarten sah am mathematischen funktionellen Relativismus von Subjekt und Objekt ein Verschwinden der sinnlich-geistigen Gestaltungsweisen der Realität des Menschen. Baumgarten dachte auch hier als Jurist. Das ließ ihn philosophische Theorien nicht nur auf die akademische Elite beziehen, sondern für eine empirisch reale Bevölkerung bedenken. Der Jurist muss ein Gesetz oder ein Urteil für die große Masse der Fälle bestimmen. Auf die Geltung philosophischer Sätze übertragen, ergab das deren Universalisierungsgebot für eine öffentlich-praktische Geltung. In diesem genauen Sinne meinte er, neues Licht falle „auf die vulgäre, von den Philosophien von alters her verachtete Ansicht, dass die Wahrheit eines Satzes davon abhängt, ob er bei der Mehrheit der Menschen Zustimmung findet oder nicht.“31 Auch in einer zweiten Richtung ist die Methodik der Bildung von Rechtsbegriffen und Gesetzesnormen zu erkennen. Der Rechtsspruch hat von empirischer Tatsachenfeststellung zur Bildung des juristischen Sachverhalts zu gelangen. Ein Prinzip ausmittelnder Sachlichkeit für alle gleichen Tatsachen sicherte und beförderte durch die empirisch-psychologische Ebene des Wissensbegriffs hindurch den geschmeidigeren Handlungsbegriff der Rechtshandlung. Dem Recht kann es nicht nur um die sog. reine Tatsache gehen. Die psychischen Umstände der Einsichts- und Willensbildung, aus dem ein Handlungsverlauf hervorgeht, gehören zur Bestimmung eines rechtlich relevanten Sachverhalts dazu. Damit war auch das philosophische Konstrukt einer an sich seienden Wirklichkeit obsolet. Hinzu tritt die ursprüngliche psychologische Argumentation des sensualistischen Empirismus, die in der Rechtsanwendung ihren Platz behauptete. Das betrifft zunächst das zentrale Anliegen der sensualistischen Erkenntnistheorie überhaupt, die Methodik der Überzeugungsbildung. Die psychologischen Aspekte der Wissens- und Überzeugungsbildung gestatteten, den allmählichen, unter verschiedenen Umständen variierenden, Prozess der Bildung von Einsichten herauszustellen. Schließlich führen die psychologischen Aspekte einer Straftat zur Konzentration auf die Beziehung zwischen Täter und Opfer. Die zu schützenden Besitz- und Rechtsordnungen traten in Baumgartens antiautoritärem psychologischem Schuldstrafrecht erst als akzidentielle Rechtsgründe hinzu. Das öffnete den Blick auf die konkreten individuellen Umstände nicht nur einer strafbaren Handlung. Die soziale Realität wird von der emotionalen Sphäre aufwärts zu allen Verästelungen als Relation zwischen Handlungsintentionen von Individuen und Gruppen gesehen.

31 Der Weg, S. VII.

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3. Empiristischer Erkenntnisbegriff im handlungstheoretischen Horizont Man könnte fast sagen, der Feuerbachsche anthropologische Ausgangspunkt der IchDu-Relation kehre wieder und mit ihm Bacons Losungswort von den „sicheren Grundlagen einer alles umfassenden und wohldurchdachten Erfahrung“ (in der Widmung zur Instauratio magna, 1620). So meinte Baumgartens Empirismus wieder Freiheit von den geltenden Denkmustern, Welthaltigkeit des Denkens und der menschlichen Willensbestimmung. Das theoretisch Interessanteste des sensualistischen Empirismus, den Baumgarten im 20. Jh. festhielt, weniger direkt des neueren logischen und sprachphilosophischen Empirismus, dem Baumgarten auswich, ist der mitgesetzte Evolutionismus. Skeptizismus, Relativismus bis zum Pluralismus, Pragmatismus der Verifikationskriterien, der aufs anhaltende Procedere argumentativer Konsensbildung gerichtet war, nicht auf Hierarchien unbedingter Wahrheiten, dazu der Abweis lebensphilosophischer und holistischer Verbrämungen von partikularen Interessen charakterisierten den ursprünglichen und so wieder den Baumgartenschen Empirismus. Sie verliehen noch bei ihm der empiristischen Emphase der Nüchternheit den Glanz des Bekenntnisses. Im Zentrum stand die Verbesserung des bestehenden Lebens durch den Menschen selbst. Arbeit wurde verstanden nicht nur als Verausgabung von Muskel, Nerv und Hirn an die Gegenstände für den Lebenserhalt. Sie veränderte den Menschen selbst, indem sie die gesellschaftliche Lebensweise als dessen eigentliche Umwelt umschafft.32 Nicht nur der qualitative Gebrauchswert des Erzeugten war der Stützpfeiler sensualistischen Erbes. Die Bestätigung des Menschen in den Formen sozialer Aktion bildete den handlungstheoretischen Akzent des Pragmatismus. Bemerkenswert ist, wie sehr Baumgarten innerhalb der Prämissen des klassischen Empirismus blieb: Die einander bedingenden Konstanten aller schöpferischen Aktivität seien Leidvermeidung und Glücksvermehrung. Bemerkenswerter wurde, welche philosophischen und juristischen Anstöße er daraus im 20. Jh. zu gewinnen vermochte. Kants Verurteilung des erkenntnistheoretischen und moralischen Sensualismus war an den produktiven Aspekten des Empirismus vorübergegangen. In der Moraltheorie sei das Individuum vom Sensualismus der Freiheit beraubt und von natürlichen Antrieben determiniert, wie die mechanische Kausalität eines aufgezogenen Bratenwenders.33 Doch das originäre Problem des Empirismus bestand in der Steigerung des Menschen durch 32 Der Selbstklärungsprozess der Aufklärung war immer eine Konkretisierung der perfektibilistischen Anthropologie gewesen. Gegen Rousseau hatte A. Ferguson für sein Programm der History of civil society (1767) gesagt: „Wenn wir zugeben, dass der Mensch der Verbesserung fähig ist und in sich selbst das Prinzip des Fortschritts und den Wunsch nach Vollendung trägt, erscheint es unrichtig, zu sagen, dass er seinen Naturzustand verlassen habe, als er anfing fortzuschreiten ...“ (A. Ferguson, Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Jena 1923, S. 11) 33 „... wenn die Freiheit unseres Willens keine andere als ... etwa die psychologische und komparative, nicht transzendentale, d. i. absolute, zugleich wäre, so würde sie im Grunde nichts besser als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet.“ (Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. V, Berlin 1908, S. 96)

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Selbsttätigkeit und in der sich mit dieser ausbildenden intellektualistischen Selbstreflexion. Der Blick richtete sich auf das noch nicht Seiende, aber real Mögliche. Der Eudämonismus als ein Flügel des Utilitarismus verstand und versteht den Menschen als Glückssucher. Er fixierte methodische Schritte, die von der diffusen Lebenspraxis zuerst zurückgehen auf feststellbare analytische Elemente, um danach genetisch aufzusteigen zu den spezifischen Leistungen des Menschen im kulturellen Selbstverständnis; ein phänomenologisches Vorgehen. Baumgarten hatte darum den deskriptiv-gegenständlichen Einsatz der Husserlschen Phänomenologie sehr anerkannt. Husserl habe ihn dann mit der eidetischen Wesensschau verlassen. Kant setzte mit den Sätzen a priori seiner Metaphysik transzendentallogisch ein und suchte dann die Vermittlung mit den konkreten Vorgängen.34 Der Empirismus war und ist eine Weltanschauung großer innerweltlicher Erwartung. Das hat doppelten Bezug, einen aufs objektive Geschehen, einen zweiten auf die Aura, die den aktiven Menschen umgibt. Baumgarten selbst hätte wohl von seinem Empirismus mit einer Zeile aus einem Gedicht Ricarda Huchs, die der Familie Baumgarten befreundet war, sagen können: „Vergäß ich, daß es Sehnsucht gibt, erfüllter Wünsche Wonne; Ein Blindgeborner wär ich dann!“35 Baumgarten öffnete die produktive Spannung, die der Empirismus bei der normativen Begründung von Handlungsperspektiven enthält. Erfahrungsphilosophie legitimiert die empirischen Interessen der alltagspraktisch agierenden Individuen. Sie überschreitet die Sanktionierung der unmittelbaren Existenz durch zwei Unwägbarkeiten. Das konkret erlebte Interesse ist das individuelle, aber es ist Gegenstand der Erfahrung als Vermittlung der Interessen Unterschiedener. Das Allheitsgebot ergab sich aus der blanken naturalistischen Fassung eines Individuums überhaupt als eines Bauelements im Selbstverständnis der bürgerlichen Produktions- und Verkehrsform. Werden bestimmte Eigenschaften wie Glücksstreben, Selbstreflexion, zukommende Würde jedem Menschen zuerkannt, so wird die soziale Ordnungsproblematik permanent. Der anhaltende Blick auf die Ordnungsverantwortung einer freien Öffentlichkeit als eines prozessimmanenten Regulativs ergab sich aus der empiristischen Konzentration des Geistes auf die Lernvorgänge und die konsensuale Überzeugungsbildung. Das Gegengewicht zur Zerteilung und Verdinglichung der Lebenssphären bestand in der praktischen eudämonistischen Potenz der Individuen, die auf Grund der kooperativen Erfordernisse erhalten werde.36

34 Kant hatte nur in seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785) einen phänomenologischen Aufstieg durch drei Stufen dargestellt: vom Verhalten nach unvermittelten Antrieben über die Führung gemäß jeweiligen pragmatischen Reflexionen schließlich zum kategorischen Imperativ. Das war bei Kant nicht als eine genetische Phänomenologie der Bewusstseinsformen gedacht gewesen, sondern nur als eine methodische Demonstration der Unentbehrlichkeit des moraltheoretischen Apriorismus. 35 R. Huch, Zu sehr hab ich das Herz geliebt, in: Dies., Herbstfeuer. Gedichte, Leipzig 1944, S. 6. 36 Das ist nicht der romantische Aus- und Abweg aus den Komplikationen der Emanzipation der Individuen. Die romantische Obsession gegen die Schrecken der Ökonomisierung der Moral sah im bürgerlichen Zeitalter den Rückweg zur antiken moralischen Exklusivität der Stände versperrt, wie sie sich in Pindars Oden klassisch verteidigt gefunden hatte. Die katholische Teilung in authentische Führer und Laien, die das Konvertitenwesen im frühen 19. Jh. verführerisch werden ließ

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Hier tritt die folgenreiche Spannung der Erfahrungsphilosophie ein. Denn das Interesse der Person und die Vermittlung der Interessen aller Personen sind nur Mittel, nicht Zweck. Ziel ist Glück, nicht das Paradies. Baumgartens Empirismus entwarf die psychische und moralische Struktur einer Zivilisation assoziierter freier Produzenten, deren materielle Reproduktion zunehmend zu einem partikularen Lebensbezirk werde. Wie Bloch und auch die frühe Frankfurter Schule dachte Baumgarten, dass sich ein neues „System der Bedürfnisse“ im alten der marktgesteuerten Subjektivität heranbilde und dieses schrittweise überschreite. Diesem Empirismus fehlte noch das Korrektiv des nicht gewohnheitsgeprägten kollektiven Erfahrungshandelns, das dem diachronischen Element der Willensbestimmung zugehörte.

4. Der Wahrheitsbegriff a) Die pragmatistischen Prämissen. „Diskurse“ Die erkenntnistheoretischen Passagen in Baumgartens Erkenntnis. Wissenschaft. Philosophie (1927) und die erkenntnistheoretische Schrift von 195737 geben die Fragestellung des empiristischen Erkenntnis- und Wahrheitsverständnisses gut zu erkennen. Wie der zu Anfang des 20. Jh.s neue pragmatistische Empirismus verließ auch Baumgarten das Agnostizismus-Element des frühen Sensualismus. Erfahrung und Natur seien nicht einander fremd zu denken. Diese, wenn man so will, ontologische Voraussetzung der ganzen Fragerichtung war von James vorbereitet worden. James’ Psychologie enthielt (F. Schlegel 1808, A. v. Droste-Hülshoff 1840), stellte nur eine partielle Gegenwelt zur Verfügung und der interne Charakter dieser konservativen Gegenöffentlichkeit erwies sich zunehmend als überfordert. Der Rückzug in eine reine, aber emotional und rationalitätskritisch gefasste Innerlichkeit wurde zum generalisierungsfähigen Ausweg, die Zerrissenheit des kapitalistischen Fortschritts zu bezeichnen und zugleich ohne Blick auf eine höhere Zivilisationsform zu „verwinden“. „Nichts ist mehr Bedürfnis der Zeit, als ein geistiges Gegengewicht gegen die Revolution, und den Despotismus, welchen sie durch die Zusammendrängung des höchsten weltlichen Interesses über die Geister ausübt. Wo sollen wir dieses Gegengewicht suchen und finden? Die Antwort ist nicht schwer; unstreitig in uns, und wer da das Zentrum der Menschheit ergriffen hat, der wird eben da zugleich auch den Mittelpunkt der modernen Bildung und die Harmonie aller bis jetzt abgesonderten und streitenden Wissenschaften und Künste gefunden haben.“ (F. Schlegel, Fragmente, zit. n.: O. Spann (Hg.), Die Herdflamme, Bd. 8: Gesellschaft und Staat im Spiegel der deutschen Romantik, hg. v. J. Baxa, Jena 1924, S. 55) 37 Baumgartens letztes veröffentlichtes Buch fasste Vorlesungen zusammen, die er an der Babelsberger Verwaltungshochschule gehalten hatte. Es resümierte seine früher bereits dargelegte sensualistisch-pragmatistische Erkenntnistheorie und auch deren empiristischen Wahrheitsbegriff. Die damals obligate marxistische Abbildtheorie wies Baumgarten ab. Aber die Übereinstimmung zwischen Pragmatismus und Marx’ materialistischem Erkenntnisbegriff – insbesondere die Idealismus-Kritik – geht tatsächlich so weit, dass die Schrift nur maßvolle Kritik erfuhr. Sie zeigte auch bei der erkenntnistheoretischen Thematik die Verankerung des Marxismus im Strom des europäischen Empirismus.

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eine Darwinsche Voraussetzung. Die elementare Ebene des Erkenntnisproblems sah er darin, dass wir als ein materialer Organismus in der Umwelt stehen. Das „Ich“ ist sensualistisch zunächst nur in Verbindung mit dem Leib zu denken. Wir erleben die Welt immer als mit unserem Körper verbundene „Subjekte“. Das richtete sich bei James gegen den Seelenbegriff der rationalistischen Psychologie, also gegen Reservate einer reinen Innerlichkeit. Es ging aber auch über die Assoziationspsychologie hinaus. Nicht die für sich genommenen organismischen Wahrnehmungsqualitäten ergeben den Einstieg in die Thematik. Alle psychischen Komponenten – Wahrnehmungen, Antriebe, Gefühl, Wille, Sprechakte mit erweiterten Geltungsansprüchen – sind in der einfachsten Schicht Instrumente zur Orientierung und Gestaltung, und insofern zur Beherrschung der Umwelt.38 Baumgarten verstand „Geist“ als eine methodisch kristallierende Funktionsweise sozialer Interaktion. Das hob nicht den Unterschied, aber den philosophischen Dualismus von physischer und idealer Welt auf. Erfahrung war dann sehr wohl eine Folge sich verändernder Bedeutungen, die nach den Kriterien optimaler, nicht absoluter Zweckerfüllungen vollzogen wurde. Die meisten deutschen Philosophien jener Zeit ignorierten den konstruktiven pragmatistischen Erfahrungsbegriff, dass Erfahrung von kommunikativen Akten des gesellschaftlichen Verkehrs beeinflusst sei. Baumgarten zielte auch beim Wahrheitsproblem darauf, die idealistische Isolierung theoretischer Leistungen im kulturellen Selbstverständnis zurückzuweisen und mit einem „relativen Realismus“, wie er es nannte, einen Denkstil kommunikativer Offenheit gegenüber neuen Erfordernissen zu formulieren. Das Wahrheitskriterium der Erfahrungsbewährung enthielt mit der Praxisorientierung zugleich die Postulate der ausweisbaren Rationalität, der Mitteilbarkeit und der Aufrichtigkeit.39 Von dieser Basis aus gelangte auch Baumgarten zur pragmatischkommunikativen Ebene des Erkennens. Den relativen Realismus verstand er als methodische Operation, dass Erkennen die Repräsentation der „Wirklichkeit“ darstelle. Das Wirkliche „ist“ real so, wie es uns erscheint, und ist zugleich mehr als das. Der Realismus der direkten sinnlich-geistigen Repräsentation ist bereits dadurch zu belegen, dass es sonst keine Entwicklung der Zivilisation hätte geben können, denn auf den geschichtlich frühen Stufen verfügte man nicht über Fachwissenschaften. Jede Erkenntnis schlechthin nehme eine Symbolbildung vor. „Wenn die menschliche Erkenntnis nicht vollkommen adäquat ist, dann nehmen letztlich alle Dinge einen symbolhaften Charakter an ...“40 38 „Unser Wörterbuch beruht wohl im wesentlichen auf der Stellungnahme des handelnden Menschen zu der Welt, in die er hineingeboren ist. Diese Stellungsnahme hat bei aller Vielheit der Bedürfnisse der menschlichen Natur etwas Einheitliches, Ganzheitliches.“ Aus solchen zusammenfassenden Aufmerksamkeitsrichtungen gingen die „Ideen“ hervor, die verschiedene Sondersprachen konstituierten und über die alltagspraktische Sprache hinausgingen. (Baumgarten, Wissenschaft und Sprache (1935), in: ders., Rechtsphilosophie auf dem Wege, a. a. O., S. 191f.) 39 Eine zusammenfassende Darstellung der Thematik bei J. Habermas: Wahrheitstheorien, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 127-183. 40 Erkenntnis, S. 58.

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Der Symbolcharakter bedeutete für Baumgartens betont sensualistische Fassung solchen Neorealismus zugleich, dass Zahl- und Wortzeichen bereits von unserer unterbewussten Verbindung mit der Außenwelt her eine ursprüngliche Beziehung auf zählbare und benennbare Gegenstände besäßen. Die Verschiedenheit von euklidischer und nichteuklidischer Raumlehre, die durch die Relativitätstheorie aktuell geworden war, widerlegte ihm nicht die relative Adäquatheit der natürlichen Raumauffassung. Sie gelte für weite Orientierungsbereiche. Baumgarten kannte nicht H. Reichenbachs Philosophie der Raum-Zeit-Lehre (1928), die ein Jahr nach seiner Grundlegung der Philosophie erschienen war. Reichenbach hatte gegen den Apriorismus reiner Anschauung, wie gegen eine Mehrzahl unanschaulicher Weltbegriffe, die Bindung aller Anschauung an zu Grunde liegende Wahrnehmungserlebnisse vertreten. Mit sensualistischer Konsequenz sagte er, die Allgemeingültigkeit unseres Sehraumes sei durch die kulturelle Erziehung verursacht. Auch die nichteuklidischen Geometrien würden mit der Zeit „Wahrnehmungserlebnisse“ ausbilden, „die uns zum anschaulichen Sehen nichteuklidischer Beziehungen hinführten. Wenn wir diesen Weg gingen, so gingen wir damit nur den Weg nach, den die menschliche Anschauung in ihrer natürlichen Entwicklung gegangen ist.“41 Baumgarten wollte den Symbolgedanken in dem Sinne verstanden wissen, dass sich die natürlichen Wahrnehmungen vor den diese interpretierenden logischen und mathematischen Symbolisierungen als feste Basis der allgemeinen, wie der fachwissenschaftlichen Weltauffassung auszeichneten. Baumgarten behandelte an dem nur für den ersten Augenblick selbstverständlichen intersubjektiven Gehalt von Aussagen und Behauptungen einige philosophische Probleme, die manche seiner Fragestellungen als recht modern erkennen lassen. Er führte den pragmatistischen Ansatz zunächst zur immanenten Tendenz der Bildung idealer geistiger Einheiten. Alle Sprachen tendierten, wie bereits die alltagspraktische des täglichen Lebens, zu bestimmten Weltanschauungen, also zu einer allgemeinen lebenspraktischen Weltanschauung mit durchaus diffusen Umrissen, zu einer juristischen Weltanschauung, einer bestimmten naturwissenschaftlich Weltanschauung gemäß einer dominierenden Fachdisziplin und anderen systemischen Anschauungen von je eigenen fachwissenschaftlichen Kunstsprachen her. Darin erkannte Baumgarten auch das, was heute unterm Terminus „Diskurs“ in aller Munde ist. Sprechakte bilden Kommunikationsprozesse, in denen handlungsbezogene Erfahrungen in verschiedene Grade von Geltungsansprüchen gebracht werden. Doch das erfolgt in je spezifischen Bereichen, innerhalb deren bestimmte Ansprüche von Behauptungen mit spezifisch zubereiteten Begründungen ausgetauscht werden. 41 H. Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre, Braunschweig 1977, S. 108. Unter den erkenntnistheoretischen Positionen seiner Zeit ging Baumgarten außerdem zusammen mit H. Maier, Philosophie der Wirklichkeit, T. 1: Wahrheit und Wirklichkeit, Tübingen 1926, auf den er sich bezog. Vor allem aber stimmte er überein mit R. Hönigswalds vorzüglicher Schrift Grundfragen der Erkenntnistheorie, Tübingen 1931, die er wahrscheinlich nicht kannte. Die Kritik des Neukantianismus und der Phänomenologie verlaufen gleich, ebenso die positiven Aufstellungen, dass Gegebenheit Gegenständlichkeit bedeute, diese aber ein reales Gefüge des gerade gegebenen Gegenstandes. (Hönigswald, S. 44f)

II. ERFAHRUNGS- UND WAHRHEITSBEGRIFF

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Mit dem Diskurs-Aspekt verband Baumgarten zwei andere erkenntnistheoretische Überlegungen. Die verschiedenen Sprachen erweisen das Erkenntnisproblem als ein praktisches kulturelles Phänomen. Es geht nicht um Geistesakte, sondern um im Ganzen unbewusste Vorgänge „der Sprache als eines kollektiven, keineswegs ausschließlich im Bewusstsein verlaufenden historischen geistigen Prozesses.“42 Das erkenntnistheoretische Wahrheitsproblem konzentriere sich im experimentell-praktischen Procedere. Es komme darauf an, Sätze zu gewinnen, die mit einer hinreichenden Summe von Erfahrungen legitimiert würden und dadurch qualifiziert seien, dem Handeln neue Möglichkeiten zu eröffnen. Die Betonung der Erfahrung richtete sich gegen Intentionen, die mit äußerlich bestechenden Begründungen operierten. Baumgarten bewahrte die Tradition der Vorurteilskritik. Er hielt eigentlich an den Grundgedanken des dogmenkritischen klassischen Skeptizismus fest, wie er ja auch dessen psychologische Argumentationslinie weiterführte.43 Das schloss ebenso die einfache Evidenztheorie aus, also Wahrheit nach innertheoretischen Kriterien in die Übereinstimmung der Vorstellungen untereinander zu verlegen. Baumgarten sah hier einen zweiten Gesichtspunkt der praktisch und darum auch historisch orientierten Erkenntnisthematik. Im Procedere der Begriffsbildungen formen sich fachspezifische Weltsichten. Das gibt eine unbewusste Tendenz zu einer je nach Sondersprache bestimmten Idee aller theoretischen Aufstellungen eines kulturellen Zweiges zu erkennen: eine Idee aller Rechtsordnungen, die Idee aller moralischen Tugenden im Gedanken der Weisheit, aller physikalischer Formeln in der Zusammenfassung einer Weltformel usf.. Das eigentliche intelligible Wunder der verschiedenen Sprachen bestehe in dieser Potenz von Idealität, dass sich mit dem nicht bewusst gesetzten sprachlichen Material z. B. „jede innerhalb der Grenzen der Vernunft liegende Rechtsordnung mit ihrer Hilfe konstruieren ließe.“44 Baumgartens Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, nicht so sehr verschieden von T. Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), wie es scheinen mag, dass die Erkenntnisprozesse als Sprachbildungs- und -umbildungsvorgänge auf ein nie zu realisierendes, aber latent mitgehendes Ideal in den einzelnen Wissenssektionen tendierten. In dieser realen Tendenz sah Baumgarten eine wesentliche Ursache spekulativer Setzungen, die sich zu idealistischen Weltanschauungen ausformen. Hier kehrte das Perfektibilitätsprinzip des aufklärerischen Sensualismus wieder. Baumgarten dachte die Kommunikationsgemeinschaft von deren pragmatischem Gehalt her unter evolutionärem zivilisationsgeschichtlichem Horizont.

42 Erkenntnis, S. 199. 43 Wäre die Verehrung der Vorurteile einmal abgetan, „so könnten wir hoffen, eine Lehre oder ein System von Anschauungen aufzustellen, die, wenn nicht wahr (das ist vielleicht mehr als wir hoffen können), so doch wenigstens für den menschlichen Geist befriedigend wären und der kritischsten Untersuchung standhielten. ... Wir befinden uns vielleicht noch in einem zu frühen Weltzeitalter, um Prinzipien zu entdecken, die der Prüfung der letzten Generationen standhalten.“ (D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 1. Buch, Schlussabschn. 7, Hamburg 1973, S. 351) 44 Erkenntnis, S. 198.

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VIERTES KAPITEL: PHILOSOPHIE

b) Das Korrespondenzproblem im empiristischen Wahrheitsbegriff Baumgarten vertrat die empiristische Korrespondenztheorie der Wahrheit. Das schloss die materialistische Abbildtheorie aus,45 betonte aber die sinnliche Anschauung als einfachstes Element der Erkenntnis, andernfalls wäre das logische Konstrukt weder vollständig verständlich noch verwertbar für die Praxis. Gegen den Abbildgedanken sprach Baumgarten den einfachen Unterschied von Gegenständen der Wahrnehmung und Tatsachen aus. Aussagen könnten sich immer nur auf Sachverhalte, also auf behauptete Tatsachen, beziehen, nicht auf Gegenstände. Dennoch hielt Baumgarten an der SubjektObjekt-Relation im Erkenntnisvorgang fest. Sie sei manifest in den Handlungsfolgen. Hier wirkten Erfahrungsgegenstände auf uns und wir wirkten auf diese. Die Aussagen über Gegenstände außer uns gäben Sachverhalte wieder, die Erfahrungsgegenstände unter je gewählten und erreichten Kriterien repräsentierten. Damit war auch für Baumgarten das viel behandelte Thema des unendlichen Rekurses erledigt, auf den die Korrespondenztheorie führe. Ohne Zweifel führt das Korrespondenzverhältnis zwischen Sachverhalten (behaupteten Tatsachen) und Erfahrungsgegenständen in der Realität niemals aus dieser Relation heraus. Ein direktes Hereinholen von Realitätsgegenständen als Wirklichkeitsstücken in die Subjektsphäre sei nicht möglich. Doch das beeinträchtige nicht den Realitätsgehalt von ausgesagten Tatsachen oder Sachverhalten, die eben nicht selbst Erfahrungsgegenstände darstellten. Dennoch bleibe Erkenntnis auf etwas bezogen, was real außer uns bestehe, doch nur als Bedeutungen gegenständlichen Gehalt gewinne. Ohne das Infinitesimale einer gegenständlichen Gerichtetheit des Erkenntnisprozesses verliere die Wahrheitsfrage ihren Sinn, und so die gegenständlich praktische Realisierung von Wissen. Wie Baumgarten den unmittelbaren utilitaristischen Aspekt der Nützlichkeit oder praktischen Brauchbarkeit ausschloss, so trennte er den bloßen Sinneseindruck von der empirischen Realität des Objekts. Bereits auf der empirischen Ebene vollziehen sich Prozesse der Korrektur und der Auslese der Wahrnehmungen. Die Bildung von Tatsachen, also von formulierten Sachverhalten, führt zu Hypothesen, aus denen die relativ gewissen, immer noch partiell bedingten, empirischen Sätze hervorgehen. Das alltagspraktische Denken bleibt im Ganzen auf dieser Ebene. Es gelangt nicht zu systematischen logischen Verbindungen von Sachverhalten, da es an die Unmittelbarkeit der verschiedenen eigenen oder behaupteten fremden Sachverhalte gebunden bleibt. Er sagte, reagiere die Methodik von Analogien. Der außerordentliche Wert dieses Stadiums der empirischen Wahrheit bestehe in der Beweglichkeit von Sachverhaltsbestimmungen auf Grund der immer unfertigen und insofern unterbestimmten Korrespondenz mit den Erfahrungsgegenständen. Die eigentlichen Theoriebildungsprozesse setzen erst mit der 45 „Die Erkenntnistheorie, die nach dem gegenwärtigen Stand der Lehre als die marxistische angesehen werden kann, ist die sog. Abbildtheorie. Ich verhehle nicht, dass ich gewisse Bedenken teile, die von nichtmarxistischer Seite gegen sie geltend gemacht worden sind. ... die Erkenntnis schlechthin als ein Abbild der an sich seienden Außenwelt zu bezeichnen, scheint uns nicht angängig. Man ist doch nur dann sicher, im Besitz eines Abbilds zu sein, wenn man das Original kennt.“ (Erkenntnistheorie, S. 135)

II. ERFAHRUNGS- UND WAHRHEITSBEGRIFF

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Selektion bestimmter Gruppen von formulierten Tatsachen ein. Hier wird über Kriterien der Kausalität, der Geschlossenheit von Erscheinungsbildern, der hinreichenden Wiederholbarkeit gleicher Erfahrung, wie sie auch in den Bereichen der alltagspraktischen empirischen Wahrheit gelten, hinausgegangen. Jetzt setzt die eigentliche Objektbildung ein mit Hilfe der kategorialen Konstrukte Kausalität, Notwendigkeit, Zufall usf.. Das Gegenstandsbewusstsein erlangt das Niveau der Theoriebildung. Baumgarten hatte die speziellen logischen Probleme der Aussagenbildung auf der Grundlage von Wahrnehmungen oder von bestehenden Aussagen, auch die Beziehungen der Kategorien untereinander nicht näher behandelt. Seine erkenntnistheoretischen Darlegungen sollten den Erfahrungscharakter des Wissens und damit den kulturell-praktischen Bezug wissenschaftlicher Theorien begründen und erläutern. c) Erkenntnisantinomie Dazu kam noch ein weiterer Gesichtspunkt, dem Baumgarten besonderes Gewicht gab. Es sind die Antinomien des Erkenntnisvorgangs. Wir beziehen uns erstens auf ein bewusstseinstranszendent Gegebenes, das uns niemals direkt erreichbar ist, und wir operieren mit Bewusstseinsinhalten, ohne je die z. B. von Descartes vorausgesetzte untrügliche Gewissheit des Selbstbewusstseins erreichen zu können. Wer denkt also unsere Sachverhaltsbehauptungen wirklich? Über welche „Wirklichkeit“ urteilen wir tatsächlich, wenn wir unsere Erfahrungsgegenstände auf eine diesen transzendente Objektwelt projizieren? Baumgarten hat die Antinomie-Problematik von Schopenhauer übernommen, deren theoretische Funktion aber verändert. Für die Erkenntnisthematik ergab sie bei Schopenhauer die Destruktion des Begriffs eines sicheren Selbstbewusstseins. Baumgarten bildete daraus die Prozesshaftigkeit einer immer erfahrungsgeleiteten Selbstvergewisserung. Der Widerspruch zwischen wissendem und sich selbst wissendem Subjekt blieb aber bestehen. Außerdem stand für Schopenhauer hinter der unauflöslichen Differenz von Erscheinung und Ding an sich als letztes Fundament nur der Lebenswille. Baumgarten setzte den Widerspruch ins Zugleich von Haben und Nichthaben der Erfahrungsobjekte. Die Antinomie löst und setzt sich ständig neu in der empiristischen Skepsis der Wissensbildungsprozesse. Baumgartens Ziel bestand darin, die Antinomik auch bei der Erkenntnisthematik als unaufhebbar und dadurch als Agens des Weiterschreitens und der Perfektibilität zu zeigen. Er richtete das – mit deutlich Schopenhauerscher Vorgabe – gegen eine Dialektik, mit der idealistische Philosophien die Antinomik für lösbar ausgäben. Darauf siedelten dann absolute Wahrheitsansprüche. Beim Wahrheitsproblem bildete die Widerlegung des dogmatischen Idealismus ein viel behandeltes Thema in der damaligen englischen Philosophie. Baumgarten stimmte mit G. E. Moores (1873 – 1958) Idealismuskritik überein. Er sah wie dieser die Vertauschung von Erkennendem und Erkanntem als den logischen Grundfehler des Idealismus. Unsere Aussagen qualifizieren Wahrnehmungen und deren Relationen als Zeichen für Elemente der Wirklichkeit. Damit bleibt das Prädikat von Urteilen psychisches Gebilde, fungiert aber als Symbol für subjektfreie Realität. Die Notierung „Sein“ sagt also, Sein ist Sein und als Nicht-Seiendes dessen Gegenteil, nämlich Subjekt eines Urteils. Das „Was“, zu dem wir das „Dass“ eines Erfahrungsgegenstandes qualifizieren, trägt den

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VIERTES KAPITEL: PHILOSOPHIE

Widerspruch, dass Wahrheit nur eine Folge sprachlicher und anderer Zeichen darstelle, die sich mit einer allerdings anzunehmenden subjektfreien Realität prinzipiell nicht decken.46 Kommunikationstheoretisch gewendet, bedeutet das, wir verständigen uns nur über hypothetisch Vereinbartes. Wie stabil ist dann der aller Kommunikation vorausgesetzte Begriff des Subjekts? Er kann, für den szientifischen Bezug, konsequent nur in den sprachlichen Verständigungsprozessen real existieren. Der mit der Antinomik besiegelte antispekulative und antidualistische Ansatzpunkt ließ Baumgarten nicht nur das Ziel absoluter theoretischer Sicherheit ausscheiden. Das wäre mit weniger gravierenden Voraussetzungen darzutun gewesen. Baumgartens Ausgangspunkt von den empirischen psychologischen Theorien der persönlichen Identität hätten das zu tragen vermocht. Auf der Gegenseite genügte der empiristische Wirklichkeitsbegriff der Ereignisfolgen, also ohne das Substanzpostulat.47 Der Akzent saß dann einfach auf den Prozessverläufen zwischen deren respektiven Anfängen und Enden. Real waren immer nur Ereignisfolgen. Nur dieser substanzfrei gedachte Prozessbegriff ließ sich der Beeinflussbarkeit der als subjektfrei gesetzten Realität durch die Handlungsteleologie anschließen. Dewey nannte es eine „Auffassung von der instrumentellen Natur der Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis“.48 Die Antinomik besaß in Baumgartens Empirismus eine weitergreifende Funktion. Sie brachte zur generellen pragmatistischen Erkenntnisauffassung die reale Widersprüchlichkeit, die Tragik der geistigen Fortschritte der Menschheit hinzu und sollte die Erfahrungen von Stagnationen und Rückschritten verstehen lassen. Baumgarten nahm Deweys klassisch-empiristische These aus dessen Schrift Democracy and Education (1916) auf, Erfahrung stelle einen ständigen Selbsterneuerungsprozess dar. Unterm Druck der Widersprüchlichkeit der Realität, von dem wir uns zu entlasten suchten und dank der Steigerung des Wissens und der Kooperationserfordernisse der Individuen und sozialen Klassen nehme die gesellschaftliche Erfahrung zu. Geist und Natur, Denken und Erfahrung, Individuum und soziale Welt dürften darum nicht auseinander gerissen werden. Das Gleiche gelte für die verschiedenen Wissenschaften, deren Spezialisierungen nicht zur Absonderung voneinander führen sollten. Den Ersten Weltkrieg sah Baumgarten als Folge eines fortschreitenden Zerlegungsprozesses der Gesellschaft in einen Selbstlauf verselbstständigter Sphären, dem die Zerteilung der Wissenschaften in voneinander isolierte Sonderdisziplinen entsprach. Daraus seien ein utilitaristischer Materialismus und die Zerstörung des Gewissens durch mechanische Systeme hervorgegangen. 46 „Die Logik sollte ... Gewicht darauf legen, die Unvollkommenheit der wissenschaftlichen Begriffsbildung darzulegen, die mit dem potenziellen Charakter der Begriffsvorstellungen zusammenhängt. Unsere Wissenschaftler gehen meist stillschweigend von der Ansicht aus, dass die Begriffe, mit denen sie hantieren, idées claires et distinctes seien. Das mag sich in der Tat in der Mathematik und in gewissen theoretischen Naturwissenschaften so verhalten, aber in den meisten Wissenschaften sind die Begriffe in hohem Grade unbestimmt; der Wissenschaftler, der sie verwendet, ist sich über ihren verborgenen (potenziellen) Gehalt durchaus nicht im Klaren.“ (Logik, S. 29) 47 Die Voraussetzungen der empiristischen Erkenntnistheorie gut zu verfolgen an den Texten und Interpretationen bei L. Kreimendahl, Der Empirismus, Stuttgart 1994. 48 J. Dewey, Erfahrung und Natur, a. a. O., S. 11.

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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Sein erstes philosophisches Werk von 1917 (Moral, Recht und Gerechtigkeit) formulierte nicht nur pazifistische Anklage. Es stellte sich die Aufgabe, eine solche Katastrophe aus der rationalisierten industriellen Zivilisation zu erklären. Hier gewann die Antinomik beinahe methodische Funktion. Real sei die Klassenscheidung innerhalb der Gesellschaft. Statt aber vermittelnde Formen für deren Pazifizierung im Sinne realer Gerechtigkeit zu suchen, stürzten sich die Herrschenden wie die Beherrschten in die illusorisch vergemeinschaftende Bindung eines Krieges. Die angloamerikanische philosophische Orientierung ließ Baumgarten zur adäquaten Behandlung der Widersprüchlichkeit die Schlussfolgerung des Liberalismus ziehen: Nur die demokratische Verfassung biete die Möglichkeit, der Mechanisierung durch Formen authentischer sozialer Wahrnehmung und argumentativer juristischer Praktiken entgegenzuwirken. Endgültig zu beheben sei die Antinomik nie. Dieses Ideal einer zukünftigen Geist-Einheit der Menschheit sei Gegenstand der Metaphysik. Aber Vermittlungsformen seien zu finden für die Übergänge zu ausgewogeneren Lebensformen. Antinomik und perfektibilistischer Empirismus bildeten zwei einander befruchtende Seiten der Philosophie. Die Dialektik verstand Baumgarten als die Gegenseite der realistischen Wechselbeziehung. Das entsprach dem damaligen angloamerikanischen Empirismus. Sie suche die Auflösung der Widersprüche darzutun und versteige sich dafür in holistische idealistische Spekulationen. In seiner frühen moralisch-pazifistischen Bekenntnisschrift sagte Baumgarten, gelinge es nicht, Vermittlungen zunehmenden Gleichgewichts und der Solidarität zu schaffen, so werde die industrielle Gesellschaft in neue Kämpfe und Kriege um Vorherrschaft abstürzen. Dann werde jede folgende Generation oberflächlicher und brutaler leben als die vorangegangene. Eben das seien die Voraussagen der großen Kulturpessimisten des 19. Jh.s gewesen. Baumgarten sah das mit dem Faschismus und dem neuen Weltkrieg eingetreten, und davon war seine Entscheidung für den Sozialismus am Beginn der vierziger Jahre bestimmt gewesen.

III. Der Empirismus in der neuzeitlichen Philosophie 1. Die Grundzüge Baumgarten war als Vertreter des sensualistischen Pragmatismus in der deutschsprachigen Philosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s ein Außenseiter.49 Fürs Verständnis seiner philosophischen Position und seines in der deutschen Philosophie der Zeit 49 A. Liebert 1912 im Logos in seinem Bericht über den IV. Internationalen Kongress für Philosophie: „Stand der III. internationale Kongress für Philosophie im Zeichen des Pragmatismus, so wurde auf dem IV. Kongress zu Bologna nicht mehr viel davon geredet. ... Der zufällige und zeitweilige Charakter seines Erfolges kam dadurch noch mehr zum Vorschein. Zwar hat F. C. S. Schiller in einer langweiligen Rede ‚Über den Irrtum‘ die üblichen Argumente des Pragmatismus wieder ins Feld geführt, er ist aber auch dieses Mal auf allgemeinen, nicht mal energischen, Widerstand fast aller (auch positivistischen) Teilnehmer der Debatten gestoßen: man fühlte, dass die Philosophie es jetzt mit einem absterbenden Feinde zu tun hatte, einem Feinde, dessen Unfruchtbarkeit so weit geht ...“ usw, usf ... (Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Bd. II, 1911/12, S. 125)

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VIERTES KAPITEL: PHILOSOPHIE

ebenfalls seltenen politischen Liberalismus erscheint ein Rückblick auf die Philosophie des Empirismus sinnvoll. Wissen basiert in allen Kulturen aller Epochen auf erfahrungsgeleiteten empirischen Kenntnissen. Empirismus als methodisches Bekenntnis und kulturelles Selbstverständnis ist davon unterschieden. Er ist eine Schöpfung der neuzeitlichen Erkenntnis- und Lebenseinstellung und basiert auf der Zurückdrängung traditionalistischer Wissens- und Arbeitsauffassung. Das antike Wissen, in handwerklicher Nähe der sinnlich-körperlichen Verrichtungen, war in doppelter Hinsicht traditionalistisch gehalten. Es setzte nicht auf dauernde Erneuerung, sondern auf bewährte Überlieferung, und es war in vorgeordnete politische Vergemeinschaftung der individuellen Lebenstätigkeiten eingefasst. Noch in der frühen Neuzeit waren die Berufsstände Teile der politischen Ordnung der Gemeinwesen, die Trennung von Staat und Gesellschaft nicht geschehen. Die traditionalistische Schranke des praktischen Wissens, so reich und intellektuell feingliedrig es in vielen Berufen war, ließ theoretisches Denken einen eigenen Bezirk bilden. Das ergab die Sonderstellung der Philosophie, ein an sich archaisches kulturelles Phänomen, das bis heute hohen Reiz besitzt. Philosophie als die Theorie des Wissens suchte ihre methodische Gliederung und, was schwerer wog, auch ihre wesentlichen Inhalte, außerhalb der bewusstlos überlieferten Sphäre unmittelbarer Verhaftung des Denkens in Gebrauchswissen. Die Philosophie entstand und entwickelte sich in der stationär, sich nur in erweiternden Kreisläufen bewegenden antiken Kultur als ein dem Erfahrungswissen gegenüberstehendes Denken. Ihm stand dann als methodisches Arsenal nicht gegenständlich bezogenes Wissen und Arbeitsverhalten zur Verfügung, sondern nur die elementare Logik einfacher Begriffsstrukturen und die Technik der politischen und anwaltlichen Rede. Die antike Logik war darum eine der Begriffe mit einfachen Über- und Unterordnungsverhältnissen. Projizierte sich dieses reflexive Wissen auf einen Weltbezug, so entstand das Form-Stoff-Verhältnis in einer Metaphysik ontologisierter Logik. Im Topik-Teil der antiken Logik trat das heraus in der ideellen Empirie, einzelne Gesichtspunkte in Redestrukturen zu gliedern. Die einschneidende Besonderheit dieser Metaphysik ontologisierter Begriffsstrukturen war die Unmöglichkeit, damit den Relationsbegriff für sich zu fassen. Daran hing aber der naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff. Statt dessen blieb als Modell allgemeiner subjektfreier Struktur das EidosSynolon-Verhältnis, in dem das relativ wiederkehrende Allgemeine in der unzulänglichen Form des Urbildes erschien, zu dem das empirisch Gegebene in die Position des Abbilds geriet. Der neuzeitlichen Metaphysik lag die relationale Ontologie der Mathematik zu Grunde, die ihrerseits von der nun eintretenden Verbindung mathematischer Verfahren mit der empirischen Physik und mit mechanischen Konstruktionsverfahren, also mit der Nutzung von Maschinen, angeregt wurde (Hebemaschinen, Kriegs- und Antriebsmaschinen, deren alltäglichste die Uhr bildete). Der Begriff der mechanischen Arbeit revolutionierte das Weltbild.50 Aber doch nur zum Teil, denn der handelnde Mensch

50 „Diess subjektive Prinzip der Teilung der Arbeit fällt weg für die maschinenartige Produktion. Der Gesamtprozeß wird hier objektiv, ...“. (Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW, Bd. 23, S. 401)

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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konnte nicht Gegenstand maschineller Verfahren sein. Er blieb distanzierter Konstrukteur, das Urbild des neuzeitlichen Zauberers, des Ingenieurs. Die prekäre Stellung des empirisch realen Menschen zeigte die Übertragung der Mechanik auf eine frühe Assoziationspsychologie in Descartes’ Schrift Les passions de l’âme (1650). Das AffekteProblem bei Spinoza bestand ebenfalls darin, ein Relationsgefüge der Emotionen nach dem Leitbild mechanischer Massegesetze zu entwerfen. Das Ziel bildete die Steuerung der „Leidenschaften“, die dem Konstrukteursbild der abstrakten Arbeit der Maschine von sich aus nicht konform ging. In der Tat. Die empirisch-praktische Arbeitstätigkeit bildete nicht einen homogenen Vorgang wie der maschinelle Ablauf. In der Hoch-Zeit der mechanischen Philosophie, also der neuzeitlichen Metaphysik, war die frühindustriell fortgeschrittenste Arbeitstätigkeit diejenige des Manufakturarbeiters. Sie stellte gerade keine abstrakte und insofern allgemeine Arbeit, sondern die Tätigkeit hochqualifizierter Individuen dar. Aus der Mechanik der Arbeit und der Natur blieb der empirisch wirkliche Mensch ausgeschlossen. Das bildete das Fundament des neuzeitlichen Empirismus.51 Er wurde in England seit dem frühen 17. Jh. und dann in Frankreich während des 18. Jh.s zur Philosophie des umbrechenden kulturellen Selbstverständnisses für das Bild des („natürlichen“) Menschen schlechthin unterm Stern der moralischen, religiösen und rechtlichen Freiheit der Person. Der Empirismus setzte gegen die logischen Konzentrate weltimmanenter Erneuerung der Kultur, die der Rationalismus schuf, die Rationalität als einen Komplex von Vorgängen konkreter neuer wissenschaftlicher und lebenspraktischer Erfahrungen. Er begann als polemischer Aufbruch, erstreckte sich dann von der Natur- und Sprachphilosophie des italienischen 16. Jh.s (Pomponazzi, Valla, der Spanier Servet) bis zu den naturalistischen und semiotischen Konsequenzen in der Mitte des französischen 18. Jh.s (Helvétius, Lamettrie, d’Alembert, Condillac). Dieser ursprüngliche Empirismus – der Terminus bürgerte sich erst durch Kants polemische Prägung des Begriffs ein – richtete sich gegen die platonisch-aristotelische Metaphysik-Tradition der europäischen Philosophie generell, speziell gegen deren Verbindungsweise von philosophischer Ratio und religiösem Glauben. Die überkommene metaphysisch-theologische Form des Zusammenschlusses von Wissenschafts- und Lebensorientierung, von intellectus und sapientia, sollte aufgelöst werden.52 Die Neufassungen des Verhältnisses von rationaler Weltinterpretation und Lebenssinn, von Wissenschaft und Weisheit, stellten und stellen das Zen51 P. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1986. 52 Das war auch in England nicht nur eine „religionsfreundliche Aufklärung“, wie H. Lübbe es genannt hatte, sondern als dogmatismusfeindliche durchaus eine religionskritische auch bei Locke und Hume. Auch die anschließende Religionspsychologie (H. S. Hall, W. James, T. Flournoy, G. Wobbermin) besaß religionskritischen Charakter, da Religion nicht als Offenbarung, sondern als Verarbeitung psychischer Erfahrungen und Einstellungen aufgefasst wurde. Allerdings löste insbesondere der englische Flügel des Empirismus das Religionsproblem nicht im atheistischen Sinne auf, sondern suchte Inhalte und Platz des religiösen Bewusstseins im kulturellen Selbstverständnis durch relativierende Eingrenzung neu zu bestimmen. Der am alltagspraktischen Bewusstsein des Bürgers anschließende Empirismus kultivierte hier seine Befähigung zu vermittelnder und unmittelbar lebenspraktisch wirkender Erneuerung.

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trum aller wesentlichen Umbildungen der Philosophie dar. Im Verhältnis von gesellschaftlichen Rationalitätsstandards und den Sinnintentionen der Individuen und sozialen Schichten kristallisieren sich die Philosophien heraus und bieten den Zeitaltern die verschiedenen perspektivischen Zentren für deren kulturelles Selbstverständnis. Ihre unerschöpfte Leistung bleibt auch heute die Abwehr nichtrationaler ideeller Angebote zur bloßen Kompensation unbefriedigender sozialer Erfahrung, ohne Bemühen um reale Veränderungen. Der Empirismus bildete eine neue Weise engagierter Philosophie aus. Mit Hilfe der Psychologie, der Ethnologie, der allgemeinen Sprachwissenschaft umriss er seit dem 17. Jh. Konzepte direkter Anerkennung der materiellen Konstitution des Menschen und suchte von diesen her die Gesellschaftsthematik als Sozialisierungsproblematik persönlich freier Individuen zu begründen. Er konzentrierte die philosophische Theorie auf zwei Arbeitsfelder: Methodologie der Wissenschaften, um Rationalität als ein sich ausweitendes Reich unvoreingenommener Erfahrungen in der Kultur zu verankern. Der Empirismus verlieh den Generationen das Bewusstsein ihrer Originalität. Das waren die zündenden Mitteilungen Montaignes und Bacons gewesen. Bacon sagte von den „Alten“, sie seien in Wahrheit die Jungen und Unerfahrenen gewesen. Wir Neuen seien die durch so viel mehr Erfahrungen Gereiften. Der andere umbildende Gesichtspunkt bestand in der Anthropologie der Gefühlshaftigkeit des Menschen. Das nahm Aspekte der religiösen Tradition auf, führte diese aber auf ganz neue Wege. Der Glücksbegriff wurde irdisch gefasst. Außerdem trüge Gefühl nicht so, wenigstens nicht so lange, wie verleitetes Denken.53 Verbunden mit der Lust der Wissbegierde – antike und theologische Warnung von falscher Wissensfreude wurde nun in den Wind geschlagen – gewann die Emotionalität starken emanzipativen Antrieb. Montaignes genießerisch schildernde Beliebigkeit seines eigenen Denkens bot das Muster einer Intellektualität der Distanz von den überkommenen Kolossen der Geltung und band Wissen in echter philosophischer Haltung an Selbstvergewisserung. Der ursprünglich abstrakte Individualitätsbegriff des Empirismus entsprach durchaus nicht nur dem Anspruch des Bourgeois auf Handlungsfreiheit. Die folgenreiche Funktion der Idealisierung bestand darin, mit der dadurch möglichen formellen Beziehung von Einzelheit-Allheit eine prinzipielle Diskussionsebene zu schaffen für die Strukturprobleme der Gesellschaft unter evolutionärem Gesichtspunkt. Sensible soziale Natur des Menschen und weltimmanenter Evolutionismus wurden in eine Verbindung gebracht, aus der alle aufklärerische Frucht der europäischen Zivilisation aufging. Die sapientia des Empirismus verhieß das Glück der Zeiterfahrung. Zeit, die Sphinx, die Augustinus durch Transzendenz zum Schweigen bringen konnte, sie wurde im Skeptizismus sich selbst prüfender Subjektivität zum Freiraum der Selbsterfahrung. Der Empirismus bot gegenüber dem Rationalismus erst die folgenreiche Möglichkeit, Intellektualität mit realer Geschichtlichkeit der Kultur zu verbinden. Weitere Aspekte zeichneten diese Kultur der Rationalität gegenüber Descartes’ intuitiver Rationalität aus, die dem schon spezialisierten Erscheinungsbild von Mathe-

53 Chamfort erzählte: Ich weiß, dass ich glücklich bin, sagte die junge Gattin eines reichen Alten ihrem sie tröstenden Beichtiger. Aber ich fühle es nicht.

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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matik und formaler Logik nachgebildet gewesen war. Der Empirismus hielt sich nahe beim Alltagsbewusstsein, dessen Stärke und dessen Gefährdung in der Tradierung unreflektierter Erfahrung bestehen. Empiristische Philosophie sollte der alltagspraktischen und sog. natürlichen Welteinstellung das erforderliche methodische Gerüst verschaffen. Das weitergehende Ziel bestand darin, vom alltagspraktischen Denken aus direkte Wege zu den methodischen Verzweigungen der speziellen Kulturfelder zu bahnen. Das würde die normativen Grundlagen der Kultur neu verankern und diese der „natürlichen Vernunft“ weiter Kreise der Bevölkerung öffnen. Neuzeitlicher Rationalismus und Empirismus bezogen sich auf verschiedene kulturelle Adressaten. Der Empirismus wirkte auf die Ausbildung einer geistigen Öffentlichkeit als der Kultur einer fortschreitenden Zivilgesellschaft hin.54 Mit den induktiven Verfahren, die vom Common Sense ausgingen und diesem Urteilsvermögen gegenüber den speziellen Feldern Religion, Sitte, Wissenschaften, Künste eröffnen sollten, wurde Rationalität der Geltungshoheit eines autoritativen Standes entzogen und den diversen Arbeitsrichtungen von Fachleuten überantwortet. Die Plausibilität des Anspruchs ließ die Bedenken zurücktreten, dass damit der Bereich des analogisierenden Denkens nicht überschritten würde. Als Gewinn erschien die ungehemmte Beweglichkeit des experimentierenden Denkens. Das Problem der Gesetzmäßigkeit von Abläufen und mit diesem das einer Relationsstruktur, nicht der Dingstruktur der Realität, wurde nicht befriedigend gelöst. Der Idealismus apriorischer logischer Formen, die Gegenständlichkeit konstituierten, suchte das nach dem Vorbild mathematischer Formalisierung physikalischer „Tatsachen“ zu lösen. Der Empirismus entwickelte dem entgegen eine zeichentheoretische und dann eine linguistische Begründung von Allgemeingültigkeit, die den Bereich materialer Erfahrung einzufassen vermochte. Dann waren die Aussagen innerhalb der empiristischen Ausgangsbedingungen entweder statistisch durch die hinreichende Menge der Tatsachen (in den Kulturwissenschaften) oder experimentell durch Wiederholbarkeit der beobachteten Vorgänge (in den Natur- und Technikwissenschaften) zu qualifizieren.55 Der Empirismus trat als ein philosophisches Denken auf, das durch die Verbindung von alltagspraktischem Horizont und Methodik des Fachwissens jeden in der sich arbeitsteilig entfaltenden Kultur angehe und offenstehe. Seine Liberalität und sein Universalismus waren mit Lust antielitär.56 Er dachte für eine argumentative Öffentlichkeit, die nachprüft. Darum beförderte er Toleranz und die Neugier, die Masse des noch Un54 S. H. Hofmann, Art. „Diskussion“ in: Hist. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, Sp. 262. („Diskurs“ fehlte dem metaphysisch-theologisch gerichteten Wörterbuch 1972 noch.) 55 Zur Logik des Empirismus immer noch aufschlussreich die inzwischen unbekannte Schrift H. Höffdings (1843 – 1931): Der Begriff der Analogie, Leipzig 1924. 56 J. Locke in der Abhandlung Über den richtigen Gebrauch des Verstandes (1697): „Jeder trägt einen Prüfstein bei sich, den er nur anzuwenden braucht, um echtes Gold und oberflächlich Glänzendes, Wahrheit und Schein zu sondern. Dieser Prüfstein, welcher das natürliche Denken ist, verliert aber seine Gebrauchsfähigkeit und seinen Wert nur durch überwuchernde Vorurteile, dünkelhafte Anmaßung und Einschränkung des Gesichtskreises. Wenn der Geist nicht an der ganzen Fülle des Erkennbaren geübt wird, so nimmt jene edle Fähigkeit ab und erlischt.“ (J. Locke, Über den richtigen Gebrauch des Verstandes, Leipzig 1920, S. 8)

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bekannten und des nur von Überlieferung her Bekannten zu verringern.57 Dazu dachte der Empirismus das Wissen im Umkreis verschiedener „Gemütsvermögen“ und als praktisch gerichtetes Bewusstsein der Menschen in konkreten Berufen. Vernunft sollte sich nicht im Denken einschließen. Das erfahrungsgeleitete Denken verschwisterte sich über die Gefühlskraft mit dem Verhalten. Vereint bilden Vernunft und Gefühl einen Willen. Empirismus war und ist eine Philosophie der Tat konkreter Individuen und Gruppen. Er wollte die Zivilisation verändern und verstand sie als einen Aufstiegsprozess gemäß seinem akkumulativem Prinzip ansteigender Perfektibilität der Erfahrungen. Die Abgründigkeit kreatürlicher Leidenschaften und höllischer Lüste wurden vom sensualistischen gegenständlichen Arbeitsbegriff gebändigt und geläutert. Foucault hat das in einer die Dialektik der Aufklärung (1946) fortführenden Theorie der repressiven Wesensart der modernen Welt phänomenologisch beschrieben, ohne deren spezifische soziale Basisstruktur einzubeziehen. Der Empirismus stellte als erfahrungsgeleitetes Denken alles auf die argumentativen Kriterien einer Kultur. Was er verwarf, war ihm das für allgemeine Zustimmung nicht hinreichend Demonstrierte oder Verifizierbare. Da dieser intellektualistische Grundzug auf einer induktiven, allmählich summierenden Verfahrensweise gründete, dachte der Empirismus nicht revolutionär, wohl aber permanent reformierend. Seine Systematik ruhte nicht auf der Spitze eines Prinzips, das nur durchgesetzt werden müsste. Baumgarten hatte bis in die dreißiger Jahre den revolutionär umstürzenden Lösungsweg der sozialen und politischen Konflikte der bürgerlichen Zivilisation abgelehnt. Das bezog auch den hegelianisch-spekulativen Denkstil der Dialektik des frühen Lukács mit ein. Für den Empirismus variierten die Einsätze des Denkens eklektisch mit dessen Gegenständen. Enzyklopädisch summierender Theoriestil mochte nicht dogmatisch herrschen. Das empiristische Skepsis-Element bezog sich nicht nur auf die idealistischen Gegenparteien, sondern ebenso auf die eigenen materialen Resultate. Ein am englischen Humor gebildeter Skeptizismus hielt noble Ironie wach gegen das Spießertum absoluten Tiefsinns, das sich zuletzt in die geöffneten Arme der alles verwaltenden Orthodoxie flüchtete. Il commence par douter de tout, et il finit par tout croire, sagte Descartes von solchem Schicksal der Kühnen. Die frühesten leitenden Themen des Empirismus waren die materialistische Umbildung des aristotelischen Form- und Seelenbegriffs (Pomponazzi) gewesen, darauf die antiintellektualistische Begründung des Wissens auf Wahrnehmung und Induktion (Bacon, Gassendi) und das schrittweise Verständnis der sozialen Ebene des Denkens durch Rhetorik und Sprachtheorie (Valla), den Konzeptualismus (Hobbes) und durch 57 Das führte eine popularwissenschaftliche Literatur aus bester und nichts verschonender Absicht herauf: (Anonym), Die Schule der Erfahrung für Alle denen Zufriedenheit, Leben und Gesundheit werth sind, 1.T., Berlin 1798. Vorsichtsempfehlungen werden anhand abschreckender Beispiele für alle Gelegenheiten des täglichen Lebens anempfohlen – von Aderlassen und Afterärzten über Misshandlung, Naschhaftigkeit bis zu Unentschlossenheit, Verzweiflung und Wäsche (frische). „Erfahrung ist unstreitig die beste Schule der Weisheit. Wer indessen seine Weisheit einzig aus der Schule selbstgemachter Erfahrung holen wollte: würde mit Recht über zu theuern Einkauf klagen. Uns bleibt nichts übrig, als, aus Anderer Schaden mit klug zu werden.“ (S. III)

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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frühe Vorstöße zur Semiotik (Condillac). Aus diesen Arbeitsrichtungen entwickelte sich die immer reichere psychologische Auffassung der klassischen Metaphysik-Themen, wie der Beziehung von Intelligenz und Wille, der Willensfreiheit, der Emotionalität des Menschen in dessen innerweltlichem Antrieb als körperliches Bedürfnis und psychisches Glücksverlangen. Der neuzeitliche Empirismus schuf wieder einen durchgehenden Sensualismus. Es war die demokritische und epikureische Linie. Dem kam die Atomtheorie in Physik und Chemie des 17. und 18. Jh.s entgegen (Boyle, Lavoisier, Dalton). Der moderne Empirismus ließ allerdings die soziale Passivität der epikureischen Sinnlichkeit zurück, der die Furchtlosigkeit gegenüber den religiösen Instanzen genügt hatte, um die Lust durch den Rückzug zur Freundschaft im Privaten zu gewinnen. Der neuzeitliche Empirismus dachte das aktive Individuum, das auf seiner Bahn wohl auf der Hut ist, wie die spezielle Literatur der Moralisten riet. Aber die Aktivität erzeugte einen Sog der Perfektibilisierung. Er dachte Mensch und Zivilisation ebenfalls in der Zeit, wie es die augustinische Tradition gelehrt hatte. Zeit war nun die Bahn innerweltlicher Erfüllung der ganz auf sich selbst bezogenen Verweltlichung der Körperlichkeit des Menschen. Dieser Sensualismus trat dem Dualismus von Sündenleib und hohem Körperbild der sakralen Tradition entgegen. Der Empirismus bildete mit den Schritten der Fachwissenschaften eine psychologische und moralische Basis der Philosophie aus, die er der rein logischen Grundlegung entgegensetzte. Lockes Kritik der cartesianischen Logik ursprünglicher logischer und mathematischer Relationen machte eine sensualistische Psychologie des genetischen Aufbaus der Bewusstseinszustände zur Basis der Philosophie. Ein Intellektualismus blieb erhalten, da der eigentlich rationalistische Ausgangspunkt des philosophischen, nicht mehr theologischen Subjektverständnisses fortwirkte: nicht das Denken des Richtigen, sondern das richtige Denken ist der Schlüssel zur Freiheit. Doch gegenüber der rationalistischen Metaphysik entfaltete der Empirismus das Gewinnen qualifizierter Aussagen und deren empirische Überprüfbarkeit als ein Ensemble zwischenmenschlicher kommunikativer und kultureller Prozesse. Auf die Psychologie der Bewusstseinszustände war der Sensualismus zurückgedrängt und dadurch, um einen Ausdruck von Ernst Troeltsch zu benutzen, zugleich für die „Anpassung des Nervensystems an die allgemeinen Lebensverhältnisse“ vorbereitet, um ohne substantiale ontologische und ebenso ohne rein logische relationale Voraussetzungen auszukommen. Das bedeutete radikalen Schnitt gegenüber der metaphysischen Sonderstellung der Philosophie im Kreis der Wissenschaften. Im Empirismus bahnte sich die Ablösung der Wissenschaften von den metaphysischen Bestandteilen des kulturellen Selbstverständnisses an, die sich dann in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s vollendete. Die Philosophie selbst übergab im empiristischen Denken den Fachwissenschaften die Befugnis, in Weltanschauungsfragen zu weisen. Das begann bereits im 16. Jh. mit der psychologischen Erosion des Seelenbegriffes in den zahlreichen Untersuchungen über die körperliche Verbindung der Seele, über die Interpretationsmöglichkeiten der Unsterblichkeit der Seele, über Skalen der Glücksgefühle und der Überzeugungs- und Glaubensgewissheiten. Eine neue Anthropologie ursprünglicher sozialer Aktivität und Prägung bildete die Grundlage des auf intellektuelle Kooperation und öffentliche Wirkung gerichteten Wissensverständnisses. Die Geschichte des englischen Sensualismus ist eine

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fortschreitende psychologische Grundlegung der Philosophie. Bereits Humes Polemik gegen Berkeley verfeinerte die psychologische Argumentation. Die Polemik der schottischen Common-Sense-Schule (T. Reid, die beschreibende Psychologie D. Stewarts) gegen Lockes Ideenlehre und gegen die Lehre von den immateriellen Substanzen in Humes Treatise argumentierte für das erkenntistheoretische Problem der subjektiven Repräsentation der Erfahrungsgegenständlichkeit ebenfalls psychologisch. Sie sagte, dass wir in den ideas, sensations und impressions außenweltliche Gegenstände und Relationen reproduzierten. Wesentliche Bestandteile des frühen Empirismus waren die psychologischen Interpretationen der Erinnerung und des Gedächtnisses, später dann Themen der subjektivistischen Zeichentheorie. Reid suchte hier ebenfalls die gegenständliche Orientierung der psychischen Leistungen zu erhärten, die er an allen Sinnesempfindungen analysierte. Die psychologische Grundlegung der Erkenntnistheorie verbreitete sich dann innerhalb der deutschen Aufklärungsliteratur, mehr pädagogisch als theoretisch schöpferisch, besonders in der sog. Popularphilosophie. 2. Der empiristische Wissensbegriff als Modell sozialer Evolution Baumgartens materiale sensualistische Fragestellung ergab sich ihm aus der empiristischen Tradition, die nach dem Muster anhaltender geistiger Fortschritte im Schritt von trial and error eine Zivilisationstheorie als Vorstellung einer durchgehenden aufsteigenden Bewegung geschaffen hatte. Der empiristische Wissensbegriff war durch seine Bindung an den Handlungsbegriff weitaus besser generalisierungsfähig in Bezug auf kulturelle Prozesse als der logische Intuitivismus des Rationalismus. Bacon hatte den erfahrungsphilosophischen Wissensbegriff rhetorisch wirkungsvoll generalisiert. Da Wissenschaft Lebensmacht sei, bedeute die Akkumulation von Wissen die Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensweise. Er hatte in der polemischen Hoch-Zeit des Empirismus der von Ständeinteressen zu Wortgefechten verdorbenen Philosophie entgegengehalten: „In den mechanischen Künsten sehen wir dagegen das Entgegengesetzte geschehen; gleich als wären sie eines Lebensodems teilhaftig, vermehren und vervollkommnen sie sich täglich.“58 Sehr charakteristisch hatte Bacon jedoch für den Innenbereich der Person einen harten Zug individualistischen Kalküls festgehalten, der den ganzen geschichtsphilosophischen Überschuss der Nova Atlantis (1627) als eine obrigkeitliche Ordnungseinrichtung erkennen ließ. Die sensualistische Glücksethik konnte erst gemeinsam mit Fortschritten des Konstitutionalismus und darauf des Liberalismus den empiristischen Ansatz vervollständigen. Mit dem Durchdringen der Moderni gegen die Altertumsfreunde in der französischen frühaufklärerischen Diskussion der achtziger Jahre des 17. Jh.s war die Determinationsrichtung eines zivilisatorischen Gesamtvorgangs verankert worden.59 58 F. Bacon, Neues Organon, Berlin 1870, S. 38 (Vorrede zur Instauratio magna). 59 „Telle est notre condition, qu’il ne nous est point permis d’arriver tout d’un coup à rien de raisonable sur quelque matière que ce soit; il faut avant cela nous nous égarions long-temps, et que nous passions par diverses sortes d’erreurs et par divers degrès d’impertinences.“ Bernard le Bovier de Fontenelle, Digression sur les Anciens et les Modernes (1688), in: Fontenelle, Œeuvres

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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Die empiristische Sozialphilosophie dachte wie die nationalökonomische Physiokratie, eine Beziehung, die sich bei Baumgarten in der Weimarer Zeit wieder einstellte. Alle willkürliche Einmischung der merkantilistischen Politik schade. Man müsse „die Ursachen und Wirkungen dieser vielen Kreisläufe und ihrer beständigen Veränderungen entdecken“ und dafür „auf die einfachen Triebfedern zurückgehen, ... um die auf die Natur selbst gegründeten ursprünglichen Gesetze zu erkennen.“60 Hinter den Leidenschaften der Oberflächen werde die Gesellschaft unaufhörlich von einer Mechanik der Perfektibilisierung bewegt. Das führte innerhalb der Erfahrungsphilosophie eine anspruchsvolle Begrifflichkeit ein. Das Abstraktum eines Gesellschaftskörpers entstand, der sich im Gleiten durch seine Metamorphosen konstituierte. Die „Natur des Menschen“ wurde als historischer Faktor entdeckt. Die Verschlüsselung der Gesellschaftsproblematik im erfahrungsphilosophischen Wissensbegriff ermöglichte es, auf den historischen Prozess einen experimentell offenen Handlungsbegriff zu projizieren. Der umgreifende sachliche Vorgang wurde wie im Modell rational analysierbar und zugleich in den Umkreis von Verhaltensentscheidungen hereingeholt. Baumgarten verband die Idee der durch induktives Wissen fortschreitenden Gesellschaft in einer Metaphysik zukünftiger Entfaltung der intellektuellen Leistungen der Menschen mit einer über den Sozialismus seiner Zeit hinausgehenden Idealprogrammatik. Alle Revolutionen würden nur relative Schritte in der Zurückdrängung des Leidens sein. Oder dessen Transformationen? Aber er hielt am Tendenzverständnis auch noch des Positivismus des 19. Jh.s fest, durch sachgerechtes Denken synthetisierende Ziele erreichen zu können. Baumgarten unterschied sich dadurch deutlich von den dominierenden Strömungen der deutschen Philosophie der Zeit.61 Der englische aufklärerische Evolutionismus legte sich die komplexen Probleme am Muster menschlichen Wissenszuwachses auseinander. Das entsprach dem pädagogischen Duktus der Aufklärungskultur. Die überkommenen Fragestellungen nach den Verhältnissen zwischen Intelligenz, Gefühl und Wille wurden durch Markierung elementarer Punkte experimenteller Bearbeitung zugeführt. Das betraf auch die Suche nach einem festen anthropologischen Punkt, aus dem der Überschuss übers Gegebene entspringe. Dafür ergänzte der Empirismus die wissensmethodische Blickrichtung durch die bedürfnishafte und durch die emotionale Ebene. „Alles, was man als die Ursache von Lust ansieht, ist ein Gegenstand der Begierde. Alles, was man als eine Ursache des Leidens ansieht, ist ein Gegenstand der Verabscheuung. Alles, was man nicht als die Ursache

complètes, Bd. 2, o. O. 1991, S. 418. Fontenelles trial-and-error-Modell des an immer neuen Erfahrungen fortschreitenden Menschengeistes war von F. Bacons Advancement of Learning (1605) vorbereitet gewesen. (Vgl.: G. Irrlitz, Ein Fontenelle-Motiv bei Kant, in: W. Klein, E. Müller (Hg.), Genuß und Egoismus. Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung, Festschrift Manfred Naumann, Berlin 2002, S. 129-142) 60 A. R. J. Turgot, Betrachtungen über die Bildung und die Verteilung des Reichtums (1766), Jena 1914, S. 2. 61 „Dem Kantianismus ist die bittere Ungerechtigkeit zuzuschreiben, die sich die zeitgenössische kontinentale Philosophie dem Empirismus gegenüber zu schulden kommen läßt.“ (Der Weg, S. 165)

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von einem unter beiden ansieht, ist gleichgültig.“62 Baumgartens altruistischer Eudämonismus mit dem Prozessantrieb der Leid-Überwindung war in der aufklärerischen sensualistischen Anthropologie verwurzelt. 3. Widersprüche in den sensualistischen Erkenntnis- und Sozialisierungstheorien Innerhalb der Konstanten des Baumgartenschen Denkens gab es in allen Jahrzehnten interessante Veränderungen seiner philosophischen und rechtsphilosophischen Konzepte. Baumgarten reagierte damit zum einen Teil auf die eruptiven Bewegungen der deutschen Gesellschaft seit 1918, insbesondere auf die Preisgabe des liberalen Rechtsstaats bei der Middle class gegenüber dem faschistischen Begehren. Zum anderen handelte es sich aber um Aktualisierungen immanenter Widersprüche des europäischen Sensualismus, die vor allem infolge der veränderten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Problemlage für die Philosophie seit der Jahrhundertwende hervortraten, und Baumgarten gehörte zu den liberalen Denkern, die dem Rechnung trugen. Die unbefriedigenden Aufstellungen des Empirismus ergaben sich alle aus der Verschiedenheit von Wahrnehmungsqualitäten und sprachlicher, mathematischer sowie logischer Symbolisierung von Bedeutungen. Kant hatte dafür geradezu zwei völlig getrennte Stämme der Erkenntnis gesetzt, die im komplizierten Verfahren der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zusammentreten würden. Der Empirismus ging eigentlich sprachpsychologisch vor und sammelte den Fluss der Wahrnehmungen in den Worten, mit denen wir jene wiedergeben. Die rationalistische Prämisse der substantialen Wesenheiten fiel damit weg. Der Akzent saß auf der Möglichkeit freier Variation und Betonung der einzelnen sprachlichen Artikulationen von Erfahrungen. Das sensualistische Verständnis der platonischen und cartesianischen „Ideen“ als objektiver Wesenheiten war umgewandelt ins psychologische Problem der artikulationsfähigen Bedeutungen. Doch wie legitimieren sie ihre Allgemeinheit? Die Sprache konnte dann nicht mehr für den Ausdruck von subjektfreier Wirklichkeit genommen werden. Vor allem aber schien sich das erkennende Subjekt selbst in das „Bündel von Perzeptionen“ aufzulösen, wie Hume mit ostentativer Ratlosigkeit beklagte. Berkeley hatte die relativistischen Konsequenzen der sensualistischen Erkenntnisauffassung gesehen und nur durch eine neue Metaphysik von in den sprachlichen Zeichen sich manifestierenden Grundbedeutungen allen Seins und Denkens auflösen können. Der empiristische Ansatz, das Problem der Bedeutung durch die Reduktion auf die Bezeichnung lösen zu wollen, führte auf die Widersprüche des Konzeptualismus und Konventionalismus. Gerade gegen Meinungswillkür und gegen Verführung durch dogmatische Sprachregelungen, wogegen die sensualistische Philosophie anging, war durch die Zeichentheorie keine theoretische Barriere zu errichten. Das logische Problem der sensualistischen Erkenntnisauffassung bestand in der Differenz zwischen drei Gliedern des Erkenntnisvorgangs. Die wahrgenommenen Qualitäten führten auf die Vorstellung von Dingen mit bestimmten Eigenschaften. Diese aber besaßen ihre Eigenschaften nur

62 A. Ferguson, Grundsätze der Moralphilosophie (1769), Leipzig 1772, S. 123.

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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als Elemente von Relationen. Schon der Kausalbegriff und um so mehr der Gesetzesbegriff sind nur auf die relationale Struktur der Wirklichkeit zu beziehen. Diese ist aber nicht wahrnehmbar, sondern nur jeweils denkbar und quantifizierbar. Baumgarten hat die skizzierte Problematik der empiristischen Erkenntnislehre ebenfalls psychologisch lösen wollen. Er teilte W. James’ Theorie der „feelings of relations“ und verband sie mit der damals neuen Gestaltpsychologie.63 James meinte, wir erfassten niemals isolierte Gegenstände, sondern stets deren Eigenschaften sowie deren Verhältnisse zu anderen „Dingen“. Bereits unsere Wahrnehmungen nähmen Beziehungen war und fixierten sie zu komplexen Gestalten. Baumgarten resümierte das im erkenntnistheoretischen § 6 seines Weg des Menschen, und es war der Standpunkt der an James orientierten Genfer psychologischen Schule Claparèdes und Flournoys. Die eigentliche logische Thematik der Darstellungs- und Symbolisierungsfunktion des Bewusstseins war damit nicht aufgenommen. Baumgarten hat von Wittgenstein, vom Wiener Kreis kaum Notiz genommen, um Auflösungen von unbefriedigenden Punkten des Sensualismus zu erörtern. Der Grund dafür wird bei seiner Diskussion der Argumentation E. Cassirers deutlich. Baumgarten trennte mathematisch-naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Disziplinen. Für die ersteren gestand er die besondere Rolle der Annahme logischer Ordnungsformen des empirischen Materials zu, die natürlich nicht Elemente der Reihen des Datenmaterials sein könnten. Für die Kulturwissenschaften und fürs alltagspraktische Bewusstsein gelte aber die „psychologisierende Erkenntnistheorie“, für die das mathematische Methodenideal nur ein Sonderfall sein könne.64 Das ist kein so bedenkliches Herangehen, wie es zunächst den Anschein haben könnte, denn ohne Zweifel steht hinter der logischen Formgesetzlichkeit des Denkens die Psychologie der Denkvorgänge und der Begriffsbildung. Baumgarten ging es wohl eigentlich darum, die partielle Sonderstellung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Ebene der modernen Kultur zu kennzeichnen. Die konkreten psychologische Aspekte der Identifizierungsund Generalisierungsvorgänge, der Lernvorgänge, insbesondere des produktiven Denkens, treten tatsächlich bei sozialbezogenen, bei lebensweltlich direkter eingreifenden Theorien mehr in den Vordergrund als bei mathematischen Disziplinen. Baumgarten entwickelte die erkenntnistheoretische Thematik vor allem unter den individual- und sozialpsychologischen Gesichtspunkten der Konditionierung von Erfahrung und Lernprozessen. Zum logischen Atomismus Wittgensteins sagte er nichts, aber zu den Ursprüngen bei dessen Lehrer B. Russell. Er behandelte das im Zusammenhang seiner ausführlichen Diskussion des angloamerikanischen Neorealismus und dessen Auseinandersetzung mit der Metaphysik Bradleys (Moore, Holt, Perry, Russell). Er sah 63 Der amerikanische Herausgeber Wertheimers: „Das Prägnanzprinzip, das von Wertheimer zuerst für Wahrnehmungsstrukturen aufgestellt wurde, behauptet, dass die Organisation des Feldes so klar und einfach zu werden strebt, wie es die gegebenen Bedingungen gestatten.“ (M. Wertheimer, Produktives Denken (1943), Frankfurt/M. 1957, S. 225) 64 Baumgarten behandelt alles im Neukantianismus-Abschnitt von Erkenntnis – Philosophie – Wissenschaft aus dem Jahre 1927. Es gehe ihm darum, „den Gegensatz der mathematisierenden und der psychologisierenden Erkenntnistheorie in seiner ganzen Schärfe und seinem Umfang zum Ausdruck zu bringen.“ (S. 454)

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das Problem des Atomismus, für den die Wirklichkeit zunächst eine Menge von gegeneinander unabhängigen Tatsachen sei, in den zuerst eintretenden subjektivistischen Konsequenzen. Empfindungen als einzige reale Erkenntnisquelle können nur einzelne und eigentlich auch nur materielle Ereignisse erfassen. Ohne die Annahme realer Gegenstände und Strukturen – für Bradley und Baumgarten im Metaphysik-Zusammenhang einer übergreifenden geistigen Realität – wende sich der Atomismus zum Subjektivismus. Was „sind“ die Tatsachen? Wir können sie real nur als Sinneswahrnehmungen erfassen und ideal nur logisch-formal als Termini gemäß syntaktischen Regeln beschreiben. Baumgarten zitierte eingehend Russells und Moores neuen Realismus und konzentrierte seine Kritik auf den Formalismus einer Logik der Sinnesdaten bei Russell.65 Er sah richtig die unzureichende behavioristische Psychologie und Handlungstheorie darin und setzte nach der psychologischen Seite James’ neue Psychologie des „stream of consciousness“, nach der objektiven aber seine Metaphysik des vereinenden Geistes dagegen. Baumgarten berief sich gerade auf die neue Naturwissenschaft, „die den Begriff der Substanz längst durch den der Funktion ersetzt“.66 Doch gerade der funktionale Zusammenhang von Wirklichkeit und erkennendem Subjekt werde vom atomistischen Realismus zerstört. Den logischen Positivismus sah er als das Resultat. Philosophie war dann tatsächlich konzipiert als eine Metasprache für die Analyse der logischen Syntax wissenschaftlicher und anderer Sätze. Vom atomistischen Realismus sagte Baumgarten darum: „Wie alle rein funktionelle Betrachtungsweise hat er als technisches Hilfsmittel zu gelten“, so dass „es kein Wunder ist, wenn das Weltbild dieses Denkers so trostlos mechanisch ausfällt“.67 Baumgarten sah wohl den Wiener Kreis im gleichen Licht und setzte seine Antinomik der Erkenntnis und der Moralphilosophie dagegen. Seine Orientierung in der Intelligenzproblematik sah er von der Denkpsychologie der Zeit, etwa bei Wertheimer und Bühler, bestätigt.68 Bühler z. B. ging, wie Baumgarten auch, vom Erfordernis und Bedürfnis der Verhaltenssteuerung bei Gemeinschaftsgliedern aus. Dafür würden „semantische Einrichtungen“ geschaffen, und das öffne die Semantik „dem Aspekt der Erlebnispsychologie“ und fordere ihn. Die Zuordnung der sprachlichen Zeichen zu den Gegenständen bilde die Sinndimensionen von Sachverhalten und damit eine eigene Welt von Kommunikationsmitteln. Der Begriff der Darstellungsfunktion der Sprache (also der Repräsentation von Objekten) sei nur zu gewinnen, wenn man sie „als Instrument des Erkennens, in letzter Linie als Instrument der Logik betrachte.“69 Bühler kam in 65 Aus Russells The analysis of Mind (1921, dt.: 1927): „I contend that the ultimate constituents of matter are not atoms or electrons, but sensations and other things similar to sensations as regards extent and duration.“ (Erkenntnis, S. 581) 66 Erkenntnis, S. 578. 67 Ebd., S. 582. 68 M. Wertheimer, Über das Denken der Naturvölker, Zahlen und Zahlengebilde (1911/12), in: ders., Drei Abhandlungen zur Gestaltpsychologie, Erlangen 1925, S. 106-163; K. Bühler, Der Erlebnisaspekt in der Sprachtheorie, Das Zweiersystem von Zeichengeber und Zeichenempfänger. Die Darstellungsfunktion der Sprache, in: ders., Die Krise der Psychologie, Jena 1927, S. 30-62. 69 K. Bühler, a. a. O., S. 50f, 59.

III. DER EMPIRISMUS IN DER NEUZEITLICHEN PHILOSOPHIE

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seiner Zusammenfassung ebenfalls auf den Platz der spezifischen Fragestellung des Marburger Neukantianismus zu sprechen. Baumgarten dachte im ganzen Zusammenhang der Psychologie seiner Zeit. Das vom Neukantianismus offen gelassene Problem sahen Baumgarten wie Bühler in der ungenügenden Phänomenologie der genetischen Stufen der Begriffsbildung. Baumgarten lobte die Fortschritte in diesem Punkt ausdrücklich bei Husserl und an N. Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis (1921).70 Baumgarten bestritt nicht die angeborenen Sprachstrukturen im Sinne der Universalen Grammatik, wie Chomsky sie dargestellt hatte. Aber er machte solche wesentlichen Punkte auch nicht zu seinem Thema. Chomsky selbst unterschied innerhalb seines rationalistischen Ansatzes zwischen biologisch angeborenen Strukturen kognitiver Kompetenz und den zu erlernenden Handlungsmustern, um „das ganze System der kognitiven Fähigkeiten durchsichtig zu machen.“ Die Intelligenzpsychologie habe dann „an die Erforschung der Organisation des Verhaltens in gegebenen Situationen zu gehen“, um z. B. „eine Erklärung für Handlungen zu suchen, die zwar den jeweiligen Situationen angemessen, aber nicht durch entsprechende Stimuli kontrolliert sind.“71 Baumgartens Kritik an James’ empiristischer Erkenntnistheorie setzte bei dessen kurzschlüssigem Utilitarismus ein. Er habe Erkenntnis und praktische Bewährung miteinander verkoppelt, während sie doch zunächst als spezifisch verschiedene Aspekte zu trennen seien.72 4. Zusammenfassung wissenschaftslogischer Schwierigkeiten des Sensualismus Die Crux des traditionellen Empirismus hatte immer in vier Punkten bestanden, die die Kritik der verschiedenen Formen des Idealismus ermöglichten. Das allgemeine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Problem des sensualistischen Empirismus bestand in den Schwierigkeiten, die sich der psychologischen Begründung des fachtheoretischen Wissens entgegenstellten. Innerhalb der alltagspraktischen Erfahrungswelt sind solche Interpretationen von Verifikation und Wahrheit möglich. Die psychologische und insbesondere die assoziationspsychologische Verankerung der Erkenntnistheorie hatte zu zeigen, dass theoretisches Wissen die Fixierung relativ konstanter Relationen bedeute. Doch Relationen sind keine empirisch feststellbaren Tatsachen, son70 N. Hartmann „stellt an den Anfang seiner Erkenntnistheorie eine eingehende Analyse des Erkenntnisvorgangs, in der wir eines der besten Ergebnisse der subjektivistischen Forschung sehen. ... ich kenne kein Buch in der neuern erkenntnistheoretischen Literatur, das mich mehr als das Hartmannsche in der Überzeugung bestärkte hätte, dass nicht der objektiv-logischen, sondern der subjektiv-psychologischen Betrachtungsweise die Zukunft der Erkenntnistheorie und der Philosophie gehört.“ (Erkenntnis, S. 456) 71 N. Chomsky, Reflexionen über die Sprache, Frankfurt/M. 1977, S. 52. Die Rationalisten blieben auch deutlich zurückhaltend gegenüber der sensualistischen Position: „Außerhalb der Grenzen der kognitiven Kompetenz besitzt infolge einer unglücklichen Notwendigkeit eine empirische Lerntheorie Gültigkeit.“ (Ebd., S. 53) 72 Der Weg, S. 132.

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dern aussagenlogische Strukturen. Assoziationspsychologische Analysen müssten demnach als Verifikationskriterien ausscheiden. Um das zu vermeiden, war der Assoziationsbegriff schon früh in der Richtung einer gestaltpsychologischen Interpretation entwickelt worden. Der sensualistische Empirismus suchte die Vorstellungsassoziation als elementare, gleichsam gestalthafte erkenntnistheoretische und moralphilosophische Tatsachen zu begründen. J. St. Mill (1806 – 1873) und Alexander Bain (1818 – 1903) kehrten bei der Beziehung unserer Vorstellungen auf äußere Objekte zur im Grunde alten stoischen These zurück, Erkenntnis erweise sich überhaupt als ein gewisser Zwang zu festen Vorstellungsverbindungen. Mill ging insofern über die antike Idee der phantasia kataleptike hinaus, als er die assoziationspsychologische Theorie aufs Ziel einer kompletten induktiven Logik bezog. Sie hatte festzustellen, wie die Kriterien von Folgerungen zu gewinnen seien, die über die unmittelbaren Wahrnehmungen von Objekten und über innere psychische Zustände hinausschritten. Mill suchte derart vom Assoziationsbegriff zu einer Urteilstheorie zu gelangen. Doch mehr als die Überzeugung von einer konstanten Relation konnte damit nicht erreicht werden. Die charakteristische fachwissenschaftliche Konstanz von Aussagen war mit dem Verhältnis von Bewusstseinszuständen nicht gut darzutun. James hat das Problem von der Assoziationspsychologie zwar weggeführt, aber nicht gelöst mit seiner These vom Feldcharakter der feelings of relation und deren immer bei den Ganzheiten mit aufscheinenden fringes. Die moralphilosophische Anwendung des assoziationspsychologischen Induktionismus bestand im aussichtslosen Versuch, einen konsequenten Übergang vom unmittelbar physisch und psychisch gesetzten individualistischen Antrieb zu einer sozialphilosophisch konkretisierbaren Ethik zu gewinnen. Ein zweiter Punkt: Der Empirismus war vom sinnlich-konkreten Individuum ausgegangen und mit seiner individualpsychologisch ausgerichteten analytischen Methodik zu einer Person-Umwelt-Relation gelangt, die psychologisch als Reiz-Reaktion-Schema ausgeformt worden war. Damit war die Willensfreiheit des Menschen, wenn nicht direkt aufgegeben, so doch mit Zusatzannahmen als Wahlmöglichkeit zwischen feststehenden Varianten stark beschnitten. Auf dem Gegenpol standen notwendige Konstellationen sozialer Milieus und determinierte Individuen, wie die Wagen auf einer abschüssigen Schiene, auf die sie gesetzt wurden. Gegen diese Blöße des Empirismus, die Gesellschaftsgeschichte als Spezialfall von Naturgeschichte hinzustellen, setzte der Idealismus die rettende Macht übergreifender personaler oder welthafter Geistfaktoren; bei Hegel führten sie Mensch und Welt sogar bis zur Vereinigung herauf, dass Bewusstsein und Sein einander adäquate Seinshälften darstellten. Ein dritter kritischer Punkt des Empirismus hatte darin bestanden, dass die Individuen als von physischen Antrieben geleitete und zugleich als isolierte vorausgesetzt wurden. Wie würde aus der chaotischen Basis eine stabile und dazu auch eine den Glücksanspruch der Vereinzelten erfüllende Ordnung hervorgehen können? Der Machiavelli- und Hobbes-Welt war dann nur mit der ebenso abstrakten Anthropologie ursprünglicher Güte des Menschen (Erasmus, Morus, Rousseau) zu begegnen, einer These, der das Leiden durch Ungleichheit, Unrecht und Kriege deutlich widersprach. Doch Baumgarten folgte ihr mit Einschränkungen, um den platten Selbstverständlichkeitsanspruch des bourgeoisen Egoismus als bedingt zurückzuweisen.

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Schließlich ergab sich eine weiterführende Komplikation durch den Empirismus, da mit ihm ein abstrakter kultureller Relativismus zu begründen war. Philosophie wird ohne universalistischen Anspruch als wissenschaftliche Denkweise fragwürdig. Außerdem formuliert sie Sachverhalte unterm Horizont moralischer und juridischer Postulate. Wie soll eine materiale Moralphilosophie konkret sein wollen und zugleich generell gelten können? Die Stärke der empiristischen Begründungen in Moral und Recht lag und liegt gerade in deren inhaltlicher Spezifik. Doch die unterschiedlichsten Interessenlagen lassen sich material begründen. Zudem gibt es keine materiale Prämisse, die nicht ihre Nachtseite zeigte. Man denke für die Gegenwart an die einflussreiche materiale Ethik des amerikanischen Kommunitarismus. Sie will gegen die Atomisierung der Lebenswelt in der hochindustrialisierten Gesellschaft Vergemeinschaftungen naher Verantwortung schaffen, ruft aber zugleich Anstand als eine Ordnungswelt gegen das Chaos der Deklassierung und Vereinzelung auf. Konservative Ideologien zumal werden um so eruptiver, je kurzschlüssiger sie auf gefühlte Tatsachen pochen. Um den Schwierigkeiten des lokalen und temporären Relativismus zu begegnen, muss der Empirismus den Kreis der materialen Gehalte enzyklopädisch erweitern und eigentlich überdehnen, ohne doch einen kulturellen Universalismus erreichen zu können.73 5. Gestaltpsychologie. Neue Begründungsmöglichkeiten des Empirismus Der Schritt des Empirismus über die unbefriedigenden Konstanten konnte nur durch eine Neufassung der schöpferischen Aktivität des Verhaltens erfolgen. Das erforderte eine psychologische Grundlegung, die sowohl die reine Bewusstseinspsychologie als auch die Summenpsychologie des Assoziationsprinzips mit deren Voraussetzung eines Mosaikcharakters der Sinneserfahrung überwand. Gestaltpsychologie und Psychoanalyse schufen diese Möglichkeiten für einen neuen Empirismus, der die genannten kritischen Punkte besser zu bewältigen vermochte. Zugleich erforderte die Gestaltpsychologie eine empiristische philosophische Interpretation. Sie löste durch experimentelle Darstellungen von psychischen Ganzheiten den idealistischen Seelenbegriff als eine unfertige Metapher für die nun empirisch verifizierbaren Prozesse auf. Das sog. Schwellenphänomen beim Messen von Reizen nach dem Weber-Fechnerschen Gesetz hatte Fechners Psychophysik vor die Frage geführt, wie schließlich die Beseelung der Körperwelt überhaupt zu denken sei. Konsequent entschied Fechner (1801 – 1887), dass der Geist das verknüpfende Prinzip der körperlichen Verbindungen sei. Er bekannte selbst die naheliegende und archaische religiöse Annahme, dass zur Seele ein für die äußere Erscheinung geschaffener Körper gehören müsse, die Seele selbst ins höhere Leben aller Geister in der Welt eines höchsten Geistes verwoben sei.74 Der spekulative Seelen73 Vgl. F. Kambartel, Vernunftkultur und Kulturrelativismus, in: H. Steinmann, H. G. Scherer, Zwischen Universalismus und Relativismus (1998); M. G. Singer, Generalization in Ethics (1961), dt.: Verallgemeinerung in der Ethik. Zur Logik moralischen Argumentierens, Frankfurt/M. 1975; J. Habermas, Was heißt Universalpragmatik? (1976) in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984. 74 G. T. Fechner, Über die Seelenfrage, Leipzig 1861.

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und Geistbegriff war durch die erfahrungsmäßige Darstellung der Gestalt- oder Formproblematik als überflüssig gezeigt worden. Damit sah sich die antiempiristische idealistische Polemik in ihrem Kernbezirk erschüttert. Die Beiträge der Gestaltpsychologie zur neuen Sicht auf die Aktivität der Person lassen sich im Zweckgedanken der Gestalt- oder der Ganzheitsauffassung, wie die Leipziger Schule Felix Kruegers (1874 – 1948) sagte, zusammenfassen. Die Gegenstände der Außenwelt werden als komplexe Erscheinungen wahrgenommen, bei denen die Gestaltwahrnehmung den Teilen vorgeordnet ist. Diese sind Teile nur in Bezug auf eine je konkrete Figur oder Ganzheit, die also deren Zweck darstellt. Das hat bereits Folgen für einen elementaren Bereich, wie dem freien Einsatz gelernter Erfahrungen bei einfachen Wahrnehmungsleistungen. Eine solche Orientierung geht über die Antwort auf isolierte Netzhautreize hinaus.75 Im Weiteren ergaben sich daraus Folgen für einen veränderten Begriff der Erfahrung, also für den Basisbegriff des Empirismus überhaupt. Die ganzheitliche Struktur der Aktivität des Subjekts konnte ohne idealistische Zusatzannahmen interpretiert werden, gleichsam „erfahrungswissenschaftlich“, wie es Baumgarten von seiner Metaphysik sagte. Das Individuum wurde bereits hinsichtlich der elementaren Verhaltensakte in einen umfassenderen Gestaltungsprozeß gebracht, der dann einen ebenso komplexen dynamischen Zusammenhang mit der „Umwelt“ bildete.76 Der Mensch wurde nicht mehr substantial, sondern im Feld eines Funktionsgefüges gesehen, nicht primär reagierend, sondern aktiv als ein mehrschichtiges Subjekt in der Dynamik von dessen sich verändernden Zielsetzungen und Verhalten. Der ursprüngliche engere Kreis der Gestaltphänomene in den Wahrnehmungsleistungen erweiterte sich zu den Theorien der psychischen Felder und der Sozialpsychologie.77 Dem Empirismus wurden von der Gestaltpsychologie im Rahmen experimenteller Methoden Möglichkeiten für die Operation mit Sinnstrukturen geboten. Das bot Voraussetzungen, die Argumentationstradition zwischen Empirismus und den verschiedenen Richtungen idealistischer und vor allem lebensphilosophischer Philosophie zugunsten des Empirismus zu verändern. Er kam in die Lage, die Ausprägung von Gattungsformen erfahrungswissenschaftlich darzustellen. Die Hypostasierung des Allgemeinen hatte den Kernbezirk der idealistischen Argumentation gebildet. Für alle Kultur- und Naturwissenschaften kommt es auf die Formbestimmungen an, in denen sich die verschie-

75 M. Wertheimer, Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, in: ders., Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Erlangen 1925, S. 1-105. 76 „Unsere Grundannahme über die Prozesse, auf denen das Anschauungsfeld beruht, muss den Prinzipien der Lehre von der reinen Sinneserfahrung und denen des Behaviorismus strikt widersprechen. Anstatt Lokalreize mit lokalen und gegenseitig unabhängigen Sinnesdaten zu beantworten, scheint der Organismus vielmehr auf eine gegebene Reizkonstellation mit einem Gesamtprozess zu reagieren, der als funktionelle Einheit die Antwort des Nervensystems auf jene Gesamtsituation darstellt.“ (W. Köhler, Psychologische Probleme, Berlin 1933, S. 67) 77 K. Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie, in: ders., Werkausgabe, Bd. I: Wissenschaftstheorie I, Stuttgart 1981, S. 233-278; Art. „Feldtheorie“, T. II, Hist. Wb. d. Philos., Bd. 2, a. a. O., Sp. 926-929; vgl. a. zu K. Lewin in T. V, Anm. 186.

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denen materialen Gehalte bewegen. Was sagte etwa die Bestimmung der Arbeit als Erzeugung von Gütern, die auch ausgetauscht werden können, ohne die Bestimmung der sozialen sinnhaften Form, innerhalb deren das geschieht. Das führte auf die Ergänzung der grob empiristischen Beschreibung durch spontan eingesetzte völkische Wesenheiten, etwa die kühne Sinnesart des ionischen Stammes als Ursprung der Umwälzung der Sippenordnung zur städtischen Lebensform und der Produktionsweise zur Warenproduktion bei den Griechen des 5. Jh.s. Für die Moralphilosophie bedeutete die neue psychologische Grundlegung des Empirismus ein Sinnverständnis, das das Individuum nicht seiner Aktivität im Namen eines übergreifenden objektiven Geistgeschehens beraubte. Im Gegenteil. In einem Gefüge von Gestalteinheiten, die bereits im sensiblen Feld wirken, bleiben Aktivität und Bewegung das Primäre. Deren Richtung wird von der sich wandelnden Topographie der Bedingungen bestimmt. Das Verhältnis zwischen den permanent empirisch auslösenden Faktoren und der übergreifenden objektiven Tendenz wird als konkretes Vermittlungsgeschehen realer Möglichkeiten erkennbar. Die Bewegung wird zu einer sich in jeder Konstellation erneuernden Richtungsgebung. Auf der Gegenseite erscheint die jeweilige Handlungsintention innerhalb eines beweglichen sozialen Feldes. Die kulturwissenschaftliche Tragweite des von der neuen Psychologie ermöglichten Erfahrungsbegriffs zeigte sich etwa im Disput der Historiker der Annales-Schule mit der dogmatisierten historisch-materialistischen Lesart des geschichtlichen Determinismus. 6. Sensualistische Sozialisierungsthematik Die sensualistisch begründete Sozialisierungstheorie musste einen assoziationspsychologischen, einen generellen utilitaristischen und einen Widerspruch im Hinblick auf die Rechtsordnung auflösen. Die eudämonistische Ethik wurde erst mit den Lebensidealen und den sozialen Geltungsansprüchen des Bourgeois der neuzeitlichen europäischen Gesellschaften zur Grundlage einer umfassenden sensualistischen Sozialtheorie ausgebildet.78 Die Anerkennung des bedürfnishaften Individuums vollzog sich allerdings in einem langen Prozess.79 Die reale rechtliche Stellung der Individuen gegenüber der all-

78 Vgl. P. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, spez. T. VI. 79 „1792 wurde die Wohnung für unantastbar erklärt, 1795 wurden nächtliche Hausdurchsuchungen verboten. Haus und Nacht bezeichneten eine raum-zeitliche Schutzzone und die ‚privacy‘ des menschlichen Körpers, dessen Freiheit und Würde man endlich anerkannte (die meisten entehrenden Körperstrafen wurden abgeschafft). ... Fast überall gewann das Individuum ideell und moralisch an Raum. Die Gesetze hinkten hinter der Wirklichkeit her. In der Praxis begehrten immer mehr Menschen gegen die einengenden Zwänge des Kollektivs und der Familie auf ... Allein schlafen, ungestört sein Buch oder seine Zeitung lesen, sich kleiden, wie es einem gefiel, kommen und gehen, wann man wollte, besuchen und lieben, wen man wollte – darin drückte sich das Recht auf ein Glück aus, das man selber schmiedete. Die Demokratie legitimierte dieses Recht, der Markt förderte es, die Migrationsbewegungen begünstigten es. Die Stadt als neuartiges ‚frontier‘Gebiet ... erzeugte Freiheit und schenkte ungekannte Freuden.“ (P. Ariès, G. Duby (Hg.), Ge-

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mächtigen öffentlichen Gewalt blieb noch bis weit ins 20. Jh. hinter der Freiheitsverheißung der eudämonistischen Moralphilosophie zurück. Überhaupt ist zu beachten, dass es sich um den Eudämonismus bei den Wortführern der bürgerlichen Oberklasse handelte, der mit einer charakteristischen Einschränkung behaftet war. Er ging von der illusorischen Prämisse der Existenz isolierter Individuen aus, die über ein bestimmtes Reservoir natürlicher Trieb- und Gefühlsregungen verfügten. Die in methodischer Hinsicht produktive analytische Voraussetzung führte zu unfertigen Fragestellungen hinsichtlich der sozialen Konkretisierung des psychologisch begründeten Moralismus. Wie können die als Einzelwesen gesetzten Individuen kooperierend und anhaltend gesellschaftsbildend gedacht werden? Der große Gesichtspunkt in dem verstellten Ausgangspunkt bestand darin, dass die Gesellschaft als von frei agierenden Individuen konstruiert dargestellt werden konnte. Anders in den Theorien der bäuerlichen und plebejischen Unterschichten, im England des 17. Jh.s, also bei Winstanley, bei den von Cromwell verfolgten Levellern um Lilburne. Der Gegensatz von naturhafter Konstitution der Individuen und gesellschaftlicher Lebensweise trat in dieser Linie der Sozialtheorie nicht auf. Die sensualistische Anthropologie des fühlenden und insbesondere des seine Zurücksetzung erleidenden Menschen besaß in der plebejischen Linie des meist mystisch überlagerten Sensualismus lange Tradition. Die ganze Errungenschaft der christlichen Idee des emotionalen Menschen hatte sich hier als die religiöse Sublimierung des Selbstverständnisses der Armen dieser Erde ausgeformt. Bei den Unterschichten bildeten Emotionalität und Glücksbedürfnis jedes Einzelnen die selbstverständliche Basis einer sich auf Gemeineigentum und Gemeingefühl erhebenden Vergemeinschaftung der Gesellschaft. Hier war immer ein sozialer Sensualismus solidarischer Einzelner als von Zugehörigen zu den verschiedenen Gemeinschaftsgliederungen gedacht worden.80 So wenig die Eigentümerfreiheit als sozialer Kernpunkt des

schichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, Frankfurt/M. 1992, S. 421f) 80 Die Gegenüberstellung von „egoistischer“ und „ethischer Selbstbehauptung“, die den von Ihering so hochgeschätzten Übergang vom ersten zum zweiten, von der „Sitte“ ausgehenden, Band seines Zweck im Recht (1877/1883) erforderte, war für die sozialistische Auffassung ein mit dem Privateigentum zu überwindendes Scheinproblem. Von dieser sozialtheoretischen Tradition wurden jedoch ganze Bereiche der Differenzierung objektiver und subjektiver Rechte zurückgesetzt. Das hatte fürs Verständnis des Verhältnisses der Moral zur Rechtsform des sozialen Zusammenhangs schwerwiegende Folgen. Der Gedanke lag nahe, das Recht überhaupt wieder in moralische Regulierungen zurückgehen zu lassen. Der Absturz der Gesellschaft in vormoderne Führungs- und Gefolgschaftsstrukturen erschien der theoretischen Tradition ungefährlich, da ohnehin für die Arbeitskollektive wie für die benachbart wohnende Bevölkerung an Ordnungsstrukturen gedacht war, analog der vormodernen Sippengliederung. Ihering bot allerdings ebenfalls keine Vermittlung des für ihn auf Lohn und Zwang beruhenden Rechtssystems (des ersten Bandes) mit der uneigennützigen Moralität der geltenden Sitte, die der zweite Band kulturgeschichtlich beschrieb. Einmal wurde das Individuum als selbsttätig im Kampf für sein Interesse dargestellt, das andere Mal erzeugte eine soziale Mechanik praktischer Zwecke der Gesellschaft unabhängig vom subjektiven Bewusstsein soziale Regelungen. Diese Unfertigkeit verhinderte nicht die außerordentliche Leistung

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Sensualismus der Oberklasse für die Besitzlosen geeignet war, ebenso gering veranschlagte die Theorielinie der armen Gleichheitsfreunde die Thematik der komplizierteren Strukturgliederung einer Gesellschaft differenziert entwickelter Lebensfelder und insbesondere die Spezifik der Rechtsstruktur gegenüber der alltagspraktischen Moral in einer nicht nur warentauschenden, sondern nach der zentralen Struktur der warenproduzierenden Gesellschaft. Für die Philosophie der bürgerlichen Lebenseinstellung ergab sich der Sensualismus formell als logische Konsequenz der Destruktion der ontologischen Voraussetzungen des Subjektbegriffs in der rationalistischen Metaphysik des 17. Jh.s. Die sensualistische Tradition schloss sich an Lockes assoziationspsychologische Polemik gegen Descartes’ logische Substanzialisierung des Seelenbegriffes an. Im Zuge der Ausarbeitung eines weltimmanenten Handlungsverständnisses wurde die Theorie immer weiter auf individualistische und sensualistische Prämissen zurückgedrängt. Die von Bacon für erfolgreiches Selbst- und Weltverständnis in den Mittelpunkt gerückte induktive Methode führte die ethische Reflexion zu früher psychologischer Grundlegung, die die materialistische Psychomechanik der Affektenlehre von Descartes und Spinoza assoziationspsychologisch neu zu fassen suchte. Hume hatte dem das umfangreiche zweite Buch seines Treatise of Human Nature (1740) gewidmet. Er bezeichnete hier auch das erste und elementare Problem des sensualistischen Subjektbegriffes, die Antinomie des Selbstbewusstseinsbegriffs, also diejenige zwischen wissendem und sich selbst wissendem Subjekt: Bin ich ein kompaktes Ich oder ein Bündel meiner Perzeptionen. „Wenn ich mir aber den Inhalt des Abschnitts über die Identität der Persönlichkeit genauer überlege, so verirre ich mich in ein Labyrinth von Gedanken; ich muß gestehen, dass ich weder weiß, wie ich die dort ausgesprochenen Ansichten berichtigen, noch wie ich sie als in sich haltbar erweisen soll.“81 Die sensualistische Anthropologie warf für die Moral- und Sozialtheorie zentrale Fragen auf, wie die nach der Realität von Willensfreiheit und überhaupt nach der Möglichkeit einer konstanten identischen Person. Das führte fürs Recht auf die Thematik der Verantwortlichkeit für Handlungen, beim Strafrecht konsequent zum Schuldproblem. Die außerordentliche Elastizität des Eudämonismus als Selbstverständnis-Prinzip für eine durch neue persönliche Bewegungsfreiheit von Privateigentümern ausgezeichnete Gesellschaft, die den Begriff des Privaten als einer zu respektierenden Sphäre voraussetzte und dessen Anwendungsfelder ausdehnte, lag auf der Hand. Der Eudämonismus vermochte, persönliche Freiheit mit der Legitimierung der Erfahrungen der Widerdes Werkes, im Geiste eines nicht mehr romantischen Historismus des 19. Jh.s Recht und Moral in weiten kulturgeschichtlichen Zusammenhang gestellt zu haben. 81 D. Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 1973, Erstes Buch, S. 360. „Wenn ich meinen Blick auf mein Ich richte, so kann ich dies Ich nie perzipieren ohne eine oder mehrere Perzeptionen; ich kann überhaupt nichts perzipieren als eben diese Perzeptionen. Die Zusammensetzung solcher Perzeptionen muß also das Ich ergeben. ... Ist das Ich identisch mit der vorstellenden Substanz? Wenn es dies ist, wie kann dann die Frage erhoben werden, ob das Ich bei einem Wechsel der Substanz weiterbestehen könne? Oder sind sie verschieden? Worin besteht dann die Verschiedenheit zwischen ihnen?“ (Ebd., S. 361f)

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sprüchlichkeit einer Gesellschaft zu vermitteln, in der die Tugenden der selflove eben unweigerlich mit der selfishness einhergehen müssten. Er leistete diese Vermittlung viel erfahrungsnäher als der rationalistische Dualismus von Vernunftsubstanz und widerstrebenden Affekten im Subjekt. Eine persönliche Leidenschaft sozial gefährlicher Art wie etwa Nonkonformismus bliebe beim skeptisch relativierenden Sensualismus nur noch in die ästhetische Genialität oder in religiöse Sektenbildung abzudrängen, um sie im Zirkel der sozialen Akzeptanz zu halten. In der Polemik gegen diese originär liberale Grundtendenz des Empirismus wurzelte dessen Kritik in der deutschen Philosophie des 20. Jh.s. Der ethische Sensualismus stellt eine skeptisch zurückhaltende Moral der Toleranz dar und führt zu einem offenen Rechtsbegriff der Normierung von sozialen Interessen. R. v. Ihering hatte das empiristisch-sensualistische Prinzip in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s noch einmal und mit weit ausladender kulturgeschichtlicher Anthropologie im Zweckgedanken allen Rechts gefasst.82 Früh wurde bereits die Komplikation einer sensualistischen Sozialtheorie auf Basis des naturalistischen Individualismus in der unumwundenen Anerkennung des Dilemmas von individualistischer Subjektmotivation und sozialer Ordnung ausgesprochen. Mandeville hatte die anhaltende Diskussion um die mögliche generelle kulturelle Geltung des eigentlichen Prinzips des moralischen Sensualismus, der Selbstliebe, mit der Zuspitzung zu beenden versucht, dass selbstsüchtige und sogar gefährliche Leidenschaften sozial unentbehrlich seien. Dieses ursprünglich Baylesche Paradox zur Begründung der Überflüssigkeit der tradierten Religiosität für sozialisierende Moral und einer (im Gedankenexperiment) möglichen moralischen Gesellschaft von Atheisten formulierte das Problem, nicht die schließlich zu findenden Lösungen. Die komplexe Struktur der gesellschaftlichen Lebensform war nicht ohne ein Gerüst von Zusatzannahmen außerhalb des analytischen Keims der menschlichen Leidenschaften darzustellen. Hobbes hatte die Folgeprobleme einer sensualistischen, und das bedeutete für seine theoretische Geradlinigkeit: einer naturalistischen Begründung der Moral hervorgezogen und konsequent zu lösen versucht. Bei freigesetzter und gleichsam wilder Moralität 82 „Interesse ist die unerläßliche Voraussetzung einer jeden Handlung – ein Handeln ohne Interesse ist ein eben solches Unding als ein Handeln ohne Zweck, es ist eine psychologische Unmöglichkeit.“ (R. v. Ihering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, Leipzig ²1884, S. 52) Die Schwierigkeiten einer interesseorientierten Sozialtheorie zeigen sich in der unvermittelten Einführung eines faktischen sozialen Miteinander, um zur Rechtsnorm und sogar zur Gewalt als Bildnerin des staatlichen Rechts zu gelangen. Ihering bringt eine „soziale Mechanik“ von egoistischer und sozial gerichteter Zwecktätigkeit ins Spiel. Er setzt voraus, was vom Ausgangspunkt der interessierten Einzelperson her zu erklären wäre (vgl. ebd., Kap. VII). Das führt auf eine positivistische Milieutheorie: „Niemand ist für sich allein da, so wenig wie durch sich allein, sondern Jeder ist, wie durch Andere, so zugleich für andere da ... Wie der Körper, der die Wärme, die er von außen aufgenommen, wieder ausstrahlt, so der Mensch das intellektuelle oder ethische Fluidum, das er in der Kulturatmosphäre der Gesellschaft eingeatmet hat.“ (Ebd., S. 79) Ihering führt das anthropologisch und ökonomisch interessehafte Subjekt zu einem naturalistischen Materialismus des gesellschaftlichen Gleichgewichts. So unbefriedigend die philosophische Konstruktion, es wird damit immerhin der Übergang vom subjektiven Rechtsbegriff zum objektiven mit der liberalen Unterordnung des Staates unters Recht vollzogen.

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erfordert es „harter“ Legalität. Das Recht hat zu garantieren, dass die Leidenschaften soziabel bleiben, die für sich durchaus alle Regeln des Zusammenlebens sprengen würden, wenn es ungestraft geschehen könnte. Mit solcher theoretischer Folgerichtigkeit bis in die Abgründe der sensualistischen Lebensmaxime hinein, die in Kants auf gleicher Höhe stehender Verbindung von Moralität und Legalität durch deren topologische Trennung wieder aufscheint, war das auf Harmonisierung gestimmte Selbstverständnis der prosperierenden Middle class nicht zu beruhigen. So entstand das für den Eudämonismus durch alle dessen Epochen hindurch und bis in die Gegenwart anhaltende Problem, eine Verbindungsschiene von persönlicher Erfolgsmotivation einschließlich empirisch reeller Glückserfahrung und einem überpersönlichen Gattungsprinzip aufzuweisen. Die wechselnden theoretischen Ansätze, eine solche Synthese darzustellen, bestimmten in der englischen Linie von Locke, Berkeley, Hume und der Schottischen Schule bis zu Spencers Positivismus und James’ Pragmatismus die Geschichte des Eudämonismus, der Baumgarten sich anschloss. Die französische Linie ging von Voltaire und Helvétius’ großem sozial ästhetisierendem l’amour propre direkt in den Sozialismus und Kommunismus bei Babeuf, Fourier und Cabet. Durch die Vergesellschaftung oder, wie bei Fourier genauer, durch die Vergenossenschaftlichung des Eigentums fand sich der Egoismus-Stachel in der Verbindung von individuellem Glücksstreben und sozialem Zusammenhalt allerdings gründlich ausgezogen.

Exkurs: Der konservativ-romantische Erfahrungsbegriff Der Empirismus sprach die idealisierenden Annahmen des europäischen Liberalismus von der Gleichheit freier Individuen aus. Daraus ergab sich die offene Perspektive einer experimentellen und gleichsam falliblen Struktur der Gesellschaft. Mit dieser war das Fehlen eines in den lebenspraktischen Bereichen vorzeigbaren Gesamtinteresses der Gesellschaft verbunden. Der Empirismus enthielt bei seinem Anspruch, sich am Beobachtbaren zu halten, einen weit vor seinen Küsten liegenden Rest von nicht Sichtbarem und nicht erlebnishaft Vergewisserbarem. Es konzentrierte sich in den beiden rationellen Formen des mathematisch-physikalischem Naturbegriffs und der juridischen Konstruktion des universalistischen Subjektbegriffs. Er war schon aus diesem innertheoretischen Grunde auf metaphysische oder vernunftreligiöse Aufbauten für weitere Sicht angewiesen. Der produktive Skeptizismus des Empirismus widersprach dem traditionalistischen Verständnis einer in sich geschlossenen und konstanten Ordnung. Mit dem alltagspraktisch statischen und an persönlichen Bindungen haftenden Ordnungsverständnis hatten sich die aristokratischen und klerikalen Besitz- und Hierarchieansprüche verbunden. Dazu trat ein zweiter idealisierender Aspekt des Empirismus, der den nahen Erfahrungsbegriff überschritt. Der induktive Gestus des Empirismus legte den Akzent auf das werdende Geschehen und auf die Zukunft als wesentlicher Bezugsfront. Insbesondere die vom Liberalismus vertretenen Freiheitsrechte des Einzelnen und mehr noch das von ihm apostrophierte Gesamtinteresse der Gesellschaft existierten aber nur in unpersönlichen juristischen Konstruktionen. Der innerweltlichen Realität eines möglichen Seins ist schwerer zu vertrauen als der Irrealität einer jenseitigen Erwartung.

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Gegen die mit dem Empirismus verbundenen universalistischen Gerechtigkeitsperspektiven wurde immer wieder ein Erfahrungsbegriff aufgeboten, der den Akzent weg von der Bewegung in die Zukunft auf die Geltungsmacht der Tradition richtete. Alle konservativ-holistischen und die daraus hervorbrechenden faschistoiden Ideologien des 20. Jh.s griffen auf diese ursprüngliche Konstellation zurück. Insbesondere sollte der praktische Konstruktivismus des Empirismus widerlegt werden, dass die Geltung kultureller (moralischer, juristischer, sozialer) Prinzipien in induktiven öffentlichen Verständigungsprozessen gewonnen werden könnte. Der Erfahrungsbegriff wurde dafür reduziert auf die assoziative Unmittelbarkeit des Beobachtbaren, bzw. des Gewohnten. Dann rückte das allgemein Geltende in ein überempirisches, entweder traditionalistisches oder irrational willenshaftes Reich des aus dem Verborgenen aufzurufenden Eigentlichen. Die Polemik gegen die evolutionistischen und die liberal-pragmatischen Kernpunkte des aufklärerischen Empirismus hatte früh eingesetzt. Sie hatte die assoziationspsychologischen Grundlagen der Theorie des Denkens aufs Korn genommen und die damit verbundenen Schwierigkeiten, von diesen aus Kriterien der Allgemeingültigkeit zu bestimmen. George Berkeley (1685 – 1753), seit 1734 Bischof in Irland, zog die Widersprüche des assoziationspsychologischen Subjektbegriffes hervor. Er suchte zu zeigen, dass aus konsequentem Sensualismus sowohl die Auflösung des Subjekts in Assoziationen als auch die Unmöglichkeit des konstanten weltimmanenten Bezugs auf eine materielle Realität folge. Lockes Sensualismus war ohne Mühe zum Subjektivismus und Relativismus zu führen, wenn man sagte, dass die Welt der „Erfahrung“ im Grunde nur auf Bewusstseinstatsachen verweise. Allgemeine Sätze besäßen dann keine Beziehung auf eine logisch ausweisbare Realität. Moralische und soziale Ordnungsbegriffe könnten sich nur auf von der verweisenden Sprache der Zeit verbürgte Glaubenssysteme stützen. Berkeleys Spiritualismus argumentierte im theoretischen Bezug nominalistisch, praktisch dagegen substantialisierend idealistisch, um moralische, juridische und religiöse Ordnungsbegriffe außerhalb der falliblen Kommunikationsbereiche der Individuen zu begründen. Der auf zukünftige Resultate gerichtete, moralisch und rechtlich emanzipative Individualismus des Empirismus bot nach der Französischen Revolution offene Angriffsflächen, die den romantisch-konservativen Empirismus der Restaurationszeit entstehen ließen. Er setzte bereits am Ende des 18. Jh.s ein bei Pierre Maine de Biran (1766 – 1824) und Adam Müller (1779 – 1829) als Ablehnung des auf Naturwissenschaft, Liberalismus und eine Geschichtsphilosophie der Freiheit gerichteten sensualistischen Empirismus der Aufklärer. Eine merkwürdige Verbindung entstand: Kritik der quantifizierenden, die Wirklichkeit zerstückelnden Wissenschaften, Kritik auch der Verelendung im Gefolge der industriellen Revolution und Apologie einer idealisierten Feudalgesellschaft mit deren persönlichen Dienstbarkeiten. Die allgemeine Denkform dessen war ein emotionales Welt- und Zivilisationsverständnis, das gegen die mathematische Naturwissenschaft und den „Atomismus“ des liberalen Verfassungsrechts eine Einheit von alltagspraktischer, ästhetischer und religiöser Weltaneignung bewahren wollte. Die produktive Fragestellung des liberalen Empirismus, die Auffassung der Individualität in Bezug auf die rechtliche und die soziale Relation, in der alle Individuen

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stehen – notwendige Konsequenz der individualistischen Freiheitsidee –, wurde abgebrochen und die erlebnishafte Sozialisierung des empfindenden Subjekts dagegen gesetzt. Die Person war dann nicht Rechtssubjekt, sondern organischer Bestandteil einer Ordnung, die sich nicht durch Öffentlichkeit, sondern durch Führung regulierte. Die romantischen Naturphilosophen setzten zu Buffons Entwicklungsgedanken hinzu, Natur sei wohl nur das Vorbewusste, doch das wissenschaftliche Bewusstsein zeige uns bereits wieder eine entseelte Natur. Zu einer Tapete des Geistes habe Schelling die Natur herabgewürdigt, entgegnete Carl Gustav Carus dem entwicklungsgeschichtlichen Idealismus. Das gesuchte qualitative Weltbild einer uns emotional verwandten Natur versprach als produktives Organ des Erkennens ein induktives Erfahren oder Öffnen der Erscheinungen, das dem erlösenden Punkt zustrebe, das Innere der Natur als mit unserem Fühlen verwandt zu erweisen. Die Form des Leibes sei die Erscheinungsweise des Seele, hatte Novalis gesagt und: „Das Äußere ist ein in Geheimniszustand erhobenes Innere“. Baudrillard wiederholte solche Anmutungen, etwa im Aperçu, die Realität des Scheins sei unsere Rettung. Mit stärkerer Muskulatur des Antiintellektualismus hatte Ludwig Klages das schon formuliert: „Während jedes außermenschliche Lebewesen, wenn auch gesondert, in eigener Innerlichkeit, im Rhythmus des kosmischen Lebens pulst, hat den Menschen aus diesem abgetrennt das Gesetz des Geistes. Was ihm als dem Träger des Ichbewußtseins im Lichte der Überlegenheit vorausberechnenden Denkens über die Welt erscheint, das erscheint dem Metaphysiker, wenn anders er tief genug eindringt, im Lichte einer Knechtung des Lebens unter das Joch der Begriffe.“ Der Erfahrungsbegriff des romantischen Empirismus habe sich gewandt gegen die „experimentierende Manier, die die Natur erobert, erklettert, erstürmt“. An die Stelle präziser methodischer Reflexion wurde ein ästhetisches Empfinden der „sich offenbarenden Mächte“ gerückt. Adam Müller hatte das seinerzeit mit einer Ablehnung der englisch-französischen Physik durch deutsche Wissenschaft verbunden.83 Der romantische Empirismus wollte das wissenschaftliche Denken mit dem Erleben verbinden. Er schuf dafür paradoxerweise die Trennung von Wahrnehmung und Intellekt, sowie von starrer äußerer Form und lebendiger Innerlichkeit. Logisch gesehen, kultivierte er die theoretische Schwäche des klassischen Empirismus. Das war die unfertige Trennung von materialen und funktionalen Theorieelementen gewesen, mit der Folge ungenügender Fassung der Relations- und der Allheitsproblematik. Condillacs Gleichschaltung von Benennung der Wahrnehmungsdaten, Logik der Begriffsverbindung und Rechnen hatte die Spannung zwischen der favorisierten Induktionsmethode und der mathematischen Formalisierung der Theorien nur verbal überbrückt. Der kulturelle Gestus des romantischen Empirismus meinte Bewahrung und Ablehnung, nicht Veränderung, schon gar nicht Fortschritt, den er als intellektualistische und demagogische Täuschung abtat. Der phänomenologische Einsatz zielte hier nicht, wie in Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), auf die sich schrittweise erweiternden Vermittlungen des subjektiv beschränkten alltagspraktischen Wahrnehmungsfeldes mit

83 A. Müller, Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur (1806), München 1920, S. 123f.

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den objektiven Kulturfeldern. Er setzte, wie es Heidegger noch einmal versuchte, beim Wahrnehmen der sich darbietenden Phänomene an und wandte sich, statt zur Objektivität, mit der Selbsttäuschung einer Vertiefung zurück ins Innere. Die erlebnishafte Individualität bildete das Zentrum der romantischen Erfahrungsphilosophie. Die Sorge über den geschichtlich offenen Zeitbegriff des klassischen Empirismus ging als konservativer Protest nach innen. Die Konsequenz bestand in der Affirmation traditionalistisch und willensmäßig gestraffter Ordnungsvorstellungen. Im 20. Jh. nahm das der verfassungsrechtliche Dezisionismus wieder auf. Der romantische Erfahrungsgedanke war nicht intellektuell-konstruktiv gerichtet, sondern anschauend-genealogisch. Das gewann in Bezug auf die Sozialtheorie markanten konservativen Sinn. Alle Dinge, sagte Adam Müller in seinen Berliner Vorlesungen Über König Friedrich II. und die Natur, Würde und Bestimmung der Preussischen Monarchie (1810), alle Dinge stünden in einer organischen, wie geschlechtliche Verhältnisse Liebender, Vereinigung der Gegensätze. „Wenn, wie es heut zu Tage der Fall ist, diese erste und wesentlichste Eigenschaft der Dinge verkannt wird; wenn der Mensch sich in die Einzelheit der Dinge und Gedanken vertieft, ihre heilige Genealogie aber versäumt – so wundere man sich nicht weiter, daß der Zusammenhang, das Band aus dem Leben, zumal aus dem politischen, verschwindet.“84 Im Aufsatz Streit zwischen Glück und Industrie (1809) wird das Zeitalter „der Weltherrschaft der Industrie“ als das der Listigen und Selbstverlorenen angeklagt. Die „Anhänglichkeit ans Hergebrachte“ werde dem „Evangelium der Ökonomie und Industrie“ (Novalis) geopfert.85 Im Sinne der historischen Rechtsschule werden Abstraktionen als Grundlage der Verfassungen und der Verträge zwischen Staaten abgewiesen, abstrakte Worte, „die sich bald Aufklärung, bald Menschenrecht, bald Freiheit der Meere, bald Gleichgewicht nennen.“86 Hier begann ein Realismus leibhaftig erfahrener Wirklichkeit das Realprocedere der Freiheit und Gleichheit abzuweisen. Bei interessanten Veränderungen findet sich vieles von einer konservativen empiristischen Wendung gegen den Wissenschaftsbezug der Philosophie des späten 19. Jh.s und gegen den philosophischen Liberalismus im 20. Jh. bei Heidegger wieder, und in dessen Nachfolge auch in sog. postmodernen Kritiken des Intellektualismus, also z. B. bei Simondon, Derrida oder Deleuze. Heidegger setzte mit einer Phänomenologie der unmittelbaren Erfahrung ein. „Ontologie ist nur noch als Phänomenologie möglich.“87 84 A. Müller, Über König Friedrich II und die Natur, Würde und Bestimmung der Preußischen Monarchie, Berlin 1810, Achte Vorlesung, S. 211. Von der „verwirrten Zeit“ heißt es, dass „in der allgemeinen Schätzung der Dinge nichts aufkommt, als der Privatmann, und wo Frauen, Ideen, Vaterland, alles was nicht leibhaftig producirt und zuschlägt, gering geachtet wird.“ (Ebd., S. 213) 85 „Die Anhänglichkeit am Hergebrachten und alles, was nur mit einigem Schein für Aberglauben und oder Vorurteil gelten konnte, wurden von diesen neuen Priestern der Industrie als ein besonderer Feind des Menschenglücks verfolgt.“ (A. Müller, Streit zwischen Glück und Industrie, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, hg. v. J. Baxa, Jena 1931, S. 89) 86 A. Müller, Die Elemente der Staatskunst (1808/09), Meersburg am Bodensee/Leipzig 1936, 33. Vorlesung, S. 392f. 87 M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle a. d. S. 1927, S. 35.

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Husserls Deskription wurde Erfahrung der Daseinsanalyse und zog sich dafür zusammen auf die affektive Betroffenheit und die Sorge des sich selbst überlassenen Individuums. Erfahrung ist diejenige der Endlichkeit, der Geworfenheit und des Verfallens. Das wissenschaftliche Entdecken oder die Erschlossenheit des In-der-Welt-Seins wird nicht als „Entwurf“ einer Kultur zur Transzendenz ihrer bloßen Gegenwärtigkeit gesehen, sondern als unsere Herabstimmung zum „Sein bei innerweltlichem Seienden“. Das ist im Sinne einer atheistischen Verendlichung des Menschen gesagt.88 Der romantische Empirismus nahm mit dem Fortgang der industriellen Zivilisation deren Widersprüche dadurch auf, dass er die hoffnungslose Endlichkeit des isolierten Menschen als zentrale Erfahrung aussprach und deren Überschreitung in illusorische ReVergemeinschaftungen der Verlorenen setzte. Die schlechte Unmittelbarkeit der Leiden des Menschen hob er nach der idealen Seite in eine Metaphysik unseres Seinsschicksals auf. Die reelle Aufhebung der Existential-Phänomenologie stellten der Dezisionismus Carl Schmitts und das Erlebnis von Führer und Volksgemeinschaft dar. Auch Baumgarten sah in den Phänomenen der Endlichkeit des Einzelnen und im unaufhebbaren Leid des Menschen die Widerständigkeit des Lebens, das nur so erfahren werden kann, gegen Wunsch und Willen des Handelnden. Es war der SchopenhauerEinfluss der Generation der im letzten Drittel des 19. Jh.s Geborenen. Baumgarten dachte seine Metaphysik als das Totum unendlicher und doch weltimmanenter Überschreitung der Welt der aktualen Erfahrung. Unsere Endlichkeit fand sich durch diesen Empirismus mit organologischer Teleologie (in Anlehnung an H. Driesch) bezogen auf die Ausprägung des in uns angelegtem einheitlichen Geistes. Heidegger dagegen hielt den Empirismus des Daseins im engen Bezirk der Innerlichkeit des Menschen. Er sah, dass sich dieser Begriff romantischer Seinserfahrung nicht in die Zeitebene objektiven gesellschaftlichen Prozesses versetzen ließ. Objektivität suchte er durch die unscharfe doppelte Setzung des Erlebnisses der Egoität zu gewinnen, etwa mit antikisierendem Duktus in der Entschlossenheit zum Schicksal.89 M. Weber (1864 – 1920) hatte noch genaue soziale und verfassungsrechtliche Konsequenzen aus den mit der Großindustrie heraufgekommenen Ansprüchen der proletarischen Schichten abzustecken begonnen. Er interpretierte das als einen Prozess fortschreitender Entpersönlichung der sozialen Beziehungen, so dass Politik zur ausmittelnden Verwaltung von Massengesellschaften mit parlamentarischem Überbau werde. Weber verband seine Sicht auf die ansteigenden Konzentrationsprozesse wirtschaftli88 Ebd., S. 220f. 89 Heidegger, auch einer der in den achtziger Jahren des 19. Jh.s Geborenen, folgte mit seiner Daseinsanalyse in manchen Partien bis aufs Wort Schopenhauers Phänomenologie des Leidens. „Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes Wo und Wann seines Daseyns: denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. – Sein eigentliches Dasein ist nur in der Gegenwart, deren ungehemmte Flucht in die Vergangenheit ein steter Übergang in den Tod, ein stetes Sterben ist; ...“ (A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, a. a. O., § 57, S. 366f)

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cher Macht zugleich mit Perspektiven des sozialen Relativismus und des politischen Dezisionismus. Sein Dezisionismus setzte beim Gegensatz von Beamtentum und politischer Führerschaft an.90 In dieser Schattenform kehrte das qualitative Element als ein Willenshaftes zurück, bei Weber immer noch als die politische Kunst rationaler Ausmittelung der die moderne Gesellschaft tragenden und einander entgegenstehenden Interessenverbände. Im Gang der Weimarer Republik verlor der Gedanke politischer Führerschaft übers mystifizierende Attribut des Charismatischen bei den im Vergleich mit Weber weniger anspruchsvollen Theoretikern seine ursprünglichen Relationen und rationellen Aspekte, so bei Spengler, Schmitt, Heidegger, Moeller van den Bruck (1876 – 1925), dem Schöpfer der Phrase vom „Dritten Reich“, bei der sog. Jungkonservativen Bewegung, beim „Juniklub“, dem „Politischen Kolleg“, von den Wortführern der Reichswehr und des Nazismus zu schweigen. Heideggers aktivistische Auflösung seiner Existentialontologie des denkenden Einzelnen entsprach dem gegen die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg aufschlagenden Voluntarismus der Entschlossenheit. Es war die verhängnisvolle antiliberale Wiederkehr des populären gefühlshaften Topos der Fronterfahrung. Ernst Jünger glorifizierte das drastischer als die „totale Mobilmachung des heroischen Geistes“.91 Die kulturelle Figur der Führerschaft zeigte auch in der kommunistischen Bewegung und in den sozialistischen Gesellschafen ihren reellen sozialen Gehalt, der in der bürgerlichen Gesellschaft – zu der natürlich die faschistische Periode gehört – leicht übersehen wird. Die heroisierende Emotionalisierung der sozialen und politischen Strukturen diente als die Gloriole absoluter Bürokratisierung, die ihrerseits das Auseinanderbrechen der Gesellschaft verhindern – wie sich herausstellte, real nur aufschieben – sollte. Die Diktatur ist nichts anderes als die Erscheinungsform der Bürokratisierung.

90 „Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des Politikers. Und vor allem: des politischen Führers. Dessen Handeln steht unter einem ganz anderen, gerade entgegengesetzten Prinzip der Verantwortung, als die des Beamten ist. Ehre des Beamten ist ... sittliche Disziplin und Selbstverleugnung. Ehre des politischen Führers ... ist dagegen gerade die ausschließliche Eigenverantwortung für das, was er tut. ... Der ‚Demagoge‘ ist seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident.“ (Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag; Max Weber, Politik als Beruf, München, Leipzig 1919, S. 25) Weber schied mit dem Wort vom Politiker in Gesellschaften politischer Gleichheit als einem Demagogen die politische Führung in Massengesellschaften von der aristokratischen und monarchischen Führung ab. Zur Kritik des Weberschen Modernisierungsverständnisses: H. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, in: O. Stammer (Hg.), Max Weber und die Soziologie heute, Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 161-180. 91 E. Jünger, Die totale Mobilmachung, in: ders. (Hg.), Krieg und Krieger, Berlin 1930, S. 9-30.

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IV. Baumgartens Pragmatismus in der philosophischen Konstellation der Zeit „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unbekannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand ... ... Eine große Stadt versank in gelbem Rauch, warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch Aber riesig über glühnden Trümmern steht, Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht.“ G. Heym, Der Krieg, 1912

1. Vier Grundlinien Arthur Baumgarten ist der unterschätzte Außenseiter der deutschen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s. Die Sonderstellung seiner Philosophie ist zu erkennen, vergleicht man sie mit den auf dem Kontinent vorherrschenden Strömungen jener Zeit. Damals bildeten sich in der deutschen Philosophie die bis in die ersten Jahre nach dem II. Weltkrieg bestimmenden Konzepte heraus. Vier Grundlinien lassen sich unterscheiden. Als die einflussreichsten erwiesen sich auf die Dauer die aus einer Verbindung von Elementen der Vorkriegs-Lebensphilosophie und der Psychoanalyse gebildete Existenzphilosophie von K. Jaspers, außerdem die von Husserls Phänomenologie ausgehende Existential-Ontologie Heideggers, mit der eine an Schopenhauer und Nietzsche anschließende romantische Daseinsanalyse ins Objektive geführt werden sollte. Diesen beiden neuen, analytischen Grundlegungen der Lebensphilosophie, die tatsächlich philosophische BasisFunktion für mehrere kulturwissenschaftliche Disziplinen bis hin zur Theologie zu übernehmen vermochten, stand die materialistisch-deterministische Soziologie und Kulturphilosophie von Marx und der sich inzwischen differenzierenden marxistischen Richtungen K. Kautskys, H. Cunows, M. Adlers, A. Gramscis, K. Korschs, Lenins, G. Lukács’, M. Raphaels, A. Sohn-Rethels u. a. gegenüber. Sieht man auf die nun fast drei Generationen zurückliegende Epoche im Ganzen, so zeigt sich die geistige Konfrontation der Zeit – und nur im prägenden Kontrast besteht ihr Gehalt – von diesem Hauptgegensatz bestimmt. Es kann sich nicht nur um die akademische Philosophie handeln. Die marxistische Theorie wirkte damals als ein produktives Element der theoretischen Strömungen, speziell in der Sozial- und Geschichtsphilosophie und in der Ästhetik, keineswegs nur bei erklärten Vertretern der Schule, so in der frühen Frankfurter Sozialwissenschaft bei M. Horkheimer, H. Großmann, darüber hinaus bei W. Benjamin, E. Bloch, E. Fromm, B. Groethuysen, K. Löwith, H. Marcuse. Dazu kam die Aufnahme marxistischer methodischer Implikationen, die sich aus der Klärung des Primats der sozialen Struktur im Gang der industriellen Gesellschaft ergaben, so in der Soziologie (K. Mannheim, A. Vierkandt), der Jurisprudenz (G. Radbruch), im logischen Empirismus (H. Reichenbach, O. Neurath hatte sich an der Sozialisierungsdebatte beteiligt) bis hin zu jüngeren Berliner Psychologen um Manes Sperber.92

92 Vgl. M. Sperber u. a. (Hg.), Krise der Psychologie – Psychologie der Krise, Selbstverlag der Fachgruppe für dialektisch-materialistische Psychologie, Berlin 1932, 143 S.; ein Sammelband mit

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Baumgarten nahm erst sehr spät, seit dem Beginn der vierziger Jahre, bestimmte Marxismus-Aspekte auf, die er im pragmatistischen Sinne interpretierte, der ja insbesondere den sensualistischen französischen Quellen des Marxschen Denkens nahe war.93 Neben den beiden zentralen und einander konträren Strömungen zeichneten sich die Richtungen des logische Empirismus und der Übergang zweier Neukantianer zu den beiden sehr unterschiedlichen Wendungen für eine Philosophie objektiver Gehalte ab: Cassirers Wissenschafts- und Kulturphilosophie von der Logik des Symbolbegriffs her und N. Hartmanns neue Ontologie mit einer materialistischen Theorie der Seinsschichten und einer Anthropologie sinnlich-gegenständlicher Erfahrung des Menschen, die weniger in dessen Ethik als in der wenig beachteten, nachgelassenen späten Ästhetik (1945) deutlich wird.94 In den zwanziger Jahren richtete Baumgarten seinen Pragmatismus und dessen moralphilosophischen Eudämonismus gegen den transzendentallogischen Formalismus einerseits, auf der anderen Seite gegen den aufkommenden existenzialontologischen Gegensatz von Innerlichkeit des Einzelnen und Gesellschaft als fremder Außensphäre. Neben dem Pragmatismus schloss Baumgarten eigentlich nur an drei philosophisch relevante Arbeitsrichtungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s an, an die Richtungen der Psychoanalyse und der Gestaltpsychologie und an H. Drieschs teleologisch ganzheitlichen Entwicklungsbegriff. Baumgarten nahm – angeregt von Schopenhauer – einige Prima-philosophia-Themen auf, so die Antinomik zwischen Einheit und Vielheit im ontologischen, erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Sinne, dazu eine ProzessMetaphysik sich ausbildender Geist-Einheit der Menschheit, methodisch verwandt dem Sozialismus P. Tillichs, aber ohne dessen theologischen Rahmen. Vor allem beschäftigten Baumgarten die vom Pragmatismus gebotenen Spielräume sozialtheoretisch elastischer, in den Resultaten offener Verbindung von individueller Freiheit und sozialem Ausgleich manifester sozialer Interessen, von Moral und Recht, schließlich auch von Wissenschaften und einer moralisch-praktischen Engagiertheit der Intellektuellen. In seiner Autobiografie sagte Baumgarten, als jungen Juristen habe ihn v. Iherings Lehre vom Recht als eines Kampfs von Interessen beeindruckt. Der methodische Gestus seines

Beiträgen zum Stand der Psychologie (Sperber), zur „Rolle der Psychologie in der sozialen Umwälzung“ (A. Rühle-Gerstel), über „Gruppe, Einzelmensch und Disziplin“ vom Psychoanalytiker der Richtung A. Adlers, F. Künkel, zur Rolle der sozialen Verhältnisse in der Neurosenbildung (A. Appelt), zum „proletarischen Kind im Lichte der Kinderforschung“ (L. Lichtenstein) u. a. 93 „Es bedarf keines großen Scharfsinns, um aus den Lehren des Materialismus von der ursprünglichen Güte und gleichen intelligenten Begabung der Menschen, ... dem Einfluss der äußern Umstände auf den Menschen, der hohen Bedeutung der Industrie, der Berechtigung des Genusses etc. seinen notwendigen Zusammenhang mit dem Kommunismus und Sozialismus einzusehen. ... Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.“ (K. Marx, F. Engels, Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, Berlin 1953, S. 261) 94 Vgl. E. Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, zuerst in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 21 (1927); und N. Hartmann, Zum Problem der Realitätsgegebenheit, Berlin 1931; ders., Ästhetik, Berlin 1953.

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Empirismus bestand in einem genetischen Subjektbegriff. Die psychischen und intellektuellen Leistungen sollten in einem kontinuierlichen Aufbau von den elementaren Empfindungen bis zu den alltagspraktischen, fachwissenschaftlichen und den philosophischen logischen Formen gedacht werden. In den zwanziger Jahren nahm er den Fortschritt vom psychologischen und erkenntnistheoretischen Assoziationsprinzip, das J. St. Mill geprägt hatte, zur Gestaltpsychologie auf. Das schloss die metaphysische Hypothese eines überpersönlichen moralischpraktischen Erwartungsraums ein, die Baumgarten von Freuds Theorie des Unbewussten her begründete. Baumgarten war wohl der deutschsprachige Philosoph gewesen, der sofort die außerordentliche Entdeckung des Unbewussten erfasste, die das ganze Selbstverständnis der bürgerlichen Zivilisation von deren saturierter Opulenz und Glätte unterminierte. In seinen Werken der zwanziger und dreißiger Jahre führte er die sozialtheoretischen Experimentalfelder, die der Pragmatismus von seiner Geistesart her bot, zu sozialliberalen Überlegungen, die vor allem die Kapitel zu Recht und Wirtschaft im Weg des Menschen (1933) prägten. Er war 1930 von Basel nach Frankfurt mit großer öffentlicher Beachtung auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Rechtsphilosophie gewechselt und gehörte zu den wenigen entschiedenen Verfechtern des demokratischen und als so entwicklungsfähig wie entwicklungsbedürftig verstandenen Verfassungsrechts unter den deutschen Juristen und Philosophen in der Weimarer Republik. Baumgartens Philosophie prägte unter allen Strömungen am deutlichsten – vielleicht neben Radbruchs Rechtsphilosophie (zuerst 1914) und dessen Kulturlehre des Sozialismus (1922) und neben der frühen Frankfurter Schule – die spannungsgeladene und am Ende scheiternde Verklammerung der Weimarer Republik aus: die Vermittlung von demokratischem Verfassungsrepublikanismus, Privateigentum in einer technisch progressiven und krisenfrei akkumulierenden Industrie und einem weitspannenden evolutionären Programm sozialer Gerechtigkeit. 2. Der Weltkrieg Insbesondere für die deutsche Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jh.s bleibt die problemimmanente Philosophiegeschichtsschreibung ungenügend, so wesentlich und reizvoll sie auch in den wenigen gelungenen Beispielen ist (etwa bei J. Cohn, E. Cassirer, N. Hartmann, G. Martin, H. Meyer). In der konvulsivischsten deutschen Epoche, ohne Lösungen in den Grundfragen der Gesellschaft, wenn man nicht deren Untergang in der Mitte des Jh.s für eine solche ansehen möchte, in jener Zeit wirkten die sozialen und politischen Faktoren weitaus stärker als in evolutionären Perioden auf die Problemauswahl und auf deren Durchführung ein. Der Erste Weltkrieg und das Urteil über das 19. Jh. bildeten wesentliche Bedingungen für die Konstellation der Philosophie. Selbstverständlich gab es durchgehende kategoriale Themen, die entsprechend der sich verändernden Problemlage der Wissenschaften verhandelt wurden. Doch selbst einige der thematisch bedeutendsten Entwicklungen der europäischen Philosophie, die im 20. Jh. vom deutschen Geistesleben ausgingen – Wittgensteins logischer Atomismus (in der Nachfolge Russells) und der logische Positivismus des Wiener Kreises – befinden sich im Zusammenhang mit dem Umsturz des bisherigen kulturellen Selbstverständnisses.

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Das durchgehende Problem für die Philosophie der Zeit bestand darin, welche Perspektiven nach dem Scheitern der politischen Linie von Kaiserreich und Großindustrie 1918 zu begründen wären. In seiner dritten Schrift, Moral, Recht und Gerechtigkeit (1917), hatte sich Baumgarten vom Strafrecht zur Philosophie gewandt. Sie erschien im vierten Kriegsjahr und begründete Baumgartens sensualistischen Altruismus als die kosmopolitische humanistische Alternative zum Nationalismus der europäischen Gesellschaften, der zu „dem gegenwärtigen Zusammenbruch der Menschheitskultur“95 geführt habe. Baumgarten steht mit dieser Schrift in der ehrenvollen Reihe der wenigen deutschsprachigen pazifistischen Autoren in der Kriegszeit, also u. a. neben dem Öffentlichrechtler W. Schücking (1875 – 1935), der im „Bund Neues Vaterland“ (1914, verboten 1916) und in der späteren „Liga für Menschenrechte“ gewirkt hatte, dem österreichischen Straf- und Völkerrechtler H. Lammasch (1853 – 1920), 1918 der letzte Minsterpräsident der österreichischungarischen Monarchie, dem Schweizer Juristen M. Huber (1874 – 1960), dem Historiker und Friedensnobelpreisträger (1927) L. Quidde (1858 – 1941), dem Soziologen R. Goldscheid (1870 – 1931), dem Philosophen Ernst Bloch (1885 – 1977), in der Schweiz aktiv neben dem Pädagogen F. W. Foerster (1869 – 1966) und dem Publizisten R. Grelling (1853 – 1929).96 B. v. Suttners Die Waffen nieder! war 1889 erschienen, 1891 war sie Mitgründerin der wirkungsreichen „Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde“

95 Moral, S. 150. 96 Im Pazifismus vereinigten sich Persönlichkeiten unterschiedlicher politischer und sozialer Richtungen. Von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung hielten sie sich fern. Sein soziologisches Kennzeichen bestand darin, dass er nicht eine Bewegung, sondern eine Aktivität von Personen darstellte, ebenso wie die frühe Pan-Europa-Idee. Lammasch vertrat den Völkerbundgedanken, war Gegner des österreichischen Bündnisses mit dem deutschen Kaiserreich, riet im Kriege frühzeitig zu einem Verständigungsfrieden und wirkte als Präsident des Internationalen Schiedsgerichtshofes im Haag an der Lösung internationaler Streitfragen. (Grundriß des österreichischen Strafrechts (1899); Das Völkerrecht nach dem Kriege (1917)). Hubers völkerrechtliche Grundlegung des Internationalismus und Pazifismus: Beiträge zur Kenntnis der soziologischen Grundlagen des Völkerrechts und der Staatengesellschaft (Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. IV, 1910). L. Quidde war Abgeordneter für die Deutsche Volkspartei und Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft (1914 – 1929) und des Deutschen Friedenskartells (1920 – 1929). (Der Fortschritt der Rechtsidee in der Kulturentwicklung (1911); Völkerbund und Friedensbewegung (1920)) Goldscheid vertrat eine Verbindung von Darwinismus, Monismus und Sozialethik. Sein Programm der sog. Menschenökonomie meinte gegen das Effizienzverständnis der Industrie die Abwehr von Untervölkerung und dafür auch den sozialen Aufstieg der Arbeiterschaft und die Friedenspolitik zwischen den Staaten, da Krieg eine Vernichtung und Vergeudung menschlichen Lebens darstelle. (Friedensbewegung und Menschenökonomie, 1912) Im gleichen Sinne der Philosoph J. Popper (Lynkeus): Das Individuum und die Bewertung der menschlichen Existenzen, 1910. Ernst Blochs frühe pazifistische Schriften in: Ernst Bloch, Kampf nicht Krieg. Politische Schriften 1917 – 1919, Frankfurt/M. 1985. Blochs früher Pazifismus war, wie derjenige Grellings, entschieden antideutsch und von der Parteinahme für die Entente, vor allem für Frankreich, geführt. Die disparate Thematik des frühen Pazifismus und deren Literatur damals bei A. H. Fried, Handbuch der Friedensbewegung, Leipzig 1904, ²1911.

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gewesen. Zu den juristischen Themen von Krieg und Frieden sagte Baumgartens Schrift allerdings nichts. Er schrieb, ausgelöst vom Zusammensturz der optimistischen Erwartungen des europäischen Liberalismus, wie in einem Zuge den Grundriss seiner sensualistischen Moral- und Rechtsphilosophie nieder. Die späteren philosophischen und rechtsphilosophischen Werke führten detailliert durch, was hier, unterm Zeichen des Pazifismus, als Programm entworfen worden war. Es zeigt die Richtung des politikkritischen Denkens, der der frühe Baumgarten zugehörte. Baumgartens Schrift setzte mit der gebräuchlichen und eigentlich von der Lebensphilosophie der Zeit zusammengefassten Position ein, Materialismus und Positivismus seien im Zeitalter der vorherrschenden Fachwissenschaften zu dominierenden Surrogat-Weltanschauungen aufgestiegen. Eine utilitaristische Verkürzung des kulturellen Selbstverständnisses durch den Aufstieg der naturwissenschaftlich-technischen Spezialwissenschaften habe die universalistische Perspektive in der europäischen Kultur zurückgedrängt. Der Krieg sei „die natürliche Folge der materialistisch-egoistischen Gesinnung der Völker“.97 Doch scharfsichtig war sein Verständnis für die kulturellen Folgen des Nationalismus durchaus: Er führe konsequent zum kulturellen Ideal des siegreichen Krieges. Diesen in Deutschland seit Bismarcks Reichsgründungspolitik und nach dem verlorenen Kriege heftiger aufsteigenden verhängnisvollen Gedanken bekämpfte Baumgarten fortan als den Widersacher des Liberalismus in Deutschland. Seine ganze spätere geistige Wandlung und die ihn von seinen Ursprüngen weit forttragenden persönlichen Entscheidungen waren von dieser Gegnerschaft geführt. 1917 formulierte er: „Die Ersetzung der Wissenschaften schlechthin durch ‚völkische‘ Wissenschaft wäre ein gewaltiger Kulturrückschritt.“98 Der nationalistische Rausch führe im Kriege zu einem falsifizierten „verkrüppelten Altruismus“. „Dass die öffentliche Meinung der urteilsfähigen Menschheit diesen (am Kriege schuldigen – d. Verf.) Persönlichkeiten und Gesellschaftsklassen den Prozess zu machen gedenkt, ist durchaus in Ordnung.“99 Den zentralen Punkt der Baumgartenschen Moralphilosophie bildete damals der Versuch, gegen den falsifizierenden Vergemeinschaftungsgedanken des deutschen Konservativismus einerseits, gegen den Nietzscheschen elitären Nihilismus auf der anderen Seite, einen neuen systematischen Haltepunkt für einen universalistisch und doch zugleich sensualistisch-material begründeten Altruismus zu gewinnen. Baumgarten ging von der Grundthese des englischen Empirismus aus, dass der leibhaftige, alltäglichwirkliche Mensch seine persönliche Glückserwartung zum Leitprinzip fast aller seiner Entscheidungen mache. Er sprach recht unvermittelt mit der ursprünglichen Terminologie von den Lust- und Unlust-Empfindungen, die die Grundlage der ethischen Werturteile gut und schlecht bildeten.100 Er zitierte gern Lotzes Wort, ein unbefangenes Gemüt werde sich niemals mit dem Gedanken vertraut machen können, dass die Menschen 97 98 99 100

Moral, S. 151. Ebd., S. 3. Ebd., S. 27, 150. „Aber sollte es sich wirklich auch bei der Sollensregel par excellence, bei der Moral, ebenso verhalten, sollte auch hier das Sollen in letzter Linie auf einen Lustmechanismus zurückgeführt werden können? Ich habe nicht das geringste Bedenken, diese Frage zu bejahen.“ (Ebd., S. 10)

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dazu da sein sollten, um lebende Bilder aufzuführen. Er richtete das, wie gegen die Kantsche Pflichtenethik, so gegen jede Ethik, die Normen nach einer Abstraktion vom praktisch wirklichen Menschen bilden wolle. Krieg hatte ursprünglich für den europäischen Liberalismus erstens Leiden der Opfer bedeutet. Das ergab sich aus dessen sensualistischer Grundlegung. Das wurde noch von H. Spencer dem falschen Heroismus entgegengesetzt, der die archaische Gesinnung verlängere, Menschen fremden Interessen zu opfern. Darüber hinaus bedeutete Krieg mit seiner Kultur der Aggressivität einen weit wirkenden Rückschlag fürs produktive kulturelle Selbstverständnis einer prosperierenden marktwirtschaftlichen Zivilisation. Im Gegensatz von Krieg und Frieden war schließlich auch eine Alternative zwischen abruptem Verwirklichungsversuch von Interessen, von umstürzendem Vorgehen, analog den Revolutionen einerseits, gegenüber „natürlicher“ allmählicher Entwicklung auf der anderen Seite mitgedacht.101 Es lohnt einen Blick auf die deutschsprachige philosophische Literatur der Kriegszeit, um sich den vorausweisenden europäischen Akzent des Baumgartenschen Sensualismus zu vergegenwärtigen. Im Schauer der „Ideen von 1914“ gaben sich Unbelehrtheit und Beschränktheit der antiliberalen Gesinnung der großen Zahl der Akademiker bereits vor der Weimarer Republik zu erkennen. Die politische und militärische Konfrontation zwischen deutschem Machtstaatanspruch und englisch-französischer Vorherrschaft wurde von so weitgreifenden, wie fatalen philosophischen Weltanschauungsgegensätzen überwölbt. Der Ablehnung eines sog. deutschen Idealismus als Ideologie der Staatsvergötzung durch englische Autoren, dem Angriff Bergsons auf die deutsche geistige Kultur,102 stand die eifernde Ablehnung des Sensualismus und des Pragmatismus durch die deutsche geistige Kriegspartei gegenüber. C. v. Brockdorff schrieb gegen Bergson als von einem professoralen Feuilletonisten, einem „Macher“, der nicht einmal die Kraft besitze, seine Lesefrüchte philosophisch zu gestalten.103 H. Cohen erklärte 1914, Kant habe „den ethischen Geist der Deutschheit zu seiner Vollendung gebracht“ und „der theoretische Ethiker sei zum Bahnbrecher der deutschen Politik“ geworden. 104 Die von Kant überschrittene typische Philosophie der Engländer sei theoretisch der Sensualismus, ethisch der flache utilitaristische Eudämonismus. Worauf sich Baumgarten mit seinem Wort von der völkischen Wissenschaft als Rückfall der Kultur bezog, war 1914 z. B. bei H. Cohen zu lesen: „Wir haben das Fremde in Lite101 „Während der ganzen Vergangenheit und selbst jetzt noch hat der Egoismus kriegerischer Handlungen den unter friedfertigen Handlungen sich entwickelnden Altruismus gehemmt. Die Notwendigkeit, eine Anpassung an ein kampfbereites Leben aufrecht zu halten, ... hat den Fortschritt der Anpassung für das industrielle Leben beständig in Schach gehalten“. (H. Spencer, Die Prinzipien der Ethik, Bd. 2: System der synthetischen Philosophie, IX, Stuttgart 1895, S. 537) 102 H. Bergson in: La science francaise, 1915. 103 Baron C. v. Brockdorff, Die Wahrheit über Bergson, Berlin 1916. 104 H. Cohen, Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, in: Philosophische Vorträge der Kantgesellschaft, Heft 8, Berlin 1914, S. 30. Der Einbeziehung der Philosophie in den deutschen Geist folgte die deutsche Kunst mit dem Resumée: „In uns kämpft die Originalität einer Nation, mit der keine andere sich gleichstellen kann.“ (Ebd., S. 43)

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ratur und Dichtung viel zu sehr geschätzt, als dass wir dabei das Eigene in seiner Eigenart wirklich und wahrhaftig hätten behaupten ... können.“105 Diesen Rückfall in autoritären Doktrinarismus nach Art theologischer Auseinandersetzungen meinte Baumgarten, wenn er von der weitgreifenden Beschädigung der Kultur sprach, die mit dem Kulturnationalismus aufkomme. M. Scheler, O. Külpe, S. Marck, F. Medicus, O. v. Gierke und viele andere sprachen der militärischen Konfrontation die Weihe des nun zum Austrag gelangenden Gegensatzes zu zwischen deutscher idealistischer Tiefe und der anglofranzösischen sensualistischen Flachheit aus Rechenhaftigkeit und Frivolität.106 Der kommende Frieden könne nur bei Bewahrung deutscher Eigenart bestehen, hieß es bei Cohen bereits zu Kriegsbeginn.107 Nach der Niederlage klang es in einer lexikalisch reichen Schrift zur Geschichte der neueren ausländischen Philosophie zur Wiederverständigung der europäischen Nationen, als sollte nach der Niederlage im Felde immerhin dem deutschen Geist der Sieg angeheftet werden: „Die Annäherung könnte nach meiner Überzeugung nur auf Kant-Hegelscher Grundlage im Wege des Idealismus erfolgen.“108 Vereinzelt hatte es auch den Ausdruck der Überraschung gegeben, dass die politischen Gegensätze z. B. zwischen England und dem neuen deutschen Kaiserreich nicht als Machtkonflikt offen ausgetragen würden, sondern, wie

105 Ebd., S. 44. 106 M. Scheler verurteilte das typische englische Wesen am pragmatischen Phänomenalismus, „der wundervollen Verbindung von cant, Borniertheit, Gewohnheitsglauben und Nützlichkeitsgeist“. (Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg, Leipzig 1915) In Krieg und Aufbau (1915) rühmte Scheler den Krieg als schöpferisches, gemeinschaftsbildendes Prinzip, wogegen der Frieden nur die negative Korrelatidee des Krieges sei. O. Külpe machte den englischen Eudämonismus, Utilitarismus und Individualismus für den Krieg verantwortlich, der sich nun aber durch die deutsche Verschmelzung von Volkswillen und Staat als eine Durchgangsstufe zur Höherentwicklung der Menschheit erweise. (Die Ethik und der Krieg, Leipzig 1915) S. Marck pries den Krieg als den Kampf zwischen fremdem Eudämonismus und dem deutschen Idealismus der Freiheit. (Deutsche Staatsgesinnung, München 1916) O. v. Gierke identifizierte die deutsche Kultur mit sittlicher Kultur schlechthin. (Krieg und Kultur, Berlin 1914) Selbst aus der Schweiz erklärte F. Medicus, die welthistorische Bedeutung des deutschen Volkes bestehe darin, „in der Weltkultur den Gemeinschaftsgedanken zur stärksten Verwirklichung geführt zu haben“. (Die Kulturbedeutung des deutschen Volkes, Zürich 1915) 107 H. Cohen, Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, a. a. O., S. 45: Führend müsse endlich unsere Mitwirkung in Europa werden, nachdem wir „vom Kriege überfallen“ wurden, und weil „unter Heuchelei und Hinterlist die Vernichtung unseres Staates geplant“ sei. 108 C. Güttler, Einführung in die Geschichte der neueren Philosophie des Auslandes, München 1922, S. 5. Als eine der wenigen Gegenstimmen forderte E. Spranger unter Berufung auf Kant die Umbildung des Machtstaates in den Rechtsstaat und die Geltung des Rechtsgedankens im Völkerrecht. (Völkerbund und Rechtsgedanke, Leipzig 1919). Im Kriegsjahr 1915 war immerhin eine Edition: J. Benthams Grundsätze für ein künftiges Völkerrecht und einen dauernden Frieden erschienen. (Übers. C. Klatscher, Einl. v. O. Kraus, Halle/S. 1915) Kraus suchte zu zeigen, dass Benthams utilitaristische Ethik durch ihren Universalismus für alle Völker der Kantschen Gewissensmoral überlegen sei, die sich nur an hochentwickelte „Kulturmenschen“ wende.

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A. Weber schrieb, als „gegenseitige Verleumdungsverzerrung“, die sich zu einer „generellen Weltverpestung“ auswachse.109 Im Zeitalter der ideologischer Mystifikationen eines sog. deutschen Idealismus, auch der abwegigen nationalistische Indienstnahme des Kantschen Werkes, entwickelte Baumgarten seinen sensualistischen Empirismus nach dem Vorbild von James in pazifistischem Sinne und überhaupt als Verteidigung des aufklärerischen Kosmopolitismus. Hier kam es nur darauf an, seine Philosophie im Umfeld philosophischer Rage zu bezeichnen. Der ehrenhafte Gegensatz zur eilfertigen Oberflächlichkeit ließ Plessners und Baumgartens Projekt einer liberalen, weltoffenen philosophischen Zeitschrift in den Jahren 1922/23 scheitern (s. Dokumenten-Anhang). Sieht man auf die tiefer liegende Unterscheidung, die der deutschen Polemik gegen den Sensualismus zu Grunde lag, so zeigt sich ein antirepublikanischer Grundzug.110 Es ist der Gegensatz der konservativen romantischen Gemeinschaftsidee, die sich meist als ein Führungs- und Gefolgschaftsprogramm gegenüber dem Gleichheitsgrundsatz der französischen Erklärung der Menschenrechte realisierte. O. Spanns Ganzheitssoziologie hatte das im 20. Jh. erneuert. Mit dem Gemeinschaftsbegriff an Stelle rationeller Gesellschaftstheorie wurden die irrationalen Thesen vom Schicksal, das die Geschichte vollziehe, und der erst verborgenen, dann hervordringenden seelischen Innerlichkeit verbunden, die die Verstandesmechanik zurücklasse. Die patriotischen Mystifikationen bedeuteten die eingebildete Übersteigung der sich immer wieder zerteilenden und gehemmten Bewegung des deutschen Liberalismus während des 19. Jh.s. Als müsste man sich in einer Verlegenheit verwegen zeigen. Vor dem Kriege sprach sich die irreale Selbstbezogenheit in den Zusprüchen aus, ein gutartiges und verkanntes Volk von träumenden Kindern zu sein, dem das Erwachen zur Jugendkraft noch die Achtung der missgünstigen Nachvölker bringen werde.111 Nach 109 A. Weber, Gedanken zur deutschen Sendung, Berlin 1915, S. 10f. A. Weber ging zugleich weit voran im mystifizierenden soldatischen Heroismus deutschen Wesens als der im Kriege durchbrechenden Überwindung der dürren kapitalistischen Geschäftsmentalität. „Nur eins ist mir vollkommen klar: ein kriegerisches Volk werden wir noch lange sein – und die Aufgabe wird sein, in diesem Harnisch die tiefen und feinen seelischen Werte, unsre verschwiegenen Werte, erblühen zu lassen. Und es wird besser gehen als früher – denn im Geschäftsdeutschland verdorrten sie – im kriegerischen (jedermann wird künftig Soldat sein bei uns) werden sie wie im ritterlichen früher in irgendeiner Weise als ‚Geheimnis‘ da sein können.“ (Ebd., S. 7) 110 W. Wundt hatte zur nationalistischen Polemik der Kriegszeit mit anspruchsvollerem und gemäßigtem Beitrag mitgetan. Seine Schrift Die Nationen und ihre Philosophie (Leipzig 1915) behandelte tatsächliche philosophische Traditionslinien. In seiner letzten Schrift Die Weltkatastrophe und die deutsche Philosophie (Erfurt 1920) wird dann doch für England die unbedingte Herrschaft des Individualismus und „egoistischen Utilitarismus“ behauptet gegenüber der deutschen Eigenart, für die die „geistigen Güter des Lebens als die objektiven zunächst an die nationale und staatliche Gemeinschaft gebunden gelten müssen, durch die erst dem Streben und Wirken des einzelnen Menschen seine Lebensaufgaben vorgezeichnet werden.“ (S. 5) 111 Hugo v. Hoffmannthal in der Einleitung zu seiner Auswahl Deutsche Erzähler von 1912: In den deutschen Erzählungen trete wie ein Familiencharakter das fühlende Herz hervor, die Dichter wie ein Zug von Freunden, „eine Frau auch darunter im weißen Kleid mit tiefen dunklen Augen (Annette Droste-Hülshoff ist gemeint – G. I.): die Zeiten sind ernst und beklommen für die Deut-

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der Niederlage von 1918 flammte der Selbstzweifel, der in den Trompetentönen gesteckt hatte, zum Hass gegen die deutsche Republik auf. Baumgartens Schriften blieben in ihrer westeuropäischen liberalen Orientierung von den Anfechtungen deutschen Tiefsinns frei. Baumgarten schloss sich auch dem Pazifismus seines Vorbildes James an, von dem bereits 1910 in New York eine Schrift erschienen war: The moral Equivalence of War. Darin hatte James internationale Abrüstung und an Stelle des Wehrdienstes vom Staat organisierte soziale Leistungen der Jugendlichen gefordert. Krieg und Nachkriegskrisen nach dem 45-jährigen europäischen Frieden verstörten vielen die kulturelle Perspektive. Die expressionistischen Dichter sprachen aus, wie der Weltkrieg ihnen erschien: als der Sturz in den sich öffnenden Abgrund der industriellen Zivilisation. Der Krieg wurde als Steigerung und Offenlegung des industriell angeheizten Utilitarismus gedeutet, die Menschheit zerbrochen in die seelenlose Teilung von Prolet und Speckkopf hinterm Kontortisch, wie es George Grosz’ frühe expressionistische Bilder dem Betrachter vorhielten. Die Kälte des technisierten Daseins schneidet ins Fleisch. Sie wird körperlich tötend. Georg Heyms (1887 – 1912) prophetisches Gedicht Der Krieg (1912) sprach den Krieg als die Katastrophe aus, in der ein lange verborgener Dämon auferstehe, alles zu verbrennen und zu verwüsten. Er sprach nicht von den Zerstörungen durch die Perfektion der Technik, nicht vom subjektiven Erleben, von Leiden und Tod der Leiber. Das war die Sicht der späteren expressionistischen Lyrik gewesen, so in Trakls Grodek, danach auch bei Becher, Benn, Werfel, bis Brecht die herrschenden Klassen und deren Ideologen als die Täter aussprach (Legende vom toten Soldaten, 1918). Heym erreichte mit seiner volkstümlich-anschaulichen Symbolik des Grauens eine hohe Objektivierung der Zivilisationsfurcht. Er prophezeite die Vernichtung der Stadt, des Symbols der sich selbst zerstörenden Zivilisation, deren Hybris endlich von einer archaischen Macht heimgesucht werde. Ein Unheil war vom Dichter vorausgefürchtet, nicht herbeiwünscht, das Liberale und Sozialdemokraten nicht für möglich halten wollten.112 Baumgarten hielt mit den Schriften der ersten vier Jahrzehnte seines Wirkens gegen die einflussreicheren nationalistisch-imperialen Denkmuster an der aufklärerischen Intention von Philosophie fest, Intellektualität als vermittelndes Element in der von willenshaften Parteiungen gezeichneten bürgerlichen Zivilisation einzusetzen. Baumgartens Pazifismus der Schrift von 1917 zeigte verwandte Züge der Verstörung und offenbarte mit der emotionalen Integrität auch Schwächen der intellektuellen Zivilisationskritik. Doch Baumgarten gehörte nicht zu den zahlreichen Akademikern, die den Krieg begrüßt hatten und nach der Niederlage die Republik für schuldig hielten. Er schen, vielleicht stehen dunkle Jahre vor der Tür. Vor hundert Jahren waren auch die Jahre dunkel, und doch waren die Deutschen innerlich nie so reich wie im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, und vielleicht sind für dies geheimnisvolle Volk die Jahre der Heimsuchung gesegnete Jahre.“ (Deutsche Erzähler, Bd. 1, Leipzig 1912, S. 10) 112 Das Gedicht bedeute nicht Seelenangst des lyrischen Ich, sondern „Aufriß der Weltangst des wehrlos vereinsamten und ausgestoßenen Menschen, Zerstörung des bürgerlich-optimistischen Harmonieglaubens.“ (F. Martini, Georg Heyms Gedicht Der Krieg, in: B. v. Wiese (Hg.), Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte, Düsseldorf 1956, S. 435)

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hatte den Krieg als einen europäischen Einschnitt erfasst. Damals sah er ihn als Endpunkt des Materialismus der europäischen Industrialisierung und suchte Wege, dagegen seinen entschieden aufklärerischen Bildungshumanismus aufzubieten.113 Die Gedankenführung des deutschen Pazifismus erwies sich gegenüber dem nationalen Machtstaatprinzip und dem Technik-Fetischismus der Kriegsbefürworter als unvorbereitet. Es war eine Folge der Schwäche des deutschen Liberalismus in der Bismarck-Zeit. Als die patriotischen Intellektuellen sich die europäische Katastrophe wegeskamotierten, war der Untergang des Liberalismus in der Weimarer Republik, einer vorwiegend intellektuellen Bewegung, vorauszusehen. Nun zeigte sich, dass Schopenhauers und Nietzsches Kosmopolitismus und Zivilisationskritik, die geistige Basis kritischer Intellektueller, bei einzelnen guten Aperçus im Ganzen, vor allem der Eitelkeit elitärer Subjektivitätsthematik und des Nihilismus den Spielraum bot. Das „Volk in Waffen“ im Geiste der mit dem Deutschlandlied stürmenden deutschen Freiwilligenregimenter von Langemarck (Schlacht an der Yser, Okt./Nov. 1914) schuf die Emphase unmittelbarer Gemeinschaft der Kühnheit und des Opfers gegen die Niederungen des bürgerlichen Alltags. Die illusionäre Übersteigung der von Industrie und Bürokratie verwalteten Welt wurde in Deutschland nach der Niederlage festgehalten, so dass der Krieg in den Deutschen eigentlich noch anhalte und die Überwindung der von Nietzsche entlarvten Zivilisation der rechnenden Kleingeister noch ausstehe.114 Die Schwäche des Liberalismus in der deutschen Philosophie und Staatsrechtslehre während der Weimarer Zeit gründete auch in der Unfertigkeit der von Schopenhauers und Nietzsches Bourgeois-Verachtung geleiteten pazifistischen Gedankenführung. Baumgartens Schriftengang zeigt die Selbstklärung eines der wenigen konsequent liberalen deutschen Philosophen und Juristen in der Auseinandersetzung mit der nationalistischen Ideologie, die dann die erste deutsche Demokratie zu Fall hatte. Die romantische Idee völkischer Ganzheiten ward dem Stolz expansiver industrieller Prosperität aufgetragen. Das Illusorische trat in der Regradation des Gesellschaftsverständnisses zum erlebnishaften Gemeinschaftspathos zu Tage. Diese Falsifikation des Solidaritätsprinzips gab sich an der Dominanz des Gewaltaspekts in der sozialen Emotionalität zu erkennen. Baumgartens Schritte in die Emigration und später zum sozialistischen Weltversuch sind im durchgehenden Zusammen-

113 Das Muster der Materialismus-Kritik und eines neuen Idealismus wirkte noch in H. Manns kämpferischen Essays zur Verteidigung des Verfassungsrepublikanismus nach dem Kapp-Putsch. Sozialisierung der Großindustrie sei nun die Erhebung des Geistes gegen die Macht der Plutokratie: H. Mann, Diktatur der Vernunft, Berlin 1923. Die Europa-Idee sprach H. Mann wie Baumgarten, anders als Coudenove-Kalergi, als Konsequenz und Rettung des Liberalismus und der Rationalität aus in: „Europa. Reich über den Reichen“ (K. Hillers Zeitschrift: Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik, H. 5, 1923). 114 „Das Ende des Krieges hatte keine eindeutige Lösung gebracht, keine Antwort gegeben, aber es hatte alle Fragestellungen verschärft. ... die Männer, die der Krieg niemals entließ, die ihn immer im Blute tragen werden, weil sie durch ihn dem Kern der Dinge näher kamen als je eine Jugend zuvor, erfuhren durch ihn auch ihre eigentliche geschichtliche Aufgabe. ... in der Tat hat der große Krieg durch den Akt einer Unterschrift kein Ende gefunden.“ (Ernst v. Salomon, Der verlorene Haufe, in: Ernst Jünger (Hg.), Krieg und Krieger, a. a. O., S. 101-126, hier S. 106, 116)

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hang der Erfahrungen bis zum Zweiten Weltkrieg und des Versagens der deutschen Intellektuellen zu sehen. Die frühen Pazifisten vorm und während des Ersten Weltkrieges boten unterschiedliche Begründungen ihrer Kriegsablehnung. Die marxistische Arbeiterbewegung erklärte die Kriege aus dem Kampf der kapitalistischen Mächte um Einflusssphären und Rohstoffe und band den Völkerfrieden an den Übergang zum Gemeineigentum. In dieser Richtung ging vom Republikanismus Rathenaus und Stresemanns aus der Demokratismus H. Manns, v. Ossietzkys, Radbruchs und Baumgartens voran. Zuerst war James’ Programmschrift The moral Equivalent of War (1910, Schriftenreihe International Conciliation, H. 24), auf Baumgarten von großem Einfluss gewesen. James sah den Krieg als falsches Ausleben eines physischen Betätigungsdranges, der durch aktive Friedenspolitik umgeleitet werden solle. Baumgarten entwickelte von James’ Sozialpsychologie aus seine Erklärung der Kriegsbegeisterung großer Massen. Es handele sich um ein fehlgeleitetes Gemeinschafts- und Solidaritätsempfinden, von Regierungen ausgenutzt, das vom „Materialismus“ des Lebens der industriellen Gesellschaft keinen humanen Bewegungsraum mehr erhalte. Baumgartens Pazifismus war nicht antideutsch gerichtet. Er dachte im Sinne des politischen und kulturellen Universalismus der europäischen Aufklärung. Dadurch ergab sich eine anspruchsvolle internationalistische Fragestellung in Bezug auf den Gang der industriellen Zivilisation schlechthin und nicht allein auf politische Schuldabwägungen einzelner Staaten. Illusorisch blieb die Problemsicht auf den heraufgekommenen „Geist des Materialismus“. Seine Auffassung ging in vielem mit dem moralischen Internationalismus Romain Rollands (1866 – 1944) parallel, dessen Tagebücher der Kriegsjahre den Untertitel führten, Aufzeichnungen und Dokumente zur Moralgeschichte Europas in jener Zeit.115 Ebenso stimmte er mit der soziologischen Analyse von J. Bendas (1867 – 1956) außerordentlicher Schrift La Trahison des Clercs (1927) überein, die er ausführlich rezensierte.116 Baumgartens zivilisationsgeschichtliche Begründung des Pazifismus mit dem moralischen Akzent entsprach der analytischen Methode des Empirismus, enthielt darum aber auch die eigenartige Verbindung von Unbedingtheit und sozialpolitischer Unbestimmtheit. Gleiche Züge trug der Pan-Europa-Gedanke, der aus dem Pazifismus der Intellektuellen hervorgegangen war. Baumgarten stimmte mit einigen Thesen Coudenhove-Kalergis überein, hielt aber wegen des Nietzscheschen ästhetisierenden und individualistischen Kulturideals in dessen Schriften Distanz dazu. Coudenove-Kalergi hatte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in seinen Schriften mit anderer Linienführung als der Liberalismus gerade

115 „Brügge wird von englischen Fliegern bombardiert (Reims von den Deutschen, Venedig von den Österreichern, Saint-Quentin von den Franzosen ...). Welch wunderbares Einverständnis unter den zivilisierten Völkern, wenn es darum geht, die Blüte und die Früchte der Zivilisation auszulöschen!“ (R. Rolland, Das Gewissen Europas, Bd. III, Berlin 1974, S. 191) Zum Tode Rollands schrieb Baumgarten das Geleitwort der Gedenkschrift Romain Rollands politische Sendung, Zürich 1945. 116 A. Baumgarten, J. Benda, Verrat der Geistigen (La trahison des clercs), in: Neue Schweizer Rundschau, H. 8 (1928), S. 586-598.

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die Demokratie in den Kreis der Ursachen von Militarisierung und allgemeiner Entartung des europäischen Menschen gezogen.117 3. Baumgartens frühe Fragestellung: Antinomik des Daseins gegen Schopenhauers Pessimismus Baumgarten fand von seinem, J. St. Mill und James nachfolgenden, altruistischen Eudämonismus her rasch zur Ablehnung des Nationalismus. Er sah, dass die individualistische eudämonistische Fragestellung angesichts der sozialen Bewegungen in den industrialisierten Gesellschaften und nach dem Zusammenbruch der Gleichgewichtsidee des europäischen Staatensystems fortgebildet werden musste. Im Sensualismus war immer eine Gleichheitsidee mitgegangen, so wie am Ende der zweiten Welle des Humanismus im 18. Jh. eine konstitutionelle und zuletzt die demokratische Tendenz an die Stelle der bildungselitären Auffassungen des Renaissance-Humanismus getreten war.118 Der Kosmopolitismus des pragmatischen Empirismus ließ Baumgarten Distanz halten zum deutschen Nationalliberalismus. Die Isolierung von Nationaltraditionen in Philosophie, Jurisprudenz, Literaturwissenschaft, Volkswirtschaftslehre hatte im Historismus der zweiten Hälfte des 19. Jh.s die produktiven nationalen und volksnahen Aspekte der romantisch gemüthaften Kulturphilosophie aufgesogen. Anfangs ging Baumgarten recht traditionell von der Widersprüchlichkeit unseres Inder-Welt-Seins aus, deutlich zu erkennen der Einfluss Schopenhauers mit dem tragenden Konflikt zwischen Erwartungen und Verlusten. Den englischen romantischen Spiritualismus Coleridges (1772 – 1834) und den Pessimismus Carlyles (1795 – 1881), der wie Nietzsche vorm Zeitalter auf das künstlerisch Geniale und das historisch Heroische flüchtete, erwähnte Baumgarten. Sie beeinflussten ihn nicht, so sehr deren Schriften dem Zeitgefühl im letzten Drittel des 19. Jh.s entsprachen. Beide Autoren waren vom deutschen romantischen Geist geprägt, Coleridge von Schelling und Carlyle von Fichte, dessen Subjekt-Emphase er aus der transzendentallogischen Form herauslöste. Wirklichen Einfluss gewann der Pessimismus Schopenhauers (1788 – 1860). Er musste in der europäischen Katastrophe des Krieges wie ein Realismus erscheinen. Noch in Baumgartens Philosophiegeschichte aus den vierziger Jahren ist zu lesen, wie Schopenhauers suggestive Psychologie des Leidens bei ihm die „Pedanterie des Preiskatalogs der Gefühle“ beiseite schob, mit dem Bentham (1747 – 1832) eine positive Bilanz des auf-

117 Der philosophische Hintergrund des Pan-Europa-Gedankens Coudenove-Kalergis am klarsten in dessen relativ später Programmschrift Los vom Materialismus, Wien, Leipzig 1931. Vgl. zum politischen Denken Baumgartens in der Kriegs- und ersten Nachkriegszeit dessen Beitrag in: M. Scheler, E. Heimann, A. Baumgarten: W. Rathenau. Eine Würdigung zu seinem Gedächtnis, Köln 1922, S. 34-40. 118 „Jeder trägt einen Prüfstein bei sich, den er nur anzuwenden braucht, um ... Wahrheit und Schein zu sondern. Dieser Prüfstein, welcher das natürliche Denken ist, verliert aber seine Gebrauchsfähigkeit und seinen Wert durch überwuchernde Vorurteile ...“ (J. Locke, Über den richtigen Gebrauch des Verstandes (1706), a. a. O., S. 8)

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klärerischen Eudämonismus durchgerechnet hatte.119 Schopenhauers Pessimismus wurde in Deutschland zuerst von einem kleineren Kreis besorgter Europäer gelesen, die den Bildungshumanismus ins Leere gehen sahen, und die intellektuelle Verve jener nichtakademischen Texte als Kontrast zum preußischen Machtstreben des Norddeutschen Bundes und dann zum Opulenz-Pathos der Gründerjahre suchten. Bevor die populären Passagen sich für einen Salon-Snobismus verbreiteten, lasen das Intellektuelle, die Industrialisierung, soziale Verelendung und preußischer Nationalismus im Gefolge des Deutsch-Französischen Krieges und der Gründung des Kaiserreiches befremdete. Der Weltkrieg bestätigte ihre Ahnungen über den Fortgang des deutschen Geweses, denn Schopenhauers Wahrnehmung der Inkongruenz zwischen aufklärerischem Vernunftoptimismus und bourgeoiser Realität ignorierte die nationalen Ambitionen. Das gab seiner Bitterkeit noch etwas vom alteuropäischen stoischen Kolorit. Der systematisch durchgeführte Grundgedanke vom Leid des Menschen im Widerspruch seiner Existenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit übersetzte den Gebildeten die religiöse Botschaft in philosophische Deduktion zurück.120 Schopenhauer bewahrte die Internationalität der europäischen Philosophie, er führte den Berkeley-Humeschen Sensualismus gegen Kants Transzendentalismus und die ganze Bewegung bis zu Hegel und dem späten Schelling zu erneuerter Wirkung. Aber nun sprach eine Verbindung von akademischer erkenntnistheoretischer Grundlegung und psychologischer Moralistik auf der literarischen Höhe der Franzosen ein negatives kulturhistorisches Fazit der beiden letzten Jahrhunderte aus. Zugleich stellten Schopenhauers eindringliche Demonstrationen wie mit einer negativen Dialektik eine allgemeine Menschenvernunft wieder her. Sie hatten mit ihrer geistvollen Allgemeinverständlichkeit den Stil deutscher philosophischer Schriften dem Geist lebhafter westeuropäischer Öffentlichkeit zugeführt, und dass diese hier bei einsetzender Wirkung der provozierenden Texte nicht vorhanden war, ließ die eminent antiliberale und teutonisch mystische Vertracktheit dieses Hauptstücks des romantischen Empirismus für den Anteil der Exklusivität des sinnreichen Autors hinnehmen. Die aufdringliche Misanthropie kleinlicher Alltäglichkeit konnte als literarischer Sarkasmus glänzen. Das empiristische Evolutionsprogramm der Zivilisation ließ sich am Beginn des 20. Jh.s nicht ohne Rücksicht auf Schopenhauers Einsprüche fortführen. Darum setzte Baumgarten mit der Antinomik für eine veränderte Grundlegung des Empirismus ein. Humes früher Tratise of Human Nature (1740) hatte den verstörenden Zweifel an einer 119 Philosophiegeschichte, S. 415. 120 „Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg. ... Das Leben des Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels. ... Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit steigenden Leiden und Tode am Schlusse, geben immer ein Trauerspiel.“ (A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 4. Buch, § 57, 58, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, a. a. O., S. 370, 380)

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demonstrierbaren Subjekt-Identität psychologisch begründet. Baumgarten ging im Grunde ontologisch heran und sah die Antinomik aus den Anfängen der griechischen Seinslehren herkommen. Der Pessimismus Schopenhauers, Nietzsches und E. v. Hartmanns war ihm darum eine naheliegende, aber zu rasche und ungenügende Schlussfolgerung aus der antinomischen Konstitution des Menschen. Der Pessimismus übergehe die entscheidende Tatsache unseres ursprünglichen emotionalen Protests gegen die Tragik der Antinomik. Unser Erwarten, unser Bemühen, „wenn es gelingen, wenn es doch bleiben könnte“, seien nicht auszutilgen. Wir dürften es nicht mit Schopenhauer als Trugbild des uns verhöhnenden naturalistischen Gattungszwecks abtun.121 Gern zitierte er zur Verteidigung des Eudämonismus den von ihm hochgeschätzten Carl Spitteler (1845 – 1924), der in seinem Epos Prometheus und Epimetheus (1880) die Ananke, hier Symbol unaufhaltsamer sozialer Evolution, in den Satz empörter Herrscher ausbrechen ließ: „Ich glaube gar, die Unverschämten wollen Glück.“122 Durch die Auseinandersetzung mit dem Pessimismus des 19. Jh.s erhielt Baumgartens Empirismus Zug, da er ihn gegen die vorherrschende weltanschauliche Strömung ausbildete, gegen eine Mentalität, die sowohl blasierter Stimmung der Zurückgestutztheit aufs alltägliche Einerlei entsprach als auch der Reserve gegen den ganzen Bereich auftrumpfender staatlicher Macht. Den Weltkrieg verstand er als Einschnitt der europäischen Zivilisation. Das ganze Fortschrittsprogramm des eurpopäischen Bürgertums fand sich ruiniert. Der sozialistische Glücks- und Freiheitsanspruch gewann große Kraft, aber er verhieß eine Periode europäischer Bürgerkriege. Darum hielt er sich die sozialistische Perspektive des Marxismus lange fern. Er sah Marx’ „ökonomischen“ Determinismus als Verlängerung des Industrialisierungs-Materialismus ins Sozialistische und erklärte sich damit die Unausweichlichkeit des bolschewistischen Diktatur-Gebots verbunden. Baumgarten sah des Erfordernis einer Bilanz des eudämonistischen Evolutionismus, wenn man am klassischen Empirismus und dessen optimistischer kultureller Perspektive festhalten wollte. Der zentrale Punkt seiner Analyse der empiristischen Bestände lag in der Aufnahme der Antinomiethematik. Er suchte damit, den Einbruch des lebensphilosophischen konservativen Holismus (O. Spann, L. Klages) abzuwehren, dem er auch R. Smends Inte121 Das berechtigte Element der Rechtsphilosophie des Pessimismus (Schopenhauer, Nietzsche, E. v. Hartmann) sei deren „voluntaristischer Realismus“. „Das sich-nicht-dupieren-lassen-wollen von irgendeiner Ideologie, ist es, was sie eint und in keiner Wissenschaft ist eine solche Abwehrstellung segensreicher als in der Wissenschaft vom Recht.“ Nach den Pessimisten „ist das höchste ethische Ziel die Erlösung vom Weltleid. Damit erhält die Gefühlsethik eine negative Wendung, die ihr nicht mit Notwendigkeit zukommt und von der Philosophie der Zukunft schwerlich akzeptiert werden wird. Sie führt naturgemäß dazu, dass das Recht von der Philosophie entwertet wird. Dann das Recht ist von Haus aus weltlich und diesseitig und wenn es gilt, mit dieser Welt vollkommen zun brechen, so ist damit auch über das Recht das Verdammungsurteil gesprochen.“ (A. Baumgarten, Rez. zu: K. O. Petraschek, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, in: Kritische Vierteljahresschrift, III. Folge, Bd. XXIII, H. 4, 1930, S. 315f) 122 Spitteler hatte mit seinen psychologischen Romanen auch auf Freud Einfluss gehabt (Imago, 1906). Neben den vielen Spitteler-Bezügen in den Schriften A. Baumgartens dessen Urteil in der etwas matt überschriebenen Würdigung: Carl Spitteler als Denker, in: Sozialismus, Monatsschrift der Schweizerischen Partei der Arbeit, Jg. 1 (1945), S. 1-15.

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grationslehre zurechnete, und ebenso den rechtspolitischen dezisionistischen Aktivismus C. Schmitts. Mit der Antinomieproblematik wollte er auch eine rationelle Aufnahme der echten Probleme des Bergsonschen rationalitätskritischen Intuitivismus erreichen. Er behandelte darum eingehend wissenschaftsmethodische Themen in seiner Schrift Erkenntnis. Wissenschaft. Philosophie (1927). Daran schloss er nicht gesellschaftstheoretische, sondern anthropologische und moralphilosophische Fragen nach dem Sinn unserer Stellung in der Welt, die er nur im Rahmen einer evolutionistischen Metaphysik für auflösbar ansah. Diese Resultate hat er auch nach seiner Anerkennung bestimmter soziologischer Leitsätze des Marxismus und nach seiner Übersiedlung in die ostdeutsche Nachkriegsrepublik (1949) nicht verlassen.123 Sein Sensualismus hielt sich auch dann noch Marx’ anthropologischen Ausgangspunkt für die Sozialphilosophie, die gegenständlich-praktische Arbeitstätigkeit, fern. Er ging direkt vom psychischen Glücksstreben der Individuen und deren antinomischen sozialen Verhaltensweisen aus, um eine offene, erfahrungsgebundene Entwicklungslehre zu erhalten. Vom Marxismus nahm er in der Krisenerfahrung des Faschismus und des wiedergekehrten Weltkriegs mit großem Interesse die Möglichkeiten soziologischer Erklärung der sozialen und politischen Prozesse auf. Er war auch von Marx’ Voraussage einer sozialistischen Transformation der Kapitalgesellschaft überzeugt und wirkte, immer ein engagierter, entscheidungsfähiger Kopf, in der einmal entstandenen sozialistischen Gesellschaft mit. Aber darüber hinaus setzten seine eudämonistischen und metaphysischen Relativierungen der Marxschen Theorie ein, zumal diese selbst doch eigentlich nur in unterschiedenen Forschungslinien und Erwartungen möglicher sozialpolitischer Entwicklungen bestand. Der „ismus“, der der obligaten Verwendung von Aussagen Marx’ oder Lenins auferlegt wurde, musste seinem 123 Baumgartens spezielle Bezüge seiner moralphilosophischen Thematik bestehen zur empiristischen evolutionären Anthropologie des späten 19. Jh.s, also zu Spencer und vor allem zu T. H. Huxley (1825 – 1895), dem Zoologen und frühen Anhänger Darwins, dessen Entwicklungslehre er auf die Zoologie des Menschen ausdehnte. H. Plessner war während seiner gemeinsamen Zeit mit Baumgarten in Köln (1920 – 1923) von Baumgartens Empirismus, sowie von dessen Ablehnung des „Radikalismus“ sowohl der rechtskonservativen als auch der marxistischen Theorien beeinflusst. Plessners frühe Schrift Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924) war Baumgarten „in Verehrung und Freundschaft“ gewidmet. Im Eingang zu: Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) erörterte er die Unzulänglichkeit der Polemik des Bergsonschen Intuitivismus gegen den Evolutionismus, die auch Baumgarten wiederholt behandelt hatte. Plessner suchte wie Baumgarten einen Weg über den positivistischen Entwicklungsgedanken hinaus. Das entelechetische Entwicklungsverständnis des Vitalismus (H. Driesch), an dem Baumgarten festhielt, wies er mit empiristischer Begründung ab. Die vom Evolutionismus überkommene gottferne Weltimmanenz und die kulturelle Offenheit des Menschen führte Plessner zu seiner Theorie der Korrelationsstufen des Seins und des utopischen Standorts des Menschen darin. Auch er nahm für seinen Entwicklungsbegriff Einflüsse des amerikanischen Pragmatismus auf: „So begreift man das Jetzt als das Trennend-Bindende zwischen Kommen und Gehen, als den Sattel, um einen Vergleich von W. James zu variieren, auf dem das Lebendige aus der Vergangenheit vorwärts in die Zukunft reitet.“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin, New York ³1975, S. 280)

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Pragmatismus, der ihn sogar eine Logik als Erfahrungswissenschaft schreiben ließ, und musste seiner so sehr von intellektueller Lebenssicht geprägten aktiven Wesensart fremd bleiben. Im übrigen wird man nicht übersehen, dass Marx selbst, auf einen Streit zwischen seinen beiden Schwiegersöhnen, die jeder eine andere sozialistische Richtung in der französischen Arbeiterbewegung behaupteten und sich auf „den Marxismus“ beriefen, antwortete, alles, was er hier wisse, sei nur: Je ne suis pas marxiste. 4. Eudämonismus und Liberalismus, aber Individualismus-Kritik Im Sinne des sozialbezogenen Aktivismus des Pragmatismus verband Baumgarten seinen Eudämonismus mit einer Individualismus-Kritik. Er mied aber die plebejische Linie, die den Gedanken des Gemeineigentums auf einer sensualistischen Anthropologie des Mitfühlens und ursprünglicher Solidarität begründet hatte. Er sah in den zwanziger Jahren auch Marx’ Determinismus der Produktionsverhältnisse als Basis einer diktatorischen Strategie für den sachgerichteten Zweck der Eigentumsrevolution. Den liberalen Eudämonismus verstand er als die innerhalb der europäischen Hochkultur wirkende und grundsätzlich evolutionäre Strömung allmählicher Umbildung der altruistischen Anlagen des Menschen. Es war nicht mehr das rein perfektibilistische und pädagogisch untersetzte Programm der Aufklärung. Soziale Rechte und das Völkerrecht erhielten ihren Platz. Aber es war die Ablehnung von Umsturz, wie das andere liberale Philosophen, wie Plessner, Jaspers, Löwith, Cassirer, Liebert u. a. auch vertraten. Der Gedanke der mittleren Linie entsprach dem offenen experimentellen Erfahrungsbegriff des Pragmatismus. Dem lag nicht nur die populäre Überlegung zu Grunde, die Menschen würden sich durch Revolutionen doch nicht ändern. Der Erfahrungsstandpunkt verweigerte sich absoluten Lösungen, die nur durch dogmatische Verengungen des Gesichtskreises vorzubereiten wären. So wurde das moralische Problem des Individualismus zum Angelpunkt der Überlegungen. In diesem Zusammenhang sah er am Beginn der dreißiger Jahre durchaus auf die Perspektive einer Gemeinwirtschaft, etwa in dem Sinne, wie sie die Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren formulierte. Das war für den auch bis in die Gegenwart im Gedankenkreis des sozialen Liberalismus verbleibenden philosophischen Pragmatismus eine weit vorausgehende Position. Baumgarten fragte, ob der Individualismus so stark im Menschen angelegt sei, dass der Übergang zu Formen der Gemeinwirtschaft unmöglich erscheinen müsste. „Jene Nationalökonomen rechnen nicht genügend mit den unbegrenzten Verständigungsmöglichkeiten, die durch den Zusammenhang aller Menschen im Unterbewussten geboten werden. Die Fabel von dem unausrottbaren, übermächtigen Egoismus ist zum Teil der Ausfluss einer Ungeduld. Der Ungeduld wird das Ich erst Meister, wenn es dazu gelangt, sich auf die universelle Seite seines Wesens zu besinnen und den geschichtlichen Prozess als zu sich selbst gehörig zu erfassen. Ich muss mich auf hartnäckige Gegnerschaft gefasst machen, denn ich weiß es wohl, die Zurückdrängung des Egoismus, seine Umwandlung in Gemeinsinn als soziale Reform gedacht, ist für nicht wenige – Sünde.“124 Baumgarten setzte auf die unmerklichen Veränderungen 124 Der Weg, S. 558 (zit. m. Auslassungen – G. I.)

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des gesellschaftlichen Lebensprozesses, sah diese aber nicht primär in ökonomischen Krisen, sondern im kulturellen Wandel der geistigen Erfahrungen, eigentlich einer Summierung von zunächst unbewussten Wahrnehmungen. Es war ein tiefinniges Konzept der Vermittlung von aktuellen Wahrnehmungen und weitwirkendem Mentalitätswandel. Gegen den verkürzten Horizont der Tagesmeinungen und partikularen Interessen komme es auf Zeit an. Das schloss damals bereits die Offenheit für disparate Problemsichten und Reformbewegungen ein. Baumgarten vertrat eine im Jamesschen pluralistischen Sinne eklektische Auffassung. Er sagte auch gegen die Revolutionserwartung: „Es gibt kein Prophetentum mehr.“ Auf den Wegen der langsam fortschreitenden Annäherung an Wahrheit und Gerechtigkeit im Horizont des Glücksanspruchs aller Menschen werden wir „allmählich lernen, die Mischung von Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Selbstvertrauen, Verantwortlichkeitsgefühl und Glaubenskraft, die dem Übergang von der Religion zu einer transzendenten Philosophie zugrunde liegt, richtig zu würdigen.“125 Als deutscher Jurist in der französischen Schweiz widmete Baumgarten seine Aufmerksamkeit dem Korrektiv unmittelbar demokratischer Initiativen in der institutionalisierten Massengesellschaft. Darin stak ein Element ungebrochenen Vernunftoptimismus in einer deutschen Kultur, die ihre Selbstzweifel durch Verlangen nach dem Umsturz zu übertönen suchte. Des russischen Religionsphilosophen L. Schestow (1866 – 1938) Wort vom „Kellerschlupfmenschen“ für Nietzsche und Dostojewski zitierte Baumgarten gern. Er sah ebenfalls die Grundstimmung der Verzweiflung in deren Denken.126 Er verstand Empirismus in dem Sinne, dass Handeln bereits durch seine immanente Teleologie, die es vorzeichne, lebensbejahend sei. In der deutschen Unruhezeit der zwanziger Jahre, die er während seiner Kölner und Frankfurter Zeit (1920/23, 1930/33) erfahren konnte, verbarg er sich die Tragödien seiner Gegenwart nicht. Er fasste das sogar als Ausdruck des Schopenhauerschen Leidenselements, das mit dem Leben mitgehe, und das ja in seiner Strafrechtstheorie den zentralen Platz einnahm. Und doch liest sich Baumgartens optimistischer Empirismus in den Arbeiten jener Zeit der von Kriegen und sozialen Schlachten verwüsteten Welt wie ein Denken außerhalb von Bedrängnis. Das seit Schopenhauer in der deutschen Philosophie festsitzende Theorem der Spaltung von Innerlichkeit des Subjekts und dessen gesellschaftlichem Handeln als enttäuschender und immer fremder Außensphäre bildete eine Voraussetzung für die Wehrlosigkeit des deutschen Liberalismus gegenüber dem faschistischen Anspruch, in einer Volksgemeinschaft die beiden einander entfremdeten Seiten wieder zusammenzuschließen.127 Baumgartens Sonderstellung innerhalb der deutschsprachigen Philosophie der zwanziger und dreißiger Jahre bestand darin, dass er mit seiner sensualistischen An125 Ebd., S. 51. 126 Der Weg, S. 385. Pessimismus-Passagen ebd., S. 274f, 384ff. 127 Die Wehrlosigkeit klingt noch nach im Bemühen, Nazigrößen in deren vermeintlich tragischer Widersprüchlichkeit verständlich zu machen, so die bei J. Fest mitgehenden Aspekte eines psychologisierenden Erinnerungskultus, gröber schon die Film-Retrospektiven L. Riefenstahls, die kitschigen Film-Biographien Eva Brauns bis hin zum Interview mit Frau Traudel Junge, der Sekretärin Hitlers, die nie geglaubt hatte, wie schlecht dieser Mensch gewesen war.

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thropologie dem fatalen Gegensatz von fixierter Innerlichkeit der Vereinzelten und verdinglichter Weltstruktur entgegentrat. Das führte Baumgarten zur Suche nach neuen Formen der Solidarität der Einzelnen.128 Auch nach seiner Übersiedlung in die DDR gab er die sensualistisch-empiristischen Prämissen seiner durchaus eigenständigen Aufnahme des Marxismus nicht auf. Das betraf sowohl den empiristischen Skeptizismus entgegen dem historisch-materialistischen Determinismus als auch die Relativierung der unmittelbaren – und in der DDR mehr und mehr manifest diktatorischen – Lebenswirklichkeit durch einen für ihn unverzichtbaren Metaphysik-Bezug. Er nannte das eudämonistische Handlungsprinzip im Sinne des Pragmatismus „eine Befreiungstat par excellence“, weil es den Dualismus von herrschender Innerlichkeit (oft oktroyierter, auch politisch auferlegter Gewissenspflichten) und dienendem natürlich-praktischem Verhalten überwinde.129 Baumgarten hatte vor der kritischen Theorie (E. Fromm, H. Marcuse) das Freiheitsproblem als den Anspruch kultivierter Genussfähigkeit des Menschen als Teils von dessen sozialer Erfahrung wiederhergestellt. Sein Eudämonismus wurde zur anthropologischen und moralischen Instanz gegen die Depravation von Sinnlichkeit und Entscheidungsfreiheit in der lebensweltlichen Realität der von der Kapitalrealisierung dominierten Massengesellschaft. Mit dem altruistischen Impuls im Glücksbegriff kam ein starker Zukunftsbezug in den neuen Eudämonismus. Baumgarten ging damals weit voran in Richtung der zivilisationskritischen Strömungen der Gegenwart, wie der grünen Bewegung, der Frauenbewegung. Der sensualistische Subjektbegriff gewann bei ihm seine alte emanzipatorische Kraft eines mit rechtem Common Sense im Leben stehenden optimistischen Menschen zurück, der die Prospekte der Institutionen an den Bedürfnissen des bei freier Öffentlichkeit allemal hinreichend urteilsfähigen Menschen maß. Baumgarten erkannte, dass der ursprünglich individualistisch gerichtete Glücksbegriff unter den Bedingungen der entfalteten sozialen Schichtung und der Institutionalisierung aller gesellschaftlichen Aktivitäten eine Gemeinschaftsorientierung im sozialen Handeln verlange. Das 20. Jh. nannte er darum eine Übergangszeit. Von den bewegenden Ideen des 19. Jh.s sagte er geradezu, sie „gemahnten an das Verfahren der absoluten Monarchie“. „Aber die geschichtliche Entwicklung deutet auf einen andern künftigen

128 Marcuse war ebenfalls durch die Einsicht in die strukturelle Schwäche des Liberalismus zu sensualistischen Konzepten gelangt. In der anarchistischen Handlungstheorie, mit der er das verband, kehrten zugleich nihilistische Motive seiner frühen Heidegger-Einflüsse wieder. Marcuse erkundete seit seiner Habilitationsschrift von 1932 in verschiedenen Schritten den Versuch eines Links-Heideggerianismus. Der innere Widerspruch bestand in der Trennung von Handlungstheorie und sozialer Evolution. Marcuse entging Baumgartens Vermittlung der beiden Glieder durch den Bereich der sich erweiternden „Verständigungsmöglichkeiten“. Er suchte einen Ansatzpunkt absoluter Praxis außerhalb des „Systems“, das seinen absoluten Verschluss in der Reduktion des „eindimensionalen Menschen“ realisiert habe. Baumgarten hielt seinen Empirismus mit dessen rationellem Skeptizismus-Element allen absoluten Verurteilungen und unbedingten Lösungen fern. (Vgl. das Gespräch H. Marcuse – J. Habermas aus dem Jahre 1977, in. J. Habermas, Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. ³1980, insbes. S. 266ff.) 129 Der Weg, S. 67.

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Gang der Dinge. Sie deutet darauf hin, dass, wie auf andern Gebieten des Lebens, so auch auf dem der Weltanschauung die Menschheit sich selbst, d. h. durch Gemeinschaftshandeln helfen wird und das Gemeinschaftshandeln, durch das sie sich die metaphysische Weltanschauung zurückgewinnt, bedarf der Vermittlung durch die Wissenschaft.“130 5. Gefühl, Wille, Intellekt. Baumgartens kommunikativer Subjektbegriff Baumgarten bezog seine Philosophie auf die wohl auseinandergehende, im Eigentlichen doch von Verunsicherung gezeichnete Stimmungslage der Epoche von Krieg, Revolution und erster Demokratie in Deutschland. In einer Zeit trauernder Anthropologie hielt sich Baumgarten dem existenzphilosophisch kultivierten Schmerz über die platte Alltäglichkeit des bürgerlichen Massendaseins fern. Diese bildete ja auch nicht die Gefahr. Die Polemik der neuen Lebens- und Existenzphilosophie oder, wie Giovanni Gentile (1875 –1944) sagte, „der zähe Kampf des aktualen Idealismus gegen alle positivistischen, naturalistischen und rationalistischen Denk- und Kultureinrichtungen“ war in vielem dem erregten Puls des Expressionismus der Zeit der Kriegskatastrophe und der Revolution verwandt. Darin bestand eine der Merkwürdigkeiten der deutschen und der italienischen faschistischen Bewegung: in der scheinbaren Rückkehr zum impulsiven Rhythmus der Revolutionsphase nach dem Krieg. Der kulturelle Stil setzte die Kriegsund die revoltierende Nachkriegszeit fort, die nun gewaltsam festgehalten werden sollte. Gentile zog Philosophie aufs Bewusstsein einer reinen Aktivität zusammen, die „der unendlichen Last und der unendlichen Verantwortung jeder denkbaren Realität gewachsen sein muss“. Eine Antinomik der Existenz ward hier ebenfalls eingesetzt, aber mit voluntaristischer Attitüde: Durch seine unendliche Innerlichkeit sei das Individuum vorm Widerspruch des Seins frei für seinen Willen. „Keiner Form des abstrakten Logos, weder der logischen Wahrheit, noch der tatsächlichen Wahrheit, auch nicht dem Gesetz, das mit zwingender Notwendigkeit einer Naturgewalt vor das Wollen tritt, steht Freiheit zu. ... es beraubt das Subjekt jenes Lebens, das der aktualen geistigen Realität eigen ist.“131 Die Willensemphase schließt die Kluft zwischen Intellekt und Gefühl. Das Ende ist die unbedingte Entscheidung: Sieg oder Tod. Baumgartens sensualistische Anthropologie der solidarischen Natur des Menschen stand der Irrationalität des Opferritus entgegen, den die Existenzphilosophie aus dem vergangenen Krieg hereinzog und gegen die ausmittelnden Differentiale der Demokratie richtete.132 Baumgartens Empirismus entsprach dem der demokratischen Verfas130 Ebd., S. 407. 131 G. Gentile, Der aktuale Idealismus, Tübingen 1931, S. 26f. 132 Heideggers Überwindung des bloßen Da-Seins durch die Erfahrung unseres Hineingehaltenseins ins Nichts nimmt eine alte romantische Opfer-Figur wieder auf, die auch von der nazistischen Mystifikation der Gewalt als kulturellen Leitsymbols benutzt wurde. In Friedrich Schlegels Gedicht Gelübde von 1809 hatte es geheißen: „Der Deutsche Stamm ist alt und stark, / Voll Hochgefühl und Glauben; / Die Treue ist der Ehre Mark, / Wankt nicht, wenn Stürme schnauben. ... Ja, sinken wir der Übermacht / So woll’n wir doch zur Todes Nacht / Glorreich hinüber wallen.“ (F. Schlegel’s sämmtliche Werke, Bd. 9, Wien 1823, S. 181) Der Sinn des Opfers als eines Wertes

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sung zu Grunde liegenden geistigen Typus: Vermittlung und Kompromiss unterschiedlicher Interessen. Hinter der Entgegenständlichung des Subjekts durch die romantische Innerlichkeit erkannte er eine weittragende Depression: die Auflösung der elementaren kommunikativen Fähigkeit des Menschen, damit der Verständigungsorientierung zwischen den gesellschaftlichen Bewegungen. An die Stelle trat der hervorbrechende Wille. In der Staatsrechtslehre entsprach dem der Dezisionismus als politische Tugend mit Demokratiekritik und Einübung der Diktatur.133 Die Philosophie der Willensemphase wurde auf der Gegenseite von der Resignationsstimmung ergänzt. Verfall galt als Signum der Lebenswirklichkeit und Geist war der Traum von deren Verachtung. Baumgartens empiristisches Handlungsprinzip bot auch dieser Attitude der Vornehmheit Widerstand.134 Baumgartens Anthropologie war vom öffentlichkeitsgerichteten und konsensualen Gehalt der angloamerikanischen Philosophie geprägt. Das Subjekt war als frei gedacht, aber innerhalb des Ensembles der anderen Subjekte, wie der aktuale freie Wille ohne die Begrenzung an den anderen Willen ohnehin zum Phantom werde. Dazu trat als zweites Moment mit der Antinomik-These der moralische Widerspruch der Person zwischen Eigeninteresse und Solidarität, zwischen Streit und Versöhnung. Baumgarten zog mit seiner grundsätzlichen Antinomik allen Zug zum Tragischen und zu erforderlichem Zwang des Augenblicks vom kulturellen Selbstverständnis hinweg. Der antinomische Aspekt führte zur Relation zwischen „Ich“ und „der Andere und Ich“. Auch die an psychotherapeutischen Methoden orientierten kommunikationstheoretischen Muster setzen die Öffnung des Selbstinteresses voraus, zugleich der Andere fürs andere Ich zu sein. Baumgarten hatte seine Psychologie des Strafrechts im gleichen Sinne verstanden. Die Beziehung des Täters aufs Opfer entsteht als Extrem des Selbstinteresses. Die Strafe soll nicht allein das Recht als solches, ebenso nicht primär das an sich und die organismische Verankerung der Treue kehrten in der faschistischen Mobilisierung der Irrationalität wieder. 133 H. Hofmann konzentrierte das Urteil über C. Schmitts Dezisionismus: Nicht das sog. konkrete Ordnungsdenken nehme dann mit dem Dezisionismus auch die Idee der Diktatur mit auf. „Die Problematik des politischen Dezisionismus wird in das konkrete Ordnungs- und Gestaltungsdenken dadurch eingebracht, dass es die ‚dezisionistische Diktatur‘ zur unabdingbaren Voraussetzung hat. ... Erst auf Grund einer politischen Entscheidung, die allein ob ihrer Effektivität fähig ist, ‚geschichtliche Wahrheit‘ zu schaffen, kann sich das natürliche Wachstum einer natürlichen Ordnung aus der ‚völkischen Substanz‘ entfalten.“ (H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Berlin ²1992, S. 182f) 134 Die Verfallsstimmung in Rilkes Duineser Elegien (1912/1922), die das Schopenhauer-Thema des Leidens an der Vergeblichkeit unseres Beginnens fortführten: Nur die Kreatur halte ein sicheres Sein fest. Wir Menschen entglitten uns wie Unbestand der Dinge. Nie zeige der Geist das Reine. Immer verstelle er unseren Blick mit Welt. Der Verlust des Idealismus wird in wüster Zeit beklagt, die organismische Neufassung des Kulturbegriffs von Rilke freilich nicht als Befreiung ausgesprochen: „Das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott“. „Und wir: Zuschauer, immer, überall. ... Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.“ (R. M. Rilke, Duineser Elegien, Achte Elegie, in: Rilke, Werke in drei Bänden, Leipzig 1978, Bd. 1, S. 604f)

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verletzte Rechtsgut schützen, sondern die Einsicht in die Schuld des Täters durch die Verletzung des Anderen bewirken. Übergeordnetes Element dieses Altruismus ist doch eigentlich der Gedanke der Versöhnung. Er kann nur als methodisches Leitprinzip einer Metaphysik der Zeit, nicht als faktisch Gegebenes, gedacht werden. Mit dem Eudämonismus verband Baumgarten nicht schlechthin das Postulat der Gleichheit, womit ja außer dem Rechtsformalismus nicht viel gesagt wäre. Er verstand Gleichheit des Glücksanspruchs als vielschichtigen Prozess der Verständigung und des Ausgleichs. Der eudämonistische Subjektbegriff dachte die kulturelle Zeit nicht umbruchhaft, sondern als Kontinuum. Dessen materialer Gehalt ward einem rationalen Problemlösungsvorgang angenähert. In diesem Zusammenhang erschienen die Emphasen willenshafter Entschlossenheit als abwegig. Baumgarten hatte den Widerspruch der Individualität zwischen Antrieb, (egoistischer) Reflexion und (altruistischem) Über-Ich in zwei Kapiteln seines Weg des Menschen (1933) behandelt: „Der Pluralismus der Subjekte und ihre Vereinigung in der Gesellschaft“ (§ 14) und „Soll und Haben des Menschen“ (§ 16). Die beiden entscheidenden Punkte waren zum Ersten, dass hier die Person als in sich produktiv, weil widersprüchlich eingeführt wurde. Sie stand zwischen Identität und Selbstverrat, zwischen rationaler Voraussicht und situativer, gewaltbereiter Emotionalität. Zweitens fand sich die Vermittlungsebene der Widersprüche innerhalb der Person in deren soziale Kompetenz gerückt, also in die zwischenmenschliche Aktivität. Daraus ergab sich Baumgartens fast sozialtherapeutischer Ansatz: gesellschaftliche Krisen sind Störungen der intersubjektiven Kommunikation. Der entwicklungsfähige Basissatz lautete auch hier: Die Antinomie zwischen Interessen der eigenen Gruppe und der Verantwortung gegenüber den Interessen anderer Gruppen bilden das aufzulösende Problem. Die Widersprüche fand Baumgarten, anders als Marx, im Subjekt selbst, auch als Dualismus von Unbewusstem und Bewusstem, ebenso von Leib und Seele, wobei Leib im Sinne des Jamesschen Pragmatismus das Individuum als selbstständiges Handlungssubjekt bedeutete. Die psychoanalytische Lehre der Mehrzahl von Personschichten im Subjekt nahm Baumgarten auf, wie er sich überhaupt an der neueren Psychologie seiner Zeit orientierte. Das war für die erkenntnistheoretischen Probleme der Jamessche „stream of consciousness“, um der Schwäche des alten induktionistischen Assoziationismus zu entgehen. Es war die Individualpsychologie bei der konkreten Auffassung sozialer Verwerfungen durch Benachteiligung, dazu gruppensoziologische Aspekte der damals neuen Gestaltpsychologie für die soziale Interpretation des klassischen liberalen Sensualismus. Schließlich nahm Baumgarten von der Psychoanalyse vor allem Freuds Theorem des Unbewussten auf für seine Metaphysik der objektiven Evolution der Menschheit zum einenden, verständigungsorientierten Geist. Baumgarten löste die in jener Zeit viel behandelte Antinomik von Es und Ich, die auf der sozialen Ebene als Widerspruch von Individualität und entfremdeter Umwelt wiederkehrte, ohne Tragik oder Todespathos. In den Handlungsgewohnheiten der Person entstehe eine Spaltung zwischen intendierendem Ich und einem Alter Ego. Beschränkungen der Souveränität des Individuums nach innen ebenso wie nach außen träten ein. Er setzte an dieser Stelle die „wichtige Quelle der Willensbeeinflussung durch die Kooperation“ ein. Darum lägen im konkreten Individuum die Teilnahme an gemeinschaftlichem Handeln, von außen kommende Sug-

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gestionen, und bewusstes Wollen des weiterführenden Richtigen miteinander im Streit. Baumgartens psychologisch fundierte Moralphilosophie gelangte hier zum Schluss, dass allemal „zwischen verschieden wertenden Persönlichkeiten ein Ausgleich gefunden werden soll.“135 Deutlich vermied Baumgarten die naturalistischen Gefahren der sensualistischen Moralphilosophie. Es gibt zweifellos emanzipatorische Argumente, die aus der naturalistischen Interpretation der Psychoanalyse bezogen werden können. Vor allem W. Reich – in einigen Aspekten auch H. Marcuse – hatten das mit ihrer Kritik der hochindustriellen Zivilisation gezeigt. Der ursprüngliche Drang erotischer Energie könne sich gegen Destruktion richten, also für Schutz des Lebens und Verminderung von Leid eintreten. Doch bleibt die zivilisatorische Interpretation des Triebreservoirs immer zweischneidig, weil die materialen Begründungen damit überdehnt werden. Bereits die unumgängliche Forderung der Gerechtigkeit gemäß konkreten Bedürfnissen ist nicht mehr erotisch, sondern nur intellektuell zu artikulieren. Erotische Energie kann nicht als Basis zwangsfreier Willensbildung eingeführt werden, um die es für substantiale Fortschritte aber geht. In der Vernunft der Sprache ist diese Bedingung freilich nur im Kantschen logisch-praktischen Sinne angelegt. Der moralische Empirismus fasste das freie einzelne Individuum immer in Bezug auf die Allheit der Individuen. Baumgartens sensualistischer Eudämonismus setzte darum mühelos beim lebenspraktischen Interesse des Ausgleichs von individuellen und allgemeinen Interessen an. Das war und ist gegen die Tragödien der Innerlichkeit eine evolutionistische Auffassung, und es ist gegen die Übersetzung der Antinomik des gesellschaftlichen Daseins in den Zwang zur Gewalt der Mittelweg diskursiv abgleichender Verständigung. Der Gestus der Werke Baumgartens, wie sie die Zeitströmungen der deutschen Philosophien ansahen und von ihnen mehr ausschieden als aufnahmen, er war in den zwanziger Jahren, wie Thomas Mann einmal von seinem ersten Roman sagte, „altmodisch seinem Tempo und seinen Dimensionen nach“. Baumgartens Schriften öffneten die Aussichten mit einem Geist überschauender und vertrauender Bürgerlichkeit, dessen Zuversicht im Grunde aus keiner höheren Kraft gewonnen ward, als aus dem nicht zu verdrängenden Vermittlungserfordernis der Interessen der Person und – bei einigem Nachdenken – also aller Individuen miteinander. 6. Der Gegensatz Liberalismus – Antiliberalismus in der deutschen Philosophie der Zeit Der Schwachpunkt des Empirismus des 19. Jh.s hatte neben dem vereinfachten Induktionismus in der Assoziationspsychologie als der Basis der moralisierenden Handlungstheorie bestanden. James’ Wirkung beruhte vor allem darauf, dass er mit seinem Pluralismus in philosophischer Hinsicht und mit der Voraussetzung komplexer Bewusstseinsströme in seiner Psychologie über den Assoziationismus hinausging. Bergson hatte das als Anregung für seinen Intuitivismus der prärationalen Bewusstseinsinfinitesimalen erfasst. Der die einzelnen Analyse-Schritte zusammenfügende Duktus des

135 Der Weg, S. 238ff.

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vorpragmatistischen Empirismus konnte nun den modischen Artikulationen des Krisenbewusstseins als unzeitgemäß erscheinen. Der Geist eines konservativen Ordnungsdenkens bei Spengler, Chamberlain, v. Keyserling, C. Schmitt, E. Jünger, das Anziehungskraft gewann, war nicht vom Gedanken des Ausgleichs und der Kontinuität getragen. Man wollte grundsätzlich umwendend wirken. Die Gebärden von Tiefe und Radikalität leiteten die Unruhe um den Verlust des Vertrauens in die optimistischen Erwartungen der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in eine akademische Esoterik, die vieles von einer Neuromantik hatte. Die Stimmung, die eigentlich aus dem Unverständnis der deutschen Niederlage unter einer nicht wieder zu beseitigenden internationalen Konstellation des 20. Jh.s, also aus einem Mangel an Intellekt, entstanden war, sie wurde zur Sorge oder mythisierenden Entschlossenheit gegenüber einer existentialen Bedrohung stilisiert. Induktive Rationalität und Glückserwartung, der Geist der Baumgartenschen Philosophie, galten schon seit Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche als das meistverlachte Begriffskunststück einfacher Gemüter. Ein Nihilismus und „exklusiver Kammer-Atheismus“, wie G. Keller einmal von Vormärzautoren sagte, wurde heroisch verborgen hinter der Todesmetapher, die an die Stelle des Jenseitswunsches rückte. „Seines Todes ist man gewiß: Warum sollte man nicht heiter sein“, sagte Nietzsche. „Heiterkeit, güldene, komm! du des Todes heimlichster, süßester Vorgenuß!“ Im Todesglück kehrte in säkularer Verdrehung auch die Opferpflicht wieder, nicht religiös, sondern als Hinnahme verschiedener Formen von Vernichtung durch ausweglose Gewalt. Ein wiederkehrendes Thema der Liberalismus-Kritik bildete die Überwindung des sog. philosophischen Geistes des 19. Jh.s. Die Kantgesellschaft hatte 1927 zu diesem Thema Karl Joel (1864 – 1934) eingeladen. Vom Irrationalismus sagte er, dieser setze nicht die Unvernunft auf den Thron. „Er will die Freiheit und Buntheit des Lebens wiederherstellen“, ein durchbrechender junger Geist schäume über. Als sollte schon die Postmoderne und deren Kritik des Logozentrismus gepriesen werden. „Es ist ein Krieg gegen den Geist des 19. Jh.s, gegen seine allverbindende Philosophie, und dieser Krieg ist notwendig. Solange die Philosophie im Denken als bloßes Vermitteln wie die Wissenschaft im Erkennen als bloßem Beziehen aufgeht, zerstört sie die Kraft des Unmittelbaren ...“ 136 Die Gegensätze des kulturellen Gestus zwischen liberaler und antiliberaler Philosophie lassen sich in einigen charakteristischen Punkten zusammenfassen.137 Vorherrschend 136 K. Joel, Die Überwindung des philosophischen Geistes des 19. Jahrhunderts, Vortrag auf der Generalversammlung der Kantgesellschaft Pfingsten 1927 in Halle/S., in: Kantstudien 32 (1927), S. 475-518, hier 511f. Überwindung des 19. Jh.s, politisch gerichtet: C. Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Kantstudien 35 (1930), S. 28-42 In einem materialreichen Rückblick: Arthur Liebert und die Kantgesellschaft (1918 – 1949), Ludwigsfelde ²2005, zeigt Günther Wirth das Bemühen der Gesellschaft und insbesondere ihres Vorsitzenden, A. Liebert, zur Verteidigung des Liberalismus in der deutschen Philosophie. 137 Zur Thematik u. a.: J. Habermas, philosophisch-politische Profile, 1981; H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland 1963; R. Kramme, H. Plessner und C. Schmitt. Eine historische Fallstudie zum Verhältnis von Anthropologie und Politik in der deutschen Philosophie der zwanziger Jahre, 1984; Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im

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war im antiliberalen Denken der Gedanke des Bruchs mit dem Überkommenen, so beim lebensphilosophischen, wie beim marxistischen Aktivismus. Der liberale Jurist vertrat die Kontinuität von Veränderungen. Baumgarten stimmte mit den Auffassungen überein, die Gustav Radbruch (1878 – 1949) in seiner Rechtsphilosophie von 1932 im Abschnitt „Geschichtsphilosophie des Rechts“ entwickelt hatte.138 Bei Baumgarten bestimmte allerdings nicht die neukantianische Formenlehre, sondern die sensualistische Psychologie den Liberalismus mit dessen Fortschrittsverständnis als Vorgang einer allmählichen Vervollständigung. Mit eigentümlicher Verkehrung gelangte der Liberalismus in die Position des Verteidigers kontinuierlichen Ausbaus der Tradition. Die autoritären Perspektiven der sozialen und politischen Konflikte dagegen kündigten sich als Erneuerung durch Umsturz an. Der von den Unterschichten aus dem 19. Jh. kommende Revolutionsgedanke wurde von den antiliberalen Theoretikern seines sozialen Inhalts entledigt und zu einer stimmungsbezogenenen Problemlösungsfigur gemacht. Plötzlich oder allmählich, das bedeutete in Bezug auf den Willen den wesentlichen Unterschied von emotionaler oder rationaler Führung. Der philosophische Liberalismus sammelte sich in der Weimarer Zeit um die Verteidigung des Intellektualismus und des evolutionären Humanismus. Arthur Liebert (1878 – 1946) hatte in einer Schrift Vom Geist der Revolutionen (³1925) den gegen die Weimarer Demokratie gerichteten Umbruchsgedanken charakterisiert: „Umsturz ist Durchbruch ... des Absoluten durch das Relative. In dem Kampf des Lebenswillens mit der Vernunft, in der Unterschätzung des geschichtlich Gewordenen, in der Verkennung der Notwendigkeit des Relativen gegenüber dem Absoluten, des Inhaltlichen gegenüber dem Formenden liegt die Schwäche aller Umstürzungen, die ihnen ihr Ende bereitet und aus Revolutionen Evolutionen machen kann.“139 Helmuth Plessner (1892 – 1985) war in der auch fürs Verständnis seiner Anthropologie aufschlussreichen, Baumgarten gewidmeten Studie, Die Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), von Baumgartens sensualistischer Auffassung von Moral und Recht in dessen Wissenschaft vom Recht (1920/22) angeregt worden. Er sah in seiner anthropologischen Grundlegung des SoziaDritten Reich, 2 Teile, Berlin 2002. Tilitzki bietet zum reichen Material konzentrierte Kurzcharakteristiken der, wie er sagt, „politisch-weltanschaulichen“ Positionen aller Philosophieprofessoren und Privatdozenten. Seine Differenzierung der einzelnen Theoretiker dient dann allerdings dem mit der Anerkennung von Lübbes und Noltes Arbeiten wie für zeithistorisch verbindlich erklärten Ziel, vor allem die deutschnationalen und anderen rechtskonservativen Strömungen und Parteinahmen durch vereinfachende Erklärungen von Verantwortung für die katastrophalen Folgen zu entlasten, sie z. B. auch von einer eigentlichen nationalsozialistischen Philosophie abzusetzen, die es im Grunde kaum gegeben habe. 138 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Leipzig ³1932, § 11. 139 A. Liebert, Vom Geist der Revolutionen, Leipzig u. Berlin ³1925, S. 16. Liebert hatte 1935/36 von seiner Belgrader Emigration aus die internationale philosophische Gesellschaft Philosophia begründet, die unterm Programm eines universalen Humanismus die liberale Tradition der Philosophie des 20. Jh.s zu sammeln suchte, und der viele namhafte Philosophen beitraten. Der erste Band der gleichnamigen Zeitschrift brachte die Erstveröffentlichung von Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften, hervorgegangen aus einem Prager Vortrag von 1935 (Philosophia, 1 (1936), S. 77-176)

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len die Basis für eine Kritik der umstürzenden Vergemeinschaftungsideologie sowohl von konservativer, wie von kommunistischer Seite.140 In den krisenhaften Bewegungen der Weimarer Republik bildete Baumgarten seine Philosophie als ein Programm aus, den liberalen Individualismus zu bewahren, aber auf einen sozialen Ausgleich in rationalen rechtlichen Bahnen zu beziehen. In seinem Strafrecht hatte er inzwischen die klassische individualistische Auffassung der Vergeltungsstrafe mit der v. Lisztschen sozial orientierten Reform verbunden. Baumgarten hatte im § 3 der Wissenschaft vom Recht einen sensualistischen Altruismus als sozialpsychologische Grundlegung der Rechtsform eingeführt. Er sah den Altruismus als die Denkform, die die Verkehrung der neuzeitlichen gesellschaftlichen Entwicklung durch die vielfältigen Gewaltmethoden des Staates, darunter neben den Kriegen auch der Strafvollzug, umwenden könne. Im Laufe der zwanziger Jahre führte er seinem Empirismus als rationaler und liberaler Theorie der Krisenbewältigung neue materiale Elemente sozialstaatlicher Reform zu. Auf der Gegenseite blühten die Metaphern revolutionärer Kühnheit und führten den Geist des Opfers in die Auspizien regulärer Lebensführung ein, eine Unterwerfung der sozialen Orientierung durch Verunsicherung und Zerstörung der Individualität. E. Jünger: „Jede Haltung, der ein wirkliches Verhältnis zur Macht gegeben ist, lässt sich auch daran erkennen, dass sie den Menschen nicht als das Ziel, sondern als ein Mittel, als den Träger sowohl der Macht wie der Freiheit begreift. Der Mensch entfaltet seine höchste Kraft, entfaltet Herrschaft überall dort, wo er im Dienste steht. ... Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, dass er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.“141 Die Gegensätze von liberaler und autoritärer Theorie gründen in der unterschiedlichen Vermittlung von Individuen und sozialen Ordnungsformen. Der liberale Verfassungsstaat erschien als permanente Bewegung, in der die bestehenden Hierarchien immer neu legitimiert werden müssten. Das erschien dem in räumlichen Vorstellungen befangenen simplen Sicherheitsbewusstsein als auflösend. Es setzte darum die Metaphysik von Gestalten gegen die ganze Sphäre von Relationen im Zeitfluss. Im Recht behandelte Baumgarten das als die nicht abschließbare Vermittlung von subjektivem und objektivem Recht. Die kulturelle Perspektive wissenschaftlicher Rationalität entsprach dem Liberalismus. Sie ist, wie die der Technik, nicht abrupt, sondern kontinuierlich experimentierend und korrigierend gerichtet. Sieht man auf die reale Geschichte 140 Plessner hatte hier Voraussetzungen geschaffen für seinen mit den Stufen des Organischen und der Mensch (1928) folgenden Versuch, in der nachrevolutionären Phase der europäischen Gesellschaften die philosophische Anthropologie als einen Weg abzustecken gegen gewaltbereite Vergemeinschaftungsprogrammatik („Radikalismus“), sowohl des Sozialismus wie des Faschismus. Die vorübergehende Annäherung an C. Schmitts Dezisionismus war damals noch nicht abzusehen. Er hat sie selbst mit seinen Groningener Vorlesungen Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche (1935, 1959 unter dem Titel Die verspätete Nation) wieder zum Liberalismus zurückkorrigiert. 141 E. Jünger, Der Arbeiter, Hamburg 1932, S. 71. Die mystifizierende Verdinglichung von sozialen Relationen saugt die Persönlichkeit auf. Die agitatorische Sprache operiert schamanenhaft, indem sie dann die Gegensätze ineinander schiebt: Dienen ist Herrschaft, also Opfer der Sieg.

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des liberalen Verfassungsrechts, so wird als dessen Problem deutlich, dass die im Hintergrund stehenden wirtschaftlichen Mächte (und deren verborgene politische Einflussnahmen) den prozessorientierten Ausgleichspostulaten des Liberalismus widersprechen. Kurzschlüssig werden daraus Argumente gegen die Deliberalisierung aufgebaut, wie in der amerikanischen Diskussion die liberale Theorie – auch Habermas’ Konzept des kommunikativen Handelns – behandelt wird.142 Wie sollten solche Mächte zurückgedrängt werden, wenn nicht über den öffentlichen Diskurs, dem allerdings weitertreibende materiale Projekte und Entscheidungen zugehören? Der Liberalismus ist selbst Teil der Bewegung der Gesellschaft, die er entwirft und in speziellen Ausschnitten beschreibt. Er begann im Zeitalter der Manufaktur und des Handelskapitalismus mit den Abstraktionen von freiem Individuum und Gesellschaft als der einfachen Summe aller Individuen. Die Gegenüberstellung besaß nur geringe materiale Realität (staatliche Sicherung wechselseitiger Freiheit), aber außerordentlichen methodischen Gehalt als analytischer Rahmen für die Behandlung materialer Strukturprobleme gemäß verschiedenen Bewegungsphasen der Gesellschaft. Dem Industriekapitalismus des 19. Jh.s entsprachen der Sozialliberalismus in verschiedenen Strömungen und eine proletarische Fassung des Weges zu einer nachkapitalistischen Industriegesellschaft. Die demokratischen Verfassungen bestätigten die Gleichheit Aller als Staatsbürger und legten zugleich das ökonomische Abhängigkeitsverhältnis der Lohnarbeiterklasse und der Angestellten bloß. Diesem Widerspruch wirkten Bewegungen wie der Verein für Sozialpolitik (1872) des sog. Kathedersozialismus (G. Schmoller, A. Wagner, L. Brentano, H. Herkner) entgegen, dessen Vertreter, selbst Gegner des Sozialismus, die soziale Intervention des Staates zugunsten des Industrieproletariats forderten. Die gleiche Richtung verfolgte die christlich-soziale Bewegung Stoeckers und Friedrich Naumanns mit dem Nationalsozialen Verein (1896). Friedrich Naumanns (1860 – 1919) Schrift Was heißt Christlich-Sozial (2 Hefte, 1894/96) fasste das Programm zusammen. Ursprünglich zur Abwehr der Sozialdemokratie gedacht, entwickelte Naumann die Idee der nationalen Integration der Arbeiterschaft durch den Aufbau eines Systems sozialer 142 Vgl. Michael Walzer, Vernunft, Politik und Leidenschaft. Defizite liberaler Theorie, Frankfurt/M. 1999. Walzer verkennt, wie es der Polemik gegen die Theorie des kommunikativen Handelns (zuerst 1981) oft widerfährt, den methodischen Charakter des Konzepts. Als solches ist es idealisierend gehalten. Deren materiale Gehalte sind als Prozessmomente zu verstehen. Walzers Einwand, die Deliberationstheorien übersähen die Realität von Macht, Hierarchien und Herrschaft, bezieht sich auf die materiale Ebene, die von den liberalen Verfahren sehr wohl gesehen und eben mit Methoden diskursiver Öffentlichkeit kritisiert werden soll. Walzer meint aber auch, die Theorien der Deliberation zielten auf die Utopie eines Endzustands herrschaftsfreier Argumentationsgesellschaft. Das ist bei den Ausführungen von Habermas im Verständnis der materialen Unendlichkeit von methodischer Idealität natürlich nicht der Fall. Walzers Lösung, dass statt Deliberation nur ein Rhythmus von Herrschaft und Hierarchie – Lockerung und partielle Auswechslung durch Kritik – neue Herrschaft und Hierarchie angenommen werden dürfe, dieser „Realismus“ entwirft allerdings ein anderes Bild und dämpft die Aussichten von Gerechtigkeitspostulaten empfindlich. Der Kritik des theoretisch-programmatischen Liberalismus lag häufig ein romantischer Erfahrungsbegriff zu Grunde, der empfiehlt, sich nicht zu hoch über den vor aller Augen liegenden Lebenstakt zu erheben.

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Grundrechte und durch politische Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie in einem Liberalismus „von Bassermann bis Bebel“. Dieser liberal-soziale Gedanke ging seiner Zeit weit voraus und erreichte kaum Wirkung.143 In England hatte John Ruskin (1819 – 1900) von der sensualistischen Tradition her bereits seit 1870 eine Entpersönlichung der Menschen durchs Industriesystem verurteilt. Das kapitalistische System widerspreche mit seinem materiellen Egoismus den eudämonistischen Versprechungen der Philosophie und der Volkswirtschaftslehre. Seine Schlussfolgerungen hatten gelautet: Nationalisierung der Naturschätze, Arbeitssicherheit und gerechter Lohn, eine neue sozial orientierte Volkserziehung und Arbeiteruniversitäten (die „Ruskin-Colleges“) (Time and Tide, 1867). Die dem Sozialliberalismus naheliegenden sozialistischen Gedanken hatte früh der Zivilrechtler Anton Menger (1841 – 1906) in seiner Schrift Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen (1890) ausgesprochen. Hier sollte nur eine immanente sozialstaatliche Tendenz des Liberalismus bezeichnet werden. Anders ist Baumgartens Weg vom Liberalismus zum Sozialismus nicht zu verstehen. Auf der Gegenseite stellte die Abkoppelung des spezifischen Sozialismus des 20. Jh.s von dessen Liberalismus-Wurzeln, die allerdings schon bei Marx selbst vorgedacht gewesen war, eine der wesentlichen Ursachen für dessen schließliche Selbstauflösung dar. Liberalismus bedeutete immer ein Programm des öffentlichen Rechts. Baumgartens Schriften zeigten mit der Verteidigung der induktiven Rationalität des Empirismus zugleich eine Entwicklung der Moral- und Sozialphilosophie, die der allgemeinen Bewegung des Sozialliberalismus entsprach. Mit ihm begann sich die klassische liberale Staatsauffassung einfacher Freiheitssicherung Aller gegeneinander aufzulösen. Die entscheidende Veränderung bestand darin, dass ein materialer Begriff der Gesamtheit der Individuen auftauchte. Im Kern bedeutete es, dass sich die rechtliche Verbindung der Begriffe Person und Eigentum aufzulösen begann. L. v. Mises hatte damals treffend gesagt: „Das Programm des Liberalismus hätte, in ein einziges Wort zusammengefasst, zu lauten: Eigentum, das heißt: Sondereigentum an den Produktionsmitteln ... Alle anderen Forderungen des Liberalismus ergeben sich aus dieser Grundforderung“.144 Für die Entwicklung des Liberalismus zum materialen Gesellschaftsbegriff, wie auch für die Trennung der Begriffe Person und Eigentum, enthielt der sensualistische Empirismus Baumgartens sowohl induktive wissenschaftsmethodische als auch moral143 Bei den Reichstagswahlen von 1898 erhielten die Nationalsozialen im ganzen Reich nicht mehr als 27000 Stimmen. Nach einer vorzüglichen Charakteristik führender sozialdemokratischer Politiker legte Naumann 1900 ein Bernstein und E. David nahekommendes sozialpolitisches Programm vor mit gesetzlichem Mindestlohn, aktiven Gewerkschaften zur Ausbildung „einer Art konstitutioneller Verfassung“ in den Betrieben anstelle der da bisher herrschenden „absoluten Monarchie“, „Beförderung der genossenschaftlichen Produktionsform“ u. a. Mit klarem Blick hieß es auch: „Das worauf es hier ankommt, ist, daß kein sozialer Reformfortschritt ohne demokratisch-politische Fortschritte erreicht werden kann.“ (F. Naumann, Demokratie und Kaisertum, Berlin-Schöneberg 1900, S. 8, 66; sein Programm ausführlich in Kap. VIII: Demokratische Organisation des Wirtschaftslebens, S. 65-80) 144 L. v. Mises, Liberalismus, Jena 1927, S. 17.

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philosophische Anschlussmöglichkeiten. Vor allem aber bewahrte Baumgarten beim Übergang zu materialen Gehalten die individuelle Willensfreiheit und den Spielraum demokratischer Öffentlichkeit und damit den ganzen Bezirk der subjektiven Rechte. So konnte er den konservativen Universalismus abwehren, der einen mystifizierten Ganzheitsbegriff (des Volkes als naturhaft-organischer Einheit) voranstellte und den Bezirk des subjektiven Rechts zurücksetzte. Baumgartens letzte Schrift vor 1933 Der Weg des Menschen gehörte mit seinen Paragraphen 16 und 17 (Privatrecht und Wirtschaftsrecht, Das Wirtschaftsrecht der Zukunft) zur Fülle der vermittelnden und präzisierenden Planwirtschaftsliteratur vom Beginn der dreißiger Jahre, die zweifellos wie von derWeltwirtschaftskrise ebenso vom ökonomischen und sozialrechtlichen Erfolg der Entwicklungin der Sowjetunion angeregt worden war.145 Diese Literatur behandelte die Sozialisierungsthematik in Varianten, die sich vom damaligen kommunistischen Muster unterschieden. Inzwischen hat die Konzentration der industriellen Produktion eine Stufe der Vereinheitlichung der gesellschaftlichen Prozesse erreicht, so dass die Akkumulationserfordernisse eines kleinen Kreises von Industrie- und Bankmonopolen das Leben der Bevölkerungen bestimmen. Damit ist eine Akkumulation von Macht verbunden, die mit den Rechts- und Gerechtigkeitsprämissen des Liberalismus in Widerspruch geraten. Das vollzieht sich im Schatten einer neuartigen Teilung der Gesellschaft in reiche und arme Schichten. Ein neues Proletariat der Millionen Herabgedrückten und der Überflüssigen entsteht. In den europäischen Kernländern des Kapitals kehren Tendenzen frühkapitalistischer Ausbeutung und Pauperisierung wieder. Sozialliberalismus und Sozialismus werden herausgefordert zu neuen Schritten, den Widerspruch zwischen dem gesteigerten Produktivvermögen der Gesellschaft und den partikularen betriebswirtschaftlichen Verfügungen darüber aufzulösen. Die technologischen Erfordernisse der Produktionsprozesse – das Argument für die neuartigen Formen der Depravation der lebendigen Arbeitskraft – drängen auf eine Schrittfolge gesamtgesellschaftlicher Rationalisierungen unterm Primat des Arbeitsrechts. Der Sensualismus bietet wegen seines Ausgangs vom qualitativen Charakter der Arbeitskraft, der hinter dem vordergründigen betriebswirtschaftlichen „Faktor Arbeitskosten“ steht, die Voraussetzungen für solche Reformen, die nach den Erfahrungen des 20. Jh.s nur eine Synthese von Liberalismus und Sozialismus zum Ziel haben können. Baumgartens Werke besitzen ihre bleibende Bedeutung darin, dass sie mit ihrer Verbindung von philosophischer Systematik und Rechtswissenschaft, ganz ihrer Zeit zugehörend, diesem über sie hinausweisenden Ziel zugearbeitet hatten. Zwei Bemerkungen zu charakteristischen Fragestellungen in dem kleinen Kreis liberaler Philosophen, die wie Baumgarten dem schließlichen Triumph des konservativen Denkens widerstanden hatten: Die Hauptlinie des Liberalismus in der deutschen Philosophie des 20. Jh.s war neben den marxistischen Arbeiten der frühen Frankfurter 145 Vgl. G. Meyers Sammelrezension „Neue Literatur über Planwirtschaft“ in Jahrgang I der Zeitschrift für Sozialforschung (1932), die 48 Titel charakterisierte (S. 379-400). Die Theorie des damaligen demokratischen Sozialismus und dessen Anerkennung des wirtschaftlichen Erfolgs des Gemeineigentums am besten bei Otto Bauer, Rationalisierung – Fehlrationalisierung, Wien 1931.

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Schule über unterschiedliche Anschlüsse an den Kantschen logischen Transzendentalismus (Lange, Cassirer, Nelson, M. Adler, J. Cohn, Liebert) und über die Formen des sensualistischen und logischen Empirismus (Cornelius, Baumgarten, Wittgenstein, Wiener Kreis, in Berlin H. Reichenbach) verlaufen. Das Widerstehen gehörte wohl generell zum Bekenntnis für Wissenschaft und Wahrheit. Die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s noch vorherrschende Abkoppelung der Fachwissenschaften von politischen und sozialen Konflikten ergab sich weniger aus der Spezialisierung der Disziplinen als vielmehr aus der individualistischen Arbeitsorganisation der Akademiker. Diese geriet mit dem generalisierenden Wesenszug von Wissenschaft und mit dem sich erweiternden Anwendungsradius vieler Disziplinen in Widerspruch. Die generalisierende Tendenz gehört zu ihrem Charakter als allgemeiner Arbeit. Darum bewegen sich die Wissenschaften in von deren einzelnen Trägern oder Trägergruppen losgelösten kulturellen Prozessen. Politisches Bekenntnis oder gar Engagement erfordert bei Akademikern die Überwindung einer Kluft, anders als bei Arbeitern, deren Arbeitsleben ohnehin kollektiviert ist. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s waren die Wissenschaften außerhalb der kulturellen Programmatik der Arbeiterbewegung Bestandteil eines gesellschaftlichen Ordnungsverständnisses, das soziale Neuordnung und den Übergang politischer Führung auf neue soziale Schichten ablehnte. Das begünstigte die Formen direkter und indirekter Befürwortung des Konservativismus. Nach diesen Aspekten kommt hinzu, dass die Fachrationalität der industriellen Gesellschaft die Tendenz zur Unverantwortlichkeit gegenüber deren Verwendung enthält. Insofern bestand der ungelöste moralische Aspekt des liberalen Widerstehens zunächst nicht in spezifischen politischen Parteinahmen, sondern in dem bewahrten Intellektualitätsverständnis innerhalb der Kultur, der sie zugehörte. Dazu kam das einfachere moralische Problem der Abwehr der faschistischen Diktatur, wie für Juristen, so für Philosophen, ihrer Verpflichtung zur wissenschaftlichen Wahrheit getreu zu bleiben, also ihr Arbeitsfeld nicht disponibel gegenüber illiberalen und wissenschaftsgeschichtlich zurückgebliebenen Theorien zu halten. In diesem Zusammenhang ging es dann auch um den Widerstand gegen die Erosion der Intellektualität als Element der sozialen Erfahrung der Bevölkerung. Mit dem Heraustreten der wissenschaftlich-technischen Ebene der gesellschaftlichen Arbeit aus den konkreten Arbeitsprozessen geht die Partikularisierung der sozialen Erfahrung einher. Die Mechanisierung der Arbeitsabläufe erzeugt die Tendenzen, die konkrete Individualität aus der Handlungsaktivität heraus- und auf privates Konsumverhalten herabzudrücken. Der Horizont überindividueller sozialer Perspektive zerfällt. Die Erneuerung des sozialen und verfassungsrechtlichen Liberalismus war in der Philosophie mit gutem Grund seit den 80er Jahren des 19. Jh.s mit einer Rückwendung zu Kant verbunden gewesen. Heute befindet sich gesamte soziale Transformationsbewegung im Sog der von privatem Kapital beherrschten Akkumulations- und Konzentrationsprozesse und steht in so schwacher Verteidigungsposition wie seinerzeit der verfassungsrechtliche Liberalismus in der Weimarer Republik. Es hat zur Auflösung einer politischen Arbeiterbewegung und damit einer zusammenführenden gesellschaftlichen Perspektive der sozialen Prozesse geführt. Die folgenschwere Überlegenheit der antiliberalen Strömungen ergab sich in der Weimarer Zeit auch aus Prämissen des in dem Exkurs skizzierten romantisch-konservativen Empirismus. Er lehnte gerade die analytische Methodik der fortgeschrittenen Disziplinen

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ab, die die wissenschaftliche Problemlage der Philosophie bestimmten. In der Geschichte der Philosophie wiederholen sich Konstellationen, in denen die vorübergehend dominierenden Richtungen hinter dem methodischen Problemstand der Wissenschaften zurückbleiben. Auch in der Philosophie trat das konservative Denken während der Weimarer Demokratie dadurch revolutionierend auf, dass es innerhalb einer Vorstellungswelt unbewältigter kollektiver Erinnerung operierte, die starke emotionale Impulse einer Erneuerung durch Rückkehr zu vergangener Erfahrung vermittelte. Dieses Denken haftete an der äußeren Sphäre alltagspraktischer Anschaulichkeit von sozialen Strukturen und Prozessen.146 Es verschaffte sich dadurch umstandslose Verständlichkeit. Anschaulichkeit aber orientiert auf Statik, und diese zeigt voranalytische, unaufgelöste Ordnungsformen. Die reale Struktur der Gesellschaft hinter der Anschauungswelt und überhaupt die demokratischen Willensbildungsprozesse mit ihrem Schwerpunkt im Zeitverlauf bleiben unanschaulich. Das setzt für die kritische Stellungnahme komplexe Wechselprozesse analytischer und synthetisierender Denkschritte voraus. Die dem Liberalismus zu Grunde liegende Relation zwischen abstrakten Konstrukten, wie eben freie Individualität und Allheit der Individuen, ließ die liberale Denkweise dem an die Anschauung gefesselten Denken als Phantom erscheinen, hinter dem sich eigentlich die Unübersichtlichkeit des Chaos verberge. Die Kritik rechtlicher und politischer Abstraktionen einer das Leben ausdünnenden Wissenschaftskultur im Namen des Sichtbaren und handgreiflich zu Bewältigenden gehörte immer zum konservativen Repertoire. Die Trennung von konservativer Theoriebildung und brutaler Gegnervertilgung auf der Straße zeigte die illusionäre Gespaltenheit dieses Denkens und bot den beteiligten Akademikern den Rechtfertigungsgestus einer programmatischen Selbsttäuschung. Die unvermittelte Ausdehnung von Gegenständen der Anschauungswelt zu genereller logischer Geltung ermöglichte nicht nur, sondern bedingte die Falsifikation der Geltungsproblematik durch Einschieben von „Gestalten“ (des Arbeiters, des Kriegers, des Deutschen) als metaphysischer Wesenheiten. Damit ist die Irrationalisierung des Verhältnisses von realer Struktur und Erscheinungsbildern abgeschlossen. Die eigentümliche Verkehrung trat ein, dass der philosophische Liberalismus nun die Kontinuität des europäischen Intellektualismus verfocht, der Antiliberalismus aber umstürzend auftrat, während am Beginn des 19. Jh.s der romantische Konservativismus traditionalistisch, der Liberalismus aber revolutionierend dachte. In der Verteidigung der Rationalitätstradition stimmten alle liberalen Philosophen der zwanziger und dreißiger Jahre überein. Erst die Dialektik der Aufklärung brachte 1946 bei den Liberalen den pessimistischen Durchbruch, dass diese Tradition Teil des eigentlichen Unglücks sei. Lange von konservativer Seite ausgesprochene wissenschafts- und technikkritische Ideen Schopenhauers und Nietzsches, auch der ursprünglich konservativen industrie-

146 Vgl. H. Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, in: Zeitschrift für Sozialforschung III (1934), S. 161-194; Der Traditionalismus der Anschauungsweisen durch deren Verbindung mit alltagspraktischer Gewohnheit aus mathematischer Sicht bei Hans Hahn: Die Krise der Anschauung (1933), in: ders., Empirismus, Logik, Mathematik, Frankfurt/M. 1988, S. 86-114, insbes. S. 111ff.

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kritischen Umweltthematik,147 fanden sich unter der Metapher Dialektik zu einer welthistorischen Synoptik verwoben. Der Sammlung des Liberalismus in der Philosophie suchte A. Liebert von seiner Belgrader Emigration aus mit der Gründung der internationalen Gesellschaft „Philosophia“ und deren gleichnamiger Zeitschrift aufzuhelfen. Liebert war Schüler Diltheys gewesen und hatte die Kantgesellschaft bis 1933 als deren Vorsitzender in ihrer intellektualistisch-liberalen Richtung bewahrt. Er suchte unterm Programm eines universalen Humanismus die liberale Tradition der Philosophie des 20. Jh.s zu sammeln.148 Die Exil-Schriften deutscher liberaler Philosophen sind aufschlussreich für die Orientierung des Liberalismus nach dessen Niederlage. Die Arbeiten Cassirers und Löwiths autobiographischer Abriss sind bereits mehrfach behandelt worden. Im gleichen Sinne einer Bewahrung der verbindenden europäischen Rationalitätstradition war das Buch des Ästhetikers Emil Utitz (1838 – 1956) gehalten: Die Sendung der Philosophie in unserer Zeit, Leiden 1935. Er setzte sich mit der Gegenüberstellung von Wissenschaft und Leben auseinander und argumentierte eingehend mit seiner psychologischen und ästhetischen Sicht.149 Eine Kritik des Irrationalismus und speziell der faschistischen NietzscheInterpretation gab E. v. Aster (1880 – 1948) in Die Philosophie der Gegenwart, 1935: Es sei eine Paradoxie, „mit den Mitteln des ‚Logos‘, des Verstandes, der Wissenschaft, ohne die der heutige Mensch nicht leben und nicht denken kann, den Weg zurückzufinden zu einer den Logos entthronenden biozentrischen Weltansicht.“150 Sieht man auf die Auseinandersetzung der liberalen Philosophen mit den antiliberalen Bewegungen vor 1933, so erkennt man die Schwäche des überkommenen idealistischen Philosophieverständnisses. „Vernunft“ und humanistische Werte bedurften der soziologischen Interpretation als Formen des kulturellen Selbstverständnisses konkreter sozialer Strömungen. Sie waren sonst nicht wirkungsvoll gegen die konservativen An147 Vgl. L. Klages, Mensch und Erde (1913), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3: Philosophie III, Bonn 1974, S. 614ff. 148 A. Liebert (Hg.), Philosophia, Vol. I, MCMXXXVI, Fasc. 1-4. Das kosmopolitische Programm umriss Philosophie als „Zeugnis der intellektuellen Einheit und Gemeinschaft der Menschheit“ und als „Mitschöpferin und Mitträgerin des menschheitlichen Gewissens ... Als Sachwalterin der moralischen Gerechtigkeit dient sie dem Geiste harmonischer Zusammenarbeit, ist sie eine Stütze des wechselseitigen Vertrauens...“ (S. 4). Von der Zeitschrift erschienen die Bände I-III. Liebert wollte in der Erfahrung des Faschismus Philosophie auf eine Erneuerung der humanistischen intellektualistischen Tradition konzentrieren. (A. Liebert, Der Liberalismus, Zürich 1944; ders., Der universale Humanismus, Zürich 1946) 149 „Auch innerhalb ihrer legitimen Spannweite soll Wissenschaft Leben zerstören. Wie will man das nachweisen? Das ist nämlich erheblich schwerer, als jene annehmen, die frisch und fröhlich solche Behauptungen in die Welt schmettern. (S. 81) In der Philosophie habe der Intellekt sich selbst und sein Gegenteil, „das Zauberreich des Irrationalen“, zu erforschen. „Es ist kein Intellekt da, der mit mystischer Verbrämung alles umnebelt und jede klare Schau verhindert. Denn der gefährlichste Intellektualismus ist der sich seiner schämende, der sich hinter einer falschen Fassade versteckt. Schließlich: was Irrationalismus in Wahrheit ist, kann uns auch nur der Logos sagen.“ (S. 106) 150 E. v. Aster, Die Philosophie der Gegenwart, Leiden 1935, S. 242.

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sprüche zu verteidigen, die sich als neue Lebens- und Ordnungsinteressen verkündeten und nun mit dem theorieimmanenten philosophischen Bewusstsein aufräumen wollten. Die philosophische Debatte musste die bloße Konfrontation von Denkformen überschreiten. Die sozialen und politischen Gehalte des antiliberalen Denkens auszusprechen, bedurfte es der sozialhistorischen Interpretation der Tradition des philosophischen Liberalismus. In dieser Einsicht bestand einer der Gründe für Baumgartens neuer Beschäftigung mit dem Marxismus in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Seine Methodenschrift von 1939 brachte den Schritt zur soziologischen Klärung der Rechtsform, der sich Baumgarten lange gegenüber Ehrlich, Kantorowicz und schon in Bezug auf v. Liszts Strafrecht erwehrt hatte.151 Er hielt im Ganzen an seiner sensualistischen Grundlegung der Wissenschaften, der Künste, von Recht und Moral fest, weil damit seine Ablehnung verbunden war, und blieb, den soziologischen Gesichtspunkt zur marxistischen deterministischen Entwicklungsauffassung zu steigern. Im Gang des Krieges und mit dem Erstarken antifaschistischer Bewegungen in Westeuropa, vor allem aber in Abwehr der zu erwartenden Internationalisierung des Sozialismus der Sowjetunion, bildete sich gegen die marxistischen und die linksexistentialistischen (Sartre, Camus) Philosophien bei den liberalen Theoretikern ein spontaner Konsens heraus, die Grenzen des idealistischen Philosophieverständnisses gerade nicht zu überschreiten. Das war in der Schweiz besonders ausgeprägt gewesen, und Arthur Baumgarten hatte im Laufe der vierziger Jahre diesen Konsens durchbrochen. Es hatte seinem Empirismus nahegelegen, der Philosophie als eine Form sozialer Erfahrung verstand und sie nicht nur zu den Fachwissenschaften, sondern auch zu konkreten sozialen Interessen und Perspektiven in Beziehung setzte. Mit der Verteidigung des Liberalismus war das klassische Empirismus-Thema der Erfahrung verbunden. Konservativer Universalismus und politische Theologie des antiliberalen Denkens setzten an die Stelle analytisch induktiver Erfahrung den Gegensatz von erlebnishaftem Gemeinschaftsgefühl bei der Menge und intuitiver Selbstgewissheit bei den Führern. Beides wurde falsifizierend fürs Echte innerer Erfahrung gesetzt. Fritz Heinemann (1889 – 1970) hatte 1939 in seinem Ausblick auf die Philosophie nach dem Faschismus die Akte des Erfahrens als ein „anthropologisches Urphänomen“ behandelt. Sein Problem war der Aufbau von individueller Selbsterfahrung (Ich-Identität im Zeitfluss, Kindheit, Schuld, deren Bewältigung u. a.) und die Verbindung solcher „Zentralerfahrung“ mit den Teilerfahrungen des Lebensverlaufs in der Gesellschaft gewesen. Heinemann erwartete eine Befreiung der kulturellen Erfahrung von der bislang herrschenden Bindung an Wissenschaft und Technik, die nun zu ihrer totalitären Konsequenz gediehen sei. Der Adorno-Horkheimer-Ansatz einer „Dialektik der Aufklärung“ wird hier vorab angedeutet. Es liegt die Inspiration durch die gleiche politische Erfahrung vor: Faschismus und Krieg seien Folge der Intellektualisierung und Technisie-

151 H. Klenner hat die soziologische Erweiterung und Präzisierung des sensualistischen Moralismus Baumgartens in dieser Schrift zusammengefasst: Vgl. das Nachwort zu seiner Edition der Grundzüge der juristischen Methodenlehre, a. a. O., S. 303ff.

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rung des Lebens. Die Hochleistungs- und Technik-Emphase des Faschismus war jedoch ein Attribut der aggressiven Zuspitzung des konservativen Ordnungsdenkens, nicht umgekehrt. Heinemann setzte fort, als Urphänomen seelischer Produktivität werde das Denken nach dem Faschismus in den Grund der Selbsterfahrung zurückkehren und sich zu neuen kulturellen Gestaltungen ausbilden. Der Weg existentialphilosophischer Besinnung für die erste Nachkriegszeit wurde hier 1939 vorgezeichnet, aber eingegrenzt. Heinemann sah gegen das Maschinenwesen der technologischen Zivilisation (mit den Folgen ziviler und kriegerischer Militarisierung des Lebens) und gegen die existentialistische Subjektivität nur den Weg zur ontologischen Trias von Wahrheit, Sein und Gott. Unabhängig von der unzureichenden wahrheitsontologischen Fassung abendländischer Humanität, die Heinemann beibehielt und eigentlich schon fürs Selbstverständnis der späteren westdeutschen Nachkriegsrepublik vorzeichnete, bezeichnete er das echte Empirismus-Problem in der Gliederung des Erfahrungsbegriffes als eines individuellen und sozialen Vorganges. Über die Erfahrung im Bezirk von Alltäglichkeit, von Fachwissen und Beruf gehe die eine Person konstituierende Selbsterfahrung hinaus, die sich gesellschaftlichen Erfahrungen erschließen und sie mitgestalten werde. Erfahren erschöpft sich also nicht im Wahrnehmen.152 Heinemann hatte für das LiberalismusProblem richtig eine Dialektik zur Bildung neuer Selbsterfahrung als der zentralen Achse bezeichnet, um die sich partielle Erfahrungen anlagern könnten. Er entwickelte seinen Gedankengang mit einem produktiven Ansatz von der Unverfälschlichkeit immer neu entstehender individueller Erfahrung. Dieses zeugende Element bremst großflächigen Pessimismus, denn es ist nicht von der Soziologie der Kollektiverfahrungen zu verdrängen. 7. Ausbildungsschritte des Baumgartenschen Liberalismus Arthur Baumgarten hatte an den geistigen und politischen Auseinandersetzungen der zwanziger und dreißiger Jahre von den Voraussetzungen seines sensualistischen Empirismus her teilgenommen. Im Abschnitt über den „Geist der Neuzeit“ des Weg des Menschen band er den Liberalismus an die Linie des klassischen Baconschen und des neuen Jamesschen pragmatistischen Empirismus. Er verstand unter ihm vor allem den Gestus des undogmatischen Experimentierens und des Vertrauens auf reale Erfahrung der großen Zahl Beteiligter. Die handlungstheoretische Orientierung des immer vorangestellten sensualistischen Glücksgedankens verband auf elementare Weise die wie statische Immunität dieses Sensualismus gegen den Herrschafts- und Gewaltgestus in der Zivilisation mit dem Gedanken unabweisbarer Perfektibilisierung der Lebensbedingungen und Verhaltensweisen. Baumgarten stellte das der rationalistischen Wendung zum Subjekt und deren Forderung absoluter Gewissheit gegenüber. Dieser Dogmatismus sei 152 Fritz Heinemann, Odysseus oder die Zukunft der Philosophie, Stockholm 1939, S. 26-38. „... dass keine wirklich große und den Menschen ergreifende Philosophie entstehen kann, die nicht gleichzeitig mit der Fülle des neuen Erfahrungsbereiches diese Selbsterfahrung der Auflösung und des Unterganges durchlaufen hat.“ (S. 26)

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noch gesteigert worden dadurch, dass man selbst fürs „Ich bin“ noch transzendentallogische Voraussetzungen aufgesucht habe und „mit Schauder blickt man auf die trostlose Logomachie“.153 Der Empirismus dagegen verstehe Denken als einen gegenständlich gerichteten, zwischenmenschlichen Akt zur Bildung kultureller Erfahrung mit hohem kooperativem Potential. Mit der Anerkennung autonomer kultureller Erfahrung gerade bei der „Masse“ der Individuen verband er eine immanente Tendenz zu Toleranz und schrittweiser liberaler Ausgestaltung des öffentlichen Rechts. Wie viele Intellektuelle sah er am Beginn der dreißiger Jahre ein Zeitalter sich zuspitzender sozialer Kämpfe zwischen Großbürgertum und den verschieden organisierten lohnabhängigen Schichten um die Wirtschaftsordnung eingetreten. Den sensualistisch begründeten Liberalismus glaubte er noch immer in der Lage, eine sozialstaatliche Fortbildung der ganz auf dem schwierigen Kompromiss verschiedener sozialer und politischer Interessengruppen beruhenden Weimarer Demokratie zu gewähren. Der großindustrielle Herrschaftsanspruch wird abgewiesen. Käme jedoch das Proletariat durch Revolution zum Sieg, so würde „unter dessen Diktatur nach Ausrottung der letzten Reste religiösen Gefühls eine rein materialistische Gesinnung systematisch großgezogen“.154 Baumgarten begann in einer späten Phase des deutschen Liberalismus für ihn einzutreten. Während des ersten Jahrzehnts seiner Universitätslaufbahn (ab 1909) stand er der sozialliberalen Reformperspektive noch fern. Er hatte damals mit seiner JamesAufnahme an die Tradition des westeuropäischen Liberalismus des 19. Jh.s angeschlossen, der auf der Zivilisation den Gegensatz zwischen zu überwindender kriegerischer und zu entfaltender vertragsorientierter Gesinnung lasten gesehen hatte.155 Diese 153 Der Weg, S. 348. 154 Ebd., S. 349. Insbesondere marxistische Intellektuelle der DDR werden gut tun, bei Theoretikern, die mit wesentlichen Werken zum liberalen kulturellen Selbstverständnis ihrer Epoche beigetragen hatten, und nach dem Kriege über manche Verwunderung hinweg, mit welchen partisanenhaften Attacken von Beschränktheit sie es nun auch auf dieser Seite zu tun bekamen, sich mit ihrem Wissens- und Erfahrungsreichtum dem damaligen Sozialismus angeschlossen hatten, auch wieder einmal auf die jenem Schritt vorausliegenden Ideen und Schriften dieser selbstlosen Männer zu sehen. Die früheren Ideen eines Lebenswerkes versinken nicht in den späteren. Sie werden in manchem über dem Schluss stehen, und das ist der Fall bei dem freien Geist, der Arthur Baumgarten gewesen war. Man müsste mit grauen Schläfen geboren sein, nicht zu fragen, mit welchen Werken und Erwartungen die vertriebenen Wissenschaftler aus der Emigration in die sozialistische Gesellschaft gekommen waren, auch, nicht zu fragen, was diese der Gedankenwelt der vorausliegenden Schriften schuldig geblieben war. 155 „Wir leben im Zeitalter des Handels, das die Ära des Krieges ablösen musste, so wie das Zeitalter des Krieges diesem notwendigerweise voranzugehen hatte. Krieg und Handel sind nur zwei verschiedene Mittel, um ein und denselben Zweck zu erreichen: den Besitz dessen, was man sich wünscht. ... Das einzige Ziel der modernen Völker ist die Sicherheit und mit dieser der Wohlstand, und als dessen Ursprung die Arbeit. Mit jedem Tag wird der Krieg ein wirkungsloseres Mittel, dieses Ziel zu erreichen.“ (B. Constant, Vom Geist der Eroberung (1813), Heidelberg 1947, S. 27f) Die Sympathie für den englischen Liberalismus besaß in der Zeit der deutschen Reichseinigung oftmals mit der Republikanismuskritik antidemokratische Züge. Sie suchte den Konstitutionalismus und dessen Weltmachtpolitik als Garanten sozialer Ruhe im Inneren darzustellen.

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kosmopolitische und pazifistische Überlieferung verblasste jedoch bereits in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.156 Der Machtstaatgedanke, den dann Nationalliberale der Bismarck-Ära wie Heinrich Treitschke schon vor dem Deutsch-Französischen Krieg vehement antisozialistisch und antisemitisch vertraten, bildete von deutscher Seite eine der Vorstufen für die Erosion und spätere faschistische Zerstörung des kosmopolitischen Liberalismus.157 Nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges bildete Baumgarten einen eigenständigen, moralisch-sensualistisch begründenden liberalen Rechtsbegriff aus, der sich als ausdehnungsfähig erwies, gemäß konkreter Erfahrung bis hin zu den Schritten zum Sozialliberalismus und zum Sozialismus. Man erkennt die erste Phase am besten in der knappen Zusammenfassung seiner Rechtsphilosophie von 1929 im (mit mehreren Beiträgen auf eine neue Metaphysik orientierenden) Handbuch der Philosophie (hg. v. A. Baeumler, M. Schröter). Den Ersten Weltkrieg sah er jetzt, im Unterschied zu seiner Schrift von 1917, nicht nur als eine Katastrophe der Zivilisation, sondern mehr noch als eine Demaskierung der Rechtsund Staatslehre des bisherigen Liberalismus. Der Krieg habe gezeigt, welchen Einfluss eine herrschende Wirtschaftsklasse auf die verhängnisvolle Ausbildung kollektiver Machtwillen auszuüben vermöge. Die konstitutionell-monarchischen wie die demokratischen Verfassungen seien im Interesse der besitzenden Klassen verwandt worden. Das hätten Soziologen wie Marx, Gumplowicz und Oppenheimer richtig erkannt. Baumgarten suchte darum eine soziologische Präzisierung des Gemeinwohlgedankens der demokratischen Verfassungen. Er nahm für die neue Reichsverfassung von 1919 ausdrücklich Partei, ohne die Novemberrevolution zu nennen, und fügte im Blick auf ihre verfassungsrechtliche Inkonsistenzen an: „... die Weimarer Verfassung ist in solchem Maße ein Blankett, dass es von der Rechtsanwendung abhängt, ob sie dem Geist getreu blei-

Vgl. H. v. Treitschke, Die Grundlagen der englischen Freiheit, 1858; R. v. Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, 1882. 156 Bereits nach dem Staatsstreich Napoleons des III. (1851) und dessen darauf folgender Inthronisierung als Erbkaiser durch Parlament und Volksabstimmung (1852) hatte Constantin Frantz (1817 – 1891) das bestehende Gleichgewichtssystem der „europäischen Pentarchie“, Resultat der Schlussakte des Wiener Kongresses (1815), für hinfällig erklärt und die germanische Mitte Europas (das meinte die Führung Preußens im Deutschen Bund) zu gemeinsamer Machtpolitik aufgefordert, die „in Zukunft die Basis des europäischen Gleichgewichts werden muß.“ (Anonym, d. i. C. Frantz, Untersuchungen über das europäische Gleichgewicht, Berlin 1859, S. 434) Das bestehende System, meinte Frantz, diene nur der Ausdehnung der Revolution von Frankreich her. Nach dem Machtgewinn Englands und Frankreichs durch den Erfolg über Russland im Krimkrieg (1854), den die Pariser Friedenskonferenz (1856) repräsentierte, angesichts der Großmachtpolitik Frankreichs und schließlich nach dem Sieg Preußens über Frankreich (1871) war der Gedanke eines Gleichgewichtssystems dem offenen Kampf um Vorherrschaft gewichen. Frantz forderte eine deutsche Großmachtpolitik mit dem Ziel eines starken mitteleuropäischen Staatenbundes. Mit dieser Zielstellung hatte das deutsche Kaiserreich bereits im Schlieffenplan (1905) auf den Weltkrieg hingearbeitet. 157 Vgl. J. Becker (Hg.), Bismarcks spanische „Diversion“ 1870 und der preußisch-deutsche Reichsgründungskrieg, Bd. 1, Paderborn 2003 (die Einleitung des Hg.)

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ben wird, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen ist.“158 Baumgartens Kritik des demokratischen Verfassungsrechts – er behandelte in einem eigenen Abschnitt auch die neueste französische Diskussion – unterschied sich von der konservativen Polemik, die der Demokratie vor allem eine Schwächung des Staates als Ordnungsmacht durch Parteienwesen und freie Öffentlichkeit vorwarf. Baumgarten suchte Wege zur Entfaltung der demokratischen Öffentlichkeit generell und speziell gegenüber den Parteistrukturen und fasste solche Bürgerbewegungen und Bürgerorganisationen unterm Terminus der „autonomen Rechtsgestaltung“ zusammen, die sich gegen die Realität „imperativer Rechtsgestaltung“ in Demokratien richteten.159 Baumgartens deutlich entwickelter Sozialliberalismus stand in einem metaphysischen Zusammenhang, der ihn gegen die marxistische Sozialismustheorie auch manche gebräuchlichen Vorbehalte aussprechen ließ. Er kritisierte deren historischen Determinismus, den Ideologiebegriff und eine trostlose „materialistisch-utilitaristische Gesinnung“, wenn die geistigen Sphären „nur als Begleiterscheinung der großen wirtschaftlichen Bewegung“ hingestellt würden. Doch sein Akzent saß auf dem Gedanken, die sozialistischen Reformwege seien im Vergleich mit der individualistischen Wirtschaftstheorie viel zu wenig untersucht worden, andernfalls würde die Sozialisierungstheorie „nicht einen so dürftigen Eindruck machen, wie es heutzutage immer noch der Fall ist, dann wäre der Marxismus schwerlich ihr Prunkstück.“160 Baumgartens Sozialliberalismus ergab sich aus seiner Auffassung der Ursachen des Weltkriegs und diese folgerte er aus einer Interpretation des 19. Jh.s. Er sah natürlich die wirtschaftlichen Interessen der Großindustrien an der Machtpolitik der jeweiligen Staaten. Aber das bildete für ihn nicht das Problem. Wie war das Aufflammen des „kollektiven Machtwillens der Nationen“, wie er sagte, zu erklären, „des größten Feindes des individuellen Glücks“? 8. Das Urteil über das 19. Jahrhundert in den liberalen und antiliberalen Theorien Das Urteil über das 19. Jh. bildete um die Jahrhundertwende ein viel behandeltes Thema, bei dem entschiedene Gedankenrichtungen einander gegenüber standen. In der Philosophie waren Schopenhauers, E. v. Hartmanns pessimistische Willensmetaphysik und Nietzsches ästhetisch-heroisierender Nihilismus zu dieser Zeit unter den Intellektuellen die wirkungsvollsten kritischen Gedankenrichtungen. Nietzsche verachtete sein Jahrhundert. Es löse die Kultur in Industrie und Fachwissenschaften auf und bringe die Unterschichten herauf. Die Zarathustra-Materialien (1882/84) sprechen von der „tiefen Unfruchtbarkeit des 19. Jahrhunderts“, das kein neues Ideal hervorgebracht habe. Die egalitären Bewegungen bildeten ein Procedere des Verfalls. „Man muss das Zu-GrundeGehen so leiten, dass es den Stärksten eine neue Existenzform ermöglicht.“161 Baum158 Rechtsphilosophie, S. 25f. 159 Ebd., S. 78. Er verwies auf Literatur aus der Schweiz und den Niederlanden, den Stammländern des europäischen Republikanismus. 160 Ebd., S. 24f. 161 Nietzsche’s Werke, Bd. XII, Leipzig 1901, S 367. „Das 19. Jahrhundert ist animalischer, unterirdischer, hässlicher, realistischer, pöbelhafter und eben deshalb ‚besser‘, ‚ehrlicher‘, vor der Wirk-

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garten war vom Pessimismus Schopenhauers, Dostojewskis, Tolstois beeindruckt. Schopenhauer war ihm der für seine Zeit wichtigste deutsche Philosoph. Er nannte solche Denker das Salz der Erde und verstand sie als tragische Gestalten. Sie würden tiefer sehen und das Unheil erkennen, das die Schulphilosophen nicht wahrnähmen. Es sei eine Tragik des Zeitalters, wenn die besten Köpfe sich zu ihm in Widerspruch setzen müssten.162 Viele industrialisierungskritische Richtungen der Intellektuellen und Künstler vereinigten ihre Ablehnungen der materielle Gigantomanie, imperiale Herrschaft und Militarismus ausschwitzenden bürgerlichen Industriegesellschaft in der Verachtung des 19. Jh.s. Das Programm der Kunst um der Kunst selbst willen war ursprünglich von V. Cousin (1792 – 1867) bereits in den dreißiger Jahren in antireligiösem und antietatistischem Sinn formuliert und später von den Impressionisten auch so ausgeführt worden. Das Fin-de-Siècle-Bewusstsein der französischen décadents erst verband den zivilisationskritischen Impuls mit dem Formalismus und Symbolismus (Mallarmé, St. George) und verlieh ihm dadurch seine neuromantische Untergangsstimmung, die schließlich vom Aktivismus einer geistaristokratischen Orientierung aufgefangen wurde.163 Die elitäre ästhetische Ekstase, in Nietzsches Aperçus am wirkungsvollsten formuliert, hatte früh begonnen, nur noch die Wahl zwischen dem Sieg eines neuen, herrscherlichen Geschlechts oder dem Untergang Aller für angemessen zu halten, das Kainszeichen lange vorm Nazismus. Das verstärkte sich in dem Maße, wie der ästhetische Seher zum prophetischen Führer stilisiert wurde. Stefan George hatte das in der Erweckung des Priester-Kaisers in seinem Algabal (1892) vorweggenommen und in Nietzschescher Verachtung der Masse als des „Strohs der Zeit“, das für ein neues Reich dahingerafft werden müsse, weiter ausgebildet (Der Stern des Bundes, 1914). Schließlich erwies sich Vieles dieses poetischen Formalismus als das geistaristokratische Schild der im Faschismus massenwirksam gewordenen Fortsetzung der bürgerlichen Zivilisation mit anderen Mitteln. Baumgarten gehörte zum Kreis der Wenigen, die die Kritik des neuen imperialen Zeitalters nicht in elitär-konservative Richtung geführt, lichkeit jeder Art unterwürfiger, wahrer, aber willensschwach, traurig und dunkel-begehrlich und fatalistisch.“ (Der Wille zur Macht, a. a. O., S. 210) 162 „Man muss hoffen, dass das 19. Jahrhundert aus seiner Zuwendung zu den brutalsten Seiten des Lebens, die seine größten Söhne an den Rand der Verzweiflung treibt, Kräfte gewinnt für einen neuen Aufstieg der Menschheit zu höherm geistigem Leben.“ (Der Weg, S. 385) 163 Der ästhetische Formalismus bildete natürlich auch eine Reaktion auf die anstößige Stillosigkeit der Parvenus des industriellen Fortschritts. M. Proust hat die Alternative von Geschmack bei Exklusivität gegenüber der Oberflächlichkeit der modisch Erfolgreichen an den ästhetischen Abendzirkeln und an manchen Schriftstellern (A. Gide, A. France) ironisch ausgeführt, ohne in antidemokratische Pose zu geraten. Die kulturelle Krise lässt sich darin zusammenfassen, dass das europäische Bürgertum seit der Mitte des 19. Jh.s im Unterschied zu früheren Epochen über keine eigenständige Stilform mehr verfügte, die eine Symbolik der sozialen, industriellen und geistigen Kultur der Zeit darstellen könnte. Für die Möbelstile z. B. entstand die charakteristische Bezeichnung der sog. Neostile, die einen bombastisch-spielerischen Eklektizismus mehrerer und möglichst effektvoller früherer Stilelemente darstellten. (Vgl. G. Kaesz, Möbelstile, Leipzig 1984, darin: Die Neostile, S. 203-212)

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sondern auf der Basis seines sensualistischen Empirismus mit demokratischer Perspektive verbunden hatten. Im politischen Feld aufs Ganze gesehen, wurde die dem Konservativismus entgegengesetzte Richtung von der sozialdemokratischen Bewegung vertreten. Sie sah das 19. Jh. als progressive Epoche der Industriegesellschaft, gezeichnet vom Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit, die mit der erreichten Stärke der organisierten Arbeiterbewegung zum Jahrhundertende in die Reifephase des Übergangs der Regierungsgewalt auf die Sozialdemokratie und der schrittweisen Sozialisierung von Teilen der Großindustrie eintrete. Die Arbeiterbewegung verstand die demokratische Verfassung vor allem als die der ökonomischen Struktur adäquate Rechtsform, in der der Gegensatz der Klassen offen ausgefochten werden könne.164 Die sozialistische Bewegung besaß ein umfassendes Bild vom 19. Jh. als der Reifungszeit für eine nachkapitalistische Zivilisation. Wirtschaft, Sozialstruktur, Staat und die kulturellen Bewegungen waren hier noch einmal in einem breiten Historismus des Fortschritts aufeinander bezogen. Der revolutionäre Gehalt der sozialistischen Wertung des 19. Jh.s war bestärkt worden durch das Sozialistengesetz (1878 – 1890) und durch die Reichseinigung von oben, d. i. des Ziels der 48er Revolution bei Ausschaltung des Republikanismus. Die deutsche Arbeiterbewegung war aus dem sozialen Flügel der demokratischen Einheitsbewegung von 1848 hervorgegangen. Die Integration des breiten Stroms der sozialdemokratischen Massenbewegung in den sozialen und politischen Entwicklungsgang der deutschen Industriegesellschaft, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes und mit den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Erfolgen einsetzte, veränderte hier das Urteil über die progressive Bedeutung des 19. Jh.s nicht. Das bürgerliche Lager, gleich ob junkerlich-konservativ oder in den liberalen Parteien verankert, sah, bei wesentlichen Gegensätzen über die sozialen Tendenzen, für Deutschland die Leistung des Jahrhunderts in der Reichsbildung nach innen und in der erreichten Großmachtposition nach außen.165 Das materialreiche, in vielen Auflagen erschienene Werk Theobald Zieglers (1846 – 1918), Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jh.s (1899), wiederholte auch dieses Bekenntnis. Es formulierte im Abschnitt „Die allgemeine Struktur der Zeit“ eine Zwiespältigkeit der Gesellschaft und von deren Idealen und folgerte daraus Veränderlichkeit und Bewegung der deutschen Gesellschaft. Das Denken sei, bei den einen besorgt, bei anderen erwartungsvoll, auf zukünftiges Geschehen gerichtet. Ziegler hatte der nationalsozialen Richtung nahe gestanden, und es ist gut zu erkennen, wie der Machtgedanke des kaiserlichen Deutsch164 F. Engels hatte in den neunziger Jahren mit militärtechnischen Überlegungen einen bewaffneten Aufstand für Mitteleuropa als Weg zur Macht ausgeschlossen. Kautsky hatte die dann bleibende Frage nach dem Weg zur sozialistischen Regierung mit der Voraussage von zwei Schritten aufgelöst: Es komme unweigerlich zum sozialdemokratischen Sieg bei den Reichstagswahlen. Werde dagegen das Militär putschen, so werde die unbedingt politisch einheitlich zu haltende Arbeiterbewegung den politischen Generalstreik, „die Revolution der gekreuzten Arme“, bis zur Niederlage der Konterrevolution einsetzen. (K. Kausky, Der politische Massenstreik, Berlin 1913) 165 Vgl. M. Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Weimarer Republik und Nationalsozialismus, München 1999, 1. Kap.: Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert.

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land nach innen und nach außen bei allen nichtsozialistischen Richtungen einen verbindenden Zielpunkt sicherer Erwartung darstellte. Damit wurde auch eine Beruhigung über den sozialen Grundkonflikt und die bedrohlich angewachsene sozialistische Bewegung verbunden. Offensichtlich wurde dann 1914, dass das verfassungsrechtlich rückständige deutsche Reich keinen adäquaten Umgang mit den Problemen der sich im Zentrum Europas ausbildenden kapitalistischen Industriegesellschaft gefunden hatte.166 Philosophie- und kulturhistorisch interessant ist ein von Dilthey ab 1898 wiederholt vorgetragener Vorlesungstext, der unterm Titel Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie erst 1931 veröffentlicht wurde. Er ist fürs recht realistische zeithistorische Verständnis der Diltheyschen psychologischen Begründung einer Geisteswissenschaft und lebensphilosophischen Weltanschauung aufschlussreich. Einige Auffassungen Baumgartens berühren sich mit Diltheys Gedankengang. Das 19. Jh. beurteilte Dilthey mit einem so anspruchvollen wie rationellen Konzept, in dessen Richtung die tiefer sehenden Intellektuellen, wie Mommsen, v. Harnack, Troeltsch, dachten. Es ist noch deutlich in Husserls später Krisis der europäischen Wissenschaft (1936) zu erkennen. Dilthey sah als zentrales Resultat eine der Jahrhundertmitte noch ferne gewesene Überzeugung von anhaltender Veränderlichkeit der Gesellschaft und mit dieser eine Ratlosigkeit über den Fortgang.167 Die Unsicherheit ergab sich ihm aus der Unmöglichkeit einer transzendent oder logisch-metaphysisch begründeten Weltanschauung. Der Wirklichkeitssinn der naturwissenschaftlichen und technischen Denkweise und der offene Austrag gegensätzlicher sozialer Interessen hätten eine solche Denkweise zurückgelassen und aus sich ein Bewusstsein der Unfertigkeit und zielloser Erwartungen hervorgebracht. 166 „Durch Bismarck sind wir wieder ein Volk, durch ihn sind wir auch eine Macht geworden. Nicht bloß äußerlich: der große Realist hat uns auch innerlich zu Realisten gemacht, ... beides, ein Volk und eine Macht zu sein.“ (T. Ziegler, Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jahrhunderts, Berlin 1911, S. 533) Zieglers Darstellung steht durch das Verständnis für die verschiedenen Stimmungslagen und Tendenzen oft weit über solchem damals obligaten Bekenntnis. Gut ließ er Unreife und Unsicherheit der herrschenden Klasse nach dem Tode Wilhelm I. (1888) erkennen im Hin und Her der Politik zwischen modernem Reformdenken und ostelbisch repressiver Rückständigkeit. Der Zulauf auf den Weltkrieg sei zum gewissen Teil spontan und in Unstetigkeiten geschehen, die im Ganzen ein Ausweichen vor den erforderlichen inneren Reformen angezeigt hätten. Fontanes Altersroman Der Stechlin (1899) schilderte zur gleichen Zeit das Jahrhundertende bereits als Verfallsstadium der preußischen Monarchie. 167 Solche evolutionistische Öffnung der historischen Perspektive gewann im deutschen kulturellen Selbstverständnis etwas von Zerbrechlichkeit, da dessen historisches Denken nicht von den Aufklärern Hume und Voltaire, sondern von der historischen Schule geprägt worden war. Deren Historismus bezog sich auf die Vergangenheit, wich aber der Zukunft aus. Diese Rückständigkeit bildete auch einen der Gründe für den Übergang gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen zu Kulturkreislehren am Anfang des neuen Jahrhunderts, die dem westeuropäischen Evolutionismus entgegentraten, aus dem auch der sozialistische Historismus hervorgegangen war. Das setzte in der Ethnologie früh und noch mit rationellen methodischen Teilfragen ein, bevor Spenglers zyklische Wiederkehr und Chamberlains Rassen-Historiographie daraus eine Weltanschauung machten. (Vgl. R. Thurnwald, Aufbau und Sinn der Völkerwissenschaft, Berlin 1947, Abschn. 5: Kulturkreislehre und kulturhistorische Methode)

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Die psychologische Begründung und Gliederung des Geistbegriffes und die Bildung einer Geisteswissenschaft sollten den Relativismus methodisch reflektieren, eingrenzen und rational durchführbar machen. Diltheys Kritik des 19. Jh.s konzentrierte sich um einen Widerspruch zwischen der Souveränität des wissenschaftlichen Denkens und einer „Ratlosigkeit des Geistes über sich selbst“: Alle Maßstäbe sind aufgehoben, alles Feste ist schwankend geworden und das Spiel mit scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten erzeugt den Schmerz der Leere und eine „Anarchie in allen tieferen Überzeugungen“. Als sei der Mensch überhaupt mit einem Widerspruch behaftet, finde er sich in der Zerrissenheit zwischen so vielen Fortschritten und fehlendem Sinn eines primär ökonomisch („materialistisch“) verfassten Daseins. In Baumgartens Auffassung des 19. Jh.s kehrte das wieder.168 Wie Dilthey sah er die irrationalistische Zivilisationskritik als Reaktion auf den mit der Industrialisierung verbundenen Primat der wissenschaftlich-technischen Rationalität. Tatsächlich besteht das zu Grunde liegende Problem in der beschränkten betriebswirtschaftlichen Anwendung der Rationalität, sowie in der marktwirtschaftlichen Distribution der Güter. Das prägt den Geist der Vorläufigkeit, des kontinuitätslosen Augenblicks vor der weiselosen Dauer und damit der Nichtswürdigkeit des Geschehens und unserer selbst. Dilthey sprach es insofern aus, als er sagte, im menschlichen Erkenntnisstreben liege ein tragischer Widerspruch zwischen Wollen und Können. Baumgarten begründete seine Philosophie auf einer dreifachen Antinomik, zu der auch die Antinomie zwischen ideeller Erwartung und gegebener Beschränkung gehörte. Wie Dilthey lehnte Baumgarten die intuitive lebensphilosophische Schau von WesensGanzheiten ab. Richtig sah er daraus Versuche zu irrealer Prophetie der gesellschaftlichen Perspektiven und des politischen Handelns hervorgehen. Dilthey sagte von der Lebensphilosophie, die Denker blieben innerhalb der eigenen Individualität. Sie hielten ihren Blickwinkel für die Welt und urteilten ohne wirkliche Kenntnis. „Sie verkennen die geschichtliche, geographische, persönliche Bedingtheit. Die Geschichte ist ihre Widerlegung.“ Es fehle das Verständnis der umfassenden Objektivität der Wirklichkeit. Er führte seine Analyse der Antinomik zwischen der Ausbildung der Industriegesellschaft und den unbeantworteten sog. Sinnfragen zur Feststellung, das 19. Jh. habe den Glauben an die Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Ordnung verschwinden lassen,

168 W. Dilthey, Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie (1898), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Leipzig, Berlin 1931, S. 194ff. Baumgarten kannte wahrscheinlich Diltheys Text, der 1931 aus dem Nachlass erschienen war, bei der Ausarbeitung seines Buches Der Weg des Menschen von 1933. Dilthey hatte die intuitive Schau eines anderen Lebens bei Nietzsche, Carlyle, Tolstoi, Maeterlinck als eine irrationalistische „Lebensphilosophie“ geschildert. Sie entstehe als Ablehnung der „geistlosen Zeit“ und glaube den Abschluss wissenschaftlicher Philosophie gekommen. Baumgarten nannte die gleichen Denker und sagte, Dilthey habe zuerst den Versuch gemacht, für sie einen Platz in der Methodenlehre der Philosophie zu finden und habe sie Lebensphilosophen genannt. (Dilthey, Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie, a. a. O., S. 201; Baumgarten, Der Weg, S. 51) Dilthey hatte im 1. Kapitel seiner Ethik-Vorlesung (1890) die gleichen Gedanken ausgeführt. (W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. X, Stuttgart, Göttingen 1965)

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und setzte mit der außerordentlichen Schlussfolgerung fort: „Wir stehen mitten in der Umgestaltung dieser Ordnungen nach rationalen Prinzipien.“ „Die arbeitende Klasse verlangt eine bessere wirtschaftliche Lage und größeren politischen Einfluss und diese Forderungen bestimmen heute die innere Politik der Staaten.“ Offensichtlich erwartete und befürwortete Dilthey eine liberale Umbildung der deutschen Gesellschaft als rationelle Konsequenz der industriellen, sozialen und intellektuellen Veränderungen der 19. Jh.s. Die intuitivistische lebensphilosophische Gegenlinie entfaltete im neuen Jahrhundert ihre Winkel-Perspektive zu so weitgreifenden wie intellektuell rückständigen Prophetien einer gegen den Liberalismus erforderlichen Neugeburt des Reiches durch Autorität und Gewalt. Die Vermischung von Moral-Begriffen naher Vertrauensgemeinschaft und Rechts-Begriffen einer materialen Jurisprudenz bildete die Barriere gegen ein der Realität adäquates kulturelles Selbstverständnis. Alle antiliberalen Strömungen verstärkten und verflachten die Kritik des 19. Jh.s zu pauschaler Ablehnung. Das historische Denken wurde damit der spekulativen Willkür freigegeben. Oswald Spenglers (1880 – 1936) Schriften zeigten die Einseitigkeit der Wahrnehmung als Basis der agitatorisch wirksamen Verve des konservativen Denkens, und sie zeigten, dass die antiliberale Bewegung, wie zuvor bei Nietzsche, auch in der Weimarer Republik bei der Verurteilung des 19. Jh.s ansetzte. Es ging um die zentrale Frage der Industrialisierungsepoche und speziell darum, wie diese mit den Erfordernissen einer neuen Stellung der sozialen Klassen zueinander und mit der normativen Rechtsstaatlichkeit umgehen sollte. „Mit dem 19. Jahrhundert gehen die Mächte aus der Form des dynastischen Staates in die des Nationalstaates über. Aber was heißt das? ... Der politische Rationalismus versteht unter ‚Nation‘ die Freiheit von, den Kampf gegen jede Ordnung. Nation ist ihm gleich Masse, formlos und ohne Aufbau, herrenlos und ziellos. ... So entsteht die ‚Demokratie‘ des Jahrhunderts, der Parlamentarismus als verfassungsmäßige Anarchie, die Republik als Verneinung jeder Art von Autorität.“169 Methodisch regierte hier der Gegensatz von Rationalität und gefühltem Geschehen. Er war die Falsifikation der realen verfassungsrechtlichen Problematik, die entstanden war bei entwickelter Relation unterschiedlicher sozialer Klassen, aber nicht mehr recht adäquat den liberalen Freiheitsbegriff nicht aus der Verankerung in der vorherrschenden privaten Erwerbs- und Eigentumsfreiheit lösen mochte. 9. Baumgarten über das 19. Jahrhundert Baumgarten gab der Widersprüchlichkeit des 19. Jh.s breiten Raum. Der vom aufklärerischen Entwurf vorausgesehene freie Mensch in seiner endlich weltlich verfassten Einzelheit werde ein Rädchen in einer großen Maschinerie. „Soweit die Berufsarbeit 169 O. Spengler, Der Weltkrieg und die Weltmächte, in: ders., Jahre der Entscheidung, München 1933, S. 26f. Gegenüber den normativ-rationalen Schlagworten seien Ideale kaum in Worte zu fassen. „Sie müssen im Bilde des Geschehens gefühlt werden. ... Sie sind der dunkle Drang, der in einem Leben Gestalt gewinnt und über das einzelne Leben schicksalhaft in eine Richtung strebt.“ (Ebd., S. 25)

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eine Besinnung auf den Sinn des Lebens gestattet, entsteht beim Durchschnittsmenschen eine materialistische oder zum mindesten positivistische Weltanschauung. ... Ohne Glauben, zynisch oder resigniert, fieberhaft geschäftig oder abgestumpft, dem Reichtum und materiellen Genüssen huldigend, oder voll von Ressentiment gegen den glücklichen bourgeois steht schließlich der Mensch an des Jahrhunderts Wende.“170 So habe die Demokratisierung statt der erhofften Segnungen zunächst das Erstarken des kollektiven Machtwillens bis zum Weltkrieg gebracht. Baumgarten blieb im Gedankengang seiner Moralphilosophie der Antikriegsschrift von 1917. Doch inzwischen beherzigte er, wie Dilthey gegen den lebensphilosophischen Subjektivismus gesagt hatte, „die geschichtliche Bedingtheit“. Er verstand die Widersprüche als Teil des Entfaltungsprozesses der Industriegesellschaft, die vor allem einen Riss zwischen national gesinnter Bourgeoisie und internationalistischem Proletariat erzeugt habe. Als den Lösungsweg dieses Widerspruchs sprach er, drei Jahrzehnte nach Diltheys Text, klar die Entwicklung des demokratischen Staatsrechts und die schrittweise Überwindung des sozialen Gegensatzes durch gesetzgeberische Maßnahmen gegenüber dem Eigentum an der Großindustrie aus. Der Gedankengang bewegte sich ganz innerhalb des Rationalitätspostulats, das Dilthey so prägnant und hochgemut ausgesprochen hatte: „Wir stehen mitten in der Umgestaltung dieser Ordnungen nach rationalen Prinzipien.“ Anders als Dilthey sah Baumgarten die Überwindung des „unwiderstehlichen Zugs zur Ungeistigkeit“ in der „Nüchternheit der Lebensanschauung“ als ein Erbe des 19. Jh.s. Er meinte, die ansteigende Rationalität in materieller Produktion, in der republikanischen Rechtsstaatlichkeit, in der Rolle der Wissenschaften fürs kulturelle Selbstverständnis werde sich auf die agierenden sozialen Klassen und auf die handelnden Individuen zurückwenden. So entstehe ein synthetisierendes Bewusstsein der praktischen Verbindung Aller in einem Geiste, die eine neue Metaphysik darzustellen berufen sei. Bei Baumgarten ging der Gedanke allerdings aus der Überzeugung von der zunehmenden Funktion der Wissenschaftsrationalität hervor. Die neue Geistigkeit, die den „Materialismus“ überwinden werde, bildete eine eigenartige Verbindung von Wissenschaftserwartung der Aufklärung mit einer eudämonistischen Moralbegründung. Sein philosophisches Denken lässt sich darin zusammenfassen, dass ein im Grunde anthropologischer Sensualismus des Glücksprinzips mit dem funktionalen Element der Perfektibilisierung durch Intellektualität verbunden ward. Das trug auf der Zeitebene das langsame Durchdringen des altruistischen Eudämonismus, als dessen Realitäten Baumgarten die sozialliberale und später die sozialistische Tendenz anerkannte. Baumgarten ging innerhalb der ganz ihm eigenen sensualistischen Grundauffassung, durchaus in eingehaltener Distanz zu den noch in vielen Varianten aufblühenden marxistischen Konzepten, weit über die vergleichbaren Leistungen des philosophischen Liberalismus seiner Zeit hinaus. Sein Verständnis der Sozialisierungsthematik war mit der Erwartung der Reifung jedes Menschen zu mehr rationalen Verhaltensweisen verbunden. Das entsprach seinem Pragmatismus, der die Geistigkeit der Individuen in deren sozial vermittelte, darum aber auch zunehmend rationelle Handlungsweisen setzte. Ra-

170 Der Weg, S. 386.

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tionale Handlungsentscheidungen bedeuteten das Voranschreiten des sozialen Altruismus, wie die durchaus geschichtsimmanent gedachte Metaphysik die Kritik des individualistischen Utilitarismus enthielt. „Nur freilich bedarf es dazu langer Zeiträume und mannigfacher Experimente. Dies alles beginnen wir allmählich einzusehen, nicht zum wenigsten dank der Erfahrungen und der geistigen Arbeit des 19. Jahrhunderts.“171 Es sei eine „für den Menschheitsfortschritt“ höchst wichtige Epoche gewesen und habe einen produktiven Erfahrungsschatz ausgebildet: „eine im Werden begriffene demokratische Welt“.172 Diese Entwicklung des 19. Jh.s auf vier Gebieten zu kennzeichnen, bildete den Hauptteil der Darstellung im Geschichtskapitel (§ 27) des Buches von 1933. Das Wichtigste sei der Ausbau der „eigentlichen politischen Rechte des Bürgers, die den Einzelnen gegen die Willkür der Behörden, ja unter Umständen des Gesetzgebers schützen und dem neuen Staat den Charakter des Rechtsstaates verleihen.“173 Als zweiten Punkt nannte er nun die Konstituierung der Proletarier „mit Hilfe der sozialistischen Nationalökonomie zu einem aktionsfähigen Handlungssubjekt“. Drittens habe sich eine moderne Zweck- und Interessenjurisprudenz entfaltet. Eine Reform des materiellen Strafrechts setzte ein, das sich den sozialen Ursachen der Kriminalität und dem Besserungsgedanken zuwende. Die Befürchtung zu weit gehender Freiheit der Strafzumessung infolge der Besserungstheorie sei unbegründet, da „der demokratische Staat von vornherein auf eine vielseitige Kulturgemeinschaft angelegt sei, ... die Menschen in sozialer Reformarbeit zu verbinden.“174 Viertens schließlich sei nach dem Weltkrieg von den Demokratien der Aufbau des Völkerrechts und die Sicherung des Friedens in Angriff genommen worden. Baumgarten war, wie sich zeigt, der optimistischste Kopf jener kurzen, über sich selbst noch ganz unsicheren Periode der deutschen Geschichte zwischen 1919 und 1933. 10. Baumgartens Liberalismus im Übergang zur Fragestellung nach der sozialen Demokratie. Verfassungsrecht Bei allen entschiedenen Theoretikern und Vorkämpfern des Verfassungsrepublikanismus bedeutete Demokratie immer ein zeitkritisches Maß und ein weiterführendes Projekt zugleich. An Baumgartens Demokratiebegriff wird außerdem sichtbar, dass demokratische Gerechtigkeit die Perspektive „einer umfassenden menschlichen Arbeitsgemeinschaft“ mit sozialistischer Tendenz herauskristallisiere. „Wir steuern zu auf eine Planwirtschaft auf internationaler Basis“.175 Der Gedanke der Veränderlichkeit der gesellschaftlichen Lebensformen ließ ihn zwischen realer Demokratisierung und demokratisch-sozialistischen Reformen immanente Übergangsschritte denken. Die Sozialwissenschaftler 171 172 173 174 175

Der Weg, S. 396. Ebd., S. 409. Ebd., S. 398. Ebd., S. 400. Ebd., S. 408. „Wir müssen erst einmal die sozialen, insbesondere die wirtschaftlichen, Lebensbedingungen so ändern, dass niemand sich als Paria oder Enterbten der Gesellschaft zu fühlen braucht.“ (Ebd., S. 396)

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jener Zeit behandelten die Demokratie-Problematik nicht nur unter normativen oder System-Aspekten, sondern ebenso unter materialen Gesichtspunkten der Möglichkeiten des Staates, höhere gesamtgesellschaftliche Rationalität und die Verbesserung des Gemeinwohls durch Sozialisierungsschritte zu erreichen. Sozialismus in diesem rechtsstaatlichen Sinne und marxistischen Determinismus mit proletarischer Diktatur trennte Baumgarten voneinander.176 Baumgartens Liberalismus konzentrierte sich beim Verfassungsrecht auf drei Gesichtspunkte. Als ersten nannte er die Auffassung des Staates als juristischer Person: „eine der bedeutendsten Leistungen der Rechtswissenschaft“. Damit sei dem Anspruch, dass einzelne Personen gleichsam majorem sui gloriam Befehlsgewalt über das Volk ausüben dürften, die Wurzel abgeschnitten. Der normative Rechtscharakter des Staates müsste nicht dem Zivilrecht, Verwaltungs- und Strafrecht koordiniert, sondern als Verfassungsrecht zum allgemeinsten Teil des Rechts ausgestaltet werden. Das besaß für die Abwehr der materialen Gemeinschafts- und Führer-Jurisprudenz Bedeutung. In den Diskussionen der zwanziger Jahre setzten die antiliberalen Theorien beim Problem einer inhaltlich leeren Quantität der Mehrheitsentscheidungen an. Baumgarten begann darum mit dem Thema des qualifizierten politischen Urteils und sagte: „Der Sinn demokratischer Entscheidungen liegt ... nicht zum wenigsten darin, dass sie die Gesetze aus einer öffentlichen Diskussion hervorgehen lassen.“ Die antiliberale Demokratiekritik richtete sich zweitens gegen den Parteienpluralismus. Baumgarten argumentierte dagegen mit zwei Argumenten. Im Ganzen würden sich die Parteibürokratien von dem Parteimilieu nicht zu weit und nicht zu lange entfernen können. Die davon zu weit abweichenden Ideen der Parteiführer würden „durch die anonyme Weisheit der öffentlichen Meinung eine Umwandlung erfahren.“ Das andere Argument stellten die dezentralisierte Gemeindeverwaltung und andere Selbstverwaltungskörperschaften als bedingt selbstständige staatliche Rechtssubjekte dar, die Bürgernähe gewährleisteten. Er sah die Schwächen der demokratischen Verfassung und die Reformerfordernisse bei der staatsrechtlichen Stellung der Gemeinden und beim gesamtstaatlichen Zentralismus. Freiheit und Organisation seien zu vereinbaren. „Es lässt sich die Organisation einer großen Menschengruppe denken, die an verschiedensten Stellen dem Eingreifen von Individuen und kleinen Verbänden (Selbstverwaltungskörpern) weitgehende Freiheit gewährt.“ Deutlich ist das Bemühen zu bemerken, die antidemokratische Gedankenführung zu entkräften. So sagt Baumgarten, die Organisationen der Bürgerinitiativen würden Betätigungen jenseits des vom Intellekt übersehbaren Radius zusammenfügen. Im Sinne seiner sensualistischen Moralphilosophie sah Baumgarten die demokratische Staatsform auch als eine Schule der Ausbildung des Gemeinsinns durch die Erfahrungen politischer Tätigkeit. Das eudämonistische Sozialgefühl könne nur in der Demokratie nach und nach den Individualismus zurückdrängen. Ein Übel der gegenwärtigen, noch unvollkommenen Demokratien sei das Entstehen kollektiver Machtwillen, wie etwa

176 „... denn in Marx’ Theorien spielt das soziale Gefühl keine Rolle und auch der Freiheit ist in seinem Zukunftsstaat keine Stätte bereitet. Aber der Marxismus und die sozialistische Idee sind nicht identisch.“ (Rechtsphilosophie, S. 78)

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des Nationalismus, die zu Kriegen drängten. Im Rahmen eines Abrisses der Rechtsphilosophie hielt Baumgarten den Gedankengang ganz im theoretischen Bereich, ging nicht auf bestimmte Parteien und politische Forderungen ein und zitierte nur liberale, oft französische Juristen (Duguit u. a.). Eine Schwierigkeit der Argumentation ergab sich aus Baumgartens eudämonistischer Moralphilosophie. Dadurch traten materiale Aspekte des Verfassungsrechts ungegliedert zu den formalen Bestimmungen. So konnte er sagen, es müssten Verfahren gefunden werden, dass „die Gesetze in Einklang mit dem wahren Rechtsbewusstsein des Volkes gebracht werden und bei der Wahl der Volksvertreter der bon sens des Volkes die Stelle erhält, die vorläufig nur allzu oft die politische Intrige einnimmt.“ Das erforderte genauere Durchführung, wie „wahres Rechtsbewusstsein des Volkes“ und nicht dessen benutzbare Vorurteile zur Geltung gebracht werden könnten.177 Die für Baumgartens Rechtsphilosophie charakteristische Verbindung von Moral und Recht bildete wohl eine Ursache dafür, dass er den vor 1933 vieldiskutierten wirtschaftsrechtlichen Spezifika des erwarteten Gemeineigentums an der Großindustrie kaum Aufmerksamkeit widmete. Weiter noch führte ihn – im rechtstheoretischen Bezug gesehen – die Moralbindung des Rechts eigentlich erst aus der sozialstaatlichen Fragestellung zur sozialistischen Entscheidung, die primär immer eine moralische für Gerechtigkeit und Menschenwürde war, weit über die ökonomischen und rechtlichen Ansprüche hinaus. Fürs Urteil über die Spannkraft der theoretischen Prämissen des Baumgartenschen Pragmatismus ist es nicht unerheblich, darauf zu sehen, dass die entscheidenden Schritte der sozialwissenschaftlichen Präzisierung seines Pragmatismus innerhalb des Erfahrungsraumes der Weimarer Republik und ohne Annäherung an marxistische Theoriestücke, ganz zu schweigen von Annäherungen an sozialistische Parteien erfolgten. Es war ein von den ideell gesetzten Möglichkeiten, also von der realen Idealität der Weimarer Demokratie – und jeder Demokratie entwickelter Industriegesellschaften – gebotener Theorieschritt. Baumgarten vollzog ihn keineswegs erst unterm Eindruck der faschistischen Zerstörung oder Unterbrechung der ersten deutschen Demokratie, also nicht in Verbindung mit den partiellen Aufnahmen der Marxschen Soziologie, zu denen er sich in seiner Methodenlehre von 1939 entschloss. Die systematisierende Basis des sozialistisch fortgeführten sozialen Liberalismus war die Metaphysik des sensualistischen perspektivischen Geistbegriffs.

V. Die Gliederung der Philosophie Baumgartens 1. Philosophie als Wissenschafts- und als Weisheitslehre. Überschreitung des individualistischen Ansatzes der sensualistischen Moralphilosophie Baumgarten hatte im Laufe der zwanziger Jahre sein Urteil über die Konstellation der deutschen Philosophie gewonnen, das er in den drei philosophischen Werken von 1927, 1933 und 1945 nicht veränderte. Er sah seinen sensualistischen Empirismus allen ein177 Alle Zitate zu Baumgartens Verfassungsrecht am Ende der zwanziger Jahre in: Baumgarten, Rechtsphilosophie, S. 71-78.

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flussreichen Strömungen der Philosophie in der deutschen Kultur gegenüberstehen. Generell meinte er, dass die Philosophie als eine der bestimmenden geistigen Disziplinen in der Gesellschaft abgedankt habe. Er sah dafür zwei Tendenzen zusammenwirken. Die erste sei mit der Wirtschafts- und Wissenschaftseuphorie in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s entstanden. Wissenschafts- und Weisheitsfunktion der Philosophie seien zertrennt worden. Namentlich in Deutschland sei nach den Gründerjahren der reale Aufstieg des deutschen Bürgertums nicht durch große verfassungsrechtliche Akte der Staatsbürger erfolgt, sondern durch Industrialisierung und wissenschaftlich-technische Fortschritte. Der verhängnisvolle Widerspruch der geistigen Bewegung der Zeit zeige sich darum in der deutschen Philosophie am klarsten: in der Teilung des philosophischen Denkens in eine wissenschafts-, bzw. erkenntnistheoretische Spezialdisziplin und eine lebens- oder existenzphilosophische Ganzheitsschau. In den vierziger Jahren setzte er hinzu, die Spaltung von Ratio und Sapientia in der Philosophie spiegele den Doppelcharakter der kapitalistischen Produktionsweise von voranschreitender Rationalisierung der Wertproduktion und ungelösten Widersprüchen des Zusammenlebens der Menschen in gegeneinander stehenden sozialen Klassen.178 Baumgarten gab in seiner Logik als Erfahrungswissenschaft (1939) die beste Zusammenfassung der Wesenszüge des Empirismus: erstens das Postulat der Autonomie des Menschen, genauer jeder Generation, für sich gegenüber heteronomen Voraussetzungen, also generell Traditionsskepsis gegenüber sich forterbenden geistigen Mächten. Zweitens das Wahrheitskriterium der Erfahrungsbewährung. Erfahrung bedeutete mit der Praxisorientierung zugleich die Postulate der Mitteilbarkeit, der ausweisbaren Rationalität und der Aufrichtigkeit. Das dritte ist die Ursprünglichkeit des menschlichen Glücksstrebens als eines Verlangens nach persönlicher sozialer Bewährung und Bindung. Allein der Empirismus sei imstande, die Philosophie zu erneuern, indem er deren spezielle erkenntnislogische, naturphilosophische, moralische, ästhetische, geschichtsphilosophische Themen von den realen zwischenmenschlichen Bedürfnissen her entwickle. In den Krisen des frühen 20. Jh.s verstand Baumgarten den Empirismus zugleich als Wiederaufnahme der eigentlichen Bestimmung philosophischer Kultur. Wissenschaftsorientierte Philosophie dringe von den einander entgegengesetzten Ausgangspunkten, von der alltagspraktischen Reflexion und von den fachrationalen Theorien, vor zur antinomischen Struktur der Lebenserfahrung des Menschen und der Welt. Die Antinomik konzentriere sich im Widerspruch von erhebender, über das Gegebene hinaussehender ideeller Erwartung des Menschen und vorliegender sozialer und kultureller Beschränkung. Es ging also nicht um eine moralisierende Demonstration individueller Tragik. Wir denken als Individuen in unserer Zeit alle Klarheit und Schönheit der Synthesis, aber erfahren die Zerteilung unter der Macht der Tatsachen. Die geistige Sendung der 178 „Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Jahre war eine Klassengesellschaft, auch wenn eine Mehrheit der Deutschen sich gegen diesen Begriff verwahrt haben würde. Es gab eine mehrheitlich klassenbewusste Arbeiterschaft, und es gab Klassenkampf von ‚unten‘ wie von ‚oben‘. Klassenjustiz war nicht nur ein polemisches Schlagwort der Linken, sondern eine politische Realität; höhere Schulen und Hochschulen waren bürgerliche Klasseneinrichtungen ...“ (H. A. Winkler, Weimar. 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 295)

V. DIE GLIEDERUNG DER PHILOSOPHIE BAUMGARTENS

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Philosophie bestehe darin, unter dieser Voraussetzung die rationale Sinnhaftigkeit individueller Willensführung mit positiven Perspektiven der Gesellschaft zu verbinden. Seit dem späten 19. Jh. habe die Philosophie ihre Botschaft zu vereinbarender Sinnhaftigkeit von individueller Lebensführung und gesellschaftlicher Lebensform der faktischen Zersplitterung der Kultur und der sozialen Spaltung der Gesellschaft preisgegeben. „Man tat sich auf die solide Spezialarbeit der Gelehrten mit Recht etwas zu gute, aber man knüpfte an sie keine weitgespannten Hoffnungen. Das ist nicht Fortschrittsglaube, sondern Unglaube.“179 Ausdruck dessen sei der Rückzug der Philosophie auf erkenntnistheoretischen und wissenschaftsmethodischen Formalismus. In den Geisteswissenschaften dominierten die „ismen“, wie Psychologismus oder Historismus, und in allen wissenschaftlichen Disziplinen die Abtrennung der Fächer voneinander. Baumgarten suchte eine an wissenschaftlicher Methodik und Lösungszuversicht orientierte neue Einheit von Ratio und Sapientia. Gegenüber dem antiken Ideal der Lebensweisheit ließ er den stoischen Quietismus zurück und dachte mit Comte die Zivilisation als Prozess sich fortsetzender Problemlösungen. Gegenüber der aufklärerischen Determination von Perfektibilität hielt er angesichts der Widersprüche der sich entfaltenden privatwirtschaftlichen – und später auch der sozialistischen – Industriegesellschaft mit pragmatischem Skeptizismus alle in der Zeit gesuchten und möglichen Lösungen für nur zeit- und erkenntnisbedingt. Dieser Empirismus meinte nicht nur, wir seien zu immer neuen Versuchen und Unternehmungen gehalten, weil wir in immer neue Widersprüche gerieten. Die ewige Unfertigkeit treibe an. Weit mehr. Leid im Leben, die Gefahren und Enttäuschungen, durch die wir unser Lebensschiff steuern müssen, sie würden uns zwingen, genau hinzusehen. Ohne diese Scientia-Fähigkeit wären wir in der durch die Diversifikationsprozesse komplizierten Zivilisation verloren. Empirische Genauigkeit werde selbst zu einer Forderung von Lebensweisheit. Sie beginne sich aber nach und nach zu verselbstständigen, und die Mittel setzten sich an die Stelle der Zwecke. Baumgartens pragmatistische Verbindung von szientifischer und lebenspraktischer Ebene philosophischer Kultur führte den Empirismus über den ursprünglich individualmoralisch angelegten Sensualismus hinaus. Der individualistische Ausgangspunkt des moral- und rechtsphilosophischen Sensualismus geriet in Deutschland mit der Ausprägung der hochindustriellen Gesellschaft durch die vor allem seit den neunziger Jahren des 19. Jh.s intensive Industrialisierung vor gravierende Schwierigkeiten. In dieser Denkform ruhte das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bei zwei abstrakten Endpunkten: der Einzelne schlechthin und die Menschheit als solche. Von den beiden weit auseinanderliegenden Schlussstücken aller sozialen Relationen her ist keine realistische soziale Strukturtheorie zu entwickeln. Dieser Schwachpunkt hatte einen der vorzüglichen Angriffspunkte der lebensphilosophischen Theorien ergeben, über den auch der immer latente Demokratismus des Sensualismus zu treffen war. Das Verhältnis des abstrakt gesetzten Individuums zur Menschheit schlechthin führt beim Beginnen, es vom

179 Philosophiegeschichte, S. 363. Die Isolierung der Spezialdisziplinen „befreit den Juristen von der bangen Sorge, dass er zwecks gründlichen Verständnisses des Rechts Psychologie, Soziologie und noch manche anderen Disziplinen betreiben muss.“ (Ebd., S. 370)

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Formalismus hin zu materialen Prozessen zu entwickeln, direkt nur zu einem linearen Fortschrittsbegriff. Er wurde von den sozialen Prozessen der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s, die nun die Transformation des kapitalistischen Produktionsverhältnisses aktuell werden ließen, drastisch in Frage gestellt. Der individualistische Sensualismus geriet mit der Ausbildung der Industriegesellschaft in die Erosion. Hier lag der reelle Problembestand des kulturellen Selbstverständnisses durch Beiträge von Seiten der deutschen Philosophie der Nachkriegszeit. Der Primat der juristischen und moralischen Wertsetzungen durch soziale Klassen und Interessenverbände wurde offensichtlich. Die Anforderung bestand darin, ein möglichst weittragendes philosophisches Konzept zu entwickeln, das es ermöglichte, das Individuum beim Strukturwandel der rechtlichen und moralischen Fragestellung dennoch als leitenden Orientierungspunkt zu erhalten. Das Versagen vor diesem, zunächst rein theoretischen Erfordernis ermöglichte die Passivität der großen Zahl der Akademiker gegenüber dem Nazismus.180 Vom industriellen und sozialen Wandel ward der individualistischen Fassung des Sensualismus mit deren Voraussetzung fixer natürlicher Antriebe der Boden entzogen. Im langen Anerkennungsprozess der sozialen Interessen der lohnabhängigen Schichten einerseits, auf der anderen Seite infolge der Entpersonalisierung des industriellen Eigentum gewann das Verhältnis von sozialen Gruppen und deren Verbänden zunehmend an Bedeutung. In der sozialpolitischen und moralischen Ideenwelt traten die Interessen und Erwartungen kompakter agierender Schichten in den Mittelpunkt. Das war nicht allein eine Folge gewerkschaftlicher und politischer Energien oder gar der Einsicht in Gerechtigkeitspostulate. Das Zurücktreten der Einzelpersonen als gesellschaftlicher Subjekte und das Vordringen der sozialen Gruppen und als deren Sprecher der Verbände, war verursacht von der zunehmenden Bindung des sozialen Handelns an die sich ausdehnende objektive Vermittlungssphäre des Marktes. Der individualistische Sensualismus entsprach einem persönlichen Verhältnis von Wirtschaftspartnern auf vergleichsweise begrenzten Märkten. Ihm lag die wirtschaftliche Aktivität des Eigentümers einer Firma zu Grunde. Beide großen Linien der neuzeitlichen sensualistischen Moralphilosophie mussten über die einfache naturalistische Basis eines Subjekts von Sinneswahrnehmungen eine kompakte Qualität legen, um eine Gliederung von sozialen Verhaltensweisen aufbauen zu können. Die organische Reizbarkeit für sich ergibt keine zielgerichtete Aktivität des Subjekts. Sie zerlegt es in getrennte Reaktionsweisen. Als solche materiale und zugleich sozial gerichtete Basis des Menschen wurde in der einen Linie das Selbstinteresse oder die Selbstliebe (self-love) aufgefasst, in der zweiten das Glücksstreben. Die erste Richtung war die Machiavelli-Baconsche des latent bösen Menschen, die Hobbes fortführte. Hobbes hatte die aristotelische Tradition des frühneuzeitlichen Humanismus unterbro180 Im demokratischen Verfassungsrecht, insbesondere bei den Grund- und Menschenrechten, hat das Recht der Person das ihr Zustehende (suum justum) zu gewähren. Die personal begründete Gerechtigkeitstheorie schließt unter den Bedingungen der Industriegesellschaft des 20. Jh.s ein, dass Antrieb und Verhalten der Individuen von vornherein als Aktion im sozialen Verhältnis gesehen werden. (Vgl. A. Kaufmann, Entwurf einer personal fundierten prozeduralen Gerechtigkeitstheorie, in: Kaufmann, Hassemer, Neumann (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 72004, S. 145f)

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chen, wonach die Menschen aus natürlicher Neigung zur Geselligkeit die verschiedenen Formen der Gemeinschaften bilden. Für Hobbes’ materialistische, an der Mechanik orientierte Auffassung finden die Menschen nicht auf Grund wechselseitiger Neigung zusammen, sondern um dadurch Vorteil zu erlangen.181 Gegen den Primat der Tendenz zur Selbstsucht (selfishness) nahm Shaftesbury nicht eigentlich die antike Auffassung wieder auf, sondern deren platonisierende synkretistische Umbildung durch die RenaissancePlatoniker.182 Das Prinzip der Selbstliebe, hieß es in Shaftesburys Inquiry concerning Virtue (1699), werde „auf einem viel ausgedehnteren Gebiete des Selbstinteresses alle Tage vergrößert und verstärkt, so daß also Grund zu der Besorgnis vorhanden ist, dieser Charakterzug könne sich allgemein über alle Teile des Lebens ausbreiten.“ Er setzte dagegen, „daß es in den Gefühlen und Affekten der Einzelwesen eine konstante Beziehung auf das Interesse einer Gattung oder gemeinsamen Natur gibt.“ Darunter zählte er natürliche Affekte wie elterliche Zärtlichkeit, vor allem aber „Liebe zu Verkehr und Geselligkeit, Mitleid, wechselseitige Hilfe und anderes der Art“.183 Damit war das Thema des interesselosen Gefühls gegeben, der Ausgangsbegriff jeder Form von sensualistischer Moralphilosophie. Das interessefreie Gefühl ließ sich ohne viele Zusatzannahmen zum Gewissensbegriff ausformen. Damit war eine sehr leistungsfähige Plattform der eudämonistischen Theoriebildung bereitet. J. Butler (1692 –1752) hatte das in der Nachfolge Shaftesburys sofort getan. Den Shaftesburyschen Pantheismus ergänzte er als Bischof mit dem religiösen Muster der Gewissensthematik, auf das auch Baumgarten wieder zurückging. Shaftesbury und die an ihn anschließenden Theoretiker der sog Schottischen Schule (F. Hutcheson, H. Home, A. Ferguson, E. Burke) wandten sich gegen die materialistische Anthropologie und Sozialtheorie wegen des autoritären Aspekts im Legalitätsverständnis. Baumgarten trat wieder ganz in diese Gedankenrichtung des Sensualismus ein, den Einzelnen von obrigkeitlicher und kirchlicher Bevormundung freizuhalten. Diese immer wieder ausgemessene theoretische Konstellation des englischen Sensualismus ergibt den Zugang zu Baumgartens Moral- und Rechtsphilosophie. In der Grundlegung seiner Wissenschaft vom Recht wies er auf Epikur, Bentham, J. St. Mill und überhaupt „die schottische Moralphilosophie“ als auf seine Vorgänger hin, „wenn sie den egoistischen Willenstendenzen die altruistischen als gleich ursprünglich gegenüberstellt.“184 Baumgartens Kritik der intellektualistischen Ethik, nicht nur des Kantianismus, seine Ablehnung des soziologischen Determinismus und der Begriffsjurisprudenz, schließlich ebenso 181 „Alle Lust der Seele ist aber entweder die Ehre (oder die gute Meinung, die man von sich hat) ...; alles andere ist sinnlicher Natur oder führt dahin und kann unter dem Namen des Nutzens befasst werden. Somit wird jede Verbindung nur des Nutzens oder des Ruhmes wegen, d. h. aus Liebe zu sich selbst und nicht zu den Genossen eingegangen.“ (T. Hobbes, Vom Bürger, Kap. I, 2, Leipzig 1949, S. 78) 182 M. Ficino (1433 – 1499), Sopra do amore (1544), dt.: Über die Liebe (1914), ³1994; Leone Ebreo (1460/3 – 1520/35), Dialoghi d’amore (1535). 183 A. A. Cooper, Graf v. Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, B. I, T. 3, Abschn. 3, Leipzig 1905, S. 36; B. II, T. 1, Abschn. 1. (Ebd., S. 49) 184 Recht I, S. 47.

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seine innerweltliche Uminterpretation des religiösen Bewusstseins vollzogen sich ganz in dieser der deutschen philosophischen und juristischen Literatur der Zeit fern stehenden Richtung eines altruistischen Sensualismus.185 Die seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s entstehende Sozialanthropologie und Sozialpsychologie (Galton, Frazer, Pareto, Durkheim, G. H. Mead) übertrugen psychische Phänomene wie Sympathie, Antipathie, Kontakt- und Distanzformen, Erfolgs- und Unglückserlebnisse von den Individuen auf Klein- und Großgruppen. Sozialisierungsprozesse, Unter- und Überordnungsverhältnisse wurden an psychischen Erfahrungen von Gruppensubjekten untersucht. Die psychoanalytischen Theorien unbewusster sozialer Bindungen und die Erforschung elementarer Antriebe und Affekte als Massenerscheinungen in der Ethnologie, der Religionssoziologie und der allgemeinen Soziologie wirkten dahin, die Gefühls- und Handlungstheorien von den sozialen Gruppen und deren Auswirkung auf die individuellen Verhaltensweisen her aufzubauen.186 K. Lewin (1890 – 1947) begründete mit einer sozialpsychologischen Feldtheorie eine dynamische Auffassung der Persönlichkeit. Diese Theorie suchte, die überkommene empiristische Auffassung der Bindung an vorgefundene Tatsachen dahingehend zu erweitern, dass „eine Gruppenatmosphäre als etwas anzusehen (ist), das so real und messbar ist, wie – sagen wir einmal – das Gravitationsfeld“. Daraus ergab sich für die Persönlichkeitsauffassung die Folge, dass das einzelne Individuum von den Eigenschaften des dynamischen Feldes her zu bestimmen ist, innerhalb dessen es untersucht wird. Der Begriff der Relation trat als empirisch überprüfbares Objekt an die Stelle der Eigenschaften substantial gedachter Individuen. Lewin führte die Auffassung der Persönlichkeit weit von der ursprünglichen sensualistischen Voraussetzung fixer psychischer Antriebe weg. Jeder Einzelne agiere in sich ständig verändernden Kraftfeldern, die als verschieden geordnete Lebensräume mit seinen Energien eine Gestalteinheit bildeten.187 185 Bei Baumgartens wiederkehrenden appellativen und ganz traditionell aufklärerischen Wendungen von der „Gesellschaft der Denkenden“, von der gegen den Nationalismus aufgerufenen „Armee der Denkenden“, ging etwas von der ursprünglichen Nähe des neuzeitlichen Eudämonismus zum geraden Sinn der einfachen Leute mit. Bereits 1917 schrieb er: Bei der Idee des fühlenden Menschen bis hin zu deren Fortsetzung im Glauben an ein höheres Leben, das uns zu heroischen Taten anspornen könne, „nehme ich mit allem Nachdruck mit dem Mann aus dem Volk gegen die Elite Stellung.“ (Moral, S. 145) Die Begründung der sensualistischen Handlungstheorie konnte er auch im rechtswissenschaftlichen Hauptwerk noch auf beinahe lapidare Weise mitteilen: „Es ist nicht abzusehen, wie man die Motive anders gegen einander abwägen sollte, als nach Maßgabe der Lustgefühle, mit denen sie operieren.“ (Recht I, S. 38, 41) 186 G. Le Bons (1841 – 1931) Psychologie des foules erschien zum ersten Mal 1895, dt. 1922. Sein sozialpsychologischer Begriff des neuen Phänomens der Masse stand innerhalb einer elitären, qualitative Unterschiede der Rassen setzenden Soziologie. Durkheim führte seine Theorie des Zwangs, den die Außenwelt auf die Individuen bis in deren Gewissen hinein ausübe, zu einer deterministischen Soziologie, die die Willensfreiheit bestritt. Die Position der Individualität war damit nicht nur der alten sensualistischen Autonomie beraubt, sondern generell in Frage gestellt. 187 K. Lewin, Cassirers Wissenschaftsphilosophie und die Sozialwissenschaften, in: Kurt-LewinWerkausgabe, Bd. 1, Bern, Stuttgart 1981, S. 355f. „Die Begriffe der psychischen Kraft, der Spannung, der Konflikte wie der Kräftespiele, der Kraftfelder und der induzierenden Felder haben

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Der zentrale methodologische Fehler des ursprünglichen individualistischen Sensualismus hatte darin bestanden, dass eine methodische Projektion als ontologische Realität behandelt worden war. Die Begründung materialer Ansprüche rechtlich freier und gleicher Individuen erfolgte in der Form einer Anthropologie natürlicher Antriebe, die primär ein methodisches Konstrukt darstellte, das mit anderem Inhalt z. B. auch Rousseaus Zivilisationspessimismus gewesen war. Aber die ideelle Form wurde als reale gesellschaftliche Struktur angesehen. Es war vor allem dieser Zwittercharakter des aufklärerischen Sensualismus, der vom Ausbildungsprozess der Struktur der industriellen Gesellschaft aufgelöst wurde. Die ontologische Setzung eines methodischen Verfahrens widersprach dem Phänomenalismus des Empirismus. Als ontische anthropologische Realitäten wurden sog. natürliche fixe Antriebe behandelt, was nach den systematischen Prämissen nur Wahrnehmungs- oder Selbstempfindungsgehalte sein könnten. Durch das naturalistische Plausibilierungsverfahren des Personbegriffs wurde das methodische Projekt als ontologische Realität ausgesprochen. Die Auflösung der ursprünglichen, vereinfachenden sensualistischen Persönlichkeitsauffassung überwand auch den Widerspruch, dass phänomenbezogene Konstrukte als naturhafte ontische Realitäten dargestellt wurden. Der empirischen Erschließung des Personbegriffs durch Psychologie und Soziologie traten in der Moralphilosophie die metaphysische Konstruktionen seelischer Ganzheiten entgegen. Sie missverstand sich als Eigenständigkeit tiefer lotenden philosophischen Problembewusstseins. Die veränderte Problemlage der Wissenschaften bestätigte den Phänomenalismus des sensualistischen wie des logischen Empirismus. Die Natur- und Sozialwissenschaften bildeten sich in der industriellen Gesellschaft zu „entprivatisierten“, komplex wirkenden zivilisatorischen Faktoren aus. Deren allgemeinste, auf alle Lebensbereiche ausstrahlende Wirkung war methodischer Art. Es war gleichsam eine Algorithmenbildung für immer mehr Handlungsfelder. Das entsprach höchstmöglicher Effizienz gleicher oder analoger Verfahren bei großer Zahl der Anwendungen. Das Handlungsverständnis rückte damit aus dem individuellen Horizont heraus. Es erkannte sich als Teil allgemein zur Verfügung stehender theoretische und praktischer Kenntnisse. Die Brillanz der großen Zahl überzog die „Üblichkeiten“. Damit entstand das Problem, wie der „Entpersönlichung“ zu begegnen sei, um mit dem Titel einer Essaysammlung Ricarda Huchs zu sprechen. Die Individualität des Handelnden bildet ein unverzichtbares Element von dessen Selbstverständnis, wie überhaupt die Erfahrung der Entäußerung die persönliche Freiheit der Individuen voraussetzt. Dann basiert auf der Individualität die Fähigkeit zum Entwurf von Neuem. Baumgarten reflektierte mit seinem Pragmatismus die Tendenzen zu immer weitergreifender Einbindung der Individuen in programmierte Handlungsweisen. Er beklagte es nicht als deren Reduktion durch abtötende nach und nach ihren Anwendungsbereich vom Gebiet der Individualpsychologie aus in das Gebiet der Prozesse und Veränderungen ausgedehnt, das ursprünglich die Domäne der Soziologie und Kulturanthropologie gewesen ist.“ (Ebd., S. 364) Lewins Feldtheorie richtete sich gegen die Korrelation der Substanzauffassungen von fixen Einzeldingen und dinghaften Gesamtheiten. Ein Akzent Lewins gegenüber der idealistischen Seelen- oder Geistpsychologie war: Wenn die Ganzheiten empirisch messbare Relationen darstellen, erübrigt sich die Metaphysik der substantial aufgefassten Wesenssphäre.

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Mechanisierung, sondern sah daraus neue Weisen kooperativen Verhaltens hervorgehen. Er verstand die integrativen Prozesse als erweiterte Möglichkeiten größerer Gruppierungen von Personen in nichtstaatlichen Organisationen und sah darin ein Entwicklungsmoment demokratischer Gesellschaften. Empirismus sollte eine Denkweise zur Rückbindung der universalisierten Prozesse an den Wahrnehmungshorizont und an Entscheidungskompetenzen der Individuen sein. Das erforderte den Übergang des ursprünglich an die Psyche Einzelner gebundenen Sensualismus zu Strukturauffassungen. Die personale Psyche vermochte nicht mehr als Modell erkenntnistheoretischer und sozialphilosophischer Fragestellungen zu dienen. Das bedeutete für den Empirismus eine starke Veränderung. Die entgegenstehende idealistische Theorielinie hatte das bewältigt, indem die Aktivität des Subjekts als schrittweiser Aufstieg in sich erweiternde Sphären des kulturellen Raums gedacht wurden. Dann zeigten die objektiven Kulturfelder ein in sich selbst schwingendes Formenspiel. Bewusstsein und Aktionen der Individuen sanken zu befangenem Schein herab. Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) hatte die logische Genese der kulturellen Felder mit der Genese einer absoluten Struktur im Zeitverlauf des zivilisatorischen Prozesses verbunden. Dieses ursprünglich aufklärerische, von Fontenelle im Streit der Moderni gegen die Antiqui formulierte Modell, wirkte in Marx’ Konzept einer notwendigen Abfolge von Gesellschaftsformationen fort. Marx hatte es mit Begründungen durch die Evolutionstheorie Darwins und durch geologische Theorien über die Abfolge erdgeschichtlicher Formationen (nach Lektüre des Geologen Trémaux) materialistisch gewendet. Baumgarten wies Hegels und Marx’ Umbildung des aufklärerischen Perfektibilitätstheorems ab. Er suchte eine andere Lösung, um der veränderten Problemlage des Empirismus zu entsprechen. Er vermied den Übergang auf eine phänomenologisch-genetische Strukturtheorie, sondern erweiterte den Ausdruck einer Erfahrung, die mit der Ausformung vereinheitlichender Muster für individuelle Aktivität einherging: die sich vertiefende Widersprüchlichkeit zwischen individuellem Anspruch und realer Begrenzung. Es ist die Erfahrung, die tatsächlich erst unter der Voraussetzung freier und innerweltlicher Verwirklichung der Individualität unauslöschlich werden kann. In diesen Zusammenhang rückte Baumgarten das alte Antinomienproblem. 2. Antinomik Wie können unsere Wahrnehmungen, Emotionen und Termini sich auf eine Welt beziehen, als deren Teil sie sich zugleich interpretieren müssen? Schärfer noch: Was an der Wahrnehmung eines Gegenstands ist als subjektfrei gegenständlich zu denken („reine“ Gegenständlichkeit an sich ist eine irrationale Annahme) und was ist Affektion des wahrnehmenden Organs? Dazu kommt: In welchem Verhältnis stehen die individuell und temporär variablen Wahrnehmungen und die konstanten Begriffsverbindungen zueinander?188 188 Vgl. M. Weingarten, Wahrnehmen, Bielfeld 2003; zuletzt J. Haag, Erfahrung und Gegenstand. Zum Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand im empirischen Erkennen., Frankfurt/M. 2007. Der Autor behandelt das Verhältnis von Anschauung und Begriff bei Kant und in W. Sellars eingehenden Kant-Diskussionen und Kant-Korrekturen.

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Baumgarten stellte neben diesen ersten – und traditionell empiristischen – Fragenbezirk beim Subjekt- und Objekt-Verständnis zwei weitere Themenkreise. Unsere Begriffe typisieren und generalisieren Merkmale von Objekten und schaffen so Einheitsbezirke in einer Vielheit von Erscheinungen. Die Antinomie von Einheit und Vielheit gehörte zur Metaphysik-Tradition seit der Antike und wurde meist mit einer ontologisierten Logik behandelt. Baumgarten suchte die Auflösung dieser Antinomie im Zusammenhang des Empirismus. Daneben trat die Antinomie zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Streben und Erreichen mit der Einsicht der Unerfüllbarkeit in den Erfahrungen der Realisierung, im Falle auch, des Scheiterns. Hier sprach die Tradition der romantischen Lebensphilosophie, und der Ausweg war meist die religiöse Kontemplation gewesen. Baumgarten erkannte im romantischen Einspruch gegen den aufklärerischen Perfektibilitätsgedanken ein reelles Element: das zum handelnden Menschen gehörende, aber unerfüllbare Streben nach Vollendung. Er suchte, es dem Empirismus durch eine Metaphysik der Zeit einzufügen. Schließlich bündeln sich die drei Themenkreise der Widersprüche zwischen Einheit und Vielheit, Erkenntnis und Irrtum, Handlungsziel und Realisierung im Verhältnis von alltagspraktisch naher, ästhetischer und wissenschaftlicher Weltaneignung. Die Objektivationsweisen unterscheiden sich in Orientierungszwecken und Struktur außerordentlich. Der Empirismus zeichnete sich dadurch aus, dass er gegen die idealistische Abwertung der Logik des alltagspraktischen Orientierungsverhaltens die Verbindung aller drei zentralen Rationalitätsebenen als wesentliches Element philosophischer Theorie in deren Einheit von Wissenschafts- und Weisheitslehre festhielt. Baumgarten kritisierte den Apriorismus reiner Geistformen als einen Ausdruck elitärer Zurücksetzung des Common Sense der Mehrheit der Bevölkerungen. Zu Grunde liege die Geringschätzung der alltagspraktischen Weltorientierung. Diese enthalte jedoch die moralischen Kriterien des Handelns, mit ihnen ansatzweise auch rechtlich verallgemeinerte Sicherungen und, worauf es ankomme, der eigentlich auf Kooperation und Solidarität angelegten Verhaltensweisen. Die Antinomik sah Baumgarten als nur vom Empirismus rationell behandelbar. Die Varianten des Materialismus und des Idealismus als Versuche systemisch abschließbarer Philosophie falsifizierten die Antinomik zur Dialektik und suchten diese mit dem Ziel widerspruchsfreier Bewusstseins- und Realitätsbegriffe auszuschärfen. Das sei dann leicht mit autoritären kulturellen Konzepten zu verbinden. Empirismus dagegen bedeute die skeptische Einsicht in die Vorläufigkeit unserer Selbstsicherheit durch gewohnte Überzeugungen. Die sich erneuernde Erfahrung von trial and error zeige den rationellen Ausweg einer Philosophie des unendlichen Prozesses. Ein Prozess ist nicht befriedigend denkbar ohne sein Ziel. Das Ziel eines unendlichen Vorgangs könne nur ideell sein, nicht anschaulich erfahrbar. Das erweitere den Empirismus von dessen Perfektibilitätsprinzip her zu einer Metaphysik zukünftiger ideeller Synthesen der Menschheit. Baumgarten ging es bei der Antinomik darum, der in der deutschen Philosophie von Schopenhauer herkommenden, antiliberalen kulturellen Wirkung des romantischen Pessimismus zu begegnen, indem dessen berechtigte Fragestellung aufgenommen wurde. Die positivistische Wissenschaftstheorie des 19. Jh.s bleibe ihm gegenüber wehrlos. In der englischen Kulturphilosophie hatte T. Carlyle die kulturkritische romantische Tendenz vertreten. In Frankreich wirkte der Gegensatz zwischen der perfektibilistischen

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Linie der Aufklärer und dem spiritualistischen Gegenentwurf de Bonalds und Lamennais’ weit ins 19. Jh. und bis zu Bergson. Baumgarten sagte, die Philosophie habe Schlussfolgerung aus der Tatsache zu finden, dass wir uns mit widerspruchsvollen Kategorien (Raum, Zeit, Kausalität, Substanz, Bewusstsein usf.) nur hypothetisch in einer pluralistischen Welt orientierten. Die Antinomik schließe den linearen Determinismus aus und orientiere in pluralen Bedingungsgeflechten auf Willens- und Handlungsfreiheit. Darum bedeute Empirismus Zukunftsbewusstsein in Lebensfeldern erforderlicher Toleranz. Die beiden Akzente dieses pragmatistischen kulturellen Selbstverständnisses bestanden in der Offenheit gestaltbarer Prozesse und in der Rückführung der szientifischen und technischen Kultur auf die diskursiven Entwürfe der Bevölkerungen in konkreten gesellschaftlichen Konstellationen. Baumgartens Antinomik bildete die Grundlage einer in ihren Teilen aufeinander bezogenen Philosophie der Freiheit des Menschen in einer ihm geöffneten Welt. Die Widersprüche zwischen Einheit und Vielheit halten die Wissenschaften im Prozess, da nichts so fein unterschieden sei, wie es Nikolaus v. Kues sagte, dass es nicht noch unendlich feiner geteilt werden könnte. Vor allem aber wurde der Mensch in der Realität seiner fortgehenden, kühnen Selbstüberschreitung und in seiner entsetzlichen Partikularität erfasst. Der erste Schritt führt nach Baumgarten zur Antinomie von Erscheinung und logischen Substituten. Wir beziehen uns auf Erscheinungen, die Sein bedeuten. Sie können das nur, indem sie logisch aufeinander bezogen werden. Das negiert den Erscheinungscharakter dieses Seins. Es ist ideell. Wie kann die ideelle Struktur „Sein“ sein? Würden wir allerdings versuchen, die ideellen Symbole als subjektfreies Sein zu nehmen, so gerieten wir in die unlösbaren Widersprüche von Raum, Zeit, Bewegung, Einheit, Vielheit usf., die einen Bestand der Problemgeschichte der Philosophie seit den Eleaten und seit Platons Ideenlehre gebildet hatten. Diesen Leitantinomien folgten zahlreiche spezielle Widersprüche, die Baumgarten in seinen Werken darstellte.189 Hier nur noch ein charakteristisches Beispiel und eine Schlussfolgerung Baumgartens aus der gesamten Antinomie-Thematik: Die Realisierung der Anschauung setzt deren Überschreitung durchs Denken voraus. Damit verändert sich die Subjektivität, die beide trägt. Das anschaulich gebundene Einzelbewusstsein setzt bereits, um sich selbst zu artikulieren, die logische Form („Geist“) voraus, doch umgekehrt gilt das Gleiche. Das Subjekt ist einerseits das sich selbst wahrnehmende Jetzt, ist, wie Kierkegaard sagte, der Augenblick. Aber es ist als Geist seine Vergangenheit und Zukunft und muss insofern seine Personalität aufgeben. Das erkennende Ich kann nicht das erkannte sein und muss es sein, da das erkannte nur das erkennende repräsentieren kann, wollte man nicht einen influxus mysticus annehmen. Da unsere Bewusstseinsinhalte unauflösbare Antinomien enthielten, verlie-

189 Zusammenfassende Ausführungen in den drei philosophischen Hauptschriften: Die Wissenschaft vom Recht: I, 52ff.; II, 560ff.; Erkenntnis – Wissenschaft – Philosophie, I, § 1; II, § 27. Der Weg des Menschen, S. 358ff. („Der Empirismus und die Antinomienfurcht, mit diesem Begriffspaar hält man die Schlüssel für das Verständnis der gesamten neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte in der Hand.“)

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fen sie zugleich über Felder unbewusster Voraussetzungen.190 Das Unbewusste bewege uns. Wir operierten mit Bewusstsein auf einem Feld, dessen Bewusstseinskreis einen Ausschnitt darstellt aus einem größeren Feld des Unbewussten.191 Die Schlussfolgerung Baumgartens aus alledem fiel entschieden aus. Widerspruchsfreie Synthesen seien empirisch unausführbar, aber die Suche nach ihnen bleibe erhalten. Das führe uns auf eine der Erfahrung transzendente Wirklichkeit. Antinomik leite, recht begriffen und nicht dialektisch verdrängt, zum Empirismus. Dieser runde sich ab in einer erfahrungswissenschaftlich begründeten Metaphysik der Überschreitung der empirisch verifizierbaren Erfahrung. Die Antinomik hatte seit der antiken Philosophie zur Problemgeschichte der Rationalitätsthematik gehört. In der antiken Philosophie hatte die philosophische Antinomienlehre für eine ideelle Elite die Transformation der mythischen Teilung von göttlicher und irdischer Welt zu einem methodisch gegliederten Seinsbegriff dargestellt. Hegel führte bei erweitertem Prozessverständnis der Kultur diese Umbildung der theologischen Teilung zu einer systematischen logischen und ontologischen Immanenzdialektik. Der Akzent der eleatischen und der platonischen Antinomik hatte auf dem Widerspruch zwischen der wahrgenommenen Realität und der logischen, bzw. der sprachlichen Referenz der Sachverhalte gelegen. Aristoteles hatte mit seiner Aporetik (von aporia, Ratlosigkeit, Zweifel, Schwierigkeit) der Antinomik den methodischen Charakter einer Problemdiskussion angesichts unterschiedlicher Auffassungen gegeben. Das war bereits nicht mehr Sokrates’ und Platons Aporie als Einsicht in unsere wohl vordringende, aber nie bis zuletzt aufzulösende Unwissenheit vor der Widersprüchlichkeit zwischen dem Vielen in den Meinungen und der Einheit von Einheit und Widerspruch im ideellen Sinn der Rede. Noch das nominalistische „Credo, quia absurdum“ sprach einen unauflöslichen Widerspruch im Selbstverständnis der christlichen Kultur aus.192 Im 20. Jh. hatte insbesondere Nicolai Hartmann (1882 – 1950) der Aporetik in seiner Ontologie der Kategorialanalyse den Platz einer Grundlegung gegeben.193 Baumgartens Antinomik steht in der Reihe der Dialektik-Schriften, die auffallend zahlreich in der Philosophie der zwanziger und dreißiger Jahre erschienen.194 190 Erkenntnis, S. 103ff. Wir operieren mit den Begriffen Kausalität, Substanz, Subjekt, ohne sie widerspruchsfrei bestimmen zu können. Also vollziehen sich die geistigen Akte auf der Basis unbewusster – Baumgarten müsste eigentlich sagen: nur partiell oder hypothetisch entschiedener – Annahmen. 191 N. Hartmann hatte die Relationen Subjekt – Objiziertes – Transobjektives in der Erkenntnisproblematik wiederholt von seinem materialistischen Standpunkt her dargestellt und auch graphisch verdeutlicht. Vgl. N. Hartmann, Einführung in die Philosophie, Hannover 41956, S. 75f 192 Der Satz geht sinngemäß auf Tertullian zurück, der von Tod und Auferstehung Jesu gesagt hatte, man müsse daran glauben, weil es unmöglich sei, es rational zu denken. 193 N. Hartmann, Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1934; vgl. G. Martin, Aporetik als philosophische Methode, in: H. Heimsoeth, R. Heiß, Nicolai Hartmann. Der Denker und sein Werk, Göttingen 1952, S. 249-255. 194 Schopenhauers und E. v. Hartmanns Aburteilung der Dialektik ward verlassen (v. Hartmann, Über die dialektische Methode, Berlin 1868). Um nur einige wenige Schriften zu nennen: F. H. Bradley, On Appearence, error and contradiction (1910); J. Cohn, Theorie der Dialektik (1923);

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Die Metaphysik als abgesonderter Bereich der Synthesen diente der skeptischen Schärfung der empirischen Urteile und Verhaltensentscheidungen. Der Gedanke metaphysischer Transzendenz gehört zur vertieften Auffassung vom Lösungserfordernis empirisch-praktischer Widersprüche. Baumgarten setzte die unauflösliche Antinomik in die Rationalität selbst. Mit ihr begründete er die Dynamik der Kultur, eine Dynamik ohne absolute Zielpunkte und daraus schlussfolgerte er den Menschen als „animal métaphysique“, „dass der Entwicklungsprozess der Welt sich in eine jenseitige, nur der Ahnung, nicht der Erkenntnis zugängliche Sphäre fortsetzt.“195 Auch Nicolai Hartmann hatte die Antinomik zur Schlussfolgerung eines transrationalen Bereichs in einer Metaphysik der Erkenntnis geführt.196 Baumgarten fügte den Antinomien von Bewusstsein und Selbstbewusstsein die unaufhebbare Antinomik der gesellschaftlichen Existenz hinzu und nahm damit die alte, von der nachplatonischen Akademie begründete Verbindung der Antinomik mit der kritischen Relativierung der öffentlichen Diskurse wieder auf.197 Eine der besten Schlussfolgerungen Baumgartens: Die Antinomien zwingen uns zum Leben in Entscheidungen. Darum auch zwingen sie uns überhaupt erst zur Empirie. Dieser wiederum können wir nur durch Vermeidung jedes Dogmatismus genügen. Die Ableitung des empirischen Wissens nicht aus dem alltagspraktischen Orientierungsbedürfnis, sondern aus der Antinomik des Wissens- und des Weltbegriffs überhaupt, ergibt die eigentliche philosophische Fragestellung. Metaphysik in diesem Sinne ist der Realismus eines wirklichen Empirismus. In der Trias von Antinomik, Empirismus und Metaphysik besteht die Einheit der Philosophie Baumgartens. Die schlechte Unendlichkeit der Beobachtungen und Protokollsätze würde für sich immer wieder auf die Antinomien unserer sozialen und psychischen Existenz zurücklenken. Die Erwartung wirklicher Aufhebung des Leids in einer Welt der Solidarität bilde nicht das gedachte Ende von immer fortlaufender Empirie, sondern die Synthese von Empirie und der Erfahrung der Antinomik. G. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923); R. Guardini, Der Gegensat (1925); A. Liebert, Geist und Welt der Dialektik I (1929); R. Heiß, Logik des Widerspruchs (1932); M. Raphael, Zur Erkenntnistheorie der konkreten Dialektik (1934), M. Merleau-Ponty, Les aventures de la dialectique (1943). 195 Erkenntnis, S. 6. 196 Hartmanns Gedanke führte aber in eine andere Richtung: „Denn das Merkmal des Metaphysischen liegt eben in dem über alle Lösbarkeit hinausreichenden, perennierenden Fragecharakter“ der Erkenntnisrelation. (N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, Berlin ³1941, S. 37) 197 Karneades (224 – 129 v. u. Z.), der Stifter der dritten, sog. neuen Akademie, sagte, es gebe kein Wissen, da alles uns täusche und so vieles Unwahre so täuschend glaubhaft erscheine. Wollten wir eines annehmen, so könnten wir es nicht ohne Beweise aussagen, die aber wieder Beweise voraussetzten. Karneades’ Antinomik verfolgte den Zweck, die Zurückhaltung des (dogmatischen) Urteils um der Feststellung der Bedingungen und der Grade der Wahrscheinlichkeit willen zu üben. Er unterschied drei Wahrscheinlichkeitsgrade: einfache, unwidersprochene, geprüfte Urteile. Sein Skeptizismus richtete sich gegen den alltagspraktischen und ideologischen Anthropomorphismus, insbesondere der stoischen Theologie und Ethik: Wir können uns Gott nicht als lebendes und vernünftiges Wesen vorstellen, da wir ihm dann Eigenschaften zusprechen müssen, die dessen Vollkommenheit und Ewigkeit widersprechen.

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Die Systemtheorie des Strafrechts behandelt heute „Störungen im Systemprozess des Rechts“, etwa am Beispiel der Antinomie von Strafzielen und Vollzugszielen. Es sei eine Dysfunktionalität in den Rechtssystemen, die zu ständiger Überprüfung der Gesetzlichkeit zwinge.198 Radbruch hatte in seiner Rechtsphilosophie von 1932 die drei Elemente der Rechtsidee – Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit – in der Positivität der Setzung und Durchsetzung des Rechts als eines Ganzen wechselseitiger Widersprüche dargestellt und sich am Schluss zustimmend auf Baumgartens Theorie der antinomischen Struktur der Welt in dessen Wissenschaft vom Recht (1920) und in dessen Rechtsphilosophie (1929) bezogen.199 Baumgartens Antinomik war natürlich keine philosophische Verlängerung der Methodenlehre des Rechts. Aber diese bildete ihm ein Exempel. Seine Antinomik entstand im Gefolge und als Überwindung des Lebensgefühls des späten 19. Jh.s, als Schopenhauers antiliberaler Pessimismus aus dem zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts schließlich durchdrang. Im kulturellen Selbstverständnis der Intellektuellen breitete sich die Enttäuschung aus. Die Fortschritte der Industrialisierung hatten die soziale Realität der Masse in der hässlichen Gestalt der Proletarisierung erzeugt. Den Künstlern erschienen die Wissenschaften als die treibende Kraft hinter den Verwandlungen des Lebens in Monotonie und der Arbeitsleistung in Fabrik-Ausstoß. Die Gegenwart wurde gedeutet als der zum System geronnene Leerlauf rationaler Methodik. Kafkas In der Strafkolonie (1914) zeigte den Dämon Maschine. Simmel fasste die Frage nach dem Lebenssinn in seiner Idee von der Tragödie der Kultur. Er sah sie in der Entzweiung zwischen der fließenden Aktivität des Subjekts und der erstarrenden Objektivität von dessen Schöpfungen, die dann nach eigenen technischen, ästhetischen, religiösen usf. Formgesetzen das schöpferische Subjektelement unter sich zwängen.200 Auch nach seiner Aufnahme marxistischer Thesen hielt Baumgarten Schopenhauers Einsicht fest, dass die Antinomik nur durch die Verbindung mit Metaphysik gelebt wer198 A. Büllesbach, Systemtheorie im Recht, in: Kaufmann, Hassemer, Neumann (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 72004, S. 440f 199 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (³1932), a. a. O., S. 307: „So weist auch A. Baumgarten (RPh, S. 34) auf die ‚antinomiale Struktur der Welt‘ hin und bekennt sich (Die Wissenschaft vom Recht, Bd. 1, 1920, S. 52ff) zu einer ‚Philosophie der Widersprüche‘“. Radbruch schließt an: „Wie verdächtig wäre eine Philosophie, welche die Welt nicht für eine Zweckschöpfung der Vernunft hielte und sie doch in einem System der Vernunft widerspruchslos aufgehen ließe!“ 200 Simmel hatte die Quelle seiner Theorie von der Tragödie der Kultur selbst ausgesprochen: „Der ‚Fetischcharakter‘, den Marx den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, ist nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte. Diese Inhalte stehen – und mit steigender ‚Kultur‘ immer mehr – unter der Paradoxie, dass sie zwar von Subjekten geschaffen und für Subjekte bestimmt sind, aber in der Zwischenform der Objektivität ... einer immanenten Entwicklungslogik folgen und sich damit ihrem Ursprung wie ihrem Zweck entfremden.“ (G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig ²1919, S. 246) In romantischer Mystifikation fand sich Marx’ empirisch spezifische Analyse zum Sonderfall einer seelischen Antinomie herabgesetzt. In dieser Verkehrung sprach Simmel seine These selbst als spekulative Falsifikation des richtigen Zusammenhangs aus.

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den könne. Er sagte, das Ziel des Geschichtsprozesses sei nicht mit der Beseitigung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch eine solidarisch-sozialistische Gesellschaft erreicht. Es liege über alle empirischen sozialen und rechtlichen Maßnahmen hinaus als ein transzendentes Optimum.201 Die Auflösung der Antinomik von Einheit und Vielheit bleibe für die Erkenntnis ein transzendentes Ziel, „geradeso wie die Erlösung vom Weltleid ein transzendentes Ziel für den menschlichen Willen.“202 Baumgarten nannte den Widerspruch von Einheit und Vielheit den Leitfaden der Geschichte der Philosophie. Die ersten Paragraphen der Wissenschaft vom Recht umreißen die „Philosophie der Widersprüche“ als eine eigene Wissenschaft neben den Fachdisziplinen. Sie soll nicht nur philosophische Propädeutik sein. Vor allem in der Moralphilosophie soll sie deren Zentrum, den eudämonistischen Glücksbegriff, als ein Nest von Widersprüchen zeigen. „Jeder Denkende“ werde zugeben müssen, „dass wir in einer höchst mysteriösen Welt leben, dass wir überall auf Rätsel stoßen, die mit den Mitteln des Positivismus nicht einwandfrei zu lösen sind.“ Die Philosophie der Widersprüche öffne die Augen darüber, „dass nicht nur in der Religion und der Metaphysik, sondern überall, in Erkenntnistheorie, Logik, Psychologie, Mathematik, ja Physik und Chemie der Widerspruch auf uns lauert“.203 Fast im Ton von Blochs Geist der Utopie, etwa zur gleichen Zeit erschienen (1918), heißt es: „Das tätige Streben in der Richtung nach dem höchsten Ziel der ganzen Schöpfung gewährt dem Menschen gewissermaßen in der Antizipation der Verwirklichung des Ideals ein Glück, welches jedem anderen überlegen ist ...“.204 Die logischen Folgen der Antinomik in das Erfordernis empirischer Genauigkeit und den Fernblick der Transzendenz zu setzen, das war 1920, in den literarischen und philosophischen Stimmungen des Nachkriegselends und in den Kämpfen für und gegen die Republik, ein ganz unbeirrter Zug vertrauensvoller Bürgerlichkeit. Von den angloamerikanischen Hegelianern der zweiten Hälfte des 19. Jh.s (T. H. Green, Bradley, J. Royce) erkannte Baumgarten vor allem die Antinomienlehre Bradleys an. Bradley habe nach Hegelschem Muster die Objekt-Begriffe Ding, Raum, Zeit, Kausalität als antinomisch behandelt, da sie Eines und Vieles bezeichneten. A und B seien verschieden, doch nicht absolut getrennt, sonst wären sie nicht zusammen zu bezeichnen. Also sei der Begriff der Relation ein Widerspruch in sich. Bradley zog daraus eine Schlussfolgerung, die Baumgarten letzten Endes teilte, nämlich: Die Wirklichkeit könne nur eine Einheit von Widersprüchen sein, also im Ganzen eben nicht widerspruchsvoll. Der Widerspruch müsse im Denken liegen und Bradley fügte (wenig hegelisch) hinzu, was Baumgarten ebenso sah: „I am so bold as to believe that we have a knowledge of the Absolute, certain and real, though I am sure, that our comprehension is miserably 201 „Wir wagen die Prophezeiung, dass, wenn einmal die Gesellschaft klassenlos geworden ... ist, die Menschheit sich wieder Schopenhauers erinnern wird, nicht um den Willen zum Leben zu verneinen, um sich dessen bewusst zu werden, dass das Ziel des Geschichtsprozesses nicht im rein Menschlichen beschlossen sein kann.“ (Philosophiegeschichte, S. 320) 202 Der Weg, S. 58. 203 Recht, I, S. 54, 57. 204 Ebd., S. 51.

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incomplete.“205 Der Sachverhalt der Antinomien führe auf den Gedanken der Unvollkommenheit unserer Erkenntnis und aufs Erfordernis einer Metaphysik. Da der eleatischen Einheit die nicht aus der Welt zu schaffende Vielheit entgegenstehe, „so bleibt nichts übrig, als anzunehmen, dass die Welt so, wie sie sich dem menschlichen Geist zunächst in einer widerspruchsvollen Verbindung von Einheit und Vielheit darstellt, nur appearence ist und dass in der reality in einer uns unfasslichen, aber jedenfalls widerspruchslosen Weise Vielheit und Einheit in internal relations verwoben sind.“206 Baumgarten verband mit der Metaphysik die evolutionistische Idee der allmählichen geistigen Steigerung einer zukünftigen Menschheit, die einmal die Einheit der Gegensätze werde denken können, vor allem aber harmonisch leben werde. Eine Schopenhauersche Sehnsucht nach der Überwindung des vom Lebenswillen erzeugten Leidens verband sich mit der ganz anderen Idee von Weisheit in einem zeitlichen Prozess versöhnenden Menschheitsaufstiegs. 3. Moralphilosophie „Die Kunst lehrt uns, dass es ein Göttliches gibt, sie sagt uns nicht, welche Anforderungen es an uns stellt, während die Philosophie, die letztlich stets Ethik ist, gerade hierin ihre Aufgabe findet.“ A. Baumgarten, Der Weg des Menschen, S. 194 „Was Gerechtigkeit und Solidarität sind und wie sie unter den Menschen zur Herrschaft gelangen können, das will gelernt sein, und in dem Lehrgang bildet die Wissenschaft der Ethik ein unentbehrliches Glied.“ A. Baumgarten, Die Geschichte der abendländischen Philosophie, S. 559

a) Moralistik Baumgarten war Moralist. Zur Disziplin Philosophie gehörte von jeher eine Abteilung Moralphilosophie. Aber nicht jede Philosophie ist moralistisch. Dem Sensualismus steht das auf eigene Weise nahe. Moralistik führt die analytische Rationalität der Philosophie von gesellschaftlichen Konventionen auf individuelle Verhaltensweisen zurück und von diesen weiter auf gefühlshafte Quellen persönlicher Gesinnungen, wie etwa Ehrgeiz, Neid, Mut, Verpflichtungs- oder Schuldbewusstsein. Nach der Seite der Individualität hin will Moralistik damit die Beweggründe von Gesprächen und Handlungen erschließen, um deren Wirkungen voraussehen zu können. Nietzsche nannte darum Moralistik die „Politik der Tugend“, die ein „Immoralismus der Tat“ zu sein habe.207 Moralistik sucht, als eine philosophische Analysis hinter den vorgezeigten konventionellen Mo205 Erkenntnis, S. 565. 206 Ebd., S. 569. 207 Nietzsche’s Werke, Bd. XV, a. a. O., S. 366.

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tiven die wahren Beweggründe von Verhaltensweisen offenzulegen. Im Blick auf die Gesellschaft lässt Moralistik die objektiven sozialen Formen als von psychischen Energien erzeugte Handlungswelten erscheinen. Vor allem aber rückt sie die elementare Konflikthaftigkeit solcher Sphären der Innerlichkeit ins Licht. Die gesellschaftlichen Formen verlieren den Schein der Unabänderlichkeit, und sie werden als Umstände mit nur bedingter Legitimation wahrgenommen. Das macht diese Untersuchungen fesselnd und wegen des ausschließlich analytischen Gestus auch rhapsodisch, wie es La Rochefoucaulds Réflexions ou sentences et maximes morales (1665) oder La Bruyères Caractères (1687) gewesen waren.208 Moralisitik erhob moralische Bekenntnisse zu Kriterien sozialer Beurteilung, wie es Rousseaus zweiter Discours über den Ursprung der Ungleichheit (1753) oder dann der Leitbegriff eines Gemeinwillens leistete; ein Begriff, der seine Wirkung daraus gewann, dass er personale und verfassungsrechtlich strukturelle Bedeutungen moralisierend zusammenschloss. Moralistik vermag eine Epoche zu charakterisieren, indem sie diese nach Charakterzügen einzelner Personen zeichnet. Bleibt das schwach, wird es lamentierende Kleinmalerei. Seneca unterliefen in den Lucilius-Briefen solche Passagen. Schopenhauer simplifizierte seine Moralistik durch pauschalen anthropologischen Pessimismus.209 Im besseren Sinn ist Moralistik der Kunstgriff der Philosophie, Zeiterscheinungen zu verfremden, indem sie nach moralischen Charakteristika zerlegt werden. Moralistik kann der Philosophie die Distanz kritischer Öffentlichkeit verschaffen. Sie schlingt um das Sichtbare den idealen Geist der Vollendung der Menschenwelt. Baumgartens erste philosophische Schrift von 1917, Moral, Recht und Gerechtigkeit, war moralistisch gehalten. Das eigentümlich Ironische, in anderem Falle auch Maßlose ist, dass es sich im Grunde um ein inadäquates Verfahren handelt. Nietzsche, der sich als der tapfer leidende Zyniker des Moralismus gerierte, sprach seine fragmentarischen Entwürfe darum als so umwälzend aus, weil er eine Weltenwende in der inadäquaten Form individueller Moralistik fasste. Soziale Strukturen sind moralisch nicht zu erschöpfen. Doch der moralische Zugriff ist der Stachel, der die kritische Analyse schärft. Antike und bürgerliche Moralistik unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt. Stoa und Epikureismus konzentrierten sie auf eine Abwehrhaltung des Individuums. Ihr

208 „Ich biete hier dem Publikum unter dem Titel „Reflexionen oder moralische Maximen“ ein Porträt des menschlichen Herzens. Es ist dem Schicksal ausgesetzt, nicht jedermann zu gefallen, denn man wird finden, daß es allzu ähnlich sei und nicht genug schmeichle.“ (La Rochefoucauld, Reflexionen oder moralische Sentenzen und Maximen, in: F. Schalk (Hg.), Französische Moralisten, Leipzig 1962, S. 1) 209 „Wirklich also liegt im Herzen eines Jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es Andern wehe tun und, wenn sie ihm gar den Weg versperren, sie vernichten möchte: es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt.“ (Schopenhauer, Pererga und Paralipomena, Bd. 2, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 6, Leipzig 1939, S. 229) J. Fest, immerhin nicht aus einer nazistischen Familie, hat solche resignativen Vereinfachungen sozialer Konstellationen und Interessen durch Anthropologie ans Urteil über den deutschen Faschismus herangetragen, als er sagte: Ein Mensch wie Hitler, schrecklich, aber so etwas wird immer wieder vorkommen.

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Impuls bestand in Apathia und Ataraxia zur Vermeidung der Verhängnisse, die von außen drohten. Der neuzeitliche Moralismus dagegen fasste in der Moralistik die literarische Verve der Philosophie als kritischer öffentlicher Stimme zusammen. Die frühbürgerliche Moralistik begann seit dem 17. Jh. (Montaigne, Bacon, Gracián), die stoische Tapferkeit, die Tugend der Unerschütterlichkeit angesichts gesellschaftlicher Ohnmacht, umzubilden. Sie schuf daraus nach einer Seite Erkundungsräume betont privater Geistigkeit und stellte solche Überlegenheit dem Traditionalismus der kulturellen Mächte der Zeit gegenüber (Montaigne, Essais, 1580). Nach einer zweiten Seite bildete sie einen kraftvollen intelligiblen Erfolgskalkül im Zeitalter des handelskapitalistischen Absolutismus aus (Bacon Essays, 1597). Die englische Moralistik des 18. Jh.s gelangte in der psychologischen Spezifizierung von Shaftesburys pantheistischem Optimismus, der noch in einem platonischen und ästhetischen Proportionsgedanken eingebunden gewesen war, zu einer sensualistischen Gesellschaftslehre auf moralphilosophischer Grundlage, die Ökonomie, Rechtsphilosophie und selbst Theologie einschloss. Shaftesbury hatte die Moralphilosophie nicht sensualistisch, sondern im Ganzen eines weltimmanenten Ordnungsgedankens begründet (Charcteristics of Men, Manners, Opinons, Times, 3 Bde., 1711). Er hatte aber die im Platonismus verschlossene Sinnlichkeitsthematik herausgezogen und in einem ästhetischen Sensualismus aktiviert. Wenn wir in dieser Welt vor allem Schlechtigkeit und Chaos sehen wollten, wäre für die jenseitige nichts Besseres zu erwarten. Menschliche Zuversicht könne nur auf dem Zutrauen zum Sinn des irdischen Lebens bauen. Dieser Sinn offenbare sich ganz elementar im Common sense für Proportion und Schönheit. Die Ästhetik des Schönen stellte den gefühlshaften Vorgriff auf moralisches Bewusstsein dar. Moralistik besaß auch die Funktion, der weltanschaulichen Statik des religiösen Transzendenzgedankens eine aktivistische und weltimmanent evolutionäre Auffassung entgegenzusetzen. Die Transzendenzidee wurde dann als ein Ausweichverfahren gegenüber innerweltlichen Widersprüchen angesehen. Bei Baumgarten kehrten solche Kernpunkte der neuzeitlichen Moralistik wieder.210 Die Idee einer ursprünglichen sinnlich-moralischen Aktivität des Menschen steigerte sich im 18. Jh. dahin, dass dem Absolutismus privatmoralische Kriterien als Begründungsvoraussetzungen der öffentlichen Ordnung entgegengestellt wurden. Aristokraten und Bürger, Damen der Salons, Geistliche, Gelehrte wurden außerhalb ständischer Charaktere und neben der religiösen Satzung als Einzelwesen modelliert, um zu zeigen, dass aus deren individuellen Willenshandlungen die gesellschaftlichen Lebensformen hervorgingen. Das ermöglichte der aufklärerischen Moralistik, die moralischen Maximen von Privatpersonen zu Postulaten sozialer Ordnung zu erheben. Die Begründung objektiver Strukturen auf subjektiven Eigenschaften und Motiven enthielt zwei weiter210 Ein Shaftesbury-Motiv in Baumgartens Verbindung von Sensualismus und weltimmanenter Metaphysik: „Die sichtbaren Fundamente einer ausgleichenden Gerechtigkeit und bestimmten Ordnung in dieser Welt leiten uns darauf hin, ein vollkommeneres Gebäude zu ahnen. Wir begreifen einen größeren Plan und verstehen leicht, warum in diesem Zustande nicht alles zur Vollendung reift, sondern vielmehr diese für eine zukünftige Periode aufbewahrt bleibt.“ (Shaftesbury, Die Moralisten (1708), Leipzig 1909, S. 101)

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führende theoretische Aspekte: ein Prinzip analytischer Reduktion komplexer Gebilde und eine evolutionistische Perspektive, in der die faktische Lebensordnung mit dem moralischen Anspruch vermittelt werde. In diesen beiden Punkten besteht überhaupt der Ertrag des europäischen Sensualismus und dessen kühner Moralistik. Arthur Baumgarten hat das entschieden erneuert. Seine Moralistik ist Ausdruck der engagiert liberalen Intention seiner ganzen Philosophie. Sein empiristischer Fallibilismus ließ Baumgarten auch noch in seiner sozialistischen Periode einen deterministischen Gewissheitsanspruch als gefahrenreiche Dogmatik ansehen. Die moralische Argumentation bot seiner Meinung nach für die ganze Thematik der sozialen Reform den Vorzug, synthetische Erkenntnisse auf Induktions- und Abduktionsschlüssen im Sinne des Peirceschen Pragmatismus zu begründen. Peirce hatte solchen Fallibilismus einen „critical commonsensism“ genannt, und Baumgarten verstand seine kritische Theorie als eine Methode experimentell offenen, aber praktisch minimalistischen Moralismus. Das schloss das skeptische Element jedes Empirismus ein, öffnete aber im gleichen Zug mit der Wendung zu breiter kultureller Öffentlichkeit den Reformprozess fürs Zusammenwirken verschiedener sozialer Schichten. Der fallibilistische Evolutionismus schließt im Grunde die politisch gewaltsame Revolution als einen Ganzheitsvorgriff aus. Baumgarten sah richtig, dass der im Stile eines fachwissenschaftlichen Determinismus begründete Sozialismus unter dem Paradoxon stehe, im gewaltsamen Umsturz eine absolute Zwecksetzung einzuführen, an diesen die Diktatur einer sich selbst ergänzenden Elite anzuschließen und im Resultat die ganze, dem rationellen Erfordernis nach rechtliche Struktur in einer vormodernen Führung-Gefolgschaft-Ordnung zu moralisieren. b) Das Problem der methodischen Struktur des moralischen Sensualismus. Der Eudämonismus Baumgartens Moralistik kam bereits in der sensualistischen Strafrechtslehre zum Ausdruck, die das Verbrechen vor allem als eine Leidzufügung ansah und die Strafe als das Gegenleid, der Umformung eines ursprünglichen Vergeltungsgefühls zur Rechtsform. Baumgarten hatte seinen Moralismus danach im Pazifismus ausgesprochen. Der Pazifismus dachte – außer den Marxisten – zur Zeit des Ersten Weltkrieges politisch moralisierend, nicht sozialtheoretisch erklärend. Die juristische Gesellschaftskonstruktion vermochte den Kontraktualismus nicht in sich selbst zu begründen. Er bedurfte eines materialen Grundes. Für die erforderliche Basistheorie des Rechtsformalismus wurde auf eine natürliche Konstitution des Menschen zurückgegangen. Es war die Moralität im Subjekt, zunächst eine ungegliederte Sammlung von Annahmen. Dieser Naturalismus trug nicht nur das Prinzip gleicher Bürgerrechte, sondern ebenso eine evolutionäre Perspektive der Gesellschaft, die dem Perfektibilisierungsprinzip einer akkumulierenden Produktionsweise entsprach. Der Weltkrieg öffnete Baumgartens Moralismus sozialtheoretisch, da die in ihm mitgehende Kontinuitätserwartung sich derb gestört fand. Er erklärte die europäische Katastrophe aus seiner Deutung des 19. Jh.s als der entscheidenden Fehlleitung der ursprünglichen moralischen Intention des Liberalismus. Es sei zur Falsifikation des Gemeinschaftsbewusstseins zum Idol des siegreichen Krieges

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gekommen, wie es der einflussreiche Öffentlichrechtler E. Kaufmann in seiner Schrift Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus (1911) vertreten hatte. Um seinen moralisch begründeten Liberalismus gegen den sich aktivierenden Konservativismus festhalten zu können, musste Baumgarten seine Moralistik zu einer positiven Doktrin entwickeln.211 Die sensualistische Moralphilosophie nimmt Moral im einfachsten und auf der Hand liegenden Sinne. Die Moralphilosophie des Empirismus ist eudämonistisch. Der Mensch strebt nach Anerkennung und Freude, wenn man will: nach Glück. Er bewertet alle Handlungen und Erfahrungen entweder positiv oder negativ, je nachdem, ob sie dem dienen oder entgegenstehen. Hier setzen sogleich die Einwände gegen die sensualistische Theorie ein, und sie beziehen sich auf tatsächliche Schwierigkeiten des, wie es scheint, allzu plausiblen Ausgangspunktes: Es würden ungegliederte Verhaltensweisen vorausgesetzt. Die sensualistische Moralphilosophie betont tatsächlich die bedürfnis- und gefühlshaften Sozialisierungsebenen. Doch Gefühle sind vorübergehend, oft sogar situationsgebunden. Begrenzt auf nahe Beziehungen, gehören sie zum Individuellsten der Person. Wie soll von diesen Voraussetzungen aus der erforderliche Universalismus einer Moraltheorie erreicht werden? Baumgarten beschäftigte genau dieses Problem. Er lehnte das idealistische Vorgehen ab, universelle Normen voranzusetzen und darauf die Vereinbarkeit des tatsächlichen Verhaltens mit den Normen zu behandeln. Die juristische Methode tauge nicht für die Moralthematik. Sein Vorwurf war, sie mache mit dem Dualismus von Norm und Verhalten die Moral überhaupt zu einem gestörten Feld. Der Akzent sitze auf dem Kontrast zwischen Norm und realem Verhalten, als wolle der Mensch sich ursprünglich verbindenden Verhaltensweisen verweigern. Baumgartens Einwand gegen den Normenformalismus konzentrierte sich darin, dass dessen faktischer Pessimismus die Moralität zu einem System von ungeliebten Nötigungen und Zwängen mache. Das Verhältnis der Norm zum realen Verhalten werde nach dem Muster der Rechtsordnung aufgefasst. Der Akzent liege hier auf dem für sich bestehenden Gesetz. Die Motivation des Bürgers, es einzuhalten, spiele bei dessen Formulierung keine Rolle. Die Moralität einer Handlung aber sitze in der Motivation. Für die Erneuerung des Sensualismus in der Moralphilosophie ergab sich die Aufgabe, eine methodische Struktur des moralischen Sensualismus zu schaffen. Es musste ein analytisch abstraktes Ausgangsprinzip gefunden werden, von dem her die Komplexität der konkreten moralischen Verhaltensweisen in einer logischen Genese aufgezeigt werden konnte. Statt des Dualismus von abstractum und concretum sollte Moralität in einem Aufstieg aus dem Abstrakten in ihrer logischen Struktur rekonstruiert werden. Die Wissenschaft vom Recht (1920/22) brachte eine systematische rechts- und 211 Der Konservativismus baute auf dem schon vom Frühliberalismus kritisierten und eigentlich pseudofeudalen Ideal des tapferen und sich opfernden Menschen als der Leitidee neuer Vergemeinschaftung auf. Gemeinschaft stand hier unter der Vorstellung strenger Ordnung durch Führungs- und Gefolgschaftsverhältnisse in allen Sphären der Gesellschaft. Die vorausschauende Warnung vor der martialischen Perversion des Menschen durch den Militarismus mit der abzusehenden Technisierung des Krieges bei B. Constant (1767 – 1830): De l’esprit de conquete et de l’usurpation, Hannover 1813, Paris ³1814; dt.: Vom Geist der Eroberung, Heidelberg 1947.

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moralphilosophische Theorie, die in der theoretischen Grundlegung auf dem Begriff des Sollens aufbaute. Die Sollensthematik ergab sich nicht nur, weil sie die theoretische Klammer für eine umfassendere Kulturphilosophie darstellte, in der Moral und Recht zusammenhängend entwickelt werden könnten. Sie bot den abstrakten Ausgangspunkt einer logisch-genetischen Rekonstruktion des Gesamtkomplexes der Moralität. c) Das Sollen und die Willensfreiheit; deren Kern: die Handlungsteleologie Für den Pragmatismus ist alle geistige Aktivität letzten Endes darauf gerichtet, ein praktisches Verhalten des erkennenden Subjekts auszulösen. Baumgartens Sensualismus stellte die Tätigkeit, nicht die Gefühlshaftigkeit als primäre menschliche Lebensäußerung voran. Das moralische Gebot setzt ein Sollen überhaupt voraus. Es ist der teleologische Duktus zielgerichteten Verhaltens schlechthin. „Hunger, Durst und Streben nach körperlichem Wohlsein treten in der Form des Sollens auf, so gut wie das Mitleid oder die Vaterlandsliebe.“212 In einem weiteren Schritt verstand Baumgarten unterm Sollensproblem die Willensfreiheit des Menschen im Hinblick auf den Gebrauch dieser Freiheit in den Anforderungen des Lebens.213 Daraus entwickelte er in einem späteren Schritt die konkreten ethischen Willensqualitäten, die er unterm Altruismusproblem zusammenfasste. So allgemein vorausgesetzt, ist die Willensfreiheit zunächst nur das Vermögen, Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit zu qualifizierten Entscheidungen schafft engere und weitere Handlungsfelder und soziale Verflechtungen, innerhalb deren sich die Person herausbildet. Moralphilosophie behandelt diese Schritte in Bezug auf die Einstellungen bei selbstbezogenem und auf andere Individuen bezogenem Handeln. Die Soziologie sieht auf die objektiven sozialen Gebilde als auf die konstanten Relationen, innerhalb deren sich die Entscheidungen vollziehen. Eine generelle Voraussetzung der neuzeitlichen Moralität besteht in der persönlichen Entscheidungsfreiheit, herausgelöst aus der theologischen Verbindung von Freiheit und Sünde der Verweigerung des Gottesgebotes. Das schließt alle Formen von sozialer, politischer, rassischer und religiöser Entmündigung aus. Es war die einfache Intention des klassischen Liberalismus, wie es in Jeffersons Unabhängigkeitserklärung der nordamerikanischen Kolonien von 1776 mit dem Pathos der Einfachheit geheißen hatte: Die natürlichen Rechte jedes Menschen als eines von Gott geschaffenen Wesens bestehen in Leben, persönlicher Freiheit und im Streben nach Glück. Bei allen Wandlungen der Meinungsleitung bis in die gegenwärtigen Parteiendemokratien, der theoretische Ausschluss von Entmündigung bleibt immer eine Voraussetzung, die Frage nach dem moralischen Sollen adäquat behandeln zu können. Die sensualistische Moralphilosophie hatte das im Zeitalter des Absolutismus gegen theologische und politische Formen heteronomer Wertethik vertreten. Baumgarten wies Nicolai Hartmanns Ethik (1925) als eine „ästhetisierende Wertethik“ ab, der es nicht auf praktischen Gehalt ankomme. Die

212 Der Weg, S. 65. 213 „Die Sollensfrage richtet sich auf den Gebrauch, den der Mensch den einzelnen an ihn gestellten Anforderungen gegenüber von seiner Freiheit machen soll.“ (Recht I, S. 39)

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Wertethik sei die Zusammenstellung von Eigenschaften einer schönen Seele, im Grunde das Unternehmen, Merkmale, die für Gottähnlichkeit maßgeblich seien, in eine hierarchische Ordnung zu bringen.214 Die sensualistische Theorie ist, anders als die metaphysische Wertethik, ebenfalls materiale Ethik. Sie geht vom realen Handlungswillen der Individuen aus und sucht nicht in sich spielende Formenkreise. Innerhalb des ethischen Sensualismus gibt es einen wesentlichen Unterschied. Baumgartens „eudämonistisches Handlungsprinzip“, wie er sagte, unterscheidet sich von den rein emotionalen materialen Ethiken. Solchen Sensualismus vertrat Hutcheson im Anschluss an Shaftesbury mit der Voraussetzung eines ursprünglichem „moral sense“ in uns als Basis eines primären Altruismus, der am Wohlgefallen kultivierten Umgangs ansetzte.215 Baumgarten ging von der Sinnlichkeit als Wahrnehmung im Rahmen zielgerichteter und kooperierender Tätigkeit aus. Das schaffte dem Altruismus eine emotionale Basis im Zusammenhang der Handlungsorientierung. Er teilte das Wirken der Willensfreiheit in zwei Bereiche, in den der alltagspraktischen Abläufen und in den der dahinter stehenden grundsätzlichen Entscheidungen, die die Lebensrichtung prägen und über den Lebenshorizont des Handelnden selbst hinausreichen können. Der kontinuierliche Ablauf der alltäglichen privaten und beruflichen Verhaltensweisen kann sich nur über Stereotype vollziehen. Hier befinden sich Teilstücke vom großen Bereich des sog. guten Lebens.216 Der Spielraum für Willensfreiheit scheint gering. Tatsächlich ist die Zahl der Entscheidungen sehr groß. Ihre Eigentümlichkeit besteht in der direkten Verbindung zwischen Entschluss und Handlungsfolge. Das lässt nur kurze Reflexionsphasen zu. Die moralische Bewährung der Person verbirgt sich in dieser Nahdistanz hinter der ständigen Wiederkehr jener Unmittelbarkeit. Die lückenlose Kontinuität ist es, die den Schein einer naturhaften Pflichterfüllung erzeugt. In dieser Pflicht aber manifestiert sich eine erste Ebene des Sollens. Es ist untunlich, diese Bereiche vom moralischen Sollen abtrennen zu wollen. Es scheint, die Dichte der Entscheidungsabfolgen ließe die Willensfreiheit in diesem Sollen fast versinken. Doch das täuscht. Tatsächlich hält sich unter den Stereotypen eine Vielfalt von Entscheidungsvarianten verborgen. Empiristischer Common-Sense-Blick auf die realen Lebenssituationen lässt die Würde und die Schönheit des handelnden Menschen auch hier feiern. Baumgarten misstraute den Absonderungen des Guten und Rechten zu eigenen Wesenheiten, seien es kristallisierende Werte oder apriorische logische Formen. Als sollte unter lauter Prinzipien der lebendige Mensch erkalten unterm Selbsthass seiner Zwecke. Baumgarten gründete die bürgerliche Gleichheit auf dem gleichen Glücksan214 Der Weg, S. 426. Baumgarten hatte Recht in Bezug auf Hartmanns Darstellung der Werte als Wesenheiten. Er beachtete nicht Hartmanns Kategorialanalyse des Sollens mit der Entwicklung des Begriffs aus dem Finalnexus, die sich mit seiner eigenen Methode berührte. Vgl. N. Hartmann, Ethik, ²1935, Kap. 20, S. 171ff: Das Sollen und der Finalnexus. 215 M. Scheler entwickelte mit nicht-sensualistischer Zielstellung eine Rangordnung von vier Wertstufen: vom sinnlichen Fühlen zum vitalen Fühlen, weiter zum geistigen (künstlerischen, theoretischen) Erfassen und hin zum Ahnen des Heiligen und Unheiligen. 216 Einen Problemaufriss gab Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek bei Hamburg 1999.

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spruch jedes Menschen. Er verband damit konsequent den Gedanken des Prozesses, in dem sich eine werdende Menschheit befinde. Der Empirismus muss beim Zweckverständnis einer parallel gedachten Handlungsteleologie von Individuen und Gattungsprozess ansetzen. Er vertraut auf die Zeit. Sie ist die Ebene der Perfektibilisierung, darum Feld des Optimismus. Den Gegenpol bezeichnete Nietzsches Ausruf: Wer seid ihr denn, dass ihr verlangen könntet, glücklich zu sein? Baumgarten setzte für die Logik des moralischen Urteils bei der Logik des Handlungsbewusstseins an. Dann ist es möglich, den Fehler zu vermeiden, von einem so hochkomplexen Begriff auszugehen, wie es der Begriff des Guten ist. Alle Handlungsformen vom familiären Leben über den gegenständlichen Arbeitsprozess bis zu geistigen Tätigkeiten wie Reden, Lesen, Schreiben stellen teleologische Akte unterschiedlicher Intensität dar. Es ist der willenshafte Mensch, der das Sollen setzt. Dem Handlungswillen dient der spezifizierende Intellekt. Ohne Bedürfnis gäbe es kein Wollen und ohne dieses keine intellektuelle Zielwahl. Zwischen Wollen des Menschen und dessen Sollen dürfe also keine grundsätzliche Kluft angenommen werden. Baumgarten setzte hier das oberste Handlungsgebot an und bestimmte es als eudämonistisches Prinzip des jeweils „höchsten erreichbaren Glücks“.217 Unter Glück ist nicht Schlaraffenland zu verstehen, auch nicht Erfolg schlechthin. Es bedeutet zunächst nicht mehr als die Bestätigung des Menschen durch sein Tun. In der Erfahrung dieser Bewährung hebe das Glück an. Er nannte es „das Handeln nach Gründen, bei dem das gewollt wird, was nähere Besinnung als richtig oder vernünftig ausweist. Der Rekurs auf die Gründe, auf eine maßgebliche Entscheidungsnorm, macht schließlich Halt beim eudämonistischen Prinzip.“ Er sah in diesem Handeln nach Gründen „die eudämonistische Bestimmung als das eigentliche Fundament unseres aktiven Wesens.“218 Eudämonismus und dessen Glücksbegriff setzen logisch an beim sinnlich-gegenständlichen Wesen des Menschen. Im Handeln nach Gründen erscheint das Sollen, das seinerseits die Willenshaftigkeit und mit dieser die Willensfreiheit realisiert. Darum nannte Baumgarten das eudämonistische Handlungsprinzip unsere „Befreiungstat par excellence“. Dieses Herangehen verband die teleologische Aktform der Handlung mit der Kausalität im zielgerichteten Handeln. Die Handlungsteleologie stellt tatsächlich eine umgekehrt gelesene Kausalfolge dar. Das Ziel, das erreicht werden soll, ist das Erste für uns und das Letzte der Sache nach. Das moralische Sollensproblem ist am besten von diesen Voraussetzungen der Handlungsteleologie her zu entwickeln. In einem späteren Schritt wird sich zeigen, dass Baumgarten aus der Konflikthaftigkeit des Wollens und aus dem daraus hervorgehenden Entscheidungsproblem das Thema der Willensfreiheit aufbaute. Selbstverständlich lag es ihm fern, im moralischen Sollen überhaupt eine Scheinverpflichtung zu sehen. Der verpflichtende Charakter des moralischen Sollens lässt sich sehr wohl ohne die Voraussetzungen eines göttlichen Gesetzgebers oder insti-

217 Der Weg, S. 67ff. 218 Ebd., S. 67.

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tutionalisierter Erziehungsvorschriften dartun.219 Sonst wäre die Prämisse des freien Willens in den moralischen Gehalten von Handlungen nicht festzuhalten. Die Freiheit moralischer Entscheidungen befindet sich bei Baumgartens Ansatz des Sollens im teleologischen Charakter der Handlungsfolge. Die Willensentscheidung setzt für die Erreichung des Ziels nicht alle Kausalbeziehungen eines Gefüges ein. Sie wählt Zielstellungen aus. Die Freiheit besteht hier und kann hier nur darin bestehen, die Kausalstrukturen teleologisch zu überformen.220 Die situative Bedingtheit der Willensrealisierung diktiert einen selektiv zu erfassenden Kreis notwendiger Handlungsbedingungen. Willenshandlungen bedeuten Überschuss über das gegebene Kausalgeflecht durch Freiheit der Selektion. In unseren Taten ist die Zukunft Gegenwart. In dieser analytisch abstrakten Grundlegung sind die methodischen Prämissen der komplexen Thematik des moralischen Sollens enthalten. Es handelt sich ersichtlich nicht um eine Ontologie der Moral, sondern um deren Begründung im Handlungsbegriff. Die bedürfnishafte Konstitution des Menschen fasste Baumgarten durchaus traditionell als Glücksverlangen und Glücksstreben. Der Mensch suche Lust und Glück und weiche Gefährdungen dessen aus. Baumgarten sprach geradezu von einem „Lustsaldo“, auf das sich „das eudämonistische und hedonistische Grundgesetz des Sollens“ ausrichte.221 Die entschieden bedürfnishaft und emotionsnah gewählte Terminologie ist von der Absicht bestimmt, die ganze Fragerichtung bei der Autonomie des Handlungswillens festzuhalten. Mit dem Eudämonismus des Glücksantriebs soll moralische Heteronomie ausgeschlossen werden. Der hedonistische Glücks- oder Lustantrieb, vom Individuum gesetzt, nicht als marktgesteuert aufgedrungene Obsession, bedeutete immer Abwehr von Zwang und besaß antiautoritären Akzent. Der Handlungsbegriff wird realistisch dem Menschen als einem interessierten Subjekt seiner Tätigkeit vindiziert. Interessehaftigkeit ist eine Seite der Emotionalität des Handlungswillens und der Handlungssteuerung. Baumgarten verfolgte im liberalen Gesamtrahmen seiner juristischen und moralischen Sozialtheorie ein materiales willenshaftes Konzept, das er für die Moral gegen die intellektualistischen und gegen die kontraktualistischen Richtungen stellte. Für die Rechtsthematik ergab sich ihm konsequent ein materialer Gerechtigkeitsbegriff. Wird die Handlung auf der Willenshaltung gegründet, so erscheint das ganze Gewicht der Interessen in der moralischen Entscheidung. Baumgarten wollte der konservativen und in der Tendenz autoritären Interpretation des Willensmoments in der Moralphilo-

219 Solche Thesen vom Täuschungsgehalt moralischen Sollens bei G. Anscombe und P. Foot; vgl. U. Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin, New York 1984. 220 Die seit langem vorgetragenen Einwendungen gegen den Begriff des freien Willens von einem naturwissenschaftlichen Determinismus her, die jetzt neurologisch erneuert werden, sollen hier nicht noch einmal aufgenommen werden. Sie sind im 2. Kapitel beim Problem der verantwortlichen Willensfreiheit beim Straftäter als einer Voraussetzung des Strafrechts berührt worden. 221 Baumgarten erläuterte dann selbstverständlich näher, „... in welchem Sinne wir das Gesetz des möglichst günstigen Lustdaldos als das einzig denkbare eigentliche Sollensgesetz auffassen.“ (Recht I, S. 42)

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sophie entgegentreten. Ernst Tugendhat erneuerte das in seiner Moralphilosophie. Gerade im moralischen Bezug beruhten die kommunikativen Akte auf Willenshaltungen.222 Die intellektualistische Fragestellung sieht vor allem aufs Prozesshafte der Realisierung von Entscheidungen. Sie sucht die Konflikthaftigkeit zu entflechten. Ihr Ausgangspunkt ist die methodische Voraussetzung des Universalismus aller Willen. Baumgarten hatte seine sensualistisch-materiale Theorie vor allem gegen den Kantschen Formalismus gerichtet. Kant ließ die Grenzen zwischen methodischer Trennung von Form und Inhalt in der Durchführung zurücktreten. Er behandelte dann Selbstbestimmung eines idealen praktischen Subjekts und empirisches Verhalten nicht methodisch, sondern als realen Kontrast mit starker Betonung des Grundkonflikts zwischen Pflicht und Neigung. Kant gab dem Menschen viele an Pietismus gemahnende Schmerzensworte: ein Tier, das unter Seinesgleichen einen Herrn notwendig habe, aus so krummem Holze gemacht sei, dass nichts Gerades daraus zu zimmern sei.223 Nur in einigen Passagen der Vorlesungen zur Anthropologie und Moralphilosophie sieht das anders aus. Hier wird wohl auch der Eudämonismus als moralisch-praktischer Egoismus behandelt. Doch daneben erscheint die Urteilskraft gegen die Pflicht zum Selbstzwang als die urbane Gesittung einer Mitte zwischen Gebot und Neigung. Kant nannte den Keim zur Zwietracht, den die Natur in die Menschen gelegt habe, auch „das Mittel einer höchsten, uns unerforschlichen Weisheit: die Perfectionirung des Menschen durch fortschreitende Cultur“.224 d) Übergang zum moralischen Sollen Wie führte Baumgarten seinen methodischen Gang von der Zielhaftigkeit der Willenshandlung zum spezifischen moralischen Sollen? Er setzte seine „erste Philosophie“ ein: die Antinomik der Realität und des Subjekts. Die Willenshandlung wird ausgestaltet unter gegeneinander tretende Erfahrungen und Anforderungen des Lebens. „Die Wissenschaft, die der Beantwortung der Frage gilt, die wir die eigentliche Sollensfrage genannt haben, der Frage, die der Stellungsnahme zu einem Konflikt verschiedener Motive gilt, nenne ich mit einem sogleich zu rechtfertigenden Sprachgebrauch Ethik oder Moral.“225 Im Prozess der Konfliktbewältigung bildet sich eine konstante willenshafte Person heraus. Wiederkehrende Verbindungen von Willensantrieben und Anforderungen erzeugen Ketten von Verhaltensmustern. Das ist der Bereich der Vermittlung von 222 Ernst Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 117. 223 Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Sechster Satz, (Kant’s gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. VIII, Berlin 1912, S. 23) „Tugend ist moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll.“ (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ebd., Bd. VII, Berlin 1907, S. 147) 224 Kant, Anthropologie, a. a. O., S. 322. Die Bestimmung des höchsten moralisch-physischen Gutes ist hier die „Proportion der Verbindung“ von physischer und intelligibler Motivation für den „Genuß einer gesitteten Glückseligkeit“. (Ebd., S. 277). 225 Recht I, S. 44.

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Kooperationen und Auseinandersetzungen. Die wichtigste Quelle der Willensbeeinflussung, vor den Anlagen oder vor suggestiven, und oft unbewussten Eindrücken, seien die Kooperationen.226 Die hier entstehenden relativ konstanten Imperative schaffen die sozialen Integrationsfelder der Gewohnheiten. Die sog. Üblichkeiten wurden von Baumgarten nicht gering geschätzt. Sie bilden das Fundament erwartungssicheren Verhaltens, von dem aus weitergreifende Entscheidungen gestartet werden können. Baumgarten leitete die Gewohnheiten nicht aus dem Herkommen ab, sondern aus den Formbildungsprozessen der Willensfreiheit. Auf der Kontinuität der Person innerhalb des Fließgleichgewichts einfacher Wiederkehr von Sollensbezügen ruhen bestimmte ethische Qualitäten, wie Zuverlässigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Treue.227 Negative moralische Qualitäten erfließen aus der Diskontinuität gesichtsloser Verleugnung: Was gehen mich meine Handlungen von gestern an? Als sei ich es nicht gewesen. Der eigentliche Bezirk des moralischen Sollens ist noch immer nicht erreicht. Er liegt über der Anerkennung von Kontinuität hinaus und fasst diese nur als ein bedingendes Moment in sich. Die Moralität meiner Zwecksetzungen bezieht sich auf den Zweck aller meiner Handlungen überhaupt, und das ist auf mich selbst als Person. Die moralische Ebene der Handlungsteleologie setzt mit der reflektierenden Rückwendung auf mich als Subjekt von Reihen von Handlungen ein. Moral ist Rückbezug auf mich in bestimmten Bezirken meiner Aktivität. Der intersubjektive Charakter aller Handlungen mit dem Altruismusproblem tritt als ein späterer Schritt hinzu. Er wäre primär in einer Soziologie der Moral, nicht in der Moralphilosophie. Das Selbstbewusstsein existiert ideell im Prozess der einzelnen Selbstbezüge. Als solcher Bezug aller Zwecksetzungen ist es unausweichlich, wenn auch nicht gewiss wie die Genauigkeit einer mathematischen Relation. Gruppen von Sollensgeboten bilden eine Idealität von Praxis über den empirischen Handlungen. Es ist mehr als die Frage nach dem Sinn meiner Zielstellungen überhaupt. Die Frage richtet sich auf mich selbst. Sie öffnet den Innenraum meines Gewissens. Im moralischen Selbstverständnis erhebt sich das Individuum in die gedoppelte ideelle Ebene seiner Urheberschaft und der Ketten seiner Entscheidungen. Baumgarten verstand unter der idealen Welt das Problem des Glücks. Sein Eudämonismus ist nicht im alltagspraktischen Sinne utilitaristisch angelegt. Erfolge beziehen sich auf einzelne Willenshandlungen. Unser Lebensziel besteht im Glück. Das sind die Zweckfolgen im Bogen unseres Lebens als eines vorgestellten Ganzen in den unterschiedenen Lebensstufen und deren Zielsetzungen und Vollzügen. In Baumgartens Glücksbegriff vereinigt sich die Doppelheit der auf die Handlungszwecke und der ins Subjekt zurücklenkenden Reflexion. Diese Genese des Glücksbegriffs ergibt den Begriff des Guten. Mit der Gesamtheit aller Handlungen – wenn sie als Zwecksetzungen 226 Der Weg, S. 238. 227 „Selbst die normative Disziplin par excellence, die Ethik oder Moral, stellt nach unserer Auffassung nicht eigentlich Gesetze der Freiheit auf. Sie geht davon aus, daß der Mensch ... ein Prinzip sucht, nach dem er von seiner Freiheit Gebrauch zu machen hat. ... auch diesem Sollen kann der Wille den Gehorsam verweigern, wäre es anders, dann wäre die Freiheit durch das Sollen aufgehoben und schon aus diesem Grunde könnte das Sollen nicht als ein Gesetz der Freiheit angesehen werden.“ (Recht I, S. 45)

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des freien Willens aufgefasst werden – wechselt der Bezug von den gegenständlichen Orientierungen auf den Handelnden als ein Ganzes von dessen Willensentschlüssen. Es entsteht das moralische Subjekt als der Träger der Unbedingtheit von Zwecken. Erst von diesem Punkt der methodischen Genese der Moral ist das Problem des Anderen, also das der Intersubjektivität und dann speziell des Altruismus zu stellen. Der Begriff des Anderen im moralischen Sinn setzt den des selbstreflexiven Subjekts als des Zwecks aller seiner Zwecke voraus. Sonst bezöge sich die moralische Person nur in gelegentlichen oder in gewohnheitsmäßig wiederkehrenden einzelnen Fällen auf situativ so oder anders erscheinende Gelegenheitssubjekte. Freiheit besteht über die anhebende Wahlfreiheit hinaus darin, sich im empirischen Verhalten reflexiv auf Verbindungen wesentlicher Zwecke des eigenen Verhaltens zu beziehen. Das kann nicht erzwungen werden. Darum ist die Moralität der Freiheit des Menschen überantwortet. In der erfahrungsgeleiteten Einübung ins Bewusstsein der Gesamtheit der Willensentschlüsse besteht die zunehmende moralische Ausprägung der Person. Vor dem Schritt zum konkreten zwischenmenschlichen Charakter des moralischen Sollens, der in den Maximen des empirischen Handelns erscheint, schließt Baumgarten einige ergänzende Bemerkungen an. Die erste betrifft den Unterschied von Soziologie der Moralen und Moralphilosophie. Der methodische Gang von konkreten Sozialisierungsbezügen des Handelnden führt zur Soziologie der Moralen. Deren Darstellung besitzt über den historiographischen Aspekt hinaus sozialpädagogische Funktion. Die philosophische Fragestellung geht von der Zwecksetzung des Willens und mit der Konflikthaftigkeit der Realisierung von dessen Entscheidungsgehalt, also von der Willensfreiheit aus. Zur Soziologie der Moralen gehören deren Bezüge zu den anderen kulturellen Formen, wie Religionen, Wissenschaften, Künsten. Die intellektualistische und dann konsequent auch kontraktualistische Moraltheorie des kommunikativen Handelns von J. Habermas kann für sich in Anspruch nehmen, der Vergesellschaftungsweise der Menschen in einer hochtechnisierten Produktionsweise zu entsprechen.228 Sie sucht folgerichtig den in der Versachlichung realisierten hohen Vergesellschaftungsgrad aller Aktivitäten über das abstrakte Element der rein sprachlichen Artikulation und Verständigung in Akte tendenzieller universaler Bewusstheit und Verantwortung zurückzuführen. Einverständnisse konzentrieren sich dann in Verständigungsgeboten im Horizont der zivilisatorischen Prozesse. Das führt auf ein Zweistufenmodell einer universalistischen Moraltheorie und einer folgenden Beschreibung konkreter ethischer Tugenden erlebnishafter Nähe. Außerdem gerät das nicht in die kantianische Trennung von logisch immanenter Konstruktion der Moralform und bloßer Beschreibung der empirisch vorfindlichen Verhaltensakte. Ein nächster Punkt wäre das Intellektualismusproblem in der sensualistischen Ethik. Es gliedert sich in Baumgartens genetisch-materiale Methodik zwanglos ein. Handeln bedeutet Entscheiden. Das intellektuelle und das willenshafte Moment treten zusam-

228 Vgl. J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit. Zum Sinn der Sollgeltung moralischer Urteile und Normen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1998, H. 2.

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men.229 Die Konstanz gewonnener Maximen trägt experimentellen Charakter. Erfahrung löst Lernprozesse aus. Baumgarten blieb bei der methodischen Genese seiner Moralphilosophie ganz innerhalb des Empirismus. Im Erfahrungsgeschehen werden die Handlungskonstanten ausgebildet und reflektiert. Moralität gehört einer selbstreflektiven Person zu. Das ergibt sich für die sensualistische genetische Methode ebenso wie für die Stufen des intellektualistischen Kohlberg-Modells. Entwickeltere Moralität liegt vor, wenn die objektive Konflikthaftigkeit der Entscheidungen und in ihr die Möglichkeiten für Veränderungen umfassender wahrgenommen und in den Willen aufgenommen werden. Die moralische Tendenz führt zu höherer Souveränität der Person durch zunehmende Entscheidungssicherheit. Der Begriff des Glücks bezeichnete bei Baumgarten das ideelle Totum der Einheit von Aktivität und erfüllten Zwecken. Er bedeutete nicht einfache Zweckmäßigkeit, nicht sog. Trinkgeldmoral, und ebenso nicht die mediokre Saturiertheit des „Ich brachte alles hinter mich, gottlob, recht tugendlich“. Glück ist der Grenzbegriff, in dem sich alle meine Willensaktivitäten auf mein Dasein als auf ein Ganzes zurücklenken. Ohne diesen Bogen über der irdischen Endlichkeit meines Wirkens ist menschliche Existenz im moralischen Sinne nicht möglich. Die Konflikthaftigkeit von Entscheidungen, Baumgarten gab dem nicht den Raum für Dramen. Die Moralthemen des Versagens rückten für ihn eigentlich in die Psychologie ab. e) Der Andere in der Willensbildung und das Altruismusproblem. Pluralismus Wie gewinnt die genetische Methode von den Voraussetzungen individueller Handlungsteleologie und Willensfreiheit her den sozialen Bezug auf den „Anderen“? Das kann nicht allein aus der Besinnung auf die Vorstellung einer Gesamtheit meiner Willensentschlüsse hervorgehen. In den Handlungen selbst treten die beteiligten oder betroffenen Individuen uns nicht wirklich ins Bild, sondern gebrochen vom speziellen interessierten Zweck. Erst im Rückblick auf eine geschlossene Handlungsfolge fällt auf den Anderen helleres Licht. Baumgarten sah, dass für die sehr spezifische Rolle der moralischen Motivationen in den Verhaltensweisen nicht der methodische Schritt zur Willensbeeinflussung durch die sozialen Kooperationsweisen hinreichte. Er ging über die assoziationspsychologische Grundlage des Empirismus der zweiten Hälfte des 19. Jh.s hinaus. Mill dachte physiologisch-gegenständlich von den Einzelindividuen her, die in äußere Wechselbeziehungen treten würden (Mill, On Liberty, 1859). Das Ich-Bewusstsein bilde sich auf der Grundlage aufeinanderfolgender Assoziationen. Die Beziehungen zwischen Bewusstseinszuständen im Gehirn würden exakte Assoziationsgesetze feststellen lassen, die Widerspiegelungen realer Beziehungen von Personen und Dingen darstellten. Daraus ergab sich für Mill eine vereinfachte Auffassung voneinander abgegrenzter Empfindungen, die den Begriff sog. moralischer Gefühle gestatteten. Die Empfindungen prägten intuitive Überzeugungen aus, deren unmittelbare Gewissheit gleichsam feste Blöcke im Individuum setzten. Das verlieh der Emotionalität etwas Dinghaftes. Es war

229 „Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt, sich beliebig ins Blaue hinein begeistern zu können. Jedes Gefühl hat sein kognitives Element, das seine Qualität bestimmt.“ (Der Weg, S. 281)

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von Mill im Sinne der Bestätigung des Einzelnen und von dessen Überzeugungen gedacht. Der methodische Wert war dennoch gering. Der Akzent lag bei Mill noch immer darauf, dass die sinnlich unmittelbare Aneignung der Außenwelt Sache des sich orientierenden Individuums selbst sei. Von den Denk- und Handlungsweisen seien, im Unterschied zu den Naturgesetzen, nur annähernde Verallgemeinerungen möglich. Der Schritt vom Glücksstreben des Einzelnen für sein Glück zum sozialethischen Gefühl des Altruismus konnte mit dem Assoziationsprinzip nur mechanisch begründet werden. Assoziationen würden Emotionen bilden, die zu Generalisierungen führten. Dadurch entstünden Begriffe wie Glück, Verantwortung, Tugend usf., die tendenziell allgemeine Bedeutungen ausbildeten. Der Übergang vom individuellen Gefühl auf sog. soziale Gefühle ward als logischer Generalisierungsvorgang gedacht. Mill hatte darum seine Ethologie, wie er die Moralphilosophie nannte, sehr aristotelisch als eine Beschreibung von Charaktertypen ausgeführt. Als methodische Probleme erschienen dann die Vorsicht bei der Generalisierung einzelner Eigenschaften innerhalb des Charakters eines Menschen und der unbestimmte Zusammenhang zwischen solchem Typus und den jeweiligen Umständen des Verhaltens.230 Die assoziationspsychologischen Begründung der sensualistischen Ethik besitzt ihren Hauptschaden in der Abflachung der ganzen Sicht auf die moralische Qualität des Lebens. Mit dem Selektionsgedanken der Leidvermeidung und sog. Glücksbevorzugung kann die Moralphilosophie leicht verballhornt werden. Erst auf dem dicht besetzten Kontinent des menschlichen Leids verliert das Glück seine Masken. Wie schon an Baumgartens Strafrechtsauffassung zu erkennen war, nahm Baumgartens Ethik das Problem des Leids im Leben ernst. Er war mit Schopenhauers Philosophie wohlvertraut, schätzte auch E. v. Hartmanns Ethik, weil sie das Pessimismus-Problem aufgenommen habe. Er folgte beiden freilich nicht in den Pessimismus als letzter Auflösung des ganzen Rätsel-Bezirks im Menschen als eines dem moralischen Urteil ausgesetzten Wesens. Aber die Frage, die der Pessimismus stellt, erkannte Baumgarten wohl. Sie setzt beim Leid ein, dem vieläugigen Ungeheuer. Mit der Leiderfahrung findet das Leben seine Dimension gegen den Stolz von Wachsen und Verblühen. Zum Rätsel wird sie vollends, wenn Unglück unverschuldet einbricht oder unerkannt, wie ohne schlechten Willen die Absicht sich gegen das wohlmeinende Beginnen kehrt. Aus der Bitternis des Leids gewinnt Glück seine Gestalten. Das alles nahm Baumgarten aus Schopenhauer, ohne es so bei ihm finden zu können. Denn er las ihn unterm Licht der weltoffenen Tätigkeit. Die sensualistische Ethik kann Glück nur als diejenige gelingende Tätigkeit 230 „Menschliche Wesen fühlen und handeln nicht insgesamt unter denselben Umständen gleich; aber es ist möglich, zu bestimmen, was in einer gegebenen Lage den Einen in einer, den Andern in einer andern Art fühlen oder handeln macht; wie irgend eine gegebene Gefühls- oder Handlungsweise, die mit den allgemeinen physischen und geistigen Gesetzen der menschlichen Natur verträglich ist, gebildet worden ist oder gebildet werden kann. ... Und da diese Gesetze, in Verbindung mit den Tatsachen des besonderen Falles, die Gesamtphänomene des menschlichen Fühlens und Handelns erzeugen, so sind sie es, auf denen jeder vernunftgemäße Versuch beruhen muss, die Wissenschaft von der menschlichen Natur im Konkreten und für praktische Zwecke aufzubauen“. (J. St. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik, Bd. III, Leipzig 1886, S. 267)

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bestimmen, die dem Leid entgegenwirkt. Glücksethik rückt das Handeln ins Zentrum. Hier schloss Baumgarten für den Altruismus rasch ab: Egoismus bringt nicht wirklich Freude. Und wenn, dann schafft er weitergreifende Unruhe und verdirbt das Ganze. So sei das Glücksstreben an den Intellekt gebunden, und alles Vorläufige gehe mit in den nachfolgenden Entscheidungen. Der Altruismus war in Baumgartens Ethik Sache der praktischen Bewährung. Theoretisch verstand er ihn als die letztlich durchdringende Tendenz, der sich die Menschen in den verschiedenen sozialen Verbänden durch Einsicht öffnen werden. Die Themen des Leids und des Pessimismus gehören beide zur sensualistischen Ethik. Der Intellekt versteht, aber der fühlende Mensch leidet. Darin steckt der aktivierende, verändernde Stachel der Emotionalität. Die sensualistische Ethik kann nicht rasch über die Klage des einzelnen Menschen hinweggehen, nicht über die andere Klage des Armen als die des Wohlhabenden, nicht über die andere der Frau als die des Mannes, des Zurückgesetzten gegenüber dem durchs Gelingen Zuversichtlichen. Die intellektuelle Aufklärung eines Leids ist noch nicht dessen Auflösung. Darum spielt für die Gefühlsmoral das von der einzelnen Situation geforderte Handeln die entscheidende Rolle. Die sensualistische Ethik ist vom Ansatz her aktivistisch auf Solidarität gerichtet, und das nicht um des Anderen willen, sondern für das jeweilige Ich. Baumgarten entwickelte die komplexen Gehalte der sensualistischen Ethik. Deren Utilitarismus erweist sich dann auch als ichbezogener als das Gegenteil von Flachheit der Babbitt-Moral. Er bestätigt sich, wenn der Einzelne sich mit Anderen für gemeinsame Ziele verbindet. Dieser Eudämonismus ist einer der Aktivität und deren intellektueller Idealität. Doch darf man sich Baumgartens Aktivismus nicht zu schmalspurig denken. Jeder Anspruch absoluter Lösung verkenne die Situationen. Baumgarten beharrte auf dem Skeptizismus in Bezug auf alle empirisch bestimmten Ziele. Er folgte schon der von Schopenhauer ausgehenden Pessimismus-Frage in der Kultur des 19. und 20. Jh.s, doch nicht dem Pessimismus als positivem System, also auch nicht dessen Ausformung zum Weltschmerz. Die Weltschmerzthematik, als konventionelle eingeübt und dann der gute Ton zur mediokren Passivität, sie ward von Baumgarten aus der ursprünglichen und da noch echten religiösen Sichtweise herausgelöst. Die Metaphysik sub specie futuri, in der sie Baumgarten auflöst, sie ist erst dann das Totum des Altruismus. Als solches spricht sie nicht religiös die Eitelkeit alles Irdischen aus, aber doch die Relativität der hohen Ziele in der Zeit. Sie verlieren nicht ihre Schönheit, nicht ihre Bitterkeit, sie gewinnen die Würde ihrer Zeitlichkeit.231

231 Rilkes Abgesang aufs Absolute sollte den Weltschmerz-Gestus bewahren: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme / einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem / stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“ „Ach, wen vermögen / wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, / und die findigen Tiere merken es schon, / dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt.“ (R. M. Rilke, Duineser Elegien, Die erste Elegie, in: ders., Werke in drei Bänden, a. a. O., S. 579)

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Wie der englische Empirismus, gründete Baumgarten seine Moralphilosophie ebenfalls auf der Psychologie. Er ging nicht mehr von der Assoziationspsychologie und deren Charakterologie aus, sondern von den Richtungen der Psychoanalyse und der Gestaltpsychologie. Seine Ansatzpunkte waren das Unbewusste und dessen unreflektierte Bündelungen von Wahrnehmungen und Erinnerungen. Er überschritt die einfache Ebene sozialer Mechanik der Individualethik, der den Zusatz der Sympathiegefühle erhalten hatte. In der methodischen Rekonstruktion tritt bei ihm der sozial-kooperative Aspekt der Handlungsteleologie hinzu. Baumgarten ergaben sich zwei Prämissen für eine neue sensualistische Moralphilosophie. Die erste besagte: Das menschliche Verhalten ist von vornherein sozial, da die Individuen einander ständig, und nur zum Teil bemerkt, mit psychischen Einwirkungen durchdringen. Die zweite schlussfolgerte daraus die Tendenz einer sich immer erweiternden geistigen Einheit der Menschheit. Baumgarten setzte – sehr von Bergson beeindruckt – bei infinitesimalen, permanent fließenden Eindrücken zwischen den Individuen an. Der „Andere“ war dadurch im Einen, der zugleich der andere „Andere“ war, immer schon präsent. Das klassische Thema der sog. goldenen Regel fand sich aufgelöst. Wir behandeln den Anderen schon darum nach einer Norm, die wir auf uns selbst anzuwenden bereit sind, weil wir uns mit ihm in fließender unbewusster Verbindung befinden. Das ist die Basis dafür, dass der Standpunkt der Individualität mit einem universellen verbunden werden kann. Dazu treten dann Faktoren, wie etwa Mitgefühl beim Anblick von Leid bis hin zu rationellen Überlegungen über den sozialen Wert von Gerechtigkeit. Der relationale Ausgangspunkt rückte einen Strom psychischer Wechselwirkungen und damit den sozialen Gehalt der Moral in den Blick. Die infinitesimalen und permanenten Perzeptionen ließen die Strukturen als Prozesse erfassen. Die einzelnen „Tugenden“, bzw. „Laster“ wurden aus der Substanzhaftigkeit von „Werten“ herausgelöst und erschienen als Bewegungen von Fließgleichgewichten. In dieser funktionalen Auffassung der Moral und des Rechts besteht wohl überhaupt die beste Leistung Baumgartens für die Methodik des sensualistischen Empirismus. Der soziale Gehalt der Moralität tritt nicht mehr äußerlich zu einer fixierten moralischen Individualität mit bestimmten Charakterzügen hinzu. Die das moralische Bewusstsein auszeichnende starke Ergriffenheit von Grundsätzen vollzieht sich durch Summierungen kleinster suggestiver Wahrnehmungen. Das ist an den Kindheits- und Adoleszenzphasen der Entwicklung von Gemeinschaftserlebnissen und Gewohnheiten untersucht worden. Der sensualistische funktionale Ansatz Baumgartens bei den ständigen kleinen psychischen Durchdringungen der Individuen ließ auch den vielverhandelten Gegensatz von Selbstbezogenheit und Altruismus als Schematisierung zurück. Von weitem soziologischem Ausgangspunkt her kann die Gegenüberstellung sinnvoll sein. Doch im methodischen Aufbau der Moralität wechseln Elemente beider Grenzbegriffe die Stelle oder vermengen und überlagern sich. Auf den Einwand, wie sehr die Menschen doch egoistischen Interessen folgten, stellte Baumgarten gern die Gegenfragen: Wie kommt es, dass sie es mit schlechtem Gewissen tun? Und warum wohl verschafft eine altruistische Handlung größere moralische Befriedigung als eine selbstbezogene? Also sei etwas angelegt in uns, dem aufzuhelfen sei. Baumgarten begründete die Moralthematik nicht auf fixen Antrieben und nicht auf Pflichtgeboten, sondern auf einer ursprünglichen Relation.

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Analytisch elementar sei das Verhältnis zwischen Selbstinteresse und Wohlwollen für den Anderen. So sei etwa ein „natürlicher Gerechtigkeitssinn“ das Korrelat des Individualegoismus.232 Damit war der simplifizierenden Durchführung des Eudämonismus vom diffusen Lustbegriff her vorgebeugt. Baumgartens perspektivische historische Auffassung der Moral ergab sich zwanglos. In den psychischen Wechselbeziehungen spiegeln sich die Individuen nicht nur. Sie durchdringen einander. Das erklärt die Bindekräfte verschiedener Art. Es erklärt auch die haftende Kraft von Traditionen und deren Druck auf die Personen. Zugleich sah Baumgarten eine durchgehende Tendenz sich ausweitender psychischer Durchdringungen. Die moralischen Prozesse würden wie alle ökonomischen, verfassungsrechtlichen, religiösen usf. Prozesse vom unendlich Kleinen in universalisierender Richtung der Allheit verlaufen. Das sei im religiösen Unsterblichkeitsgedanken vorausgebildet gewesen. Die geistige Beziehung zwischen den als Vereinzelte agierenden und sich verstehenden Individuen spannte sich von den Minima der Verbindungen im Unbewussten zum universalen Maximum einer realisierten Metaphysik des einen Geistes der Menschheit in Kooperation und Solidarität. Die Psychoanalyse der unbewussten und unerfüllten Aktivität bildete die empirisch-psychologische Grundlage dieser Metaphysik des Menschen in der Zeit. Baumgarten setzte den Altruismus beim Unbewussten an und führte ihn bis zur ideellen unsterblichen Person, die sich in jedem empirischen Menschen manifestiere. Die Ausprägung des Altruismus bilde darum auch, wie bereits Comte und Spencer gelehrt hatten, die Tendenz der zivilisatorischen Entwicklung. Da Baumgarten echt empiristisch nicht das Einzelne aus fertigen Komplexen deduzierte, sondern die sichtbaren Erscheinungen aus der Ansammlung elementarer psychischer Prozesse erklärte, trat hier der Pluralismus dieses Empirismus zu Tage. Der pragmatistische Pluralismusbegriff bedeutete einen Prozess mit der Tendenz zur ausgleichenden Beziehung zwischen unterschiedlichen Elementen, also ein Vorgang, der sich nicht in linearer Summenbildung erschöpfe. Es war bei James eine Fortbildung des Spencerschen Entwicklungsgesetzes der Bewegung der Elemente von einer unbestimmten und unzusammenhängenden Gleichartigkeit zu bestimmter und zusammenhängender Ungleichartigkeit. Die Zukunft beginnt für den Pluralismus des Konkreten in der Gegenwart und wird experimentierend vollzogen. Ganzheiten, wie Nationalcharaktere, Geist einer Religion, Werte eines Kulturkreises, Ehre eines Volkes usf., eignen sich auf Grund des partiell alogischen Gehalts von Wertsetzungen für Missbrauch gegen Toleranz und erschweren die kritische Reflexion eigener Traditionen. Rational beobachtbar sind für den Sensualismus nur die Bewegungen auf der offenen Skala zwischen Individualität und Universalität der Menschheit. Die organologischen sozialethischen Theoreme, die in Baumgartens Zeit noch eine große Rolle spielten, vor allem in der militaristischen Ideologie, sah Baumgarten als eine der zentralen konservativen Symbolbildungen. Er setzte gegen die behaupteten Wesensunterschiede zwischen Völkern, Rassen oder Religionen, wir würden heute hinzufügen: zwischen „islamistischem“ Orient und „Abendland“, die Auflösung der Gegensätze in eine Vielzahl unterschiedlicher Tendenzen. Als solche er-

232 Der Weg, S. 421, 440f.

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kannt, sind sie vermittelbar. In diesem genauen Sinne ist der Pragmatismus ein Pluralismus. Baumgartens eudämonistisches Handlungsprinzip in der Skala vom unbewussten zum logisch distinkten Geist ist ersichtlich keine simple utilitaristische Glücksmoral. Dieser Eudämonismus denkt den Menschen dynamisch, also unfertig und mit ungestilltem Gewissen seiner möglichen besseren Entscheidungen. Es gibt keine Moral ohne schlechtes Gewissen. Des Menschen Aktivität zielt also auf die Verwirklichung eines höheren Zustands des Einzelnen und Aller als des gegebenen. „Wenn die tiefste Einsicht darin zu suchen ist, dass die sich spaltende Einheit in einer höhern Synthese wieder zusammengeschlossen wird, so liegt nahe, dass aus der ungeschiedenen Gemeinschaft des Wohls und Wehe der Egoismus des Einzelwesens sich herauslöst, um dann im Altruismus verwandelt die Interessengemeinschaft in einem höhern Sinne wiederherzustellen.“233 Moralität zielt als Willensbestimmung des Handelns auf die Vermittlung der einzelnen Akte mit der Gesamtheit meiner Handlungen und weiter der individuellen Motivation mit einem unklar und doch unabweisbar vorgestellten Gesamtzweck von Kreisen des Zusammenlebens der Menschen. Die Richtung des Fortschritts ergibt sich aus dem Leben in der Antinomik von Einzelwesen und Menschheit. Schopenhauers Tragik der Endlichkeit der Individualität wurde von Baumgarten in den Anspruch des individuellen Handelns umgewandelt, sich als ein Allgemeines zu repräsentieren. Die Grundlinie des Fortschritts werde darum in der zunehmenden Vermittlung partikularer Gruppen-Interessen bestehen. Baumgartens Fazit lautete, der Altruismus, besser gesagt, eine Moral universaler Solidarität, werde unser Handeln in einer kommenden Kultur bestimmen.234 Baumgartens Eudämonismus war die Begründungsvoraussetzung für ein sich erneuerndes soziales Zusammenleben. Der Jurist gab die optimistische Wesensart aufgeschlossener und aktiver Menschen zu erkennen, weil die durchgehende Geistbewegung vom Unbewussten aufwärts zugleich eine Ausdehnung ins Objektive nach außen bedeute. Den Wert von Reformen in Richtung zur Sozialisierung der Großindustrie sah Baumgarten in der Entfaltung des Gemeinsinns: und „dann wird ein großer Strom des Solidaritätsgefühls die Menschheit durchfluten“.235 Solche Hoffnung leitete sein Wirken und Warten in der DDR. Das Glücksverlangen ziele auf Kommunikation freier Willen und deren Entwürfe von Gemeinsamkeiten. Das sog. Gute in einem gelingenden Leben konzentrierte sich in Baumgartens Sensualismus auf die Willensaktivität in kommunikativen Verhaltensweisen. Baumgartens Metaphysik des sich ausbildenden Altruismus bedeutete: Wenn nicht in der gegebenen Form einer solidarisch-sozialistischen Gesellschaft, so werde die Menschheit in der experimentellen Existenz ihrer Geschichtlichkeit eine neue versuchen.

233 Recht I, S. 64. 234 Zur Scheinfrage sog. egoistischer oder altruistischer Veranlagung des Menschen mit lapidarer Selbstverständlichkeit: „Nur sehe ich diese Anlage nicht als wesentlich schlecht, sondern als wesentlich gut an. Sie haben alle das Vermögen, den Egoismus, den ethischen Solipsismus, der mit der Individuation untrennbar verbunden ist, allmählich zu überwinden.“ (Der Weg, S. 259) 235 Der Weg, S. 260.

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f) Altruismus: Smith, Spencer, Psychoanalyse, Tarde Baumgarten fasste das Moralproblem als die Frage nach den Alternativen guten oder schlechten Handelns sowohl für die Konstanz der Person als auch für deren sozial integrierende Aktivität. Den eigentlichen Punkt sah er in der Verbindung der beiden Aspekte. Das schloss für ihn im Gang seines Denkens zunehmend die Frage nach den realen Bedingungen ein, wie den Individuen aller sozialen Schichten gleiche Möglichkeiten selbstbestimmter Integration geschaffen werden könnten. Nicht nur unter geschichtlichen Erfahrungen, sehr wesentlich innerhalb seiner ganz und gar verhaltenspraktisch orientierten Moraltheorie wandelte sich Baumgartens Liberalismus. Der Liberalismus bedurfte von je her des festen moralischen Gerüsts, da er als anthropologisch immanent begründende Sozialtheorie die traditionalistischen stammesgeschichtlichen, absolutistischen, religiösen Begründungen des sozialen Verbands zurückließ und also deren getrennte Leistungen synthetisieren musste. Die Konzentration der ethischen Fragestellung aufs Verhältnis von Individualismus und Altruismus hatte sich aus der Ablösung der Anthropologie von der religiösen Idee der geschöpflichen Gottesgemeinschaft ergeben, deren Einzugsbereich sich allerdings nur auf die Glaubens-, genauer auf die Konfessionsbrüder erstreckt hatte. Die Bürger- und Menschenrechte und insbesondere die sozialrechtliche Integration der lohnabhängigen Schichten bildeten die Grundlage, auf der dann auch von der Moralphilosophie neue Gleichheits- und Solidaritätspostulate entworfen wurden. Synthesen von rechtlichen und moralischen Handlungsnormen erweiterten die Gefühlsmoral durch die Aufnahme intellektualistischer Begründungselemente. Das verbesserte die theoretische Durchführung der eigentlichen Intention des Sensualismus: Verteidigung des Gleichheitsanspruchs und Bewahrung der Individuen vor Zugriffen der sozialen oder administrativen Hierarchie. Die allgemeine begriffliche Basis bildete auch bei Baumgarten ein Sollensbegriff, der aus dem Telos der willensgeführten Handlung als des Orts der Lustgewinnung überhaupt hervorging.236 Das wirkliche Moralproblem setzt freilich erst bei der Vermittlung des zunächst ganz naturalistischen Selbstbezugs des Individuums mit „der Lust“ anderer Individuen ein. Das war den Theoretikern des Sensualismus immer bewusst gewesen. Der Eudämonismus gewann bereits in A. Smith’ Theory of moral sentiments (1759)237 dadurch seinen theoretisch forttragenden Gehalt, dass er die Lust als Lebensglück und das Verlangen danach als vielschichtigen sozialen Vorgang zu behandeln suchte. Mehr noch hatte Helvétius mit seiner französischen Prägung der sensualistischen Anthropologie das Verlangen (envie) als Freude und Genuss (jouissance) aus der Ästhetik der schönen Erscheinung und des kultivierten Umgangs entwickelt. Bei Baumgarten blieben die elementaren Begriffe des Eudämonismus auf236 „Die Beziehung zum Sollen ist dadurch gegeben, dass Lust begehrt und Unlust geflohen wird und daher die Kenntnis besagter Zusammenhänge die Erfüllung von Sollensvorschriften ermöglicht.“ (Recht I, S. 38) 237 Dt.: A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, 2. Bde., Leipzig 1926; Baumgarten über den SmithEinfluss auf seine Moralphilosophie in: Philosophiegeschichte, S. 429f.

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fallend nüchtern. Er konzentrierte sich auf den jedem Individuum gleichermaßen eigenen moralischen Anspruch. Das richtete sich gegen sozial bedingte Zurücksetzung der moralischen Person. Sie besitzt für den Sensualismus eigene Integrität. Baumgarten verstand den moralischen Sensualismus als Grundlage seiner liberalen Rechts- und Staatsauffassung. Hier bot ein durchdachter Sensualismus nicht ausräumbare Grundlagen des Rechtsliberalismus und war darum in der deutschen Moralphilosophie der Zeit zurückgesetzt worden. Ohne Frage blieb die soziale Fragestellung in der eingeschränkten Form der Moral-Problematik mit Schwierigkeiten behaftet. Dehnungen der Thematik wurden erforderlich, um Verhältnisbestimmungen an den materialen Bestand von Anlagen und Interessen heranbringen und die gesellschaftstheoretische Fragestellung erreichen zu können. Der zentrale Übergangsschritt erfolgte beim Sensualismus über die Altruismus-Thematik. Mit ihr wurde auf rudimentäre Weise die soziale Relation, wenn man will, die sog. Intersubjektivität, aufgenommen. Das geschah gleichsam indirekt, weil die gesamte Gedankenentwicklung in verschiedenen Stufen materialer Theoriebildung erfolgte. Die logische Formbestimmung der Thematik trat zurück. Die theoretisch unbefriedigenden Aspekte zeigte auch Baumgartens Moralphilosophie. Man kann die Intention und die theoretischen Schwierigkeiten am besten beim klassischen Theoretiker des gefühlshaften Altruismus erkennen. A. Smith (1723 – 1790) hatte neben die Selbstwertgefühle die Sympathiegefühle gesetzt. Das bleibt eigentlich vor dem moralphilosophischen Horizont, da es in die psychologische Wissenschaft gehört. Der im Grunde naturalistische Ausgangspunkt bedingte bei der methodischen Durchführung des Konzepts den gehemmten Fortgang über die Einführung immer neuer substantialer Faktoren im Subjekt. Die sensualistische Anthropologie erforderte ergänzende Bestimmungen, um vom Lustbegriff zu einer geschlossenen Theorie der von religiöser Sündenangst freien Vergesellschaftung zu gelangen. Als Mittelbegriff, über den das vorgenommen wurde, diente der Glücksbegriff. Damit ward die LustUnlust-Alternative zu einem Gefühlsganzen verbunden. Es deutete noch die Herkunft aus der Leitidee des natürlichen Menschen an und sollte doch den Weg zu einem Subjektbegriff öffnen, der gesellschaftliche Verhaltensweisen innerhalb des Feldes psychischer Anlagen herzuleiten gestattete. In den Skalen von Glücks- und Missfallensempfindungen, die Smith wie zuvor Locke aufstellte, spielte die Störung des Glücksgefühls durch die Wahrnehmung fremden Leids eine wichtige Rolle. Das ergab einen sekundären Glücksantrieb des Sympathiegefühls, den Mitmenschen einzubeziehen. Baumgartens Strafrechtsauffassung der Schuldstrafe basierte auf dem Gedanken, beim Täter durch die Einsicht, dass er dem Opfer Leid zugefügt habe, ein altruistisches Gefühl zu aktivieren. Smith verstand die Sympathie mit dem Anderen und entsprechend das Mitleid mit dessen Ungemach als Kriterien moralischer Urteilsfähigkeit. Er dachte die Urteile der Anerkennung, bzw. der strafenden Vergeltung als Einfühlung in die Position eines impartial observers, eines unparteiischen Beobachters. Daraus würden sich die Regulative der Gerechtigkeit, der Gleichheit und sogar des Gewissens bilden. Die anthropologische Erklärung des Gewissens hatte einen Schritt der sensualistischen Theorie aufs Feld der kirchlichen Religion bedeutet. Durch konstante Abgleichung der Urteile nach Sympathie oder missbilligender Vergeltung

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bilde sich eine Verinnerlichung, die Smith als das Gewissen verstand.238 Die Psychologie spricht heute von einer konstanten Interiorisierung von Verhaltensakten. Beim Gewissensbegriff hält sie sich zurück. Baumgarten sah in dieser Rodung des moralphilosophischen Themengestrüpps zu Recht das Verdienst der sensualistischen Ethik des 18. Jh.s.239 Baumgartens metaphysischer Begründungsgang erklärt sich auch aus den unbefriedigenden Lösungen des vorangegangen moralphilosophischen Empirismus. Er kannte die enttheologisierte Historisierung der Altruismus-Thematik bei Comte und Spencer. Er folgte deren positivistischem Determinismus nicht und stand auch vor einer weitaus entwickelteren Situation im Hinblick auf die erforderliche sozialstaatliche Umbildung des utilitaristischen Individualismus der bürgerlichen rationalen Wirtschaftsethik. Spencer hatte seine naturgeschichtliche Altruismus-Perspektive geradezu als einen Anpassungsvorgang der Individuen an die systemischen Anforderungen der privatwirtschaftlichen Gesellschaft ausgeführt. Er formulierte das immerhin als Abnahme des menschlichen Elends und als „Anpassung der Menschen an ein friedfertiges soziales Leben“.240 Spencer wies mit jeder absoluten Ethik auch den religiösen transzendenten Vollkommenheitsbegriff ab. Er fasste die Sympathiegefühle, die A. Smith als Grundlage der Gefühlsethik dargestellt hatte, erst wirklich als historischen Faktor, so dass er auch die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jh.s geradezu als einen Übergangszustand bezeichnete.241 Doch der soziale Evolutionismus war von ihm als Sonderfall der biologischen Evolution des Lebens im Ganzen dargestellt worden. Spencer löste das Problem der moralischen Entscheidung in einen naturhistorischen Prozess der Verhaltensoptimierung auf. Ein wesentlicher Kontrast des Baumgartenschen Altruismus-Konzepts zu Spencers Theorie besteht darin, dass Spencer seine Determinierung der sozialen Mentalität durch einen 238 A. Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Bd. I, Teil 3, Kap. 1./2., a. a. O., S. 166-199; vgl. Baumgarten, Philosophiegeschichte, S. 429f. 239 Vgl. A. Baumgarten, Helvétius, in: W. Krauss, H. Mayer (Hg.), Grundpositionen der französischen Aufklärung, a. a. O., S. 3-25. 240 H. Spencer, Die Prinzipien der Ethik, Bd. II, Stuttgart 1895, S. 537, 539. Solange in der Gesellschaft viel Elend vorhanden sei, bringe die altruistische Sympathie mehr Schmerz als Freude und werde darum zurückgedrängt. Mit malthusianischer Gedankenführung setzte Spencer Abnahme des Druckes der Bevölkerung auf die Subsistenzmittel voraus durch Rückgang der Geburtenraten. (Ebd., S. 539) Daraus eröffne sich die Verringerung des verhärtenden Anblicks von Unglück und lasse mit dem Anblick von glücklicheren Mitmenschen den Aufstieg altruistischer Sympathie erwarten. „Diejenigen, deren Sympathien lebendig geworden sind, werden notwendiger Weise je nach Verhältnis schmerzlich berührt, wenn sie Zeugen der von Anderen erduldeten Leiden sind. ... Daher wird das Leben, selbst für die Besseren unter uns in der gegenwärtigen Zeit, durch ein gewisses beständiges Einschränken der Sympathien erträglich gemacht ...“ (Ebd., S. 538) Ein Fall eigenartiger Logik bei industry and thrift, die Verbreitung egoistischer Härte an den Anblick von Elend zu binden, statt das Elend dem Egoismus infolge ungleicher Verteilung des Eigentums entquellen zu sehen. Im umfangreichen Anhang zum zweiten Band seiner Prinzipien der Ethik fasste Spencer die ethischen und die soziologischen Hauptpunkte seiner Moralphilosophie zusammen. 241 Ebd., S. 520.

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naturhistorischen Assimilierungsprozess mit einer elitären Spaltung der Menschen in höhere und niedere Naturen verbunden hatte. Das sollte sich im systemischen Konsolidierungsprozess nicht ausgleichen, sondern als anthropologische Größe der Evolution wirken und erhalten bleiben. Um die Jahrhundertwende waren substantielle Veränderungen des positivistischen Empirismus eingetreten. Solche Fortbildungen stellten der Pragmatismus (Peirce, Schiller, James) dar, in der deutschen Variante die Philosophie des Als-Ob H. Vaihingers (1852 – 1933)242, ebenso der Empiriokritizismus (Avenarius, Mach), und dessen Übergang zum logischen Positivismus durch den Avenarius-Schüler J. Petzoldt (1862 – 1929) mit der Zeitschrift Annalen der Philosophie und deren Nachfolgeorgan Erkenntnis (1930 – 1939, dann fortgeführt durch das Journal of Unified Science) und durch den späteren logischen Empirismus (Schlick, Carnap, Russell, in Berlin H. Reichenbach). Baumgarten sah diese Konstellation des Sensualismus im Resultat von dessen positivistischem Siegeszug in der ersten Entfaltungsperiode der europäischen Industriegesellschaften während des 19. Jh.s. Er zog daraus die Schlussfolgerung, die sensualistische Moral- und Rechtsphilosophie enger miteinander zu verbinden. Das sollte die Freiheitsgehalte beider Sphären bewahren, indem vor allem der autoritäre Gehalt der Gesetzgebung und der Rechtssprechung nahe bei den moralischen Kriterien wechselseitiger Verantwortung der Rechtsgenossen gehalten wurde. Neue Umbildungen und Systematisierungen des bei psychologischer Orientierung ursprünglich nominalistischen und phänomenologischen Sensualismus, wie sie vor Baumgarten zwischen den Grenzen von Psychologie und Philosophie früh schon G. T. Fechner (1801 – 1887), später W. Wundt, Husserl und Scheler und schließlich die Gestaltpsychologie begonnen hatten, zielten über die weiten Gestaltungsspielräume des Phänomenalismus auf Bewusstseins- und Verhaltensaspekte des Subjekts mit Begriffen vom Lebensganzen. Wundt hatte seine frühe Auffassung von experimenteller Psychologie geradezu mit einer Metaphysik auf empirischer Grundlage verbunden.243 K. Koffkas (1886 – 1941) Darstellung der sog. alten und neuen Psychologie und der Vermittlung von erklärender und verstehender Psychologie gab einen guten Rückblick auf die Umgestaltungen der positivistischen Wissenschaftsauffassung und Philosophie.244 Die Erweiterungen des positivistischen Kulturprogramms durch eine sog. Erfahrungswissenschaftliche Metaphysik, wie auch Baumgarten es nannte, sollten das mögliche soziale und militärische Abkippen des wie abenteuerlich empfundenen Rausches der Industrialisierung, der mit einer ungekannten Ausdehnung materieller Macht der Staaten einherging, ideell einfangen. So entstand direkt aus dem enzyklopädisch resumierenden Erbe

242 H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Berlin 1911. 243 W. Wundt, Sinnliche und übersinnliche Welt, Leipzig 1914. 244 K. Koffka, Psychologie, in: M. Dessoir (Hg.), Lehrbuch der Philosophie. Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin 1925, S. 493-603.

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des Positivismus das Bewusstsein, ein neues Zeitalter philosophischer Konzentration bis hin zu metaphysischer Zusammenfassung sei erforderlich.245 Der Gegensatz einer sog. realistischen oder idealistischen Interpretation des Sensualismus führte in der neu aufbrechenden Methodendiskussion um das Wahrnehmungsund das Fiktionselement empirisch basierter Erkenntnis bei Mach oder Poincaré, in Bezug auf die Kulturwissenschaften bei M. Weber oder Lamprecht, zu ganz unterschiedlichen Positionen. Dazu kamen neue intuitivistische Wahrnehmungs- und Selbstbewusstseinstheorien (Bergson, Freud), die das Unbewusste als wesentlichen Bereich in den sensualistischen Subjektbegriff einführten. Sie erneuerten damit zugleich auf fachwissenschaftlich verfeinertem Niveau die alte Crux des Sensualismus: die Tendenz zu naturalistischer Triebpsychologie und Triebsoziologie. Daraus nährten sich neue Rassentheorien (Gobineau, Nietzsche, Chamberlain, Scheman). Mit den sozialen Umgestaltungen der kapitalistischen Industriegesellschaften enthüllte der Sensualismus nun auch die Möglichkeit, über bodenständigen Naturalismus Zivilisationskritik mit antiliberalem Gehalt zu begründen. F. Ratzel (1844 – 1904) begründete die Anthropogeographie und die Geopolitik, ohne selbst bereits die daran anschließenden herrschaftspolitischen Schemata des aggressiven Nationalismus zu vertreten, die Baumgarten mit seinem philosophischen Gegenentwurf während des Weltkriegs zurückwies.246 Baumgartens eudämonistische Moralphilosophie bewahrte vieles von der ursprünglichen psychologischen Morallehre des Empirismus (Bentham, J. St. Mill, Tarde), gegen die die positivistischen Theorien (Comte, Spencer, Durkheim, Lévy-Bruhl) im Jahrhundert der Industrialisierung und der entstehenden Massengesellschaften die Moralsoziologie entwickelt hatten. Er nahm moralsoziologische Fragen kaum auf und suchte auch keinen Zugang zur Sozialpsychologie der Zeit. Aber er sah natürlich, dass die psychologische Fragestellung für eine Moralphilosophie des 20. Jh.s über die individualpsychologische Basis hinausgreifen musste. Er richtete seine Moralphilosophie ebenfalls, wie es Thomas Mann 1930 von seinem Werk gesagt hatte, gegen „eine Welt, die von wilden Entschlossenheiten, von blutigen Extremen der Entschlossenheit zerrissen ist.“247 Gerade darum vermied Baumgarten den Schritt zur Soziologie der Moral. Er

245 M. Schelers materiale Ethik mit der spekulativen Uminterpretation des alten sensualistischen Begriffs der Sympathiegefühle und Schelers kosmisch orientierte Weltanschauung verkörperten den neuen Anspruch ebenso wie Ernst Blochs frühe Mystik der Innerlichkeit in dem frühen Programm „Die Innerlichkeit“ (Ernst Bloch, Die Innerlichkeit, in: Franz Blei (Hg.), Summa. Eine Vierteljahresschrift. Drittes Viertel, Hellerau 1918, S. 42-66). Man kann die philosophische Übergangssituation der Jahrhundertwende gut an einer ganz nüchternen späteren Zusammenfassung in einer Abhandlung erkennen, die E. Becher 1925 veröffentlichte: E. Becher „Erkenntnistheorie und Metaphysik“, in: M. Dessoir (Hg.), Lehrbuch der Philosophie. Die Philosophie in ihren Einzelgebieten, Berlin 1925, S. 301-396. Becher zeigte wie Baumgarten die Metaphysik als den methodischen Übergang von der Psychologie der seelischen Energien zum unbewussten Seelischen im Lebenshandeln und von diesem zum überindividuellen Seelischen. 246 F. Ratzel (1844 – 1904), Politische Geographie, 1891, ³1923. 247 T. Mann, Bürgerlichkeit, in: ders., Über mich selbst. Autobiographische Schriften, Frankfurt/M. 1994, S. 376.

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ging hier bis zu juristischen Analogien, aber nicht weiter. An Smith’ Eudämonismus der Sympathiegefühle schätzte er, sie seien Ausdruck eines „inneren Gebotes, demzufolge wir wie ein unparteiischer Richter in einem Konflikt der Interessen, mag auch das liebe Ich an ihm beteiligt sein, jedem das Seine zuzusprechen haben“.248 Baumgartens wichtigste Erneuerung der sensualistischen Moralphilosophie ergab sich aus dessen Aufnahme der außerordentlichen Entdeckung Freuds: der Theorie des Unbewussten. Es war ja ein Leibnizsches Element der schlafenden und träumenden Monaden, das hier – nun ohne Leibniz’ harmonisierende Auffassung – der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie zugeführt wurde. Freud selbst hatte in der Theorie des weiten Feldes unterhalb des Selbstbewusstseins, des traditionellen ideellen Fixpunktes des philosophischen Selbstverständnisses, auf dem verdrängte oder einfach abgesunkene Strebungen und Erfahrungen siedeln, eine Verbindung der Tiefenpsychologie mit den Kultur- und Sozialwissenschaften gesehen. Für die Erklärung der großen Institutionen der Kunst, der Religion und der Gesellschaftsordnung sei die Psychologie des Unbewussten und seien die Wechselbeziehungen der Systeme des Unbewussten, des Vorbewussten und des Bewussten ein methodischer Schlüssel.249 Baumgarten suchte mit Hilfe der Theorie des Unbewussten, von der Subjektbindung des Empirismus ins Objektive zivilisatorischer Prozesse zu gelangen. Der Mensch wird als erwartendes Wesen gesehen, das sich aufschließen und seine Entwürfe verwirklichen will. Nur das Unbewusste, sagte Freud, sei rein egoistisch. Mit dem Übergang zum Vorbewussten und Bewussten träten die sozialen Einstellungen hinzu. Freud gab dem Empirismus den Stachel des ewig Unbefriedigten unserer Sinnlichkeit und einer permanenten Zensur, die das Individuum durch seine reflektierende Psyche gegen seine Bedürfnisse ausübe. Das präzisierte die sensualistische Moralphilosophie. Der Freudsche dramatische Empirismus entfernte die Moralthematik weit von einer wohlgelittenen Wertphilosophie. Baumgarten sah darin den Realismus, einen „Pluralismus im handelnden Subjekt“ einführen,250 mit dem die exzessive Widersprüchlichkeit seiner Epoche moraltheoretisch aufgenommen werden könne. Ohne den Begriff des Unbewussten war eine materiale Glücksethik im 20. Jh. nicht mehr durchzuführen, die doch nur als Gegenstück zur marktgesteuerten Bedürfnisorganisation dem Anspruch philosophischer Theoriebildung genügen kann. Zum pluralistischen Charakter des Individuums gehöre, dass es „im Unterbewusstsein mit andern Individuen und schließlich mit dem universellen Geist in Zusammenhang steht“. Baumgarten verband mit der Psychologie des Unbewussten seine „These vom überindividuellen Substrat der historischen Prozesse“.251 Das Unbewusste kehrte in diesem Zusammenhang als ein antiautoritäres Element wieder. Mit fixen Postulaten anzuheben, erschien ihm als fachinterne Denkweise, so etwa die Auffassung des

248 Der Weg, S. 244. 249 Vgl. S. Freud, Die Frage der Laienanalyse, in: ders., Psycho-Analysis, in: ders., Werke, Bd. 14, Frankfurt/M. 1948, S. 305ff. 250 Der Weg, § 13. 251 Der Weg, S. 240, 251. Der Weg des Menschen enthält einen Exkurs zur Funktion des Unbewussten in der Philosophie (§ 15, S. 261-273).

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moralischen Verhaltens als eines Diskurses mit bestimmten Prämissen.252 Seine ganze Sozialtheorie, die er unterm antidogmatischen Thema des „Pluralismus der Subjekte“ begründete, basiert auf dem unbewussten, bzw. auch auf den ins Unbewusste absinkenden Tätigkeiten, die aufeinander eingespielt seien. Baumgarten richtete das gegen die Verselbstständigung von Verbänden und Institutionen zu objektiven Gesamtpersönlichkeiten in der juristischen und soziologischen Literatur (v. Gierke, Durkheim, Hauriou). Aus der Tatsache, dass solche Institutionen nicht vom bewussten Individuum her zu erklären seien, wären die transpersonalen entstanden. Das bilde „eine der geheimen Quellen jener des Menschen unwürdigen Staatsvergötterung“.253 In einer knappen Abhandlung „Die Psychologie des Staates“ von 1938 finden sich die faschismuskritischen Resultate der Beziehung zwischen Unbewusstem und Moral dargestellt.254 Baumgarten verwandte den Begriff des Unbewussten zu methodischer Rückführung moralischer „Werte“ zu beweglichen, aufklärbaren unbewussten Assoziationen und Gestaltbildungen. Ohne diesen sensualistischen Begriff des Unbewussten, z. B. im alltagspraktischen suggestiven Glauben, sei das Irrationale von Massenentscheidungen und sei die Methodik konservativer Politik nicht bekämpfen. Ernst Blochs Analyse des Erfolgs der konservativen Fronde in dessen Erbschaft dieser Zeit (1935) hatte das ebenfalls gezeigt. Baumgartens Pluralismus verband Skepsis gegenüber unbedingten Lösungen mit starker Überzeugung von einem moralischen Aufstieg der Menschheit. Baumgarten hielt an einer psychologischen Begründung der Moral fest, weil er nicht nur die soziale Kooperation handlungstheoretisch und darin von der Emotionalität her fasste, sondern weil er mit dem Begriff des fühlenden Menschen überhaupt eine perspektivische, nicht juristisch und politisch eingegrenzte Sicht der zivilisatorischen Prozesse geben wollte. Den elementaren Bereich der alltagspraktischen Moral mit Gewohnheitsbildung und traditionsgebundenem Verhalten beschrieb Baumgarten ähnlich wie Gabriel Tarde (1843 – 1904), der eine psychologische Soziologie und Moraltheorie vertreten hatte, übrigens wie Baumgarten Jurist war und strafrechtliche und andere juristische Schriften verfasst hatte.255 Tarde erklärte die sozialen Prozesse von der Psychologie der Wiederholung und der Nachahmung als einer sich erweiternden Anpassung aus. Die Nachahmung ordnete er zu einem Gesetz der Bestätigung und Festigung von Eigenschaften durch Wiederholung. Tarde verstand die Nachahmung als ein schöpferisches Prinzip. Sie sollte erklären, wie Sitten, Religionen, soziale Einrichtungen usf. aus kleinen unmerklichen Veränderungen entstehen. Alle Neuerungen, wie Erfindungen, Gesetzgebungen, schöpferische künstlerische Leistungen, religiöse Lehren, gewännen nur Gehalt und Realität 252 Baumgarten würde nicht zustimmen wollen: dass „die Teilnehmer nicht einfach ihre Interessen zur Geltung bringen können, sondern dass sie in ihrem Diskurs schon von der Idee der Unparteilichkeit ausgehen müssen; diese Idee ist nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung eines solchen Diskurses.“ (E. Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 119) 253 Ebd., S. 256. 254 Ebd., S. 254. Vgl. A. Baumgarten, Psychologie des Staates, in: E. J. Gumbel (Hg.), Freie Wissenschaft, Strasbourg 1938, S. 141-155. 255 Baumgarten zu G. Tarde: Der Weg, S. 209f.

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aus psychischen Eindrücken von Haltungen, Handlungen, Verfahren, die Nachahmungen erzeugten.256 Die Frage blieb, wodurch die Neuerungen entstehen, die die Nachahmungen hervorrufen. Das wurde auch durch Tardes vollständige Tafel der sozialen Grundgesetze – Nachahmung, Gegensatz, Anpassung – nicht beantwortet. Baumgarten ging mit seinem Begriff der Emotionalität für die psychologische Grundlegung der Moralphilosophie über Tardes Sozialpsychologie der Ausprägung relativ stabiler Überzeugungen und Institutionen hinaus. Der ihn interessierende Punkt bestand darin, dass „jede bewusste Assoziation eine Annäherung im Unterbewusstsein zur Folge hat und den Boden für die Herrschaft eines universell menschlichen Solidaritätsgefühls bereitet.“257 4. Natur und Geschichte a) Empirismus und Systemphilosophie Baumgarten verfasste keine aparte Naturphilosophie und ebenso keine Geschichtsphilosophie. Das ergab sich aus der offenen Problemstruktur des Pragmatismus. Deweys Erfahrung und Natur (1929, dt.: 1955) zeigte das ebenso. Es entsprach überhaupt der positivistischen Themengliederung, die schon Mill, Spencer und auch Mach befolgt hatten. Das Systemprinzip geriet infolge der rascheren Bewegungen aller theoretischen und praktischen Lebensfelder am Ende des 19. Jh.s in Erosion. Auch die Phänomenologen, die existenzialphilosophischen Richtungen, die philosophischen Anthropologien gingen nicht systembildend vor, aber sie suchten einen substantialen Anfangspunkt. Die strikte Systembildung wurde eigentlich nur von den Philosophien mit ontologischer Grundlegung fortgeführt (N. Hartmann, H. Mayer, G. Jacoby, die Richtungen der katholischen Ontologie bei C. Nink, H. Meyer u. a.). Ausgangspunkt ist der Begriff des Seins, auf den die Schichtungen aufgetragen werden. Der Pragmatismus gliedert durch 256 G. Tarde, Les lois sociales, 1899. „Diese bis ins Kleinste sich erstreckende Übereinstimmung des Denkens und Wollens ... ist die auf Suggestion beruhende Nachahmung, die von dem Erfinder einer Idee oder einer Handlung ausgehend, sein Beispiel weiter und weiter verbreitet hat.“ „Ich behaupte nun, dass die Wechselbeziehung dieser beiden Personen der einzige und notwendige Grundstock des sozialen Lebens ist, und dass sie ursprünglich stets in einer Nachahmung der einen dieser beiden Personen durch die andere besteht.“ (G. Tarde, Das soziale Gesetz, Leipzig 1904, S. 20) Tardes psychologische Grundlegung der Soziologie bildet eine wenig beachtete Quelle der mit Aufsehen umgebenen Machttheorie M. Foucaults. Tarde ging von den unmerklichen Infinitesimalen der Wiederholungen von Eindrücken aus. Systemische Strukturen, so Kooperationen, Rangordnungen usf., kristallisieren um die Ausprägung innerer Bereitschaft. Tardes psychologische Erklärung richtete sich gegen Gewalttheorien und überhaupt gegen das Erklären aus partikularen äußeren Ereignissen. Foucault nahm das auf mit seinem Gedanken, dass die verschiedenen Erscheinungsweisen von Macht hervorgegangen seien aus der Öffnung einer auf Verinnerlichung von Geboten wirkenden sog. Pastoralmacht. Von dieser her streute er seinen diffusen Machtbegriff auf ökonomische, politische, familiäre, pädagogische, sexuelle usf. usf. „Macht“ aus. Hier dient die Psychologisierung moralischer und sozialer Thematik deren Verblassen. Es ist ein Verfahren, das nur in der analogisierenden ästhetischen Darstellungsweise Frucht trägt. 257 Der Weg, S. 260.

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Themenreihung. Der Vorteil liegt auf der Hand. Der Bezug der philosophischen Sichtweise auf reale Verhaltensoptionen bleibt gewahrt. Veränderungen der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Problemsituationen können undogmatisch behandelt werden. Der Pragmatismus setzt bei erfahrungsgeleiteten, alltagspraktischen Verhaltensweisen an und sucht aus der Beziehung zwischen Handeln und Denken Umrisse einer sensualistischen Handlungstheorie zu gewinnen. Das ergibt eine zweite Verhaltensebene im funktionalen sozialen Bezug. Von ihr starten die immer hypothetischen Erkundungen der kulturellen Felder. Im phänomenologisch-genetischen Aufbau seiner moralisch-praktischen, immer verständigungs-, nicht nur verstehensorientierten Themenstellung treten natur- und geschichtsphilosophische Probleme mit den jeweiligen Fragestellungen ein. Bei Baumgarten sind die Konsequenzen des pragmatistischen Phänomenalismus gut zu erkennen. Es gibt folgerichtig keine geschlossene Philosophie „der Natur“, sondern gemäß dem reduzierten Systematisierungsanspruch philosophische Aspekte der mathematischen Naturwissenschaften, damals vornehmlich auf die nichtorganische Natur bezogen, und solche Gesichtspunkte in den biologischen Wissenschaften. Innerhalb dieser setzte er die naturphilosophischen Aspekte der Anthropologie an, und zwar anhand der psychoanalytischen Theorien des Unbewussten. Das führt auf die Philosophie der Geschichte. Die aufschlüsselnde, perspektivische Behandlung natur- und geschichtsphilosophischer Probleme verringert nicht die Sonderung von Fachwissenschaften und Philosophie, sondern verstärkt sie. Die eigenen Problemhorizonte der Disziplinen werden respektiert. Da nicht von ontologischen Kategorienschichtungen ausgegangen wird, kehren die starken Unterschiede der Fachdisziplinen z. B. in den naturphilosophischen Fragestellungen wieder. Es kommt auf empiristischer Basis zu analoger Teilung zwischen mathematisch-physikalischer und organologischer Naturphilosophie, wie sie Kant zwischen der Natur der Kritik der reinen Vernunft (1781) und der Natur der Kritik der Urteilskraft (1790) vorgenommen hatte. Bei Kant reichte die Empirismus-Linie bis in solche substantiellen Gliederungen hinein. Man sieht das im pragmatistischen Kant-Bezug H. Vaihingers deutlicher als in der symboltheoretischen Umbildung des Apriorismus bei Cassirer, die auch etwas von Hegels Panorama der verschiedenen Geistformen wieder aufgenommen hatte. b) „Krise der Anschauung“, Veränderungen in den Wissenschaften, die den Empirismus des 19. Jahrhunderts überschreiten ließen Zur allgemeinen Spannung zwischen der methodischen Zuversicht fachwissenschaftlicher Empirie und der zeitgeschichtlichen Erfahrung traten am Ende des 19. Jh.s auch spezifische Veränderungen des Beobachtungs- und Erfahrungsbegriffs in den Wissenschaften selbst, die eine Erneuerung der Erfahrungsphilosophie forderten. Basis der szientifischen Welten des Empirismus war ursprünglich die befreiende „natürliche“ Anschauung gewesen. Darwins Schilderungen, welche Beobachtungen auf seiner Seereise ihn zum Evolutionsgedanken geführt hatten, bietet noch für die Mitte des 19. Jh.s das beredte Beispiel dessen. Bereits der alles bisherige Naturverständnis überschreitende Konstruktivismus der Physik (eine zweite nichteuklidische Geometrie 1854, Hilberts Axiomatik 1903, Quantenhypothese 1901, Relativitätstheorie 1905, 1916) entzog der über-

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kommenen logischen Grundlegung der Erfahrungsphilosophie den Boden. Die klassische Mechanik war von der Möglichkeit ausgegangen, letzte einfache, unveränderliche Bestandteile der Materie zu isolieren. Descartes hatte sie die naturae simplices genannt. Von ihnen aus würde man in kombinatorischen Verfahren die konkreten Erscheinungen erklären. Diese Prämisse der isolierbaren Einfachheit, in der sich die gleichen Gesetzmäßigkeiten feststellen lassen, wie in den komplexen Körpern, wurde von der Quantenphysik verlassen. Sie durchbrach das gesamte System der klassischen Mechanik und Elektrodynamik mit der Einsicht in die Unmöglichkeit, über letzte einfache Prozessbestandteile, wie sie die Elementarvorgänge darstellen, zugleich eindeutige Aussagen über Lage und Bewegung zu treffen.258 Als Schwäche des sensualistischen Empirismus erwies sich nun dessen Bindung an den alltagspraktischen Erfahrungsbegriff, für den eindeutig zuzuordnende Kausalbeziehungen isolierbarer einfacher Elemente existierten. Er war längst durch die Technisierung der empirischen „Wahrnehmung“, die an die Stelle von Hand, Auge und Ohr trat, überschritten worden. Doch das fiel nicht zu schwer ins Gewicht, solange das alte (vor Bohrs Theorie liegende) Korrespondenzprinzip der Gleichheit von letzten Teilen und Ganzen seinen Platz behauptete.259 Die Aufgabe der Grundvorstellung von der Kontinuität der Naturprozesse in der Quantenmechanik verließ die Schemata von Raum und Zeit, die der transzendentale Idealismus aus der Mechanik und doch auch aus der alltagspraktischen Anschauung übernommen hatte. Wirkungen werden sprunghaft übertragen, ohne Berührung dazwischen liegender Räume. Die Verbindung von Theorie und alltagspraktischer sinnlicher Anschauung, eine Grundposition des sensualistischen Empirismus, fand sich damit aufgelöst. Die deutsche akademische Philosophie reagierte auf die neue wissenschaftslogische Problematik vor allem mit lebensphilosophischen Entwürfen. Das wäre nicht bedenklich gewesen, wenn der Lebens- und der Erlebensbegriff von einer intersubjektiven Handlungstheorie her entwickelt worden wären. Doch traditionalistisch gesetzte emotionale und voluntaristische Antriebe im gegebenen kulturellen Milieu wurden als „ganzheitliche“ Ansätze aufgewertet. Mit der Voraussetzung einfacher Elemente war ein Sensualismus natürlicher Beobachtbarkeit verbunden gewesen. Er hatte auch dem methodischen Dualismus des Neukantianismus von logischer Form und Anschauungsmaterial zu Grunde gelegen. Nun ward mit den Prämissen der Einfachheit, der Kontinuität und der natürlichen Anschaulichkeit von Objekten zugleich der Intellektualismus beider Traditionen in Frage gestellt.260 Das beeinträchtigte das errungene, betont szientifische Selbst258 „Ist die Lage des Elektrons absolut genau bekannt, so ist dessen Geschwindigkeit völlig unbestimmt, und umgekehrt.“ (M. Planck, Die Physik im Kampf um die Weltanschauung, in: ders., Wege zur physikalischen Erkenntnis, Leipzig 41944, S. 263) 259 „Zu der Annahme der Existenz realer Vorgänge hat nun aber die klassische Physik stets die weitere Annahme gefügt, dass das Verständnis für die Gesetzmäßigkeiten der realen Vorgänge sich vollständig gewinnen lässt auf dem Wege fortschreitender räumlicher und zeitlicher Teilung bis ins unendlich Kleine. Das ist eine Betrachtung, die bei genauerer Betrachtung eine starke Einschränkung erhält.“ (M. Planck, Die Physik im Kampf um die Weltanschauung, a. a. O., S. 264) 260 Um der Simplifizierung des Marburger neukantianischen Dualismus von einfachem logischem, bzw. mathematischem Prinzip und Vielfalt der Erscheinungen zur Wertlehre der südwestdeut-

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verständnis der Kultur und stellte die bisherigen Beschreibungen des intellektuellen Typus praktischen Handelns in Frage. Folgerichtig ward die gewonnene Abwägung des Verhältnisses zwischen Wissenschaften, Künsten und Religion für brüchig erklärt. Ästhetische Revolutionen (Kubismus, Futurismus, Expressionismus, das auf der Reihentechnik basierende Gestaltprinzip der Zwölftonmusik, modernistische Architektur) suchten aus den Unterschieden zwischen ästhetischen, willenshaften und intellektuellen Objektivationen neue, nicht generalisierte, sondern mit den verschiedenen Inhalten variierende Ordnungsformen zu gewinnen. Wie das Vertrauen spontaner Kontinuität der kulturellen Perspektive schwand, so begann das kulturelle Selbstverständnis sich antitraditionalistisch zu geben.261 Hinzu trat die Psychologie des Unbewussten, die vor Freud (Die Traumdeutung, 1900; Das Unbewusste, 1914) bereits behandelt worden war,262 jetzt aber von der fürs bürgerliche Bewusstsein wesentlichen Seite der Persönlichkeitspsychologie her die starke kulturkritische Wirkung der Psychoanalyse beförderte. Die empirische Psychologie des Antriebs und der Verhaltenssteuerung verlor ihren gewohnten Rückhalt in den Ordnungsvorstellungen, die dem Begriff der selbstbewussten Person zu Grunde lagen.263

schen Neukantianer zu entgehen und in Abwehr der lebensphilosophischen Kulturphilosophie (Simmel, Scheler), bildete Cassirer den Ansatz Cohens und Natorps in der Richtung der neuen Problemlage in den Naturwissenschaften (einschließlich der vitalistischen Theorie der Selbstregulation der Lebenserscheinungen), und vor allem der Kulturwissenschaften (Linguistik, Ethnologie, Kulturgeschichte) zur Logik des Symbolbegriffes fort. Die Absage an Windelbands und Rickerts unzulängliche Fortbildung des Neukantianismus: E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1956, S. 6f. 261 Die moderne Architektur „propagierte ein den veränderten Bedingungen der Gegenwart verpflichtetes Bauen auf der Grundlage der stattgehabten technischen, wissenschaftlichen und ökonomischen Umwälzungen des Industriezeitalters; sie forderte den radikalen Neubeginn, ... den Bruch mit den überlieferten Traditionen der architektonischen Formenlehre.“ (W. Tegethoff, Vom ‚modernen‘ Klassizismus zur klassischen Moderne, in: G. Boehm u. a. (Hg.), Canto d’Amore. Klassizistische Moderne in Musik und bildender Kunst 1914 – 1935, Basel 1996, S. 442). Ebd. Zit. des Architekturhistorikers A. Behne von 1923 gegen die starren Formen der Architektur des 19. Jh.s: „Die neue Baukunst läßt Boden und Bau zu einer funktionalen Einheit werden. ... sie ist Erfüllung von Lebensansprüchen und wie dieses Leben selbst asymmetrisch, ohne Achsen und ohne Aufteilungsgeometrie. Ihre Grundrisse sind nicht Reißbrettornamente, sondern Bewegungspläne“ (S. 443) 262 E. v. Hartmann (1842 – 1906), Philosophie des Unbewußten, 1869; P. Janet, (1859 – 1947), L’automatisme psychologique, 1889. 263 Eine folgenreiche Absage an den Kontinuitätsbestand einer theoretischen Tradition stellte der Leninismus im Marxismus dar. Lenin und Trotzki kehrten den marxistischen Determinismus um. Nicht unbedingt müsse die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise die Voraussetzungen sozialistischer Transformation schaffen. Umgekehrt könne in einer unterentwickelten Gesellschaft von einer Avantgarde zuerst die politische Macht erobert und dann die ökonomische Basis des Sozialismus geschaffen werden.

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c) Baumgartens Empirismus in der veränderten naturwissenschaftlichen Problemlage. Entelechie – Prinzip Driesch Baumgarten verstand Plancks Quantentheorie und die Unschärferelation als einen Fortschritt über ein einliniges kausales Weltbild hinaus. Es ging ihm weniger um ein physikalisches Pendant der Willensfreiheit, wie das selbst Physiker, wie z. B. P. Jordan, nahegelegt hatten, als vielmehr um die Bestätigung der Annäherung von Natur und Mensch in einem entelechtischen Gesamtprozess. Wie die unbewusste Aktivität in uns Zeichen der übergreifenden Zweckhaftigkeit aller Naturkausalität sei, so zeigten Quantensprung und die nur statistische Genauigkeit von Einzelprozessen einen Typus von sich verschiebenden Bewegungen an. Veränderung und die Latenz von Entwicklung stecke in der aufgedeckten Komplexität von Naturprozessen.264 Er sah darin ein neues Bild der schöpferischen Produktivität der Natur. Gern zitierte er, was Bergson von den psychischen Prozessen gesagt hatte. Sie durchdringen sich, schieben sich ineinander, und das gelte nun für alle Gesetzmäßigkeiten in der Natur. Die Kausalgesetze seien mit den Zufallsgesetzen vermittelt, und das „offenbare die Einstellung der Natur auf den Geist in neuer eigenartiger Weise“. „... die Naturgesetze werden nicht, wie früher manche Empiristen meinten, aus dem Buche der Natur einfach abgelesen ... Die Gesetzesformel ist eine Antizipation des Naturgeschehens im Geist, die durch die Erfahrung angeregt und bestätigt werden muss.“ Außerdem verband Baumgarten die neuen Fragestellungen der Naturwissenschaften mit dem ursprünglichsten pragmatischen Prinzip des Empirismus, dass wir nämlich „der notwendigen Determination nicht den absoluten Primat einräumen dürfen vor einer Gegebenheit, die einfach hingenommen werden muß, wie sie sich vorfindet.“265 Die erkenntnistheoretische Orientierung des Pragmatismus bestand in Forschungsmaximen und war gegen dogmatische Fixierungen und auf die Erweiterung des Bekannten in die große, der praktischen Bearbeitung vorbehaltene Welt des Unbekannten gerichtet. Die neue Physik interpretierte Baumgarten auch als eine Annäherung der anorganischen an die organischen Prozesse. Er stützte sich dabei auf W. Köhlers Untersuchungen der physikalischen Gestaltgesetze. Eine bestimmte physikalische Struktur stelle sich immer wieder her, ohne daß der Vorgang aus der Lage einzelner Elemente herzuleiten sei. Das fasste Baumgarten als das anorganische Pendant der organischen Entelechie, die er nach Drieschs Vitalismus auffasste. Baumgarten schied mathematisch formalisierende und empirisch-induktive Naturbegriffe. Seine Distanz gegenüber der mathematischen Naturwissenschaft ergab sich aus seiner ganz anderen, wenn man will, aus seiner juristischen intellektuellen Orientierung. Das Rechtsdenken formalisiert ebenfalls. Aber es sammelt soziale Erfahrungen und sucht für möglichst viele konkurrierende Interessengruppen zustimmungsfähige Leitsätze. Bewertungsmaßstäbe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse scheiden hier aus. Ebenso sind die Anwendungen auf ganz andere Weise problematisch. Sie erfordern ständig neue Zustimmungsmotivationen, und die Rechtsgeltung realisiert sich durch immer zu erneuernde 264 Zusammenfassend in: Der Weg, § 4, S. 101-105. 265 Alles in: ebd., S. 90ff.

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Übereinstimmungsbemühungen.266 Baumgarten dachte eine anwendungsorientierte Philosophie, mit den Rechtsfindungs- und Rechtssetzungsprozessen nachgebildeten Beweisverfahren. Darum argumentierte er, der – damals noch aktuelle – Marburger Neukantianismus suche die Fundamentalbegriffe der Wissenschaften aus einfachen logischen Elementen zu konstruieren, wie der Mathematiker geometrische Figuren entstehen lasse. Baumgarten setzte fort, zu Grunde liege dem noch immer der Platonsche Aufstieg zu Urbegriffen, aus denen alles Denkbare sich entfalten lasse. Er zielte eigentlich gegen die für sich stehende Kategoriensystematik der Kantschen transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Auch in der englischen Philosophie jener Zeit war die Überlegung noch ein Novum, die vier Dreiergruppen reiner Verstandesbegriffe in empiristischem Rahmen zu heuristischen Maximen zu transformieren. Die Welten des Cassirerschen Symbolbegriffs überging Baumgarten. Dessen genetische Nähe zu A. Warburgs Religionsethnologie, die er sah, bedeutete ihm einen Grund für Distanz. Vor allem aber sah er von der empiristischen Tradition her das von diesem Strukturkonzept der symbolischen Formen ungelöste Problem der zivilisatorischen Evolution.267 So konzentrierte sich Baumgartens kritische Sicht auf die Auflösung des Substanzbegriffes in den Funktionsbegriff, die nur mathematisch gedacht sei und bei der am Ende nur Beziehungen für wirklich gälten. Die mathematischen Verfahren seien, losgelöst von den materialen Gehalten, nicht der höchste Ausdruck des Geistigen, vielmehr eher etwas rein Mechanisches. Man sieht, bei konsequenter Linienziehung, die damals in der Philosophie mehr geübt war, als heute, kam es zu Verschattungen der Problemstellungen. Die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s eintretenden einschneidenden Veränderungen der wissenschaftlichen Problemlage ließen Baumgarten die physikalischen und chemischen Probleme der Naturwissenschaften zurücksetzen.268 Der alltagspraktische Wissenskreis relativierte sich drastisch. Hinter ihm schien nun in Quanten- und Relativitätstheorie, im Postulat der vierten Dimension, mit der Beseitigung des gewohnten Kausalgeschehens, eine „wirkliche“, aber erfahrungsfremde Welt erst entdeckt zu werden. Speziell gegenüber einer, wie Baumgarten meinte, einseitig mathematisch orientierten Wissenschaftslehre hielt er daran fest, dass Zahlen und mathematische Formeln immer auf Ausschnitte gegenständlicher Wirklichkeit bezogen seien. Das stimmte mit

266 Freilich schrieb auch M. Planck von seiner großen Enttäuschung, dass die dominierenden Fachkollegen seine doch mathematisch völlig evidente Darstellung der Energiequantelung als physikalisch unmöglich abgelehnt hätten. Die Verschiedenheit von naturwissenschaftlicher und juridischer Anforderung findet sich eben in der Verwunderung über die intellektuell verfehlte Ablehnung ausgesprochen, während bei einem Rechtssatz unterschiedliche Beurteilungen zu erwarten wären. 267 J. Habermas hat den Punkt der erkenntnistheoretisch verfassten Symboltheorie Cassirers behandelt: J. Habermas, Die befreiende Kraft der symbolischen Formgebung, in: ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, Frankfurt/M. 1997, S. 28ff. 268 „Die Mathematisierung der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass von der Außenwelt nichts anderes übrig zu bleiben scheint, als ein völlig unanschauliches Beziehungssystem.“ Das erfordere aber stets die Anknüpfung an anschauliche Daten. (Der Weg, S. 87)

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N. Hartmanns Auffassung von der qualitativen Dimensionalität hinter den quantitativen Messungen überein. Er ging aber im entscheidenden Punkt darüber hinaus, da er nicht eine ontologische Schichtenlehre der Erkenntnis, sondern einen dem veränderten naturwissenschaftlichen Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis entsprechenden Erfahrungsbegriff anstrebte.269 Das Entstehen eines durchgehend funktionalen Wirklichkeitsbegriffes, in dem alle substantialen Qualitäten sich in messbare Relationen auflösten, bedeutete für den bisherigen sensualistischen Empirismus eine Krise. Es entstand der neue Empirismus des logischen Atomismus (Russell, dessen Schüler Wittgenstein) und des logischen Positivismus (Wiener Kreis, Reichenbach). Neurath entwickelte einen radikalen Physikalismus gegen den bisherigen Empirismus, der Baumgarten methodisch als eine Chimäre und für die kulturelle Funktion der Philosophie abwegig erschien. Die neuen Probleme betrafen vor allem den mit einer nun überholten Praxis empirischer Verifikation argumentierenden Empirismus. Der Empirismus hatte eine Logik entwickelt, die den transzendentalen und auch den konzeptualistischen Formalismus vermeiden sollte. Der assoziationspsychologische Ausgangspunkt begründete eine induktive Erkenntnistheorie, um die konkreten fachwissenschaftlichen Untersuchungs- und Theoriebildungsvorgänge in der Mehrzahl der Disziplinen zu erfassen: Schließen vom Einzelnen auf Einzelnes, fortlaufende Enumerationen, Generalisierungen, Stufen der Wahrscheinlichkeit usf. Unbefriedigend blieb dabei die Logik unbedingter Aussagen und speziell die für massenhafte und technische Realisierungen unabdingbare mathematische Formalisierung empirischer Resultate. Den quantifizierenden, physikalisch-chemischen Naturbegriff bezog Baumgarten auf die industrielle Anwendung, die er ja auch für eine spezielle, sozialphilosophisch einzugrenzende Realität ansah. Den Marburger Neukantianismus sah er innerhalb solcher begrenzenden Fragestellung stehen bleiben. Natorps Psychologie z. B. sei eine ohne Subjekt. Wollendes und fühlendes Ich würden als raumbedingte Bewusstseinsinhalte zur Natur geschlagen, so dass nur die Intellektualität das eigentliche Subjekt konstituiere.270 Das Zentrum solcher Verselbstständigung bildete für Baumgarten nach wie vor Kants Behauptung synthetisch-logischer Denkakte a priori.271 Baumgarten sah auch Cassirers Logik der Symbolformen nicht für ausreichend an, die Bedürfnisse und sozialen Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung in den Blick zu bringen und etwa von einem „System der symbolischen Formen“ her, wie es Cassirer selbst einmal genannt hatte, die verfassungsrechtlichen Perspektiven einer Gesellschaft

269 „Die physikalische Wissenschaft erfasst mit ihren Methoden nicht die Natur, wie sie wirklich ist, sondern das, was sich an der Natur als messbar herausstellt. ... So wird der Naturwissenschaft das Messbare an der Natur zur Natur schlechthin.“ Doch schon die unmittelbare Erfahrung reiche über den quantitativen Aspekt hinaus und es käme darauf an, das unmittelbar sinnliche Weltverstehen mit der Exaktheit der Fachwissenschaft zu verbinden. (Der Weg, S. 87f) 270 Erkenntnis, S. 451ff. 271 „Mit wohltuendem Humor behandeln die nüchternen anglosächsischen Denker den Kultus, der von unsern Idealisten mit den angeblich höhern Formen des Denkens getrieben wird.“ (Erkenntnis, S. 582)

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sozialer Gerechtigkeit abzustecken.272 Die Auflösung der substantialen Realität der Erscheinungen lasse den Menschen mit seiner gegenständlichen und emotionalen Haftung verschwinden. Der funktionale Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaften, mit seiner einschneidenden Scheidung zwischen gattungsspezifischer „Merkwelt“ einerseits und konstruktiver szientifischer Realität, komplizierte die Problemlage empiristischer Philosophie. Die körperliche Basis allgemein verbindlicher Weltorientierung schien überhaupt verlorenzugehen. Für Baumgarten schied die darauf reagierende antiintellektualistische Emphase eines existenzontologischen oder lebensphilosophischen Empirismus, auch mit möglichem expressivem Affekt von Kulturtrotz, aus. 273 So war Baumgarten vom Erfordernis neuer Grundlegung des Erfahrungsbegriffes überzeugt. Er sah die unverzichtbare kulturelle Funktion oder, wenn man will, den Geist des Empirismus in der Abwehr bestimmter Folgen der arbeitsteiligen, hochspezialisierten Zivilisation. Wissenschaften, Künste, Religionen, ökonomische Effizienz auf der partiellen Ebene der einzelnen Firmen, Interessenvertretung einzelner Schichten über politische Parteien – alle Besonderheiten streben auseinander und möchten sich als autonom setzen. Baumgarten entwickelte die pragmatistische Erfahrungsphilosophie als eine integrative Lebens- und Weltanschauung, die zur notwendigen Differenzierung der kulturellen und sozialen Felder nicht nur Methoden verbindenden Denkens und Handelns, sondern als empiristische auch materiale Gehalte dafür bereitstellte. Das empiristische Denken hatte sich seit Bacons Kritik der mathematischen Naturwissenschaft immer topisch, nicht funktional gehalten. Es richtete sich auf die Qualitäten, nicht auf den Zahl-Aspekt. Sein Problem ergab sich aus seiner Herkunft: eine Welt überschaubarer Mengen und individuell oder manufakturmäßig hergestellter Erzeugnisse. Die klassische Zeit des ursprünglichen Empirismus war die Manufakturperiode des westeuropäischen Handelskapitalismus gewesen.274 Die Erosion feudaler Schranken und die Blüte des Handels- und Manufakturkapitals hatten die Basis des perspektivischen Freiheitsindividualismus gebildet, dem die gegenläufige Fixierung auf Wertbildungs- und Verwertungsprozesse noch fremd geblieben war. Das hochspezialisierte Produkt, das in für die Zeit hoher Stückzahl hergestellt wurde (Lyoner Seide, Brüsseler Tuche) stellte noch immer eine spezifische Facharbeit dar. Diese Periode hatte den Geist der bürgerlichen Zivilisationsprozesse freigesetzt: persönliche Freiheit, die Natur entdecken, um sie durch Gehorsam zu besiegen und die universelle Produktions- und Genussfähigkeit der menschlichen Natur durch ansteigende Vielfalt von Verfahren und 272 Cassirer hatte seine kritische Kulturphilosophie mit dem Kapitel zu den Naturwissenschaften geschlossen. „Es gibt heute keine andere Macht, die mit der des naturwissenschaftlichen Denkens verglichen werden kann. ... Sie gibt uns den unerschütterlichen Glauben an eine festgegründete Welt.“ (Cassirer, Was ist der Mensch?, Stuttgart 1960, S. 263) Die Naturwissenschaften waren ihm das große, Zuversicht spendende Ungleichzeitige in der sich partikularisierenden und darum autoritäre Ordnungen aufrufenden Zivilisation. 273 Vgl. T. Rohkramer, Eine andere Moderne? Zivilisationskritik, Natur und Technik in Deutschland 1880 – 1933, Paderborn, München 1999. 274 Vgl. H. Großmann, Die gesellschaftlichen Grundlagen der mechanistischen Philosophie und die Manufaktur, in: ZfS, IV (1935), S. 161-231.

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Bedürfnissen zu entfesseln. Mit bestimmtem Höhegrad traten Ertragsmenge und Kapitalvermehrung in den Vordergrund. Technisierung und Verwaltung rechnen mit großen Quantitäten und verfahren funktional. Damit war die hohe Zeit des alten Empirismus und dessen topischen Denkens überschritten. Es war eine Weltauffassung universellen Weltverstehens ganz auf der Grundlage ansteigender Autonomie wohl frühindustriell, aber noch als Personen kooperierender Menschen gewesen. Der sensualistische Empirismus hatte eine naturwissenschaftliche Begründung der Teleologie des Willens- und Handlungsbegriffs benutzt. Nun kam Baumgarten die Wiederbelebung eines Vitalismus entgegen, der im Einklang mit empirischen Untersuchungen über die qualitativ eigenständige Selbstregulation der belebten Materie stand. Baumgarten erkannte hier Möglichkeiten zur Erneuerung des Empirismus, so dass dessen topische Denkweise sich nun mit dem neu begründeten funktionalen Prinzip verbinden lasse. Er suchte außerhalb der Physik einen Naturbegriff, der seiner evolutionistischen Psychologie und Kulturphilosophie entspräche. Darum bezog er sich für seinen Willensbegriff und dann sogar für die Idee gesellschaftlicher Evolution auf Drieschs Entelechie-Prinzip. Er schätzte Hans Driesch (1867 – 1941), der ursprünglich als Zoologe gearbeitet hatte, wegen dessen Mechanismus-Kritik und des vitalistischen Entelechie-Gedankens (von Drieschs liberaler Gesinnung in der Weimarer Zeit ganz abgesehen). Drieschs psychologisierender Kritik des Kantschen erkenntnistheoretischen Formalismus stimmte er natürlich zu. Überhaupt sagte Baumgarten der Optimismus des organologischen Zweckgedankens zu. Er sah in der Erneuerung der Teleologie ein dem Pragmatismus nahes Verständnis der Tendenz zu Optimierung und Steigerung, die bei je empirisch bedingter Kausalität mitgehe.275 Die zoologischen Experimente Drieschs (1891 – 1900 in Triest und Neapel), mit denen er u. a. an der Teilung von Organismen nicht nur die Zweckmäßigkeit, sondern auch eine ganzheitliche Zweckläufigkeit bei der Neubildung von Organismen aus präparierten Teilen zeigen wollte, nahm Baumgarten für seine eigenen entelechetischen Theorien in Anspruch. Er erkannte in Drieschs Arbeiten einen von der deutschen idealistischen Philosophie unabhängigen und doch von naturwissenschaftlicher Methodik geführten Geist: „... er hat eine an die großen Engländer erinnernde schlichte, direkte Art, die Dinge anzupacken, die unsern Philosophen gänzlich abhanden zu kommen scheint“.276

275 Driesch habe der Teleologie wieder Bürgerrecht in der Biologie verschafft. „Die Besonderheit der entelechialen Wirksamkeit besteht in der Anpassung des Effekts an die jeweils gegebene Lage. Nicht ein für allemal folgt b auf a, wie es bei der starren mechanistischen Zuordnung der Fall ist, sondern unter Umständen b’ oder b’’, wenn es erforderlich sein sollte für ein bestimmtes Ziel.“ (Der Weg, S. 94) 276 Aus den Kausalgesetzen ergeben sich durchgehende Tendenzen, die von den Entelechien noch weiter überformt werden. „Jene Tendenzen unterscheiden sich von den Entelechien wesentlich dadurch, dass sie als die Kräfte gedacht werden, die das ursprüngliche Nebeneinander der Elemente, von dem das dem Kausalgesetz gehorchende Geschehen seinen Ausgang nimmt, auf ein Ziel einstellen, während die Entelechien, mitten im Lauf der Geschehnisse auftauchend, die starre kausale Zuordnung durch eine variable ersetzen.“ (Erkenntnis, S. 178) „Die wertvollste und tief-

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d) „Bürokratisierung des Herrschaftsverhältnisses“ (Kocka) – Empirismus und die Veränderungen der Gesellschaft durch fortschreitende industrielle Revolution in Deutschland Wirkungsreicher noch als in den Naturwissenschaften lösten die Schübe der industriellen Revolution für die soziale Erfahrung die methodische Prämisse der einfachen Korrespondenz zwischen Ganzem und dessen Teilen auf. Der Weg zur Industriegesellschaft, auf dem Deutschland bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges England und Frankreich eingeholt hatte, bestand zunächst in der Verschiebung des Verhältnisses zwischen technisierter und lebendiger Arbeit durch den Einsatz von Maschinen. Die Technisierung schuf die Zentralisierung der Betriebe, also Konzentration des Kapitals. Daraus entstand – bei allen Berufsunterschieden – eine Lohnarbeiterklasse. Deren innere Struktur und deren Verhältnis zum übergeordneten Eigentümer unterschied sich im Ergebnis der sich etwa von 1850 bis 1913 ausbildenden deutschen Industriegesellschaft deutlich vom abhängigen Heimgewerbetreibenden und Lohnarbeiter der vor- und frühindustriellen Werkstätten. Der Produktionsvorgang lag als Ganzes dem noch kleinen Kreis von zunächst kaum mehr als 30 Arbeitern offen. Das Kooperationsverhältnis der Individuen wurde im Entstehen der industriell bestimmten Volkswirtschaft mit Serienproduktion von der generellen Zugehörigkeit zu einer neu entstandenen sozialen Klasse überlagert.277 „Der Zerfall der modernen Gesellschaft in zwei antagonistische Klassen“278 schuf große soziale Felder, denen die Beteiligten nicht als Individuen, sondern als soziale Charaktere angehörten. Die „soziale Frage“ bedeutete im strukturellen Sinne – abgesehen von den materialen Aspekten der Armut, der Lebensunsicherheit auf Seiten der Proletarier – ein objektives Ordnungsproblem. Es betraf das Verständnis von Gesellschaft überhaupt. Denn die Lohnarbeiterklasse stand nicht nur den anderen Schichten gegenüber. Sie war aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgegliedert. Durch ihre soziale Position standen ihr die Arbeiter – ob mit sozialistischem Bewusstsein oder sozialliberal integrierend eingestellt und organisiert – als ausgegrenzte Fremde gegenüber. (Sinnenfällig, dass das Klassenwahlrecht im größten Land des Reiches, in Preußen, noch bis 1918 galt.) Vom gegenständlichen Produktionsprozess selbst war das Novum einer Klasse erzeugt worden, die nicht mehr über eigene Produktionsmittel verfügte, in diesem Sinne die Eigentumslosen. Darin stak und steckt für jede Phase der unter Kapitalmonopol produzierenden Gesellschaft das Postulat der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, das in verschiedenen Formen denkbar ist. Die ursprünglich tragende Relation der bürgerlichen Gesellschaft als eine zwischen

greifendste Lehre der Drieschschen Erkenntnistheorie, diejenige auch, der er selbst die größte Bedeutung beimisst ... [ist], dass die Form mit dem Inhalt zugleich ‚gehabt‘ wird.“ (Ebd., S. 529f) 277 Um 1850 hatte es in den deutschen Ländern noch doppelt soviel Heimgewerbetreibende wie Fabrik-, Manufaktur- und Bergarbeiter gegeben. Im Ergebnis der in Deutschland nach 1872 und wieder ab 1895 starken wirtschaftlichen Entwicklung hatte sich von 1870 bis 1913 die Lohnarbeiterklasse von etwa 16,7 Millionen auf 30,9 Millionen Beschäftigte verdoppelt. 278 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, Kap. VIII: Die soziale Frage, hier S. 335.

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persönlich freien Individuen und Allgemeinheit – Rousseaus elementarischer Grundriss – trat zurück hinterm Verhältnis von Elementen auf dem sozialen Feld. Die ursprüngliche individualmoralische und individualrechtliche Orientierung des Empirismus entsprach der neuen Konstellation nicht mehr.279 Der zentrale Punkt der sozialen Frage bestand nicht in der Forderung persönlicher Freiheit. Sie war die Forderung des Bürgers nach Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie gewesen. Für die Voraussetzung der Lohnarbeit unter Vertragsbedingungen spielte sie beim Frühproletariat keine Rolle. Dessen Forderung zielte auf soziale Gleichstellung. Bestimmte eigene Verantwortungssphären der Meister und Vorarbeiter bezogen sich nicht auf die liberale Freiheitsparole, sondern auf Zurückdrängung des „sekundären Patriarchalismus“ (Kocka) der Fabrikherren. In Bezug auf die Industriegesellschaft ging es nicht um individuelle Emanzipation, sondern um soziale Integration nach Kriterien der Gerechtigkeit. Der Richtungssinn sozialer Prozesse war neu zu bestimmen. Die Ausfaltung großer und konträrer sozialer Felder erforderte neue soziale Handlungsprinzipien, und zwar solche des entfalteten Demokratismus. Für den sozialen und den politischen Bezug des Empirismus, also für den Liberalismus, bedeutete das eine Komplizierung der Thematik. Die überwiegenden Strömungen nicht nur der deutschen Philosophie, sondern der deutschen Kulturwissenschaften erfassten das nicht und verweigerten sich der entstandenen Situation. Die Apostrophierungen der existenzialen Innerlichkeit, des romantisierenden Antintellektualismus, die Entgegensetzung von Bildungskultur und technisch-ökonomischer Perfektibilisierung, schließlich die verhängnisvolle Einbildung des unpolitischen Geistesschaffenden, alles das waren die Kennzeichen einer konservativ unzeitgemäßen Position. Die beiden entscheidenden Punkte bei diesen Beschreibungen der geistigen Verfassung deutscher Intellektueller bestehen darin, dass sie eine zäh bewahrte elitäre Einstellung darstellen, und dass dieser elitäre Grundzug zusammengeht mit autoritären Ordnungsüberzeugungen. Viele Intellektuelle verstanden sich bei ihrer Verachtung der „Massengesellschaft“ mit gutem Gewissen unpolitisch, aber stimmten der Identifizierung von Ordnung mit staatlicher Gewalt zu. In unserem Zusammenhang geht es nicht um die Verbindung der sozialen Veränderungen der Industrialisierung und deren Folgen für die Konstellationen zwischen den politischen Parteien. Die erreichte Reichseinheit, das unfertige bürgerliche Verfassungsrecht im Reich und in den Monarchien der deutschen Einzelstaaten, vor allem aber die Schritte zum sozialen „Interventionsstaat“ brachten die ohnehin zerstrittenen Parteien des deutschen Liberalismus in eine Krise.280 Die philosophiehistorische Frage richtet sich auf die Strukturanalogien zwischen der Umwandlung der Gesellschaft von einer direkten Korrespondenz zwischen den Frei279 Das Bild des „Bürgers“ mit dessen sowohl ökonomisch erforderlichem als zugleich sozial repräsentierendem Freiheitsanspruch als das Selbstverständnis der gegen Ende des 19. Jh.s bereits abblühenden mittelständischen Unternehmer und Kaufherren gut in der biographisch plastischen Historiographie in der Art der französischen Historiker bei L. Gall, Bürgertum in Deutschland, Berlin 1989. 280 Vgl. T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, Kap. II, 10: Die deutschen Parteien 1867-1890, Die Liberalen, S. 314-331.

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heitsansprüchen bürgerlicher Individuen und der Konstitution des liberalen Verfassungsstaates im 19. Jh. und dem philosophischen Empirismus jener Zeit auf der einen Seite und der folgenden Analogie zwischen der Ausformung der großen sozialen Blöcke der Industriegesellschaft des späten 19., bzw. des 20. Jh.s und den Komplikationen und Umbildungen des Empirismus, bzw. dessen Verzweigungen. Solche Strukturanalogien haben nichts zu tun mit kurzschlüssiger Soziologisierung oder Politisierung der Philosophiegeschichte. Baumgarten entwickelte in den zwanziger Jahren seinen Empirismus zu einer sensualistischen Wissenschaftstheorie und Kulturphilosophie ohne Rationalitätskritik, die der veränderten wissenschaftlichen Problemlage und den sozialliberalen Anforderungen der „Massengesellschaft“ entsprach. Die Überschreitung der Assoziationspsychologie durch Aufnahme der Jamesschen Psychologie, der Psychoanalyse und Gestaltpsychologie, um zu empirisch verifizierbaren „Ganzheiten“ zu kommen, ist gesondert zu betrachten. Ebenso, dass Baumgarten in naturphilosophischer Hinsicht die Zurücksetzung der mathematischen Naturwissenschaften verstärkte, weil er meinte, sie spielten als technisch und industriell orientierte Disziplinen für die kulturelle Orientierung des Empirismus eine geringe Rolle. Die Überschreitung des Empirismus der Vorbereitungs- und Frühepochen der Industrialisierung, der auf rechtliche Sicherung individueller Freiheitsansprüche von Eigentümern konzentriert war, durch die großen sozialen Blöcke verlangte die soziale Präzisierung des Begriffs „des Menschen“ in der sensualistischen Sozialphilosophie. Das war auch erforderlich, um dem Abgleiten des deutschen Liberalismus in die politische Defensive zu begegnen, das sich vorzeichnete, da das liberale Programm der Vormärzzeit im wesentlichen Punkt der Kämpfe um die staatliche Einheit der deutschen Länder erfüllt war, doch zur Erhaltung der feudal-junkerlichen Herrschaft. Außerdem musste der Empirismus als die tragende Denkform des Liberalismus zu neuen Kräften der emanzipativen Traditionen der bürgerlichen Gesellschaft finden, um den Lebensphilosophien entgegnen zu können, die einige zentrale Probleme der neu assoziierten Handlungswelten falsifizierten.281 Diese Präzisierung des Empirismus suchten in unterschiedlichen Graden viele Liberale unter den Philosophen der Weimarer Republik, so die Cornelius-Schüler Horkheimer und Löwenthal, die damals bereits bis zur Aufnahme marxistischer Theoreme gingen, der Dilthey-Schüler und Vorsitzende der Kant-Gesellschaft (schon seit 1911 Stellvertreter Vaihingers), A. Liebert (1878 – 1946), der Diltheyaner mit späterer Tendenz zum Marxismus, B. Groethuysen (1880 – 1946), natürlich 281 Die Sozialreform war auch im deutschen Bürgertum bereits vor dem Ersten Weltkrieg als eines der zentralen Themen (auch für die Absicherung der Konfrontationspolitik nach außen) erkannt worden (Verein für Sozialpolitik, Evangelisch-sozialer Kongress, Gesellschaft für soziale Reform (Berlepsch), National-sozialer Verein von F. Naumann). Bei der Integration des Proletariats unterschieden sich zwei Richtungen. Gegen die demokratische richtete sich seit Bismarcks Sozialreformen die konservative, nicht eigentlich eine des Bürgerbewusstseins, sondern der Untertanenrolle. Sie bildete die Fortsetzung des sog. internen Patriarchalismus der Kapitaleigner in den Industriebetrieben auf die politische Ebene. Wir finden sie heute im modischen Wort von sog. Partizipation, das nicht Teilnahme, nicht Bürgerbewegung für Einschränkung der Macht des großen Industrie- und Finanzkapitals meint, sondern empfangende Teilhabe in Maßen.

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auch Bloch und Lukács, Benjamin und Adorno. Bei Baumgarten fiel ins Auge, wie lange er sich auf Grund seiner Vorbehalte gegen den antimetaphysischen Determinismus des Marxismus dem Sozialismus fernhielt. Das zentrale moralphilosophische Problem der neuen Phase des Empirismus musste in der verbesserten Begründung des Altruismus, dieser traditionellen Thematik des Sensualismus, bestehen, wenn der Empirismus der Epoche der Konfrontation großer sozialer Blöcke genügen sollte. Es war ein zentrales Thema „in progress“ der Baumgartenschen Schriften seit den dreißiger Jahren. Um noch einmal das Problem für einen Empirismus vor den Anforderungen der neuen sozialen Wahrnehmung zu umreißen. Wie die Natur, erschien auch die Gesellschaft in veränderten, unanschaulichen Dimensionen. Konzerne und Börse, die dem entfalteten industriellen Zeitalter adäquaten wirtschaftlichen Organisationsformen, sind keine Anschauungsobjekte, etwa im Vergleich zum Bilde der Industrie in Menzels „Eisenwalzwerk“ (1875). Wahrnehmbares Geschehen, aber nun in Bezug auf seine Relevanz für Zusammenhänge, nur noch gestückte Impression und die immer unverständlicher werdende, reale soziale Funktion rückten weit auseinander. Die soziale Wahrnehmung veränderte sich ähnlich dem Schritt der expressionistischen Malweise gegenüber den späten gegenständlich darstellenden Künstlern, etwa der Naturalisten Leibl und Thoma.282 Die Übersetzung der Konzernstrategie in politische Postulate geschieht über gesamtgesellschaftliche Wertsetzungen, und diese Mystifikation entspricht insofern der Realität, als die hohe Konzentration wirtschaftlicher Macht alle Sphären der Gesellschaft beeinflusst. Das sozialwissenschaftliche Denken suchte neue Synthesen, die ins Ungewisse abdriftenden Lebenswelten zu verstehen und zu ordnen. Der Nationalismus stellte die irrationale Ausdehnung erlebnishafter Bindungen auf Ganzheiten dar, deren ästhetische und psychologische Personifizierung Gefolgschaftsideale, zunehmend mit militärischen Komponenten der Ordnungsanforderungen, ausprägten.283 Aus der Großindustrie kam nach der Revolution und gegen sozialstaatliche Tendenzen der Weimarer Republik in antisozialistischem Sinn das Projekt der Werksgemein282 Man kann die ekstatisch chiffrehaften, die unvermittelte Anschauung deformierenden Formen der Brücke-Gruppe oder des Blauen Reiters (in Frankreich des Fauvismus) gerade in ihrer explosiven Anschaulichkeit nur mit einer intellektuellen Reflexion erfassen. 283 Hofstätter sprach von einem geradezu den religiösen Eifer ersetzenden Fanatismus, mit dem das Manchestertum im 19. Jh. verkündet worden sei. Für den Beginn des neuen Jahrhunderts habe sich darum ergeben: „Ein Angriff auf die Laissez-faire-Doktrin wirft ihre Vertreter in die volle Ungewißheit des calvinistischen Existenzialismus zurück.“ (P. R. Hofstätter, Einführung in die Sozialpsychologie, Stuttgart ²1959, S. 40) „Die Börse ist das wahre Wirtschaftsministerium. Die Regierung ist das Adoptivkind der Börse“, ließ E. Reger den Bankier in seiner Union der festen Hand. Roman einer Entwicklung (1931) sagen. Regers außerordentlicher soziologischer Roman fasste die Weimarer Republik zwischen Weltkriegsende und Weltwirtschaftskrise ein und zeigte die neue gesellschaftliche Machtbildung im Zuge der Konzernbildung, so daß die Großindustrie schließlich den faschistischen völkischen Gedanken als die staatsfähige Ausdehnung des antisozialistischen ständischen Konzepts der Werksgemeinschaft erkannte. (Reger, eigtl. H. Dannenberger, arbeitete in den frühen zwanziger Jahren im Pressebüro des Essener Krupp-Konzerns. 1945 begründete er mit amerikanischer Lizenz den Tagesspiegel, war dessen erster Chefredakteur und forcierte hier den Antikommunismus des frühen Kalten Krieges.)

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schaften zwischen Kapital und Arbeiterschaft. Es war lange vorm faschistischen Wort vom schaffenden Kapital als eines Teils der völkischen Masse ein Führungs- und Gefolgschaftsmuster, vor allem von der rheinischen Großindustrie entwickelt, vom ganzen Ansatz her antiliberal und antiparlamentarisch angelegt. Die geistige Lebensform der bürgerlichen Gesellschaft veränderte sich mit der Konzentration der Industrie und den Sachzwängen der neuen Technologien. Die internen Hierarchien, der ganze autoritäre Charakter der Fabrik gewann rein objektiven Charakter und erschien wie eine Folge des Gesetzes der großen Zahl. Kocka zeigte die Prozesse des „sekundären Patriarchalismus“ und der „Bürokratisierung des Herrschaftsverhältnisses“.284 Der innerbetrieblichen und technologischen Rationalisierung stand das existenziale Geschwöge verlorener Eigentlichkeit gegenüber. Das ergab zwei sehr verschiedene allgemeine Grundlinien sozialer Wahrnehmung und schuf die eigentümliche Doppelung von ökonomischer Analytik und irrationalen sozialen Ganzheitsideologien. In der Philosophie kehrte die Doppelung der kulturellen Erfahrung per analogiam im Gegensatz von logischem Empirismus und lebensphilosophischem Gestaltdenken wieder. Akkumulation des Kapitals und ansteigende Konzentration der wirtschaftlichen Macht ließen Komplexe sozialer Ganzheiten entstehen, die den individualistisch gehaltenen Erfahrungsbegriff des traditionellen Sensualismus desavouierten. Auf weit folgenreichere Weise als in den mathematischen Naturwissenschaften entstand in den Sozialwissenschaften ebenfalls eine „Krise der Anschauung“. Das empiristische Urvertrauen in die psychophysische Einheit des konkreten Menschen als Basis für die Verstehbarkeit von dessen Sozialisierung war gestört. Wie das gewohnte Erfahrungsverständnis direkter Beobachtung nicht mehr griff, so versagte in Bezug auf die Objektseite die evolutionäre Kontinuitätserwartung. Selbstgewissheit des Menschen, Ordnungsverständnis der sozialen Welt und Stetigkeitserwartung fürs historische Geschehen waren mit den überkommenen Auffassungen fixer Eigenschaften der Person und beruhigender immanenter Evolution der Lebensweisen nicht zu bewahren. Baumgarten hielt im Einklang mit seiner sensualistischen Erfahrungsphilosophie nicht viel von Deklarationen wie Verdinglichung, Entfremdung. Den skizzierten Kern des Marxschen Sozialismus, der ja ein enormer evolutionärer Historismus durch Übersetzung des aufklärerischen Perfektibilitätsprinzips auf die Produktivkraft der gegenständlichen und ideellen Arbeit war, den zentralen Gedanken dieses neuen Determinismus nahm er lange gar nicht wahr. Es blieb ihm ferne und war ihm unsympathisch wie ein steinernes Geschick. Aber Baumgarten sah als sensibler Intellektueller auf die Alltagserfahrung der arbeitenden Schichten. Seine Wendung zum Sozialismus vollzog sich in den vierziger Jahren über die Verbindung mit der Schweizer Gewerkschaftsbewegung. Gegen den Hochmut der Besitzenden zitierte er gern Pestalozzis Wort: „Es gibt eine Armut, die zur Emporbildung der menschlichen Kräfte und zur Grundlage seines Glückes dient. Aber es gibt auch eine Armut, die zur Verzweiflung führt.“ Das soziale Verhalten 284 Werkstatt- und Kontrollbüros beschnitten auch die Funktion der Fabrikmeister. „Dadurch verlagerten sich immer mehr der die Arbeiter betreffenden Entscheidungen in einen Bereich, der ihnen unzugänglich und nahezu unbekannt war.“ (J. Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990, S. 504, vgl. a. S. 428ff, 499ff).

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und mit diesem das psychische Befinden des Arbeiters veränderten sich in der technisierten Fabrik mit der Veränderung von deren autoritärer Struktur.285 Eine Entfremdung durch die Maschine bildete kaum das Problem. Man arbeitete gern mit guten Maschinen. Es ging um die vielfältigen Schattierungen der Ausbeutungserfahrung. Dazu gehörten Armut, Lebensunsicherheit, Herabsetzung durch die Hierarchien der „Fabrikbeamten“, und dagegen entwickelte sich ein Solidaritätsstolz der Industriearbeiterschaft, dieses neuen Kerns der europäischen Unterschichten. Die Zielstellungen richteten sich nicht mehr primär auf die Rechte individueller Handlungs-, Verfügungs- und Vermögensbildungsfreiheiten, sondern auf Schutz vor Ausbeutung, vor Willkür und positiv auf Gerechtigkeit. Das aber war nicht individuell, nur kollektiv, durch Sozialgesetzgebung und letztlich durch soziale Transformation zu erreichen. Die Forderung der persönlichen Freiheit konkretisierte sich zu einem Emanzipationsprogramm der Gemeinschaft. Das veränderte die Problemlage für die Philosophie sowohl in Bezug auf die nahen moralischen als auch auf objektiven sozialen Wertsetzungen und Erwartungen. Es erschöpfte sich nicht im neuen Licht, das auf den Altruismus fiel. Baumgarten hatte diese philosophische Thematik für gelebte Solidarität als einen der Hauptpunkte seines neuen sozialen Sensualismus durchgebildet. Die Altruismus-Thematik wurde – weit über die weite traditionelle Formel der Nächstenliebe hinaus – zum Teil von Philosophien eines sog. neuen Idealismus. Die in den Industrien und den sozialen Schichtungen herausgesetzten großen Blöcke, über die einfachen Rechtspostulate frei über sich verfügender Individuen hinausgewachsen, sollten auf ein ihnen gemäßes ideelles Gesamtverständnis bezogen werden. Baumgartens Empirismus der Sozial- und Geschichtsauffassung war davon mit den beiden Punkten bestimmt: Verstärkung des Altruismus-Elements des Eudämonismus und Konkretisierung der aufklärerischen und positivistischen Zukunftsorientierung der sozialen Prozesse. e) Gestaltpsychologie und neuer Empirismus Die Crux des ursprünglichen empiristischen Einsatzes für eine erfahrungsimmanente Moral- und Sozialphilosophie hatte im fixierten Begriff der Einzelperson bestanden, einer Transposition der ursprünglichen naturrechtlichen Fragestellung, von der frühbürgerlichen Lebensordnung schrittweise die Feudalbindungen abzustreifen. Dieser soziale „Atomismus“ konnte jetzt korrigiert werden durch flexiblere Vermittlungen einer autonomen Individualität mit Strukturformen der sozialen und kulturellen Felder. Das entsprach der Klassenbildung und den Verbandsorganisationen der Industriegesellschaft am endenden 19. Jh. Im Hinblick auf die Evolution der Zivilisationsformen konnte die neue Individual- und Sozialpsychologie perspektivische Elemente aufnehmen. Sie schuf eine neues Niveau empirisch geführter Kulturphilosophie. Das minderte den Anspruch sog. geisteswissenschaftlicher Arbeitsrichtungen und deren lebensphilosophischer Ganzheitsvoraussetzung. Wolfgang Köhler hatte die Verhaltensauffassung gemäß einzelnen

285 „Was im Kleinbetrieb personale Autorität war, war im Großbetrieb interne Hierarchie“ (Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, a. a. O., Bd. I, S. 310)

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Reiz-Reaktions-Relationen als ein Maschinenbild der Natur und des menschlichen Verhaltens erläutert. Wie das einzelne Atom in der Physik, so habe die Einzelvorstellung in der Psychologie die methodische Voraussetzung gebildet. In gegebenen Anlagen sei ein eindeutig bestimmter Verlauf wie mechanisch festgelegt und von den dynamischen Faktoren des Geschehens unabhängig gesetzt. Daraus sei die Anschauung hervorgegangen: „Jedes ordentliche Geschehen im Nervensystem des Erwachsenen wird entweder auf ererbten Maschineneinrichtungen oder auf sekundär erworbenen Maschineneinrichtungen beruhen.“286 Das habe auf den Dualismus von Naturalismus und Nativismus geführt. Baumgartens Idee der Willensfreiheit ging nun in die gleiche Richtung. Sie sollte Agens des sozialen Ausgleichs durch ein immer weiter in die wirtschaftliche Struktur greifendes Gerechtigkeitspostulat werden. Die methodische Neuerung der Gestaltpsychologie ging dem Organismusbegriff Drieschs parallel, bei dem die Organisation der Prozesse ebenfalls nicht vorher konstruiert worden war, sondern sich innerhalb der Prozessfelder selbst ausbildete. Die Gestaltpsychologie schuf im Einklang mit Physik und Biologie der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s einen neuen funktionalen und dynamischen Empirismus. Es entstand ein neues Bild der Wirklichkeit, sowohl der „äußeren“ Natur als auch der „inneren“ Verwandlungen des Menschen. Das freie Individuum, Principium des bürgerlichen Selbstverständnisses, konnte in der Bewegung seiner sozialen Realisierung behandelt werden. Die formell getrennten Bezirke der Moral freier Individuen, des Rechts und der Bewegung der Gesellschaft gelangten in Beziehungen wechselseitiger Relativität. Das gestattete es Baumgarten, die überkommenen Leitbegriffe des moralischen Sensualismus, wie Glück, Egoismus, Altruismus u. a., aus der Alternative von naturalistischem Determinismus oder idealistischer Substanzannahmen (Seele, Gegensatz von Geist und Leib, bzw. Leben) herauszuführen. Der kulturelle Evolutionismus des traditionellen Empirismus wurde überschritten. Die philosophische Problemlage veränderte sich zugunsten materialer, empiristischer Auffassungen.287 Damals suchte der deutsche philosophische Geist allerdings, der neuen klaren Luft sozialpsychologischer Methodik auszuweichen und die ererbten Materialen reiner Innerlichkeit zu verfeinern. Baumgarten stützte sich auf W. Köhlers Untersuchungen der physikalischen Gestaltgesetze. Er hob „die metaphysische Tragweite von W. Köhlers scharfsinnigen Ausführungen über die physikalischen Gestaltgesetze“ hervor.288 Eine bestimmte physikalische Struktur stelle sich immer wieder her, ohne dass der Vorgang aus der Lage einzelner Elemente herzuleiten sei. Das fasste Baumgarten als das anorganische Pendant der organischen Entelechie, die er im Sinne von Drieschs Vitalismus verstand. Dessen Gifford-Lectures hatte W. James „extremely suggestive“ gefunden und an seinen Schwei286 W. Köhler, Psychologische Probleme, a. a. O., S. 74. 287 Einen Materialismus der Gestaltpsychologie erkannte sogar die streng urteilende Berliner „Fachgruppe für dialektisch-materialistische Psychologie“ unter der Führung Manes Sperbers an. „Das Gestaltprinzip ist keine Denkkategorie, sondern ein Prinzip der Natur selbst“: Käte Busch, Die Gestaltpsychologie vom Standpunkt des dialektischen Materialismus, in: M. Sperber u. a., Krise der Psychologie – Psychologie der Krise, a. a. O., S. 101-106. 288 Der Weg, S. 102.

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zer Anhänger, den Psychologen Flournoy, geschrieben, kein Atom scheine sich unverändert fortzusetzen und seine Abweichungen zu korrigieren. Baumgarten rückte das alles in den Zusammenhang einer evolutionistischen Metaphysik. Einschließlich der Psychologie zeigten die neuen Naturwissenschaften ein durch Verbindungen aller Materieschichten untereinander bewegtes Universum. Wie sollte das Aufruhen der komplexeren Schichten auf den elementaren anders verstanden werden können als im Sinne einer Bewegung in der Zeit zur Synthese der getrennten Bereiche. Anorganisches und Organisches, Unbewusstes und Bewusstes, Individuen und Gattung bewegen sich aufeinander zu. „Das ist die große transzendente Perspektive, die sich hier eröffnet.“ Baumgartens Metaphysik der Bewegung in eine erfüllte Zukunft war materialistisch angelegt. Sie vermied ausdrücklich theologische Prämissen, wie es später im verwandten Denken Teilhard de Chardins der Fall war. Die Materie selbst stelle die zwecktätige Potenz dar.289 Um die schwindende Bedeutung unmittelbarer Beobachtung ohne Instrumentenlaboratorien zu berücksichtigen, den Wahrnehmungsbegriff aber festzuhalten zu können, stärkte Baumgarten einen Aspekt der alltagspraktischen Erfahrung: die Sinnlichkeit der kooperierenden Handlungsabläufe. Das erkenntnistheoretisch einzusetzen, bedeutete, die psychische Innenseite der Wahrnehmung als elementare soziale Selbstvergewisserung aufzunehmen. So suchte er der Krise der Wahrnehmung im Zeitalter der naturwissenschaftlich-technischen Rekonstruktion der zivilisatorischen Erfahrung mit einem handlungstheoretisch begründeten Empirismus zu begegnen. Baumgartens qualitativer Akzent fand sich damals ebenso bei Husserl, der in der Mitte der dreißiger Jahre mit dem Verlust der qualitativen „Füllen“ wahrnehmbarer Wirklichkeit eine kulturkritische Sicht auf die Zersplitterung des Lebensverständnisses verband. Baumgarten ging weiter in der Kritik kultureller Exklusivität, die mit der quantifizierenden Methodik verbunden werde. Er verband das mit einem für die damalige Philosophie außerordentlichen Gedanken. Denn er führte dafür nicht eine nicht-rationale ästhetische oder religiöse Weltschau ein, sondern das alltagspraktische Denken als voranführenden sozialen Faktor: „... entsprechend unserer Anschauung von der Erkenntnis als von einem zielgerichteten Gemeinschaftsverhalten, einem Kommenden unter Einschluss der allmählichen Entfaltung und Verbreitung der Wahrheit innerhalb der Menschheitsgeschichte“.290 Ein früher Höhepunkt des Pragmatismus der deutschen Philosophie. Baumgartens Empirismus basierte auf einem teleologischen Konzept, nicht nur für Individualmoral und Sozialphilosophie, sondern ebenso für den naturphilosophischen Horizont. Der Zweckbegriff verlor seinen formellen Gegensatz zum Kausalbegriff. In den Zweckgedanken ging, wie T. v. Uexküll es sogar für die „äußere“ Natur sagte, das empirische Verständnis der Fähigkeit des Zweckes ein, die Mittel zur eigenen Verwirklichung zu wählen.291 Für die Moralphilosophie ergab sich aus der Ganzheitskonzeption 289 Nicht das Bedürfnis der religiösen Lebensanschauung, aber deren theologische Dogmatik stellte Baumgarten knapp und entschieden in Frage: entweder Gott oder die Übel in der Welt. 290 Der Weg, S. XI. 291 T. von Uexküll, Der Mensch und die Natur. Grundzüge einer Naturphilosophie, Bern 1953, S. 113, 117.

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die Überwindung der naturalistischen Instinktpsychologie, die das Individuum entweder auf biologische Verhaltenszyklen reduzierte oder einen Dualismus von physischen Faktoren und geistigen Substanzen im Subjekt voraussetzen musste. Mit der empirisch gesicherten Teleologie des Gestaltprinzips vermochte der Empirismus, seine materiale Moral- und Sozialphilosophie nachhaltiger als ein überlegenes synthetisches Konzept zu entfalten. Köhler hatte den naturphilosophischen Bezug des Gestaltprinzips am Beispiel der neuen Atomphysik und deren nichtlinearen Kausalitätsbegriffes dargestellt.292 Der Ganzheits- und Zweckgedanke in der neuen experimentellen Psychologie und im damit parallelen vitalistischen Naturbegriff eröffnete dem Empirismus synthetisierende Möglichkeiten für die Überschreitung der naturalistischen wie der idealistischen Anthropologie und Moralphilosophie.293 Die Gestaltpsychologie gab mit Köhlers Charakteristik der Reflexpsychologie als einer der Struktur von Apparaten nachgebildeten Persönlichkeitstheorie einen zivilisationskritischen Ansatz zu erkennen; nicht weniger als die Psychoanalyse, deren Verzweigungen wesentliche Impulse für empirisch zuverlässige und konkrete evolutionäre Theorien der hochindustriellen Gesellschaft erzeugt haben. Freud sah selbst die kulturund gesellschaftskritische Potenz seiner analytischen Methode. Der überindividuelle soziale Horizont von kathartischer Behandlung verdrängter Lebensangst trat am deutlichsten in der Psychopathologie des Alltagslebens (1904) und in der Kulturpsychologie der späten Schrift Die Zukunft einer Illusion (1927) zu Tage. Zwang und Triebverzicht als Voraussetzung von Kultur, die von Freud selbst einordnender und herabsetzender

292 „Wenn wir das Spiel der Elektronen in einem Atom oder das Zusammentreten von Atomen bei der Molekülbildung betrachten, so finden wir keine besondere Topographie vorher festgelegt, nach der sich solche Vorgänge richten müssten. In jedem Moment bringt, abgesehen von konstanten Materialeigenschaften ... die gegenwärtige dynamische Situation die unmittelbar folgende Verschiebung aus sich selbst hervor.“ (Köhler, Psychologische Probleme, S. 70) Hier ist v. Uexkülls Prinzip ebenfalls formuliert: Zwecke bringen die Mittel ihrer eigenen Verwirklichung hervor. 293 Den großen Schritt des Gestaltprinzips für die psychologische Grundlegung der Philosophie sieht man gut im Rückblick auf W. Mc Dougalls (1871 – 1938) Grundlagen der Sozialpsychologie (1908). Hier war die Psychologie ebenfalls als theoretische Grundlage der Sozialwissenschaften verstanden worden. Auch Mc Dougall begründete eine neue Psychologie ursprünglicher Antriebe des Menschen. Die Grundlage des Charakters seien affektive Strebungen (daher hormische Psychologie, von horme, der Drang). Der Gedankengang ging aber von den Instinkten als der Basis primärer Emotionen aus: Fluchtinstinkt – Angstgefühl, Neugierinstinkt – Gefühl des Staunens, Kampfinstinkt – Zornemotion usf. usf. Der Instinktbegriff besaß die gleiche Funktion wie das Gestaltprinzip. Er sollte kompakte psychische Ganzheiten bieten, die es gestatteten, von der individuellen Psyche zu sozialen Verhaltensweisen und weiter zu Bewegungen der Gesellschaft zu gelangen. Doch die naturalistische Ausgangsposition musste dann großzügig modifiziert werden, um zu konkreten Antrieben der Person zu gelangen, die eine sozialpsychologische Grundlegung der Soziologie gestatteten. Der große Einfluss der Psychologie von W. James (Priciples of psychology, 2. Bde., 1890) beruhte darauf, dass sie mit dem Konzept des „stream of consciousness“ gestattete, den Behaviorismus zu überschreiten. (Vgl. J. Dewey, Das verschwindende Subjekt in der Psychologie von W. James, a. a. O., S. 63-76)

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Disziplin zugeschwistert wurde, erhielten hier bemerkenswerte sozialkritische Charakteristik.294 Der Beitrag der neuen Psychologie zum Bild der Wissenschaften vom Menschen konnte von den idealistischen und transzendentallogischen Richtungen der Philosophie jener Jahrzehnte kaum adäquat aufgenommen werden. Es sei denn, man verwob den Gedanken der Gestaltgesetze mit einem altmodischen Gegensatz von intellektuellen und emotionalen Antrieben, statt ihn sozialpsychologisch an den konkreten Feldbedingungen der Verhaltenssteuerung zu untersuchen. Dann ließ sich mit einem ausufernd vieldeutigen Ganzheitsbegriff operieren, der auch dem Protest des Gebildeten gegen die Opferung unserer Innerlichkeit an die anonyme industrielle Rationalität seine Zeile lieh. O. Spanns metaphysischer Universalismus oder auch L. Klages’ Dualismus von Geist und Seele gehen nicht empirisch vom Zwang der realen Phänomene aus, sondern setzen überempirische Ganzheiten voraus, die sich nur in empirisch deutbaren Erscheinungen manifestieren. Das geschieht, um von den empirisch zu behandelnden Themen die Sinnfragen abzulösen und diese mit antiintellektualistischen Prämissen zu verbinden.295 294 „So bekommt man den Eindruck, dass die Kultur etwas ist, was einer widerstrebenden Mehrheit von einer Minderzahl auferlegt wurde, die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht- und Zwangsmitteln zu setzen.“ „Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“ (S. Freud, Die Zukunft einer Illusion, Leipzig, Wien, Zürich 1927, S. 8, 17) Baumgartens Worte von 1933 erscheinen dieser Prognose Freuds fast nachgebildet. „Ein Recht, das den Schwächeren so belastete, dass er besser daran täte, den Kampf dem Frieden vorzuziehen, trüge keinen Kompromisscharakter, es hätte aber auch keine Aussicht auf dauernde Geltung.“ (Der Weg, S. 465) 295 Der Antiintellektualismus der Lebensphilosophie nahm den neuen, induktiv sichernden Ganzheitsbegriff nicht in Bezug zu den konkreten familiären, pädagogischen, beruflichen Prägungen des Menschen in dessen verschiedenen Lebensphasen, sondern als neuen Begriff für gefühlte Innerlichkeit. „Indessen, wir brauchen nicht einmal nach außen zu blicken, um es bestätigt zu finden, dass Bewusstsein nur dem Wetterleuchten gleiche, welches wieder und wieder über den Wassern des Lebens aufflammt, jeweils einen engen Umkreis erhellend, die fernen Horizonte aber in ihrem bewusstseinsfremden Dunkel belassend, weil wir davon täglich aus uns selber Kunde haben. Wenn die vermeinte Seelenkunde der Gegenwart den ganzen Bereich der ‚Sehergaben‘, begonnen von Ahnung, Traum, Instinkt bis zu Ferngefühl ... teils der sog okkultistischen, teils der medizinischen Halbwisserei überlassen musste, so ist das der Ausdruck nicht einer bloßen Lücke, sondern einer halbseitigen Gelähmtheit des Denkens, die ihren Grund hat in der intellektualistischen Verkennung des Lebens.“ (L. Klages, Bewusstsein und Leben (1915), in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, Bonn 1974, S. 649). Spann setzte gegen das von „individuellen Rechtsansprüchen ausgehende utilitaristische Gesellschaftsverständnis des Positivismus des 19. Jh.s, der Sozialpsychologie und der Sozialismus“ eine körperschaftlich-berufsständische Staatsauffassung (O. Spann, Der wahre Staat, Jena ³1931, S. 18ff.; vgl. ders., Hauptpunkte der universalistischen Staatsauffassung, 1931). Spann fasste die Gesellschaft als Ausgliederung („Gezweiung“) immer vorrangiger Ganzheiten, denen der Einzelne als dienendes Glied angehöre (ders., Gesellschaftslehre, Jena ³1930, S. 100). Daraus folgte in der Krise der ersten deutschen Demokratie eine Perspektive der Ablösung des „Individualismus der Freiheit“ und der „atomistischen Gleichheit“ durch eine Wiederherstellung organischer Ordnungen in Wirtschaft, Verfassung und Politik,

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Die wichtigsten Aspekte der rationellen Verbindung der neuen Psychologie mit der empiristischen Philosophie lassen sich vielleicht so zusammenfassen: Die mit dem Gestaltprinzip entwickelte Theorie psychischer Prozesse als „zeitlich ausgedehnter Ganzheiten“ im Sinne von „Handlungsganzheiten“ verband „einheitliche Gesamt-Handlungen im Zusammenhang mit bestimmten seelischen Energiequellen und bestimmten Spannungen“.296 Der überkommene empiristische Ausgangspunkt der Einzelperson wurde festgehalten, aber nun mit überindividuellen Tendenzen zusammengeführt, so dass die Kluft zwischen Empirischem und Intelligiblem geschlossen werden konnte. Der Einzelne wurde als schöpferische Individualität und in den realen Gruppeneinheiten der Gesellschaft gedacht. Das verjüngte den Empirismus zu einer aktuellen, engagierten Philosophie. Für dessen Sozialphilosophie ergab sich der zentrale Begriff des sozialen Feldes, der Seins- und Sinnzusammenhang verband. Er bezeichnete eine in Bewegung befindliche Struktur, die nicht nur die Handelnden prägt, sondern von ihnen auch zielgerichtet verändert wird. Statik und Dynamik sowie objektive Determination und Handlungsaktivität wurden zusammengebracht in einem Strukturbegriff, in dem Ganzheit Entwicklung bedeutete. Die induktive biologische, physiologische und medizinische Forschung spielte für den theoretischen Bewegungsraum, in dem sich die Gestaltpsychologie entfaltete, eine große Rolle. Lewin nannte neue Methoden der Biologie, die für die psychologische Feldtheorie anregend seien, so etwa der Übergang von phänomenologischer zu „konditional-genetischer Begriffsbildung“. „Das einzelne Gebilde wird nicht durch sein momentanes Aussehen definiert, sondern im Wesentlichen als ein Inbegriff von Verhaltensweisen. Es ist charakterisiert als ein Kreis von Möglichkeiten ... Die Erforschung der Kausalprobleme und der realen Zusammenhänge jeder Art hat letzten Endes den Übergang zu einer derartigen Begriffsbildung zur Voraussetzung, und zwar nicht nur in der Biologie, sondern ebenso in der Physik und Mathematik, aber auch der Geschichtswissenschaft und Ökonomik.“297 Damit wurde die Jamessche Psychologie des Pragmatismus (Psychology, 1890) fortgeführt, die von der naturwissenschaftlichen Theorie der Zweckorganisation aller Lebewesen für die erfolgreiche Bewältigung der Umweltanforderungen ausgegangen war. „Konditional-genetische“ Methode bedeutete nichts anderes als die Herauslösung des Zweckgedankens aus der spekulativen metaphysischen Denkform. Die Verbindung des Begriffs einer kombinierten Kausalität mit dem teleologischen Gedanken der Zweckmäßigkeit – nicht ebenso der Zweckläufigkeit – in einer empirischen Disziplin führte dem Empirismus ein angestammtes idealistisches Themenfeld zu. Zweitens ergab sich aus der Auffassung des Gegebenen als eines Kreises von Verhaltensweisen und Möglichkeiten die Bestärkung des Empirismus als einer Philosophie mit praktischer Intention. Die individuelle Freiheit war sinnvoll nur mit einem prononcierten Willensbegriff zu denken. Jetzt konnte die Willensorientierung da „das Organische nicht homogen, sondern abgestuft ungleich ist“ (ders., Art. „Rangordnung“, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. VI, 1925). 296 K. Lewin, Vorsatz, Wille und Bedürfnis, Berlin 1926, S. 14f. 297 Ebd., S. 19. Vgl. a. K. Lewin, Der Begriff der Genese in Physik, Biologie und Entwicklungsgeschichte, Berlin 1922.

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auf der Basis fachwissenschaftlicher Rationalität konkret analysiert werden. Das überschritt die augustinische christliche, wie die Schopenhauersche atheistische Dämonie des Willens als des Widerparts ohnegleichen zum Intellekt. Die Teilungen von Intellekt und Willen oder von Intellekt und Leben, beide umgibt ein theatralisches Kolorit. Sie stellen die letzten Zufluchtsorte archaischer Wesensmetaphysik innerhalb der säkularen Weltanschauung des bürgerlichen Zeitalters dar. Eine an der realen kulturellen Bewegung einer Epoche orientierte Philosophiegeschichte wird sich bemühen, die originären Anstöße und Beiträge zur philosophischen Vernunft in den Fachwissenschaften nicht zurückzusetzen und Zeiterscheinungen wie die Nietzsche-Exegesen, Heideggers Existenzialontologie, Schelers Lebensphilosophie und andere exklusive Vorlagen nicht überzubewerten.298 Von der Gestaltpsychologie nahm Baumgarten für seinen Empirismus vor allem, aristotelisch gesprochen, den Gedanken der Individualität als einer strebenden „ersten Substanz“ auf. „Bei unbefangener Betrachtung bietet die Erfahrung nirgends ein bloßes Neben- oder Nacheinander von Sinnesqualitäten, sondern stets ein geordnetes System, in dem die Qualitäten sich um einen Kern, eben die Substanz, gruppieren.“299 Er fand in der Überwindung des Assoziationismus eine nicht-naturalistische Grundlegung für die Teleologie der willensbestimmten Person. Das methodische Prinzip aktiver psychischer Ganzheiten ließ die Isolierung einzelner subjektiver Antriebe überschreiten. Baumgarten machte das fruchtbar für die Überwindung des individualistischen Ansatzes der sensualistischen Moralphilosophie und für seine pragmatistische aufklärerische Geschichtsphilosophie. f) Neuer Empirismus und Geschichtsphilosophie Baumgarten veränderte die perfektibilistische Geschichtsphilosophie durch zwei aufeinander bezogene Aspekte: durch den psychologischen Einsatz und durch die Metaphysik der sich ausprägenden Geist-Einheit. Es kommt bei beidem auf die Durchführung des Gedankens an. Philosophie der Geschichte und Historiographie rückte Baumgarten weit auseinander. Eine Geschichtsphilosophie, die beim feldtheoretischen, gestaltpsychologischen Begriff der Individualität und beim Unbewussten ansetzt, wird nicht in spezifische Epochen- oder Ereignisfragen eingreifen wollen. Sie besetzt eigene Ausgangsbezirke: die Linien der Handlungsidealität zwischen Unbewusstem, Wille und rationaler Verhaltenssteuerung. Das ermöglicht ein neues evolutionäres Grundmuster der Geschichtlichkeit des Menschen, doch ohne den Determinismus des positivistischen Empirismus des 19. Jh.s. Die Anerkennung der fachwissenschaftlichen Horizonte hatte schon beim 298 Eine gute Darstellung der philosophischen Fruchtbarkeit der Gestaltpsychologie gab Fritz Heinemann in seiner interessanten, aber inzwischen vergessenen Philosophiegeschichte der ersten Jahrzehnte des 20. Jh.s: F. Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist – Leben – Existenz, Leipzig 1929. Heinemann suchte andere Linien als diejenigen zu einem neuen Empirismus, stellte aber die reellen Möglichkeiten für neue Verbindungen von philosophischer Theorie und Empirie richtig dar. 299 Erkenntnis, S. 25.

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älteren englischen Empirismus die Geschichtsthematik für die sozialwissenschaftlichen Disziplinen geöffnet. In Smith’ und Humes reicher sozialwissenschaftlicher Sicht wurde die spezifische Geschichtsproblematik Teil der Gesellschaftsthematik. Marx dachte als Nationalökonom und Soziologe ebenso. Baumgartens Marx-Anerkennung in dessen Philosophiegeschichte von 1945 verläuft genau auf dieser Bahn. Die empiristische Erkenntnistheorie hatte ursprünglich die Verbindung von Philosophie und Psychologie mit dem Assoziationsbegriff vollzogen. Die einzelnen psychischen Elemente besäßen die natürliche Kraft oder Tendenz, sich zu assoziieren; beinahe wie in der Chemie die Elemente zu Zusammensetzungen strebten und dadurch Eigenschaften gewännen, die den Elementen fehlten, sagte der ältere Mill (1773 – 1836). Doch hatte bereits das Assoziationsprinzip einen weiterführenden, geschichtsphilosophischen Punkt besessen. Da alle Erkenntnis nur darstellte, was in den Beobachtungen und experimentellen Erfahrungen konkreter Individuen enthalten war und spekulative Zutaten ausgeschlossen blieben, bedeutete Rationalität eine durch die Generationen fortschreitende Differenzierung und Synthetisierung der kulturellen Erfahrungswelt.300 Baumgartens Geschichtsphilosophie basierte auf der Teleologie des Handlungsbegriffs, den er durch die Gestaltpsychologie nicht mehr individualistisch, sondern als Willensaktion im sozialen Feld verstand. Verhalten ist in sozialer Orientierung zweckmäßiges und selbstkorrigierendes Handeln. Die Maximen der Erfolgsoptimierung ergeben ein skeptisch berichtigtes Perfektibilitätsprinzip. Die konkrete Ausgestaltung der Idee von Geschichtlichkeit des Menschen mit Fortschrittsperspektive erfolgte über das in sich widerspruchsvolle Verhältnis von Unbewusstem, Willensentschluss und rationaler ZielMittel-Abwägung. Daraus ergab sich eine entschieden antideterministische Konzeption. Baumgartens Anerkennung der materialistischen Geschichtsauffassung bezog sich nur darauf, dass der Marxismus den Blick für die ökonomischen Faktoren der zivilisatorischen Prozesse geöffnet habe. Baumgartens freudianisch geprägte Geschichtsphilosophie ergab ein Widerspruchsmuster für die Verläufe historischer Prozesse. Die Konflikte sozialer Klassen, selbst die Aktualität sozialistischer Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse in der Großindustrie, können damit anerkannt werden, und Baumgarten entschied sich dafür. Aber die Begründung erfolgte situativ, nicht geschichtsphilosophisch deterministisch, und sie band sich an konkrete Willensentschlüsse und Rationalitätsleis-

300 Inzwischen hat freilich der verunsicherte Pragmatist Richard Rorty seinen Vorbehalt gegen den Idealismus des Allgemeinen wieder bis zum Relativismus Humes zurückgeführt und sogar dem effektbedachten logischen Anarchismus Paul Feyerabends zugestimmt, die Erwartung universalistischer kultureller Synthesen sei ein Rest von Mythenbildung. „Meines Erachtens hat Feyerabend recht, wenn er meint: Solange wir uns nicht der Metaphysik entledigen, die Forschung – ja das menschliche Tun überhaupt – sei nicht etwas Wucherndes, sondern etwas Konvergierendes, also nicht etwas, was immer mannigfaltiger wird, sondern etwas, was immer einheitlicher wird, gelingt es uns nicht, uns von den Motiven zu befreien, die einst zur Annahme von Göttern führten.“ (R. Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 23) Die naive Voraussetzung, Differenzierungen und Synthesen seien absolute Gegensätze, könnte belächelt werden, wenn daraus nicht weittragende und etwas archaisch absolute Schlussfolgerungen gezogen würden.

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tungen. Das konnte sehr entschiedene Parteinahme bewirken, und Baumgarten zeigte das in seiner Solidarität für die antinazistischen Emigranten in der Schweiz und schließlich in seiner persönlichen Verbindung mit dem sozialistischen Projekt der DDR. Doch seine sozialistische Entscheidung war vom theoretischen Ansatz her in Relation zu einer darüber hinausgehenden geschichtsphilosophischen Perspektive gehalten. Die sozialistische Gesellschaft blieb ihm Projekt in widersprüchlicher Bewegung, fast im Schopenhauerschen Zwiespalt zwischen erdgebundenen Willensentscheidungen und rationaler Folgenabwägung. Die übergreifende weltgeschichtliche Tendenz bestand für Baumgarten in der Zunahme des Altruismus. Er sah den Sozialismus seiner Zeit ganz in diesem Licht einer aus erlebten negativen, rationalitätsfernen Willenserfahrungen heraustretenden Phase neuen Solidaritätsverlangens, das sich auch in den Forderungen eines neuen Wirtschaftsrechts ausspreche und wohl noch verschiedenen Formwandlungen ausgesetzt sein werde. Die generelle Basis dieser Geschichtsphilosophie zunehmender Übereinstimmung und solidarischen Verhaltens setzte Baumgarten, psychologisch weit zurückgreifend, im Unbewussten an. Wir sind in dieser Ebene alle wie naturhaft einen Geistes und bewegen uns im Dunkel ungeklärter Antriebe. Das schuf die Zeitalter des Hasses und der Kämpfe um Vorherrschaft. Zugleich sind es darum die Epochen des Schuldbewusstseins. Zu Zeiten wird es stärker, wieder sinkt es zurück. Baumgartens Strafrechtsphilosophie fußt ganz auf diesem höchst skeptischen Denken vom Menschen. Die Idee der Strafe ist, dass wir uns der Schuld durch eine begangene egoistische Tat bewusst werden sollen. Alle anderen Strafzwecke nannte Baumgarten noch 1952 in der DDR einfache Nützlichkeitserwägungen.301 Jede Gesellschaftsform, auch die sozialistische, erlebt Rückfälle in die Triebhaftigkeit unterbewusster, unzureichend reflektierter Willensentscheidungen. Im Ganzen aber sah Baumgarten im pragmatistischen Sinne einen Aufstieg der rationalen Mittel-Zweck-Abwägung. Wodurch wird sie für sensualistische Moraltheorie angetrieben? Durchs Leiden. Gefühltes eigenes Unglück und der Anblick fremden Leidens bedrücken und rufen Schuldgefühle hervor. Daraus entstehen Wahrnehmungen von Möglichkeiten für Veränderungen. 5. Ästhetik und Künste a) Ästhetische Erfahrung Man findet Baumgartens Ästhetik konzentriert in zwei Paragraphen (8, 9) des Weg des Menschen und in zwei Paragraphen (51, 52) am Ende der Philosophiegeschichte von 1945. Nach einem vorzüglich allgemeinverständlichen Abriss der Problemgeschichte der Ästhetik folgt als „Kritische Bemerkungen zur Geschichte der Ästhetik“ seine eigene sensualistische Ästhetik. Wie es an Deweys Ästhetik-Schrift zu bemerken ist, so gibt auch Baumgartens Ästhetik guten Einblick ins pragmatistische Rationalitätsver-

301 A. Baumgarten, Die Idee der Strafe, a. a. O., S. 3.

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ständnis.302 Die wissenschaftliche Rationalität bilde nur einen Teil unserer intellektuellen Welterschließung. Sie liefere bestimmte „Orientierungslinien“ als „kognitiven Bestandteil der für die praktischen Berufe erforderlichen Ausrüstung“. Die konstruktive gegenständliche Realität der Natur- und Sozialwissenschaften entfernt sich weit von der „natürlichen“ Wahrnehmungs- und Denkwelt. Doch die nicht fachspezifische Intellektualität behalte auch im wissenschaftlichen Zeitalter ihre hohe Bedeutung. Mit den Handlungszielen eng verknüpft, zeige sie die Verbindung von kognitiven und volitiven Elementen des Verhaltens an. Eine demokratische Massengesellschaft sei ohne jedermanns Urteilsfähigkeit nicht denkbar. Der „pragmatische Charakter der Wahrheit“ tritt ins Licht.303 Das Zentrum der Baumgartenschen Ästhetik-Passagen versammelt sich um drei Gesichtspunkte. Es ist erstens die genannte Annäherung zwischen ästhetischer Weltaneignung und alltagspraktischem, sog. „vorwissenschaftlichem“ Bewusstsein. Das „gewöhnliche“ Denken erfährt starke Aufwertung. Damit ist bereits der zweite Aspekt gegeben: Die ästhetische Weltbildung ist gleichsam als Erfahrung legitimiert. Die Künste bilden eine charakteristische Weise von Erkenntnis. Das ist altes sensualistisches Erbstück, oft, z. B. bei Herder, mit der naturalistischen Einengung, unsere ästhetischen Fähigkeiten seien Erweiterungen der schon den Tieren gegebenen organischen Farb- oder Tonausdrücke. Der Sensualismus ließ sich hier bei der Abwehr des Idealismus ästhetischer Gestalthaftigkeit zur physiologischen Rückbeziehung auf die Sinnesorgane schlechthin verleiten. In der Geschichte der deutschen Ästhetik fand sich die Leistungsfähigkeit des Sensualismus besser vorgestellt in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1804).304 Der intellektuelle Aspekt der Künste ergibt sich aus der breiten Verankerung des Wissens in der Erfahrung. Die ästhetische Weltsicht ist eine Form der Erkenntnis, heißt es bei Baumgarten geradezu.305 Damit war immer und bleibt auch bei Baumgarten der Mimesis-Gehalt der Künste anerkannt.306 Vor allem wird damit die Möglichkeit – und 302 J. Dewey, Kunst als Erfahrung (1934), dt.: Frankfurt/M. 1980. 303 Der Weg, S. 183ff., 194. 304 Herders (und Goethes) großer Pantheismus der Geschichtsansicht, der Herders Kalligone (1800) im Zwang der Kant-Feindschaft fehlte, kehrte erst im Grundlegungsteil der Ästhetik des Herderianers Jean Paul wieder. „Weder der Stoff der Natur, noch weniger deren Form ist dem Dichter roh brauchbar. Die Nachahmung des erstern setzt ein höheres Prinzip voraus. ... Die Natur ist für den Menschen in ewiger Menschwerdung begriffen, bis sogar auf ihre Gestalt; die Sonne hat für ihn ein Vollgesicht, der Mond ein Halbgesicht, die Sterne doch Augen, alles lebt dem Lebendigen; und es gibt im Universum nur Schein-Leichen, nicht Schein-Leben. Allein das ist eben der prosaische und poetische Unterschied oder die Frage, welche Seele die Natur beseele, ob ein Sklavenkapitän oder ein Homer.“ (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Hamburg 1804, S. 18f) 305 Ebd., S. 188. 306 Dewey notierte zur Verteidigung der Mimesis am Beispiel der griechischen Kunst: „Gegenüber dieser Konzeption gibt es viele Einwände. Der Erfolg dieser Theorie liegt jedoch in ihrer Bestätigung der engen Verbindung zwischen Kunst und Alltagsleben. Auf diesen Gedanken wäre niemand gekommen, wenn die Kunst jenseits der Lebensinteressen gestanden hätte. Denn der Grundsatz bedeutete nicht, dass die Kunst eine ganz und gar wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der Objekt

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wenn man will – die kulturelle Funktion der Künste bezeichnet, die Erfahrung der Menschen in deren Zeitalter zu erweitern und zu vertiefen. Die Künste fällen und verbreiten „Urteile“, und sie fragen nach der Lizenz nicht bei den Herrschenden und deren Behörden. Eine Erkenntnisfunktion der Künste wird oft und mit guten Gründen abgewiesen; mit ihr sollte die ästhetische Darstellung in politische, religiöse, sozialemanzipative Dienste gestellt werden. Die sensualistische Aufklärungsästhetik hatte den religions- und verfassungskritischen Anspruch der Künste geradezu als Befreiung durch neue ästhetische Intellektualität vertreten, so unterschiedlich das auch für die einzelnen Gattungen zutreffen musste.307 Sie brachte gegen die rationalistisch-klassizistische Ästhetik, die die ästhetische Darstellung wohl der Intellektualität zuordnete, aber als zu einer noch verworrener Ideen, die Anthropologie des sinnlich-wirklichen Menschen in die Ästhetik. Da die Verführungskraft der Bilder und literarischen Figuren mit den neuen ästhetischen Medien so treibhausmässig aufschießt, wird man die Erkenntnisleistung der Künste für die Orientierung des Menschen in der heutigen Welt für unverzichtbar ansehen. Baumgarten hat die intellektuelle Leistung der Künste ganz dogmenfrei gesehen. „Im Kontakt mit den im Geist des Dichters wiedergeborenen Menschen werden wir uns klar über das, was uns im tiefsten Herzen anzieht und abstößt, und finden wir die inspirierenden Vorbilder, die uns die Kraft verleihen, unserm Ideal die Treue zu halten.“ In diesem besseren Sinne zur Bildung eines freien Geistes und sogar zur „Erziehung“ in der moralischen Selbstfindung gehören die Künste in Baumgartens Sensualismus zum unverzichtbaren Glücksgefühl des Menschen. Der ästhetische Genuss ist Teil der Bedürfnishaftigkeit des Menschen, denn „alles Glück ist im Ästhetischen fundiert.“308 Drittens schließlich führt Baumgarten die ersten beiden Aspekte in dem Gedanken zusammen, der die Künste von der gegenständlichen Nachahmung wie von Erzeugung bestimmter Lustgefühle abhebt. Mit Schellingscher idealistisch-pantheistischer Verve heißt es: Erst wenn der Künstler Gebilde schafft, die nach den Prinzipien aufgebaut sind, von denen auch die schöpferisch variierende Kraft der Natur sich in ihren Werken leiten lässt, dann erfasst uns das beglückende Gefühl unseres Einsseins mit einer stimwar, sondern dass sie Ideen und Gefühle reflektierte, die sich mit den Institutionen des gesellschaftlichen Lebens verbanden. Platon spürte die Beziehung so deutlich, dass er sich durch sie zu seiner Idee der Notwendigkeit einer Zensur für Dichter, Dramatiker und Musiker führen ließ.“ (J. Dewey, Kunst als Erfahrung, a. a. O., S. 14) 307 Es gab da in der deutschen aufklärerischen Literaturkritik eine mediokre moralisierende Linie gegen die Sturm-und-Drang-Literatur und gegen den Realismus Goethes. Man findet das Problem von einem Parteigänger dieser damals verbreiteten alt-aufklärerischen, intellektualistischen und moralisch erziehenden Ästhetik mit der Konsequenz obligater Goethe-Distanz, und doch nicht wie bei F. Nicolai, sondern solide dargestellt in C. F. Stäudlins (1761 – 1826) Geschichte der Vorstellungen von der Sittlichkeit des Schauspiels (Göttingen 1823), die auch ein langes, schon etwas verlegenes, Schlusskapitel gegen Goethe enthielt. – E. Cassirer hatte den hohen Anspruch der rationalistischen Ästhetik zum dogmenfreien Selbstverständnis des Menschen im großen Corneille-Kapitel seines Descartes-Buches von 1939 dargestellt: E. Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Stockholm 1939, S. 71-117. 308 Philosophiegeschichte, S. 564, 562.

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migen Welt.309 Die ästhetische Produktion soll mit der Aufnahme der Kunstwerke verbunden bleiben. In dieser Einheit erst kann sich der Symbolcharakter der ästhetischen Weltauffassung ausprägen. Er zeigt die Wirklichkeit in statu nascendi und damit als sinnvoll beurteilbare, weil gestaltbare. Er entfaltet die Möglichkeit des Wirklichen. Diesen zusammenfassenden Gesichtspunkt führt Baumgarten bis zur Metaphysik der Künste. Sie würden eine Einheit des Weltbewusstseins der Menschen vorwegnehmen, die geradezu auf eine Vorausschau der Transzendenz aller Individuen in einer kommenden Zivilisation des solidarischen einen Geistes hinausweise. Die vertiefende, auch eine befreiende Weltsicht großer Kunst steht außer Frage. Ob sie, wie Baumgarten sagte, einen vorausgehenden Blick in eine der erfahrbaren Welt transzendente Realität darstelle, möchte man sich in Frage setzen. Der sensualistische Erfahrungsbegriff des Pragmatismus besitzt seine Stärke darin, dass er die Vielfalt des Empirischen in Prozessverbindung mit der Alleinheit hält. Das erscheint selbst mit einer evolutionistisch gedachten Metaphysik schwer zu vereinbaren. Baumgarten hielt sich nahe unterm abweisenden Schild der Schopenhauerschen Ästhetik, so wenig sich das seinem tatkräftigen Eudämonismus einfügen konnte. Die Transzendenz, der die Künste Vorausschau gewährten, sie erhielt bei Baumgarten die von Schopenhauer kommende Entsprechung, dass die Individuation unser Leiden darstelle. Baumgarten sprach das ebenso aus. Die ästhetische Erfahrung ist dann im letzten und höchsten Bezug der Vor-Schein möglichen Endes unseres Leidens an der Verhaftung im Lebenswillen. Am deutlichsten in der Ästhetik zeigt sich die Spannung in Baumgartens Empirismus zwischen Pragmatismus und Metaphysik-Perspektive ideeller Transzendenz, einer Transzendenz nicht immer neuer empirischer Erfahrung, sondern der dem Empirismus eigentlich inadäquaten einer Empirie überhaupt. b) „Gefühle weisen über sich selbst aus“. Kritik einer ästhetischen Weltanschauung In der marktgesteuerten Lebenswelt wird der schöpferische Charakter der Emotionalität fragwürdig. Die Gefühlswelt spaltet sich. Sie wird als die eindimensionale des Konsumenten zur Ruhe gebracht. Auf der anderen Seite sammelt sich das Lebensgefühl unter Verhältnissen sozialer Abhängigkeit im Empfinden von Zwängen, irgendwie durchzuhalten. Die Kraft der sozialisierenden Gefühle bricht sich im hektischen Zauberglanz (glamour) von Warenanpreisungen (einschließlich aufgenötigter Dienstleistungen) und reklameträchtigen Ereignissen (events). Ein wesentliches Element der Emotionalität wird dann zerstört: das Empfinden von Unstimmigkeiten. Diese Unfähigkeit wandert über die Erosion der Qualität ästhetischer Wahrnehmungen, über die Simplifizierung von Bedürfnisstrukturen und andere Rückbildungen schließlich dahin, dass die Person sich zu zerteilen beginnt und nicht mehr zu verstehen vermag, was sie dem Anderen zumuten kann. Die Depravierung der ästhetischen Weltaneignung wurzelt in der Trennung zwischen Produzent und Verbraucher. Die Erzeugung ästhetischer Erfahrung wird Teil der Gewinnschöpfung. Das isoliert nach der einen Seite die ästhetische Erfahrung von

309 Der Weg, S. 193.

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der gewöhnlichen und schafft jener die Atmosphären des Feiertäglichen, denen die Abgeschiedenheit von der Masse (den pleistoi kakoi, den schlechten Meisten, bei Heraklit) gebührt. Nach der anderen Seite vulgarisiert es die ästhetische Mitteilung zur exzeptionellen Szenerie erschreckender und anderer voyeuristisch aufregender Bildkompositionen.310 Baumgarten hatte seine Ethik auf der sensualistischen Theorie der Intersubjektivität begründet. Er sprach das als die Gemeinsamkeit analoger Empfindungen und Urteile in der ästhetischen Rezeption aus. Von einer Ästhetisierung der sensualistischen Moral auf der Grundlage der Thematik des Unbewussten hielt er sich fern. Er ging vom schöpferischen Impetus der Emotionalität aus. Die Handlungsanreize, die ein Sollensbewusstsein aufbauen, setzen beim Gefühl der Differenz von Gegebenem und Gewünschtem und Möglichem ein. Gefühle setzen in Bewegung. „Die Gefühle haben die Eigentümlichkeit, über sich selbst hinaus zu weisen, etwas zu sein, das man nicht einfach hinnimmt, wie es ist. [...], dass sie samt und sonders ästhetischen Charakter tragen, und es ist das Wesen des Ästhetischen, Symbol zu sein, d. h. auf etwas zu deuten, das anders und mehr ist als es selbst.“311 Baumgarten ließ das moralische Urteil anheben mit dem Gespür für einen Erfahrungsgehalt. Daran schließe sich der Aufbau eines Bedeutungskomplexes an. Tatsächlich werden konstante Willensentschlüsse vom aktiven Impetus der Emotionalität getragen. Die intelligenten Lösungsversuche dienen spezifischen Einsichten. Durchgehend bleibt das Gefühl, die Differenz zwischen vorfindlichen und möglichen Erfahrungen beheben zu sollen. Baumgarten fasste im Symbolbildungsvorgang der Gefühle deren weltöffnende und aktivierende Gehalte. Wahrnehmungen, Worte, Erfahrungen repräsentieren Bedeutungen, die über sich selbst hinausweisen. Sie lösen die Siegel des selbstverständlichen So-Seins auf den alltagspraktischen Gewohnheiten und Verpflichtungen. Doch wie die Energie der emotionalen Erfahrungsgehalte mit deren symbolischem Charakter verbunden ist, so bleibt sie undifferenziert und deutet nur an. Das Gemeinte ist in der Zuordnung eines Zeichens zu etwas Bezeichnetem nicht vollständig präsent. Baumgarten erkannte die darin gegebene konservative Verwendbarkeit sozialer Gefühlsrichtungen. Er hatte bereits in seiner Moralschrift von 1917 die Verblendungen der Kriegshysterie als Verkehrungen eines Gemeinschaftsgefühls beschrieben. Nun erweiterte er das zur Kritik der Versuche, auf der Emotionalität „am Ende gar eine ganze Weltanschauung zu gründen“. Die Durchführung des Gedankens ist interessant und holt weit aus. Die ästhetische Wahrnehmung binde gegenüber der intellektuellen Explikation von Sachverhalten ans Gegebene. Intellektuelle Aussagen „erfassten einen Gegenstand immer nur in der Funktion eines anderen“.312 Das ästhetische Bild, die literarische Situation, ganz und gar ein Musikstück individualisierten ihre Objekte. Sie vereinzelten mit verführerischer Kraft 310 Buch- und Theatermarkt preisen das Einmalige, noch nie Dagewesene, Ungeheuere an, wie die Ruhmsucht den Auto- oder Küchenhersteller heimsucht und ihm eingibt, ein neues Lebensgefühl und eigentlich das Glück erfunden zu haben. Die Affekte werden diktiert. Nirgends spricht diese schwarze Fee wahrer als in der Mode. 311 Der Weg, S. 276. 312 Ebd., S. 189.

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die Welteinstellung. Wenn dann daraus eine umfassendere funktionale Einsicht gewonnen werden solle, bleibe nichts anderes als die Hoffnung auf die ekstatische Schau. Mit gutem sensualistischem Phänomenalismus setzt Baumgarten fort, wenn man den immer partikularen ästhetischen Eindruck festzuhalten suche, „droht Bewusstlosigkeit ... und damit entsteht die Gefahr, dass das Bewusstsein überhaupt und damit natürlich auch das Bewusstsein des Gegenstandes allmählich entschwindet.“ Solches Festhalten einzelner ästhetische Symbolisierungen führe entweder dazu, sich aus der Sphäre der realen Vielheit zurückzuziehen oder verleite zu einer Art narkotischer Verzückung. „Es ist ein großer Irrtum, wenn man glaubt, sich beliebig ins Blaue hinein begeistern zu können. Jedes Gefühl hat sein kognitives Element, das seine Qualität bestimmt.“ Die moralische Qualität der Emotionen werde von der Entfaltung der intelligiblen Gehalte bestimmt. Baumgarten sah den Konservativismus seiner Zeit mit einer Substanzialisierung von Gefühlen operieren. „Es soll, um es kurz zu sagen, nicht darauf ankommen, wen oder was man liebt, weswegen man bewundert, sondern dass man bewundert, woran man glaubt, sondern dass man glaubt; Fitzliputzli oder Mussolini tuts gerade so gut, wie der Gott der Liebe und Gerechtigkeit.“313 6. Evolutionistische Metaphysik Die Metaphysik korrespondiert der Antinomik.314 Unabschließbare Widersprüchlichkeit in der Welt und im Handeln lässt das Ganze als Idealität ohne empirische Realität denken. Der zentrale empiristische Begriff der Bindung ans Erfahrungsmäßige erfordert für die Möglichkeit von handlungsbezogenem Denken den Begriff der über die Partikularität aller Erfahrung hinausgehenden Idealität von Realität. Man würde sonst annehmen müssen, dass alle intendierten Handlungen von jedem beliebigem Zeitpunkt ausgelöscht werden könnten. Dies ist gleichsam der substantiale Aspekt am Metaphysik-Erfordernis des Empirismus.315 Dazu tritt der interessantere funktionale Gesichtspunkt. Hier geht die Metaphysik-Thematik aus der Gerichtetheit des Prozesses im empiristischen Handlungsverständnis hervor. Das praktisch Reale ist das situativ Begrenzte. Die Handlungsteleologie setzt das und zugleich eine Folge von Grenzüberschreitungen. Daraus bilden sich die Ideen übergreifender Prozessziele. Baumgartens Metaphysik stellte einen sol-

313 Ebd., 278-281. 314 Vgl. zuletzt M. Morgenstern, Metaphysik in der Moderne. Von Schopenhauer bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008. 315 Die Beziehung der Metaphysik auf die Antinomik: „Die Antinomien des Ästhetischen fordern, wie alle Antinomien, eine Synthese, in der sie zur Versöhnung gelangen. Nach unserer grundsätzlichen Stellungnahme zum Antinomienproblem trägt die endgültige Synthese, auf die abgezielt wird, jenseitigen Charakter, d. h., sie ist nichts, was sich gegenwärtig im klaren Denken realisieren ließe, sondern etwas nur der Ahnung Zugängliches. Sie ist ein Zustand, in dem sich die Dinge harmonischer vereinigen, als es in der Welt, in der wir leben, vorläufig möglich ist. Dabei ist der höhere Zustand nicht etwas von Ewigkeit zu Ewigkeit Existierendes, sondern ein Zukünftiges, dem uns der universelle Geschichtsprozess (unter Einschluss unserer eigenen gesellschaftlichen Aktivität) entgegenträgt.“ (Philosophiegeschichte, S. 560)

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chen Prospekt des teleologischen Charakters der Handlung dar. Sie sei nicht dogmatisch zu vergegenwärtigen, sondern ein Postulat, fast wie im Kantschen Sinne praktischer Vernunftideen. Metaphysik orientiert die kulturelle Existenz auf Zukunft und dokumentiert damit unsere Perfektibilität. Das Totum der innerweltlichen Prozesse ist nur als Transzendenz zu denken. Daran hängt die Verweigerung gegen empirisch innerweltliche Vollendung. „Könnt’ ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön ...“ Baumgartens Metaphysik ist eine gegen Jasagen.316 Ein dritter Gesichtspunkt an Baumgartens Metaphysik: Sie ward auf Freuds Theorie des Unbewussten begründet und als solches Agens sollte sie ein objektivierendes Korrelat zur Subjektivität des Sensualismus bieten. Die Annahme unbewussten psychischen Verlangens des Menschen nach Aufklärung über sich selbst und die sozialen Bindungen bildet ein objektiv-geistiges Agens. Unter der Voraussetzung einer Bestimmung des Menschen in zwecksetzender Tätigkeit ergibt sich aus den psychischen Minima mit guter Konsequenz die Idee der Tendenz zu einem Maximum geistiger Klarheit in der Einheit der Bindungen. Baumgarten nannte es für den ersten Schritt die Ausbildung einer solidarischen Arbeitsgemeinschaft der Menschheit. Der positivistische Evolutionismus fand sich mit der Ausdehnung zwischen unbewusster Anlage und Realisierung des Wissens über den Prozess in der langen Dauer zu einem nichtdeterministischen Bewegungsbegriff umgebildet. In solcher Spanne sind geschichtliche Abläufe nicht als Bürgschaften zu verwenden. Der Determinist Spencer hatte mit gutem Bedacht den endgültigen synthetischen Zustand ebenfalls in eine Entfernung von 1000 Jahren oder mehr gesetzt. So konnte Optimismus bewahrt, aber nicht verwegen werden. Baumgarten vermied Spencers struktursoziologische Begründung des Fernziels mit einer Selbstselektion von Gleichgewichtszuständen. Er meinte, eine in allen Menschen angelegte seelische Einheit werde sich gleichsam wie ausreifend von innen nach außen wenden. Damit ersparte sich Baumgarten in den Schriften der zwanziger Jahre das Erfordernis, auf die der sozialen Struktur entquellenden Widersprüche einzugehen. Mehr mit aphoristischem als historiographisch begründendem Duktus hieß es, in Künsten und Wissenschaften werde die Geist-Einheit aller Menschen bereits sichtbar. Die Schriften der dreißiger Jahre verbinden dann die Thematik zunehmend mit den sozialstaatlichen Einlassungen eines altruistischen Eudämonismus, ohne den metaphysischen Rahmen des idealistischen Pantheismus zu verlassen. An das Metaphysik-Konzept in der Konsequenz des psychoanalytisch erneuerten Pragmatismus schließen sich zwei Fragen an. Wie besteht die seelische Teleologie fort bei Erreichung der solidarischen Arbeitsgemeinschaft auf bestimmter Höhe? Welches Verhältnis soll die Teleologie der seelischen Energie – Baumgartens Metaphysik ist mit

316 In der DDR ging selbst das Urteil mancher selbstständig denkender Marxisten dahin, Baumgartens Empirismus sei eine simple Philosophie, die sich in plausiblen Sätzen erschöpfe. Man hatte natürlich die früheren Schriften Baumgartens nicht gelesen. Vor allem aber verkannte man im popularisierend usurpierten Hochmut des Hegelschen Begriffsrealismus die kritische Potenz des sensualistischen Pragmatismus. Sie bestand nicht in einem Aktivismus sans phrase, sondern in der Relativität alles empirisch Erreichbaren. Das löste repräsentatives Ordnungsverständnis auf.

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derjenigen Bergsons verwandt, der ebenfalls von James beeinflusst gewesen war317 –, welches Verhältnis soll der Evolutionsgedanke auf teleologischer Basis zur kausalen Verankerung von Bewegung in den Asymmetrien der Struktur gewinnen? Zunächst zum Ersten. Baumgarten sah gut, dass die Geist-Metaphysik innerhalb der langen Dauer zwischen Unbewusstem und realisierter solidarischer Assoziation eine Inkonsequenz darstellen würde. Dann müsste der Anfangspunkt organismisch gedacht werden. Aber die ganze Konstruktion würde auf eine naturalistische Weltgeschichte am Exempel der Biologie des Homo sapiens zurückfallen. Baumgarten blieb innerhalb der Geist-Evolution. Das schloss auch die schlechte Unendlichkeit unendlich weitergehender materialer Vervollkommnung aus. Es wäre auf die flache Annahme der Verwandlung allen aus Handlung sich bildenden sozialen Lebens ins Spiel eines Schlaraffenlands hinausgelaufen. Konsequent hat Baumgarten den mit bedenklichen Zusatzannahmen behafteten Weg eingehalten, über das empirisch-materiale Maximum hinaus die ideelle Transzendenz zu postulieren. Man werde wohl nicht annehmen, dass sich die Menschheit nach solchem Leiden ihrer Geschichtlichkeit mit der materiellen Bereinigung zufrieden geben könne. „Mit einem Zustand größtmöglicher diesseitiger Beglückung einer größtmöglichen Zahl als Ziel der Entwicklung wird sich der Mensch nicht dauernd befriedigt erklären. Wie aber kann das Glück beschaffen sein, wenn wir es nicht rein negativ als Erlösung vom Weltleid fassen wollen?“318 Also folgt ein noch nicht explizierbares Geiststadium als eigentliches Maximum. Die Zusatzannahmen blieben nicht verwahrt. Es konnte für den Liberalen auch nicht die Einheit der „Menschheit“ sein, in der alle Einzelnen durchaus verschwinden könnten. Nur die personale Idealität würde die realisierte Metaphysik darstellen können. Konsequent fasste Baumgarten die realisierte Einheit der Denkenden als individuelle Unsterblichkeit.319 Da die ideelle Person nicht als materiell entstanden gedacht werden könne, müsse sie auch als unvergänglich angenommen werden.320 Das verband sich folgerichtig der These von 1920, dass der die Vollkommenheit der Moral bildende Altruismus „in eine uns vorläufig nicht völlig erfassbare Welt transzendente Welt hinausweist“, in der „man anders als in unserer gegenwärtigen Existenz die Dinge von Angesicht zu Angesicht schauen wird“.321 Wenn die Menschheit ihre diesseitigen Arbeiten vollendet

317 Bergson hatte 1911 eine Vorrede zur ersten französischen Übersetzung von James’ Pragmatism (1909) geschrieben. Er erklärte sich für den Pragmatismus, weil er eine in schöpferischer Entwicklung bewegte Wirklichkeit denke, die sich in unendlicher Vielfalt auslege und von unseren Begriffen immer nur vorübergehend still zu stellen sei. 318 A. Baumgarten, Die Rechtsphilosophie des Pessimismus, in: Kritische Vierteljahresschrift, 3. Folge, Bd. XXIII, H. 4 (1930), S. 322. 319 „Das höhere Leben, um das es sich handelt, ist das Leben, das die unsterbliche Seele nach dem Tode des Leibes beginnt und das von intensiveren Freuden als denen, welche dieses arme Erdenleben uns bietet, erfüllt ist.“ (Moral, S. 145) Baumgarten weist die Vorstellung sinnlicher Jenseitsfreuden ab. Deutliche Vorstellungen könne man sich ohnehin nicht machen. Es handele sich um Genüsse hoher ästhetischer Art oder um altruistische Gefühle in deren erhabensten Formen. 320 Der Weg, S. 292. 321 Recht I, S. 65,

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habe und die irdischen Glücksmöglichkeiten erschöpft seien, werde sie „sich dem Transzendenten zuwenden und die Fesseln zerbrechen, die den Geist in seiner menschlichen Kondition in Form der Bindung an den Leib und das individuelle Bewusstsein unweigerlich belasten.“322 Die metaphysische Personalität führte unweigerlich auf den Gottesbegriff, einen ohne Zorn, der der Furcht beim Geschöpf bedarf und überhaupt ohne „die Schauer des Sakralen“. Gott ist in Baumgartens Metaphysik der voranziehende, über alle Epochen hinausweisende Geist, „das transzendente Ziel des Entwicklungsprozesses des Universums“. „Gott ist die höchste Form des eudämonistischen Prinzips.“323 Gott stehe nicht außerhalb einer fertigen Welt als deren transzendenter Repräsentant. Die Welt sei unfertig geschaffen, als Materie mit anstachelnder Widergeistigkeit versehen. Sie bedürfe unserer Tätigkeit, um sich selbst erst ganz zu entfalten. Es ist ein Manichäismus der christlichen Theologie, im 19. Jh. dann Element der besseren romantischen Naturphilosophie, insbesondere von Franz Baader ausgeführt. Man kann es in Blochs frühem Geist der Utopie (1918) und in seinem späten Buch Atheismus im Christentum (1968) wiedererkennen. Die Frage bleibt, wie der gemäß mystischer Tradition mit uns und durch unser Handeln mitziehende Gott als Geist des Ursprungs zu denken sei. Ein Gott des Resultats könnte schwerlich erst im Verlauf der Bewegung auftauchen.324 Das würde auch Baumgartens evolutionären und fürs Totum der Zeit gleichsam weltimmanent und pantheistisch gedachten Gott entweder aufheben oder doch einer näheren Erklärung bedürftig werden lassen. Gott müsste also zu Anfang auch das seiner selbst Unbewusste sein. Man wird fragen, ob Baumgarten seine über den Empirismus ausgespannte Metaphysik nach seinem Übergang zu Thesen des marxistischen Sozialismus wohl doch verlassen habe. Die Antwort lautet: Er hat die kommunistische Perspektive in seine Metaphysik einbezogen. Gerade sie war ihm deren Bestätigung.325 Auch ein Beispiel für die recht unterschiedlichen „Marxismen“, die sich unter den Leipziger Emigranten Bloch, Krauss, Großmann, Mayer, Markov nach 1945 versammelten, und ein Fragezei-

322 Der Weg, S. 288, 323 Rechtsphilosophie, S. 39. 324 W. James’ Theologie, im Unterschied zu Baumgartens a-theologischer Metaphysik dem kirchlichen Bekenntnis zugekehrt, wurde zuletzt wieder diskutiert von J. Taylor in dessen Edinburgher Gifford Lectures von 1999, dt.: Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt/M 2002. Allerdings wird nun der bei James ganz auf die individuelle religiöse Erfahrung konzentrierte, die kirchliche Organisation zurücksetzende Religionsbegriff kritisiert und unter Berufung auf eine immanente Krise des „säkularen Humanismus“ die Variante einer sog. katholischen Moderne vorgetragen. Es wird schwer fallen, clare et distincte mitzuteilen, was das sei. Baumgarten hatte seinen metaphysischen Gottesbegriff religiöser Dogmatik und von allen organisatorischen Verrichtungen entfernt gehalten. 325 Seiner Autobiographie wollte er eigentlich den Titel geben: Vom Liberalismus zum Kommunismus. „Auf allgemeines Anraten“ änderte er zum zeitgerechteren Bezug Vom Liberalismus zum Sozialismus (Berlin 1967) (Eine Notiz von Frau Baumgarten beim nachgelassenen Manuskript Philosophische Essays (Archiv der BBAW, Nachlass Baumgarten, Sign. 60))

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chen hinter den kahlen Stolz, Baumgarten sei endlich zu dem „Marxismus“ gelangt.326 Im nachgelassenen Manuskript Philosophische Essays, etwa aus den späten fünfziger und den sechziger Jahren, wehrte Baumgarten den vermuteten Vorwurf der Phantasterei ab. „Bei den Vorkämpfern für eine neue Gesellschaftsordnung ist eine solche Beurteilung durchaus am Platze, aber die Zeit wird kommen, da man sich in weiten Kreisen, ohne einen Anachronismus zu begehen, für eine neue Metaphysik interessieren wird.“ Seine Metaphysik spreche aus, was, als nicht historisch bedingt, „einen integrierenden Bestandteil des menschlichen Wesens bildet. ... Wenn einmal der große Schritt aus der Diaspora der Klassengesellschaft zum Zusammenschluss in der klassenlosen Gesellschaft getan ist, dann werden die führenden Köpfe sich nicht mehr der Einsicht verschließen, dass der geschichtliche Prozess mit seiner Kulturarbeit, um wahrhaft sinnvoll zu sein, ausmünden muss in einen Zustand der Dinge, der jenseits des bloß Menschlichen liegt und gegenwärtig nicht mit einiger Deutlichkeit konzipiert werden kann. ... der Durchbruch zu einer Universalität des Geistes erfolgt, wie sie mit der Individuation und der mit ihr verbundenen Fesselung des Psychischen an das Materielle nicht vereinbar ist. ... Nicht einmal der Fortbestand der Materie und das Gesetz des Todes sind uns unantastbar, wenn die Fortschrittsmöglichkeiten des Weltprozesses in Frage kommen.“327 Nun zur zweiten Frage an Baumgarten Metaphysik. In welchem Verhältnis steht deren teleologisches Prinzip zur Kausalität der Realprozesse? Es überformt diese, nach dem Muster der Handlungsteleologie, die die Kausalität für den Zweck einsetzt, unter dem der Prozess gelenkt wird. Damit bei Baumgarten nicht genug. Die Logik der Teleologie, der Kern dieser Metaphysik, soll die Kausalität auf die je erfahrungsmäßig gebotenen und insofern partikularen Bezüge eingrenzen. Sie soll verhindern, dass daraus ein übergreifender Determinismus gebildet wird. Das schließt empirisch begründete Aussagen über Wechsel der sozialen oder politischen Konstellationen nicht aus. Aber es versagt die deterministischen Festlegungen über Handlungserfordernisse. Da biete auch der recht verstandene Marx nur Varianten, nur Möglichkeiten. Die Ablehnung des Determinismus bildete für Baumgarten eine theoretische Instanz gegen Dogmatismus. Sie bestätigte den Pluralismus seines Pragmatismus. Baumgarten sah das Verhältnis von Struktur und Prozess in Marx’ Gesellschaftstheorie unbefriedigend behandelt, und zwar durch deren Begründung. Marx habe versucht, aus der Struktur der Gesellschaftsformationen selbst eine immanente Determination von deren Evolution zu begründen. Baumgarten wollte den Akzent besser auf die offene Aktivität erst der Individuen und dann, nach Aufnahme marxistischer Theoriestücke, der sozialen Schichten gelegt sehen. Hobsbawm sagte gut, auf Grund der strukturalen Prozessbegründung sei auch die Ver-

326 „Nahezu jeder nahm für sich in Anspruch, eine Persönlichkeit mit einem fertigen Weltbild zu sein, mit einer eigenen Lesart von den Klassikern des Sozialismus/Kommunismus. Kaum einer war bereit, das, was er sich in eigener geistiger Arbeit erdient hatte, in einen großen Kuddeltopf einzuspeisen.“ (W. Markov, Zwiesprache mit dem Jahrhundert. Gespräche mit T. Grimm, Berlin 1989, S. 188) 327 Archiv der BBAW, Nachlass Baumgarten, Sign. 60. Blatt 63, T. I des Manuskripts.

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suchung so groß gewesen, den Marxismus je nach Anlass „als Modell eines stabilen Funktionalismus oder aber umwälzender Veränderungen zu gebrauchen“.328 Hier ist vielleicht eine letzte Notiz über Baumgartens Bezüge auf philosophische Einflüsse der Zeit am Platz. Die Verbindung der Metaphysik zum neuen Idealismus der Jahrhundertwende und zu dessen Metaphysik-Entwürfen war von Baumgarten selbst genannt worden, also zu Emerson, zu James, Bergson u. a. Bergsons L’évolution créatrice von 1907 hatte Baumgarten stark beeinflusst. Hier war die Ablehnung der „mechanistischen Täuschungen“ der Fachwissenschaften und der positivistischen Philosophien zu einer umfassenden psychologisch-empiristischen Metaphysik geführt worden. Baumgarten stimmte mit Bergson überein, dass die Metaphysik des Pragmatismus einen evolutionistischen Weltbegriff ergebe. Bergson nannte diese Metaphysik des Konkreten bereits den „wahren Empirismus“.329 Das Bemühen, den Determinismus zu überformen, nicht auszuscheiden, zeigt sich noch besser, sieht man etwas weiter zurück. In der für Baumgarten wesentlichen englischen Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jh.s war die Verbindung von Empirismus und Metaphysik bei G. H. Lewes (1817 – 1878) einflussreich gewesen.330 Er hatte seinen Evolutionsbegriff, wie später Baumgarten, vor allem an Biologie und Psychologie orientiert. Der von der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung wenig beachtete Biologe und Evolutionstheoretiker T. H. Huxley (1825 – 1895) hatte ebenfalls auf Baumgartens Konzept einer evolutionistischen Metaphysik Einfluss.331 Huxley dachte einen weitgespannten Fortschritt von der kosmisch bestimmten Evolution des Entstehens und der Entfaltung der Menschheit hin zu einer zunehmend ethisch bestimmten Entwicklung.332 Das setze in mehreren Stufen an die Stelle des Überlebens der Geschicktesten, wie man Darwins Ausleseprinzip übersetzen könnte, das Dominieren der moralisch Besten. Huxley stellte das ganz antinietzscheanisch in den Rahmen einer auf Gerechtigkeitspostulate gerichteten Moralphilosophie. Die Überlegenheit der Stärksten gehöre anfänglichen und noch naturalistisch bestimmten Gesellschaftsepochen zu. Die kulturelle Evolution bedeute zunehmendes Überlagern der materiellen Determination durch moralische Solidaritätsmaximen. Stark hatte auf Baumgarten Huxleys Kritik des positivistischen Determinis328 E. Hobsbawm, Was haben Historiker Karl Marx zu verdanken?, in: ders., Wieviel Geschichte braucht die Zukunft?, München 2001, S. 200. 329 „Ein wahrer Empirismus ist ein solcher, der darauf ausgeht, das Original selbst so nah wie möglich heranzuziehen, sein Leben zu ergründen und durch eine Art intellektueller Auskultation seine Seele pochen zu fühlen; und dieser wahre Empirismus ist die wahre Metaphysik.“ (H. Bergson, Einführung in die Metaphysik, Jena 1909, S. 22) 330 G. H. Lewes, Problems of Life and Mind, 4 Bde., 1874 – 79. 331 Baumgartens Philosophiegeschichte behandelt zustimmend die Polemik Huxleys gegen Spencer (S. 465) Lewes wird als Kritiker des Determinismus Comtes und Erwecker Humes behandelt (S. 247) 332 Thomas Henry Huxley, Science and Culture (1881); Evolution and Ethics (1893); Evolution and Ethics and Other Essays (1897). Der Biologe Julian Sorell Huxley (1887 – 1975), Enkel des genannten Darwinisten T. H. Huxley, setzte die Theorie des biologischen und sozialen Evolutionismus fort: Evolution in Action (1953), dt. unter dem Titel: Die Entfaltung des Lebens, Frankfurt/M. 1954.

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mus A. Comtes gewirkt. Huxley war Humescher „Agnostiker“, wie er sich bezeichnete, und sagte von Comtes System, es führe letztlich auf einen Glaubenszwang ähnlich dem des Ultramontanismus. Huxley war im 19. Jh. neben Spencer der wichtigste Theoretiker gewesen, der Darwins Evolutionismus umfassend philosophisch fortführte und dabei für die kulturelle Evolution konsequent zu einer Metaphysik der kumulativen Potenzen des Geistes gelangte. Das Große an jedem kulturellen Evolutionismus ist immer der Gedanke der Vorläufigkeit der Gegenwart von Recht, Wirtschaftsordnung, Moral, religiösen Glaubenssystemen gewesen. Der Determinismus verlangt konkrete kausale Aussagen und verleitet zu ideologischen Auseinandersetzungen, wo allein experimentierende Offenheit helfen kann. Baumgarten dachte seine Metaphysik nicht innerhalb eines logischen Empirismus, sondern im Gang seines Sensualismus. Sie ist nicht die von Ch. S. Peirce (1839 – 1914) ausgehende Metaphysik der Zeichen, mit der der logische Empirismus konsequent vom Begriff der Bedeutung zum Postulat der prozessierenden Kongruenz aller Bedeutungen gelangte, so dass dem Befolgen von Regeln realer Sprachspiele das transzendentale Sprachspiel zu Grunde liegen müsse. Es stellt die Bedingung der Möglichkeit von Sprachspielen überhaupt dar und bildet gleichsam ein Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Sprachliche Regelbefolgung sollte voraussetzen, wie K. O. Apel sagte, „dass so etwas wie eine intersubjektiv einheitliche Welt-Interpretation auf dem Wege der Zeichen-Interpretation muss erreicht werden können“.333 Auch die ideale Kommunikationsgemeinschaft, die K. O. Apel als logische Prämisse der Theorie argumentativ rationaler Kultur eingeführt hat, stellt eine Metaphysik-Voraussetzung im ursprünglichen Leibnizschen Sinne dar. Das logische Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft bildet die unendlich exakte Prämisse begründungsfähiger empirischer Aussagen. Apel geht freilich nicht so weit, das logisch Exakte evolutionistisch mit dem zeitlichen Prozess zu verbinden. In Bezug auf den logischen Empirismus hatte Baumgarten eingewandt, dass die kulturellen Prozesse schwer als gerichtete Abläufe von Verständigungen über Zeichen dargestellt werden könnten. Es erschien ihm als die Öde des Russellschen atomistischen Neorealismus. Er wollte am komplexen sozialen Handlungs- und Wahrnehmungsbegriff festhalten, und das darum, weil nur dann eine reale zivilisationsgeschichtliche Evolution zu denken sei. Er meinte, die Perspektive optimierter Zeichenverständigungsvorgänge erforderte viele Zusatzeinfügungen, um vom szientifischen Bezirk zum sich an Erfahrungen korrigierenden Verhalten zu gelangen. Die Metaphysik des sensualistischen Pragmatismus Baumgartens basierte auf der immanenten Teleologie des Handlungsbegriffs. Das führt auf die tiefer liegende Voraussetzung der zentralen, alles tragenden Verbindung von liberalem Individualitätsverständnis und Metaphysik des universellen Ich. Sie besteht im Zeitbegriff der empiristischen Tradition. Ohne den Zeitbegriff – wie auch immer interpretiert – wäre jede Metaphysik nur eine Phantasmagorie. Der Zeitbegriff war in Lockes Linie von der transzendenten duratio generaliter abgelöst worden. Er

333 Vgl. K. O. Apel, Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1976, S. 160-163.

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VIERTES KAPITEL: PHILOSOPHIE

wurde nun subjektiv, und zwar von der psychischen Realisierung der Aufeinanderfolge konstituiert. Nur so ist der pragmatistische Aktivismus mit der Perspektive einer ideellen Gesamtheit aller sozialisierenden Handlungen zu vereinbaren. Baumgarten verband Bergsons Gedanken der intuitiv erfahrbaren qualitativen Zeit als der durée, der unablässig Neues entquelle, mit der klassischen empiristischen Konstitution der Zeit aus dem kontinuierlichen Erlebnisstrom in einem vertieften Sinne. Zeit bilde die Erstreckung der Freiheit, indem sie nun auf die in der Handlungsteleologie immer schon enthaltene Verbindung von Zukunft und Universalisierung der Individualität bezogen wurde.334 Es war zugleich eine Gegenposition zu Heideggers spätromantischer Ekstatik der Zeitlichkeit des Daseins. Eine metaphysische Überformung der Thematik des historischen Wandels, die Baumgarten so ausgeprägt vertrat, geht über die historische Auffassung der systematischen gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen hinaus. Hier bildet nach wie vor die Annäherung von Struktur- und Geschichtswissenschaften das Problem, die von der sozialwissenschaftlichen Methodik der Historiographie her erfolgt war. So stellte M. Mann die Strukturwissenschaft Soziologie als eine historische Sozialwissenschaft dar. Jürgen Kocka bedauert, dass Soziologie und Geschichte „heute leider wieder in größerer Distanz zueinander stehen als vor 20 oder 30 Jahren.“335 Hier liegen wohl auch die aktuellen philosophischen Probleme der Beziehung von Kausalität der Struktur und deren Bewegung in der Zeit. – Eine Philosophie, wenn es eine ist, hört oder liest man nicht, ohne sich durch sie zu verändern. Die Botschaft der Philosophie Arthur Baumgartens, die nun aus Liebe zu deren Weisheit und menschlicher Verantwortung einmal umrissen werden sollte, sie lautete: Eine erfahrungswissenschaftlich geführte Philosophie wird die Trennung von Geist und Verhalten verlassen und beitragen, eine neue Kultur des Wissens zu begründen, für eine Menschheit, die sich in solidarischem Zusammenwirken forthin entfalten könnte. In der deutschsprachigen Philosophie des späten 19. und des 20. Jahrhunderts findet sich keine solche Verbindung von sozialwissenschaftlicher Fachdisziplin, philosophischer Wissenschaft und gereiftem, eingreifendem Enthusiasmus für Gerechtigkeit. Es ist das Werk eines europäischen Aufklärers in vier schwerblütigen, sich selbst verkennenden und verlierenden deutschen Zeitaltern.

334 Baumgarten zum Zeitproblem im Sensualismus: Erkenntnis, S. 50ff, Auseinandersetzung mit Kant: S. 368ff, mit Bergson: S. 541ff. Das im Zeitbegriff vorliegende Unendlichkeitsproblem hatte Baumgarten fürs Verhältnis der Logik zur Diskussion um den mathematischen Intuitionismus der Zeit (Brouwer, Becker) behandelt: Der Weg, S. 25ff. Die philosophischen Arbeiten zum Thema aus der Zeit verfolgte er wahrscheinlich nicht (u. a. J. Cohns (1869 – 1947) Geschichte des Unendlichkeitsproblems im abendländischen Denken bis Kant, Leipzig 1896 und dessen Theorie der Dialektik, Leipzig 1923; E. Cassirer, Das Problem des Unendlichen und Renouviers „Gesetz der Zahl“ in der Cohen-Festschrift, Berlin 1912, S. 85-98) 335 J. Kocka, Vortrag zur Verleihung des Preises „Das politische Buch“ der Friedrich Ebert Stiftung an Michael Mann für dessen Buch Die ohnmächtige Supermacht (The Incoherent Empire) am 13.5.2004. (Vgl. a. P. Burke, Soziologie und Geschichte (1980), Hamburg 1989)

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Philosophie soll und kann die Welt verändern, indem sie sie interpretiert. Solcher Empirismus mit aufgeschlagenen Augen ist nicht Fetischismus der Tatsachen, sondern Blick für deren Antinomien und für mögliche Lösungsprozesse. Baumgarten dachte, wie es Jean Paul in seinem Hesperus gesagt hatte: „Die Gegenwart ist ein Vorbericht von der Zukunft“. In jeder jungen Generation, wenn die Leiden von den Vorangegangenen bis auf den Grund ausgeschöpft sind, wird das Ingenium solchen Geistes sich wieder entzünden.

Anhang

Zu den Dokumenten des Anhangs Die folgenden Dokumente vermitteln etwas vom Werk Baumgartens im zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Die beiden Briefe Plessners beziehen sich auf Zeitschriftenpläne. 1923 ging es um eine internationale philosophische Zeitschrift, Philosophisches Journal, die während des Weltkrieges und in den Jahren der Weimarer Republik nationalistisch befangene deutsche Philosophie der demokratischen westeuropäischen und amerikanischen Kultur zu öffnen. Plessner hatte die Zeitschrift angeregt. Er war damals Privatdozent in Köln gewesen, bereits mit Baumgarten befreundet, der 1920 von Basel an die Kölner Universität auf die Professur für Strafrecht und Rechtsphilosophie gekommen war, aber 1923 nach Basel auf den für ihn eingerichteten Lehrstuhl zum gleichen Arbeitsgebiet zurückkehrte. Zunächst war der Vorschlag an den Verleger Springer gerichtet worden, der Jaspers um Rat gefragt und vorgeschlagen hatte, das Projekt zu reduzieren. Darauf wandte sich Baumgarten an Felix Meiner, der bereit war, den Verlag zu übernehmen, aber mit gutem Blick riet, das Projekt, das dann doch nicht zustande kam, ganz auf Internationalität zu begründen. Interessant sind Meiners klares Urteil über die Tendenzen nationalistischer Isolierung der deutschen Philosophie in den so berufenen zwanziger Jahren und der Vorschlag, mit der Vorstellung der englischen Philosophie zu beginnen. Der Brief Plessners vermittelt einen Eindruck von der Schwierigkeit, in der Weimarer Zeit selbst einen kleinen Kollegenkreis für ein prononciert demokratisches philosophisches Projekt zusammenzuführen. Er zeigt außerdem den Bezug auf die angloamerikanische Philosophie für die Erneuerung der deutschen Philosophie. Der zweite Brief Plessners bezieht sich auf den (am Ende wiederum unausführbaren) Plan einer von den Nazibehörden unabhängigen Zeitschrift, Vox critica, die von den Niederlanden (Plessner) und der Schweiz (Baumgarten) aus vor allem deutschsprachige Texte bringen sollte. Die beiden Briefe Drieschs (1867 – 1941) geben die theoretische Nähe Baumgartens zu dem 20 Jahre älteren Biologen und Philosophen zu erkennen. Baumgarten nahm Drieschs entelechetischen Natur- und Kulturbegriff – wie auch James’ antiassozianistische Psychologie – auf, um seinen Empirismus und Eudämonismus über das individualistische Element des angloamerikanischen Empirismus und Liberalismus hinauszuführen. Driesch galt als einer der wenigen unbeirrt liberalen Köpfe in der deutschen Philosophie. Beim ersten Zeitschriftenplan hatte Meiner ihn als Spiritus Rector des Projekts vorgeschlagen.

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ANHANG

Die Würdigung des philosophischen und rechtsphilosophischen Buches Baumgartens durch den vorzüglichen Fachkollegen Karl Engisch ist ein Beispiel für die Anerkennung, die Baumgarten seinerzeit im Fach genoss. Engisch würdigte Philosophie und Demokratismus Baumgartens übrigens noch nach dem faschistischen Machtantritt im Rezensionsorgan der Berliner Akademie der Wissenschaften. Thomas Manns Brief und die Anzeige der Methodenlehre Baumgartens von 1939 in der Schweizer NationalZeitung sprechen den Respekt aus, den Baumgartens Aufnahme marxistischer methodischer Prämissen und dessen einsetzende Verbindung von Sozialliberalismus und Sozialismus damals erfahren konnten. Der Bericht ans Baseler Erziehungsdepartement, das ihn für die Leipziger Gastvorlesungen 1946/47 beurlaubt hatte, vermittelt einen Eindruck, welch bescheidenem, aber menschlich stolzem Neubeginn Baumgarten sich und sein Werk anvertraute. Ich danke dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für die Genehmigung zur Erstveröffentlichung der Briefe Plessners und Drieschs, und Herrn Manfred Meiner (Hamburg) für die Genehmigung zur Veröffentlichung des Briefes und des Gutachtens von Felix Meiner an Arthur Baumgarten. Der Bericht an die Baseler Unterrichtsbehörde war mir 1972 in einer Durchschrift mit einigen anderen Materialien von Frau Helene Baumgarten übergeben worden. G. I.

ANHANG

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1. Helmuth Plessner an Arthur Baumgarten, 30.3.1923 Hochverehrter, lieber Herr Professor!

W., 30.3.23

In ganz kurzen Abständen sind Briefe von Driesch, Jaspers und Springer eingetroffen. Driesch hält unseren Plan für ausgezeichnet, ist aber pessimistisch betr. der Möglichkeit, das Journal längere Zeit durchzuführen. „Die Weltverhältnisse werden immer schlechter, ebenso, mit Ausnahme Von USA, China, Großbritannien, die Valuta.“ Draußen sind als Touristen nur Amerikaner. Selbst Engländer mit ihren 35 % Steuern (!!) können nicht mehr Vergnügungsreisen bezahlen. „Wer hält sich neue Zeitschriften?“ Driesch beurteilt die weltpolitischen Fragen direkt als gefahrbergend und zweifelt an ihrer rein diplomatischen Lösbarkeit. Dabei spricht er nur von der pazifistischen Frage, dem China- und dem Russlandproblem. Gleichwohl will Driesch tun, was er kann, hofft im Jahr 24 uns einen Aufsatz geben zu können. Ein Verzeichnis von Namen, das er schickt, lege ich bei. Wirkt draußen möglichst für Schwarz Rot Gold, was ihm von den Überseedeutschen offenbar schwer verdacht wird. Am 7.7. Abreise nach Japan. Rückkehr nach Leipzig im Oktober. „Nennen Sie mich lieber nicht Mit-‚herausgeber‘, sondern zählen sie mich zum wissenschaftl. Beirat oder so etwas.“ (Das geht natürlich nicht, er muss aufs Titelblatt „unter Mitwirkung“.) Springer und Jaspers, letzterer zur Mitarbeit unter gewissen Bedingungen bereit, formulieren gleiche Bedenken. Springer hat sich nämlich an Jaspers, den ich ja auch als in Frage kommenden mit„wirkenden“ bezeichnet hatte, gewandt u. ihn um Rat gebeten. Auf seinen Wunsch (Springers) schreibt er mir. Springer ist bereit, es zu wagen, und zwar offenbar ohne finanzielle Stützungsaktionen unsererseits. Nur will er Programm in allen Einzelheiten und mögliche Mitarbeiterschaft usw. völlig geklärt haben. Jaspers und Springer wenden sich unbedingt gegen die Mehrsprachigkeit und dagegen, dass Ausländer auf dem Titelblatt stehen, also gegen eine dergestalte Internationalität. Sie begrüßen aber die Mitarbeit von Ausländern und kontinuierliche Berichterstattung über ausl. Produktion. Das Unternehmen scheint Jaspers ebenfalls sehr sinnvoll u. erwünscht. Er glaubt nicht, dass der Absatz des Journals im Ausland von der Mehrsprachigkeit irgendwie tangiert wird. Ich finde nun eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder eine rein internationale, mehrsprachige Zeitschrift mit einer entsprechend zusammengesetzten internationalen Redaktion, in einem neutralen Land erscheinend und jeder Redakteur sorgt für sein Land oder aber unser Projekt jedoch gemildert: Deutschsprachig, jedoch – und dies werde ich Jaspers u. Springer unbedingt gegenüber aufrecht erhalten – neutrale Mitherausgeber, vielleicht auch Russen? Unser Ausgangsprojekt findet in Deutschland, da nicht Springer, sicher keinen Verleger und sicher nur wenige Mitarbeiter, da sie alle das Odium des Vaterlandsverrats fürchten werden. Besser bei der allgemeinen Stimmung einen ganz bedeutend kleinen Abnehmerkreis als es ohnehin überhaupt noch bei uns und draußen möglich ist. Rein aber auf den ausländischen Absatz die Sache einstellen, können wir bei einer derartigen Desavouierung durch den überwiegenden Teil der Heimat wohl nicht riskieren und angesichts der von Driesch geäußerten Bedenken auch nicht gut verantworten. Wenn Spranger und Troeltsch

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nicht die Jaspersschen Bedenken erhoben haben, so liegt es nach meiner Überzeugung nicht an ihrer politischen Überzeugung (als intimer Freund Max Webers ist Jaspers zweifelsohne Demokrat), sondern daran, dass sie als Berliner Professoren nur noch Gott Rechenschaft zu sein glauben und nicht auf andere zu hören sich verpflichtet fühlen, außerdem bemerkenswert „un“akademische Naturen sind, während Jaspers hier schon mehr den Typ des Akademikers darstellt und auch stärkere Verantwortung vor allem gegen den ihn um Rat bittenden Verleger fühlt und sich offenbar auch stärker für die Sache interessiert. Wenn selbst im Ausland finanzielle Bedenken eine Rolle spielen (nach Driesch), so dürfen wir Deutschland als Absatzgebiet nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Ausland verlieren wir jedoch auch nach meiner Überzeugung, wenn wir gleichmäßig Ausländer mitarbeiten lassen, als Absatzgebiet nicht. Ferner die durch Mehrsprachigkeit am meisten zum Scheuen gebrachten sind unsere Professoren und Professoraspiranten, aus denen sich, der geistigen Struktur unseres Landes gemäß im Wesentlichen – auch wenn sie unakademisch sein wollen – unsere Mitarbeiter rekrutieren. Unsere Pflicht ist es aber nach meiner Überzeugung, bei allem Dokumentieren einer unbeugsamen reinen Gesinnung bez. der Gleichwertigkeit nationaler Formen geistigen Schaffens und der Internationalität der Wissenschaft nicht durch Formfehler das Unternehmen sofort seiner Wirksamkeit zu berauben. Wir geben dieser unserer Gesinnung einen durchaus adäquaten Ausdruck, wenn wir neutrale Mitherausgeber offen aufführen, ohne doch die berechtigte oder unberechtigte Bitterkeit unserer Landsleute zu entflammieren (?), wenn wir polyglott und Arm in Arm mit den früheren Feinden auftreten. Was im Jahr des Ruhreinmarschs eine psychologische Unmöglichkeit ist, braucht es nicht immer zu sein. Gehen wir also schrittweise vor, um das zu realisieren und zwar sofort zu realisieren, was wir wünschen und uns mit Sicherheit verloren ginge, wenn wir es mit einem Schlage versuchten. Wir dürfen das Maß unserer nationalen Empfindlichkeit nicht für den Durchschnitt, sondern für den Grenzwert des heute in Deutschland Möglichen ansetzen. Wir operieren dann mit einem viel größeren Sicherheits- und Wirkungsgrad. – dies also würde ich vorschlagen: der um die neutrale Mitherausgeberschaft modifizierte Abänderungsvorschlag von Jaspers-Springer, der noch Möglichkeiten der Übersetzung fremdsprachiger Beiträge vorsehen müsste, der zweifelsohne am schnellsten realisierbare Modus unseres Projekts – Springer spricht „nicht vor Anfang des Wintersemesters“! – oder: rein international entweder bei Rascher oder in Holland mit Redaktionskommis sicher für die einzelnen Länder (?), deren Zusammenfassung (rein geschäftlich) in der Hand eines Neutralen liegen müsste. Hierbei könnten wir als Zentrale für Deutschland dienen. Da Buytendijk mir jedoch noch nicht geantwortet hat – vielleicht weiß Scheler hierüber näheres – und Rascher (der Schweizer Verleger – G. I.) nicht gerade sehr enthusiasmiert zu sein scheint – würde ich für den Weg zu Springer optieren. Der andere ist auch zu kompliziert. Hier Abschrift der von Driesch mitgeteilten Adressen: (Driesch nannte vier chinesische, außerdem nur amerikanische und englische Kollegen, darunter Dewey, Watson, Thorndike, Mc Dougall, Mc Taggart, Russell, Schiller – G. I.)

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... Ich warte dann Ihre Antwort natürlich ab, bevor ich Jaspers und Springer antworte. Über Ihren hochinteressanten Aufsatz bei nächster Gelegenheit. ... Mit den herzlichsten Ostergrüßen Ihr stets treu ergebener Helmuth Plessner Quelle: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Arthur Baumgarten, Nr. 107.

2. Brief und Gutachten Felix Meiners, 5.5.1923 Leipzig, den 5. Mai 1923. Kurzestr. 8. Herrn Professor A. B a u m g a r t e n , KOELN – LINDENTHAL, Geibelstrasse 2. --------------------------------Sehr geehrter Herr Professor! Ihre Anregung hat mich eingehend beschäftigt. Die Kantate-Tage verhinderten bisher, dass ich Ihnen ausführlichen Bescheid gab. Soeben ist aber nun die kleine Denkschrift fertig geworden, die ich im Anschluss an Ihren Plan ausgearbeitet habe. Ich erlaube mir, diese Ihnen anbei zu überreichen. Wenn also Springer Ihren Plan nur im beschränkten Umfang durchführen will, so halte ich den Plan für zu eingeschränkt, als dass er Erfolg haben könnte und komme auf einen viel weitergehenden Vorschlag. Ich bitte Sie, diese Fragen eingehend zu erwägen und mir Ihre Stellungnahme dazu mitzuteilen. Auf alles weitere kann ich heute wohl verzichten, ich möchte nur betonen, dass ich versucht habe, den Gedanken rein sachlich durchzudenken. In vorzüglicher Hochachtung Anlage Zur Debatte steht der Plan einer philosophischen Zeitschrift, welche die Aufgabe haben soll, das deutsche philosophisch interessierte Publikum bekannt zu machen mit den im Auslande herrschenden philosophischen Strömungen und so der deutschen Philosophie neue Anregungen und neues Leben zuzuführen. Vorgeschlagen wurde der Titel: „Philosophisches Journal“.

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Vorgeschlagen wurde ferner, die betreffende Zeitschrift etwa dreimal jährlich mit einem Umfang von ca. 5 Bogen erscheinen zu lassen. Das Titelblatt soll als Mitherausgeber (bezw. Mitarbeiter) neben einigen deutschen Gelehrten von internationalem Ruf (Scheler, Driesch, Spranger) einige der wichtigsten ausländischen Philosophen nennen (Buytendyk, Oltramare, Häberlin, Del Vecchio, Dewey, Russell). Den Inhalt der einzelnen Hefte sollen neben (über die Philosophie des Auslandes orientierenden) Aufsätzen deutscher Autoren zwanglose Artikel von Ausländern in der Sprache ihrer Länder bilden. Hinzukommen sollen Auswahlübersichten und Sammelreferate aus der Literatur des Auslandes. Die Honorarfrage, deren Schwierigkeit erkannt wird, soll durch Entgegenkommen der Autoren gelöst werden. Zur Kritik des Vorschlages. Wertvoll an diesem Plan ist der Gedanke, dass man ein Organ schaffen sollte, in welchem der internationale Austausch von Geistesgütern philosophischer Art angebahnt wird. Das Bedürfnis nach einem solchen Zentralorgan ist jedoch in den ausserdeutschen Ländern mindestens ebenso stark wie in Deutschland. Der spanische Philosoph etwa weiss vom Englischen und von seiner Arbeit genau so wenig wie der Deutsche. Deshalb wird ein Spanier von einer in Deutschland erscheinenden, in der Hauptsache in deutscher Sprache geschriebenen Zeitschrift, die beispielsweise einmal in einem Hefte über die englische Philosophie orientiert, kaum mehr Notiz nehmen, wie von der englischen Philosophie selbst. Es ist also gegen den Plan einzuwenden, dass er unter einer gewissen Einseitigkeit leidet, die die Absatzmöglichkeiten im Auslande (und auf diese ist das Unternehmen wirtschaftlich angewiesen) wesentlich beeinträchtigen. In Deutschland selbst wird der Plan bei den gegenwärtigen politischen Verhältnissen dauernd unter nationalistischen Vorurteilen zu leiden haben. Eine Zeitschrift, welche in der Hauptsache in einem deutschen Verlag erscheint, deren Herausgeber in der Hauptsache Deutsche sind, die im wesentlichen in deutscher Sprache gedruckt wird und die nur zuweilen, wenn der günstige Zufall und ein Entgegenkommen in Honorardingen es gestatten, Konzessionen an das Ausland macht, wird besonders in den nicht seltenen Momenten nationaler Entrüstung, die wir durchzuleben das Schicksal haben, schweren Anfeindungen ausgesetzt sein. (Man bedenke doch, wie starke philosophische Gruppen in Deutschland das Philosophische mit dem Nationalistischen verquickt haben). Auch die Beteiligung des Auslandes mit Beiträgen wird, ganz abgesehen von den Honorargründen, aus politischen Bedenken schwach ausfallen, und es werden nur solche Ausländer mit offenem Visier mitarbeiten, die bei den Nationalisten im eigenen Lande im schlechten Rufe stehen. Die Prognose für das Unternehmen ist also sowohl für den Absatz im In- und Auslande, wie für den Wert des Inhaltes ungünstig. Gegenvorschlag. Die Aussicht eines solchen Unternehmens würde sich ganz anders gestalten, wenn von vornherein sowohl der Plan selbst als auch seine Ausführung entschlossen und rigoros auf eine internationale Basis gestellt würde. Dazu müsste das Programm, welches

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vorläufig nur den Deutschen Aufklärung verspricht, über die Philosophie des Auslandes so erweitert werden, dass die einseitige Beziehung und Rücksichtnahme auf den deutschen Leser ganz unter den Tisch fällt. Die völlige unparteiische Internationalität der Anlage müsste bereits in einem zweckmässig gewählten Titel zum Ausdruck kommen. Die Liste der Mitherausgeber müsste ohne besondere zahlenmässige Bevorzugung deutscher Autoren die tatsächlich führenden Philosophen aller Kulturländer umfassen. Nicht ein deutscher Verlag allein müsste auf dem Titelblatt zeichnen und den Vertrieb und die Herstellung garantieren, sondern je ein führender Verlag der Hauptkulturländer müsste dort vertreten sein. Der Titel wird am zweckmässigsten gewählt aus der politisch ganz neutralen internationalen Gelehrtensprache, dem Lateinischen, also etwa nach dem Muster der berühmten „Acta eruditorum“ – „Acta philosophorum“ (oder Acta philosophica). Als Mitherausgeber müssten zeichnen etwa: Muirhead, England; Dewey, Amerika; Driesch, Deutschland; Bergson, Frankreich; Gentile, Italien; Höffding, Dänemark; Aall, Norwegen; Losskij, Russland etc. Als Verleger müssten zeichnen etwa: Meiner, Leipzig; Allen Unwin, London; Alcan, Paris, (?) Rom, (?) Basel, (?) Tokio etc. (?) Madrid (?) Bukarest. Die Herstellung des Werkes würde zwar am besten und billigsten in Deutschland erfolgen. Hier könnte auch der Sitz der Redaktion und der Generalvertrieb sein. Die fraglichen Verleger der anderen Länder müssten sich nun mit dieser Stelle zusammen schliessen und den gemeinschaftlichen Verlag in der Form übernehmen, dass jeder den Alleinvertrieb für sein Land übernimmt und den Absatz einer bestimmten Auflage garantiert. Erscheinen müsste die Zeitschrift mindestens zweimonatlich, und zwar in einem ansprechenden Format und in einem der Weite des Gegenstandes entsprechenden Umfang. Die einzelnen Hefte sollten nach Möglichkeit einheitlich gestaltet werden. Der Beginn wäre am besten zu machen mit einem Heft englischer Philosophie, das in der Hauptsache Beiträge in englischer Sprache von führenden englischen Autoren, englischen Literaturübersichten und dazu noch anderssprachige Beiträge, etwa über den Einfluss der englischen Philosophie auf Deutschland bezw. Frankreich, Spanien etc. enthält. (Heft 2 etwa vorwiegend deutsch, Heft 3 französisch, auch spanisch, italienisch, russisch etc.) Es sollte von vornherein das Programm für mindestens fünf Hefte vorliegen, wenn das 1. Heft erscheint, und dieses Programm sollte zugleich mit propagiert werden. Nur so entsteht von vornherein das Vertrauen der Welt, dass es sich hier um ein erstklassiges, wirklich internationales Unternehmen handelt. Nur so ist das Unternehmen von allen politischen Zufällen, Stimmungen etc. unabhängig. Die Honorare müssten in den Valuten der beteiligten Länder gezahlt werden und müssten musterhaft sein, sodass tatsächlich ein Anreiz auch für verwöhnte Autoren besteht, teilzunehmen. Zweifellos würde sich ein solches Valuta-Honorar auch durch die Beteiligung des ausländischen Verlages leicht aufbringen lassen. Ein speziell philosophisches Programm dürfte es in einer solchen Zeitschrift nicht geben, es müsste vielmehr allen Parteien und Richtungen offen stehen. Als spiritus rector des Unternehmens käme nur ein Mann in Frage, der sowohl politisch wie auch philosophisch das Vertrauen der Welt geniesst. Also etwa ein Mann von der Unparteilichkeit Drieschs. Da man einem solchen Gelehrten natürlich die

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eigentliche redaktionelle Arbeit nicht zumuten kann, müsste ihm ein Redaktions-Stab zur Seite gestellt werden, dessen Wohnsitz am vorteilhaftesten mit dem Herstellungsort der Zeitschrift identisch ist. Quelle: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Arthur Baumgarten, Nr. 107.

3. Karl Engisch: Rezension über: Arthur Baumgarten: Der Weg des Menschen A r t h u r B a u m g a r t e n (ord. Prof. f. Rechtsphilos., Strafrecht und Strafprozessrecht an d. Univ. Basel), D e r W e g d e s M e n s c h e n Eine Philosophie der Moral und des Rechts. Tübingen, J.C. Mohr (Paul Siebeck), 1933. XV u. 613 S. 8o M.18,-. Die Nachkriegszeit, in der sich das philosophische Interesse allgemein belebte, hat uns eine Reihe grösserer rechtsphilosophischer Darstellungen beschert. Ich erinnere nur an Binders grosse Philosophie des Rechts (1925), Sauers Rechts- und Sozialphilosophie (1929), Petrascheks System der Rechtsphilosophie (1932) und Radbruchs neue, nur äusserlich eine Neuauflage seiner früheren Grundzüge darstellende Rechtsphilosophie (1932). Führte vor dem Krieg wie in der Philosophie überhaupt, so auch in der Rechtsphilosophie der Neukantianismus (Stammler!), so gewannen nunmehr andere Gedankenrichtungen, die freilich auch schon vor dem Krieg ihre Vertreter befunden hatten, erhöhte Bedeutung z. B. der Hegelianismus. B a u m g a r t e n hat in die rechtsphilosophische Diskussion dieser Periode mit einer Reihe gewichtiger Arbeiten eingegriffen. 1920/1922 erschien seine zweibändige „Wissenschaft vom Recht“, die keineswegs bloss eine Logik der Jurisprudenz bedeutete, sondern bereits den Grundriss einer materiellen Rechtsphilosophie eudämonistischen-altruistischen Charakters abzeichnete. 1927 legte B. als „erkenntnistheoretische und methodologische Prolegomena zu einer Philosophie der Moral und des Rechts“ sein Werk „Erkenntnis, Wissenschaft, Philosophie“ vor, 1929 folgte im Handbuch der Philosophie eine Rechtsphilosophie, die bereits im grossen wie im kleinen den Inhalt des Werkes vorwegnimmt, über das wir hier zu berichten haben und das wir wohl als abschliessende systematische Zusammenfassung der rechtsmetaphysischen und materiell rechtsphilosophischen Einsichten B.s ansehen dürfen. Der Standpunkt B.s ist zunächst negativ gezeichnet als Antidialektisch und das will besagen, dass sich B. von vornherein ausserhalb all derjenigen Strömungen stellt, die in Deutschland bis in die Gegenwart hinein Richtung gebend waren. Dialektisch ist nämlich nach der Auffassung B.s nicht nur eine Philosophie wie die Hegels (dessen Werke B. S. 383 gar auf den Index librorum prohibitorum gesetzt wissen möchte), sondern sind auch die Philosophie des immerhin hoch mit Respekt behandelten Kant sowie die phänomenologische Philosophie. Dialektisch ist für B. im Grunde jede Philosophie, die

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die Widersprüche zu überwinden trachtet, die sich unvermeidlich auftun, wenn wir an die letzten erkenntnistheoretischen und metaphysischen Fragen rühren. Diese Widersprüche, die zu möglichst deutlichem Bewusstsein zu bringen eine besondere Wissenschaft, die „Erkenntniskritik“, berufen sein soll (s. S. 37, 44, 58 u. ö.), müssen als Unvollkommenheiten hingenommen werden, die dennoch nicht verhindern sollen, dass wir – wenn auch nur in einem trüben Spiegel – wichtige metaphysische Wahrheiten zu Gesicht bekommen. Der Weg zur metaphysischen Wahrheit ist die Erfahrung (s. etwa S. 39ff., 176ff.), und unter Anschluss an W. James entscheidet sich B. für einen „radikalen Empirismus“, der dann allerdings doch mehr ist als das induktive Zusammentreffen einzelner Erfahrungen, der unüberholbare Erkenntnisse und die Erfassung oberster Prinzipien wie z. B. des eudämonistischen Sollensprinzips nicht aussschliessen soll. Empiristisches Wahrheitskriterium ist die Evidenz auf Grund möglichst vollständiger Erfahrung. Auch die metaphysischen Sätze beruhen nach B. auf Erfahrung (S. 171ff.). Erfahrungsmässig gewiss ist nun vor allen Dingen für B. das Unvollkommene und leidensvolle unsrer Existenz. Daraus folgt aber: Gott kann nicht am Anfang der Welt stehn. In dieser Richtung kehrt sich B. entschieden vom Christentum ab, für dessen Werte er im übrigen nicht blind ist. Gott steht nicht am Anfang des Weltprozesses und dieser selbst ist kein „Strafprozess“. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass wir aus dem Dunkeln in das Helle schreiten: Gott ist unser Ziel, er steht am Ende als noch nicht näher zu beschreibender Zustand der Glückseligkeit. Denn Glückseligkeit ist unser natürliches letztes Ziel und oberstes Handlungsprinzip – das ist eine weitere erfahrungsmässig begründete, metaphysische Wahrheit, die B. namentlich gegen den kategorischen Imperativ verteidigt. Glückseligkeit ist aber nicht als egozentrische Glückseligkeit zu verstehn. Das handeln des Menschen muss abzielen auf die Glückseligkeit der Menschheit, ja des ganzen Universums und nicht nur auf eine diesseitige, sondern letztlich auf eine transzendente Glückseligkeit. Es geht also nicht bloss um die Zukunftsmenschen (s. S. 76). Irrig wäre es zu meinen, die universelle Glückseligkeit gehe uns nichts an, da sie einer ferneren Zeit angehöre. Denn – hier lenkt B. in die Bahnen der Spekulation ein – das Ich ruht im Unbewussten und im Unbewussten findet sich das individuell Geschiedene. Im unbewussten Universellen überlebt das Ich seine in sich zerfallende Individuation und hat deshalb Anteil am glückseligen Endzustand (S. 290ff.). Dafür, dass diese Gedankengänge keine blossen Träumereien sind, beruft sich B. dem empiristischen Grundsatz getreu auf die Tatsachen der Psychoanalyse und der Parapsychologie, auf die Tatsachen des inneren Bewusstseins, auf die Erscheinungen des sozialen Lebens und der Wissenschaftsgeschichte, aber auch auf das eigentümliche Wesen unserer Erkenntnis der Aussenwelt. Dass wir bei dieser Erkenntnis etwas ausser uns Stehendes, von uns Unabhängiges zu erfassen vermeinen und es dennoch in uns einzubeziehen vermögen, erklärt sich am einfachsten so, dass die Aussenwelt ein Produkt des universellen Geistes ist, dem Geiste des Ich verwandt und doch von ihm geschieden, zugleich aber auch der Boden, auf dem sich die Individuen finden und verständigen und die individuelle Absonderung überwinden können (S. 108ff.). Dass wir Anlass haben, an einen glückseligen Endzustand als einen möglichen zu glauben, zeigt schon der Fortschritt des Weltprozesses vom Anorganischen zum Organischen und von da zum Menschen. Aber auch die Menschheitsgeschichte hat Fortschritte

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aufzuweisen – ungeachtet aller Rückschläge, denen sich B.s Auge nicht verschliesst, wie es überhaupt verkehrt wäre, in B. einen Fortschrittsoptimisten im landläufigen Sinne zu vermuten. Ein relativ weitläufiges Kap. Gibt uns einen „Überblick über die Geistesgeschichte unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts“ (S. 298 bis 413). Mit Genuss wird jeder sich in die Visionen dieser feinsinnigen Spiegelung der Kulturentwicklung des Abendlandes versenken. Nicht unähnlich Spinozas Ethik handelt B.s „Philosophie der Moral und des Rechts“ von ihrem eigentlichen Gegenstande in einem letzten nur ein Drittel des ganzen Werkes darstellenden Teile. Die metaphysischen Konzeptionen leiten von selbst zu den praktischen Folgerungen über. Dies umso eher als die pragmatisch-empiristische Erkenntnislehre B.s alle Wahrheit von Anfang an unter dem moralischen Aspekt erfasst. Zwei Wege führen zum Heilszustand: Abkehr vom Diesseitigen, wie sie die Inder, Plotin und Schopenhauer gepredigt haben, oder ein sich Zusammenschliessen der Menschen zur diesseitigen gemeinsamen Arbeit an der Vermehrung der metaphysischen Erkenntnis, an der Förderung der Kultur und an der Erfüllung der Seele und Handelns mit Liebe und Altruismus (S. 283ff.). B. entscheidet sich für den letzteren Weg. Diese allgemeinen ethischen Postulate müssen in konkrete Lebensregeln umgesetzt werden (S. 417). Gut ist, was die Menschheit auf dem Wege zum höchsten Ziele fördert, böse, was sie hemmt oder einen Fortschritt rückgängig macht, böse sind insbesondere Götzendienst und Selbstsucht (S 423ff.). Pflichtmässig handelt, wer sich zu seinem Tun oder Lassen nicht durch einen egozentrischen, sondern einen altruistischen Impuls gedrängt fühlt (S. 419ff.). Tugenden sind ferner die Tugenden der Humanität als Liebe zum Mitmenschen, Achtung vor der Welt seiner Existenz und vor seiner Freiheit, Tugenden sind schliesslich: Ausdauer, Geduld, Bescheidenheit, Tapferkeit und – last not least – Gerechtigkeit (S. 429 ff.). Eine ausführlichere, über eine allgemeine Rechtstheorie sich erhebende Darstellung findet bei B. das Rechtsprogramm der Zukunft (S. 442ff., S. 516ff.). Es kann hier nicht im einzelnen auseinandergelegt werden. Besondere Aufmerksamkeit und Liebe schenkt B. dem Wirtschaftsrecht und dem Völkerrecht. Es ist nicht verwunderlich, wenn das Werk schliesslich auf eine planmässige Weltwirtschaft und auf eine Weltrechtsgemeinschaft hinstrebt, in der die Kriege zwischen den Nationen von Rechts wegen unmöglich sind. Es ist weder meine Absicht noch meine Aufgabe, in eine kritische Auseinandersetzung mit den Gedanken des Vf.s einzutreten. Nur einige allgemeine Bemerkungen sollen hier Platz finden. Das Werk B.s verdient wegen seines philosophischen Gehalts, seiner idealistischen Schwungs, seiner rechtstheoretischen Wahrheiten, seines feinen, humordurchleuchteten Stils Lob und Beachtung, mögen auch die wichtigsten programmatischen Ansichten des Verfassers heute bei uns nicht viel Anklang finden – am wenigsten wohl nach dem was wir erlebt haben, der Preis der Demokratie und des Völkerbundes. Übrigens hielte ich es für falsch – wozu mancher versucht sein könnte –, das Buch einfach als spätes Dokument des Individualismus, Liberalismus und internationalen Pazifismus kühl beiseite zu schieben. Mit der engen Verknüpfung von Seinund Wertfragen, und mit seiner metaphysischen Grundhaltung ist B. ganz modern, wenn auch eine glückliche Vereinigung deutschen Tiefsinns und anglo-amerikanischen nüchternen Klarsinns ihn davor bewahrt, sich ins Nebelhafte zu verlieren (nicht umsonst

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nennt B. Schopenhauer und James seine Ahnen; das Buch ist durchwebt von einem Hauch von peinlichster intellektueller Redlichkeit). Aber auch in den politisch bedeutsamen Partien stösst der aufmerksame Leser auf manche Einsicht, die heute bei uns fruchtbar sein kann. Ich erwähne nur die wichtige Unterscheidung von Rechtsgemeinschaft und Staat und die Verwurzelung der Kollektivpersonen (insbesondere auch der Nation) im Unbewussten unter Ablehnung individualpsychologischer Deutungsversuche der sozialen Tatsachen. Heidelberg

Karl Engisch.

Quelle: Deutsche Literaturzeitung, 1934, H. 31.

4. Hans Driesch an Arthur Baumgarten, 12.2.1933 Prof. Dr. Hans Driesch Leipzig Zöllnerstraße 1 Sehr verehrter Herr Kollege! Sie werden es verstehen, denke ich, dass ich Ihnen nicht früher für die freundliche Übersendung Ihres großen Werkes dankte: ich wollte es erst gelesen haben, um Ihnen mehr als Formales sagen zu können. Ich habe es nun gelesen, mir dann Notizen über viele Punkte gemacht. Mein Gesamturteil lässt sich in die eine Frage zusammenfassen: „Warum sind Sie eigentlich nicht Professor der Philosophie?“ Gehört doch Ihre Werk zu dem einen von Hundert aller heute erscheinenden philosophischen Werke, das sich zu lesen lohnt. Sie haben zwei ganz neue Gedanken in die Diskussion gebracht: Erstens, dass das „Böse“ aus dem schlecht informierten Unterbewussten stammt, dass Tugend „lehrbar“ ist, wenn die Belehrung ins Unterbewusste dringt (S. 241,427 u. sonst), und zweitens, dass der sogenannte „Volksgeist“ sich erklärt, wenn man unterbewusste überpersönliche Zusammenhänge (etwa telepathisch) annimmt; hierdurch wird die Individualpsychologie gerettet und der „Volksgeist“ als besonderes Ens – (ein absurder Gedanke) – wird überflüssig (S. 246ff, 252ff). Hier, also in der Heranziehung des Unterbewussten als Entschlüsselungsprinzip, liegt meines Erachtens das eigentliche Hauptverdienst, das Verdienst Ihres großen Werkes. Dass ich mit Ihrem „Eudämonismus“ (67, 70, 231, 421 u. sonst),Ihrer Auffassung der Demokratie (395, 520f), Ihrer Ablehnung von Dialektik und Phänomenologie, Ihrer Auffassung des Christentums, Ihrer Auffassung Hegels – (die „Index“-Stelle auf S. 383 ist großartig!!) – übereinstimme, brauche ich nicht besonders zu sagen. Sie wissen ja selbst, aus meinen von Ihnen so freundlich zitierten Büchern, dass ich sehr ähnlich denke. Hierher gehört auch Ihr Satz (S.285, 603), dass das Weltliche selbst eine Tendenz zu Höherem habe.

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Ich will aber auch ganz offen sagen, wo ich nicht mitgehe: Seltsame Relativismen im Wirklichen (z. B. „das Eine und das Viele“) würde ich nicht „Widersprüche“ nennen – tut man das, so landet man meines Erachtens doch bei der „Dialektik“. Vielleicht ist das nur eine Wortfrage, denn Sie sagen (S. 23, 58), als widerspruchslos könne nur ein bestimmtes Ordnungssystem anerkannt werden – (ich würde hier den Begriff der „Bedeutung“ hineinbringen, den Sie nicht verwenden, und den Begriff „Widerspruch“, oder vielmehr den Befehl seiner Vermeidung, auf ihn beziehen). Zweitens: Bezüglich der „Freiheit“ bin ich weniger apodiktisch. Ihre „Freiheit“ scheint mir schließlich doch nur meine „Wesensgemeinheit“, also kein „Indeterminismus“, zu sein (S. 218f). (Hierzu mein „Freiheit“-Kapitel in den „Grundproblemen der Psychologie“) Drittens: (ad S. 102) Köhler hat meines Erachtens nicht gezeigt, das es so etwas wie Ganzheit im Anorganischen gibt. In den „Annalen der Philos.“, (ich glaube 1926 oder 25), habe ich mich Köhlers angeblichen „physischen Gestalten“ eingehend auseinandergesetzt. Es muss eben beim Dualismus – („ganz“ – „unganz“) – des Empirischen, und damit auch des Wirklichen, bleiben. Doch dies ist, im Rahmen Ihres Werkes, eine Nebensache. Ich hoffe, dass Sie aus meinen kurzen Darlegungen, zustimmenden wie bezweifelnden, den Eindruck gewinnen, dass ich Ihr werk gewissenhaft gelesen habe. Ich habe das jedenfalls gewollt – ganz trifft ja nie ein Leser die Absichten des Autors. Und ich habe wenig, sehr wenig, neue Werke mit solchem Genuss gelesen wie Ihres. Vielen Dank noch einmal und herzliche Grüße von Haus zu Haus Aufrichtig ergeben Hans Driesch Quelle: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Wissenschaften, Nachlass Arthur Baumgarten, Nr. 125.

5. Die Schweizer National-Zeitung zu Arthur Baumgartens 50. Geburtstag Mit dem ihm eigenen Sinn für geschichtliche Notwendigkeiten erkannte Napoleon: ‹Die Politik ist unser Schicksal›. In der Tat bedeutet die zunehmende Republikanisierung und Demokratisierung der letzten 150 Jahre nichts anderes als ihre Politisierung. Ueberall da, wo die Politik im Vordergrunde des Interesses steht, ist das Metier des lebendigen Geistes: die Philosophie, namentlich die Philosophie vom Rechte. Es nimmt einen nicht Wunder, dass gerade in der Nachkriegszeit, in der die Politik über alles andere triumphierte, das Interesse für die Rechtsphilosophie einen ungewöhnlichen Aufschwung erlebte. Wenn ein Jurist nur etwas Sinn für die Problematik seiner Wissenschaft hatte und sich nicht stur und dumpf mit der vorgefundenen Dogmatik zufrieden gab, dann entwickelte er sich immer mehr zu einem Rechtsphilosophen.

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Mag er die methodischen Grundlagen der Privatrechtswissenschaft oder den Sinn der Strafe, die ewige Frage nach der Gerechtigkeit oder die Möglichkeit des Völkerrechts als Wissenschaft untersucht haben: er war kritisch, also ein Philosoph. So kommt es dass viele Juristen der neuesten Zeit ihren juristischen Beruf in der Rechtsphilosophie mehr als in der Rechtsdogmatik gefunden haben. War ein Jurist gar ein Kriminalist und neigte er als solcher schon ex professo zur Problematik dann war ihm sein Weg zur Rechtsphilosophie vorgezeichnet. Diesen folgerichtigen Weg vom Juristen zum Philosophen gingen viele Berufene und Unberufene. Manchen Juristen hätten unter anderen Verhältnissen vielleicht Tüchtiges geleistet, aber nur wenige, eine verschwindend und erschütternd geringe Zahl war in unserer Zeit wirklich dazu ausersehen, wahrhaft Fruchtbares und Bleibendes für die Rechtsphilosophie zu schaffen. Um nämlich in der Philosophie schöpferisch zu sein, genügt es nicht, die übliche Kathedergescheitheit zu besitzen. Man muss alle wissenschaftlichen und menschlichen Qualitäten aufs glücklichste in sich vereinigen, um auch nur eine wertvolle wissenschaftliche Leistung zu vollbringen. Dieser Philosophentyp ist eine besondere Menschenart. Seit der Aufklärung ist sie immer mehr im Schwinden begriffen. Sie betreibt nicht Philosophie, sondern ist eine Philosophie. Einer ihrer letzten Vertreter ist Arthur Baumgarten. Ueber die stolze und starke, edle und ernste, reine und gütige Persönlichkeit Baumgartens zu sprechen, ist hier nicht der Ort. Nur von seinem Werke sei einiges gesagt. Hat die Politik mit ihren sozialen Nöten die Philosophie erweckt, so dankt ihr dies die Philosophie dadurch, dass sie ‚praktisch‘ ist. Sie soll nichts anderes, als dem Leben dienen. Um ihm dienen zu können, muss sie es kennen. Sie ist daher darauf angewiesen, es zu erforschen, also die Erfahrung zu befragen (Empirismus). Die Erfahrung lehrt, was geschehen soll. Sie zeigt ferner die Mittel und Wege, wie etwas geschehen muss, um das, was geschehen soll, auch wirklich geschehen zu machen. Ihre Aeusserungen sind aber sehr zahlreich und müssen, um dem Leben dienen zu können, erst durch den Filter der Wissenschaft gezogen werden; denn allein die Wissenschaft ist es, die aus der fülle der Tatsachen die richtige Auslese zu treffen und sie für das Leben zu verwerten vermag. Die wissenschaftliche Erfahrung, so lehrt Baumgarten weiter, zeigt, dass das Universum in einem Prozess begriffen ist, in dem sich aus dem Niederen das Höhere entwickelt. Am Ende dieser Weltentwicklung steht das Höchste, das gedacht werden kann: der vollkommene Mensch. (Evolutionismus.) Der Mensch in seiner heutigen Gestalt stellt nur eine Entwicklungsstufe im Gesamtprozess dar. Um das Ziel der Entwicklung zu erreichen, muß er eifrig tätig sein. Um handeln zu können, muss er frei sein. Mit dem Evolutionismus verbindet sich mithin das Prinzip der menschlichen Freiheit. Der durch sein freies Handeln die Entwicklung fördernde Mensch kann das Ziel des Prozesses nur erreichen, wenn er es kennt. Die wissenschaftliche Erfahrung erteilt hierüber Aufschluss: Es ist das Glücksgefühl des Menschen (Eudämonismus). Nun kann aber das Ziel der Entwicklung nicht ein beliebiges, sondern muss das erhabenste Glücksgefühl sein. Die Erfahrung zeigt, so konstatiert Baumgarten, dass das höchste Glück des Menschen in seiner Nächstenliebe liegt (Altruismus).

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Ausser der Nächstenliebe ist es die Erkenntnis, die dem Menschen das grösste Glück bereitet; denn dem Menschen als dem höchsten geistigen Wesen ist es eigen, nach Wahrheit zu streben. Die Wissenschaft tritt somit neben den Altruismus als Gestaltungsprinzip des Glücks. Indem Baumgarten so die Prinzipien seiner Philosophie aufstellt, gelingt es ihm, ein bis ins Feinste durchdachtes rechtspolitisches Programm zu entwerfen. Ihm haftet nicht der fragwürdige Illusionismus jener Weltverbesserer an, sondern es stellt Grundsätze und Richtlinien auf, die bestimmte Anweisungen an uns enthalten. Mag man sie heute im öffentlichen Leben noch so sehr ignorieren: sie überdauern uns. Michael Schabad. Quelle: National-Zeitung, Nr. 148 v. 31.3. / 1.4.1934.

6. Helmuth Plessner an Arthur Baumgarten, 6.4.1934 Prof. Dr. Plessner

Wiesbaden, den 6.4.34 Wilhelmshöhe 9

Lieber verehrter Freund! Herzlichen Dank für Ihren Brief. Die Mitwirkung Binswangers können wir wohl verschmerzen. Ihre Idee mit Bluntschli ist sehr gut, zumal wir einen somatischen Anthropologen wohl nötig haben. Immerhin sollten wir bei dem Ausbau der Redaktion auch an die Verlagsfragen denken, da Orell Füssli lt. Beiliegendem Brief (Durchschlag des Holländischen Verlegers der Buytendijk) unsicher geworden ist. Was ist zu tun? Könnten Sie nicht persönlich mit ihm Rücksprache nehmen, um ihn für das Projekt zu interessieren, von dem er sich offenbar ganz falsche Vorstellungen macht? Seine Vorschläge unter 1, 5, 8 sind ziemlich undiskutabel. Buchausgaben und Gründung einer anthropolog. Vereinigung schieben das Ganze auf die lange Bank, während der Verlag selber auf Eile drängt! Es wäre doch sicher möglich, das Orell Füssli einen seiner Herren zu Ihnen schickt, um mit Ihnen zu verhandeln. Mein Gegenvorschlag wäre folgender: Für das erste Jahr vierteljährlich Sondersammelhefte unter Gesamttiteln, die sich auch als Broschüren verkaufen lassen und das Risiko der Einführung einer Zeitschrift vermindern. Ev. glückt auch und mit der Zeitschrift Gründung einer Internat. Vereinigung – ich würde nicht sagen: für Anthropologie – De Homine, von Holland und der Schweiz aus. Zur Vermeidung jedes Missverständnisses: Unser Projekt geben wir als Ziel nicht auf, nur benutzen wir Springer, um es peu à peu zu verwirklichen. Das wollen wir auch ... unzweideutig sagen. Ebenso bin ich dafür, eine Liste der ständigen Mitarbeiter des Inu. Auslandes auf d. Innenseite des Umschlags abzudrucken. Wir gäben oben nur im Punkte der Mehrsprachigkeit materiell nach. Das andere Formsache. Leider hat Litt – in einem prachtvollen Brief – abgesagt. Er hat seine Mitwirkung bei der Neuorganisation

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der Kantgesellschaft u. der Deutschen Philos. Gesellschaft, wie überhaupt, kategorisch versagt und muss deshalb, um nicht direkt zu provozieren, sich international Zurückhaltung auferlegen. Ich denke an den jungen Graecisten Br. Snell, Ordinarius in Hamburg, dessen Arbeiten ganz in anthropol. Richtung gehen (Das Handeln im Drama; Studien über die Genesis der Entscheidungsidee. Dann: Über Selbstauffassung des Menschen bei Homer). Snell ist Vollarier, blond und – ein Prachtkerl. Ich will kurz Orell Füssli auf seinen Brief antworten und ihm vorschlagen, sich doch persönlich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Falls er nicht will und die Sache an seiner Weigerung einer finanziellen Beteiligung scheitert, müssten wir wohl einen anderen Schweizer (oder Oesterreichischen?) Verlag ausfindig machen. Binswanger dachte an Huber im Frauenfeld, zu dem er Beziehungen hat. Er würde uns gegebenenfalls helfen wollen. Den Brief Orell Füsslis erbitte ich wieder zurück. Ich schreibe heute ebenfalls an Buytendijk. Am 16. fahre ich nach Groningen zurück und bleibe bis Mitte Juni dort. Meine Vorlesung hört schon Pfingsten auf. Ab Mitte Juni sind die grossen Ferien bis Anfang Oktober. Hoffentlich höre ich bald von Ihnen. Meine Mutter grüsst vielmals Ich wünsche Ihnen und Ihrer lieben Familie alles Glück zur neuen Wohnung. Ihr getreuer Helmuth Plessner. Dr. Hirsch sendet freundliche Grüsse! Quelle: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Arthur Baumgarten, Nr. 107.

7. Hans Driesch an Arthur Baumgarten, 9.3.1939 Prof. Dr. Hans Driesch Leipzig Zöllnerstraße 1 Sehr verehrter Herr Kollege! Vielen Dank für die freundliche Übersendung Ihrer „Logik“. Ich las die Schrift mit großem Interesse und stimme dem meisten an Ihren Darlegungen zu. Ich selbst gehe ja insofern einen anderen Weg als Sie, als ich die gesamte Lehre von Urteil und Schluss auf das Grundverhältnis des inhaltlichen Einschlusses (nicht des umfanglichen) von Begriffen zurückführe. Hier steckt die Urbedeutung „weil“ (resp. „also“) in ihrer reinsten Form. „Löwe schließt ein Raubtier“, „Republik schließt ein Staatsform“ etc. Anders: Löwe „ist“, also ist Raubtier etc. Da die Beziehung des in-

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haltlichen Einschlusses transitiv ist, ergibt sich ohne Weiteres die ganze Syllogistik. (Schema: (a→b→c) → (a→c) ) Die echte Logik geht auf Bedeutungen, nicht auf „Dinge“. Daher müssen aus der echten reinen Logik die Begriffe „alle“ u. „einige“ heraus – (was übrigens schon Sigwart sah). Die Bedeutung „nicht“ muss natürlich hinein, aber auch in Bezug auf Bedeutungen. Nicht-A ist das an Setzungen, was nicht A ist. Dass es das Nicht-A „gibt“, ist, wenn sie so sagen wollen, „empirisch“ (natürlich nicht im engeren, der Induktion zu Grunde liegenden, Sinne des Wortes). Es freut mich doch einmal wieder von Ihnen zu hören. Hoffentlich sind Sie von Ihrer doppelten Lehrtätigkeit befriedigt. Beste Grüße von Haus zu Haus Ihr Hans Driesch 15. März 1939 Dieser Brief kam soeben aus Kaunas als unbestellbar zurück. Hoffentlich erreicht er Sie in Basel. Beste Grüße HD Quelle: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Arthur Baumgarten, Nr. 125.

8. Thomas Mann an Arthur Baumgarten, 30.5.1939 Betr. Grundzüge der juristischen Methodenlehre. Sie haben mir mit Ihrem Werk „Grundzüge der juristischen Methodenlehre“ ein überaus wertvolles Geschenk gemacht, das mir von dauerndem Nutzen sein und mir dauernde Freude bereiten wird. Kaum kann ich mich erinnern, dass ich je ein wissenschaftliches Buch, an dem ich nicht ein unmittelbares künstlerisches Zweckinteresse nahm, mit so viel Eifer und Genugtuung gelesen hätte. Gott erhalte die Schweiz. Ihrem Dasein verdankt man es, dass dies alles heute auf deutsch gedacht und gesagt werden konnte. Frei, redlich, aufgeschlossen, heiter der Wahrheitssinn bei aller Gelehrsamkeit, wissenschaftlich im edelsten Sinn des Wortes, das waren meine erquicklichen Eindrücke. Nur selten ist mir die kulturelle Unentbehrlichkeit der kleinen Staaten klarer geworden als bei dieser Lektüre, in welchen Wahrheit und Erkenntnis einen so viel besseren leichteren Stand haben als in den großen, wo so häufig der Intellekt von Machtpolitik vernebelt und korrumpiert ist.

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Ich sage das, weil unter den Gegnern des Hitler sich Bejaher seiner Aussenpolitik finden ... Quelle: Archiv des Autors, nach einer Abschrift des Briefes von Frau Helene Baumgarten. Die Tagebücher Thomas Manns verzeichnen unterm 28.5.1939: „Gelesen in einem eingegangenen Buch des Baslers Baumgarten: ‚Juristische Methodenlehre‘, bemerkenswert.“

9. Anzeige und Besprechung von Arthur Baumgartens Grundzüge der juristischen Methodenlehre in der Schweizer National-Zeitung Rechtswissenschaft im Sturm der Zeit In einer Demokratie kann der Bürger nicht umhin, zu den Fragen des geltenden, wie des zur Einführung erst vorgeschlagenen Rechts Stellung zu nehmen, und sich prüfend auf die bestehende Ordnung, wie auf das eigentlich „richtige“ Recht zu besinnen. Auch die Rechtsgelehrten, die in ruhigen Zeitläuften sich gerne darauf beschränken, das nun einmal gegebene Recht darzustellen und auszulegen und in dieser Beschränkung sogar ein Anzeichen der Wissenschaftlichkeit ihrer Verfahrensart erblicken, sehen sich in Zeiten des Umbruchs veranlasst, die lange vernachlässigten Fragen nach den obersten Gründen des Rechts, nach dem Sinn der Rechtsgemeinschaft, nach der sittlichen Begründung der Rechtsverpflichtung, nach dem Wesen des Staates und nach der Gerechtigkeit der geltenden gesellschaftlichen Ordnung, nach der Stellung des Einzelnen im Volksganzen erneut zu erörtern. Das „Erkenne dich selbst!“ gilt auch für die Wissenschaft: sie muss sich Klarheit verschaffen über ihre Methoden (Arbeitsweisen, Wege der Wissenserlangung), ihre mehr oder weniger bewussten Voraussetzungen und ihre Ziele. Solche Besinnung wird „Methodenlehre“ genannt. Eine juristische Methodenlehre hat demnach das ganze Getriebe der Rechtswissenschaft zu durchleuchten, aber auch die Kräfte sichtbar werden zu lassen, von denen das Recht selbst getragen wird, und schließlich die Rechtswissenschaft zu befähigen, das in der bestimmten geschichtlichen Lage richtige Recht zu ermitteln, d. h. Änderungen der sozialen Ordnung herbeiführen zu helfen, die notwendig sind, soll die Kultur vor dem Zusammenbruch bewahrt bleiben. Die Wissenschaft vom Recht, verstanden als ein Teil der Gesellschaftskunde (Soziologie), die wiederum dem Gesamtbereich der Lehre vom Menschen (Anthropologie) angehört, ist also etwas sehr Lebendiges und Erdnahes, und so braucht sich niemand durch den akademisch klingenden Titel „Grundzüge der juristischen Methodenlehre“ abschrecken zu lassen, den der in Basel wirkende Rechtsphilosoph Prof. Arthur Baumgarten seinem neuesten, bei Hans Huber in Bern erschienenen Buch vorangestellt hat. Dieses Buch hält sich allen Begriffskram und alle gequälten Abstraktionen und Konstruktionen vom Leibe, ist frisch, gemeinverständlich, kampflustig und vor allem sehr mutig. Man darf sehr wohl wesentliche Teile dieses Buches eher als Bekenntnis, denn als Erkenntnis auffassen, darf den politischen Ausführungen Baumgartens gegenüber eine andere Haltung vertreten, darf auch seine heftige Polemik gegen die Philosophie

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kritisch unter die Lupe nehmen und seinem eigenen, an Wilhelm Wundt und andere Positivisten erinnernden Begriff der Philosophie (Verarbeitung der Gesamtheit der durch die Einzelwissenschaften vermittelten Erfahrung zu einem Weltbild) entgegenhalten, dieser Begriff selber sei gegenständlich und somit unphilosophisch, wie übrigens auch die Behauptung, die Philosophie orientiere sich „heute noch viel zu ausschließlich an den Naturwissenschaften“, durchaus nicht zutrifft. Viele Einwendungen drängen sich einem kritischen Leser auf, aber die so selten gewordene Unabhängigkeit des Denkens und die Tapferkeit der Gesinnung wird man der jüngsten Schrift Baumgartens (wie auch seiner hier bereits besprochenen „Logik“ gewiss nicht absprechen können. Baumgarten macht sich die Ideologienlehre des Marxismus in weitgehendem Maße zu eigen. Zwar macht er die Tendenz zum Sittlichen geradezu zum Begriffsmerkmal des Rechts: „Des Recht ist eine dem sittlichen Ziel dienende, positive, geltende, die verschiedensten Gebiete umfassende Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. Aber das Recht dient keineswegs nur einem sittlichen Prinzip (etwa der Idee der Gerechtigkeit oder der Solidarität), sondern in hohem Maße auch dem „Egoismus der das Wirtschaftsleben beherrschenden Klassen“, die sich seiner bedienen, um im Klassenkampf ihre Machtpositionen zu festigen. „Wenn heute jedem, der Augen hat und sehen will, ein enger Zusammenhang zwischen der klassenmäßigen Struktur einer Gesellschaft und ihrem gesamten Geistesleben erkennbar wird, so ist das vor allem Marx zu verdanken“. ... Die – bewusst oder unbewusst – auf das kapitalistische Regime verpflichtete Rechtswissenschaft lehnt die Frage nach höchsten Rechtsprinzipien als angeblich unwissenschaftlich ab, weil sie in ihrer Beantwortung zu Forderungen gelangt wäre, die in der Gesellschaft dominierende Klasse um keinen Preis erfüllen wollte“. Solange die Klassengegensätze nicht verschwunden sind, muss die Rechtswissenschaft „geheimen Absichten dienen, die mit der Liebe zur Wahrheit nichts gemein haben“. „Die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz ... ist geradezu ein Hohn auf die Idee der Gleichheit, wenn die Vorschriften des Rechts von der Art sind, dass sie sich in der ausgesprochensten Ungleichheit auswirken.“ Die Spaltung der Gesellschaft in Bürgertum und Proletariat versucht der Fascismus, sei es durch die Rassentheorie, sei es durch die Korporationentheorie, zu überwinden, und um die Gesellschaft zusammenzuschweißen, benützt der Fascismus den Kriegsgedanken und den der nationalen Wehrgemeinschaft. Die Machthaber brauchen den Kriegsgedanken, um dem Klassenkampf entgegenzuwirken und dem Staat die innere Einheit zu verbürgen, ist doch der Privatkapitalismus, „diese Pflanzschule des Egoismus und der Unterdrückung der Menschen durch den Menschen“ ein Spaltungsfaktor erster Größe. Angesichts der drohenden Barbarei will nun Baumgarten an die Soziallehren der Aufklärung und an den großen Gedanken der Planwirtschaft anknüpfen, um den Gegensatz zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden aufzuheben, dem Klassenkampf durch die (heute erst technisch möglich gewordene) Etablierung einer klassenlosen Gesellschaft ein Ende zu bereiten, den Staat von seiner Abhängigkeit von großkapitalistischen Trusts und Kartellen zu befreien und den Menschen seiner wahren Bestimmung zurückzugeben. Die Epoche des Liberalismus nähere sich rasch ihrem Abschluss, das kollektivistische Zeitalter kündige sich an, und es sei die Aufgabe der Rechtswis-

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senschaft, auf allen Gebieten – Privatrecht, Staatsrecht, Völkerrecht, Strafrecht – das Ihre beizutragen, um das große Problem der Gegenwart – die Bewahrung der Ordnung und die Wiederherstellung der Einheit der Gesellschaft – auf dem einzigen Weg zu lösen, der übrig bleibt, wenn man den Krieg verabscheut: es sei dies der Weg der Integration durch eine vom Staat geleitete Gemeinwirtschaft, auf dass es den Menschen möglich werde, als freie, gleiche Wesen brüderlich zusammenzuarbeiten. Soviel über die weltanschauliche Haltung des Werkes. Auf die besonderen Aufgaben, die Baumgarten den einzelnen Rechtsdisziplinen stellt, kann hier nicht näher eingegangen werden, und es braucht es auch nicht, denn „im Grunde genommen ist es eine große Angelegenheit, mit der es die Rechtswissenschaft in allen ihren Disziplinen zu tun hat“: die Rettung des demokratischen Staates und der menschlichen Gesellschaft durch gemeinwirtschaftliche Reform. ... Baumgartens Buch, temperamentvoll und von glänzender Diktion, ist ein von humanitärem Geist getragener Versuch, dem Juristenstand zur Erkenntnis seiner soziologischen Stellung zu verhelfen und neue Aufgaben zuzuweisen. Zugleich damit sind diese „Grundzüge der juristischen Methodenlehre“ selber ein Symptom für die tiefe Krisis, in der sich die Rechtswissenschaft gegenwärtig befindet, haben sie doch mit den bisherigen juristischen Methodologien, von einzelnen fachlichen Partien abgesehen, nicht viel mehr als nur noch den Namen gemein. Dem geistigen Stile nach bildet Baumgartens Rechtslehre, die sich ausdrücklich zum Empirismus bekennt und, ohne den Vorwurf der „Methodenvermengung“ zu befürchten, auf Soziologie und Sozialpsychologie gründet, den radikalen Gegensatz zu der „Reinen Rechtslehre“ der ehemaligen Wiener Schule, die mit dem Aufwand bewundernswerten Scharfsinns bemüht war, der Rechtswissenschaft alle Vitamine des Wirklichen zu entziehen und sie steril zu machen. Die Lebensnähe, im Verein mit dem (beinahe naturrechtlich beschwingten) Idealismus des Aufklärungsfreundes, gibt dem ungemein anregenden und aspektreichen Werk des Basler Rechtslehrers das Gepräge. (M. Sch.) Quelle: Buchseite der National-Zeitung v. 23.8.1939; Autor war der Journalist und Kritiker Michael Schabad, geb. 1894.

10. Bericht Arthur Baumgartens an Dr. C. Miville, Herbst 1947 Herrn Regierungsrat Dr. C. Miville, Vorsteher des Erziehungsdepartements des Kantons Basel-Stadt (mit der Bitte, den nachfolgenden Bericht den anderen in Betracht kommenden Behörden mitzuteilen). Sehr verehrter Herr Regierungsrat, Zunächst danke ich den Basler Behörden aufrichtigst und wärmstens dafür, dass sie es mir in so grosszügiger Weise ermöglicht haben, während zweier aufeinander folgender Semester in Leipzig und Berlin als Gastprofessor tätig zu sein. Das Jahr, das ich an den genannten Universitäten der deutschen Ostzone verbrachte, war für mich als Lehrer, Wissenschaftler und ganz allgemein sub specie hominis eine grosse Bereicherung.

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Im Winter 1946/7 las ich in Leipzig über: Strafrecht (Allgemeiner Teil), Geschichte der Gesellschaftsphilosophie in der Neuzeit, Hauptprobleme des Völkerrechts; dazu kamen dann noch Uebungen im Strafrecht mit schriftlichen Arbeiten – im ganzen 11 Stunden. Am Schluss des Wintersemesters gab ich einen dreiwöchentlichen Kurs in Rechtssoziologie an der Universität Berlin. Im Sommersemester 1947 war mein Leipziger Vorlesungsprogramm: Strafrecht (Besonderer Teil), Juristische Methodenlehre, Dialektischer und historischer Materialismus; in Berlin las ich (Juli und Anfang August) über die philosophischen Grundlagen der Rechtswissenschaft und über die Ideologienlehre von Karl Marx. Für das Sommersemester 1947 übernahm ich das Amt des Dekans der im Gründungsstadium befindlichen gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Der Senat der Universität und die Verwaltungen (Landesverwaltung-Dresden und Zentralverwaltung-Berlin) waren der Ansicht, dass angesichts der bei der Besetzung der Dozenturen auftauchenden Schwierigkeiten die Wahl eines ältern, von auswärts kommenden Akademikers empfehlenswert sei, und obschon die Aufgabe bei den zwischen den verschiedenen Stellen bestehenden Differenzen heikel genug war, glaubte ich mich ihr nicht entziehen zu dürfen. Von der Studentenschaft der beiden Universitäten habe ich einen verhältnismässig recht günstigen Eindruck erhalten. Von einem militaristischen Geist, wie er sich in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg so augenfällig äusserte, ist jetzt in der dortigen Studentenschaft kaum etwas zu verspüren. Das beruht sicherlich zum Teil darauf, dass in dem über die Zulassung zum Universitätsstudium entscheidenden Prüfungsverfahren die Bewerber ihre antifaschistische Einstellung glaubhaft machen müssen. Doch ist das nicht das einzige in Betracht kommende Moment. Mir scheint, dass die seit vielen Jahrzehnten im deutschen Volk weit verbreitete militaristische Gesinnung durch die Hitlerkatastrophe schwer erschüttert worden ist. Der Gedanke an die Wiederherstellung Deutschlands als eines mächtigen Militärstaats hat in den gegenwärtigen Verhältnissen so wenig Wirklichkeitsnähe, dass bis auf weiteres seine Attraktionskraft im gesellschaftlichen Masstab kaum eine sehr erhebliche sein kann. Das Zweite, das zugunsten der heutigen studentischen Jugend spricht, ist ihr ungemein lebhaftes Interesse für die grosse weltanschauliche Auseinandersetzung, in der sich unsere Gesellschaft zur Stunde befindet. Die Teilnahme an dieser Auseinandersetzung wird in der Ostzone nicht zum wenigsten dadurch angeregt, dass das Kontingent von sog. Arbeiterstudenten (es dürfte sich um 30 % handeln) die sozialistische Weltanschauung an die Universitäten trägt, wo sie mit der Weltanschauung der übrigen, der Mehrzahl nach bürgerlich eingestellten Studenten zusammenprallt. So kommt es, dass im Kreise der Universität seitens der Studenten und Dozenten rege Diskussionen über die die Beteiligten zu/innerst bewegenden Fragen geführt werden. Mit dem ungewöhnlichen Erregungszustand der Geister im Nachkriegsdeutschland hängt es wohl zusammen, dass überdurchschnittliche wissenschaftliche Talente verhältnismässig früh und in verhältnismässig grosser Zahl zu Tage treten. Neben denen, die in der Ueberzeugung, dass Deutschland einer neuen Gesellschaftsordnung bedarf, um eine politischer Ausgestaltung fähige Weltanschauung ringen und die ihr Studium, welcher Art es im einzelnen auch sein möge, mit dieser Problematik in

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Beziehung setzen, gibt es nicht wenige, die sich tunlichst von aller Politik fernhalten, um sich wiederum welcher Art ihr Studium im einzelnen auch sein möge – ganz der „reinen“ Wissenschaft zu widmen. Es ist dies nach den Erfahrungen, die die Jugend unter dem Hitlerregime gemacht hat, durchaus verständlich. An dem Hallenser interzonalen Studentenkongress, der ursprünglich als internationaler gedacht war, als solcher aber nicht zustande kam, sprach ich auf Wunsch der Hallenser Studentenschaft über Freiheit und Politik an den deutschen Universitäten in der Nachkriegszeit. Ich muss auf das von mir bei dieser Gelegenheit gehaltene Referat kurz eingehen, weil der Sinn meiner Ausführungen von einer Berliner Zeitung in Unsinn verwandelt wurde, um dann in dieser Gestalt von angesehenen Schweizer Blättern der Oeffentlichkeit übermittelt zu werden. Als ich nach Basel zurückkehrte, wurde mir von verschiedenen Seiten vorgehalten, ich hätte laut Zeitungsnotizen in Halle gesagt, dass es nur an den Universitäten der Ostzone Geistesfreiheit gebe, sonst nirgends auf der Welt, insbesondere auch in der Schweiz nicht. Ich hatte in meinem Vortrag unterschieden zwischen den äusseren Bedingungen der Freiheit (Fehlen administrativer oder strafrechtlicher Einschränkungen der freien Meinungsäusserung) und den inneren Bedingungen, unter denen der Geist sich frei fortentwickelt im Aufstieg zu neuen, für die Menschheit wesentlichen Erkenntnissen. Ich fasste den „freien Geist“ in dem Sinn, in dem Spitteler ihn der Gesellschaft seiner Zeit abspricht mit den Worten: „ Es fehlt ... der freie Geist, der frisch die Wahrheit blitzt“. Die äussere Freiheit des Geistes, erklärte ich, sei überall in Deutschland als einem von anderen Mächten besetzten Land eingeschränkt, dagegen seien die Bedingungen für den „freien Geist“ in der eben angegebenen Bedeutung nicht ungünstig, wobei ich auf jene oben erwähnte intensive Auseinanderssetzung zwischen verschiedenen Weltanschauungen hinwies und darlegte, dass sie eines der Mittel ist, die Menschen von ihren Vorurteilen zu befreien, dieser schwersten Fessel des um die Wahrheit bemühten Geistes. Von der Schweiz sagte ich in meinem Vortrag kein Wort. Erst in der Diskussion kam die Rede auf die Schweiz, wobei ich mich dahin äusserte, dass, was ich die äussere Freiheit nannte, an den Schweizer Universitäten ungleich viel grösser sei als in Deutschland, dass dagegen bei der überwiegenden Einheitlichkeit der Weltanschauung in der Studentenschaft der heisse Kampf um die richtige Weltanschauung an den Schweizer Universitäten nicht stattfinde und dass daher auch nicht im gleichen Mass wie an den deutschen Universitäten die Chance geboten sei, sich in der Auseinandersetzung mit dem Gegner über sich selbst klarer zu werden, vom Gegner zu lernen, manches, was man für gesicherte Wahrheit nahm, als zweifelhaft oder als Vorurteil zu erkennen. Die Journalisten, die meine Ausführungen so resümierten, dass ihr Sinn gänzlich entstellt wurde, stehen offenbar im Dienst jener Berliner oder vielleicht auch westdeutschen Presse, vor deren giftiger Polemik niemand sicher ist, der sich erkühnt, nicht alles ohne weiteres schlecht zu finden, was in der Ostzone vor sich geht. Hierauf muss sich jeder anständige Mensch gefasst machen, der in Deutschland öffentlich das Wort nimmt. Dagegen war es für mich enttäuschend, hören zu müssen, dass Schweizer Blätter von Rang aus der in derartigen Fällen stets verdächtigen deutschen Presse ohne nähere Information Mitteilungen weitergeben, die geeignet sind, den Ruf eines Mannes zu gefährden, der mehr als dreissig Jahre lang seine besten

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Kräfte dem Unterricht der akademischen Jugend der Schweiz gewidmet hat. Daraus freilich kann man niemand in der Schweiz einen Vorwurf machen, dass er sich nicht von dem Ausmass Rechenschaft ablegt, in dem in Deutschland gegen die Ostzone und alles, was mit ihr zusammenhängt, gehetzt wird. Das will erlebt sein. Am letzten Tag des internationalen Schriftstellerkongresses in Berlin sagte ein Münchner Schriftsteller: Berge von Schuppen sind uns bei unserem Aufenthalt hier von den Augen gefallen. Der Lerneifer der deutschen Studierenden ist gross, ihr Schulsack ist klein, beträchtlich kleiner als der der unsrigen. Das gilt selbst für diejenigen, die ein Gymnasium absolviert haben, in noch höherem Mass natürlich für die Arbeiterstudenten, also junge Leute, die nach der Vollendung des 14. oder 15. Lebensjahres als Arbeiter, Handwerker oder Angestellte beruflich tätig waren. Für die Arbeiterstudenten sind Vorsemester obligatorisch, während deren sie die für das eigentliche Universitätsstudium erforderlichen Kenntnisse erwerben sollen. Da als Arbeiterstudenten grundsätzlich nur Begabtere zugelassen werden, sind sie im Durchschnitt der Fälle nach kurzer Zeit nicht weniger fähig, dem Unterricht an den Fakultäten zu folgen, als die regulären Studenten. Alles in allem genommen, ist die Vorbildung, mit der der Dozent zu rechnen hat, eine ziemlich dürftige. Immerhin konnte ich den aus den schriftlichen Arbeiten ersichtlichen Bildungsgrad nicht wesentlich niedriger finden als in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Fehlende Kenntnisse lassen sich bei starkem Wissensdrang leicht nachholen. Bei den Juristen wirkt es sich peinlich aus, dass die zu benutzenden Lehrbücher, Kommentare, Monographien nur noch in wenigen Exemplaren und meistens in veralteten Ausgaben zur Verfügung stehen und die neueste ausländische Literatur ganz in Wegfall kommt. Aehnlich dürfte es sich in den anderen Fakultäten verhalten. Ohne Parallele in den anderen Fakultäten ist die Erschwerung des juristischen Unterrichts durch die Unübersichtlichkeit der Rechtslage im gegenwärtigen Deutschland. Dass die Bestimmungen des Kontrollrats durch die Gesetze aus der nationalsozialistischen Periode aufgehoben werden, in ihrer lakonischen Kürze mancherlei Schwierigkeiten bereiten, liesse sich in Kauf nehmen. Aber der in Geltung stehende Rechtssatz, dass sämtliche unter dem nationalsozialistischen Regime erlassenen Gesetze und Verordnungen, soweit sie faschistischer Inspiration sind, als unwirksam betrachtet werden müssen, fordert eine Reinigung des Augiasstalles, die sich vielleicht ohne herkulische Kräfte, jedoch nicht ohne ein ungewöhnliches Mass von Geduld und kaum mit eindeutigen Resultaten vollziehen lässt. Erwägungen dieser Art bestimmten mich, dem Wunsch der Studenten und Kollegen, dass ich eine Vorlesung über Strafprozess halten möchte, nicht zu willfahren. Wäre der Ausspruch: inopia mater studiorum wahr, dann müsste es mit den Studien an den deutschen Universitäten noch beträchtlich besser bestellt sein, als es tatsächlich der Fall ist. Denn die Not, die materielle Not, die das Schicksal der meisten Deutschen in allen Zonen ist (natürlich gibt es überall sich mästende Schieber), macht sich bei der Jugend besonders fühlbar. Trotz redlichster Bemühungen der Universitäten und der Verwaltungsbehörden ist die Ernährung der studierenden Jugend im grossen und ganzen ungenügend. Im Winter, der in der Ostzone hart zu sein pflegt, sind wohl die Hörsäle und sonstigen öffentlichen Lokalitäten meist ausreichend geheizt, nicht aber die Privatwohnungen, und die Kälte setzt naturgemäss dem Organismus derer in erhöhtem Masse

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zu, die sich den Gürtel immer enger schnallen müssen. Solche physischen Verhältnisse wirken sich auf das Studium selbstverständlich ungünstig aus. Wenn trotzdem die Studierenden im allgemeinen so arbeiten, wie sie arbeiten, wird das phychologischen Gegenwirkungen zuzuschreiben sein. Auch bei den Dozenten wird das Nahrungs- und Wärmebedürfnis nicht so befriedigt, wie es für ihre Leistungsfähigkeit wünschenswert wäre. Wohl erhält ein grosser Teil der Dozenten die Schwerarbeiter-Karte und in letzter Zeit auch das sog. Russenpaket, das eine nicht zu verachtende Beihilfe ist. Aber dieser offizielle Standard bedeutet so wenig ein hoch bemessenes Lebensminimum, dass man es niemand verdenken kann und fast niemand es sich selbst verdenkt, wenn er hie und da für den teilweise exorbitanten Schwarzmarktpreis sich ein Pfund Butter oder ein Pfund Mehl verschafft. Irrig wäre es anzunehmen, dass es sich bei alledem um ein privilegium odiosum der Ostzone handle. Ein mit den Verhältnissen in allen Zonen wohlvertrauter Kollege sagte mir: Diejenigen unter uns, die nach dem Westen gehen in der Hoffnung, dort in materieller Hinsicht besser gestellt zu sein, werden eine schwere Enttäuschung erleben. Die meisten Studenten sind politisch organisiert; die drei für die Universitäten der Ostzone in Betracht kommenden Parteien: die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), CDU (Christlich-demokratische Union) und LDP (Liberal-demokratische Partei) haben ihre studentischen Fraktionen. Doch erfolgt die Wahl der Vertreter der Studentenschaft nicht nach politischen Parteien. Nicht wenige Studierende halten, wie ich schon erwähnte, intensivere Beschäftigung mit Politik und wissenschaftliches Studium für unvereinbar. Ich vermag diese Auffassung nicht zu teilen und habe am Hallenser Studentenkongress etwas eingehender dargelegt, warum ich sie ablehne. Ist ein Volk in den Prozess eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruchs eingetreten, wie das heute für das deutsche Volk zutrifft, dann ist leidenschaftliche Anteilnahme an den grossen politischen Fragen des geschichtlichen Tages eher geeignet, das wissenschaftliche gesellschaftliche Denken in der Richtung der wahren Ziele des menschlichen Zusammenlebens zu orientieren, als es irrezuleiten. Das Pascalsche: C’est le coeur qui sent les principes erweist sich wenn je, dann in solchen Zeiten als richtig, und je lebhafter das Herz pocht, umso eher wird es die Prinzipien zu spüren bekommen. Achtet man bei der Betrachtung des deutschen Universitätslebens vor allem auf Lehre und Forschung, dann zeigt das Bild recht düstere Seiten. Der Dozentenstab an den Universitäten der Ostzone ist in der Mehrzahl der Fakultäten auf einen kleinen Bestand zusammengeschrumpft, und es fehlt mancherorts in erschreckender Weise an den erforderlichen sachlichen Hilfsmitteln. Um zunächst bei dem letzterwähnten Punkt einen Augenblick zu verweilen: vieles von der älteren wissenschaftlichen Literatur, darauf habe ich bereits hingewiesen, ist nicht mehr vorhanden, Bücherbestände und Urkundensammlungen sind bei der Bombardierung in weitem Umfang zu Grunde gegangen, und das gleiche gilt von den für die naturwissenschaftlichen Fächer notwendigen Apparaten. Ersatz ist nur schwer und nur allmählich zu beschaffen. Mit dem Fortschritt der internationalen Wissenschaft ständig in Kontakt zu bleiben, ist der deutschen Wissenschaft kaum möglich. Von französischer – mehr privater Seite wurde den Universitäten der Ostzone in Aussicht gestellt, dass sie die französischen Neuerscheinungen erhalten

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würden, aber das Versprechen konnte bisher noch nicht erfüllt werden. Nicht einmal die grosse französische Zeitschrift „La Pensée“ gelangt an die Universitäten. Ich hatte ein Exemplar der „Pensée“ bei mir, das lebhaftes Interesse erweckte, so lebhaftes, dass es, als ich es einem Kollegen auslieh, von Hand zu Hand wanderte und nicht zu mir zurückkehrte. Im Sommer besuchten der Präsident und der Vizepräsident der britischen Akademie der Wissenschaften die Universität Berlin. Der Berliner Rektor, Professor Stroux, lud die Fachkollegen der beiden Herren (Historiker und Philosophen) sowie einige Gäste der Universität zu einer Aussprache mit ihnen ein. Die beiden Engländer gaben ihrer Sympathie mit den deutschen Universitäten in deren schwieriger Lage Ausdruck, erklärten aber, die britische Akademie habe zu ihrem grossen Bedauern nicht die Möglichkeit, wirksame Hilfe zu bringen. Immerhin war der Besuch der englischen Gelehrten ein gutes Vorzeichen dafür, dass die alten internationalen Beziehungen von den deutschen Universitäten bald wieder aufgenommen werden können. Nicht weniger als die Verringerung des Bücher- und Instrumentenbestandes und die Zerstörung zahlreicher Institute ist die Atrophie der Lehrkörper für die Universitäten der Ostzone bedenklich. Einen Sonderfall bildet die Universität Leipzig – leider nicht im günstigen Sinn. Als die amerikanischen Besatzungstruppen Leipzig verliessen, um den russischen Platz zu machen, wurden sie von zahlreichen hervorragenden Naturwissenschaftlern begleitet. Die Folge war, dass Leipzig den Unterricht und die Forschung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften nur mit grosser Mühe fortsetzen konnte. Die Lage der naturwissenschaftlichen Fakultät Leipzig ist heute noch eine prekäre, wennschon nicht hoffnungslose. Fast noch schlimmer steht es mit der medizinischen Fakultät. Sie war nahezu entschlossen, für das kommende Wintersemester den Vorlesungsbetrieb einzustellen. Glücklicherweise ist es nach neuesten Nachrichten dazu schliesslich doch nicht gekommen. Die juristische Fakultät Leipzig hat noch drei Ordinarien (von 12) und einige mit Lehraufträgen betraute Hilfskräfte. Aehnlich verhält es sich mutatis mutandis mit der philosophischen Fakultät. Derartiges ist für eine Universität der Ostzone nichts Abnormes. Die theologische Fakultät ist ziemlich intakt geblieben, nur ihren Kirchenhistoriker hat sie eingebüsst, der, wie es heisst, wenige Wochen nach Hitlers Regierungsantritt sich in der S.A.-Uniform der Oeffentlichkeit gezeigt hatte. Das „Säuberungsverfahren“, das auf die Entfernung von Beamten gerichtet ist, die es mit dem Nationalsozialismus gehalten haben, hat sich auf die Dozentenschaft der Universitäten der Ostzone, wie übrigens auch auf die einiger westlicher Universitäten, dezimierend ausgewirkt. Das ist durchaus begreiflich. Die Dozentenschaft der Universitäten hat sich eben in ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus im allgemeinen nicht sonderlich gut bewährt. Man ist in den heute massgeblichen Kreisen der Ansicht, dass wenn sie der Hauptsache nach aus liberal gesinnten, fortschrittlichen Persönlichkeiten bestanden hätte, Deutschland vom Nationalsozialismus verschont geblieben wäre. Die Durchführung des Säuberungsverfahrens hat vielfach böses Blut gemacht. Das war kaum zu vermeiden. Ein derartiges Verfahren wird immer mehr oder weniger schematisch gehandhabt werden, so dass bisweilen der eine unverdientermassen zu hart angepackt wird, der andere unverdientermassen durchschlüpft. Der Ausgang des Verfahrens entscheidet nicht ohne weiteres über die Frage, ob jemand, der zunächst in seinen amtlichen Funktionen eingestellt wurde, wieder in seine alte Stelle eingesetzt wird; die oberste

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Verwaltungsbehörde kann ihn bis auf weiteres beurlauben, pensionieren oder anderweitig verwenden, die Besatzungsmacht kann seine Reaktivierung verbieten. Handelt es sich um Dozenten, bei denen die antifaschistische oder profaschistische Einstellung nicht eindeutig ist, so entstehen meist sehr langwierige und unerquickliche Verhandlungen zwischen den Fakultäten (und dem Rektorat) einerseits, den verschiedenen Verwaltungsstellen andererseits. Erstere sind geneigt, dem Kollegen beizustehen, während letztere in der Säuberungsfrage eher zur Strenge neigen. Nur wenn die der nazistischen Gesinnung Verdächtigen schwer entbehrliche Fachleute (etwa bedeutende Kliniker) oder Gelehrte von grossem Namen sind, ist man auch auf Seiten der Verwaltung bereit, ein Auge zuzudrücken. Im übrigen kommt es zu (manchmal schier endlosen) Auseinandersetzungen zwischen der Universität und den Verwaltungsbehörden (unter Einschluss der Besatzungsmacht), in die politische, ja sogar weltanschauliche Gegensätze zwischen der überwiegenden Mehrzahl der Universitätslehrer und der Unterrichtsverwaltung der Ostzone hineinspielen. Die Unterrichtsverwaltung (wie die Verwaltung überhaupt) steht in der Ostzone (auch in Berlin, soweit die Universität in Betracht kommt), unter dem massgeblichen Einfluss der SED, also unter dem Einfluss sozialistischer Ideen. Man sagt häufig, es ist sogar communis opinio, dass die SED ihre präponderierende Stellung der russischen Besatzungsmacht verdanke, dass sie bei „freien Wahlen“ kein Uebergewicht erlangt hätte. So verhält es sich wohl in der Tat. Jede Besatzungsmacht verschafft in ihrer Zone, ohne dass es besonderer Gewaltmassnahmen bedürfte, den Parteien die Herrschaft, die in den Grundlinien mit ihrer eigenen Politik einig gehen. Eine deutsche Zonenregierung kann der Bevölkerung nur dann etwas bieten, wenn sie mit ihrer Besatzungsmacht einigermassen Geist von einem Geist ist. Das versteht die Bevölkerung, wofür die Wahlergebnisse den statistischen Beweis erbringen. Das versteht jede Partei, die gemäss den Wahlergebnissen zu einer „regierungsfähigen“ Partei geworden ist, wofür ihre Konzessionen an die von der Besatzungsmacht gebilligte Politik Zeugnis ablegen. Dass in der amerikanischen Zone die kommunistische Partei eine Mehrheit, sagen wir dreiviertel der Stimmen, erhielte, ist für jemand, der ein wenig politisch oder soziologisch denken kann, undenkbar. Und dass in der Ostzone die CDU oder die LDP die gleiche Politik betreiben sollten wie in der Westzone, ist ebenfalls undenkbar. Was wird dann aus den freien Wahlen und aus der Demokratie in Deutschland? Wenn sich alle Besatzungsmächte aus Deutschland zurückzögen und freie Wahlen stattfänden, würden wir in Deutschland nach dem Urteil der besonnensten Beobachter aus den freien Wahlen binnen kurzem eine zweite Auflage des Nationalsozialismus hervorgehen sehen. Die SED ist, was ihr Name besagt, eine sozialistische Partei. Aber sie geht nicht darauf aus, aus der Ostzone oder gar aus ganz Deutschland einen sozialistischen Staat zu machen. Ueber ihre politische Gesamtlinie orientiert am besten der Verfassungsentwurf für Deutschland, den die Partei vor kurzem der Oeffentlichkeit vorgelegt hat. Nach diesem Entwurf soll Deutschland das werden, was man heute als eine „neue Demokratie“ zu bezeichnen pflegt, also nicht ein sozialistischer Staat sondern ein Staat, der in vielem die Züge der aus dem 19. Jahrhundert stammenden liberalen Demokratie trägt, dabei aber einen sozialistischen Einschlag hat, der geeignet sein könnte, ihn im Lauf der Zeit in einen eigentlich sozialistischen Staat umzuwandeln. Die Veröffentlichung des Ent-

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wurfs hat in der Ostzone zu einer angeregten und anregenden Diskussion geführt; dass er in absehbarer Zeit Gesetzeskraft erlangen sollte, ist wenig wahrscheinlich. Die überwiegende Mehrzahl der Dozenten der östlichen Universitäten gehört nicht, wie häufig geglaubt wird, der SED an. Neulich schrieb eine Berliner Zeitung (Neue Zeitung) in einem Artikel über die Universität Berlin, der „Universität ohne Hoffnung“ betitelt war und als ein Muster geschickter Entstellung der Tatsachen zu propagandistischen Zwecken gelten konnte, die juristische Fakultät der Universität Berlin bestehe zur Hälfte aus Mitgliedern der SED. In Wahrheit ist kein einziger juristischer Berliner Ordinarius Mitglied der genannten Partei. Auf die 105 Hallenser Dozenten entfallen 5 oder 6 SED Mitglieder. Katalogisiert man die Dozenten der Ostzone nach ihrer politischen Einstellung, dann wird man, wie mir scheint, zu folgendem Ergebnis kommen: Viele sind deutsch-national, viele schwankend, nicht bestimmbar, ein kleiner Teil ist liberal im alten Sinn des Wortes, ein kleiner Teil sozialistisch. Unter diesen Umständen sind Konflikte zwischen dem Lehrkörper der Universitäten und der Unterrichtsverwaltung unvermeidbar. Sie machen sich vor allem bei der Wiederbesetzung vakant gewordener Lehrstühle, bei der Wiedereinstellung suspendierter Dozenten, bei der Erteilung von Lehraufträgen und bei der Errichtung neuer Lehrämter bemerkbar. Die Ergänzung des Lehrkörpers muss in grossem Masstab erfolgen, denn die Lücken, die entstanden sind und immer wieder entstehen, sind äusserst zahlreich, und die Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse fordert die Heranziehung neuer Lehrkräfte. Was die Lücken betrifft, so sind sie keineswegs ausschliesslich auf das Säuberungsverfahren zurückzuführen. Die freiwillige Abwanderung an die westlichen Universitäten, der keine Hindernisse in den Weg gelegt werden, ist beträchtlich, viel beträchtlicher als der – nicht gänzlich fehlende – Zuzug, den der Osten vom Westen erhält. Umso dankbarer ist man, wenn ein auswärtiger Staat, wie die Schweiz, es seinen Hochschullehrern ermöglicht, den Universitäten der Ostzone Sukkurs zu bringen. Die starke Abwanderung hat verschiedene Gründe. Die Beschränkung der Gedanken- und Lehrfreiheit möchte ich zu ihnen nicht rechnen; ich kenne zu viele Beispiele von Dozenten, die aus ihrer antisozialistischen Einstellung kein Hehl machen, ohne dass ihnen daraus Nachteile erwachsen würden. Den Hauptgrund für die Abwanderung sehe ich darin, dass vielen Professoren die sozialismusschwangere Atmosphäre des Ostens unheimlich ist und bei ihnen den Drang nach dem Westen hervorruft, wo die gesellschaftlichen Zustände eher die alten geblieben sind. Dazu kommt, dass eine strikte Kontingentierung der Studierenden besteht, die sich einem bestimmten Fach widmen wollen und hierbei Fächer, deren soziale Bedeutsamkeit von den Verwaltungen nicht hoch eingeschätzt wird, ins Hintertreffen gelangen. Daraus dürfte sich z. B. erklären – doch ist das nur eine Vermutung – dass Leipzig seinen hervorragenden Gräzisten in den Westen ziehen lassen musste. Handelt es sich um die Wahl von Dozenten, deren Fach dazu Anlass gibt, in wissenschaftlichen Schriften und in den Vorlesungen zu aktuellen Gesellschaftsproblemen Stellung zu nehmen, dann kommt es vielfach zu zähen Kämpfen zwischen der Unterrichtsverwaltung und der Universität. Die führenden Persönlichkeiten der Unterrichtsverwaltung stehen auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus und begünstigen begreiflicherweise Kandidaten, die auf dem gleichen Boden stehen. An der Universität ist man geneigt, hierin eine unzulässige Einmischung der Politik in die Wissenschaft zu

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sehen. Ein Fall, in dem die Verwaltung jemand bloss wegen seiner ihr genehmen politischen Gesinnung in Vorschlag gebracht hätte, ist mir nicht bekannt geworden. Wohl aber sind die Kandidaten der Verwaltung nicht selten Männer, die zwar beachtenswerte wissenschaftliche Arbeiten publiziert, jedoch bisher keinen höhern akademischen Grad erworben haben, was damit zusammenhängt, dass der wissenschaftliche Sozialismus früher in Deutschland kaum universitätsfähig war. Ihnen gegenüber beruft sich die Universität auf die Tradition, derzufolge ein „Outsider“ nicht ohne weiteres zum Professor ernannt wird, oder erhöht ihre Anforderungen an den wissenschaftlichen Ausweis. Meist dringt die Verwaltung mit Kandidaten, die ihr besonders genehm sind, durch, ohne dass es zu einer Oktroyierung kommen müsste, und macht dafür in Fällen, die ihr weniger wichtig scheinen, Konzessionen an die Universität. Diskrepanzen bei Berufungen und die größere Strenge der Verwaltungen in Fragen der Wiederverwendung oder Neuverwendung von Dozenten, die sich mit dem Nationalsozialismus irgendwie kompromittiert haben, führen dazu, dass die Verwaltungen bei der Universität nicht beliebt sind, teilweise unbeliebter als die S.M.A. (Sowjetische-Militär-Administration). „Hätte ich nur mit den Russen zu tun“, sagte mir ein Dekan, „dann hätte ich längst eine voll leistungsfähige Fakultät beieinander“. Das in weiten Kreisen der Universität gefällte harte Urteil über die Verwaltungen ist m. E. ungerecht, es zeugt von Engherzigkeit, d. h. von Mangel an Verständnis für einen prinzipiellen Standpunkt, der dem eigenen entgegengesetzt ist. An der Spitze der Unterrichtsverwaltungen, vor allem der Zentralverwaltung in Berlin, der neben der Universität Berlin (Berlin gehört nicht zur „Zone“ im eigentlichen Sinn des Wortes) sämtliche Universitäten der Ostzone unterstellt sind, stehen Persönlichkeiten von hoher Bildung, absoluter Integrität, unermüdlicher Arbeitsenergie und echt fortschrittlicher Gesinnung. Was ihnen vielfach fehlt, ist Verwaltungsroutine, ohne die eine einigermassen prompte Erledigung der unzähligen Angelegenheiten, mit denen sie überbürdet sind, kaum möglich ist. Daher hört man an der Universität bittere Klagen über den unerträglich langsamen und bürokratisch umständlichen Geschäftsgang der Verwaltungen. An weniger hohen, aber darum nicht notwendig weniger einflussreichen Stellen der Verwaltung begegnet man, wie ich aus eigener Erfahrung weiss, u. U. Fanatikern, mit denen in der Tat schwer auszukommen ist. Die Universitäten können somit gegen die Verwaltungen gewisse nicht unwichtige Beschwerdepunkte geltend machen, die sich nicht ohne weiteres als unberechtigt bezeichnen lassen. Aber schliesslich handelt es sich hier doch nicht um Wesentlichstes. Blickt man auf das, worauf es letztlich ankommt, dann wird man sagen müssen, dass sich die Unterrichtsverwaltungen ihrer Aufgabe, ihrer historischen Aufgabe, wie es immerhin heissen mag, gewachsen gezeigt haben. Gegenüber der Universität Berlin wurde das der Zentralverwaltung erleichtert durch das vorbildliche Verhalten des Berliner Rektors, Johannes Stroux. Professor Stroux bewies in der schweren Zeit seines Rektorats, das die bisherige Nachkriegszeit umfasst, ebenso viel Sinn für gute alte akademische Tradition wie Aufgeschlossenheit gegenüber der neuen Zeit. Ohne Sozialist zu sein, stand und steht er in den besten Beziehungen zu der von sozialistischen Ideen inspirierten Zentralverwaltung für Volksbildung. Er ist ein Gelehrter, der darum nicht weniger den politischen und sozialen Fortschritt zu fördern vermag, weil er ausserhalb des Parteilebens

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bleibt. Mit ihm in ein freundschaftliches Verhältnis gekommen zu sein, rechne ich zu den für mich wertvollsten Ergebnissen meiner deutschen Gastsemester. Einen Vorwurf kann man gegen die Zentralverwaltung jedenfalls nicht erheben, den Vorwurf, dass es ihr an Initiative mangle. Sie hat eine Reihe bedeutungsvoller Neuerungen in die Wege geleitet und ist gegenwärtig mit der Ausarbeitung von mancherlei Projekten beschäftigt. Ich sprach bereits von der Einrichtung des „Arbeiterstudenten“ und von der belebenden Wirkung, die sie auf die an der Universität geführten Diskussionen ausübt. Auch die gesellschaftswissenschaftlichen und pädagogischen Fakultäten sind Nova. Nicht über die pädagogischen, wohl aber über die gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten habe ich mir ein – wenigstens vorläufiges – eigenes Urteil bilden können. Die gesellschaftswissenschaftliche Fakultät Leipzig wurde im Sommer 1947 eröffnet. Den Hauptbestand der Studierenden der Fakultät bildeten etwa 150 jüngere (zwischen 26 und 35 Jahren stehende) Angestellte des Staats- und Kommunaldienstes. Sie wurden in einem ziemlich strengen Prüfungsverfahren aus einer grossen Zahl von Bewerbern ausgelesen; sie werden vorläufig für vier Semester beurlaubt und erhalten während dieser Zeit verhältnismässig hoch bemessene Stipendien. Eine Verlängerung ihres Universitätsstudiums ist in Aussicht genommen. Der Unterricht soll so gestaltet werden, dass auf Grund einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen (die Jurisprudenz mitumfassenden) Ausbildung eine Spezialisierung für folgende Zweige des Dienstes an der Oeffentlichkeit erfolgen kann: Innere Verwaltung, auswärtiger (diplomatischer) Dienst, Publizistik. Doch ist das Unterrichtsprogramm noch keineswegs definitiv fest gelegt. Die in die Vorlesungen eingeschobenen Diskussionsstunden hinterliessen bei mir einen sehr guten Eindruck. Es erwies sich als möglich,mit einem Auditorium von ca. 200 Studierenden Grundprobleme des Gesellschaftslebens in vielstimmiger Rede und Gegenrede ernsthaft zu besprechen. Ich glaube, man darf sich etwas von diesen gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten versprechen. Noch ein Wort vom Verhältnis der russischen Militäradministration zu den Universitäten. Die S.M.A. beaufsichtigt den gesamten Universitätsbetrieb, was für die anderen Besatzungsmächte in ihren Zonen gleichfalls gelten dürfte. Die deutschen Verwaltungen müssen – schon aus budgetären Gründen – über organisatorische Pläne eingehend mit ihr verhandeln. Die S.M.A. interessiert sich aber auch für Fragen wie die der Vorlesungsprogramme. Einige Kollegen sagten mir: „Wir alle sind ständig von den Russen überwacht.“ Ich habe davon nie etwas wahrnehmen können. Ueberhaupt bekam ich in meinem ersten Gastsemester von den Russen – abgesehen davon, dass man auf der Strasse ziemlich oft russischem Militär begegnet – fast gar nichts zu sehen. Im Sommersemester ergab sich für mich in meiner Eigenschaft als Dekan der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät eine Fühlungnahme mit der Universitätsabteilung der S.M.A. Die höheren „Universitätsoffiziere“, die ich kennen lernte, sind Leute von weitem Horizont, grossem Verständnis für Universitätsangelegenheiten – sie sind vielfach Professoren einer russischen Universität – und nichts weniger als Prinzipienreiter. Man findet sie stets bereit, über eine die Universität betreffende Frage ausführlich zu verhandeln, wobei sie ihre Ansicht mit Beharrlichkeit verteidigen, sich jedoch Gegenargumenten durchaus nicht unzugänglich erweisen. Das alles gilt in besonderem Mass von dem Leiter der Universitätsabteilung, Minister Solotuchin. Ich weiss mich in dieser Beurteilung mit

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zahlreichen Kollegen einig, die in ihrer amtlichen Eigenschaft mit der S.M.A. zu tun hatten. Alles in allem genommen würde ich der Entwicklung der Universitäten der Ostzone – trotz der zahlreichen Hindernisse und Hemmungen – eine günstige Prognose stellen. Die akademische Jugend ist vielversprechend. Sie ist in einem Mass, wie ich es zu hoffen kaum gewagt hätte, lerneifrig und reich an Begabungen. Sie bildet ein gutes Material für eine erspriessliche Neugestaltung der Hochschulen. Wenn man die verfügbaren Lehrkräfte richtig zu verwenden weiss – das darf ohne übertriebenen Optimismus den in Betracht kommenden Stellen zugetraut werden – dann wird sich in verhältnismässig kurzer Zeit ein erfreulicher Nachwuchs heranbilden lassen. Die deutsche Universität ist ganz gewiss keine „Universität ohne Hoffnung“. Freilich kann die Hoffnung, die man auf sie zu setzen berechtigt ist, durch eine Katastrophe zunichte gemacht werden. In weiten Kreisen der Bevölkerung herrscht in Deutschland eine Katastrophenstimmung, das ist nicht zu bestreiten, und vielleicht gibt es niemand, der nicht bisweilen Mühe hätte, sich ihrer zu erwehren. Jeder Deutsche und jeder, der in Deutschland lebt, sollte es als eine seiner obersten Pflichten ansehen, den Defaitismus zu bekämpfen. Sorgfältige Beobachtung der Verhältnisse wird ihm dabei wirksame Hilfe leisten. In kleineren Dingen macht man in Deutschland immer und immer wieder die Erfahrung, dass wenn man in eine ausweglose Situation zu sein glaubt, sich zu guter Letzt doch ein Ausweg findet. Man darf, wie Leibniz sagt, vom Kleinen auf das Grosse schliessen. Hier ein Beispiel: Der internationale Schriftstellerkongress nahm anfänglich eine solche Wendung, die beiden Parteien – es sind grosso modo überall auf der Welt die gleichen – gerieten so hart aneinander, dass man hätte meinen sollen, es würde bald zum offenen, irreparablen Bruch kommen; dann wurden mildere Töne angeschlagen, und der Schlussakt hatte einen einigermassen versöhnlichen Charakter. Der physische und moralische Selbsterhaltungstrieb der Völker wird das Aergste verhindern. Der dritte Weltkrieg, der Teufel, den so viele an die Wand malen, wird die Menschheit nicht zerfleischen. Bleibt der Friede erhalten, dann wird die Gesellschaft sich allmählich tiefgreifend umgestalten, und in der neuen Welt werden die deutschen Universitäten wieder die Rolle spielen, die sie in ihrer guten Zeit in der alten gespielt haben. Genehmigen Sie, sehr verehrter Herr Regierungsrat, den Ausdruck meiner grössten Hochschätzung. sig. A. Baumgarten. Quelle: Archiv des Autors.

Siglenverzeichnis für die zitierten Werke Arthur Baumgartens

Verbrechenslehre Moral Recht Erkenntnis Rechtsphilosophie Der Weg Logik Methodenlehre Philosophiegeschichte Erkenntnistheorie Liberalismus

Der Aufbau der Verbrechenslehre, Tübingen 1913, 274 S.; Neudruck Goldach 1997 Moral, Recht und Gerechtigkeit, Bern 1917, 158 S. Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode, 3 Teile in 2 Bänden, Tübingen 1920/22, 403, 664 S.; Neudruck Aalen 1978 Erkenntnis. Wissenschaft. Philosophie, Tübingen 1927, 659 S. Rechtsphilosophie, in: A. Baeumler, M. Schröter (Hg.), Handbuch der Philosophie, München, Berlin 1929, 90 S. Der Weg des Menschen. Eine Philosophie der Moral und des Rechts, Tübingen 1933, 613 S., Neudruck Aalen 1978 Logik als Erfahrungswissenschaft, Kaunas 1939, 94 S. Grundzüge der juristischen Methodenlehre, Bern 1939, 192 S.; Neudruck Freiburg, Berlin 2005 Geschichte der abendländischen Philosophie. Eine Geschichte des geistigen Fortschritts der Menschheit, Genève 1945, 618 S. Bemerkungen zur Erkenntnistheorie des dialektischen und historischen Materialismus, Berlin 1957, 181 S. Vom Liberalismus zum Sozialismus, Berlin 1967, 127 S.

Personenverzeichnis

Aall, A. 379 Abagnano, N. 209 Abendroth, W. 29 Adenauer, K. 55 Adler, A. 70, 72 Adler, M. 36, 253, 281 Adorno, Th. W. 25, 284, 348 Alcan, F. 379 Alexandrow, G. F. 58 Allihn, J. F. Th. 128 Anschütz, G. 18, 44 Apel, K. O. 191, 369 Appelt, A. 254 Ardenne, M. v. 54 Aristoteles 18, 68, 214, 307 Arlt, R. 52 Aster, E. v. 283 Augustinus, A. 95, 230 Avenarius, R. 332 Babeuf, F. N. 247 Bacon, F. 68, 155, 188, 214, 218, 230, 232, 234f., 245, 285, 300, 313, 343 Baeumler, A. 287 Bain, A. 249 Barbusse, H. 19 Barth, K. 40 Bassermann, H. 279 Baudrillard, J. 249 Bauer, B. 145 Bauer, O. 137, 280 Baumgarten-v. Salis, H. 39f., 50f., 58, 61, 374, 389 Bebel, A. 279 Becher, E. 333 Becher, J. R. 261

Becker, J. 370 Behrens, F. 49, 58, 60 Beling, E. 70, 73, 77, 79, 96f., 105f. Benary, A. 58 Benda, J. 263 Benjamin, W. 30, 33, 36, 253, 348 Benn, G. 261 Bentham, J. 56, 103, 259, 264, 301, 353 Bergson, H. 142, 258, 267, 274, 306, 326, 333, 340, 365, 368, 370, 379 Berkeley, G. 234, 236, 247f., 265 Bernstein, E. 279 Beyerle, F. 48f. Bierling, E. R. 141, 156, 160 Binder, J. 69, 380 Binswanger, L. 386f. Birnbaum, K. 72 Bismarck, O. v. 51, 186, 257, 262, 287, 291, 347 Bloch, E. 30, 33, 36, 49, 51f., 55, 60f., 220, 253, 256, 310, 333, 335, 348, 366 Bloch, M. 38 Boenheim, F. 49 Bohr, N. 338 Bonald, L. G. A. de 306 Boyle, R. 233 Bradley, F. H. 137, 237f., 307, 310 Braun, E. 269 Brecht, B. 36, 159, 183, 261 Brentano, L. 111, 278 Briand, M. d. 28 Brockdorff, C. v. 258 Büchner, L. 209 Buck, G. 68 Bühler, K. 238f. Burckhardt, J. 15

404 Burke, E. 301 Butler, J. 301 Büttner, L. 81 Cabet, E. 247 Camus, A. 284 Carlyle, T. 206, 264, 292, 305 Carnap, R. 332 Carus, C. G. 249 Cäsar, G. J. 78 Cassirer, E. 215, 237, 254f., 268, 281, 283, 337, 339, 341-343, 360 Chamberlain, H. S. 275, 291, 333 Chamfort, N.-S. 230 Chardin, T. d. 352 Chartier, E. 51 Chomsky, N. 239 Chruschtschow, N. 60 Claparède, É. 203, 237 Cogniot, G. 42 Cohen, H. 25, 34, 148, 258f., 339, 370 Cohn, J. 255, 281, 370 Coleridge, S. T. 264 Comte, A. 204, 299, 327, 331, 333, 368f. Condillac, E. B. de 229, 233, 249 Condorcet, M. J. A. de Caritat 26 Constant, B. 190, 286, 315 Cornelius, H. 25, 215, 281, 347 Cornu, A. 61 Coudenove-Kalergi, R. Graf v. 28, 153, 262, 264 Cousin, V. 289 Cromwell, O. 244 Cunow, H. 253 D’Alembert, J.-B. 211, 229 Dalton, J. 233 Dammaschke, M. 16 Darwin, C. 221, 267, 304, 337, 368f. David, E. 279 Deborin, G. A. 36 Deleuze, G. 250 Del Vecchio, G. 378 Derrida, J. 250 Descartes, R. 225, 229f., 232, 245, 338 Detlefsen, G. 65 Dewey, J. 13, 23, 33, 137, 171, 201, 203, 205, 226, 336, 358-360, 376, 378f.

PERSONENVERZEICHNIS Diderot, D. 211 Dieckmann, J. 42 Dietze, C. 62 Dilthey, W. 283, 291-294, 347 Dostojewski, F. 206, 269, 289 Driesch, H. 56, 251, 254, 267, 340, 344f., 351, 373-379, 383f., 387f. Droste-Hülshoff, A. v. 220, 260 Duguit, L. 297 Durkheim E. 118, 302, 333, 335 Duttge, G. 143 Ebbinghaus, J. 187 Egger, A. 21 Ehrlich, E. 45, 74, 101, 136, 143, 145, 156, 191, 284 Emerson, R. W. 27f., 118, 368 Engels, F. 34, 46, 194f., 254, 290 Engisch, K. 22, 374, 380f. Epikur 301 Erasmus 240 Eucken, R. 28 Fechner, G. T. 128, 241, 332 Ferguson, A. 83, 173, 218, 301 Ferneck, H. v. 77, 80 Ferri, E. 24, 78, 126 Fest, J. 269, 312 Feuchtwanger, L. 19 Feuerbach, L. 129, 218 Feuerbach, P. J. A. 93, 111, 116 Feyerabend, P. 352 Fichte, J. G. 66, 116, 128, 130f., 264 Filmer, R. 174 Flournoy, T. 57, 203, 229, 237, 352 Flügel, O. 128 Foerster, F. W. 256 Fontane, T. 291 Fontenelle, B. 26, 234f., 304 Foucault, M. 232, 336 Fourier, C. 247 Franklin, B. 89 Frantz, C. 287 Frazer, J. G. 302 Freud, S. 27, 72, 255, 266, 273, 333f., 339, 353f., 364 Fried, A. H. 256 Friedensburg, F. 173

PERSONENVERZEICHNIS Friedrich II. 250 Fromm, E. 33, 36, 253, 270 Fuchs, E. 49, 60, 153, 156 Füssli, O. 386f. Galilei, G. 214 Gall, L. 15, 346 Galton, F. 302 Gassendi, P. 232 Gentile, G. 271, 379 Geny, F. 156 George, S. 289 Gerber, K. F. 44 Gierke, O. v. 144, 259, 325 Gneist, R. v. 79 Gobineau, A. 333 Goethe, J. W. v. 359f. Goldscheid, R. 256 Gracián, B. 313 Gramsci, A. 36, 137, 253 Green, T. H. 316 Grelling, R. 256 Groethuysen, B. 253, 347 Grolmann, K. v. 127 Großmann, H. 49, 51, 253, 366 Grosz, G. 261 Grotius, H. 70, 78, 115f., 132, 134 Gschwend, L. 57 Gumbel, E. J. 71 Gumplowicz, L. 287 Günther, L. 120, 275 Gysin, A. 22 Häberlin, P. 378 Habermas, J. 33, 199, 202f., 270, 278, 322, 341 Haeckel, E. 209 Hahn, H. 282 Hall, H. S. 229 Hardenberg, K. A. v. 17 Harich, W. 52, 60 Harnack, A. v. 291 Hartmann, E. v. 28, 206, 208, 266, 288, 324, 339 Hartmann, N. 137, 150, 186, 202, 239, 254f., 307f., 316f., 336, 342 Hassemer, W. 88 Hauriou, M. 335

405 Hauser, E. 373 Hay, E. 17 Hay, J. 17 Hebel, J. P. 22, 102 Heck, P. 45, 145, 156 Hegel, G. W. F. 31, 66f., 116, 126, 128f., 145, 148, 174, 240, 249, 259, 265, 304, 307, 310, 337, 364, 380, 383 Heidegger, M. 250-253, 270f., 356, 370 Heinemann, F. 284f., 356 Heller, H. 20, 36 Helvétius 229, 247, 329 Herbart, J. F. 66, 105, 116, 128-134 Herder, J. G. 359 Herkner, H. 111, 278 Heym, G. 253, 261 Hilbert, D. 337 Hilferding, R. 137 Hindenburg, P. v. 38 Hirsch, W. 387 Hitler, A. 18, 38f., 49, 269, 312, 389, 392f., 396 Hobbes, T. 173, 188, 232, 240, 246, 300f. Höffding, H. 231, 379 Hoffmannsthal, H. v. 54, 260 Hofmann, H. 13, 166, 184, 272 Hölderlin, F. 62 Holldack, F. 148 Home, H. 301 Homer 359, 387 Hönigswald, R. 222 Hooker, R. 174 Holt, E. B. 237 Horkheimer, M. 25, 30, 36, 253, 284, 347 Huber, H. 387, 389 Huber, M. 256 Huch, R. 61, 154, 219, 303 Hume, D. 62, 173, 223, 229, 234, 236, 245, 247, 265, 291, 357, 368f. Husserl, E. 137, 185f., 219, 239, 251, 253, 276, 291, 332, 352 Hutcheson, F. 83f., 173, 301, 317 Huxley, J. S. 368 Huxley, T. H. 267, 368f. Ihering, R. v. 40, 85, 87f., 108, 110f., 136, 141f., 145f., 154, 156, 162, 167, 244, 246, 254

406 Jacoby, G. 137, 336 James, W. 13, 21, 23, 27, 57, 70, 93, 137, 141, 188, 190, 201, 203-205, 220f., 229, 237-240, 247, 260f., 263f., 267, 269, 273f., 285f., 327, 332, 347, 351, 353, 355, 365f., 368, 373, 381, 383 Jaspers, K. 30, 253, 268, 373, 375-377 Joel, K. 21, 275 Jordan, P. 340 Junge, T. 269 Jünger, E. 252, 275, 277 Kafka, F. 309 Kahr, G. v. 37 Kant, I. 17, 55, 67, 69, 84, 94, 100, 116, 128f., 131, 150, 164, 177, 184, 187, 191, 199, 209, 216, 218f., 229, 235f., 247, 258-260, 265, 274, 281, 304, 320, 337, 341f., 344, 359, 364, 370, 380 Kantorowicz, H. 55, 74, 147, 150, 156, 284 Karnenades 308 Kaufmann, A. 113 Kaufmann, E. 315 Kaufmann, F. 149 Kautsky, K. 36, 46, 137, 194, 253, 290 Keller, G. 17, 275 Kelsen, H. 33, 140, 145, 149, 167, 191 Keyserling, E. v. 275 Kierkegaard, S. 208, 275, 306 Kirchheimer, O. 45 Kisch, G. 18 Klages, L. 249, 266, 354 Kleist, H. v. 65 Klenner, H. 22, 33, 52, 61, 284 Koch, R. 17 Kocka, J. 16, 345f., 349, 370 Koffka, K. 332 Kofler, L. 55 Kohler, J. 73, 77, 79f., 89, 131, 156 Köhler, W. 242, 340, 350f., 353, 384 Kohlmey, G. 58 Korsch, K. 36, 253 Kraus, Chr. J. 173 Kraus, O. 259 Krauss, W. 49, 51, 60, 366 Krauß, D. 71 Kreimendahl, L. 226 Krueger, F. 242

PERSONENVERZEICHNIS Krüger, H.-P. 62 Kues, N. v. 214, 306 Kugelmann, L. 306 Kuhn, T. 223 Külpe, O. 186, 259 Külz, W. 42 Künkel, F. 70, 254 Laas, E. 206 Laband, P. 44 Lamennais, H. F.-R. de 306 Lamettrie, J. O. de 229 Lammasch, H. 256 Lange, F. A. 20, 25, 111, 281 Larenz, K. 148 La Bruyère, J. de 312 La Rochefoucauld, F. 312 Lask, E. 148 Lavater, J. K. 89 Lavoisier, A. de 233 Lazarus, M. 128 Le Bon, G. 302 Leibl, W. 348 Leibniz, G. 28, 169, 334, 369, 401 Lenin, W. I. 46, 50, 137, 253, 267, 339 Levi, P. 36 Lévy-Bruhl, L. 333 Lewes, G. H. 29, 368 Lewin, K. 15, 71, 302f., 355 Libet, B. 65 Lichtenstein, L. 254 Liebert, A. 30, 227, 268, 275f., 281, 283, 308, 347 Lilburne, J. 244 Lips, J. 49 Liszt, F. (Komponist) 64 Liszt, F. v. 24, 63f., 70, 72-75, 86, 88, 90, 95, 99f., 104-106, 108, 110f., 117, 119, 122124, 126, 143, 146, 183, 200, 277, 284 Litt, Th. 386 Löbe, P. 42 Locke, J. 13, 83f., 89, 174, 229, 231, 233f., 245, 247f., 264, 330, 369 Losskij, N. O. 379 Lotze, H. 257 Löwenthal, L. 25, 347 Löwith, K. 253, 268, 283 Lübbe, H. 229, 275f.

PERSONENVERZEICHNIS Luders, C. 21 Lüderssen, K. 24 Lukács, G. 30, 36, 137, 148f., 232, 253, 308, 348 Luxemburg, R. 36 Mach, E. 332f., 336 Machiavelli, N. 173, 240, 300 Maeterlinck, M. 292 Maier, H. 137, 142f., 222 Malinowski, B. 65 Mallarmé, S. 289 Mann, H. 262f. Mann, M. 370 Mann, Th. 19, 40, 274, 333, 374, 388f. Mannheim, K. 18, 30, 253 Marck, S. 259 Marcuse, H. 33, 252f., 270, 274, 282 Markov, W. 49, 56, 366f. Martin, G. 255 Marx, K. 14, 26, 31-34, 36f., 43, 45f., 49, 53, 60, 145, 209, 220, 228, 253f., 266-268, 273, 279, 287, 296f., 304, 309, 357, 367f., 390, 392 Marxen, K. 16, 64, 83, 85, 106 Maurer, G. L. v. 188 Mayer, H. 49, 51, 55f., 60, 115, 336, 366 Mc Dougall, W. 353, 376 Mc Taggart, J. 376 Mead, G. H. 202, 302 Medicus, F. 187, 259 Meiner, F. 373f., 377 Meiner, M. 374 Melsheimer, E. 377 Mendelssohn, M. 55 Mendelssohn-Bartholdy, A. 21 Menger, A. 111, 117, 144, 279 Merkel, A. 77f., 81, 86, 99, 119, 151, 167, 172 Menzel, A. v. 348 Messer, A. 186 Meumann, G. A. 156 Meyer, G. 47, 196 Meyer, H. 255, 336 Mill, J. St. 20, 56, 214f., 240, 255, 264, 301, 323f., 333, 336, 357 Mises, L. v. 279 Mitteis, L. 18

407 Mitteis, H. 147 Miville, C. 49, 391 Moeller van den Bruck, A. 252 Moleschott, J. 65, 209 Mommsen, Th. 291 Montaigne, M. de 313 Montesquieu, C. 173 Moore, E. 225, 237f. Morgan, H. S. 188, 195 Morus, T. 240 Müller, A. 248-250 Muirhead, J. H. 379 Nathan, H. 29 Natorp, P. 25, 148, 339, 342 Naumann, F. 278f., 347 Nelson, L. 21, 25, 30, 34, 215, 281 Neumann, F. 45 Neurath, O. 253, 342 Nicolai, F. 360 Nietzsche, F. 18, 28, 173, 206-208, 210, 253, 257, 262-264, 266, 269, 275, 282f., 288f., 292f., 311f., 318, 333, 356 Nink, C. 336 Nolte, P. 276 Novalis 249f. Nuschke, O. 42 Oltramare, P. 378 Oppenheimer, F. 197, 287 Ossietzky, C. v. 122, 263 Pareto, V. 302 Partsch, J. 18, 23 Paschukanis, E. 36, 107 Patzig, G. 23, 121 Paul, J. 359, 371 Peirce, Ch. S. 141, 164, 190, 204, 213, 314, 332, 369 Perry, R. B. 237 Pestalozzi, H. 128, 349 Petzoldt, J. 332 Pfänder, A. 185 Pieck, W. 42 Planck, M. 338, 340f. Platon 18, 59, 170, 306f., 341, 360 Plessner, H. 30, 62, 159, 185, 260, 267f., 275277, 373-375, 377, 386f.

408 Poincaré, H. 333 Pomponazzi, P. 229, 232 Pope, A. 201 Popper, J. 256 Preschel, Ch. 32 Proust, M. 93f., 289 Quidde, L. 256 Radbruch, G. 33, 40f., 45, 69f., 73, 79, 90, 92, 127, 141, 143, 147-151, 153, 186, 253, 255, 263, 276, 309, 380 Ragaz, L. 34 Raphael, M. 36, 253, 308 Rascher, M. 376 Rathenau, W. 29, 263 Ratzel, F. 333 Rawls, J. 33f., 203, 205 Reger, E. 348 Reichenbach, H. 204, 222, 253, 281, 332, 342 Reid, T. 62, 173, 234 Rein, W. 128 Renner, K. 36, 137 Rickert, H. 149f., 339 Riefenstahl, L. 269 Rilke, R. M. 19, 272, 325 Ritschl, F. W. v. 18 Robespierre, M. de 199 Rolland, R. 19, 263 Rosenbaum, K. 36 Rorty, R. 33, 203, 357 Rousseau, J.-J. 134, 218, 240, 303, 312, 346 Royce, J. 310 Ruge, A. 145 Rühle-Gerstel, A. 254 Rümelin, G. 64 Rümelin, M. v. 63 Ruskin, J. 20, 206, 212, 279 Russell, B. 137, 153, 204, 207, 237f., 255, 332, 342, 369, 376, 378 Salomon, E. v. 262 Sander, F. 147 Sarstedt, W. 102-104 Sartre, J. P. 284 Schabad, M. 19, 41, 59, 386, 391 Schacht, H. 38

PERSONENVERZEICHNIS Scheler, M. 59f., 185f., 202, 259, 264, 317, 332f., 339, 356, 376, 378 Schelling, F. W. J. 249, 264f., 360 Scheman, L. 333 Schestow, L. 269 Schiffer, E. 51 Schiller, F. C. S. 23, 29, 227, 332, 376 Simmel, G. 309, 339 Schlegel, F. 220, 271 Schlick, M. 332 Schmitt, C. 83, 251f., 267, 272, 275, 277 Schmoller, G. 111, 278 Scholem, G. 33 Schön, T. v. 17 Schopenhauer, A. 27, 29, 87, 90f., 206-209, 211f., 225, 251, 253f., 262, 264-266, 269, 275, 282, 288f., 305, 307, 309-312, 324f., 328, 356, 358, 361, 382f. Schreier, F. 140 Schröder, H. 32, 59 Schröter, K. 52 Schröter, M. 287 Schücking, W. 256 Schweitzer, A. 20 Seelmann, K. 16, 104 Sellars, W. 304 Seneca 312 Servet, M. 229 Shaftesbury, A. 83, 89, 173, 301, 313, 317 Shakespeare, W. 89 Shaw, G. B. 212 Shdanow, A. A. 58 Simmel, G. 309, 339 Simondon, G. 250 Sinzheimer, H. 190, 194 Smend, R. 23, 64, 140, 153, 266 Smith, A. 83, 89, 111, 188, 208, 329-331, 334, 357 Snell, B. 387 Sohn-Rethel, A. 253 Sokrates 83, 307 Spann, O. 260, 266, 354 Spencer, H. 171, 175, 187, 206, 208, 247, 258, 267, 327, 329, 331, 333, 336, 364, 368f., Spengler, O. 207, 252, 275, 291, 293 Sperber, M. 253f., 351 Spinoza, B. d. 229, 245, 382

PERSONENVERZEICHNIS Spitteler, C. 93, 266, 393 Spranger, E. 150, 259, 375, 378 Springer, J. 373, 375, 377, 386 Stahl, F. J. 111, 145 Stäudlin, C. F. 360 Stebler, H. 39 Steiger, A. E. v 39 Stein, H. F. K. 17 Stein, L. v. 20, 30, 32, 146 Steinbüchel, T. 182 Steiniger, P. A. 51 Steinthal, C. 128 Stewarts, D. 234 Stoecker, A. 278 Stolleis, M. 72 St. Just, L. A. 199 Stresemann, G. 28, 263 Stroux, J. 396, 399 Suttner, B. v. 256

409 Vaihinger, H. 332, 337 Valla, L. 229, 232 Verdroß, A. 160 Verhaeren, E. 29 Vierkandt, A. 253 Vogt, K. 65 Voltaire 247, 291

Tarde, G. 329, 333, 335f. Taylor, J. 366 Thoma, H. 448 Thoreau, H. D. 28, 208 Thorndike, E. L. 376 Thyssen, F. 38 Thyssen, J. 150 Tillich, P. 14, 34, 254 Togliatti, P. 42 Tolstoi, L. N. 19, 206, 289, 292 Trakl, G. 261 Treitschke, H. 287 Trémaux, P. 304 Troeltsch, E. 172, 233, 291, 375 Trotzki, L. D. 46, 339 Tugendhat, E. 320, 335

Wagner, A. 278 Walz, G. A. 21 Walzer, M. 278 Warburg, A. 341 Watson, J. B. 376 Webbs, B. 212 Webbs, S. 212 Weber, A. 260 Weber, M. 109f., 210, 241, 251f., 333, 376 Webern, A. 28 Weingarten, M. 304 Wells, H. G. 158, 212 Werfel, F. 261 Wertheimer, M. 237f. Whitehead, A. N. 29 Wilhelm I. 291 Wilhelm II. 206 Windelband, W. 209, 339 Winkler, H. A. 298 Winstanley, G. 244 Winter, E. 42f. Wittgenstein, L. 163, 237, 255, 281, 342 Wobbermin, G. 229 Wolff, C. 127 Wundt, W. 128, 140, 176, 215, 260, 332, 390 Wüstendörfer, H. 156

Uexküll, T. v. 352f. Ulbricht, W. 52 Unwin, A. 379 Utitz, E. 283

Zeller, H. 73 Ziegler, T. 290f. Ziller, T. 128 Zitelmann, E. 156