Überzeugen: Rhetorik und politische Ethik in der Antike 9783787334384, 9783787334377

In diesem Buch geht es um den Beitrag, den die antike Rhetorik zum normativen Selbstverständnis der Polis und zur politi

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German Pages 342 [343] Year 2018

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Überzeugen: Rhetorik und politische Ethik in der Antike
 9783787334384, 9783787334377

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Reckermann Überzeugen

Überzeugen Rhetorik und politische Ethik in der Antike Alfons Reckermann

Meiner

Alfons Reckermann Überzeugen Rhetorik und politische Ethik in der Antike

Meiner

Dem Andenken an meine geliebte Frau Ursula in unzerstörbarer Verbundenheit

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3437-7 ISBN eBook: 978-3-7873-3438-4

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, ­soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff.  Printed in Germany.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Das Problem: Von der Stasis zur Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Die Stimme Athenes Die Erzeugung der Polis als Ort des guten Zusammenlebens von Göttern und Menschen in der Orestie des Aischylos . . . . . 21 1. Die Handlung der Orestie und die theologischen ­Voraussetzungen ihrer Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder und ihre Bedeutung für die Handlungsorientierung . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Rechtskonflikt und seine politische Lösung . . . . . . . . . . a) Der Weg von Argos über Delphi nach Athen . . . . . . . . . . . b) Das Urteil im Prozess vor dem Areopag . . . . . . . . . . . . . . c) Die politische Verhandlung mit den Erinyen . . . . . . . . . . . d) Die Polis als Ort des neu befestigten Zusammenlebens von Göttern und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 25 31 31 37 41 44

II. Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 A. Gorgias: Die Rhetorik als größte soziale Gestaltungsmacht . . 47 B. Die Überwindung des tierischen Anfangszustands der ­menschlichen Natur durch die soziale Gestaltungskraft der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 C. Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Der Begriff des Wissens und das Konzept dialektischer Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2. Die Wahl der besten sozialen Gestaltungskraft . . . . . . . . . . 71 3. Das Muster guter Herrschaft und die Bedingungen ihrer Verwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

D. Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik . . . . . . . . . . . 80 1. Die Überwindung des tierischen Daseins . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kultur begründende Kraft der Sprache und ihre Bedeutung für die Polis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Athen als Entstehungsort menschlicher Kultur . . . . . . . . 2. Der Gegensatz zwischen guter und gewaltgestützter Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Möglichkeit der Rückkehr zu guter Herrschaft . . . . . . . 4. Griechische Erfahrungen mit kooperativer Politik . . . . . . . . 5. Der Beitrag der politischen Rhetorik zur Realisierung guter Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81 81 86 93 104 114 120

III. Realisierungsprobleme – Möglichkeiten und Grenzen rhetorisch fundierter Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 A. Der Ruf des Theseus oder die Gründung der Polis durch überzeugende und machtgestützte Rede . . . . . . . . . . . 127 B. Solon und seine Politik der Eunomia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Die Vorstellungen des 4. Jhs. von Solons Politik . . . . . . . . . . 134 2. Solons Dichtung als Lobrede auf die Eunomia und als politische Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 C. Die Isonomiepolitik des Kleisthenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Gewalt, List und Überzeugungskunst in der Politik des Kleisthenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 2. Die gesetzgeberische Kunst des Kleisthenes oder die ­Verankerung der Praxis der Isegorie in einer isonomen ­Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 D. Themistokles oder: Die Praxis der Isegorie als Grundlage für eine Politik des kühn wagenden Mutes . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Die Machtmittel des Themistokles: Überredungskunst, ­Bestechung, List, Gewaltandrohung und Zwang . . . . . . . . . . 165 2. Herodot über den Nutzen und Nachteil der Isegorie für die ­politische Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten . . 176 3. Das Handlungsmuster von Salamis und die Politik der Athener im delisch-attischen Seebund . . . . . . . . . . . . . 185 E. Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides . . . . . . . . . 193 1. Das Perikles-Bild des Isokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6 | Inhalt

2. Thukydides und die Praxis der Isegorie. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bürger-Polis Athen – eine sichere Insel im Umfeld größter Bewegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der griechisch geprägte Handlungsraum und seine ­Bewegungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bürger-Polis unter dem Druck größter Bewegung . . . c) Die Grenzen der politisch verantwortlichen Rhetorik im Umfeld größter Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 207 210 215 222

Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Inhalt | 7

Einleitung

›G

ewalt‹ (b…a, vis) und ›Überzeugungskraft‹ (peiqè, persuasio) sind zwei gegensätzliche Gestaltungs- und Machtfaktoren des sozialen Handelns. ›Gewalt‹ besteht in der Anwendung physischer Zwangsmittel zur Durchsetzung des eigenen Willens, während ›Überzeugungskraft‹ sich auf sprachliche Mittel stützt, um Konflikte zu entspannen, Interessen auszugleichen und Vertrauen herzustellen. Gewalt begründet physische Verhältnisse, in denen Schwächere der Herrschaft des Stärkeren unterworfen sind, Überzeugungskraft hingegen moralisch-rechtliche Verhältnisse, die auf freiwilliger Zustimmung der Beteiligten und insofern auf Gleichheit beruhen. Beide Gestaltungskräfte stehen im ethischen Diskurs natürlich nicht gleichberechtigt nebeneinander, vielmehr gilt dort die bereits von Bias von Priene – einem der Sieben Weisen  – formulierte Maxime: »Gewinne durch Überzeugung und nicht durch Gewalt« (DL I 88). In der ›politischen Kunst‹ als Einheit von ›kriegerischer‹ und ›gesetzgeberischer Kunst‹ (Protagoras) wird daraus ein Verhältnis der Subordination, in dem ›Überzeugungskraft‹ als kommunikative Gestaltungsmacht dafür sorgen muss, dass die nach außen gerichtete kriegerische ›Gewalt‹ lediglich als Mittel der Politik und das innerstaatliche Gewaltmonopol ausschließlich in der Bindung an gemeinsam beschlossenes Recht zur Wirkung kommt. Die Umwandlung der Naturkraft ›Gewalt‹ in rechtlich legitimierte ›Macht‹ ist die Geburtsstunde der Polis als politischer Gemeinschaft, die ihre Macht dadurch gewinnt, dass sie ihre innere Ordnung und ihr Handeln nach der klassischen ­Definition des Aristoteles an Recht und Gesetz bindet.1 Im vorliegenden Buch geht es um antike Konzepte der Überwindung innergesellschaftlicher Gewalt durch die ›Herstellung‹ (po…hsij, constitutio) rechtlich gebundener Einheiten des Zusammenlebens, die sich, wenn nötig, auch mit ›Gewalt‹ gegen innere und äußere Gegnerschaft behaupten können. Die Überwindung der Gewalt durch das Recht ist der Anfang aller Politik. Wenn man | 9

darunter einen historischen Vorgang versteht, dann gibt es dafür keine belastungsfähigen Zeugenaussagen. Da aber gerade die Art und Weise, wie er gedacht wird, für das Verständnis der Politik von entscheidender Bedeutung ist, muss der ›Übergang‹ von der Gewalt zum Recht im Rahmen einer ›Vermutung‹ rekonstruiert werden, die ihre Glaubwürdigkeit nur dadurch gewinnt, dass sie sich gegenüber anderen ›Vermutungen‹ als die ›wahrscheinlichere‹ erweist.2 Die politische Ethik, die im Zentrum des vorliegenden Buches steht, hält sich dafür an die Vorstellung, dass am ›Anfang‹ der ›menschlichen Dinge‹ kein Goldenes Zeitalter und keine wie auch immer geartete politische Natur des Menschen gestanden hat, sondern wie später in der Naturrechtstheorie von Thomas Hobbes ein Zustand roher Gewalt. Cicero beschreibt ihn als einen Zustand, in dem die Menschen »zerstreut und einzeln umherstreifend auf den Feldern lebten und nur so viel besaßen, wie sie gewaltsam mit der Faust unter Morden und Blutvergießen anderen entreißen und behaupten konnten«. Beendet wurde diese Lebensweise durch den Auftritt besonders tugendhafter und kluger Männer, die »die spezifische Bildungsfähigkeit des Menschengeschlechts und seine Veranlagung erkennen konnten und deshalb die zerstreut Lebenden an einem Ort zusammengeführt und aus tierischer Wildheit zu einer gerechten und gesitteten Lebensweise hingeführt haben«.3 Dafür haben sie sich auf die Fähigkeit gestützt, »ihre Mitmenschen von dem, was sie durch vernünftige Überlegung herausgebracht hatten, mit den Mitteln der Beredsamkeit zu überzeugen«, so dass diese ihr vereinzeltes, allein auf Körperkraft gegründetes Dasein freiwillig aufgegeben haben. 4 Nur wortgewaltige Redner, die imstande waren, das ›Gewicht‹ (gravitas) ihrer Einsicht mit dem Reiz unwiderstehlicher ›Süße‹ (suavitas) zu verstärken, haben sogar die Stärksten überreden können, den Naturzustand zu verlassen und ihr Zusammen­leben mit allen anderen durch »öffentliche, dem Nutzen der Allgemeinheit dienende Einrichtungen« und ein »neu erfundenes göttliches und menschliches Recht wie mit einer Mauer zu befestigen«.5 Cicero entnimmt diese Vorstellung von der Entstehung politisch-rechtlicher Ordnung einer politischen Ethik, die in der griechischen Welt maßgeblich im Ausgang von der Rhetorik entwickelt worden ist. Wenn sie in der bisherigen philosophischen Diskussion 10 | Einleitung

kaum Beachtung gefunden hat, so liegt das zum einen daran, dass der von Platon und Aristoteles begründete Begriff der Philosophie als wissenschaftlicher Darlegung der »ersten Gründe des Seienden« ein Denken zur Wirkung gebracht hat, für das am ›Anfang aller Dinge‹ eine göttliche Macht des Guten steht, die auch dem menschlichen Leben einschließlich seiner Gemeinschaftsformen verbindliche Normen vorgibt. Die Verwirklichung von Gerechtigkeit besteht nach dieser ›Vermutung‹ in der ›Übertragung‹ einer transpolitischen Norm des Richtigen auf konkrete Sozialverhältnisse. Unter transzendentalphilosophischen Voraussetzungen wird daraus die Pflicht zur Orientierung des Handelns an einer ›regulativen Idee‹ des Gerechten und unter kommunikationstheoretischen Bedingungen seine Bindung an eine epistemisch rekonstruierbare ›Natur‹ sprachlicher Interaktion, die auf Gegenseitigkeit und Gleichheit beruht. Wenn der Vernunft die Einsicht in eine ›Natur‹ des Gerechten zugetraut wird, ist der von ihr belehrte und insofern von Herrschafts- und Machtinteressen ›gereinigte‹ Wille die einzig authentische Quelle des Guten, während die Rhetorik – exemplarisch bei Platon – dem Feld des strategischen Handelns zugeordnet wird, in dem es nur um den Aufbau von Macht-, aber nicht um die Begründung von Rechtsverhältnissen geht. Der andere Grund für die Vernachlässigung des Beitrags der antiken Rhetorik zur politischen Ethik besteht darin, dass die dafür relevanten Texte entweder nur fragmentarisch überliefert sind oder wie das Drama, die Lyrik, die Historiographie, der Dialog oder die künstlich gebaute Rede andere Formen des Glaubwürdigmachens verwenden als die, die seit Platon und Aristoteles für die wissenschaftliche Rede als verbindlich gelten. Die Voraussetzungen des klassischen Begriffs der Philosophie und der von ihr begründeten Ethik sind bereits in der Antike bestritten worden. Erst recht sind heute ethische Fragen und die Grundlagen für ihre Klärung der kontroversen Diskussion ausgesetzt. Ethische Debatten führen deshalb in Gesellschaften, in denen unterschiedliche normative Vorstellungen aufeinander treffen, zu einem Dissens, der, wenn er den sozialen Zusammenhalt bedroht, nur politisch entschärft werden kann. Das geschieht dadurch, dass ›der Gesetzgeber‹ auf dem Weg rechtlich vorgeschriebener Verfahren ein ›Richtiges‹ festlegt, das sowohl sachlich ­vertretbar als Einleitung | 11

auch für den sozialen Frieden ›nützlich‹ ist. Von daher verdient eine politi­sche Ethik das Interesse nicht nur der Experten, sondern auch das einer breiteren Öffentlichkeit, die bereits in der Antike den Bürgern einer Polis zugetraut hat, auf der Grundlage von Rede und Gegenrede zu einer gemeinsamen Entscheidung über die Form ihres Zusammenlebens zu kommen und das eigene Handeln Gesetzen zu unterwerfen, die sie sich selbst nach kontroverser Debatte durch Mehrheitsbeschluss gegeben haben. 6 Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik steht dem gegenwärtigen Bewusstsein aber auch dadurch nahe, dass ihr im Gegensatz zur platonischen und aristotelischen Philosophie eine Anthropologie zugrunde liegt, die den Menschen als ›Mängelwesen‹ auffasst. Danach steht am Anfang der ›menschlichen Angelegenheiten‹ ein Zustand der Not, in dem die elementaren Grundlagen für das eigene Leben durch ›Kunst‹ hergestellt werden müssen. Die Grundform des menschlichen Handelns ist deshalb ein inhaltlich offenes Streben nach Vorteilen. Das geschieht zunächst auf der Grundlage physischer Kraft. Da sie im gedachten Anfangszustand unterschiedlich verteilt ist und die Stärkeren deshalb ihren Vorteil leicht durch die Unterwerfung Schwächerer fördern können, kommt der politischen Kunst bei der Überwindung des ›tierischen Daseins‹ die Schlüsselrolle zu, weil nur sie stabile Handlungseinheiten ›herstellen‹ kann, die auf dem wechselseitigen Austausch von Rechten beruhen. Sie ist deshalb auch die Quelle rechtlich gehegter ›Gewalt‹, die als legitime Macht ›räuberischer Wildheit‹ Einhalt gebietet und dadurch der ›gesetzgeberischen Kunst‹ den Rücken dafür freihält, die Binnenordnung einer Gesellschaft ebenso wie das individuelle Streben nach Vorteilen an Recht und Gesetz zu binden. Die hauptsächlich in Athen entstandene rhetorisch fundierte Ethik ist für die heutige Zeit auch deswegen von besonderem Inter­ esse, weil sie in paradigmatischer Direktheit mit der Bändigung innergesellschaftlicher Gewalt befasst war. Die attische Gesellschaft der archaischen Zeit hat nämlich keine festen sozialen Bindungen und keine staatliche Ordnung gekannt, so dass die entscheidenden Träger des sozialen Handelns die ›Herren‹ der großen ›Häuser‹ gewesen sind, die, um den eigenen Besitz vor gewaltsamen Zugriffen ihrer Konkurrenten zu schützen und die Gestaltungsmacht über ihre Angelegenheiten nach Möglichkeit in die eigene Hand zu be12 | Einleitung

kommen, ihr Gegeneinander in der Kampfform der Stasis ausgetragen haben.7 In diesem Rahmen konnte sich nur eine »extrem individualistische Wettbewerbsethik« entwickeln8 , die gerade die Mächtigen verpflichtet hat, »immer der Beste zu sein und den anderen überlegen« (Homer, Il. 6, 208). Die Auseinandersetzung mit der agonalen Ethik des heroischen Handelns und mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen war die wichtigste Aufgabe für die Polis und ebenso für die ihr zugehörige Ethik. Die Polis profiliert sich dabei zum Ort eines Wettbewerbs von Reden und Gegenreden, den derjenige gewinnt, den seine Mitbürger als den besten Ratgeber für die Gestaltung ihres Zusammenlebens und für ihr gemeinsames Handeln anerkennen. Politische Rhetorik hat deshalb ihr Vorbild in der von Homer beschriebenen Praxis des Redewettstreits der »Besten im Kampf und im Rat« (Ilias 9, 441  ff ) und in der Fähigkeit der »zeusgenährten Könige« Hesiods, mit ›gewinnenden Worten in gerechter Entscheidung rasch und klug gewaltigen Streit zu beenden‹ (Theog. 80  ff ). Das Medium, in dem sie ihre Wirkung entfaltet, ist deshalb zum einen die Rede des Einzelnen, der andere von der Richtigkeit seiner Vorstellungen überzeugt und dadurch Handlungseinheiten herstellt, und zum anderen die Institution der agonalen Debatte, mit der eine Gemeinschaft von Gleichen die Regeln ihres Zusammenlebens festlegt und über ihr konkretes Handeln entscheidet. Die Wettbewerbsstruktur, die in der archaischen Epoche die Quelle der Stasis war, wird also in der Polis nicht beseitigt, sondern so umgeformt, dass der ›große Wettkampf‹ nicht mehr das physische Gegeneinander der Starken ist, sondern die agonale Debatte, in der um Wohl und Nutzen der politischen Gemeinschaft, aber auch um den Besitz politischer Gestaltungsmacht und das damit verbundene öffentliche Ansehen gestritten wird. In der Polis konkurriert die politische mit der sophistischen Rhetorik, der das Verdienst zukommt, die Techniken sprachlicher Darstellung systematisch erschlossen und in Lehrbüchern zusammengestellt zu haben. Auf der Grundlage dieses Wissens ist auch der politische Redner imstande, »gegen alle und über alles so zu reden, dass er den meisten Glauben findet beim Volk«9. Da er jedoch ›bewirken‹ will, dass den Bürgern »statt des Verderblichen das Heilsame gerecht zu sein scheint und es deshalb für sie auch ist«10 , stützt er sich ausschließlich auf die von Aristoteles als ethisch Einleitung | 13

qualifizierten Überzeugungsmittel, d. h. vor allem auf seine persönliche Glaubwürdigkeit11 und auf eine Vortragsweise, die im Unterschied zur demagogischen Rede »in belehrender Form (di¦ toà deiknÚnai) Wahres oder Wahrscheinliches« zum Ausdruck bringt.12 Es geht deshalb im vorliegenden Buch nicht um die technische, sondern ausschließlich um die politisch-ethische Dimension der ars bene dicendi, die der Form wie dem Inhalt nach ›gute‹ Rede sein will.13 Ein besonderes Problem der rhetorisch fundierten Polis-Ethik besteht offensichtlich darin, dass sie die ›Herstellung‹ des Guten einem Medium anvertrauen muss, von dem sie selber weiß, dass es auch das Gegenteil bewirken kann. Im Zentrum ihrer Selbstreflexion stehen deshalb der politisch vorteilhafte ›Gebrauch‹ sprachlicher Kunstmittel und die Notwendigkeit, ihn gegen ihren schädlichen ›Gebrauch‹ durchzusetzen.14 Dabei kommen zwangsläufig auch ein erkenntnistheoretisches Problem, das sie selbst, und ein politisches Problem zur Sprache, das ihre Außenwirkung betrifft. Das erkenntnistheoretische resultiert daraus, dass die Rhetorik für die Herstellung des Glaubwürdigen und ›Heilsamen‹ auf allgemein verbreitete Meinungen zurückgreifen muss, weil nur sie für eine ›Menge‹ von Menschen zustimmungsfähig sind. Sie müssen für diesen Vorteil aber den Nachteil in Kauf nehmen, hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit für ein öffentlichkeitswirksames Sagen des Guten schwer durchschaubar zu sein. ›Meinungen‹ sind grundsätzlich ambivalent, so dass sie falsch, aber auch richtig sein können, sich aber in den meisten Fällen in der Mitte zwischen diesen beiden Extremwerten bewegen, so dass es oft aussichtslos ist, das Richtige aus seiner Vermischung mit Falschem herauszulösen.15 Die politische folgt der sophistischen Rhetorik darin, dass sie nicht die Erkenntnis des Wahren, sondern die Ermittlung des ›Wahrscheinlichen‹ zum Ziel hat. Um das damit verbundene Moment von Willkür so gut wie möglich unter Kontrolle zu halten, muss sie sich zu der Kunst profilieren, die innerhalb des Wahrscheinlichen zwischen Schwäche und Stärke begründete Unterscheidungen treffen kann.16 Nach Platon ist das »Wahrscheinliche« nur dann etwas anderes als das, »was die Menge leicht glaubt«, wenn es »aus einer Ähnlichkeit mit dem Wahren entsteht«, so dass es »am besten von dem zu finden« ist, der »die Wahrheit in der Sache erkannt hat« (Phaedr. 273 a 14 | Einleitung

und d). Da sich die politische Rhetorik von diesem Ideal des Wissens bewusst distanziert, ist die Grundlage ihrer Kunst eine besondere Form der Urteilsklugheit (frÒnhsij, prudentia), die sich auf ethische und politisch-praktische Streitfragen konzentriert und die Einsicht in die ›Natur der Dinge‹ einer anders gearteten wissenschaftlichen Erkenntnis (™pist»mh, scientia) oder der Gottheit überlässt. Sie muss deshalb erklären, wie sie »unter der Bedingung kognitiver Ungewissheit«17 eine allgemein überzeugende Vorstellung entwickeln und mit ihr einer Gemeinschaft dazu verhelfen kann, ihr ›Wohl‹ zu befördern. Das politische Dilemma ist darin begründet, dass in der Polis verschiedene Interessen und widersprüchliche Meinungen über die ›richtige‹ Handhabung der öffentlichen Angelegenheiten aufeinander stoßen. Ihr ordnungspolitisches Grundproblem ist deshalb die gewaltfreie Herstellung von Konsens bei gegebenem oder jederzeit möglichem Dissens. Wissenschaftliche Sätze allein können, selbst wenn sie wahr sind, nicht mehrheitlich von einer Gemeinschaft als das für sie ›Heilsame‹ nachvollzogen werden, weil eine ›Menge‹ von Menschen keine Versammlung der ›Besten‹ im Sinne Hesiods ist, die »alles selbst einsehen und bedenken, was danach und hin bis zum Ende das Beste ist« (Erga 293  ff ). Die Lösung des Konsensproblems gelingt deshalb nur der ›Kunst‹, die in der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Meinungen von unterschiedlicher Wertigkeit eine Vorstellung ausbilden und öffentlich so darlegen kann, dass eine ›Menge‹ glaubt, ihr folgen zu müssen, um aus einer Situation der ›Ratlosigkeit‹ herauszufinden. Themen ihrer Selbstreflexion sind aber auch die Möglichkeit des eigenen Irrtums und das mögliche Scheitern einer ›guten‹ Rede am Widerstand einer unbelehrbaren ›Menge‹ oder an der Wirkungsmacht einer schlechteren Gegenrede. Zur Verdeutlichung dessen, worum es in der politisch verantwortlichen Rhetorik und der von ihr begründeten Polis-Ethik geht, ist das vorliegende Buch in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten soll, angeregt durch Überlegungen Christian Meiers zur Entstehung des Politischen bei den Griechen und zur Politischen Kunst der griechischen Tragödie, das Grundproblem dieser Ethik, die Überwindung lebensbedrohlicher ›Wildheit‹ durch eine soziale Ordnung, die auf Einleitung | 15

gemeinsamen Überzeugungen beruht und auf Kooperation eingestellt ist, am Beispiel der Orestie des Aischylos veranschaulicht werden.18 Sie ist gleichsam der dramatische Grundtext für die rhetorisch fundierte Polis-Ethik, weil dort die Entstehung einer der­ artigen Ordnung auf die »gute Zunge« (Eum. 988: glèssh ¢gaq») der Göttin Athene zurückgeführt wird, die mit ihrem »besänftigenden Klang« (886: me…ligma kaˆ qelkt»rion) »zu rechter Zeit« (1000) dem Guten durch belehrende Rede (881: lšgousa t¢gaq£) gegenüber denen zum Sieg verhilft, die sich wie eine hartnäckige Stasispartei dem Wettkampf für das gemeinsame Wohl auf eine gefährlich lange Zeit »wild in Weigerung versagt« haben (974  f ). Die Befreiung aus einer Welt der Gewalt gelingt nicht allein durch die Ablösung der Rache durch das Recht, sondern erst dadurch, dass die normativen Folgelasten dieses Übergangs durch besänftigendes Reden und politisches Verhandeln so aufgefangen werden, dass zwischen den bisherigen Streitparteien ein Verhältnis gegenseitigen Wohlwollens zustande kommt. Die Orestie ver­a nschau­licht außerdem die ambivalente Wirkungsmacht sprachlich gefasster Vorstellungsbilder, die ebenso zu tödlicher Gewalt wie zu einem allseitig vorteilhaften Zusammenleben ›überreden‹ können. Auch in dieser Hinsicht ist sie für die politische Rhetorik ein grund­ legender Text. Im zweiten Hauptteil geht es um konzeptionelle Begründungen für eine Ethik, die die von der Athene des Aischylos als göttlich gepriesene Macht der Peithō auf eine menschliche Stimme übertragen und als rhetorische Kunst im Raum der Polis als Mittel der Problemlösung vergegenwärtigen will. Am vollständigsten ist diese Ethik von Isokrates entwickelt worden (D). Er gewinnt ihre philosophischen Grundlagen dadurch, dass er die These seines Lehrers Gorgias von der Sprache als universaler Gestaltungsmacht (A) mit der sophistischen Anthropologie menschlicher Schwäche und der für sie charakteristischen Vorstellung des ›künstlichen‹ Übergangs vom status naturalis zum status civilis (B) verbindet. Er kann deshalb Xenophons Konzept der Herstellung von Freundschaft und guter politischer Herrschaft durch besonnen überzeugende Rede (C) zu einer Bestimmung des Logos als der besten sozialen Gestaltungskraft erweitern. Ihre Leistung wird von Isokrates in seinen großen politischen Reden konkretisiert. In ihnen macht er deut16 | Einleitung

lich, dass die Wirkungsmacht der besonnenen Rede für die Athener der entscheidende Urheber alles Guten, ihre Schwächung hingegen der Urheber des Schlechten gewesen ist, nämlich die Ursache dafür, dass sie ihre Politik einseitig auf den Machtfaktor ›Gewalt‹ umgestellt und damit letztlich ganz Griechenland ins Elend gestürzt haben. Da diese Aussagen nicht nur für Athen, sondern für jede politische Gemeinschaft gelten, gehören sie in den gedanklichen Horizont einer philosophischen Theorie der Politik. Der dritte Hauptteil gilt in erster Linie den problematischen Realisierungsmöglichkeiten, aber auch konzeptionellen Erweiterungen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik. Die Überlegungen dazu folgen der von Isokrates aufgestellten Liste der vier ›besten‹ Politiker Athens: Solon, Kleisthenes, Themistokles und Perikles. Sie wird im Blick auf seine Helena-Rede an ihrem Anfang um Theseus erweitert, weil die Polis im Akt der ihm zugesprochenen institutio rei publicae die Kraft erhalten hat, mit der sie in späterer Zeit bürgerkriegerische und äußere Gefährdungen überwinden und ihre Macht nicht nur quantitativ ausdehnen, sondern, in der Sicht des Isokrates, zur gewaltfrei überzeugenden Wirkungsmacht der Schönheit steigern konnte. Da sich sein Lob der besten Politiker Athens mit wenigen Andeutungen begnügt, wird deren Bild vor allem durch Texte von Herodot (Kleisthenes, Themistokles), Thukydides (Themistokles, Perikles) und Aristoteles (Solon, Kleisthenes) ergänzt. In diesem Rahmen wird Solons Dichtung als lyrische Ursprungsform der politischen Rhetorik vorgestellt. Sie sollte nämlich nicht nur dazu beitragen, einen besonderen Bürgerkrieg zu beenden, sondern vor allem das Bewusstsein dafür wecken, dass die Bürger für die konkrete Gestalt ihres Zusammenlebens eine Verantwortung tragen, die ihnen niemand abnehmen kann. Solons Dichtung appelliert an den Willen zur Gerechtigkeit als der einzig tragfähigen Voraussetzung für die ›gute Ordnung‹ (Eunomia) einer Polis. Sie thematisiert aber auch Grenzen, die einer Politik der Verbindung von Macht und Recht gesetzt sind, wenn sie ausschließlich von der freiwilligen Zustimmung der Bürger abhängt, und plädiert damit für die gegenseitige Verstärkung von Individual- und Institutionenethik. Das Bild von der Politik des Kleisthenes, der in der Antike als guter Redner galt, obwohl keine einzige Rede von ihm erhalten Einleitung | 17

ist19, wird nicht nur durch aristotelische Referate, sondern auch im Blick auf Herodot präzisiert. So wird deutlich, dass Kleisthenes nur durch eine kluge Verbindung von Überredungskunst und Gewalt die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Stasis beseitigen und ­einer Verfassung zur Macht verhelfen konnte, die auf überzeugende Rede und damit auf eine alle Bürger umfassende politische Kooperation eingestellt war. Herodot spricht in diesem Zusammenhang von der Praxis der Isegorie als einer Institution, die dafür sorgt, dass erst dann gehandelt wird, wenn die Bürger einer isonom verfassten Polis ihre Vorhaben zuvor in Rede und Gegenrede ausführlich diskutiert haben. Er betont außerdem, dass die Orientierung an dieser Praxis die Handlungskraft Athens entscheidend verstärkt hat. In seiner Darstellung des Krieges zwischen Persern und Griechen hat er seine These vom machtpolitischen Vorteil der Isegorie vielfältig differenziert und dabei der Redekunst des Themistokles besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Mit seiner Interpretation des menschlichen Handelns als einem unvermeidlichen, aber letztlich zum Scheitern verurteilten Versuch, den Mangel an Autarkie zu überwinden, der zur menschlichen Natur gehört, bewegt er sich im Rahmen einer Anthropologie, die auch der rhetorisch fundierten Polis-Ethik zugrunde liegt. Anknüpfend an Herodot zeigt Thukydides, dass die Reden des Themistokles, die den Athenern bei Salamis den ›kühnen Mut‹ eingegeben haben, die höchste alle Gefahren, nämlich die des Nicht-Seins, freiwillig auf sich zu nehmen, um die Freiheit ganz Griechenlands zu ›retten‹, in ihr politisches Handeln ein Muster ›eingepflanzt‹ haben, das den Machtfaktor expansiver Gewalt von Persien nach Griechenland geholt, ihn dort zu ›größter Bewegung‹ entfesselt und damit die Politik kooperativer Verständigung ins Reich frommer Wünsche verwiesen hat. Im letzten Abschnitt des dritten Hauptteils geht es deshalb um Grenzen, die der Praxis der Isegorie unter den Bedingungen ›größter Bewegung‹ gesetzt sind. Im vergleichenden Blick auf verschiedene Formen der ›Ingebrauchnahme‹ politischer Rhetorik wird deutlich, dass bereits der Antike bewusst war, dass ihre Gestaltungskraft von Voraussetzungen abhängt, die auch der beste Redner nicht selbst in der Hand haben kann. In einer Schlussbetrachtung wird die Bedeutung dieser Einsicht für das Selbstverständnis der rhetorisch fundierten Polis18 | Einleitung

Ethik herausgestellt und sie selbst in den Zusammenhang der antiken praktischen Philosophie eingeordnet. Im vorliegenden Buch geht es nicht um die Darstellung historischer Prozesse, obwohl auf sie immer wieder Bezug genommen wird, sondern um die Verdeutlichung der begrifflichen Konzepte, die den Beschreibungen und Bewertungen politischer Organisationsformen und ihrer Handlungsmuster zugrunde liegen.20 Eine Antwort auf die Frage, ob die Ausführungen dazu auch für ein gegenwärtiges Politikverständnis »Anreizungen zum Nachahmen und Bessermachen« enthalten, muss dem Leser überlassen bleiben. Es ist jedenfalls weder beabsichtigt, ein gegenwärtiges Bewusstsein zu überreden, in eine Vergangenheit ›überzusiedeln und sich darin ein heimisches Nest zu bereiten‹, noch ein Vergangenes durch den Nachweis der darin wirksamen ›Macht menschlicher Gewalt und Schwäche‹ zu ›dekonstruieren‹.21 Die antike Polis unterscheidet sich viel zu stark von der gegenwärtigen repräsentativen, vom Prinzip der Gewaltenteilung geprägten Demokratie, als dass einfache Übertragungen möglich wären. Die rhetorisch fundierte PolisEthik gehört in die uns fremd gewordene Lebenswelt einer Demokratie, die sämtliche politischen und juristischen Streitfragen in Tagversammlungen der Bürgerrechtsträger, also der freien erwachsenen Männer, entschieden hat. Politik war deshalb nicht die Angelegenheit einer dafür zuständigen, von einer professionalisierten Bürokratie unterstützten Regierung, sondern tatsächlich die Sache des gesamten ›Volkes‹. Die aus der Rhetorik entwickelte Ethik war außerdem an Bürger adressiert, die in den knapp 150 Jahren zwischen ca. 600 bis 450 v. Chr. Stasis und Tyrannis, ihre institutionelle Überwindung durch die Einrichtung einer Bürger-Polis und deren Umgestaltung von einer aristokratischen ›Herrschaft der Besten‹ zur ›Herrschaft des Volkes‹ erlebt und zunehmend mitgestaltet haben. Der Arbeit an der konkreten Form ihrer politischen Gemeinschaft hat kein bewusster Plan, sondern die Notwendigkeit zugrunde gelegen, die eigene Lebensform vor Stasis und Tyrannis und der imperialen Großmachtpolitik Persiens zu schützen. Der Erfolg dieser Anstrengung hat für Athen den rasanten Aufstieg von einer mittleren Regional- zur politischen und kulturellen Führungsmacht Griechenlands bedeutet. So wie die Stadt verfasst war, Einleitung | 19

konnten diese Veränderungen, aber auch die späteren Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges nur auf der Grundlage freier Diskussion bewältigt werden. Wer die Stilisierung der Rhetorik zur Primärquelle des Guten für eine weltfremde Idealisierung hält, sollte bedenken, dass die öffentliche Debatte der Lebenskern e­ iner Bürger-­Polis war, die immer wieder vor der Notwendigkeit gestanden hat, sich in ihrem Inneren gegen den Ausbruch und nach ­außen gegen den Zugriff zerstörerischer ›Wildheit‹ zu wehren.

20 | Einleitung

I. Das Problem: Von der Stasis zur Polis Die Stimme Athenes Die Erzeugung der Polis als Ort des guten Zusammenlebens von Göttern und Menschen in der Orestie des Aischylos

Für Aristoteles ist die politische die beste menschliche Gemeinschaft, weil alle Mitglieder an ihr in der Weise teilhaben, dass ihnen das gemeinsam gestaltete Leben zusammen mit wirtschaftlicher Autarkie (Pol. I 2, 1252 b 29) das normative Gut rechtlicher Ordnung sichert (ebd. 1253 a 17  ff ). Der Herrschaft von Gleichen über Gleiche mit ihrem Wechsel von Regieren und Regiertwerden geht zeitlich – und für Aristoteles auch logisch – die Herrschaft des Königs über das ›Volk‹ (Demos) voraus, die derjenigen entsprochen hat, mit der die ›Herren‹ größerer und kleinerer ›Häuser‹ über ihre Familie und die mit ihr verbundenen ›Unfreien‹ regiert haben. Das von Homer beschriebene ›Haus‹ des Odysseus in Ithaka oder das des Alkinoos bei den Phäaken veranschaulichen diese für die nachmykenischen Verhältnisse in Griechenland charakteristische Form der hausgebundenen Königsherrschaft, die sich wesentlich von der im Orient verbreiteten theologisch legitimierten Monarchie und der auf sie zentrierten Palastökonomie unterscheidet.1 Die ›gute Ordnung‹ des ›königlich‹ regierten ›Hauses‹ war als personales Gut abhängig von der Fähigkeit seines Herrn, beim Entscheiden von Streitfällen und der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten ›in Scheu vor den Göttern unter vielen starken Männern (sc. das sind die ›königlichen‹ Herren der kleineren Nachbarhäuser, AR) zu herrschen, dabei die guten Rechtsweisungen (eÙdik…aj) hoch zu halten‹ (Homer, Od. 19, 109  ff ) und den eigenen Besitz vor dem Zugriff anderer zu schützen. Kritische Vorgänge wie die Abwesenheit des Herrn, seine Vertreibung durch Mächtigere, problematische Erbschaftsregelungen, in größeren Häusern auch Herrschaftsteilungen oder Rivalitätskämpfe zwischen Thronprätendenten konnten selbst glänzende Häuser vernichten. Auch in Athen war die mythisch er| 21

innerte Frühzeit vom stasislastigen Streit um die Machtposition des Königs bestimmt.2 In historischer Zeit geht der Bürger-Polis eine Periode heftiger Rivalitätskämpfe zwischen den führenden Grund besitzenden ›Adligen‹ und ihren Anhängerschaften um die Vorherrschaft in Attika voraus. Der Preis für deren Beendigung konnte die Tyrannis sein, bei der der Herr eines ›Hauses‹ durch die gewaltsame Ausschaltung seiner Konkurrenten für eine bestimmte Zeit das Machtmonopol behauptet und damit den allgemeinen Frieden gesichert hat. Stasis3 und Tyrannis 4 sind deshalb die entscheidenden Hindernisse gewesen, gegen die sich die Polis mit ihrer Orientierung an der Norm bürgerlicher Gleichheit durchsetzen musste. In der Orestie wird der Gegensatz zwischen ›Haus‹ und ›Polis‹, den Athen zum Zeitpunkt der Erstaufführung im Jahre 458 historisch bereits überwunden hat, in tragisch-dramatischer Zuspitzung noch einmal auf die Bühne gebracht. Sie zeigt den Zusammenbruch des königlichen Hauses der Atriden in Argos und stellt dieser Welt des Todes das Bild eines sittlich fundierten, göttlich geschützten und für alle Bürger vorteilhaften Lebens in der Polis entgegen. Dabei wird deutlich, dass die Polis ihre Sittlichkeit zwar aus sich selbst erzeugen, aber auch normativen Ansprüchen gerecht werden muss, die für das königlich regierte ›Haus‹ verbindlich waren. Die Orestie ist ein Musterbeispiel politischer Kunst 5 , weil sie zeigt, wie die Polis durch ihren Eingriff in eine Kette ›urerster Schuld‹, die im ›Haus‹ entstanden ist und auch sie ohne eigenes Verschulden bedroht, ein verlässliches Wachstum des Guten begründet. Außerdem zeigt sie, dass der Übergang von tödlicher Gewalt zu lebensfreundlichem Recht in der gelebten Wirklichkeit ein außerordentlich schwieriger und immer wieder von Gegenkräften bedrohter Prozess sein kann. In der folgenden Interpretation soll deshalb den Verwicklungen nachgegangen werden, die erst nach langem und oft hoffnungslos erscheinendem Ringen bei allen am Konflikt Beteiligten die Besonnenheit aufkommen lassen, mit der tödliche Gegensätzlichkeit entspannt und ein sozialer Zusammenhang begründet werden kann, in dem eigene ›Tugend‹ das ›freudevollste, mit Sicherheit verbundene Leben‹ erzeugt und deshalb die Kraft entfaltet, sich einen ›Überfluss an Besitz und Gesundheit zu erwerben und zu bewahren‹. 6 22 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

1. Die Handlung der Orestie und die theologischen ­Voraussetzungen ihrer Darstellung

Im ersten Teil der Tragödientrilogie kehrt Agamemnon aus Troja nach Argos zurück und wird dort von seiner Gemahlin Klytaimestra, die sich mit ihrem Schwager Aigisthos verbunden hat, ermordet. Sie rächt damit den Tod ihrer Tochter Iphigenie, die vor dem Aufbruch der Griechen nach Troja von ihrem Vater der Artemis geopfert wurde. – Der zweite Teil thematisiert die Rückkehr des von Klytaimestra früh aus dem Haus entfernten und bei Verwandten in Phokis aufgewachsenen Orest. Zentrum der Handlung ist die ihm von Apoll aufgetragene Rache an der Mörderin seines Vaters. – Der dritte Teil handelt vom Schicksal Orests, der von den Rachegeistern seiner Mutter auf den Tod verfolgt wird. Die Befreiung von ihrem Zugriff gelingt nicht durch die üblichen Reinigungsrituale7 und auch nicht in Delphi, sondern erst nach seinem Freispruch durch den Areopag in Athen, den Athene als »des Landes Herrscherin« (Eum. 288)8 bei dieser Gelegenheit als das Richtergremium einsetzt, das zukünftig für die Blutgerichtsbarkeit zuständig sein soll. Das Urteil erregt den Zorn der Erinyen, die daraufhin ihre Vernichtungsdrohung gegen die Polis richten. In dieser Situation kann die Stimme Athenes eine Wirklichkeit der Instabilität, der einseitigen Verfolgung normativer Ansprüche und einer sich selbst reproduzierenden Gewalt in eine Welt verwandeln, in der Menschen und Götter in wechselseitiger Gunst miteinander verbunden sind.9 Die Theologie, die der Orestie zugrunde liegt10 , kennt das Göttliche als Einheit und Gegensatz zwischen alten, dunklen, unerbittlich handelnden chthonischen Gottheiten, die mit den Wachstumskräften der Erde und dem in ihrer Tiefe gelegenen Reich der Toten verbunden sind, und jungen, hellen, verhandlungsfähigen, rational argumentierenden olympischen Göttern, die primär in das Geschehen oberhalb des Erdbodens eingreifen. Im Hintergrund dieser Unterscheidung steht die Theogonie Hesiods mit der für sie leitenden Vorstellung, dass der politisch-rechtlichen Herrschaft des Zeus innergöttliche Stasiskämpfe vorausgegangen sind, die in ihrer Heftigkeit den Gesamtbestand des Kosmos bedroht haben. Ihre Ursache waren die tyrannischen Ambitionen von Uranos und Kronos, die aus Furcht vor einem Rivalen unter den eigeDie Stimme Athenes | 23

nen Söhnen mit hybriden Eingriffen in den naturhaften Vorgang der Lebensreproduktion Aufstände provoziert haben, die erst mit einem gewaltsamen Sieg der olympischen Götter über entfesselte titanische und gigantische Urkräfte beendet werden konnten. Die Entmachtung des Kronos durch Zeus markiert den entscheidenden Übergang von tyrannischer Gewalt zu politischer Ordnung. Weil sie auf einer gerechten, durch Vertrag und Versprechen gesicherten Verteilung von Macht beruht und dabei auch die Ansprüche vorolympischer Götter auf ›Ehre‹ berücksichtigt, scheint mit ihrer Errichtung die Gefahr einer innergöttlichen Stasis gebannt zu sein. Hesiods Darstellung der Überwindung eines Zustands der Gewalt durch die Herrschaft des Rechts ist als Vorbild für die Überwindung der Stasis durch die Herstellung einer politischen Ordnung in der menschlichen Welt konzipiert. In der Rechtsordnung des Zeus war es die Aufgabe der Erinyen, als »Helferinnen der Dike«11 das Gesetz ihres königlichen Oberherrn zur Geltung zu bringen, nämlich die Bestimmung, dass derjenige, der die göttlich sanktionierte Ordnung des Lebens verletzt, das von ihm begangene Unrecht an sich selbst erleiden muss.12 Das gilt insbesondere für den ›Mord an verwandtem Blut‹ (Eum. 212), der als Muttermord nicht nur ein individuelles Verbrechen, sondern einen massiven Angriff auf die Reproduktionsquelle des menschlichen Lebens darstellt. Nach der Ermordung Klytaimestras durch Orest droht die Epoche der Einheit zwischen olympischen und chthonischen Göttern zu zerbrechen und muss deshalb auch im Blick auf die menschliche Welt neu gefestigt werden. Athen hat in historischer Zeit aus einer hoch entwickelten Sensibilität für Tötungsdelikte weit gehende institutionelle Konsequenzen gezogen.13 Mordprozesse unterlagen einer strengen rituellen Form und waren besonderen Gerichtshöfen anvertraut, wobei der Areopag für vorsätzliche Morde an Bürgern Athens zuständig war.14 Auch in der Polis betrafen Tötungshandlungen zunächst das ›Haus‹ des Opfers, so dass in der Regel nur der nächste männliche Verwandte gegen den Täter Klage erheben konnte und das, wenn er seine ›Ehre‹ wahren wollte, auch musste. Vor dem historischen Areopag waren Kläger und Beklagter verpflichtet, ihre Aussagen mit dem »größten und stärksten aller Eide« zu bekräftigen (Antiphon 5, 11) und für den Fall einer Falschaussage die »Vernichtung 24 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

ihrer selbst, ihrer Angehörigen und ihres Hauses« auf sich herab zu rufen (Selbstverfluchungseid).15 Die Polis bleibt also Normen verpflichtet, die bereits im ›Haus‹ das menschliche Leben vor Verletzung schützen sollten. Dabei will sich Athen dem eigenen Mythos nach unter Hintanstellung eigener Machtinteressen in besonderer Weise für fremde, ›haus‹-flüchtige ›Schutzflehende‹ eingesetzt haben, die außerhalb Attikas Unrecht erlitten hatten.16 In der Orestie kommt es zu einem Streit zwischen olympischen und chthonischen Gottheiten über die gerechte Strafe für den Muttermord Orests, der als ›Bittflehender‹ in Athen auf besonderen ›Schutz‹ rechnen darf. Dabei ist Apoll Mithandelnder, weil er Orest diese Tat unter Androhung schwerster Bestrafung befohlen hat (Choeph. 269  ff ) und ihn im Prozess vor dem Areopag in Athen verteidigt (Eum.  465 und 597  f). Sein Versuch, einen Menschen vor göttlichen Rechtlichkeitsmächten in Schutz zu nehmen, beschwört die Gefahr einer Stasis zwischen ›alten‹ und ›jungen‹ Göttern herauf, die auch für die menschliche Welt katastrophale Folgen hätte. 2. Sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder und ihre Bedeutung für die Handlungsorientierung

In der Orestie werden Handlungen auf Binnenprozesse der menschlichen Psyche zurückgeführt. Bei ihrer Darstellung bringt Aischylos eine Form der Handlungssteuerung durch sprachlich erzeugte Vorstellungsbilder ins Spiel, die später von der Rhetorik aufgenommen wird. Gorgias hat sie ausdrücklich thematisiert und insbesondere Isokrates hat sie nach dem Vorbild Solons politisch konkretisiert. In den beiden ersten Teilen der Orestie geht es um Inter­a ktionen zwischen Sprache und Handlung mit zerstörerischen Folgen, während im dritten Teil mit der Stimme Athenes erstmals ein ›Sagen des Guten‹ erklingt, das die Fortzeugung de­ struk­tiven Handelns verhindert und eine Wirklichkeit schafft, in der das Gute auf Dauer gestellt ist. Der erste Teil der Orestie beginnt mit einer Rede des zum nächtlichen Wachdienst bestellten Dieners, der vom Dach der Königsburg aus auf das Feuersignal achten muss, das die Eroberung Trojas anzeigt und die bevorstehende Rückkehr Agamemnons anDie Stimme Athenes | 25

kündigt. Er beklagt dabei nicht nur das ihm persönlich auferlegte »Hundeleben« (Ag. 3), sondern ebenso »dieses Hauses Unglück«, in dem »nicht mehr wie früher das Beste waltet« (18  f ). Was er darüber nicht sagen will, erfahren wir alsbald vom Chor der Männer, die bereits zehn Jahre zuvor für die Teilnahme am Krieg gegen Troja zu alt gewesen sind. Sie nennen die Gräueltat beim Namen, die seitdem das öffentliche Bewusstsein belastet: das von Agamemnon an seiner eigenen Tochter vollzogene Menschenopfer am Altar der Artemis. Der Seher Kalchas hatte zu dieser Tat geraten, um den Zorn der Göttin zu besänftigen, die mit widrigen Winden die Abfahrt der griechischen Flotte nach Troja verhindern wollte.17 Der Chor erinnert an Agamemnons verzweifelte Klage über seine Doppelrolle als Heerführer der Griechen und als Vater: »Schwer ist mein Los, wenn ich (sc. dem Rat des Kalchas) nicht gehorche« (204  f ), weil dann mit dem Krieg gegen Troja die von Zeus Xenios gebotene Widervergeltung für geschehenes Unrecht unterbliebe. Ein »schweres Los« (bare‹a k»r) wäre es aber auch, »des Hauses Kleinod« zu »schlachten«, denn dann erwiese sich das eigene ›Haus‹ erneut als Ort der Lebenszerstörung (206  ff ). Gegenstand der kollektiven Erinnerung ist aber auch das Geschehen in der ›Seele‹ Agamemnons, das seine Tat erst möglich gemacht hat. Unter dem Eindruck der Rede des Kalchas, mit der er das »Adlerzeichen« interpretiert, das die Griechen in Aulis beunruhigt (104  ff: Zwei Adler verschlingen eine trächtige Häsin), befürchtet Agamemnon, er werde die »kindrächende Wutgier« (155) verstärken, die seit langem schon mit dem ›Haus‹ des Atreus verwachsen zu sein scheint. Diese Vorstellung hemmt sein Handeln und treibt ihn dadurch in eine Ausweglosigkeit, in der das Bild vom Rachezug gegen Troja seine anfängliche Strahlkraft verliert. Um diese Blockade aufzulösen, muss er das Schreckensbild der Opferung seiner Tochter in ein »Schönes« umdeuten, das nicht nur rechtlich geboten18 , sondern mit höchstem »Eifer« vollzogen werden muss. Damit leitet er die Energie des vom Zorn der Artemis verursachten Sturms um in das Innere seiner ›Seele‹, so dass er dort als »gottlose Windsbraut« den »alles wagenden Mut« (tÕ pantÒtolmon) entfacht, in dem er wie unter der Wirkung eines Rauschtranks seine Wirklichkeit als Vater vergessen und in »maßloser Gier nach jungfräulichem Blut« zum »Opfrer … eigenen Bluts« werden kann (214–226). 26 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

Der Chor beschreibt sowohl den psychischen Mechanismus, der ein solches Verbrechen vollziehbar macht, als auch die Folgen für den Täter: Ein betörendes Bild erzeugt in der Seele des Handelnden den »Rausch«, der die Fähigkeit zum ruhigen Überdenken des eigenen Tuns lähmt und dadurch den ares-artigen »Wagemut« so weit verstärkt, dass er sogar »zertreten« kann, was durch stärkste Tabus vor Verletzung geschützt ist (370  ff ). Die Überredungsmacht, die von einem derartigen Bild ausgeht, erweist sich als »unheilvolle Verführung« (t£leina peiqè), weil sie eine »Krankheit« verursacht, für die Hoffnung auf »Heilung« »eitler Wahn« ist. Die bannende Macht eines »Glanzes arger Glut« bringt »Schuld« auf eine »Bahn«, an deren Ende sie auf den Handelnden als »untragbares Leid« zurückfällt, weil »keiner der Götter sein Flehen erhört«, sondern einer von ihnen als »Rechtswächter« (™p…strofoj) auftritt und den »Frevelnden zu Boden streckt« (385  ff ).19 In der Sicht Kassandras hat der »alles wagende Übermut« (221) Agamemnons das Tor geöffnet, durch das »urerstes Verhängnis« (1192: prètarcoj ¥th) erneut in das Haus der Atriden eindringen konnte, das schon seit langem ein »Menschenschlachthaus« (1092: ¢ndrosfage‹on) ist. Sie spielt damit auf die von Tantalos auf seine Nachkommen übertragene Neigung zur Lebenszerstörung an. Sie hatte Atreus dazu getrieben, die Kinder seines Bruders Thyest, der im ehebrecherischen Bündnis mit seiner Schwägerin die Herrschaft über Argos an sich reißen wollte, zu töten und ihrem Vater als Speise vorzusetzen. Diesem Mord war nur das dritte Kind entkommen, nämlich Aigisth, der jetzt in ehebrecherischer Verbindung mit Klytaimestra erreichen will, was seinem Vater misslungen war. Im Haus der Atriden herrscht also seit Generationen »schandbare Verirrung« (222), bei der »ruchlos schlimmes Tun immer zahlreichere Brut … seinesgleichen« hervorgebracht hat (758  ff, 765  ff). Kassandra verbindet die Vergegenwärtigung dieser Frevelkette mit der Ankündigung »neuen Leids« (1101) und meint damit die unmittelbar bevorstehenden Morde an Agamemnon und Klytaimestra. Obwohl Agamemnon nach seiner Rückkehr ankündigt, die Ordnung in Argos wiederherstellen und alles, »was Stadt und Götter anbelangt«, nach überlieferter Sitte »gemeinsam … in der Versammlung allen Volks beraten« zu wollen (844  ff ), erleben die Bürger den Ausbruch neuer »unstillbarer Zwietracht« Die Stimme Athenes | 27

(1117), nämlich das »wilde Wagnis« (1231) der »allverwegnen« (1237: pantÒtolmoj) Klytaimestra, die mit Agamemnon den legitimen Herrn und Rechtlichkeitsgaranten eines in ganz Griechenland hoch angesehenen ›Hauses‹ tötet.20 Sie ist für Kassandra nicht nur eine individuelle Täterin, sondern verkörpert eine Kraft der Lebenszerstörung, für deren Umschreibung ihr nur mythische Bilder des äußersten Grauens einfallen: »verhasste(s) Untier«, »Schlange oder Skylla … hausend in Felsenhöhlen, Schiffern zum Verderb«, »rasende Hadesmutter« und »Are« (= »Verletzerin«; 1232–1235). Klytaimestra tritt denn auch selbst nach ihrer Tat als Verbündete des Hades und als Rebellin gegen die Ordnung des Lebens auf, indem sie gesteht, vom Blutstrom, den der tödlich verletzte Agamemnon im Sturz auf sie gespieen hat, in nicht mindere Erregung geraten zu sein, als wenn sie, von seinem Samen geschwängert, neues Leben empfangen hätte (1388–1392). Sie feiert ihre Tat als »übergerecht« (1396: Øperd…kwj), weil mit ihr derjenige, der »den Krug im Haus mit so viel fluchwürd’gem Unheil gefüllt hat«, nach der Regel vom Erleiden des Getanen gezwungen wurde, ihn selber auszutrinken (1395  ff ).21 Am Schluss des Agamemnon wollen die Bürger von Argos verhindern, dass die Ermordung ihres rechtmäßigen Königs zum »Vorspiel« für die Errichtung tyrannischer Herrschaft wird (1354  f ). Sie verlangen deshalb die Verbannung Klytaimestras (1411  f ) und, nachdem sie für deren Tat ein gewisses Verständnis aufgebracht haben (1560  ff ), die gerichtliche Verurteilung Aigisths zur Hinrichtung durch »der Steinigung Fluch« (1615  f ). Klytaimestra verhindert mit ihrem beruhigenden Wort zwar den Ausbruch einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen dem Volk und Aigisth (1651  ff ), was aber nichts daran ändert, dass ihre Herrschaft den Charakter einer Tyrannis annimmt (Choeph. 973). Im zweiten Teil der Orestie wird deutlich, dass die Herrschaft von Klytaimestra und Aigisth ganz Argos in einen Zustand handlungslähmender »Furcht« versetzt (31, 35, 59). Gegen sie richtet sich der Widerstand des heimlich aus seinem Exil zurückgekehrten Orest, von dem seine Schwester Elektra und die Bürger der Stadt erwarten, dass er als Rächer und legitimer Nachfolger seines Vaters das Land, das gegenwärtig ein Ort der Schande ist, wieder in einen Ort 28 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

der Freude (Chor 342  ff ) verwandelt, an dem nach dem Willen des Zeus Macht (Kr£toj) und Gerechtigkeit (D…kh) zusammenwirken (Elektra 243). Bei diesem Vorhaben gerät Orest jedoch in eine Situation, die ihm wie seinem Vater in Aulis die Wahl zwischen zwei Übeln abverlangt: entweder die eigene Mutter töten oder es nicht zu tun, mit der Folge, dass er dann selbst von göttlichen Rachemächten vernichtet und das eigene ›Haus‹ weiterhin tyrannisch regiert wird. Obwohl er zu seiner Tat von Anfang an fest entschlossen ist, kann er die natürliche Hemmung, die Mutter zu ermorden, nur überwinden, wenn ihm diese Handlung im Schönheitsbild einer gerechten Befreiungstat vor Augen steht, nämlich als der letzte, aber absolut notwendige Gewaltakt, der den alten Mordfluch »durch neue Rechtssprüche« aus dem eigenen Haus vertreibt (804  ff ) und damit eine »Fahrt des Guten« in Gang setzt, die allen Bürgern Vorteile (kšrdoj) bringt (824  ff ). Der Chor teilt seine Hoffnung und betet deshalb zu Zeus, er möge seinem »Lauf« (drÒmJ) »Maß« (mštron) und »Takt« (∙uqmÒj) auferlegen (796  f ), damit sein Handeln keine hybride Tat wird, die erneut eine gleiche »zeugt« (805), sondern als rituelle »Reinigung« (kaqarmÒj) eines Hauses wirkt, das seit langem von Unheil befleckt ist (968). Die Bürger von Argos wissen aber auch, dass die aresartige Gewalt, die von der zum Mann entarteten Klytaimestra ausgeht, nur durch Gleiches zu besiegen ist 22 , so dass sie fürchten, Orests Tat werde letztlich doch wieder das Gesetz (­nÒmoj) bestätigen, dass »des Mordbluts Strom, vergossen zur Erd, aufs neue verlangt nach Blut« (400  ff ). Indem Orest nach der Tat vom »Rauschtrank« seines »Wage­ muts« (1029: f…ltra tÒlmhj) spricht, bekundet er, dass er in demselben Zustand affektiver Enthemmung gehandelt hat, in dem Agamemnon und Klytaimestra ihre Morde begangen haben. Um diesen »Rausch« im richtigen Augenblick auszulösen, hat der Chor die Krise des handlungslähmenden Zweifels, die aufkäme, wenn Orest in Klytaimestra das Ehrfurcht gebietende Bild seiner Mutter wahrnähme, vor der Tat zweimal probeweise durchgespielt und ihm dabei geraten, er solle, wenn ihm Klytaimestra, um seine Mordgier zu hemmen, mit dem Wort Mutter entgegentrete, mit dem Gegenwort Vater antworten und dann in der Macht dieses Spruchs die »nicht zu tadelnde Tat« »in aller Kühnheit« vollziehen (827  ff, 838  ff ). Dennoch macht ihn Klytaimestra zunächst daDie Stimme Athenes | 29

durch handlungsunfähig, dass sie ihm ihre entblößte Brust mit den Worten entgegenhält: »Halt ein … und hege Scheu vor ihr, mein Kind, der Brust, an der du oft … süß ernährende Milch saugtest!« (896  ff ).23 Nur weil sein Begleiter Pylades ihn an das strafbewehrte Gebot Apolls erinnert (vgl. 278  ff ), kann sich Orest unter der Wirkung des Spruchs: »Du erschlugst, den du nicht solltest; Gleiches dulde nun!« (931), in jenen Rausch versetzen, der das Bild der eigenen Mutter und Ernährerin auslöscht und an seiner Stelle das Bild der Mörderin seines Vaters zur Wirkung bringt. Obwohl Orest seine Tat als »nicht ohne Rechtlichkeit« (Choeph. 1027) und »außerhalb einer üblen Ursache« (1031) vollzogen bezeichnet, führt sie nicht zu der erhofften Reinigung. Orest spürt das daran, dass ihm unmittelbar danach »der Mutter wütge Hunde« (1054) vor Augen stehen. Gleichzeitig nimmt er an sich »Befleckungen« (1017: mi£smata) wahr, die ihn in den Ohnmachtszustand der Qual, des Leids und der Furcht versetzen (1024). Er begibt sich daraufhin als Bittflehender in der Hoffnung auf Reinigung nach Delphi (1059  f )24 und lässt die Bürger von Argos im politischen Elendzustand der ›Herrschaftslosigkeit‹ zurück. In den beiden ersten Teilen der Orestie steht alles Handeln unter dem Bann explosiv ausbrechender Mächte der Lebenszerstörung. Sie zeigen, dass sich im Haus des Atreus immer wieder ein »Wagemut« ausgetobt hat, der die tödliche Gewalt des Ares ›mehr schnauben lässt, als recht ist‹ (Ag. 373  ff ). Seine Entfesselung bringt den »blutrünstigen«25 , »alles wagenden« Eros26 zur Herrschaft, der in der »Gewaltgier« der Söhne des Atreus (1470) und in der »kind­ rächenden Wutgier« Klytaimestras (155: mÁnij teknÒpoinoj) als Todesdaimon auftritt.27 Der Bann, der damit über dem Haus der Atriden liegt, wird durch die obsessive Beschwörung des Tuches veranschaulicht, das jeden, über den es wie ein Fangnetz geworfen wird, am freien Ausschreiten hindert. Es kann zwar manchmal erkannt und dann als unerträgliche Last beklagt, aber nicht abgeworfen werden. Das »Fangnetz der Ate« versetzt seine Opfer in den Zustand der Handlungsohnmacht (¢mhcan…a) und verhindert damit, dass »Mut sich setzt voll Vertraun auf der Seele lieben Thron« (Ag. 982), die dann nicht die Kraft hat, die ›wirren Traumbilder‹ zu vertreiben, die sie in Angst und Schrecken versetzen (975  ff ). In 30 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

einer Welt der Handlungsohnmacht besteht das Beste im privaten und deshalb unbeneideten Glück (471  ff) oder, wie Agamemnon unmittelbar vor seiner Ermordung betont, in der Gottesgabe eines Denkens, das »in nicht übler Weise sinnt« (927  f ). Nur wer im eigenen Denken der Versuchung zur Hybris widersteht, kann hoffen, auf längere Zeit vom Unglück verschont zu bleiben oder sogar das Leben in »Wohlergehn« zu beschließen (928  f ). Da dem Helden einer Tragödie der Rückzug ins Private ebenso versagt ist wie die Gunst des besonnenen Denkens, bestätigt sie den Satz: »Keinem Sterblichen glückt’s, unversehrt seinen Gang, / Bis zum Lebensend leidlos zu wandeln« (Choeph. 1018  f ). 3. Der Rechtskonflikt und seine politische Lösung a) Der Weg von Argos über Delphi nach Athen

Der Schlussteil der Orestie besteht aus zwei Handlungseinheiten, die mit Delphi und Athen verschiedenen Orten zugewiesen sind. Die in Athen spielende Handlung beginnt am Tempel der Athena Polias auf der Akropolis, wechselt von dort zum Gipfel des benachbarten Areopag und endet mit einer Prozession, in der die Bürger die Erinyen zu ihrem Kultort bei den Höhlen am Fuß des Ares-Hügels geleiten. Der Ortswechsel von Argos nach Delphi enttäuscht Orests Hoffnung auf Befreiung von der Verfolgung durch die Rachegeister seiner Mutter. Delphi ist nicht mehr die Wirklichkeit, die zu Beginn des dritten Teils der Orestie von der Pythia beschworen wird. Sie beschreibt die Geschichte ihres Kultortes als bruchlosen Übergang von chthonischen zu olympischen Gottheiten, an dessen Ende mit Apoll ein männlicher Gott als Sprecher des Zeus auftritt und seinen Besitz mit Dionysos, Poseidon und Pallas Athene teilt.28 Diese Einheit von männlichen und weiblichen Gottheiten aus verschiedenen Generationen droht jetzt zu zerbrechen. Erst am Schluss der Eumeniden kann sie glanzvoll erneuert werden. Der Konflikt, der damit aufbricht, wird am Streit zwischen den Erinyen und Apoll manifest, der wie sein Schützling die Tötung Klytaimestras als Muttermord (Eum. 463, 580), aber nicht als Mord an einer Blutsverwandten (606; 657  ff ), sondern als legitime Rache Die Stimme Athenes | 31

für den ermordeten Vater bezeichnet (464, 602; 213  ff, 625  ff ). Apoll beruft sich dafür auf Zeus, der für ihn die Autorität darstellt, die sämtliche Streitfragen des Rechts allein entscheiden kann (614  ff ). In den Erinyen sieht er lediglich »alte Frauen« und böse, »im Dunkel« des Tartaros »hausende« Mächte, die Göttern und Menschen verhasst sind (69  ff ). Er hat sie deshalb aus seinem Tempel in Delphi vertrieben und beschimpft sie noch beim Prozess in Athen als »allverhasste Ungeheuer« (645), die »in der jungen wie der ältern Götter Kreis … ohne Ehre« (¥timoi) sind (721  f ). Verständlicherweise vertreten daraufhin die Erinyen ihr Rechtlichkeitsverständnis ebenfalls mit problemverschärfender Härte. Ursprünglich haben sie von der Moira das »Amt« erhalten, jedem Mörder »am verwandten Blut auf der Spur zu sein« (335  ff ). Da ihre Tätigkeit vom Willen aller, auch der olympischen Götter getragen ist (391  f ), die ihr ›leichtes‹ Leben der Tatsache verdanken, dass die Erinyen ihnen die »Mühen« des Vollzugs der Todesstrafe im Einzelfall abnehmen (363  f ), sind sie nach ihrem Selbstverständnis »Hohe« (383: sšmnai). Für sie wird dieser Anspruch von Apoll mit Füßen getreten, weil er mit seiner Parteinahme für Orest »wider Götter Gesetz Sterbliches ehrt und schützt« und dafür »uralt Götteranrecht« umstürzt (171  f ). Sie sehen in ihm deshalb den Protagonisten einer innergöttlichen Stasispartei, der die letzten Repräsentanten einer für alle Götter verbindlichen Rechtlichkeitsnorm »ins Nichts« verstoßen (747) und die menschliche Welt, in der dann kein Mörder mehr mit tödlicher Strafe rechnen müsste, in den Zustand der Anomie versetzen will (490–515). Da die Erinyen ihr Amt auf den Vollzug der Blutrache an Muttermördern festlegen 29, kann Apoll ihnen im Gegenzug vorwerfen, ihre Aufgabe zu vernachlässigen, die sie doch verpflichte, die Integrität des Lebens ohne jede Ausnahme zu schützen (217  ff ). Da dieser Streit in Delphi nicht zu lösen ist, soll er in Athen in Form eines Prozesses entschieden werden. In seinem Verlauf wird deutlich, dass die Antwort auf die konkrete Frage nach der Schuld ­Orests (quaestio finita) mit einer Klärung der allgemeinen Frage nach der richtigen Verwirklichung von Gerechtigkeit (Dike) und Recht (Nomos) in der göttlichen und menschlichen Welt (quaestio infinita) zusammenhängt. 30 Während Apoll Athenes Richterrolle akzeptiert, fällt dies den Erinyen schwer, weil für sie das Gerechte allein 32 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

schon dadurch, dass es auseinander genommen (472: diaire‹n, vgl. 488), ganz oder teilweise widerlegt (433: ™xelšgcein) und zum Gegenstand einer Abstimmung gemacht wird (433: kr…nein, vgl. 613), die Würde seiner unbedingten Geltung verliert. Sie lassen sich auf das Verfahren prozeduraler Rechtsfindung nur ein, weil sie Athene als Richterin ›Ehrfurcht‹ gebietende Weisheit (­s of…a) zutrauen und ihr deshalb unterstellen, dass sie die Tat Orests gar nicht anders beurteilen kann als sie selber (431  ff ). Orest hingegen ist durch die Umstellung seines Streits mit den Erinyen von der Gewalt auf einen gerichtlichen Prozess ihrem unmittelbaren Druck entzogen (469), so dass er sich frei genug fühlt, seine Tat offen als frevelhaften (236) Muttermord (456  ff ) zu bezeichnen und, wie sein Anwalt Apoll, die strafrechtliche Bewertung Athene zu überlassen (469). Die Göttin überrascht jedoch beide Prozessparteien mit der Feststellung, dass der an sie herangetragene Streit zu gravierend ist, als dass ihn eine Einzelperson entscheiden ­könnte.31 Zugleich betont sie dessen politische Dimension, indem sie ausspricht, dass die Eri­ nyen für den Fall einer Prozessniederlage ihre Vernichtungskraft gegen eine Polis richten würden, die einen Muttermörder rituell entsühnt und damit dem Zugriff ihrer Strafgewalt entzogen hätte (441, 474). Die Erinyen können deshalb so, wie sie sind, nicht in Athen bleiben, denn sie würden im Fall der Anerkennung ihres Rechtsanspruchs den schutzwürdigen ›Teil‹ einer für ihre Hikesiepolitik in ganz Griechenland berühmten Polis vernichten. Sie können aber auch nicht fortgeschickt werden, weil jede Rechtsgemeinschaft Muttermord als Angriff auf die Quelle des natürlichen Lebens bewerten und deshalb aufs schwerste bestrafen muss. Die Auflösung dieser tragödientypischen »Ausweglosigkeit«32 leitet in der Orestie die entscheidende Wende ein, die aber bezeichnenderweise nicht in einem einmaligen Akt und erst recht nicht in einem vermeintlich letzten Einsatz ›reinigender‹ Gewalt besteht. Eine Lösung gibt es vielmehr erst am Ende einer langen Handlungskette, die weit über den Prozess und das ihn abschließende Urteil hinausreicht. Indem Athene die ihr zugedachte Richterrolle ablehnt, entzieht sie sich zunächst der unmittelbaren Notlage, auf der Stelle zwischen zwei Übeln wählen zu müssen, und übernimmt stattdessen die den Zuschauern des 5. Jahrhunderts vertraute Aufgabe des Archon Basileus, der bei Tötungsdelikten nach der BeDie Stimme Athenes | 33

fragung (Anakrisis) des Klägers und des Beklagten den Fall an das zuständige Blutgericht überweist. 33 Im Drama muss sie diesen Gerichtshof allerdings erst einmal einrichten, indem sie vereidigte Richter (48) in ein Gremium beruft, das für die Zukunft auf der Grundlage von Zeugenbefragung (martÚria) und Beweisführung (tekm»ria) Mordfälle beurteilen soll (483–486).34 Damit entsteht ein neuartiger Ort für ein Gerecht- und Vernünftigsein »außerhalb unmittelbar drohenden Zwangs« (550), der aber dennoch »unter dem Druck« (519: ØpÕ stšnei) begrenzter Zeit Handlungen durchdenken muss, die die ›Reinheit‹ der Polis bedrohen. Die Unterscheidung zwischen prozeduralem und substantiellem Recht ist für die Polis des Jahres 458 längst zur Wirklichkeit geworden. Wenn sie im Drama erneut durchgespielt gespielt wird, so soll das daran erinnern, dass ein gerechtes Urteil über schwerste Angriffe auf menschliches Leben nicht nur ein formal korrektes Verfahren, sondern auch Personen voraussetzt, die sich durch »unirrbar gerechten Sinn« (489) auszeichnen und deshalb von Athene als ihre ›besten Bürger‹ bezeichnet werden (487). Aischylos macht also an dieser für sein Drama entscheidenden Stelle deutlich, dass die Präsenz des Gerechten in der Polis nicht nur von einer Institution abhängt, sondern auch von der individuellen Rechtlichkeitsqualität der Personen, die in ihrem Rahmen ihr Urteil fällen.35 Bezeichnenderweise weicht das Verfahren gegen Orest von dem für Mordprozesse im 5. und 4. Jahrhundert Üblichen deutlich ab. Man erkennt zwar mit dem Ruf des Herolds und dem Erklingen der Schweigen gebietenden ›tyrrhenischen Trompete‹ (566  ff ) Teile des Eröffnungszeremoniells, vermisst aber die vorgeschriebenen Opferrituale und die Selbstverfluchungseide der Prozessparteien.36 Nachdem sich Apoll als Zeugen, Entsühner, Anwalt und Mittäter Orests vorgestellt (576  ff ) und Athene aufgefordert hat, das Verfahren ›einzuleiten‹, stellen die Erinyen den Tatbestand der Anklage »von Anfang an« (582: ™x ¢rcÁj) dar, und zwar im Kreuzverhör mit dem Beklagten37, der dabei seinen Mord gesteht (588), das Tötungsinstrument identifiziert (592), die Tötungshandlung beschreibt, auf Apoll als Mithelfer verweist (594) und sein Handeln als gebotene Rache für eine doppelte Freveltat bezeichnet (600: Gatten- und Vatermord). Nachdem die Tat den Richtern deutlich genug vor Augen steht, streiten sich die Parteien im nächsten Verfahrensschritt über 34 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

ihre Bezeichnung, die ja die Grundlage ihrer rechtlichen Bewertung darstellt. Apoll beginnt sein Plädoyer mit der Aufforderung an die Richter, den zuvor geschworenen Eid auf ihren Gerechtigkeitssinn der Autorität des Zeus unterzuordnen und nur ihn selbst als dessen authentischen Sprecher anzuerkennen (614  ff ). Danach versteigt er sich zu einseitigen Argumentationen38 und Diffamierungen der Gegenseite39, aber auch zu Schmeicheleien (664) und Vorteilsversprechen gegenüber den Richtern (667  ff ), die deutlich gegen ›das Angemessene‹ verstoßen. Die Erinyen verhalten sich ähnlich, indem sie das Plädoyer Apolls immer wieder unterbrechen (622  ff, 640  ff, 652  ff ) und unmittelbar vor der Urteilsfindung ihre Drohung, im Fall des Freispruchs für Orest in Attika alles Leben vernichten zu wollen, mehrfach wiederholen (711  f, 719  f, 731  ff ). Der Prozess ist in dieser Phase kein Wettstreit um das Gerechte, sondern ein Parteienstreit, der den Charakter eines üblen Wort­ gefechts annimmt.40 Im Blick auf das Problem der Balance zwischen Gerechtigkeit und Recht ist jener Teil der Rede Athenes besonders aufschlussreich, in dem sie ihrem Gerichtshof seinen Namen gibt (685  ff ) und erklärt, die für ihn gültige Satzung nunmehr vollständig verkündet zu haben (710). Das geschieht im Verlauf des Verfahrens, nämlich nach der Verteidigungsrede Apolls, der als weitere Schritte die Abstimmung der Richter, die Stimmauszählung und die Urteilsverkündung folgen. Diese Sequenz wird nach der Stimmabgabe der Richter durch die Erklärung Athenes erneut unterbrochen, es sei ihr »Amt, als Letzte den Fall zu beurteilen« (734: kr‹nai d…khn). Sie macht damit ihre frühere Ankündigung wahr: »Ich, nachdem ich meiner Bürger beste ausgewählt, / Komm zu entscheiden diesen Fall wahr und wirklich« (487  f ), so dass sie als göttliche Stifterin eines neuen Gerichtshofes den Anspruch erhebt, über dem Verfahren zu stehen, das in seinem Rahmen stattfindet. Ihrem Votum, das sie offen für Orest abgibt, liegt offensichtlich kein besonderer Gerechtigkeitssinn zugrunde, sondern eine grundsätzliche Sympathie für das Männliche, die sie auf den Umstand ihrer ›mutterlosen‹ Geburt zurückführt.41 Zudem verletzt sie jedes Empfinden für Verfahrensgerechtigkeit, wenn sie erst zu diesem Zeitpunkt die Regel einführt, dass der Angeklagte bei Stimmengleichheit freigesprochen wird (734–743). Die Stimme Athenes | 35

Auf der anderen Seite ist der Freispruch für Orest im Rahmen der Handlungsführung des Dramas der einzige Weg, auf dem die »von Zeus her klar leuchtenden Rechtszeugnisse« zur Wirkung kommen können, die von vornherein festgelegt haben, dass seine Tat vom »Schaden« der Widervergeltung frei bleiben soll (799). Im Kern bedeutet das die Aufhebung des von Zeus sanktionierten »uralten Spruchs« (Choeph. 313  f, Ag. 1564: qšsmion), nach dem das Gerechte dadurch zum Tragen kommt, dass der unrecht Handelnde sein Tun an sich selbst erleidet. Möglich wird diese Aufhebung, weil ­Orests Tat ambivalent ist, nämlich gerecht, weil die Ermordung des Sicherheits- und Gerechtigkeitsgaranten (Eum. 740 ™p…skopoj) einer Polis nicht ungesühnt bleiben darf, und zugleich ungerecht, weil sie massiv gegen die Normen des Familienrechts verstößt.42 Sie gehört demnach in eine Wirklichkeit, die denjenigen, der die von Zeus her geltenden Rechtszeugnisse in der menschlichen Welt zur Wirkung bringt, der Gefahr aussetzt, selbst Unrecht zu begehen und deshalb dem grausamen Gesetz vom Erleiden des Getanen unterworfen zu bleiben. Zu lösen ist dieses Dilemma nur, wenn zusammen mit dem Urteil über Orest für die Zukunft sichergestellt ist, dass der Sieg des Rechts auch einen Sieg des Guten bedeutet. Der Zwangsmechanismus des ius talionis, der in der Anwendung auf das ›Haus‹ dessen Lebensquelle zerstört, muss deshalb so a­ ußer Kraft gesetzt werden, dass dem alle Götter und rechtlich gesonnenen Menschen zustimmen können. Weil dieses Ziel mit dem Urteil über die Tat Orests nicht erreicht ist, wird aus dem Konflikt der Erinyen mit Orest ein Konflikt zwischen den Erinyen und der P ­ olis, der außerdem ihren Streit mit Apoll zu einer innergöttlichen Stasis verschärft. Weil damit erneut eine Situation der »Ausweg­losigkeit« eintritt, die nicht durch einen weiteren Prozess überwunden werden kann, muss Athene in einer politischen Verhandlung nach einer für alle Konfliktparteien zustimmungsfähigen Lösung suchen. Die Darstellung dieser Verhandlung wird zum Bild für die normative Selbstkonstitution der Polis und zugleich für eine neuartige Realisierungsform des von Zeus her geltenden Rechts. Der Rache gebietende Zeus Xenios des heroischen Mythos wird dabei zum Zeus Agoraios, der als »Hort der Redenden« dafür sorgt, dass in der Bürger-Polis die gerechte Rede zur Quelle des Guten wird.43 36 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

b) Das Urteil im Prozess vor dem Areopag

Die Areopagiten können sich für das ihnen zugemutete Urteil weder auf göttliches Wissen noch auf göttliche Macht stützen. Zugleich sind sie als Richter über gegensätzliche Rechtlichkeits­ ansprüche, die von verschiedenen Gottheiten an sie herangetragen werden, in mehrfacher Hinsicht der Versuchung zur Hybris ausgesetzt. Athenes Areopag (= »Hügel des Ares«) hat nämlich seinen Namen von dem Ort, an dem die Zwölf Götter als Richter im ersten Gerichtsverfahren über ein in Attika begangenes Tötungsdelikt den von Poseidon verklagten Ares freigesprochen haben.44 Der mythischen Überlieferung nach haben die Zwölf Götter von demselben Ort aus auch die Anklage der Erinyen gegen Orest zurückgewiesen.45 Bei Aischylos besteht der Rat auf dem Areopag aus elf Athenern, zu denen mit Athene nur eine der kanonischen Zwölf Gottheiten hinzukommt.46 Sie lässt allerdings ihre Richter selbständig handeln, so dass elf Menschen, die sich durch ihren Gerechtigkeitssinn auszeichnen, vom Areopag aus ein Urteil über Orest fällen sollen, ohne den ›Rechtsspruch‹ des Zeus zu kennen, und zum Zeitpunkt ihrer Stimmabgabe auch nicht wissen können, dass und wie Athene in den Vorgang der Urteilsbildung eingreifen wird. Die vom Mythos festgelegte Freispruchserwartung für Orest sollte im Drama des Aischylos jedoch leicht zu erfüllen sein, weil Apoll als Bruder Athenes und Stammgott der Ionier den Athenern besonders nahe steht und Orest nicht nur das neuerdings mit ihnen verbündete Argos verkörpert47, sondern auch als ›Schutzflehender‹ ihren besonderen Beistand erwarten darf. Die Erinyen hingegen sind Inbegriff des Bedrohlichen, weil ihr gegenwärtiger Auftritt, wie Athene ausdrücklich betont, an die Gefährdung der Stadt durch die Amazonen erinnert. Nach einem anderen aitiologischen Mythos heißt der Areopag nämlich deswegen so, weil die Amazonen auf diesem Hügel »ihre neue Burg« der Akropolis »entgegengetürmt« und ihren Vater Ares mit einem Opfer gebeten hatten, sie bei ihrem Vorhaben zu unterstützen, die Stadt des Theseus »voller Hass mit Kampf zu überziehn« (685–690). Zuletzt hatten die Perser im Jahr 480 vom Areopag aus die Akropolis und damit das religiöse Zentrum der Stadt und deren altehrwürdige Königsburg Die Stimme Athenes | 37

zerstört (Hdt. VIII 52, 1). Wenn Athene die Athener des Jahres 458 überhaupt noch als »Volk des Aigeus« ansprechen kann (Ag. 683), dann nur, weil dessen Sohn und Nachfolger Theseus die Amazonen vom Areopag vertrieben und die in ihm verkörperte Kraft, wenn auch auf eine völlig andere Weise, wenige Jahrzehnte zuvor noch einmal im Kampf gegen die Perser zum Tragen gekommen war. Hinter Athenes Anspielung auf die Amazonen steht das Bild vom tödlichen Gegensatz zwischen männlich dominierter ­Polis und weiblich geprägter Anti-Polis. Innerhalb der Orestie verkörpern die Amazonen »schreckensvolle Ungeheuer«, die nach den Worten des Chores in ihrem zweiten Teil jedes Leben bedrohen.48 Ähnlich wirken die ›Erostriebe … verwegen wagender Frauen, die in liebloser Liebe 49 ehlicher Gemeinschaft Band zerreißen‹ (­Choeph. 596  ff ) und damit die Familie als die naturhafte Anfangsform menschlicher Gesittung zerstören. Das mythische Parade­beispiel dafür sind die Frauen von Lemnos, die die gesamte männliche Bevölkerung umgebracht, danach eine Gynaikokratie errichtet und wie die Amazonen das Leben von Jägerinnen und Räuberinnen geführt haben. 50 In der Orestie hat Klytaimestra in »schandbarer Ehschaft« mit Aigisth Anschläge gegen einen Mann gerichtet, dem selbst seine Feinde mit »Ehrfurcht« begegnet sind (624  ff ), während vor Athenes Areopag derjenige steht, der mit der Tötung seiner Mutter auch die von ihr verkörperte Wirklichkeit weiblich entfesselter Gewalt entmachtet hat. Von daher wäre zu erwarten, dass die Areo­pagiten die weiblichen Kräfte deutlich zurückweisen, die erneut ihre Polis bedrohen. Einen besseren Ort als Athen, so sollte man meinen, hätte sich Zeus für die Umsetzung seiner Rechtszeugnisse zugunsten Orests überhaupt nicht aus­suchen können. In Wirklichkeit aber votieren sechs Areopagiten für die Erinyen und nur fünf für Orest, so dass ihm erst Athenes Stimmstein zum ›Sieg‹ verhilft. Die besten Bürger der Polis verwirklichen also zugleich Selbstbewusstsein und Selbstmäßigung und bekunden damit eine sittliche Qualität, die die Übelquelle der Hybris verschließen kann, die zuvor in den für das Handlungsgeschehen des Dramas entscheidenden Urteilssituationen immer wieder ausgebrochen war. Eine größere Stimmenmehrheit für die Erinyen hätte besagt, dass die Polis der Teil eines größeren Naturraumes ist und des38 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

halb kein eigenes Rechtlichkeitsverständnis entwickeln kann. Ein mehrheitliches Votum zugunsten Orests hätte dagegen die ›männlich‹ geprägte Rechtsauffassung Apolls verabsolutiert und damit der Position der Erinyen die geschuldete Anerkennung versagt. Außerdem wäre in beiden Fällen der Zusatzstimme Athenes keine Schlüsselrolle zugekommen. Vielmehr hätten menschliche Richter ein Urteil gefällt, das entweder Orest den Erinyen ausgeliefert und das ›alte Recht‹ uneingeschränkt bestätigt oder die Polis der Vernichtungsgefahr ausgesetzt und eine innergöttliche Stasis heraufbeschworen hätte. Trotz des ausgewogenen Votums der Areo­ pagiten bricht jedoch nach der Urteilsverkündung ein Konflikt aus, der die Polis in ihrer Existenz zu bedrohen scheint, so dass sich die Frage stellt, ob die Erinyen anders als mit Gewalt daran zu hindern sind, ihre Drohungen wahr zu machen. Der Grund dafür, dass es dennoch zu einer neuartigen Verbindung zwischen Göttern und Menschen kommt, lässt sich im Blick auf Athenes Inaugurationsrede für den Areopag nachvollziehen (681–710). Sie entwirft dort nämlich Grundzüge einer Ethik, die bewusst den zuvor von den Erinyen vertretenen Satz aufnimmt: »Ehre den Altar des Rechts! / Schänd ihn nicht, / Vorteil erspähnd, / Durch den Tritt mit dem gottlosen Fuß!« (539  ff). Dieses Gebot muss so tief in das Innere eines Menschen eindringen, dass er nicht aus Furcht vor Strafe (542  f ), sondern aus »Ehrfurcht (sšbaj) vor dem Recht« (524) und deshalb »von Zwang unberührt gerecht sich zeigt« (550). Die Erinyen wissen demnach, dass das in Wahrheit Gute nur aus der »Gesundheit des Sinnes« (535  f ) hervorgehen und nur die im menschlichen »Herzen« (521) verankerte ›Ehrfurcht vor dem Altar des Rechts‹ Unrechtstaten verlässlich verhindern kann. Das »Furchterregende« (516) verändert sich damit von einer extern eingreifenden Strafmacht zur »Wächterin des Herzens« (517: frenîn ™p…skopoj)51, die auch im Zustand ›glänzenden Glücks‹ (520), der leicht zu ›verwegenem Wagen‹ verleitet, der Hybris entgegenwirkt. Die Erinyen stellen deshalb Menschen, die den »Altar des Rechts« freiwillig ›ehren‹, reichhaltigen »Segen« der Götter in Aussicht (550–565). Nur für die anderen, die dazu nicht bereit sind, bleiben sie unerbittliche Rachedämonen. Auch Athene plädiert für eine Verinnerlichung und zugleich für eine politische Konkretisierung des ›Furchterregenden‹. Wenn Die Stimme Athenes | 39

nämlich der Areopag nicht in die Hand eines externen Aggressors oder einer internen Stasispartei geraten soll, muss von dort aus eine Kraft wirken, die von der Ehrfurcht vor dem Recht geprägt ist und die Macht hat, dem Gerechten in der Polis Geltung zu verschaffen. Das gelingt aber nur, wenn auch das Denken und Handeln der Bürger so weit von dieser Ehrfurcht bestimmt ist, dass sie den Areopag als Gerechtigkeitsmacht respektieren und deshalb davon absehen, um parteiischer Vorteile willen ›das Gesetz durch bösen Zuguss zu vergällen‹ (693  f ). Die Areopagiten haben die von den Erinyen und Athene gemeinsam vertretene Ethik der Verinnerlichung des Sinns für Gerechtigkeit bereits vorbildlich umgesetzt. Für sie ist nämlich das Ehrfurcht gebietende Recht das handlungsbestimmende Schöne gewesen, obwohl sie gewusst haben, dass seine Konkretisierung zu einem ›Spruch des Rechts‹ die Polis der Gefahr aussetzt, mit Orest nicht nur einen wichtigen Bundesgenossen und den Ruf der Hikesiefreundlichkeit, sondern sogar das Leben zu verlieren. Ihre Stimmabgabe beweist, dass sie das ›zu Fürchtende‹ aus ihrer Stadt »nicht ganz hinausgeworfen« (698), sondern so weit in sich aufgenommen haben, dass es die Übelquelle der Hybris verschließt (796  f ). Mit dem Respekt vor einer vorpolitischen, dem Schutz des Lebens in besonderer Weise verpflichteten Rechtlichkeitsnorm beweist die Polis eine Fähigkeit zur Selbstrelativierung, die innerhalb des Dramas ein neuartiges Entscheidungs- und Handlungsmuster darstellt. Der Freispruch für Orest, der erst mit Athenes Zusatzstimme zustande kommt, führt jedoch zunächst dazu, dass die Polis das eigene Dasein nicht mehr selbst in der Hand hat. Um ihre Stadt zu retten, muss Athene deshalb ein weiteres Mal Neues »schaffen«, nämlich einen Raum des Verhandelns, der diesmal auch von den Erinyen als Ort des Gerechten wahrgenommen wird. Nur wenn ihr das gelingt, kann sie im Wechsel von Rede und Gegenrede versuchen, den Verlust, den die Erinyen durch den Urteilsspruch erlitten haben, so auszugleichen, dass sie ihren Groll vergessen und, statt das Leben in der Polis auszulöschen, einen Vorteil darin sehen, an dem, was deren ›Reichtum‹ ausmacht, gebend und nehmend teilzuhaben.

40 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

c) Die politische Verhandlung mit den Erinyen

Athene hat sich ihre Verhandlungsaufgabe dadurch erschwert, dass sie mit der Begründung ihrer offenen Stimmabgabe für Orest die Erinyen, die von ihrem Rechtsverständnis aus darin nur eine pure Dezision sehen können, in Wut versetzt hat. Dem steht der Vorteil gegenüber, dass sie jederzeit zur Waffenkammer ihres Vaters Zugang hat (825  ff ), so dass die Erinyen den mit dem Urteil des Areopag noch nicht befriedigend gelösten Normenkonflikt auf keinen Fall mit Gewalt zu ihren Gunsten entscheiden können.52 Athene steht deshalb die Wahl des Konfliktlösungsmittels frei. Indem sie erklärt, dass sie sich dafür nur auf ihr Wort stützen will, handelt auch sie im Unterschied zur Abgabe ihres Stimmsteins im Prozess nach der Regel von ›Maß und Takt‹. Um die Erinyen ebenfalls zu besonnenem Handeln zu bewegen, muss sie zuerst die aggressive Aufladung ihres »Gemüts« (qumÒj) so weit herabstimmen, dass sie ihre Position im anstehenden Streit um das Recht und die damit verbundenen Vor- und Nachteile ruhig überdenken können.53 Dafür ist es hilfreich, dass Athene den Erinyen wegen des Votums der Areopagiten glaubhaft erklären kann, dass sie im Raum des rechtlichen Urteils zwar unterlegen, aber keineswegs ohne Ehre geblieben sind. Zudem können sie, wie sie selber wissen, in der Ausübung ihres ›Amtes‹ nicht nur als Rache-, sondern auch als Segensgottheiten wirken.54 Athene muss sie also davon überzeugen, dass die Areopagiten für ihre Orientierung am Recht göttlichen ›Segen‹ verdienen, weil sie dabei erhebliche Risiken auf sich genommen und ›Maß‹ bewiesen haben. Dem steht entgegen, dass die Erinyen das Rechtliche nur als kompakte Größe kennen, die entweder ist oder nicht ist. Ihnen fehlt deshalb der Zugang zu einer politisch qualifizierten Vernunft, die nach Aristoteles die besondere Natur des Menschen ausmacht. Nur weil der Mensch als einziges Lebewesen mit der Sprache seinen Artgenossen nicht nur Stimmungen wie Leid und Freude mitteilen, sondern auch »das Nützliche und Schädliche und in der Folge davon das Gerechte und Ungerechte klarlegen (dhloàn) kann« (Aristoteles, Pol. I 2, 1253 a 9  ff ), strebt er von Natur aus zur Teilhabe an einer Gemeinschaft, die sich am Recht orientiert und über das Gerechte Entscheidungen trifft (ebd. 1253 a 37  ff ). Zur Polis als einer in sich vielfältigen Einheit kann desDie Stimme Athenes | 41

halb nur gehören, wer seine private Vorstellung von Gerechtigkeit nicht absolut setzt, sondern die Einsicht verinnerlicht hat, dass das Gerechte auch in vielfacher Weise als Einheit ausgesagt werden kann.55 Für die Polis gibt es deshalb nicht nur eine einzige, sondern mehrere Realisierungsformen des Gerechten (d. h. Verfassungen), die auf die jeweiligen Lebensverhältnisse der Bürger abgestimmt werden müssen. Als Gemeinschaft des Rechts kann die Polis außer­ dem Rechtsverletzungen auf der Grundlage kategorialer Differenzierung ›messen‹ und durch eine auf dieses Maß abgestimmte Strafe ›heilen‹. Nach ihrem Selbstverständnis wird das Gerechte durch keine Verletzung vollständig zerstört und zudem durch prozedurales Recht besser wirksam gemacht als durch ein ius talionis, das potentiell Leben zerstört. Dennoch ist mit diesem Differenzierungsvorteil die Gefahr verbunden, dass das Gerechte in der polemischen Auseinandersetzung vor Gericht seine substantielle Kraft verliert. Da die Erinyen das Leben als Inbegriff des Verletzbaren auffassen, das nur mit schärfsten Mitteln vor ›Gewalt‹ zu schützen ist, bedeutet allein ihre Anwesenheit eine Mahnung an die Polis, alles zu tun, damit das Gerechte im ›Auseinandernehmen‹ und ›Durchdenken‹ nicht zum Spielball willkürlicher Parteiinteressen wird. Die Lösung des Konflikts der Erinyen mit Athene und ihrer Polis ist deshalb nur möglich, wenn beide Seiten anerkennen, dass auch die jeweils andere der Gerechtigkeit verpflichtet ist. Da dies vonseiten der Polis mit dem Urteil der Areopagiten und vonseiten Athenes sowohl vor dem Prozess mit der Zusicherung eines unverlierbaren Rechtsanspruchs an die Erinyen als auch nach dem Prozess mit ihrer Gewaltverzichtserklärung bereits geschehen ist, kann der nächste Schritt zur Konfliktlösung nur darin bestehen, dass die Erinyen die Rechtlichkeitsqualität der Polis anerkennen. Nur so kann es den ›befreienden Augenblick‹ geben, der den Konflikt, der auf der juristischen Ebene nicht zu lösen war, entspannt. 56 Aischylos veranschaulicht die harte Arbeit, die die Erinyen dabei zu leisten haben, an ihrem Sprachverhalten. Sie reagieren auf die Urteilsverkündung spontan mit einer von wütenden Vernichtungsdrohungen durchsetzten Klagestrophe (778–792), die sie nach einer ersten Beschwichtigungsrede Athenes (794–807) unverändert wiederholen (808–824). Nach einem zweiten und dritten Besänftigungsversuch (825–836) ändern sie zwar den Wortlaut, aber nicht 42 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

den Modus ihrer Klageäußerung. Offensichtlich wollen sie ihre ›Ohnmacht‹ gegenüber dem Rechtszeugnis des Zeus dadurch kompensieren, dass sie gegenüber der Polis als dem vermeintlich schwächeren Gegner Härte demonstrieren. In dieser Situation ergänzt Athene die Warnung vor Nachteilen, die mit ihrem Beharren auf Gewalt verbunden wären, durch den Hinweis auf Vorteile, die für sie im Rahmen einer Verhandlungslösung realisierbar sind. Nur dadurch, dass sie die Wirkungsmacht der Peithō einsetzt und mit unerschütterlicher Geduld in immer wieder veränderter Formulierung Worte zusammenstellt, die wie richtig gestimmte Musik den Groll der Erinyen besänftigen, gelingt es ihr, dass diese nach einer vierten Interventionsrede 57 ihre blockartig undurchlässigen Klagegesänge aufgeben. Mit den Worten: »Herrin Athena, was bietst du für Wohnung mir?« (892) treten sie in einen stichomythisch geführten Dialog ein und nehmen damit die Redeweise ›in Gebrauch‹, die zu einer Verhandlung passt. Zugleich bezeugen sie Athene den Respekt, ohne den jede Verhandlung von Gleich zu Gleich zum Scheitern verurteilt ist. Durch die Antworten, die sie auf ihre kategorial differenzierten Fragen nach Art und Dauer der ihnen angebotenen »Ehre« und der damit verbundenen »Macht« erhalten (894  ff ), fühlen sich »besänftigt«, so dass sie ihren »Groll« aufgeben (900). Der wichtigste Vorteil, der ihnen damit winkt, ist der ›Gewinn von Freunden‹ und damit die Teilhabe an einer für sie völlig neuartigen, weil auf Gegenseitigkeit eingestellten Gemeinschaft (901). Da die Erinyen im Übergang von der Konfrontation zur Verhandlung politikfähig geworden sind und damit die Qualität ihres Daseins verändert haben, können sie in dem Nützlichen, das ihre Prozessniederlage ausgleicht, eine Verwirklichung des Gerechten sehen, bei der ihr Gewaltverzicht mit der Gegengabe eines rechtmäßigen Grund- und Kultbesitzes belohnt wird. Kult in Athen bedeutet sogar ›hohe Ehre‹, weil sie dadurch zu Nachbarn der Stadtgöttin und zu ›Mitbewohnerinnen‹ ihrer Polis werden (833). Nur in Athen werden die Erinyen wie Athene beim Panathenäenfest mit einem jährlichen Festzug geehrt, bei dem die Männer und Frauen der Stadt (856  f ) ihnen als Dank für die Mithilfe bei Eheschließung und Kindergeburt »dieses weiten Landes Erstlingsopfer« darbringen (834  f ). Da die Annahme dieser ›Ehre‹ den Streit mit Athene Die Stimme Athenes | 43

und ihrer Polis beendet, können die Erinyen der Göttin nur noch die Frage stellen: »Was, rätst du, sing ich nun als Segen (t… oân … ™fumnÁsai) diesem Land?« (902). d) Die Polis als Ort des neu befestigten Zusammenlebens von Göttern und Menschen

Wenn die »mächtigen, aber nur schwer zu versöhnenden« Erinyen (927  f ) im Kult von ›freundlichen‹ Bürgern als ›Hohe‹ (1041) und ›Freundliche‹ angesprochen werden58 , so ist das weder theurgischer Besprechungszauber noch betrügerische Schmeichelei, sondern ein kontinuierliches ›Sagen des Guten‹, mit dem die Athener nach dem Vorbild ihrer Stadtgöttin lebensbedrohliche Rachegottheiten so ansprechen, dass sie als »Wohlwollende« zu ihnen gehören (960–968).59 Was dies für die Erynien und die Polis im Einzelnen bedeutet, ist den Gesängen zu entnehmen, die das Drama beschließen. 1.  Dadurch, dass der Gesang der Erinyen auf die Elementar­ affekte der ›Liebe‹ und des ›Hasses‹ einwirkt, können sie die Bürger so beeinflussen, dass sie einmütig dasselbe lieben und dasselbe hassen (984  ff ). 60 Nur diese affektive Gemeinsamkeit begründet einen ununterbrochenen Austausch von »Freuden« (984: c£rmata), der gegeneinander gerichteten »Zorn« und stasisträchtige »Rachgier wechselnden Mords Blutrausch« gar nicht erst aufkommen lässt (976  ff ). Die Macht der Erinyen ist also keineswegs auf das Naturverhältnis der Bürger beschränkt, sondern unterstützt den Segenswunsch Athenes, dass sich der zerstörerische »Trieb allgewaltiger Ruhmesliebe« (865: deinÕj eÙkle…aj œrwj) lediglich »vor den Toren« der Stadt als Krieg (pÒlemoj) gegen Fremde austobt statt im Bürgerkrieg, bei dem die jungen Männer aus den besten Familien der Stadt »in weinloser Trunkenheit« Angehörige des gleichen Stammes umbringen (860) und damit dem Handlungsmuster folgen, das die Lebensgrundlage im ›Haus‹ der Atriden zerstört hat. Mächte, die ›Gutes tuend und Gutes empfangend, hochgeehrt, an dem Land teilhaben, das die Götter in besonderer Weise lieben‹ (869  f), werden ganz selbstverständlich davon absehen, »blutigen Streits Wetzsteine« in die Polis ›hineinzuwerfen‹ (858  ff), so dass 44 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

sie alles unterlassen, was den Ausbruch einer Stasis befördern könnte. 2.  Der Segen, den die Erinyen ›von unten‹ spenden, gilt der ›maßgerechten‹ Einordnung der Polis in den größeren Zusammenhang der Natur. Das Glück der Stadt hängt nicht nur von eigener »Tüchtigkeit«, sondern entscheidend auch davon ab, dass ihr die Elemente Erde (Gaia), Meer, Himmel (Uranos) und Luft keinen »ständigen Verderb« bringen (Ag. 555  ff ) und nicht zur Brutstätte lebensbedrohlicher Ungeheuer werden (Choeph. 585  ff ). In Bildern vom ›heitren Sonnenglanz‹ (Eum. 925) und vom Wehen günstiger Winde (906), die die Erde in üppiger Fruchtbarkeit aufblühen lassen (924  f ), wird ein kosmischer Zusammenhang beschworen, der auf die Verbindung zwischen den Urgöttern Uranos und Gaia zurückgeht. Die Polis gewinnt nur dadurch ›Segen‹, dass sie sich diesem Ganzen, das sie nicht in der eigenen Hand hat, in ›Ehrfurcht‹ zuordnet und deshalb ›gute Denkweise‹ (Eum. 1013: ¢gaq¾ di£noia) zur Grundlage des gemeinsamen Handelns macht. 3.  Die Polis ist als Rechtlichkeitsgemeinschaft von Göttern und Menschen ein neuartiges ›Haus‹, das anders als das vorpolitische nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf rechtlich und kultisch fundierter Freundschaft beruht (Eum. 916  ff: xunoik…a, 1015  f: ­m etoik…a). Um Träger und Nutznießer großer Macht (950) zu sein, können die Erinyen in der Polis wie in der vorpolitischen Welt dem Gerechten »freudigen Gesang«, dem Ungerechten dagegen »tränenund notverschleiertes Leben sein Los sein lassen« (954  f ). Das, was zu Beginn des Agamemnon (88–90) und im Gebet der Pythia am Anfang der Eumeniden nur im Wort bestanden hat, kann durch eine umfassende Kooperation von Menschen und Göttern ein Kontinuum des Guten erzeugen, das von »des Himmels (Uranos) Thron« bis unter die Erde (Gaia) reicht. Die Polis hätte damit wesentlichen Anteil an einem »Austausch von Freuden« (Eum. 984), der ›von oben‹ durch die kosmische Gerechtigkeitsmacht des Zeus geschützt (Eum. 918, 1045  f), in seiner Mitte von der »guten Gesinnung« der Bürger zusammengehalten (1013) und »von unten« von der Segenskraft chthonischer Gottheiten getragen wird. Im Wechselgesang zwischen Athene und den Erinyen wird Athen als exemplarische politische Gemeinschaft beschworen, die eine »von Zeus her« gültige Rechtlichkeitsnorm (797) auf der Agora umsetzt. Die Stimme Athenes | 45

Sie ist damit der ausgezeichnete Ort, an dem Zeus Agoraios als »der Redenden Hort« sie in der Weise unterstützt, dass sich in ihr das ›Gute‹ gegen jeden Widerstand durchsetzt (970  ff ). 61 4.  Da die Einheit zwischen den Erinyen, der Polis und den olympischen Göttern sich auch in einer Neukonfiguration von Recht und ›Gewalt‹ bekundet, bezieht Athene die ›kriegerische Kunst‹ in ihre Rede ein. Als Athena Promachos will sie die aresartigen Kräfte nur außerhalb der Stadt, dort aber so lange wirken lassen62 , bis Athen bei allen Menschen als »Stadt des Sieges« anerkannt ist (913  ff ). Sie plädiert damit nicht für eine Politik imperialistischer Machtausdehnung, sondern dafür, ihr militärisches Potential so zu handhaben, dass ein Krieg gegen ihre Stadt für jeden eine unvernünftige Selbstgefährdung bedeutet. 63 Die Erinyen sollen deshalb ihrer Stadt nur zu solchen Siegen verhelfen, die anders als die ›Siege‹ Agamemnons über Troja und Klytaimestras über Agamemnon »nichts Schlechtes bewirken« (903). 64 In ihrem ersten Segensspruch preisen sie deshalb ihre Nachbarschaft auch mit einem Ares (916  ff ), der nur für nach außen gerichtete ›Gewalt‹ steht und sich deshalb von dem Ares unterscheidet, der seine Zerstörungskraft innerhalb eines »Stammes« (862  f: ”Arhj ™mfÚlioj) entfaltet. Im Schlussbild der Orestie erscheint die Polis als ›Einheit des in sich Verschiedenen‹ im Sinne Heraklits. 65 Aischylos feiert diesen Zustand nicht als etwas, das sicher ›im Werk‹ besteht. Die Bilder des Glücks, mit denen das Drama schließt, erklingen auf der Bühne vielmehr im Zusammenhang einer Kultstiftung. Sie wollen deshalb die Bürger, die im Dionysos-Theater als Kultteilnehmer versammelt sind, davon überzeugen, dass es ihrem eigenen Besten dient, ihr elementar menschliches Streben nach Freude und Wohlergehen auf »Ehrfurcht vor Peithō« (885) und damit auf gegenseitige Verständigung zu gründen. Die Zuschauer, die im Verlauf der Tragödie gesehen haben, dass die Macht der Peithō Schreckliches bewirken kann66 , erfahren an ihrem Ende, dass das Gute für eine Polis durchaus erreichbar ist, aber nur dann, wenn sie kontinuierlich von der ›guten Gesinnung‹ ihrer Bürger getragen wird. 67 Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, ›fährt‹ sie auf der ›mittleren Bahn‹ zwischen Stasis und Tyrannis, die die einzige ist, auf der ihr die Gunst der Götter entgegenkommen kann.

46 | Das Problem: Von der Stasis zur Polis 

II. Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik A. Gorgias: Die Rhetorik als größte soziale Gestaltungsmacht

Die klassische Tragödie gehört zu einer Kultur, in der metrisch gebundene Dichtung als »redende Malerei«1 mit den von ihr geschaffenen Vorstellungsbildern die öffentliche Meinung und damit auch die sozial anerkannten Urteils- und Handlungsmuster entscheidend mitgeprägt hat.2 Daran knüpft Gorgias an, der als einer der Begründer der klassischen Rhetorik das »Erschaffen« sozialer Wirklichkeit durch sprachlich geformte Vorstellungsbilder in seiner Rede nicht nur praktiziert, sondern auch thematisiert hat. Seine Abhandlung Über das Nichtseiende oder Über die Natur3 ist dafür insofern ein »Vorspiel«, als er sich dort vom parmenideischen Begriff des in sich einheitlichen, auf sich selbst bezogenen und nur in dieser Form erkennbaren Seins distanziert.4 Der Text ist lediglich in zwei späteren Referaten überliefert. Das erste stammt von einem Anonymus (Ps.-Aristoteles), das zweite vom Skeptiker Sextus Empiricus. Nach dem Anonymus stellt Gorgias drei Behauptungen auf: 1) »dass gar nichts sei (oÙk e�nai oÙdšn); 2) wenn doch etwas sei, dann sei es unerkennbar (¥gnwston); 3) wenn aber doch etwas sowohl sei als auch erkennbar (kaˆ œsti kaˆ gnwstÒn), sei es … anderen nicht zu verdeutlichen (oÙ dhlwtÒn).«5 Nach Sextus handelt es dabei um »drei direkt miteinander verbundene Kernsätze« (tr…a kat¦ tÕ ™xÁj kef£laia), die in drei Schritten einen einzigen Gedanken entwickeln, nämlich den, mit dem die Satzkette schließt. 6 Sextus zeichnet aber bereits den ersten Kernsatz aus, weil er mit der Behauptung, »dass nichts sei«, auch die Existenz eines Wahrheitskriteriums bestreitet und seinen Autor als frühen Skeptiker ausweist.7 Gorgias ist allerdings insofern ein reflektierter Skeptiker, als er das Sein eines Bestimmten und dessen Erkennbarkeit hypothetisch durchaus zugeben kann und deshalb im Prinzip | 47

behauptet, niemand könne die Erkenntnis eines bestimmten Seins einem anderen »verdeutlichen«, »mitteilen« oder »erklären«, selbst dann nicht, wenn er eine solche Erkenntnis für sich tatsächlich besäße. Diese Unmöglichkeit hat ihren Grund in der Unbestimmbarkeit des Seienden und in der Verschiedenheit von Sein und Denken, die dazu führt, dass zwischen den immanenten Bestimmtheiten der Rede (Worte, Wortfiguren, Sätze) und der als Unbestimmtheit erfahrenen Wirklichkeit kein ›natürlicher‹ Übergang besteht. Rede ist demnach ein Zusammenhang von Zeichen, die sich zwar »aus den von außen auf uns zufallenden Dingen formieren«, aber sich in ihrem ›Vorliegen‹ von der Art, in der anderes ›vorliegt‹, so unterscheiden, dass man daraus keine Rückschlüsse auf Gegenstände oder Vorgänge ziehen kann, weil diese stets in anderer Weise als sprachliche Ausdrücke ›vorliegen‹. 8 Die für die moderne Linguistik zentrale Unterscheidung von signifiant und signifié (de Saussure) hat ihre Vorform bei Gorgias, ebenso der Gedanke, dass die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem durch ›Kunst‹ her­ gestellt wird und deshalb arbiträr ist. Die These vom selbstreferentiellen Charakter sprachlicher Zeichen ist die notwendige Vorstufe für die Definition des rhetorischen Könnens als der größten sozialen Gestaltungskraft. Sie hat eine weitere Voraussetzung in einer ›schwachen‹ Ontologie wirkender Kräfte. Auch wenn Gorgias sie nicht ausdrücklich thematisiert, wäre sie in der Sprache des Skeptikers Sextus eine ›undogmatische‹ Ontologie, die sich von den ›dogmatischen‹ Konzepten der ionischen Naturphilosophie dadurch unterscheidet9, dass ihr erster Satz in einer allgemein verbreiteten Meinung besteht, die von niemandem ernsthaft bestritten wird und deshalb keiner besonderen Begründung bedarf. Behauptet wird nämlich nur das Vorhandensein materieller, d. h. körperhafter Wirklichkeit, während ähnlich wie in der atomistischen Naturphilosophie kategorial differenzierte Aussagen über ihre Menge, Beschaffenheit oder Form vermieden werden. ›Körper‹ sind deshalb unbestimmt große Wirkungskräfte, die sich in einer Art bellum omnium contra omnes befinden, d. h. sich berühren, sich dabei schwächere einverleiben oder unterordnen und von stärkeren einverleibt oder abhängig gemacht werden. Das »Sein« materieller Wirkungskräfte ist demnach nichts Bestimmtes, sondern ein offener Wettbewerb um ›Macht‹, 48 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

in dem es nur Konstellationen und Positionen gibt, die für eine unbestimmbare Zeit als Bestimmtes ›sind‹. Die einzigen Gesetze, die für ihr ›Sein‹ gelten, sind das von der Macht des Stärkeren über das Schwächere und das von der Instabilität aller Verhältnisse, die zwischen Stärke und Schwäche bestehen. Eine in diesem Sinne ›undogmatische‹ Ontologie kann also aus methodischen Gründen nur ein Naturalismus sein. Sie ist für Gorgias insofern von Bedeutung, als er sie zu einer Anthropologie konkretisiert, um mit ihr das Zustandekommen handlungsleitender Bestimmtheiten zu erklären. Da solche Bestimmtheiten nicht ›von Natur aus‹ vorhanden sind, müssen sie durch ›Kunst‹ geschaffen werden. Dafür ist die Kunst die wichtigste, die in der sozialen Welt über die größte Gestaltungsmacht verfügt. Gorgias will deutlich machen, dass dies die Fähigkeit des Rhetors ist, durch die Zusammenstellung sprachlicher Ausdrucksmittel Vorstellungsbilder zu erzeugen, die widerstandslos in menschliche Seelenkörper eindringen und dort die Orientierungsmuster für das Empfinden, Denken und Handeln festlegen. Der diesbezüglich aufschlussreichste Text ist seine Rede auf Helena. Mit ihr will Gorgias das in Griechenland wirkungsmächtige, von Homer in den Kyprien begründete Bild, nach dem Helena durch ihr ehebrecherisches Verhältnis mit Paris den trojanischen Krieg und seine tödlichen Folgen zu verantworten hat, durch ein Bild ersetzen, das sie von dieser Anklage freispricht. Als »Mann, der berufen ist, das Gebotene in rechter Form zu sagen«, muss er deshalb sowohl »diejenigen widerlegen«, die dem »Glauben der vom Hörensagen geleiteten Dichter« folgen und »Helena tadeln« (2), als auch in eigener Rede »Gründe darlegen, durch die es wahrscheinlich zu … (ihrer) Fahrt nach Troja kam« (5). Gorgias stellt also dem ›Glauben‹ der Dichter eine Wahrscheinlichkeitsüberlegung entgegen, die eine größere Öffentlichkeitswirkung entfalten soll als die Reden derer, die bislang das Bild der Helena geprägt haben. Als ihr Anwalt macht er deshalb geltend, dass sie der größten Wirkungsmacht erlegen ist, die neben »dem Willen des Schicksals, dem Ratschluss der Götter und physischem Zwang« das menschliche Tun und Leiden bestimmt, also entweder der ›natürlichen‹ Macht des Eros, der sie an die Seite ihres Verführers gezwungen, oder der ›künstlichen‹ Macht der Rede (6), mit der Paris sie bezaubert hat. In beiden Fällen wäre sie für die Folgen Die Rhetorik als größte soziale Gestaltungsmacht | 49

ihres Handelns nicht verantwortlich. Die weitere Frage, welche von diesen beiden Kräften die stärkere und deshalb in der sozialen Welt der »große Machthaber« (8: dun£sthj mšgaj) ist, wird im nächsten Schritt mit der folgenden Überlegung zugunsten der Redekunst entschieden: Unbestreitbar hat die überwältigende Schönheit des Körpers der Helena zwischen den besten Männern ihrer Zeit eine heroisch-wettkämpferische Gemeinschaft gestiftet (4). Ebenso kann die überragende Schönheit eines männlichen Körpers »das Auge« einer »göttlich schönen« Frau so entzücken, dass sie mit ihm ihr Leben teilen will (19). Die Rede hingegen erzeugt bereits mit der kunstgerechten Zusammenstellung »kleinster und unscheinbarster Körper« Vorstellungen, die eine Gemeinschaft des Empfindens, Denkens und Handelns begründen. Da diese Fähigkeit lehrbar und erlernbar ist, verfügt der Redner über ein Machtmittel, das bewusst dazu eingesetzt werden kann, »Zwietracht« zu beenden und ›einträchtige‹ Gemeinschaften herzustellen.10 In einer abschließenden Überlegung muss nur noch plausibel gemacht werden, dass künstlich zusammengesetzte auch tatsächlich auf natürliche Körper wirken können. Der naheliegendste Beweis dafür sind die Pharmaka der Medizin. Wie der Arzt nämlich mit künstlich zusammengestellten Wirkstoffen die materielle Beschaffenheit des menschlichen Leibes nach seinem Willen zum Besseren oder zum Schlechteren verändern kann, so stellt der kundige Redner sprachliche Klangkörper her, die die affektive Gestimmtheit eines Seelenkörpers nach seinem Belieben verändern.11 Das liegt daran, dass die ›Körper‹ der Rede aufgrund ihrer besonders subtilen materiellen Beschaffenheit leichter als alle anderen künstlichen, aber auch leichter als natürliche und zufällige Wirkungskräfte in das Organ der innerseelischen Meinungsbildung eindringen. Ihre Wirkung gleicht deshalb einer »göttlichen Beschwörung«, weil der sinnliche Reiz, der von einer Rede ausgeht, wie die Wirkung betörender Liebesreden beweist, den meinungsbildenden Teil des Seelenkörpers wie durch Zauberei ›überreden‹ und umgestalten kann (10). Sie wirkt in dieser Weise keineswegs nur auf ein rational wenig gefestigtes Massenpublikum. Vielmehr gilt auch für Reden unter Fachleuten12 , vor Gericht und in der Volksversammlung die Regel, dass in solchen »Wettkämpfen« eine Rede nicht ›siegt‹, »weil sie 50 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

etwa im Blick auf Wahrheit gesprochen«, sondern weil sie »am besten nach Regeln der Kunst verfasst« ist. Das Gesetz, dass »die Überzeugungsmacht (¹ peiqè), wenn sie zur Rede hinzutritt (prosioàsa tù lÒgJ), allemal die Seele prägt (™tupèsato), wie sie will« (13), zeigt seine Macht sogar in philosophischen Rede­gefechten, bei denen »die Schnelligkeit (Wendigkeit) der Gedankenführung deutlich macht, wie leicht die Grundlage zu verändern ist, von der aus eine bestimmte Meinung Überzeugungskraft gewinnt und andere Meinungen schwächt (ebd.: æj eÙmet£bolon poioàn t¾n tÁj dÒxhj p…stin)«. Diese Gestaltungsmacht kann der Sprache nur zugeschrieben werden, weil ›die Dinge‹ selbst und die von ihnen ausgehenden Wirkungen auf das Wahrnehmungsvermögen zu unbestimmt sind, um der Seele ein deutliches Merkmal von ihrem ›Sein‹ aufzuprägen. Da ein Leben im Unbestimmten aber Handlungsohnmacht bedeutet, ist die Kunst, die an die Stelle des ›Unglaublichen, Unsichtbaren‹ oder Unbestimmten ein Deutliches setzt, der permanent gefragte »große Wohltäter«, der »das menschliche Leben begehbar aus dem Weglosen und geregelt aus dem Regellosen macht« (in Pal. 30). Weil die Rede, wie Gorgias im gleichnamigen Dialog bei Platon vorträgt (Gorgias 450 b–c), dafür keine kunstfremden ›Hantierungen‹ oder die Hilfe anderer Künste und erst recht keine physische Gewalt einsetzen muss, ist sie »die bei weitem beste aller Künste«.13 Sie ist sogar das einzige menschliche Können, dem »göttliche Tüchtigkeit« zukommt, weil sie das in einer bestimmten Situation Gebotene auch dann zur Wirkung bringt, wenn sie sich dafür nicht auf bestimmte Regeln stützen kann oder sich sogar über gesetzliche Vorschriften hinwegsetzen muss (DK 82 B 6, 2). Auch in der Polis stellt die Rhetorik dadurch, dass sie »in der Seele der Hörenden Überzeugung bewirkt« (… peiqë to‹j ¢koÚousin ™n tÍ yucÍ poie‹n), das »höchste Gut her« (mšgiston ¢gaqÒn). Sie sorgt nämlich dafür, dass diejenigen, die diese Kunst ›in Gebrauch nehmen‹ »sowohl selbst frei sind als auch über andere herrschen, jeder in seiner Stadt«. Außerdem kommen sämtliche Entscheidungen vor Gericht, im Rat, in der Volksversammlung oder einer anderen politischen Zusammenkunft nur dadurch zustande, dass eine bestimmte Rede die ›Menge‹ der dort Versammelten vom jeweils Richtigen überzeugt. Der kunsterfahrene Rhetor ist deshalb Die Rhetorik als größte soziale Gestaltungsmacht | 51

der mächtigste Mann in der Polis, der mit größter Leichtigkeit jeden anderen zu seinem Knecht machen kann.14 Bei der Herstellung von Bestimmtheit bedient sich der Rhetor desselben Verfahrens wie die Bildkünstler, die »aus vielen Farben und Körpern eine einzige Gestalt (scÁma) vollendet hervorbringen«, die »dem Anblick Genuss bereitet« und damit bei ihren Betrachtern »eine Krankheit der Lust« auslöst, nämlich die unwiderstehliche Sehnsucht nach innigster Verbindung mit dem, was sie als schöne Gestalt vor sich sehen (Gorgias, in Hel. 18). Der Satz, dass »die Seele durch das, was sich ihrem Auge (sc. als Bestimmtes) zeigt, bis in ihre Verhaltensweisen geprägt wird« (ebd. 15: di¦ d tÁj Ôyewj ¹ yuc¾ k¢n to‹j trÒpoij tupoàtai), gilt aber auch für schreckliche Bilder (17). Weil Sehnsucht erweckende ebenso wie Erschrecken auslösende Vorstellungsbilder die subtil miteinander verwobenen Kleinstkörper der Seele in »Erschütterung« und »Unordnung« versetzen (16), die ihr »Denkvermögen« (tÕ nÒhma) »ersticken und vertreiben«, kann der Redner seine Hörer auch zu »nutzloser Mühe« antreiben oder in »arge Krankheiten und heil­ losen Wahn« stürzen (17). Damit ist eine zweite Voraussetzung angedeutet, die der These des Gorgias von der Wirkungsmacht sprachlich erzeugter Vorstellungsbilder zugrunde liegt. Sprechende Bilder wirken in der Seele so stark, dass ein Urteilsvermögen, das sie einer kritischen Betrachtung unterzöge, dagegen nichts ausrichten kann. Die Macht der Peithō profitiert demnach von der Schwäche der menschlichen Wissenskräfte, denn nur, weil es »mit dem Erinnern des Vergangenen, dem Beachten der Gegenwart, geschweige denn mit der Ahndung des Kommenden keineswegs gut steht, bestellen die meisten in den meisten Fällen eine bildhafte Vorstellung« (11: t¾n dÒxan) und nicht »Ratschlüsse des Denkens« (19: gnèmhj bouleÚmata) »zum Berater (sÚmbouloj) ihrer Seele« und verlassen sich damit auf eine »trügerische und unsichere« Kraft (11). Die Theorie von der Macht sprachlicher Darstellungskunst gehört deshalb in den Zusammenhang einer Anthropologie der miseria hominis, die weiß, dass die menschliche Seele für die »Krankheit« der »Unbedachtsamkeit« (¢gnÒhma) besonders anfällig ist (19). Das Wissen der Wahrheit, das es für Gorgias durchaus gibt, ist ausschließlich eine Sache der reinen Selbst- und der unmittelbaren Mitgewissheit: Nur in der direkten Verbundenheit mit mir weiß 52 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

ich, was ich getan oder nicht getan habe15 , und dieses Wissen kann nur teilen, wer mit mir kontinuierlich zusammenlebt16 und deshalb das von mir Getane gesehen hat, daran beteiligt war oder die Rede eines glaubwürdigen Zeugen gehört hat.17 Wahrheit in diesem Sinn verfügt zwar über die stärkste »Glaubwürdigkeit«18 , kann aber nicht in der Öffentlichkeit zur Wirkung kommen, weil dort nur geglaubt wird, was auf ›Ansichten‹ beruht, ›in denen niemand weiser ist als andere‹. Da es diese ›Ansichten‹ immer im Plural gibt, ist die Herstellung von Glaubwürdigkeit grundsätzlich ein »waghalsiger« Vorgang (in Pal. 24), bei dem der Redner in den Bestand teils bestimmter, teils unbestimmter Meinungen eingreifen und für sein ›Produkt‹ auf dem ›Markt‹ der öffentlichen Meinungen um Zustimmung werben muss. Die Herstellung öffentlichkeitswirksamer Glaubwürdigkeit setzt deshalb den Mut zum ›logoplastischen‹ Eingriff voraus.19 Der in diesem Sinne erfolgreiche Redner ist zwar der ›mächtigste Mann‹, aber nur dann, wenn er dadurch »seine Heimat, seine Erzeuger, ja ganz Griechenland rettet«, auch der ›beste Mann‹. Wenn er damit jedoch »einen verbrecherischen Zweck« verfolgt, ist er gerade »hierdurch der übelste Mann« (in Pal. 3). Über die Ambivalenz sprachlicher Gestaltungsmacht musste Gorgias nicht erst von Platon belehrt werden. Er hat vielmehr von sich aus gezeigt, dass politische Macht vorzüglich als Macht über die Sprache gewonnen wird, weil sie Macht über das Medium bedeutet, das im öffentlichen Raum stärker als alles andere die Meinung der ›Menge‹ beeinflusst. Besitz und ›Gebrauch‹ ›großer Macht‹ kann deshalb für den Rhetor wie für die von ihm beeinflusste ›Menge‹ Gutes und Schlechtes bedeuten. Von daher ist die Analyse ihrer Wirkungsmechanismen nicht nur eine Gebrauchsanleitung für ihre effektive Handhabung, sondern zumindest indirekt auch ein Instrument, mit dem man ihren konkreten ›Gebrauch‹ kritisch beobachten kann, und eine Aufforderung, mit der größten sozialen Gestaltungsmacht sorgfältig umzugehen.

Die Rhetorik als größte soziale Gestaltungsmacht | 53

B. Die Überwindung des ›tierischen‹ Anfangszustands der menschlichen Natur durch die soziale Gestaltungskraft der Sprache

Ein weiteres Beispiel rhetorischer Selbstreflexion ist eine andere Musterrede des Gorgias, in der sich sein Palamedes vor den Heerführern der Griechen in Troja gegen die Anklage wegen Hochverrats verteidigt, die Odysseus aus »Neid, übler Machenschaft« oder in »verbrecherischer Absicht« (B 11 a, 3) fälschlicherweise gegen ihn erhoben hat.20 Obwohl seine Verteidigungsrede auf der Handlungsebene erfolglos bleibt, weil die Richter dem Kläger folgen und Palamedes zum Tode verurteilen 21, ist sie für den Gedankengang des vorliegenden Buches wichtig, weil sie das Thema der sozialen Gestaltungskraft der Sprache mit einer für die Sophistik insgesamt charakteristischen Theorie der Kulturentstehung in Verbindung bringt.22 Ihr Ausgangspunkt ist die Annahme eines radikalen Gegensatzes von ›Natur‹ und ›Kunst‹, so dass »Kunst« eine anfängliche Wirklichkeit der Unordnung, der Weglosigkeit, der Handlungsohnmacht und der brutalen Gewalt in eine Welt der Ordnung, der geregelten Wege, der Handlungsstärke und des allgemein akzeptierten Rechts verwandeln muss. In der Apologie, die Gorgias ihm in den Mund legt, tritt Palamedes selbstbewusst mit dem Anspruch auf, der »große Wohltäter (mšgaj eÙergšthj) … für die Griechen und alle Menschen« zu sein, weil er mit seinen ›Erfindungen‹ »das menschliche Leben begehbar aus dem Weglosen (pÒrimon œx ¢pÒrou) und geregelt aus dem Regellosen (kekosmšnon œx ¢kÒsmou) gemacht hat«. Mit der Buchstabenschrift hat er ein »Organ der Erinnerung« geschaffen 23 , das in Form schriftlich fixierter Gesetze ein verlässlicher »Hüter des Gerechten« ist, während er mit der Zahl erstmals den Modus der Berechenbarkeit in das menschliche Handeln eingeführt hat.24 Palamedes hat den Übergang von der Unordnung zur Ordnung durch weitere Erfindungen zur Kriegskunst, Wohlstandsförderung, Handelserleichterung (Maße und Gewichte) und zur weiträumigen Nachrichtenübermittlung unterstützt (Feuerzeichen), während das von ihm ebenfalls erfundene Brettspiel Freude an »unbeschwerter Beschäftigung« vermittelt und damit ein Leben der ›Mühe‹ von dem Druck entlastet hat, ­unter dem es normalerweise steht.25 54 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Eine ähnliche Vorstellung von der Entstehung menschlicher Kultur kommt bei Aischylos im Gefesselten Prometheus (aufgeführt nach 475)26 zum Ausdruck, und zwar in der Rede des von Kratos (›Stärke‹), Bia (›Gewalt‹) und Hephaistos im Auftrag des Zeus an den Fels des Kaukasus geketteten Titanen27, mit der er die Töchter des Okeanos davon überzeugen will, dass sein gegenwärtiger Zustand eine ungerechte Strafe dafür ist, handlungsohnmächtige, tierähnlich am Rand des Kosmos vegetierende Menschen 28 durch seine Feuergabe (253  ff ) und den Unterricht in der Handhabung der von ihm erfundenen Künste (454–503) zu ›verständigen Herren ihrer Sinne‹ und damit überhaupt erst lebensfähig gemacht zu haben (443  f ). In diesem Zusammenhang bezeichnet er zwar die Medizin als die ›wichtigste‹ Kunst (478  ff ), nennt als seine Erfindungen aber auch solche, mit denen er die Menschen befähigt hat, ihren Lebenszusammenhang als Inbegriff aussagekräftiger Zeichen zu ›lesen‹ und wichtige Bereiche davon verlässlich selbst zu gestalten. So hat ihnen die Astronomie das Geschehen am Himmel erschlossen und die Mantik das ›Dunkle enthüllt‹, das als Schicksal oder als Ratschluss der Götter das menschliche Leben beeeinflusst (498  f ). Die Arithmetik hat ihnen den Umgang mit der Zahl vermittelt und ihnen »den höchsten Kunstgriff geistger Kraft« (œxocon sofism£twn) in die Hand gegeben, während sie mit der Schrift ein allgemein zugängliches Erfahrungskontinuum aufbauen und auf dieser Grundlage die eigene Wirklichkeitserfahrung um die Dimension der Zeit erweitern konnten (459  ff ). Auch sprach­ unabhän­gige Erfindungen, die zur Umwendung des menschlichen Lebens von der Ohnmacht zur Selbstkontrolle beigetragen haben (Häuserbau, Verwendung von Zugtieren, Bespannung des Wagens mit Rossen, Schiffbau, Metallbergbau), konnten ihre Wirkung nur durch belehrende Rede entfalten 29, während ›blinde Hoffnungen‹ seine Schützlinge davor bewahrt haben, im unverstellten Blick auf das eigene Todesschicksal jeden Lebensmut zu verlieren (248  ff ). Im Drama des Aischylos ist die Rettungstat des Prometheus ein Schachzug im innergöttlichen »Bürgerkrieg« zwischen den Titanen und Zeus, in dem auch das Verhältnis von ›Gewalt‹ und ›Überredungskunst‹ eine Rolle spielt. Weil Prometheus »trotz klügsten Rats« (204) seine Mitkämpfer nicht überreden konnte, die eigenen Handlungsmöglichkeiten durch die Umstellung ihres KriegsmitDie Überwindung des ›tierischen‹ Anfangszustands  | 55

tels von der Gewalt auf die List zu erweitern, wurde der Götterzwist zum Kampf von Gewalt gegen Gewalt, in dem Prometheus schließlich auf die Seite des Zeus getreten ist und ihm mit seinem Rat zum Sieg verholfen hat. Zeus hat danach wie ein Tyrann alle Überredung von sich abprallen lassen und das Recht nach seiner »Willkür« gehandhabt (185  ff ), nämlich seine Macht ausschließlich mit seinen Geschwistern geteilt, während er das Geschlecht der Menschen vernichten und »aufs neu ein anderes« zeugen wollte, das allein vom seinem Willen abgehangen hätte (229  ff ). Die Hilfe, die Prometheus den Menschen gebracht hat, sollte sie »vom Los befreien, zerschmettert in des Hades Reich zu gehen«. Zugleich sollte seine Rettungstat der Anfang für eine ›Fahrt des Guten‹ sein, bei der auch Zeus zu lernen hätte, dass Gewaltherrschaft eine »Krankheit« ist (234  f ) und deshalb auch ihn zu Fall bringen würde (762, 908  ff ). Da von den beiden letzten Teilen der Prometheus-Trilogie nur wenige Fragmente erhalten sind, weiß man zwar, dass an ihrem Ende eine Kultstiftung für Prometheus gestanden hat und ein Verständigungsausgleich erzielt wurde, aufgrund dessen Zeus seine tyrannische Herrschaft aufgegeben hat. Wir können aber nicht mehr nachvollziehen, auf welchem Weg es zu diesem Ende gekommen ist.30 Im politischen Mythos Athens spielt die Beziehung zwischen Hephaistos und Athene eine derart wichtige Rolle, dass die Athener auch als »Kinder des Hephaistos« bezeichnet werden und beide auf dem Ostfries des Parthenon in der Versammlung der Zwölf Götter, die bei der Übergabe des Peplos an die Priesterin der Athena Polias anwesend sind, direkt bei einander sitzen. 31 Nach dem ps.-homerischen Hymnos 20 haben diese beiden Gottheiten die Menschen in Attika, »die früher hausten wie Tiere in Höhlen der Berge, gelehrt, herrliche Werke zu verrichten«, so dass sie ›das ganze Jahr hindurch‹ »leicht ihre Zeit … dahinbringen und in Ruhe und Frieden in ihren eigenen Häusern leben« konnten. Das Zusammenwirken des Handwerkergottes und der jungfräulichen Tochter des Zeus wird bei Platon in einen Mythos integriert, der das Thema des Anfangs menschlicher Kultur für Attika konkretisiert und gegen die Anthropologie der miseria hominis die These vom göttlichen Ursprung des Menschengeschlechts stark macht. 56 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Danach hat alles menschliche Leben mit einer ›rechtlich‹ durchgeführten ›Verteilung‹ begonnen, bei der die Götter von »der ganzen Erde« durch Los den Teil erhielten, »der ihnen lieb war«. 32 Sie haben dann jeweils ihr Land besiedelt und seine Bewohner »wie die Hirten ihre Herden … als ihren Besitz und ihre Zucht« ernährt. Da sie als Götter natürlich wussten, »wie sich ein beseeltes Lebewesen am besten steuern lässt«, haben sie ihre Schützlinge nicht mit Gewalt erzogen33 , sondern »durch Überredung in ihrem Sinn« auf sie eingewirkt. Bei dieser Verteilung haben Hephaistos und Athene Attika erhalten, daraufhin ihre Liebe zur Weisheit und zur Kunst auf ihre Geschöpfe übertragen, ihr Land also »mit wackeren ureingeborenen Männern« bevölkert und ihnen »nach ihrem Sinn« eine »verfassungsmäßige Ordnung gegeben«. 34 Die Bewohner Attikas waren also ursprünglich keine ›Mängelwesen‹. Erst ihre späteren Nachkommen, die sich infolge »verschiedentlicher Vernichtung« ins Gebirge zurückziehen mussten, haben wegen des über Generationen anhaltenden »Mangels an Lebensnotwendigem« ihr Denken und ihre Reden nur noch »auf das gerichtet, woran sie Mangel hatten«, und darüber die Kenntnis der Schrift verloren35 , so dass sie von ihren ureingeborenen Königen nur noch die Namen (Kekrops, Erechtheus, Erichthonios) kannten, aber von ihrer Tüchtigkeit und ihren Gesetzen nichts mehr wussten.36 Demgegenüber behauptet der Sophist Protagoras im gleichnamigen platonischen Dialog, dass der professionelle Redner als Lehrer der politischen Tugend genau das leistet, was der Mythos den Göttern, einem Titanen wie Prometheus, einem menschlichen Protokünstler wie Palamedes, aber auch einem Orpheus oder Amphion zuschreibt.37 In seinem Mythos ist das Leben der Menschen anfänglich durch körperliche Schwäche charakterisiert, die sie der Gefahr des Gefressenwerdens durch wilde Tiere aussetzt. Ihnen fehlt aber auch die »politische Kunst«, so dass diejenigen, die den wilden Tieren entkommen, sich gegenseitig bekriegen. Dieser doppelte Elendszustand wird in zwei Schritten überwunden. Im ersten korrigiert Prometheus das Versäumnis seines Bruders Epimetheus, der zwar allen Tieren, aber nicht den Menschen gegeben hat, was sie zur Erhaltung (swthr…a) ihres Lebens benötigen. Dazu dringt er in das »gemeinschaftliche Gemach« von Hephaistos und Athene38 ein und »stiehlt« von dort »die feurige Kunst« des Schmiedegottes Die Überwindung des ›tierischen‹ Anfangszustands  | 57

und die von Athene erfundene Webkunst (Athena Ergane)39, um sie seinen Schützlingen in die Hand zu geben. Auf der Grundlage der in diesen Künsten wirksamen göttlichen »Weisheit« erhalten die Menschen die »zum Leben notwendige Weisheit« (¹ perˆ tÕn b…on sof…a), mit der sie Häuser bauen, sich bekleiden und ernähren können. Teilhabe an ›göttlicher Weisheit‹ erzeugt aber auch den Glauben an Götter und die Fähigkeit, »Laute und Worte in kunstmäßiger Form zu gliedern und zu artikulieren«, mit der sie die Götter im Kult durch Bittgebete und Lobeshymnen wohlwollend stimmen. Dennoch bleiben sie in dieser Phase an die vereinzelte und vom Recht des Stärkeren bestimmte Lebensweise gebunden. Das ändert sich erst in einem zweiten Schritt, der ihnen die »poli­tische Kunst« (politik¾ tšcnh) vermittelt. Dafür ist jedoch nicht mehr Prometheus, sondern Hermes verantwortlich, der im Auftrag des Zeus alle Menschen in gleicher Weise mit dem Empfinden für »Sittlichkeit (a„dèj) und Rechtlichkeit (d…kh)« ausstattet. Erst auf dieser Grundlage entstehen »der Städte Ordnungen und Bande« (pÒlewn kÒsmoi te kaˆ desmo…), die als »Vermittler der Zuneigung« (fil…aj sunagwgo…) den Zustand wechselseitiger Feindschaft beenden. Die Polis ist deshalb ein besonderer Ort des Guten, an dem Menschen aufgrund ihrer Teilhabe »an Gerechtigkeit und Besonnenheit« so zusammenleben, dass sie sich gegenseitig in der politischen Tugend erziehen und dadurch in der Lage sind, ›über das Gerechte, Besonnene und Fromme Beratungen anzustellen und gemeinsame Beschlüsse zu fassen‹ (Platon, Prot. 321 d – 322 d). Mit seinem Mythos will Protagoras beweisen, dass politische Tugend keine Gabe der Natur ist oder sich »von selbst« entwickelt (¢pÕ toà aÙtom£tou), sondern eine göttliche Gabe, die jedoch durch Fleiß (™pimšleia), Übung (¥skhsij) und Unterricht (didacÁ, m£qhsij) verstärkt werden muss (323 c – 324 b). Im Rahmen dieses Unterrichts müssen die Jüngeren die Kunst des Lesens und durch regelmäßiges Rezitieren von »Gedichten« lernen, die Männer »bewundernd nachzuahmen«, die von den »trefflichsten Dichtern« gepriesen werden. Zugleich macht die metrisch und rhythmisch artikulierte Sprache ihre Seelen ›milder‹ und gewöhnt sie daran, auch im eigenen Denken, Reden und Handeln »Maß und Takt« einzuhalten. Die Älteren hingegen müssen sich durch das Studium der 58 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

›von trefflichen alten Gesetzgebern ausgedachten Gesetze‹ ­darin üben, ihr Leben nach den dort festgelegten Regeln statt nach eigenem Gutdünken zu führen. Als Ort ›des richtigen Rhythmus und der richtigen Harmonie‹ ist die Polis der besondere Raum, in dem immer wieder das Gut erzeugt wird, dessen das menschliche Leben »überall« bedarf (325 e – 326 d). Bei allen Mängeln, die sie haben mag, unterscheidet sich die Polis deshalb vom Lebensort ­solcher Menschen, »die keine Erziehung, Gerichtshöfe und Gesetze … haben« und deshalb tatsächlich »Wilde« sind, während solche Unwesen in der Polis nur noch im Theater auftreten. 40 Weil die Kinder der Reichsten länger als alle anderen zu ordentlichem Verhalten (eÙkosm…a) erzogen werden (325 c), ist die Polis näherhin die Welt der aristokratisch gestalteten Demokratie, in der das Maß an Macht gerechterweise auf der Grundlage ihrer individuellen Tugendhaftigkeit an die Bürger verteilt wird. Protagoras will als menschlicher Künstler und Lehrer das Werk des Hermes fortsetzen und die Wirkungskraft der alten Dichter und Gesetzgeber für seine Zeit vergegenwärtigen. Seine Reden sollen die Bürger zur politischen Tugend erziehen und ihnen mit der »Wohlberatenheit« (eÙboul…a) die Tüchtigkeit vermitteln, mit der jeder sein »Hauswesen am besten verwalten« und vor allem die öffentlichen Angelegenheiten sowohl »führen« als auch über sie reden kann (318 e – 319 a). Ein Fragment aus dem Satyrspiel Sisyphos41 beleuchtet die Gestaltungskraft der Sprache, die den anfänglich »ungeordneten, tierhaften, von roher Gewalt bestimmten Zustand« (¥taktoj ¢nqrèpwn b…oj kaˆ qhrièdhj „scÚoj q’ Øphršthj) beendet, aus der Perspektive der komischen Dichtung.42 Danach findet der Übergang zu Recht und Ordnung in zwei Schritten statt, die sich anders als im protagoreischen Prometheus-Mythos beide im Rahmen der politischen Kunst bewegen.43 Der erste besteht in der Einführung von Gesetzen, die alle öffentlich begangenen Unrechtshandlungen sanktionieren. Den zweiten Schritt hingegen konnte sich nur ein besonders »schlauer und gedankenkluger Mann« ausdenken, der die menschliche Neigung zur Schlechtigkeit in ihrer ganzen Stärke erkannt, sie aber nicht geteilt und zugleich gewusst hat, dass die wirklich »Schlechten« allein durch den Glauben an alles sehende und alles Unrecht bestrafende Götter von verbrecheriDie Überwindung des ›tierischen‹ Anfangszustands  | 59

schen Gedanken, Reden und Taten abzuhalten sind. Ihm musste auch bewusst gewesen sein, dass nur die Redekunst Nichtseiendes oder Unbestimmtes in die Bestimmtheit eines Vorstellungsbildes überführen und dadurch die öffentliche Meinung nachhaltig beeinflussen kann. Er hat deshalb das ›wahre‹ Wahrnehmungsbild des bestirnten Himmels 44 mit seiner Rede in das ›unwahre‹ Vorstellungsbild vom Wohnsitz solcher Götter verwandelt, die, weil sie die menschlichen Angelegenheiten vollständig durchschauen, Übeltäter bestrafen und die ›Guten‹ belohnen.45 Es gehört zu den Gattungsregeln der komischen Dichtung, dass »die wohltuendste Lehre« für das menschliche Leben, die das ›tierische‹ Dasein beendet, nur durch eine Rede zur Wirkung kommt, »die mit lügnerischem Wort die Wahrheit verhüllt« (B 25, 26 f: yeude‹ kalÚyaj t¾n ¢l»qeian lÒgJ). Dahinter steht aber auch die realistischskeptische Einsicht, dass die natürliche Neigung zur Gewalt so stark ist, dass sie nur durch ein besonders wirksames und genau auf sie abgestimmtes Mittel im Keim erstickt werden kann. Das Gute könnte rein aus sich selbst nur auf Gute wirken. Wenn es dagegen auch die ›Schlechten‹ beeindrucken soll, bedarf es des Umwegs über das ›schlechte‹, aber wirksame Mittel einer Täuschungsrede, die, wenn man dafür auf die These von Gorgias zurückgreift, allein die Macht hat, das, was jedermann sieht und wahrnimmt, in eine Instanz zu verwandeln, die, weil sie alles sieht und alles ­Unrecht bestraft, auch den ›Schlechten‹ Furcht einflößt.46 Der Kallikles des platonischen Gorgias nimmt diesen Gedanken mit der Behauptung auf, dass die Gesetze nur regieren, weil die Schwachen, die sich in ihrer Not zur Polis zusammengeschlossen haben, »die Besten und Kräftigsten gleich von Jugend an, wie man es mit dem Löwen macht, durch Besprechung gleichsam und Bezauberung (katep®dontej kaˆ gohteÚontej) knechtisch einzwängen«, indem sie ihnen »immer vorsagen, alle müssten gleich haben, und dies sei eben das Schöne und Gerechte«. Trotzdem bleibt dieser Erziehungsversuch ohne Erfolg. Sobald nämlich der in Wahrheit Starke »zum Manne wird, schüttelt er das alles ab«. Dadurch, dass er »alle unsere Schriften, Gaukeleien, Besprechungen und widernatürlichen Gesetze zertritt« und dann »aufsteht als unser Herr«, beweist er den trügerischen Charakter der Reden, die ihn klein halten wollten. Die Kraft, mit der er die Gemeinschaft der 60 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Gleichen zerstört, lässt dagegen die Wahrheit des Rechts der Natur »prächtig hervorleuchten«, die nun einmal festlegt hat, »dass der Bessere über den Schlechteren herrsche« (483 d – 484 a). Welche Macht hat die Sprache gegenüber einer Natur, die sich bei ihrem Vorteilsstreben auf überlegene physische Durchsetzungskraft stützt? Cicero nimmt diese Frage im Prooemium zum ersten Buch seiner frühen rhetorischen Lehrschrift De inventione mit der folgenden Überlegung auf: Wenn die Menschen ursprünglich »wie wilde Tiere auf Feldern umherirrten«, »nichts durch die Anleitung der Vernunft tun und sich nur auf Körperkraft verlassen« konnten47, welche causa efficiens hat dann bewirkt, dass sie freiwillig dazu übergegangen sind, »einander zu vertrauen, sich an Gerechtigkeit zu halten … und für das gemeinsame Wohlergehen« sogar »das Leben zu opfern« (I 2, 3)? Cicero bezieht sich auf die Konzeption vom elenden Anfangszustand des menschlichen Lebens nicht, weil er sie teilt48 , sondern weil ihm das die Möglichkeit bietet, die ars bene dicendi und mit ihr den orator optimus als Retter des Menschengeschlechts und Bewahrer der res publica herauszustellen. Unter der Voraussetzung, dass menschliches Leben entweder im Rahmen anomischer Natur oder nach Maßgabe regelgeleiteter Kunst geführt wird, zeigt er in einem ersten Argumentationsschritt, dass die gesuchte causa efficiens im Bereich der ars zu finden ist: Da Gleiches nur Gleiches erzeugt, kann rechtliche Ordnung nicht aus ›tierischer‹ Natur, sondern nur aus einsichtiger und planungskompetenter Kunst hervorgegangen sein. In einem zweiten Schritt wird geklärt, welche Kunst den Zustand rechtlicher Ordnung hergestellt hat. Da das neue Lebensprinzip (ratio vitae) den entscheidenden Unterschied zum tierischen Leben ausmacht, und der Mensch sich von den Tieren durch die Fähigkeit zum belehrenden Sprechen unterscheidet, kann die gesuchte Kraft nur die Kunst des von ›Weisheit‹ geleiteten Sprechens gewesen sein. Damit aber steht auch fest, wer das Leben der Menschen zum Besseren geführt hat, nämlich der in Wahrheit »große und weise Mensch« (I 2), der ›groß‹ ist, weil er jeden Widerstand überwindet und ›weise‹, weil er seine Artgenossen genau in dem Können übertrifft, das die Überlegenheit der menschlichen gegenüber der tierischen Natur begründet. 49 S­ apientia meint die Fähigkeit zu einem umfassenden Vorausblick. Sie erkennt auch in Bezug auf Die Überwindung des ›tierischen‹ Anfangszustands  | 61

eine ›Natur‹, die sich im Zustand des Elends befindet, ob in ihr entgegen dem ersten Anschein ›große Dinge‹ angelegt sind 50 , und zugleich, wie man sie ›hervorlocken‹ (elicere) muss, damit sie sich »zu etwas Besserem entfalten« kann (De inv. I 2). Da dieses Mittel im Fall der menschlichen Natur allein die »Belehrung« ist, kann nur eine sapientia, die ihre Einsicht in eloquentia überführt und dadurch mit der Wirkungsmacht unwiderstehlicher Schönheit ausgestattet hat, vereinzelt lebende Menschen »an einen bestimmten Ort zusammengeführt«, »zu einer Gemeinschaft rechtlicher und Nutzen bringender Tätigkeit« vereinigt und dadurch ihre ›wilde und schreckliche‹ in eine ›sanfte und zugängliche‹ Natur verwandelt haben. 51 Unterstützt wird diese Vermutung dadurch, dass ›literarische Denkmäler (ex litterarum monumentis), die aufgrund ihres Alters längst Vergessenes ins Bewusstsein zurückholen‹, immer wieder belegen, dass »viele Städte gegründet, sehr viele Kriege beendet, die festesten Bündnisse und die heiligsten Freundschaften wohl auch durch vernünftige Überlegung, leichter aber noch mit Hilfe der Beredsamkeit geschlossen worden sind« (De inv. I 1,1). Sie belegen aber ebenso, dass immer dann, wenn »tollkühne und verwegene Menschen« die Redekunst von dieser Weisheit getrennt und für egoistische Machtinteressen eingesetzt haben, das menschliche Leben in »tierische Wildheit« zurückgefallen ist (I 2, 3). Die Instanz, die letztlich über den ›Gebrauch‹ der Redekunst entscheidet, ist der menschliche Wille. Nur als Wille zum Recht, der sich durch seine Bindung an die sapientia von bloßer Willkür unterscheidet, kann er dem stets präsenten Willen zur Gewalt entgegenwirken und den Rechtszustand durch solche Gesetze festigen, die nicht bloß auf menschlichem Beschluss, sondern auch auf einer göttlichen und allgemein menschlichen Gerechtigkeitsnorm beruhen. Wenn dieser Wille jedoch seine Kraft verliert, herrscht die Gewalt, die vom Recht zwar zurückgedrängt, aber nicht definitiv ausgeschaltet werden kann.52 Auch die Rhetorik muss sich von einem zügellos ungebundenen Können zu einer rechtlich gehegten Kunst verändern und sich ­dadurch gleichsam das Bürgerrecht erwerben, damit sie die res publica begründen und in ihr als die entscheidende Gestaltungskraft des Guten auftreten kann. Nur wenn sie aus ihrem eigenen Naturzustand heraustritt und sich vom »großen Machthaber« (Gorgias 62 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

in Hel. 8), der seine Kunst als Instrument einer nahezu physischen Überwältigungsmacht einsetzt und ihr ›einen unbegrenzten und unermesslichen Stoff zugrundelegt‹53 , zu einem menschenfreundlichen Hegemon verändert, der sich darauf konzentriert, durch belehrende Rede »in Bezug auf das Gerechte und Ungerechte sowie das Schöne und Schändliche verbindliche Regeln aufzustellen« (Isokrates 15, 255), wird die rhetorische Gestaltungsmacht zur ›ars bene dicendi‹ und damit zum ›großen Wohl­täter‹, der »das menschliche Leben begehbar aus dem Weglosen und geregelt aus dem ­Regellosen macht« (Gorgias, in Pal. 30). C. Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik 1. Der Begriff des Wissens und das Konzept dialektischer Praxis

In diesem Kapitel geht es ausschließlich um Xenophons Beitrag zu einer rhetorisch fundierten Polis-Ethik. Im Vordergrund stehen deshalb die begrifflichen Zusammenhänge, die als Voraussetzung oder Folgerung zu ihrem Grundsatz gehören, dass nämlich ›gute‹ Gemeinschaft ihre Ursache im besonnenen Umgang mit der natürlichen Gabe hat, durch die sich Menschen von Tieren unterscheiden, und das ist die Fähigkeit, im Medium artikulierter Sprache (˜rmhne…a) anderen »mitzuteilen (shma…nein), was auch immer man will«. 54 Wenn Menschen sich auf diese Weise »an allem Guten Anteil geben«, das sie besitzen, entstehen Gemeinschaften der Kommunikation und des Gütertausches, die sich, wenn ›Unter­ weisung‹ die Form gesetzlicher Rede annimmt, zu politischen Gemeinschaften konkretisieren. Sprache ist demnach eine soziale Gestaltungskraft, die insbesondere solche Wissensgüter verteilt, die das Handeln anleiten und Handelnde zur Einheit zusammenführen. Sie verändert kognitive und affektive Ungleichheiten, die ihrem Zustandekommen entgegenstehen, zu einer Gleichheit des Urteilens und Denkens, die von den Unterwiesenen als Bereicherung empfunden und deshalb mit Dank angenommen wird. Weil andere Ungleichheiten, die auf diese Weise nicht auszugleichen Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 63

sind (Reichtum, Körperkraft, natürliche Begabung, Fachwissen, technisches Können, Alter, Geschlecht, Herkunft, soziale Stellung etc.), die Gleichheit des kommunikativ begründeten Überzeugtseins nicht tangieren, gibt sie die Norm für die Binnenordnung von Gemeinschaften vor, die sich als spezifisch menschliche von solchen Handlungseinheiten unterscheiden, die durch betrügerische Rede oder physische Gewalt zustande kommen. Auch für Xenophon ist die kommunikative Macht der Sprache ambivalent. 55 Er kritisiert deshalb die sophistische Rhetorik, die als formale Technik lediglich die Auswahl und Zusammenstellung sprachlicher Ausdruckseinheiten zum Ganzen einer Rede lehrt, aber damit eine Kunst begründet, mit der man beliebige und deshalb auch egoistische und in sittlicher Hinsicht verwerfliche Ziele verfolgen kann. 56 Ihr stellt er einen Sokrates entgegen, der »diejenigen, die mit ihm zusammen waren«, nicht »redegewandt und handlungsgeschickt machen wollte, … sondern glaubte …, es sei zuvor notwendig, dass ihnen die rechte sittliche Haltung (swfrosÚnh) zuteil werde. Denn wer diese Fähigkeiten besitze ohne die rechte sittliche Haltung, der würde umso ungerechter und umso mehr befähigt zu schlechtem Tun« (Mem. IV 3, 1). Rede ist deshalb nicht das Gute, das notwendig ein Gleiches erzeugt, sondern nur dann Entstehungsgrund für einen guten Lebenszusammenhang57, wenn ihr Gebrauch von einer ›Seele‹ kontrolliert wird, die sich durch Erziehung, Übung und Selbstbeherrschung zu einer Wirkungskraft des Guten profiliert hat. Die Tugend der Selbstbeherrschung wiederum kann nur dann gute soziale Verhältnisse begründen, wenn sie im besonnenen Reden und Handeln nach außen tritt und in dieser Qualität auch wahrgenommen wird. Da der sittlich kontrollierte grundsätzlich gegen den destruktiven Gebrauch der Rede durchgesetzt werden muss, gehört der Gedanke von der Rede als ›guter‹ sozialer Gestaltungsmacht in den Zusammenhang einer ethisch eingefärbten, aber im Kern naturalistischen ›Physik der Macht‹. Für sie gelten die Regeln, dass Gleiches nur auf Gleiches wirkt, und dass zwischen verschiedenen Wirkungskräften ein prinzipiell variables Gefälle von Stärke und Schwäche besteht. Im Unterschied zur gegenwärtigen Diskurstheorie geht es Xenophon nicht um eine theoretische Reflexion auf die ›Natur‹ sprachlicher Kommunikation, die auf epistemischer Grundlage 64 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

ein ›herrschaftsfreies‹ Gegen­modell zur faktischen Realität strategischer Kommunikations- und Machtverhältnisse aufbauen will. Sein Ansatz bleibt vielmehr der Perspektive der Macht verpflichtet und will deshalb den Gedanken plausibel machen, dass eine politische Gemeinschaft, die in ihrer Binnenordnung vom ›richtigen‹ Gebrauch öffentlicher Rede getragen ist, nach außen mächtiger und für ihre Mitglieder vorteilhafter ist als Gesellschaften, die von einer andersartigen Kraft zusammengehalten werden. Zur Verdeutlichung dieses Gedankens entwirft Xenophon das Bild eines Sokrates, der durch sein Reden und Tun die in ihm wirksame Besonnenheit auf andere Personen überträgt.58 Sokrates verkörpert eine in sich einheitliche Wirkungskraft 59, weil er in seiner Rede immer dasselbe lehrt und nie anders als in Übereinstimmung mit seiner Lehre handelt, und zugleich eine Kraft der Einheitsbegründung, die nach der Regel ›Gleiches erzeugt Gleiches‹ andere dazu anhält, ihm ähnlich zu werden. Sein Wirken veranschaulicht deshalb das Zustandekommen ›guter‹ Herrschaft oder, anders ausgedrückt, die Konstitution eines Personenverbandes, der auf der Qualität selbstbeherrschter Besonnenheit beruht. Xenophon teilt mit Platon und Aristoteles die Überzeugung, dass nur eine Seele, die sich selbst vernünftig regiert, sozialtauglich und nur die Gemeinschaft gut ist, die sich wie eine individuelle Seele verhält, in der die Vernunft die Herrschaft ausübt. Die Kraft, aus der individuelle und soziale Handlungseinheiten zu vernünftiger Ordnung finden, ist deshalb eine Selbsterkenntnis, die die wichtigsten Gestaltungskräfte der menschlichen Natur in dem, was sie sind und bewirken, richtig einschätzt und deshalb alles tut, um ihre beste Kraft so stark wie möglich zu machen. Das bedeutet auch, dass Wissen im Kern selbstbezügliches Wissen ist, das eingesehen hat, dass es als Untersuchung der Bauprinzipien der Natur (quaestio de rerum natura) den Raum des menschlichen Handelns verlassen müsste und dann nicht mehr die Kraft hätte, sich mit der gebotenen Intensität um die ›gute‹ Gestaltung des eigenen Lebenszusammenhangs zu kümmern. Die Konzentration auf die Grund­lagen des menschlichen Handelns (quaestio de moribus) ist deshalb keine Resignation oder die Folge gedanklicher Trägheit, sondern Ausdruck des Gehorsams gegenüber dem Delphischen Gebot der Selbsterkenntnis und damit einer Frömmigkeit, die das eigene Können der überlegeDie Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 65

nen Macht der Götter unterordnet. Nur in dieser Selbstbegrenzung kann menschliches Wissen zur Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse beitragen. 60 Xenophons Begriff des menschlichen Wissens gehört demnach in den Kontext einer anthropologisch akzentuierten Theologie, die den Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Wirklichkeit anerkennt, aber den sichtbaren Kosmos als Vermittlungsgestalt auffasst, die zeichenhaft auf das Dasein und den Wirkungscharakter göttlicher Macht verweist. 61 Das Bestehen des Kosmos macht evident, dass vollkommene Ordnung (IV 3, 13) kein Produkt subjektiver Phantasie ist, sondern tatsächlich existiert. Da er weder ein Werk des Zufalls noch der menschlichen Kunst sein kann, muss seine Ordnung auf einer vernünftigen, mächtigen und fürsorglichen Gestaltungsmacht beruhen, für die in menschlicher Sprache nur die Bezeichnung ›göttlich‹ zur Verfügung steht. 62 Mit dieser Überlegung antwortet Xenophon kritisch auf den Satz des Protagoras, nach dem wir hinsichtlich der Götter keine Möglichkeit haben zu wissen, weder dass sie sind, noch dass sie nicht sind (DK 80, B 4). Für Xenophon ist lediglich die die Gestalt („dša) der Götter unerkennbar, während im Blick auf die Ordnung der Natur sehr wohl deutlich wird, dass die Götter mächtige und fürsorgliche Wesen sind, die auch den Menschen gegeben haben, was sie für ihre Lebensführung benötigen, nämlich den aufrechten Gang, die Fähigkeit zum Gebrauch der Hände (I 4, 11) und die Kunst, auf der Grundlage von Wahrnehmung und Erinnerung zu denken und zu sprechen. Denken ist sowohl eine rezeptive als auch eine produktive Fähigkeit, nämlich Nachdenken über Wahrgenommenes und ein durch Erinnerung gestütztes »Lernen, wozu alles Wahrgenommene nützlich ist«, aber auch das eigenständige »Ersinnen von vielem«, mit dem Menschen sich Förderliches aneignen und Schädliches von sich fernhalten (IV 3, 11). Die Art und Weise, in der diese Fähigkeiten ineinander greifen, ist ein Zeichen dafür, dass die kognitiven Kräfte der menschlichen Natur auf Kooperation angelegt sind und dabei auf verschiedene Weise das eine Ziel verfolgen, die eigenen Lebensverhältnisse zu sichern und zu verbessern. Deutlich wird damit aber auch, dass Menschen mit der göttlichen Fürsorge noch nicht alles Notwendige für ihre Lebensführung besitzen, sondern selber lernen müssen, mit ihren Fähigkeiten richtig 66 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

umzugehen. Weil allein die Vernunft sowohl sich selbst als auch die übrigen Kräfte der menschlichen Natur richtig einschätzen kann, ist »Vernünftigsein« im Kern ein selbstbezüglich-praktisches Können, während jedes vernünftige Individuum eine sich selbst regierende Einheit darstellt, die ihre verschiedenen Kräfte nach der Regel proportionaler, d. h. geometrischer Gleichheit zu einer kooperativ-arbeitsteiligen »Gemeinschaft« verbindet. Weil die hierarchisch-kooperative Struktur dieser Fähigkeiten nicht auf Willkür oder Gewalt, sondern auf einer Vernunft beruht, die ihr Ordnungswissen durch »Unterweisung« geltend macht, ist vernünftige individuelle ›Selbstregierung‹ auch der normative Orientierungspunkt für ›gute‹ politische Herrschaft. Die begrenzten kognitiven Kräfte der menschlichen N ­ atur wären mit der Bewältigung zu groß geschnittener Aufgaben überfordert und müssten dann zusammenbrechen, während sie in der Konzentration auf zu klein geschnittene nicht in der Lage wären, ihren spezifischen Beitrag zur menschlichen Lebensführung zu leisten. Vernünftige Lebensgestaltung gleicht deshalb einer gut durch­gerech­neten Investition knapper Güter 63 , die am besten gelingt, wenn sie sich auf die Kunst dialektischer Untersuchung stützt. Sie wiederum kommt nur im Rahmen einer kommunikativen Praxis zur Geltung64 , die nicht von Natur aus besteht, sondern voraussetzt, dass ›jemand zusammen mit denen, die um ihn sind (sÝn to‹j sunoàsi), ein bestimmtes Untersuchungsverfahren (tÕn trÒpon tÁj ™piskšyewj) in Gebrauch nimmt, um Sachverhalte (t¦ pr£gmata) im Blick auf verschiedene Arten (kat¦ gšnh) ihres Bestehens und Wirkens durchzusprechen (dialšgesqai) und dabei zu klären, was jede einzelne Sache ist (t… ›kaston e‡h tîn Ôntwn) und für die menschliche Lebensführung bedeutet‹. 65 Die dialektische Praxis konstituiert also einen Raum gegenseitiger Verständigung, in dem jeder seine Einsichten so darlegt, dass alle daran teilhaben. 66 Die Kraft, die ihn begründet, ist die Tugend der Selbstbeherrschung, für die es zur Gewohnheit geworden ist, durch die genaue Prüfung einzelner Vorstellungen und Meinungen eine Überzeugung herzustellen, die dem gemeinsamen Handeln Ziele und Mittel vorgibt. 67 Die optimale Verwirklichung der dialektischen Praxis besteht darin, »das Stärkste« (t¦ kr£tista), was im menschlichen Lebenszusammenhang wirksam ist, nicht nur »in Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 67

der Rede, sondern auch im Tun nach Arten zu unterscheiden«. Nur in diesem Rahmen lässt sich die Kernfrage der Ethik, nämlich die nach dem höchsten Gut und dem schlimmsten Übel, in der praktischen Absicht stellen, dem Besten so nahe wie möglich zu kommen und sich vom Schlechtesten so weit wie möglich fern zu halten (IV 5, 11). Die darauf bezogene Untersuchung erzeugt deshalb als eine von sich aus bereits gute Praxis genau die Lebensform, die einerseits für die daran Beteiligten das größte menschliche Glück bedeutet und andererseits »Männer« hervorbringt, die sich am besten für politische Führungsaufgaben eignen (IV 5, 12) und dadurch das Beste zum Glück anderer beitragen können. Die richtige ›In-Gebrauchnahme‹ der dialektischen Praxis erschließt zusammen mit den verschiedenen Arten des Wissens auch das Muster, nach dem Wissensgüter auf die beiden einzigen vernunftbegabten Lebewesen, nämlich auf Götter und Menschen, verteilt sind. Den Göttern kommt das beste Wissen zu, das »alles weiß, was ist und sein wird« (Symp. IV 48), so dass nur sie die »größten Dinge« kennen (Mem. I 1, 8: t¦ mšgista, vgl. I 1, 13), während den Menschen die Einsicht in das innere Wesen und Wirken der Götter (I 1, 12 und 15) und in das der Gesamtnatur (I 1, 11: ¹ tîn p£ntwn fÚsij, vgl. I 1, 14) verschlossen bleibt. 68 »Größte Dinge«, die Menschen nicht wissen, betreffen aber auch ihre eigenen Angelegenheiten. Insbesondere sind das Gelingen und die Folgen von Handlungen zum Zeitpunkt ihrer Planung und ihrer Umsetzung weitgehend unbekannt. 69 Da besonnene Menschen die Grenzen ihres Handlungswissens kennen, bitten sie die Götter, ihnen durch »Zeichen« (Mantik) zu bekunden, ob ihr Vorhaben zu etwas wirklich Gutem führt oder nicht.70 Da man sich fürsorgliche Götter wiederum nur so vorstellen kann, dass sie denen, die »fromm« ihre Gunst erbitten, solche »Zeichen« auch geben (I 1, 9)71, kann es sogar zwischen Göttern und Menschen ›Gemeinschaft‹ geben, die dann genau wie eine gute zwischenmenschliche Verbindung auf ›Unter­ weisung‹ und gegenseitigem Wohlwollen beruht.72 Als fürsorgliche Verteiler aller Güter haben die Götter den Menschen also nicht das größte, sondern ein kleineres Wissen »zum Erlernen und alsdann zum Tun bestimmt« (Mem. I 1, 9), nämlich das auf menschliche Verhältnisse bezogene Berechnungswissen73 und ein Gestaltungswissen, das zum einen Artefakte herstellt und 68 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

zum anderen in sozialen Zusammenhängen wirksam wird.74 Die Gebundenheit der menschlichen Natur an diese Formen des Wissens ist zeichenhaft daran zu erkennen, dass diejenigen, die »größte Dinge« berechnen und etwa die »Natur des Weltalls« nach Gattungen unterscheiden wollten, keine Gemeinschaft des Wissens oder des Handelns begründet, sondern nur ein Kampffeld widersprüchlicher Meinungen aufgemacht haben. Da dieses Feld der Struktur der Antilogie75 und dem damit verbundenen Gesetz der Isosthenie unterliegt, kann dort keine eindeutige Wahrheit gefunden werden.76 Diejenigen, die dieses Feld betreten, gleichen deshalb Wahnsinnigen, die man eben daran erkennt, dass sie mit »ihren Meinungen einander entgegenstehen«.77 Vernünftige Menschen kümmern sich dagegen nur um ein Wissen, das in vertretbarer Zeit erlernbar, anderen mitteilbar und für das Handeln hilfreich ist (I 1, 15). Ihr Vorbild ist Sokrates, der ausschließlich »über menschliche Dinge untersuchend gesprochen« und dabei Einsichten über »das Fromme und Gottlose, Schöne und Schändliche, Gerechte und Ungerechte, Besonnenheit und Torheit, Tapferkeit und Feigheit, die Polis und den Politiker, die Herrschaft über Menschen und den Herrscher in einer Polis sowie über alles andere gewonnen hat«, was ein Mensch wissen muss, der sich durch das Merkmal der Kalokagathie auszeichnen will (I 1, 16). Xenophons Sokrates distanziert sich deshalb auch von einer Ethik, die ihre Norm des Guten jenseits der erfahrbaren Wirklichkeit verortet und deshalb dort wirkungslos bleibt, wo Menschen über ihr Zusammenleben beraten und entscheiden. Nur derjenige, der wie Sokrates dem Beispiel des Odysseus bei ­Homer folgt und in seiner Rede den »Weg über durchaus allgemein Anerkanntes« nimmt, gewinnt für seine »Überlegung die rechte Sicherheit«.78 Das ist vor allem in der politischen Auseinandersetzung wichtig, in der der eine diesen und der andere jenen Politiker als den »weiseren« oder »besseren« bezeichnet. Sokrates empfiehlt deshalb, die stets strittigen Lobreden auf einzelne Personen und ihre Taten auf die allgemeine Frage nach der »Aufgabe eines guten Bürgers« zurückzuführen. Von dieser Grundfrage aus lässt sich ein umfassendes Bild guter Politik entwerfen, nach dem nur derjenige »in der Verwaltung von Geldern der Tüchtigere ist, der den Staat reicher an Geldmitteln macht … und im Kriege der, welcher ihn über die Gegner siegen lässt.« Und ausschließlich der Gesandte, Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 69

der in der Fremde »Freunde gewinnt anstelle von Feinden«, erweist sich als besonnener Außenpolitiker, während einzig dem Redner, der in der Volksversammlung »Zwietracht beseitigt und Eintracht schafft«, der Ruf zukommt, ein guter Innenpolitiker zu sein (IV 6, 14). Das Entstehen und Bestehen ›guter Gemeinschaft‹ und ›guter Herrschaft‹ setzt die Praxis eines ständigen Wettbewerbs (II 3, 17) im Lernen, Üben und im Austausch nützlicher Güter voraus. Xeno­phons Ethik ist deshalb nicht nur Individual-, sondern auch Institutionenethik. Sie legt es nahe, das Leben in der Polis so zu gestalten, dass die Besten den Ehrgeiz entwickeln, sich gegenseitig an »Selbstbeherrschung« und »Besonnenheit« zu übertreffen (II 3, 16–19)79, d. h. vor allem Reden zu halten, die auf andere wie »Zaubergesänge« (™pJda…)80 , oder Taten zu vollbringen, die auf andere wie »Liebestränke« (f…ltra) wirken. Nach der Wechselwirkungsregel des Tausches von Gabe und Gegengabe entsteht in einem derartigen Wettbewerb eine besonders intensive Form von »Eintracht«, die für jeden Personenverband das »höchste Gut« darstellt (IV 4, 16). Der Wettbewerb um Tüchtigkeit bedeutet für die Polis, dass nur diejenigen regieren, die als die Besten »in Wort und Tat« (II  6, 14) anerkannt sind. Sie stehen deshalb den Regierten nicht wie Mächtige den Ohnmächtigen oder wie Starke den Schwachen gegenüber, sondern lenken und gestalten eine Gemeinschaft, in der sich jeder am allgemeinen Besten orientiert (II 6, 12). Dadurch, dass Xenophon rhetorische »Zaubergesänge« Perikles 81, »Liebe« entfachende Taten Themistokles zuschreibt (II 6, 13)82 und im Symposion Solon lobt, weil er »durch Nachdenken (filosof»saj) der Stadt die besten Gesetze gegeben hat«, entwirft er ein umfassendes Bild ›guter‹ politischer Kunst. Mit dem Lob der Spartaner als ausgezeichneter Heerführer erhält es zusätzlich einen militärpolitischen und einen nicht nur auf Athen, sondern auf ganz Griechenland bezogenen Akzent (Symp. VIII 39). Xenophon vertritt kein einfaches Modell sozialer Harmonie. Vielmehr bejaht er die Tatsache, dass Personen und Personenverbände, die »am meisten um das Gute bemüht sind und deshalb mit dem Schlechten am wenigsten zu tun haben« wollen, am stärksten miteinander konkurrieren, so dass ihr Wettkampf leicht in »Feindschaft« übergeht (II 6, 19). Freundschaft kann es weder zwischen ›Schlechten‹ noch zwischen ›Guten‹ und ›Schlechten‹, sondern 70 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

nur zwischen gleich ›Guten‹ geben, aber nur dann, wenn Freundschaft »durch ihre Feindschaft hindurchdringt« (II 6, 22: di¦ toÚtwn p£ntwn ¹ fil…a diaduomšnh sun£ptei toÝj kaloÚj te k¢gaqoÚj). Hinter dieser Formulierung steht letztlich der Gedanke Heraklits, dass die beste Einheit aus dem Zusammenwirken von Gegensätzlichem hervorgeht. Anders ausgedrückt: Es geht um die paradoxe Verbindung von Konkurrenz und Konsens oder um eine Form der Einheit, die nicht vom kleinsten gemeinsamen Nenner diktiert wird, sondern durch den Kooperationswillen verschiedener, gleich starker und sich gegenseitig respektierender Kräfte zustandekommt. »Kriegerische« Antriebskräfte (t¦ polemik£) wie »Streit«, »Zorn«, »Begierde nach Mehr« (toà pleonekte‹n œrwj) oder »Missgunst« (fqÒnoj) sollen deshalb nicht gegen »freundschaftliche« (t¦ filik£) ausgetauscht werden. 83 Vielmehr muss das politische Handlungsfeld so organisiert sein, dass dort solidarische Hilfe zwischen Starken und beiderseits vorteilhafte Streitbeilegungen die größte Anerkennung finden, während »die Teilhabe an politischen Ämtern« so geregelt ist, dass Amtsträger nur in dem Maße ›Ehre‹ gewinnen, wie ihre Amtsführung dem ›Wohl des Vaterlandes‹ dient (II 6, 23–25). 2. Die Wahl der besten sozialen Gestaltungskraft

Die wichtigste Aufgabe der dialektischen Praxis besteht darin, Personen und Personenverbände bei der Wahl der Gestaltungskraft zu unterstützen, die für ihre Lebensführung die beste ist. Das Problem, das sich damit stellt, verdeutlicht Xenophon im Rekurs auf den Mythos des Prodikos von der Wahl des Herakles zwischen Tugend und Laster. 84 Dabei folgt er dem für seine Anthropologie zentralen Gedanken vom Zusammenwirken zwischen »Natur« und »Übung«, nach dem nicht primär die natürliche Veranlagung das eigene Leben prägt, sondern die Kraft, die durch Übung so stark geworden ist, dass sie die anderen Fähigkeiten in ihrem Sinne lenken kann. Nicht die Kallikles-Regel vom Vorrang der natürlichen Kraft, sondern die rhetorische Kunstregel von der Verstärkung des anfänglich Schwachen, aber langfristig Besseren ist die Maxime, die Xenophons Ethik zugrunde liegt. Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 71

Die »Seele«, die ihre Grundkraft wählen muss, ist in einem gedachten Anfangsszustand eine plural strukturierte, in sich bewegliche Konglomeration von Kräften, so dass sie sich nur durch intensive Übung einer ihrer Fähigkeiten zu einheitlicher Bestimmtheit profilieren kann. Zuvor aber gehört die Seele zu einem Körper, in dem wie in der Kindheit leibbestimmte Lustgefühle dominieren, so dass diese sie leicht »überreden« können, ihren Wünschen nachzugeben. 85 Das Leben gleicht dann einer irregulären Sequenz einzelner Lustmomente, die vom wechselhaften Gegeneinander verschiedener, hinsichtlich ihrer Stärke und Schwäche schwankender Triebimpulse gesteuert wird. Die Seele kann aus diesem bellum omnium contra omnes nur herauskommen, wenn sie ihre besseren Kräfte durch Übung (¥skhsij) so weit verstärkt, dass sie die Impulse des leibnahen Strebens nach Lust kontrollieren. Ziel dieser Übung ist der Gewinn einer Selbstbeherrschung, d. h. einer Autonomie, die die Seele befähigt, ihren eigenen vernunftbestimmten Intentionen zu folgen. Da die ethische Übung seelischer Kräfte derselben Regel folgt wie das athletische Training körperlicher Kräfte 86 , setzt vernunftbestimmte Tüchtigkeit kontinuierliche Übung voraus, so dass sie verfällt, wenn die auf sie gerichtete Übung nachlässt. 87 ›Tugend‹ entsteht demnach nicht einfach aus ›gutartiger‹ Natur, sondern aus einem besonderen ›Willen zur Macht‹, der primär Macht über sich selbst ist. Die Einsicht, dass ausschließlich besonnenes Denken zur Selbstbeherrschung führt, kann jedoch nur für Personen handlungsbestimmend werden, die durch ihre Natur bereits entsprechend veranlagt sind und sich deshalb von der Übung in dieser Tüchtigkeit besondere Vorteile versprechen dürfen. 88 Das Streben nach Selbstbeherrschung ist deshalb in Xenophons Ethik ein Streben nach Macht. Nur diejenigen, die aufgrund ihrer natürlichen Begabung mit Aussicht auf Erfolg nach der Ehre streben können, in ihrem sozialen Umfeld als die besten Ratgeber über das Nützliche anerkannt zu sein, nehmen die Anstrengung auf sich, ihre besten Kräfte, die auch die besten sozialen Gestaltungskräfte sind, durch konstante Übung so stark wie möglich zu machen. 89 Die Entscheidung für die Übung vernünftiger Kräfte lässt sich aber auch rational durch eine dialektische Untersuchung der beiden stärksten Machtquellen begründen, die in der sozialen Welt 72 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

wirksam sind: ›Gewalt‹ und ›Überzeugungskraft‹. So wird evident, ›dass Gewalt Feindschaft und Gefahren nach sich zieht, weil gewaltsam Unterworfene sich wie Beraubte vorkommen und deshalb dem, der sie unterworfen hat, mit Hass begegnen‹, während das Überzeugen andere beschenkt, so dass sie dem, der sie überzeugt hat, als ihrem Wohltäter »freundschaftlich« gesonnen sind. Da selbst der Stärkste beim Einsatz von Gewalt Kampfgenossen benötigt, die ihm wiederum nur nützen, wenn auch sie sich durch physische Durchsetzungsmacht auszeichnen, ist er nicht nur mit der Gegengewalt der Unterworfenen90 , sondern zusätzlich mit der konkurrierenden Gewalt seiner ›Verbündeten‹ konfrontiert. Da Gewalt mit struktureller Notwendigkeit das bellum omnium contra omnes erzeugt, in dem auch der Stärkste seine Macht allenfalls punktuell behaupten kann, wird sie nur von Personen und Personenverbänden gewählt, »die Kraft ohne Einsicht besitzen«. Mit derselben Sicherheit wird deutlich, dass man mit Hilfe einer wohl trainierten Überzeugungskraft andere ›lebend für sich gewinnt‹ und damit eine stabile, weil von gegenseitigem Wohlwollen getragene Gemeinschaft begründet (I 2, 9–11). Die Wahl zwischen »Tugendhaftigkeit« und »Schlechtigkeit« kommt in der Polis auf jeden jungen Mann zu, der auf seinem Weg von der Kindheit zum Erwachsenen das Übergangsstadium des ›selbständig gewordenen Jünglings‹ (Ephebie) erreicht hat (II 1, 21). In diesem Zustand hat sich der Herakles des Prodikos auf die Position eines »unschlüssig Überlegenden« (II 1, 21) zurückgezogen, so dass ihm »Tugendhaftigkeit« und »Schlechtigkeit« als weibliche Gestalten vor Augen treten und sich im Wettbewerb ihrer Reden darum bemühen konnten, ihn von den jeweiligen Vorzügen ihrer Lebensweise zu überzeugen. Die »Schlechtigkeit«, die sich in trügerischer Rede als »Glückseligkeit« (II 1, 26) vorstellt, verspricht ein Leben des Genusses aller möglichen Güter bei gleichzeitiger Entlastung von der Mühe ihres Erwerbs91, während die »Tugendhaftigkeit« behauptet, dass wirkliches Glück einzig aus einem kontinuierlichen Bemühen um »das Gute, Schöne und Heilige« hervorgeht92 und deshalb nur eine heroische Stärke, die sich nicht zur Hybris des Unrechttuns versteigt, aber Schwächere vor ungerechter Übermacht schützt, die Gunst der Götter, die Gegenliebe der Freunde, hohes Ansehen in der eigenen Polis und die Bewunderung aller Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 73

Griechen gewinnen kann (II 2, 28). Zu ihr gehört deshalb auch der ›Gebrauch‹ physischer Kraft, politisch gesehen der »kriegerischen Kunst«, die sich selbst und den »Freunden« nützt und denen ­schadet, die sich dem tugendhaften Handeln als »Feinde« entgegenstellen.93 Grundlage der richtigen Verwirklichung heroischer Kraft ist der ›gute‹, durch Belehrung fundierte und durch Übung auf Dauer gestellte Wille zur Besonnenheit. Der Sieg über die Neigung zur Gewalt ist deshalb nur nachhaltig, wenn er mit der Einübung in eine Handlungsstärke einhergeht, die ›Gewalt‹ nicht grundsätzlich ausschließt, sich aber vorrangig auf Überzeugungskraft und Kooperationsbereitschaft stützt und deswegen Lasten nicht einseitig auf andere verteilt, sondern so weit wie möglich selbst übernimmt. Die Wahl des Herakles ist dafür insofern vorbildlich, als man sie auf einen innerseelischen Lernprozess zurückführen kann, bei dem das Hören auf gegensätzliche Reden über die beste Gestaltungskraft des menschlichen Lebens in eine schweigend vollzogene dialektische Untersuchung ihrer jeweiligen Beschaffenheit und ihrer sozialen Folgen übergegangen ist. Weil sie zu der Erkenntnis führt, dass das Gute in der sozialen Welt in stabilen Bindungskräften und das Schlechte in ihrer Zerstörung besteht, gehört zum Tun des Guten auch die Fähigkeit, das Schlechte notfalls mit Gewalt zu bekämpfen, wenn man es durch besonnenes Reden nicht bändigen kann. 3. Das Muster ›guter‹ Herrschaft und die Bedingungen ihrer Verwirklichung

Xenophons Ethik stützt sich auf den Grundbegriff des inhaltlich offenen Strebens nach Vorteilen und ist deshalb eine Lehre über die Mittel, mit denen Personen oder Personenverbände ihren Nutzen fördern können. Wenn man sich die Freiheit nimmt, die scherzhafte Rede des Kritobulos in Xenophons Symposion aus ihrem Kontext zu isolieren und als Aussage ernst zu nehmen, dann enthält sie eine Zusammenstellung der wichtigsten Mittel für das Streben nach Vorteilen: physische Stärke, Handlungstapferkeit und eine Doppelgestalt der Überzeugungskraft: die belehrende Rede, die sich an die Vernunft richtet, und göttergleiche Schönheit, die die Sinne 74 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

eines Menschen an sich bindet. In einer ökonomischen KostenNutzen-Rechnung erweist sich die Investition als die beste, die mit möglichst geringen Kosten den größten Gewinn erzielt. Physische Stärke und Handlungstapferkeit sind in jedem Fall mit größerem Aufwand verbunden als der Einsatz der Überzeugungskraft, wobei die Wirkung der Schönheit überhaupt nicht auf Anstrengung beruht und an Stärke sogar die überzeugende Rede übertrifft.94 Da im Handlungsfeld der Politik alle vier Mittel ›gebraucht« werden, ist die beste politische Herrschaft diejenige, die sich beim Einsatz ihrer Mittel so weit wie möglich auf Überzeugungskraft stützt. Sie hat außerdem den Vorteil, dass sie das göttliche Glücksgut der Schönheit in sich aufnehmen und als ›schöne‹ Rede, ›schönes‹ Gesetz oder ›schönes‹ Handeln nach außen tragen kann. Sie verwirklicht dadurch wahre menschliche Größe95 , die »etwas vom Wesen eines Königs« an sich hat 96 und dem Göttlichen so nahe kommt, dass sich, nach dem Gesetz, dass Gleiches auf Gleiches wirkt, auch die Kraft des göttlich Guten (qe‹on ¢gaqÒn) mit ihr verbinden kann (Oec. XXI 11  f ). Gute Herrschaft gewinnt als »königliche Kunst«97 die optimale Vorteilsposition des ›unbeneideten Glücks‹. Sie setzt jedoch den Sieg »im herrlichsten und edelsten Wettstreit unter den Menschen« voraus (Hieron XI 7), der nur errungen wird, wenn der Regierende die Regierten mit der größtmöglichen Liebesgabe beschenkt und dafür mit gleich großer Gegenliebe belohnt wird (XI 11), nämlich einem freiwilligen Gehorsam, der die Bereitschaft einschließt, für das als gemeinsam erfahrene Gute auch das ­eigene Leben einzusetzen.98 ›Königliche‹ Herrschaft ist ein normativer Begriff, der das Gute nicht inhaltlich, sondern als eine soziale Funktion beschreibt, die nur unter ganz besonderen Bedingungen zustande kommt. Nur im Blick auf diesen normativen Sinn kann man sagen, dass ihr Inhaber als allgemein anerkannter ›Wohltäter‹ ›unbeneidetes Glück‹ und damit das höchste Gut genießt, das ein Mensch überhaupt besitzen kann (XI 15). Obwohl Xenophon ›gute Herrschaft‹ in der Regel monarchisch dekliniert und als personale Herrschaft beschreibt, lassen sich ihre Qualitäten auch auf einen demokratisch verfassten Personenverband übertragen99, sofern er sich auf der mittleren Bahn zwischen tyrannisch-oligarchischer und radikal-demokratischer Herrschaft bewegt.100 Xenophons Sokrates wendet sich deshalb sowohl gegen Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 75

Kritias, den »habsüchtigsten, gewalttätigsten und mordlustigsten« Vertreter der bürgerfeindlichen Oligarchie, als auch gegen Alkibiades, den »zügellosesten, übermütigsten und gewalttätigsten« Vorkämpfer der radikalen Demokratie (I 2, 12). Beide sind zu politischer Führung ungeeignet, weil sie ihre »unschönen Begierden« (2, 24) zu dem Ehrgeiz gesteigert haben, »alles nur durch« und für »sich selbst«, aber nichts durch kooperatives Handeln und zum Wohl der Polis »geschehen« zu lassen (2, 14). In den Bildern, die Xenophon von Kritias und Alkibiades entwirft, geht es nicht um eine Darstellung ihres individuellen Handelns, sondern um eine typologisierende Beschreibung von Handlungsmustern und ihren sozialen Folgen. Dabei stehen »Ehrsucht, Habsucht und Mordlust« für physische Gewalt. Zu ihr kommt bei Alkibiades noch die physische Wirkungsmacht körperlicher Schönheit hinzu. Sie hat ihm in Athen die rückhaltlose Verehrung »vieler vornehmer Frauen«, »angesehener Männer« und des einfachen Volkes verschafft und ihn deshalb in der Meinung bestärkt, in der Polis »der Erste« und von allen enthusiastisch Geliebte zu sein.101 Seine Politik war dadurch gegen jede Kritik immun, so dass die von ihr ausgelöste Bewegung, weil niemand der ihr zugrunde liegenden und von ihr verbreiteten ›Zügellosigkeit und Gewalttätigkeit‹ entgegengetreten ist, Alkibiades selbst und die von ihm beherrschte Polis unaufhaltsam ins Verderben getrieben hat. Weder der Tausch von Liebe und Gegenliebe noch die Wirkungsmacht der Schönheit sind für Xenophon reine Quellen des Guten. Das wird daran deutlich, dass er in der Kyrupädie am Beispiel des persischen Reichsgründers das Bild eines schönen Herrschers zeichnet, der im Gegensatz zu Alkibiades »menschenfreundlich und lernbegierig« war und deshalb »jede Anstrengung auf sich genommen hat, um die Achtung und Anerkennung« anderer »zu erringen«.102 Politik ist also nicht schon dadurch ›gut‹, dass sie einer ›Menge‹ als das Schöne erscheint, und ein Politiker nicht schon dadurch, dass sich die ›Menge‹ in einer Art Massenhysterie allein schon von seiner Erscheinung beeindrucken lässt. Vielmehr setzt ›gute‹ Politik sowohl bei den Regierenden als auch bei den Regierten Selbstbeherrschung und damit die Bereitschaft zur Selbstkorrektur voraus, die Alkibiades, Kritias und ihren jeweiligen Anhängern gefehlt hat.103 Beide haben als »Jünglinge« zwar Umgang 76 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

mit Sokrates gesucht, aber nicht aus Einsicht in eigene Defizite oder dem Willen, sich in einer besseren Lebensweise zu üben, sondern weil sie in seiner Verbindung von Dialektik und belehrender Rede eine ihnen unbekannte, aber offensichtlich erfolgreiche Wirkungskraft gesehen haben.104 Aufgrund ihrer andersartigen Natur haben sie aber den Besonnenheitskern des sokratischen Könnens überhaupt nicht wahrgenommen, sondern sich nur seine technische Außenseite angeeignet, um den eigenen Machtwillen in der Polis besser durchsetzen zu können.105 Solange ihre Natur noch nicht gefestigt war, haben sie unter dem Einfluss des Sokrates zwar ihre »unschönen Begierden« so weit »unterdrückt« (I 2, 24 und 26), dass sie sich sogar aus Überzeugung besonnen verhalten haben (2,  18). Nachdem aber ihre eigene Gewaltnatur zu voller Stärke heran­gewachsen war, haben sie sich von ihm wie von einer fremden Kraft getrennt und nur noch mit solchen Personen verbunden, die für die Wirkung gewaltfundierter Kraft besonders empfänglich waren.106 In einem fiktiven Gespräch des Sokrates mit dem gleichnamigen Sohn des großen Perikles107, das Xenophon in die letzten Jahre des Peloponnesischen Krieges verlegt, geht es um die Bedeutung des Nachdenkens über ›gute Herrschaft‹ für die Polis seiner eigenen Zeit, nämlich um die Grundlagen ›guter‹ Politik, die Ursachen ihres Verlusts sowie die Möglichkeit ihrer Erneuerung. Den Ausführungen dazu liegt stillschweigend die Vorstellung zugrunde, dass politische Macht natürlicherweise dem Wechsel von Entstehen und Vergehen unterliegt. Xenophon argumentiert deshalb sowohl mit einem Verfallsschema, das den Verlust von Stärke beschreibt, als auch mit einem Schema der Krisenbewältigung, das die Möglichkeit des Wiedergewinns verlorener Stärke thematisiert. Das Schöne, das im Handlungsraum verloren ist, kann deshalb in einem Bild erinnert werden, das durch seine Schönheit zur Nachahmung des Dargestellten auffordert. In der Schlussphase des Pelo­ ponnesischen Krieges haben die Athener ihre frühere politische und moralische Stärke verloren. Dennoch können sie sich daran erinnern, dass ihre Vorfahren wegen ihrer Abstammung von autochthonen und göttlich aufgezogenen Urkönigen in ihrem Streben ›nach Ruhm‹ mehr als alle anderen Griechen einem ›Denken des in Wahrheit Großen‹ gefolgt und deshalb keiner Gefahr ausgewichen Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 77

sind. Tugendhaftigkeit hat die »um (sc. ihren Urkönig) Kekrops« Versammelten befähigt108 , den Götterstreit um den Kultbesitz Attikas gegen Poseidon zugunsten Athenes zu entscheiden.109 Mit derselben Tüchtigkeit hat der Nachfolger des Kekrops, der ebenfalls der Erde entstammende und von Athene in ihrem Tempel aufgezogene Erechtheus, im frommen Gehorsam gegen das Gebot des Delphischen Orakels mit dem Opfer des Lebens seiner Tochter die Stadt vor dem Zugriff des gegnerischen Eleusis gerettet, das unter Führung des Poseidon-Sohnes Eumolpos Athen zum Kultort seines Vaters machen wollte.110 Weitere Beweise athenischer Tüchtigkeit waren die Kriege unter Theseus, die Hikesiepolitik und die Tapferkeitsleistung der Perserkriege, in deren Verlauf die Polis »einmal allein auf sich gestellt (Marathon) und das andere Mal gemeinsam mit den Peloponnesiern zu Lande und zu Wasser« (Plataiai und Salamis) die eigene und die Freiheit aller Griechen verteidigt hat (III 5, 7–12). Als Urheber so vieler »schöner Taten«, wie sie »kein anderes Volk« aufzuweisen hat, haben die Athener in ganz Griechenland einen Wettbewerb ausgelöst, in dem sich andere Städte darum bemüht haben, es ihnen gleich zu tun.111 Wenn sie also ihre gegenwärtige Schwäche überwinden wollen, müssen sie den Wettkampf mit ihren eigenen Vorfahren und den Spartanern aufnehmen, weil diese als erfolgreiche Nachahmer alt-athenischer Tüchtigkeit »jetzt an erster Stelle« in Griechenland stehen (III 5, 14). Xenophon geht es jedoch nicht um ein auf Athen fixiertes, sondern um ein allgemeines Muster politischer Tüchtigkeit (5, 15), von dem auch Sparta nach seinem Sieg über Athen wieder abgewichen ist.112 Die gegenwärtige ›schlechte‹ Politik führt in ganz Griechenland zur Verabsolutierung individueller Interessen, so dass »Streit« und »Feindschaft« ein rechtlich fundiertes Zusammenleben und kooperative Politik verhindern. Trotzdem sind die Regeln ›guter‹ Politik in Athen peripher noch wirksam113 , obwohl in ihrem ›radikal‹ demokratisch organisierten Machtzentrum Gesetzlosigkeit herrscht. Das Heilmittel dagegen kann deshalb nur das Gesetz sein, das als kommunikativ begründete Macht die Eintracht der Bürger stärkt (5, 15  ff ) und sie auffordert, in der Nachahmung »alter Tüchtigkeit« (5, 7) ihr Handeln am allgemeinen Willen auszurichten und den eigenen Vorteil durch den Einsatz für das allgemeine Wohl zu fördern (Cyr. I 6, 21). Die Wirkungskraft des Gesetzes gleicht 78 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

derjenigen eines ›guten‹ Herrschers, dem »alle freiwillig folgen«, weil sie sein Handeln als Dienst an der Allgemeinheit empfinden. Wenn die Angehörigen der gegenwärtigen politischen Führungsschicht aus einem unbegründeten Überlegenheitsgefühl zu »Sorglosigkeit, Leichtsinn und Ungehorsam« tendieren, kann dem nur die vernünftig begründete »Furcht« vor Gesetzlosigkeit und ihren desaströsen Folgen entgegenwirken und sie zur Selbstkritik, zum Gehorsam gegen das Gesetz und vor allem zur Arbeit an einer poli­ tischen Ordnung anhalten (Mem. III 5, 5: eÙtax…a), die das allgemeine Wohl in den Vordergrund stellt und deshalb dafür sorgt, dass die schriftlich fixierten Gesetze mit den ungeschriebenen Gesetzen der Götter übereinstimmen.114 Xenophon zeigt am Beispiel des Sokrates, wie aus der besonnenen ›Ingebrauchnahme‹ der öffentlichen Rede ein sozialer Zusammenhang entstehen kann, in dem die Meinung des besten Bürgers die seiner Mitbürger prägt. Dem liegt die begriffliche Vorstellung eines Kontinuums zugrunde, das sich im Ausgang von einem zen­tralen Punkt zu einem homogenen Wirkungskreis erweitert. Innerhalb dieses Wirkungskreises, den man sich auch als das Resultat der vollständig entwickelten Praxis dialektischer Untersuchung vorstellen kann, gelten die Normen der freiwilligen Kooperation, des offenen Wettbewerbs und des gegenseitigen Wohlwollens. Wirkungskreise des Schlechten sind dagegen von einer Naturkraft bestimmt, die als physische Gewalt oder als Mischung aus erotischer Attraktions- und demagogischer Verführungskraft eine ›Menge‹ von Menschen an sich bindet. Wenn sie sich durchsetzen, existiert ›gute‹ Herrschaft nur noch im Erinnerungsbild oder als Fremdprojektion (Kyros). Und nur wenn diese Bilder als das ›Schöne‹ wirken, besteht die Hoffnung, dass ihre Betrachter die ›Mühe‹ auf sich nehmen, die darin aufscheinende Kraft erneut in den Handlungsraum zu übertragen.

Die Bedeutung der besonnenen Rede in Xenophons politischer Ethik  | 79

D. Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik

Isokrates hat als ›Schüler‹ des Gorgias115 den Begriff der Sprache als sozialer Gestaltungskraft im Rückgriff auf die sophistische Theorie der Kulturentstehung begründet und auf die Geschichte griechischer, insbesondere athenischer Politik bezogen. Weil die Sprache den Unterschied zwischen dem animalischen und menschlichen Leben ausmacht, wird die Art, in der sie soziale Verhältnisse herstellt, zur normativen Vorgabe für eine politische Ordnung, die der menschlichen Natur gerecht wird. Der Blick des Isokrates auf griechisch-athenische Geschichte ist nicht der eines Historikers, sondern der eines Diagnostikers und Kritikers der Politik seiner Zeit. Wenn sie erneut vom Machtfaktor ›Überzeugungskraft‹ geprägt werden soll, muss in seiner Sicht vor allem die ›Verfassung‹ Athens von einer ›radikalen‹ wieder auf eine aristokratische Demokratie umgestellt werden. Nur sie kann jedem Bürger ökonomischen Wohlstand auf der Grundlage eigener Arbeit sichern und damit die Voraussetzung dafür schaffen, dass eine Polis innerlich befriedet ist, wirtschaftlich prosperiert und auf dieser Grundlage kooperative Außenpolitik betreibt. Im Rahmen seiner Überlegungen zur Interdependenz zwischen Verfassungs- und Außenpolitik entwirft Isokrates einen Begriff des politischen Handelns als situationsgerechter Verbindung von ›gesetzgeberischer‹ und ›kriegerischer Kunst‹, der wegen seiner Verbindung von normativen und pragmatischen Überlegungen und aufgrund seines Verständnisses für die Eigendynamik machtpolitischer Prozesse auch in systematischer Hinsicht Beachtung verdient.116 Das Isokrates-Kapitel des vorliegenden Buches beginnt mit einer Darstellung der Grundzüge seiner rhetorisch fundierten PolisEthik. Er entwickelt sie im Rahmen einer Theorie der Kulturentstehung, die Athen als den singulären Ort beschreibt, an dem die ›tierische‹ Daseinsform erstmals überwunden und zu einem spezifisch menschlichen Leben umgestaltet worden ist. Dazu hat auch die Begründung einer politischen Gemeinschaft gehört, die andere zur Nachahmung eingeladen und dadurch den Raum des menschlichen Lebens kontinuierlich erweitert hat. Der zweite Abschnitt thematisiert die Unterscheidung zwischen ›guter‹, rechtlich gebundener, auf Überzeugungskraft gegründeter und ›schlechter‹, recht80 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

lich ungebundener, gewaltgestützter Politik. Sie betrifft die Geschichte Athens insofern, als Isokrates die nach 500 unvermeidlich gewordene Umstellung des Hauptinstruments der ›kriegerischen Kunst‹ vom Hoplitenheer auf Flottenverbände als den Vorgang interpretiert, der in Athen den Machtfaktor ›Gewalt‹ gegenüber der Überzeugungskraft verstärkt und damit nicht nur eine außenpolitische, sondern auch eine verfassungspolitische Dynamik ausgelöst hat, die schließlich im gesamten Hellenikon ›gute‹ Politik verhindern musste. Im dritten Abschnitt geht es in Bezug auf das 4. Jh. um Voraussetzungen für die Wiederbelebung ›guter‹ Politik nach einer Phase partiell glanzvoller, aber langfristig katastrophaler thalassokratisch-imperialer Gewaltpolitik. Der vierte Abschnitt wirft einen Blick auf griechische Erfahrungen mit kooperativer Politik, während der fünfte und letzte zeigen soll, dass Isokrates die problematischen Voraussetzungen bewusst gewesen sind, unter denen es der politisch verantwortlichen Rhetorik tatsächlich gelingen kann, ›gute‹ Politik zur Wirkung zu bringen. 1. Die Überwindung des tierischen Daseins a) Die Kultur begründende Kraft der Sprache und ihre Bedeutung für die Polis

Den Grundsatz seiner rhetorisch fundierten Polis-Ethik hat Isokrates bereits um 370 in einer fiktiv dem zypriotischen König Niko­k les in den Mund gelegten Rede an seine Untertanen formuliert und in der späten Antidosis-Rede des Jahres 354/53 unter Berufung auf seinen früheren Text wörtlich wiederholt. In beiden Reden gehört dieser Satz in den Zusammenhang einer Verteidigung der Rhetorik gegen den Vorwurf, sie diene lediglich der persönlichen Gewinnsucht profilierungssüchtiger Egoisten und zerstöre deshalb die Grundlagen des gemeinschaftlichen Lebens (or. 3, 1 und 15, 243  ff ). Gleichzeitig geht es dabei um eine Bestimmung der richtigen Form des Strebens nach Vorteilen117, die den ›Glauben‹ erzeugen und festigen soll, dass Nutzen und Schaden einer Sache weniger von ihren intrinsischen Eigenschaften als von der Art ihres Gebrauchs (crÁsij) abhängen.118 Im Kern will Isokrates die Adressaten seiner Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 81

Reden davon überzeugen, dass die ars bene dicendi für die menschliche Lebensführung das entscheidende Schlüsselgut darstellt, weil sie als »Kunst« genau die Fähigkeit verstärkt, »die von allem, was zur menschlichen Natur gehört, die Ursache der meisten Güter ist. Denn aufgrund des anderen, was wir besitzen, haben wir keinen Vorteil vor den übrigen Lebewesen, sondern vielen sind wir an Schnelligkeit, Körperkraft und anderen nützlichen Eigenschaften unterlegen. Doch weil uns die Fähigkeit gleichsam eingepflanzt ist, einander zu überreden und, was auch immer wir wollen, deutlich zu machen, haben wir uns nicht nur von der tierischen Lebensweise befreit, sondern, nachdem wir zusammengekommen sind, Städte gegründet, Gesetze aufgestellt und Künste erfunden. Ja bei fast allem, was von uns eingerichtet worden ist, ist das vernünftige Sprechen der entscheidende Mitbegründer (Ð sugkataskeu£saj) gewesen. Das vernünftig gesprochene Wort (Logos) hat nämlich in Bezug auf das Gerechte und Ungerechte sowie das Schöne und Schändliche verbindliche Regeln aufgestellt (™nomhqšthsen), ohne die wir nicht miteinander leben könnten. Mit der Sprache weisen wir die Schlechten zurecht und loben die Guten, erziehen wir die Unvernünftigen und ehren wir die Verständigen. Denn reden zu können, wie es jeweils nötig ist (æj de‹), halten wir für das deutlichste Zeichen des guten Denkens (toà frone‹n eâ mšgiston shme‹on), und das aufrichtige, gesetzestreue und gerechte Wort ist das Abbild einer guten und vertrauenswürdigen Seele (yucÁj ¢gaqÁj kaˆ pistÁj e‡dwlon). Mit Hilfe der Sprache setzen wir uns wettkämpferisch mit Strittigem auseinander (perˆ tîn ¢mfisbhths…mwn ¢gwnizÒmeqa) und untersuchen wir das Unbekannte (perˆ tîn ¢gnooumšnwn skopoÚmeqa). Wir bedienen uns derselben Formen des Glaubwürdigmachens (p…steij), mit denen wir als Redende andere überzeugen, auch bei unseren eigenen Überlegungen. Leute, die vor der Masse reden können, bezeichnen wir als redegewandt, und für wohlberaten halten wir diejenigen, die mit sich selbst am besten über die Angelegenheiten des Lebens in ihrem Für und Wider Untersuchungen anstellen können. Wenn es also erforderlich ist, zusammenfassend über die Macht (dÚnamij) der Sprache zu reden, so werden wir finden, dass nichts von dem, was auf vernünftige Weise geschieht, ohne Sprache zustande kommt, sondern bei allem Tun und Denken die Sprache der leitende Anführer (¹gemîn) ist und am häufigsten von denen in Gebrauch genommen wird, die am meisten Vernunft besitzen.«119

Bereits in der Nikokles-Rede wird aus dieser Überlegung die Folgerung gezogen, »dass zwar alle Arten sprachlicher Äußerung gut 82 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

sind, sofern sie uns auch nur ein wenig nützen können«, dass aber »die schönsten Reden« diejenigen sind, »die Anregungen geben zur richtigen Lebensweise und zum politischen Zusammenleben« (3, 10). Derselbe Gedanke kommt in der Antidosis-Rede dadurch zum Ausdruck, dass sie den besonderen Nutzen öffentlicher Reden über »allgemeine und nützliche Themen« (15, 258) mit dem Nutzen anderer Wissenschaften vergleicht, die gegenwärtig im Erziehungsprogramm für die jungen Männer aus den besten Familien der Polis eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören die Eristik, also die Kunst der Streitrede, die lehrt, wie man jede Behauptung aus­einander nehmen und mit einer gut begründeten Gegenbehauptung beantworten kann, aber auch Grammatik, Musik, Astronomie und Geometrie, die ähnlich wie für Xenophons Sokrates »völlig außerhalb dessen stehen, was notwendig ist«. Weil sie weder »mit dem Leben zu tun haben noch Hilfestellung für unser Handeln geben« (262), entfernt sich das Bewusstsein derjenigen, die sich zu intensiv mit diesen Wissenschaften befassen, von der Welt des Notwendigen, in der es primär auf vernünftiges Handeln ankommt. Dennoch sind diese Wissenschaften insofern nützlich, als die Arbeit an ihren »Spitzfindigkeiten« junge Leute zwingt, die »Aufmerksamkeit schwer erlernbaren Gegenständen zuzuwenden, und sie daran gewöhnt, bei dem, was gesagt wird, zu verweilen«, statt »die Gedanken abschweifen zu lassen«. Sie sind deshalb eine vorzügliche »Übung«, die darauf vorbereitet, »leichter und schneller wirklich bedeutende Gegenstände zu erfassen« (264  f ). Für den Umgang mit den für die menschliche Lebensbewältigung entscheidenden Problemen ist jedoch die Redekunst zuständig, die Themen aufnimmt, »die der Menschheit nützen und die Allgemeinheit angehen« (276). Weil sie sich, wie schon Gorgias betont hat, nicht auf eindeutiges Wissen, sondern nur auf Meinungen stützen kann, die sich häufig widersprechen, setzt sie als spezifisch menschliche ›Weisheit‹ die Fähigkeit voraus, innerhalb von Meinungen »meistens das Beste zu treffen« und so in Worte zu fassen, dass die Zuhörer dem Vorgetragenen aus innerer Überzeugung zustimmen (278). Dem steht als Hindernis eine andere Form von ›Weisheit‹ entgegen, die auf Liebe zu »Beschreibungen auffallender Naturerscheinungen« im Sinne der »alten Sophisten« beruht, womit die Vertreter der ionischen Naturphilosophie gemeint sind. Da der eine von Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 83

ihnen behauptet, ›die Masse alles Seienden sei von unbestimmter Vielheit, Empedokles hingegen, es gebe vier Elemente, zwischen denen Streit und Liebe herrsche, während Ion nicht mehr als drei, Alkmaion zwei, Parmenides und Melissos nur eines und Gorgias gar nichts als Grundgestalt des von Natur aus Seienden‹ ansetzt120 , kann man diese Lehrsätze leicht in eine arithmetisch gebaute Skala von Antilogien eintragen, die im Ausgang vom Extremwert ›Nichts‹ über die Reihe der natürlichen Zahlen von eins bis vier den antipodischen Extremwert des unbestimmt Vielen erreicht. Für Isokrates ist das ähnlich wie für Xenophon ein sicheres Zeichen dafür, dass diese Aussagen nichts anderes sind als Kunstprodukte einer auf Zahlenverhältnisse eingeschworenen Phantasie und deshalb mit der rerum natura selbst nichts zu tun haben. Auch bei ihm liegt der Kritik an dieser Form von ›Weisheit‹ die Überzeugung zugrunde, dass »Wissen« ein knappes Gut ist und deshalb ausschließlich dafür eingesetzt werden muss, die Grundlagen der menschlichen Lebensführung zu untersuchen und die Fähigkeit auszubilden, unter den Meinungen, die sich darauf beziehen, »meistens die beste zu treffen«. Der Orientierungspunkt dafür ist der alte ethische Imperativ, »gegenüber den Göttern die größte Frömmigkeit zu zeigen und sich am meisten um ihre Verehrung zu bemühen« und »gegenüber seinen Angehörigen und Mitbürgern das vortrefflichste Verhalten an den Tag zu legen« (282). Da es nicht schwierig ist, diese Meinung ausfindig zu machen oder in Worte zu kleiden, kommt es für Isokrates offensichtlich darauf an, sie für bestimmte Situationen zu konkretisieren und damit das jeweils Erforderliche zu treffen. Genau darin aber besteht das Geschäft des politischen Redners, der selbstverständlich »die ganze Gattung der Beweisgründe« (p©n tÕ tîn p…stewn e�doj) mit ihren »Wahrscheinlichkeitsargumenten (t¦ e„kÒta) und Bezeugungen (tekm»ria)« kennen (280), aber vor allem beachten muss, dass die Zustimmungsfähigkeit seiner Rede hauptsächlich davon abhängt, dass er (1) aufgrund seines bisherigen Auftretens das Ansehen eines tüchtigen und glaubwürdigen Redners genießt, der willens und in der Lage ist, seinen Mitbürgern mit gutem Rat nützlich zu sein, und (2) seine Rede auf gut ausgesuchte und klug zusammengestellte »Beweisgründe« stützt, die im Unterschied zu den Reden der alten ›Weisen‹ nicht irgendwelchen künstlichen Mustern folgen, sondern »durch das Leben bestätigt« 84 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

(278: p…steij ™k toà b…ou gegenhmšnai) und deshalb allgemein nachvollziehbar sind. In der Sicht des Isokrates ist die Kunst der politisch verantwortlichen Rede gegenwärtig in der Gefahr, aus der Polis verdrängt zu werden. Athen ist zwar immer noch ein Raum der Kommunikation, aber zu viele, die als Philosophen oder Redner den öffentlichen Sprachgebrauch am meisten beeinflussen121, verwenden ihr Können so, dass dies der politischen Gemeinschaft keinerlei Nutzen bringt oder sogar ihre Grundlagen untergräbt. So suchen Philosophen in der platonischen Akademie oder im Lykeion das »in Wahrheit Seiende« in einer »Natur der Dinge«, die für die Welt des menschlichen Handelns ohne Bedeutung ist.122 Andere wollen ihre Schüler vom Wahrheitsgehalt solcher Sätze überzeugen, die mit ihrem propositionalen Gehalt von allgemein anerkannten Meinungen auf befremdliche Weise abweichen123 , oder ihnen die Fähigkeit vermitteln, sich mit argumentativer Raffinesse in »Streitgesprächen« durchzusetzen. Einige Redner wiederum sprechen mit ausgesuchtester Kunst über Subtilitäten, die keinerlei öffentliches Interesse beanspruchen, oder unterminieren mit Lobreden auf das »Schlechte« und Schmähreden auf das »Gute«124 das traditionelle Ethos.125 Isokrates sieht deshalb seine Lebensaufgabe darin, dem Bedeutungsverlust der öffentlichen Rede entgegenzuwirken. Das geschieht (1) durch die Gründung einer Schule (ca. 390), die sich auf den Unterricht in der politischen Rede konzentriert, und (2) durch die schriftliche Fixierung von Musterreden, die an die Kultur öffentlicher Rede anknüpfen, der die Polis nach seiner Auffassung die »größten Güter« verdankt.126 In diesen Reden geht es zwar auch um bestimmte Ziele und Mittel athenischer oder gesamtgriechischer Politik127, vor allem aber um die Wiederbelebung der Überzeugung, dass nur der Gebrauch der öffentlichen Rede, den die besten Politiker Athens in der Vergangenheit von ihr gemacht haben (sollen), die Grundlagen einer guten Bürgergemeinschaft sichern kann. Voraus­setzung dafür ist, dass die Bürger aufgrund ihrer Erziehung darin geübt sind, die »wahrhaftige, gesetzliche und gerechte Rede« (15, 256), die ihren Gehalt (gravitas) »aus der Beschäftigung mit der Philosophie«128 und ihre Wirkungsmacht (suavitas) aus der Dichtung gewinnt129, von schlechten Reden zu unterscheiden und nur der besseren im eigenen Denken und Handeln zu folgen. Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 85

Welche Kraft Isokrates der ›guten‹ Rede zutraut, macht er im Panegyrikos des Jahres 380 in einem Bild von der Entstehung der Polis Athen deutlich, in dem sie in exemplarischer Weise als Geburtsort menschlicher Kultur erscheint.130 Da sich die Entstehung der Kultur der direkten Anschauung entzieht, entwirft er im Rahmen ›wahrscheinlicher‹ Rede eine Reihe sich gegenseitig ergänzender Bilder, die diesen Vorgang auf das Zusammenwirken göttlicher und menschlicher Kräfte zurückführen. Damit soll deutlich gemacht werden, dass die Entstehung menschlicher Kultur ein komplexer Vorgang ist, der nicht monokausal erklärt werden kann, und dass dabei ein fragiles Gut entsteht, das immer wieder neu gekräftigt werden muss. b) Athen als Entstehungsort menschlicher Kultur

In Anknüpfung an ›sophistische‹ Theorien der Kulturentstehung behauptet Isokrates, dass am Anfang des menschlichen Daseins das ungeregelte, von der Macht des Stärkeren bestimmte Leben der Anomie und des disparaten Nebeneinanders labiler Sozialverbände gestanden hat. Er möchte deshalb die Kräfte identifizieren, die diesen Zustand überwunden haben. Allgemein gilt, dass sie nicht »von Natur aus« vorhanden waren, sondern »nach und nach« »in gemeinsamer Anstrengung erworben werden« mussten (4, 32). Die Aussage, dass dies nur einem ungewöhnlich erfindungsreichen und zugleich außerordentlich frommen Volk gelingen konnte (33), charakterisiert die Kräfte der Kulturbegründung als Ausnahmegüter. Für ihre begriffliche Beschreibung stützt sich Isokrates nicht auf die sophistische Vorstellung vom Gegensatz zwischen »Natur« und »Kunst«, die ohnehin relativiert werden muss, weil ›Kunst‹ eine ›natürliche‹ Fähigkeit zumindest als Vorgabe voraussetzt, sondern auf den besser durchdachten Begriff entfaltungsfähiger, aber auch entwicklungsbedürftiger »Natur«. Dabei muss ein Können zur Wirkung kommen, das sich mit gleicher Intensität auf die menschliche und die göttliche Welt bezieht. Es zeigt sich dabei einerseits als dynamisch-expansive Bewegung, in der die lebensnotwendigen Künste erfunden werden, die den menschlichen Handlungsspielraum kontinuierlich erweitern, andererseits als sich selbst begren86 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

zende Bewegung, aus der die Tugend der Frömmigkeit hervorgeht, mit der Menschen die Götter bitten, ihnen zu ›schenken‹, was sie für ein kontinuierlich prosperierendes Leben benötigen, aber aus eigener ›Kunst‹ allein nicht herstellen können. Für sein Bild vom Anfang menschlicher Kultur greift Isokrates auf ›allgemein verbreitete Annahmen‹ zurück, wie sie insbesondere im Mythos zum Ausdruck kommen. Für das Thema der Kultur­ entstehung liegt es nahe, den Mythos von Demeter, Hades und Persephone aufzunehmen, wie er exemplarisch im ps.-homerischen Demeter-Hymnus überliefert ist.131 Inhaltlich geht es dort um die prekären Bedingungen des menschlichen Lebens, das durch einen innergöttlichen Konflikt bedroht ist und nur auf der Grundlage eines für den gesamten Kosmos tragfähigen Ausgleichs zwischen der Welt des Lebens und der Gegenwelt des Todes Sicherheit gewinnen kann. Dafür muss die Macht des Totenreiches, das alles an sich reißen will, zwar anerkannt, aber auch so weit begrenzt werden, dass der Welt des Lebens die Kraft eigenständigen Wachstums erhalten bleibt. Isokrates verändert den überlieferten Mythos, indem er seine narrative Dimension verkürzt und die Handlung von Eleusis nach Athen verlegt. Dadurch, dass er sein Bild von der menschlichen Kulturentstehung auf den »glaubwürdigen« Wahrheitskern (t¦ pist£, tÕ e„kÒj) einer Geschichte stützt, die von »vielen Menschen« erzählt und außerdem durch ›gegenwärtige Bräuche‹ bestätigt wird, präsentiert er sich als »vernünftiger Redner«, der nicht willkürlich Eigenes erfindet, sondern im Rekurs auf mythisch und kultisch beglaubigte Vorstellungen »angemessene Gedanken« entwickelt, sie in eigener Rede »treffend darstellt« und davon »im rechten Augenblick Gebrauch macht«. 132 Im ps.-homerischen Hymnus glaubt Demeter, nach dem Raub ihrer Tochter durch den Herrn des Totenreiches ihre ›Ehre‹ als Göttin verloren zu haben. Sie reagiert darauf mit einer Blockade des vegetativen Wachstums, die nicht nur »das ganze Geschlecht der Sterblichen« ausrotten, sondern auch die ›Ehre‹ der olympischen Götter beschädigen würde, weil es dann niemanden mehr gäbe, der ihnen »rühmende Opferspenden« entgegenbrächte (2, 148 und 305  ff ). Als Antwort auf Demeters Weigerung, ›Freudenspenderin und Helferin der Götter und Menschen‹ zu sein (ebd. 268  f ), findet Zeus eine Konfliktlösung, die die Präsenz Persephones im Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 87

Totenreich auf ein Drittel des Jahres beschränkt, sie aber für einen zwei Mal größeren Zeitraum mit ihrer Mutter oberhalb des Erdbodens zusammenleben lässt und damit für Demeter so vorteilhaft ausfällt, dass sie, ohne ihr Gesicht zu verlieren, »wieder Früchte wachsen lässt, den Menschen zur Nahrung« (469). Als Gegengabe dafür, dass sie bei der Suche nach ihrer Tochter im eleusinischen Herrscherhaus freundlich aufgenommen wurde, vermittelt sie Triptolemos und den anderen Königen, die dort »das Recht verwalten«, die Kenntnis der Agrikultur. Isokrates knüpft an diesen Mythos insofern an, als auch bei ihm die Überwindung des ›tierischen‹ Zustands das Zusammenwirken von göttlicher ›Gabe‹ und menschlicher Tätigkeit voraussetzt. Die ›Annahme‹, dass die Einführung der Agrikultur der entscheidende Schritt zur Überwindung des nomadischen Lebens war, stimmt für ihn mit einer ratio­ nalen Rekonstruktion der menschlichen Frühgeschichte überein, weil erst dadurch die Nahrungsbeschaffung von den Gewalt- und Zufallsaktivitäten des Raubes und der Jagd unabhängig und zur Sache einer regelgeleiteten Kunst werden konnte.133 Agrikultur bedeutet außerdem Kooperation von »Natur« und »Kunst«, bei der sich menschliches Können einer Regelhaftigkeit der Natur unter­ ordnet, sich aber zugleich auch ihrer bedient und dadurch den ­eigenen ›Nutzen‹ fördert. Demeter verbindet im Mythos die Gabe der Agrikultur mit der Stiftung des Mysterienkults, der alle »Rede verstummen lässt« und darin die Unterordnung der Menschen unter die Macht der Götter zum Ausdruck bringt (473  ff ). Der Mysterienkult vermittelt zugleich die Erfahrung der Einheit von Tod und Leben und macht damit deutlich, dass auch Sterbliche ›Seligkeit‹ und ›Glück‹ erfahren können.134 Für Isokrates hängt die Stabilisierung des menschlichen Lebens ebenfalls vom Vertrautsein mit »süßeren Hoffnungen« ab, weil nur sie die Menschen mit der dunklen, vom Tod und von gewaltsamer Zerstörung gekennzeichneten Seite ihres Daseins versöhnen können.135 In seiner Rede kann er die Eleusinier, die der Demeter-Hymnus als »Erdgeborene« anspricht, leicht in Athener verwandeln, die dem eigenen Mythos nach als autochthone Bewohner ihres Landes diese Bezeichnung eher als alle anderen Griechen verdienen.136 Der Entstehungsgrund Athens ist deshalb nicht Gewalt oder Raub. Seine Bewohner bilden auch kein zufällig zustande 88 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

gekommenes »Gemisch … aus vielen Völkern«, sondern sie dürfen sich einer »schönen, edlen Herkunft« und der Tatsache rühmen, dass sie ihren angestammten Lebensort »ohne Unterbrechung« bis in die gegenwärtige Zeit bewohnen (4, 24). Dass die Athener die Gabe der Göttin verdient haben und sie deshalb nicht willkürlich, sondern gerecht gehandelt hat, wird aber auch daran deutlich, dass die Beschenkten die Menschenfreundlichkeit der Göttin nachgeahmt und das von ihr Erhaltene bereitwillig an andere weitergeben haben (4, 29)137. Athen wird damit zum Zentrum einer Welt des L ­ ebens, die sich von der Gegenwelt des Todes absetzt138 und sich danach zum Großraum erweitert, indem er zunächst seine griechisch besiedelte Nachbarschaft in sich aufnimmt und dann in Gestalt der Kolonisation in die Welt der »Barbaren« vordringt (4, 34  ff ). Mit der Beseitigung des Nahrungsmangels hat Athen die »Gefahren des Krieges« prinzipiell überwunden und darüber hin­ aus »fast alle übrigen Einrichtungen des gesellschaftlichen, politischen und alltäglichen Lebens« sowohl erfunden als auch in der gesamten Welt verbreitet (4, 26  f ). Mit Athen entsteht auch ein Raum politisch-rechtlicher Ordnung, der sich durch ökonomischen Wohlstand, soziale Homogenität und kulturelle Vielfalt auszeichnet. Er wächst durch zwei verschiedene Bewegungsformen. Ihre erste und wichtigste ist die Selbstbewegung, mit der die Polis Gesetze im Sinne einer Verfassung und eine effektive Form der Rechtspflege einführt, die alle Streitigkeiten, insbesondere die, in denen es um Blutschuld geht, statt mit Gewalt durch vernünftige Rede klärt (39  f ). Dieses Beispiel regt die anderen Griechen dazu an, die von den Athenern begründete Lebensform nachzuahmen. Die andere Bewegungsform, die den Raum des Lebens erweitert, ist zwar gewaltgestützt und nach außen gerichtet, wird aber nur zum Schutz von Griechen eingesetzt, die sich aus eigener Kraft nicht gegen Unrecht wehren können (Hikesiepolitik). Weil Athen ein Ort umfassender Kommunikation ist, d. h. Handelsplatz, Hafenstadt und panhellenischer Festspielort, wirken von dort aus Kräfte, die in ganz Griechenland zwischen Personen, die sich in ihren natürlichen Fähigkeiten, Vermögensverhältnissen, der Versorgung mit Gütern und in ihrer rechtlichen Stellung unterscheiden, »Verwandtschaftsempfinden« und gegenseitiges WohlIsokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 89

wollen begründen (41–44). Während der Handel Unterschiede zwischen Armut und Reichtum so weit ausgleicht, dass daraus keine gewaltsamen Konflikte entstehen, kommen bei öffentlichen Festen »viele an einem Ort zusammen«, um »Freundschaften« neu zu schließen oder alte zu bekräftigen. Nicht zuletzt sind panhellenische Feste Wettbewerbsveranstaltungen, bei denen die Sonderleistung Einzelner den Unterschied zwischen »Guten« und »Schlechten« nicht zum Konflikt verstärkt, sondern als »Gabe« der Besseren an »gewöhnliche Leute« wirkt, die daraufhin die Schenkenden als ihre »Wohltäter« verehren.139 Die soziale Bindungskraft, die daraus resultiert, kommt im Ausgang von Athen zu besonderer Wirkung, weil dort »die größten Kampfpreise« an überragende Redner, Denker und Künstler vergeben werden, die in der Sichtweise des Iso­ krates für das Bewusstsein griechischer Einheit Wichtigeres leisten als Athleten, die lediglich für ihre körperliche Tüchtigkeit ausgezeichnet werden.140 Zudem kann man in Athen das ganze Jahr hindurch kunstreich ausgestattete »Schaustücke« (45: qe£mata) bewundern, so dass die Stadt ein ununterbrochenes »Fest« inszeniert und auch aus diesem Grund intensiver als jede andere das Gefühl griechischer Identität und Solidarität festigt. Das Lob Athens, das auf der konkreten Aussageebene der Pan­ egyrikos-Rede Propaganda ist und so auch wirken soll141, lässt sich, wenn man den Eigennamen »Athen« durch den Begriff ›gute Herrschaft‹ ersetzt und damit die ›Materie‹ der Rede aus der quaestio finita in die quaestio infinita transponiert, als allgemeine Darstellung für die Entstehung einer spezifisch menschlichen Gemeinschaftsform verstehen, die vom Ort ihrer Genese aus nach a­ ußen wirkt und dabei kontinuierlich Teile eines zunächst größeren, durch Nahrungsmangel und Krieg charakterisierten Raumes nach ihrer Regel umgestaltet. Da aber vom Schlechten hinreichende ›Restmengen‹ übrig bleiben, die als Störpotentiale in den Raum des Guten hineinwirken, ist die Grenze zwischen rechtlich gehegter Macht und destruktiver Gewalt nie definitiv gesichert. Der Raum des Guten muss deshalb immer wieder seine Eigenkraft erneuern und die Gegenmächte schwächen, die in ihm selbst aufkommen oder ihn von außen bedrohen. In der Reihe der in Athen erfundenen Künste kommt der Philosophie und dem von ihr geleiteten Umgang mit der Sprache 90 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

die Schlüsselrolle zu. Unter »Philosophie« versteht Isokrates die Liebe zu der Art von »Weisheit«, die »uns zum Handeln erzieht, im gegenseitigen Verhalten milde stimmt« und damit die elementare Voraus­setzung für ein verlässliches Zusammenleben herstellt (4, 47). Das ›tierische‹ Dasein ist zunächst ein kompakter Zusammenhang potentiell tödlicher Übel. Wenn es dagegen überhaupt erste Lebensverhältnisse geben soll, müssen die Menschen in der Lage sein, innerhalb der Übelmenge zwischen zwei Arten zu unterscheiden, nämlich zwischen solchen, die auf Notwendigkeit beruhen und deshalb hingenommen werden müssen, und solchen, die auf eigener Unwissenheit beruhen und deshalb bekämpft werden können. Nur das zum Maximum verstärkte Streben (= ›Liebe‹) zu der ›Weisheit‹, die diese Unterscheidung gleichsam ›stiftet‹, erzeugt die ›süßere Hoffnung‹ (4, 28), dass die anfänglich unübersehbar vielgestaltige Übelmenge reduziert und dadurch ein erster, aber tragfähiger Ansatz von Lebensmut gewonnen werden kann.142 Mit der Unterscheidung zwischen dem, was man in der eigenen Hand hat, und dem, was man nicht beeinflussen kann, führt die ›Philosophie‹ die Praxis des zielorientierten Handelns in das menschliche Dasein ein, so dass sie an der Erfindung aller Künste beteiligt ist (47), die das Leben im Sinne der Formulierung des Palamedes bei Gorgias »begehbar aus dem Wegelosen und geregelt aus dem Regellosen« machen (in Pal. 30). Gesetzgebung, Rechtspflege, eine politische Verfassung, die Organisation des Warenverkehrs, die Anlage von Handelsplätzen und Häfen, aber auch die Einrichtung von Festversammlungen, bei denen viele zu freundschaftlichem Miteinander und allerseits vorteilhaften »Wettkämpfen« zusammenkommen, alles das ist nichts anderes als realisierte Philosophie. ›Philosophie‹ ist primär Sorge dafür, dass das menschliche Leben, das wegen seiner ursprünglichen ›Armut‹ nur das Urteil zulässt, ›nicht geboren zu sein, sei das höchste aller Güter‹ (Sophokles, Oed. Col. 1224  ff ), einen ›Reichtum‹ erwirbt, der dieser Bewertung die Grundlage entzieht. Das gelingt jedoch nur als Rede, die ›arme‹ Menschen davon überzeugt, dass sie in gemeinsamer Arbeit die Anzahl der vermeidbaren Übel so weit verringern können, dass die dann noch verbleibende Restmenge gelassen zu ertragen ist. Die in diesem Sinne überzeugende Rede schafft Raum für die kommunikative Praxis des Lehrens und Lernens, die ihrerseits Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 91

die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass sich die Praxis des zielgerichteten Handelns im menschlichen Lebenszusammenhang stabilisiert. Diese Veränderung ist jedoch nur möglich, wenn die Menschen sich nicht mehr wie im gedachten Anfangszustand ihres Daseins mit gewaltbereiter Feindschaft, sondern in der Einstellung der »Milde« begegnen.143 Nur in einer verlässlich auf gegenseitiges Vertrauen eingestellten Welt kann das Wissen, dass Menschen die Sprache »als spezielle Gabe der Natur besitzen« und sich durch diesen »Vorteil … auch in allen anderen Bereichen von den übrigen Lebewesen unterscheiden« (48), zur ›Herstellung‹ politischer Gemeinschaften führen, die sich in ihrer Binnenordnung und in ihrem Handeln auf die kommunikative Gestaltungskraft der überzeugenden Rede stützen. Athen ist der Gründungsort menschlicher Kultur, weil sich dort der Umgang mit dem Wort nicht nur in technischer Hinsicht am reichhaltigsten entfaltet hat (15, 294  f ), sondern auch für die Verfassung der Polis bestimmend geworden ist. Nur in dieser Polis ist die Unterscheidung zwischen ›tierischem‹ und menschlichem Dasein ein zweites Mal zur Geltung gekommen, so dass politische Gestaltungsmacht (dÚnamij) dort nur Männern übertragen wurde, die mit ihrer ›edlen‹ Bildung und dem verantwortungsvollen Umgang mit der öffentlichen Rede ihre Mitbürger genau in der Fähigkeit übertroffen haben, durch die »sich das Wesen der Menschen von allen übrigen Lebewesen und das Geschlecht der Griechen von dem der Barbaren unterscheidet«.144 Die für jede politische Gemeinschaft prekäre Differenz zwischen Regierenden und Regierten beruht deshalb in Athen nicht auf der physischen Durchsetzungskraft eines Tyrannen, einer Oligarchie oder der breiten Masse, ebenso wenig auf dem sozialen Unterschied zwischen ›Reichen‹ und ›Armen‹, sondern allein auf dem ›Gebrauch‹ der Kunst, die den Unterschied zwischen menschlichem und ›tierischem‹ Leben ausmacht. Athen steht deshalb exem­plarisch für ›gute‹ Herrschaft, die an keine bestimmte Verfassungsform145 , auch nicht an ein bestimmtes Ethnos, sondern an allgemeine Normen wie Gerechtigkeit, Menschenfreundlichkeit und Gottgefälligkeit gebunden ist.146 Solange diese Doppelausrichtung auf die menschliche und die göttliche Wirklichkeit bestehen bleibt, werden ethische Unter­schiede, die es auch zwischen politisch-rechtlich Gleichen gibt, nach oben, d. h. zu Gerechtigkeit und Menschenfreundlich92 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

keit hin angehoben, so dass sich eine gegenteilige Gesinnung nicht durchsetzen kann.147 Näherhin gilt: Politik ist gerecht, wenn ihr zentrales Lenkungsinstrument das Gesetz ist und Gewalt nur gebraucht wird, um Recht gegen Un­ gerechtig­keit durchzusetzen.148 Krieg ist ein ›Mittel‹ der Politik, das nur im Kampf gegen »Barbaren« und gegen Griechen nur dann eingesetzt werden darf, wenn diese eigene Stammesgenossen bedrohen. Als Mittel zum Aufbau innergriechischer Dominanz verletzt Gewalt die Norm des Rechts und zerstört den Raum rechtlicher Herrschaft.149 Politik ist menschenfreundlich, wenn sie das Streben aller Bürger nach Vorteilen fördert, aber zugleich an die Norm des Rechts bindet. Andernfalls wird der Grundtrieb der menschlichen Natur zur Quelle der Tyrannis oder der Stasis, die beide die Polis als Rechtsgemeinschaft zerstören. Politik ist »gottgefällig«150 , wenn sie in der Nachahmung göttlicher Fürsorge auf Ausgleich und Kooperation bedacht ist, auf ein Streben nach Macht verzichtet, das den innenpolitischen Gegner aus der Polis vertreibt und das Verhältnis zu anderen Poleis so gestaltet, dass dies der Freiheit aller Griechen zugute kommt. ›Gute‹ Politik stützt sich damit auf eine Denkweise, die nach Isokrates zwar griechisch begründet worden, aber in ihrer Gültigkeit nicht auf die hellenische Welt beschränkt ist. 2. Der Gegensatz zwischen guter und gewaltgestützter Herrschaft

Wie Platon ist auch Isokrates ein entschiedener Kritiker der ­Polis seiner Zeit. Platon bringt das dadurch zum Ausdruck, dass er das »Muster« (par£deigma) guter Herrschaft in den intelligiblen Kosmos (Politeia 592 b) und damit in ein Jenseits zum politischen Handlungsraum verlegt. Isokrates verankert es zwar im politischen Handlungsraum, projiziert es aber in eine gedachte Vergangenheit, die den Zeitraum von der Entstehung Athens bis zu den Perserkriegen umfasst.151 Sein Muster ›guter Herrschaft‹ ist außerdem anders als das platonische so konzipiert, dass es – ähnlich wie bei Xenophon – von vornherein dem Wechsel von SchwäIsokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 93

chung und Wiederbelebung unterliegt. Allein aus der Einsicht in die Regel dieses Wechsels und in die Art, in der er die Geschichte Athens geprägt hat, lässt sich die gegenwärtige Situation der Polis richtig einschätzen. Im groben Umriss ist deren Geschichte so verlaufen: Eine spontan eingeführte Urverfassung152 wurde nach einer Periode der Schwächung von Solon wieder stark gemacht, aber dann durch ihre tyrannische Gegengestalt abgelöst (Peisistratos). Sie ist jedoch latent so weit wirksam geblieben, dass Kleisthenes sie nach der Vertreibung der Peisistratiden wieder herstellen und damit die Voraussetzung dafür schaffen konnte, dass die Athener die für ganz Griechenland bedrohliche Herausforderung durch die »barbarische« Gegenmacht der Perser aus eigener Kraft bewältigt haben. Sie mussten dafür jedoch das Schwergewicht ihrer ›kriegerischen Kunst‹ vom adligen Hoplitenheer auf eine Trierenflotte verlagern, so dass auch die nicht-adligen Bürger zu Kriegern geworden sind, die fast den gesamten Mittelmeerraum kontrollieren und deshalb auch andere griechische Städte beherrschen konnten. In einer Polis, in der die Bürger an allen Aktionsformen der Politik – Legislatur, Exekutive, Jurisdiktion und Kriegsdienst – direkt, wenn auch in abgestufter Weise beteiligt sind, muss der ›gesetzgeberischen‹ und der ›kriegerischen Kunst‹ ein gemeinsames Ethos zugrunde liegen.153 Eine substantielle Veränderung der Aktionsform ›kriegerischer Kunst‹ ist deshalb nicht nur eine strategisch-technische, sondern vor allem eine ethisch-politische Angelegenheit. Zum alten Ethos Athens »passte« das Agieren einer defensiven Landmacht, die sich mit dem von der Reiterei unterstützten Hoplitenheer auf die »besseren« Bürger und ihre traditionelle Standfestigkeitstapferkeit gestützt hat. Die Aktionsform einer Seestreitmacht setzt dagegen eine andere Einstellung voraus und schwächt deshalb das Ethos, auf dem die bisherige Handlungsstärke der Athener beruht hat.154 Die negativen Folgen dieser Umstellung treten nur deshalb nicht sofort in Erscheinung, weil sich die Athener in der Konstruktion des Isokrates nur aus Not und auf der Grundlage ihrer politischen Tugendhaftigkeit für eine thalassokratische Politik entschieden haben. Von daher sind sie ihrem alten Ethos verbunden geblieben, als sie einem neuartigen Raum geben mussten.155 Erkennbar werden die Folgen dieser Veränderung aber daran, dass die Polis als Füh94 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

rungsmacht des delisch-attischen Seebundes gegen die Verbündeten erbarmungslose ›Gewalt‹ eingesetzt hat, um die eigene Macht zu erhalten und auszuweiten. Ihre zunehmend als eigensüchtig empfundene Politik hat deshalb letztlich zu den Auseinandersetzungen des Peloponnesischen Krieges geführt. Nach dem Tod des Perikles ist das alte Ethos Athens weiter geschwächt worden, so dass die Polis am Ende dieses Krieges alle Machtressourcen verloren hat und für ihr Überleben auf das Wohlwollen des Siegers Sparta angewiesen war. Danach hat sich die Landmacht Sparta in kürzester Zeit zur Seemacht entwickelt. Da jedoch ihr Ethos die politische mit einer kriegerischen Kunst identifiziert hat, die dem Räuberethos des ›tierischen‹ Daseins nahegeblieben war156 , hat Sparta als Seemacht die Gewaltpolitik Athens an Rücksichtslosigkeit übertroffen157 und dadurch Gegenkräfte hervorgerufen, die auch Athen früher als erwartet die Chance geboten haben, auf das Feld militärischer Macht­politik zurückzukehren. Im Blick auf diese Entwicklung will Isokrates seine Mitbürger davon überzeugen, dass es für sie das Beste ist, den Gebrauch der wiedergewonnenen Macht den Regeln ›guter Herrschaft‹ zu unterstellen. Das setzt für ihn zusammen mit dem Verzicht auf imperiale Seemachtambitionen die bewusste Erneuerung des alten politischen Ethos und eine ihm entsprechende Re­organisa­tion der Verfassung voraus. Es gibt gute Gründe dafür, diese Sichtweise als rückwärts gewandten Konservatismus zu kritisieren. Sie ist aber auch Ausdruck der Überzeugung, dass ›gute‹ Politik einen institutionellen Rahmen benötigt, der zu ihr passt. Für einen konservativen Kritiker der von Ephialtes eingeführten ›radikalen‹ Demokratie wie Isokrates musste es nahe liegend sein, dafür an die Verfassung zu denken, die sich offensichtlich bis zu den Perserkriegen glänzend bewährt hat. Überlegungen zur Verwirklichung ›guter‹ Politik bestimmen auch die letzte auf Athen bezogene Rede des Isokrates, die sich mit ihrem Titel Panathenaikos (or. 12) den Anschein gibt, zum Festvortrag bei den Großen Panathenäen bestimmt gewesen zu sein.158 Sie ist zwischen 342 und 339 entstanden und gehört damit in die Zeit, in der Isokrates die Erneuerung ›guter Politik‹ nicht mehr von Athen oder einer anderen griechischen Polis159, sondern vom Makedonenkönig Philipp II. erhofft.160 Auch im Panathenaikos ist nur Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 95

die alt-athenische Verfassung ein Muster ›guter‹ Politik. Sie wird aber anders als im Panegyrikos wohl im Blick auf Philipp II. darauf zurückgeführt, dass die Urkönige Athens (Kekrops, Erichthonios, Theseus161) ihr »Volk« in besonderem Maße »zu Tüchtigkeit, Gerechtigkeit und starker Besonnenheit« erzogen haben (12, 138). Aus diesem Grund haben sich die Athener, nachdem Theseus »die Polis dem Volk zur Regierung übergeben hatte« (129), spontan die Verfassung gegeben162 , die zur demokratisch-aristokratischen Herrschaft der Besten und damit zu der Politik geführt hat, die ganz Griechenland zu dem im Panegyrikos beschriebenen Raum menschenfreundlicher Kultur gemacht hat.163 Am Anfang der athenischen Geschichte steht demnach ein eindrucksvolles Kontinuum des Guten, in dem das ›Volk‹ eigenständig weiterführt, was seine ›guten‹ Könige begründet haben. Für die Gegenwart stellt sich deshalb die Frage, ob und wie dieses ›Gute‹, das inzwischen verloren ist, in die Wirklichkeit zurückgeholt werden kann. Auch im Panathenaikos hält sich Isokrates von verfassungsrechtlichen Konkretisierungen fern164 , weil es ihm primär um das Ethos geht, das eine politische Lebensform so prägt, dass sich daraus die Regeln für die Entscheidungsfindung, Gesetzgebung, Ämterverteilung, Rechtspflege und die Organisation des Militärwesens von selbst ergeben.165 Nur das richtige politische Bewusstsein, nicht ein bestimmtes Ensemble gesetzlicher Vorschriften sichert Glück und Wohlstand der Bürger und befähigt sie, jede Art von »Unglück« von sich fern zu halten oder, wenn das nicht möglich ist, es besonnen zu ertragen.166 Wichtiger als die Unterscheidung zwischen Verfassungsformen (130  ff: Oligarchie, Demokratie, Monarchie) ist deshalb die Gegenüberstellung von zwei verschiedenen Typen des ›Gebrauchs‹ politischer Macht, die in jeder Verfassungsform vorkommen können, ohne an eine bestimmte gebunden zu sein. Das ist zum einen das ungehemmte Streben nach physischer Dominanz, bei dem die politische mit der »kriegerischen Kunst« identisch wird, und zum anderen das Streben nach Rechtlichkeit, das auch den ›Gebrauch‹ »kriegerischer Kunst« an rechtliche Normen bindet. Ungehemmtes Machtstreben führt zu einer »barbarischen« Form der Herrschaft (= ¢rc»), die nur an sich selbst interessiert ist und deshalb Schwächere mit tyrannischer Gewalt dem eigenen Dominanzanspruch unterwirft, Rechtlichkeitspoli96 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

tik hingegen zu kooperativer Herrschaft (= ¹gemon…a), die sowohl dem eigenen Interesse als auch dem der Verbündeten dient und sich deshalb in erster Linie auf das überzeugende Wort stützt.167 Gewaltpolitik bleibt dem ›tierischen‹ Dasein verhaftet und läuft, weil sie durch ihre »Ungerechtigkeit« Widerstand provoziert, auf ihre Selbstzerstörung hinaus. Überzeugungspolitik begründet und erhält dagegen das spezifisch menschliche Dasein, stabilisiert sich aus eigener Kraft und kann deshalb die mit ihr verbundenen Vorteile langfristig behaupten. Im Zusammenhang der Unterscheidung zwischen diesen beiden Einstellungen zu politischer Macht sind für Isokrates folgende Überlegungen von besonderer Bedeutung: (1)  Für jede politische Herrschaft gilt: Die Innenseite bestimmt ihre Außenseite.168 Es gibt deshalb keine bestimmte Verfassungsform, die aus sich ein gutes politisches Ethos erzeugen könnte. Vielmehr ist das Rechtlichkeitsethos der Bürger die alleinige Grundlage für eine ›gerechte‹ Außenpolitik, während interne Feindseligkeit auch in der Außenpolitik zu gewaltsamer Machtbehauptung führt.169 Die Innenseite der Politik ist aber nur unter der Voraussetzung »rechtlich«, dass am »Anfang« der Polis rechtlich gesonnene und von den Göttern begünstigte Könige vernünftige und gut veranlagte Bürger in ihrem Sinne »erzogen« haben. Das ›Gute‹ musste deshalb nicht »gewaltsam« in ihre ›Seelen‹ eingeführt werden, sondern war dort schon so weit angelegt, dass eine »milde«, auf Konsens beruhende Erziehung genügt hat, um sie nach dem Ende der Königsherrschaft zu befähigen, ihre sittliche Gesinnung in eine ihr entsprechende Verfassung zu übertragen. (2)  Die beiden Formen des Umgangs mit politischer Macht bilden auf der Ebene ihrer begrifflichen Beschreibung Gegensätze. Auf der Handlungsebene können sie jedoch aufeinander einwirken, sich dadurch verändern und sogar ineinander übergehen. Rechtlichkeitspolitik kann der Gewaltpolitik und diese wiederum der Rechtlichkeitspolitik den Boden entziehen. Das Letztere gilt besonders für den Fall, dass im Feld umstrittener Macht eine Aktionseinheit auftritt, die als Verbund von Land- und Seestreitkräften über neuartige Mittel zum Aufbau großräumiger Macht verfügt. In diesem Fall muss sich auch »rechtliche« Politik als See- und Landmacht positionieren und sich darauf einstellen, dass sie, um ihr Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 97

Übeleben zu sichern, auch Mittel einsetzen muss, deren ›Gebrauch‹ ihrem gewohnten Ethos widerspricht. (3)  Isokrates modifiziert im Blick auf diesen Befund seinen Begriff des politischen Handelns so, dass der Grund für eine Umstellung sittlich gebundener Überzeugungs- auf Gewaltpolitik auch auf der begrifflichen Ebene nachvollziehbar ist. Deshalb gilt: Jenseits der Differenz von Rechtlichkeit und Gewalt folgt Politik dem menschlichen Grundtrieb des Strebens nach Vorteilen.170 Sie ist also in ihrem nicht weiter reduzierbaren Kern ein interaktives Handeln, das im Wettkampf um den Besitz knapper Güter einen politisch-ökonomischen Vorteil erringen und so lange wie möglich behaupten will. »Macht« ist insbesondere dann ein besonders erstrebenswertes und deshalb besonders umstrittenes Gut, wenn um Schlüsselmacht gekämpft wird, mit der man ohne zusätzliche Anstrengungen und Risiken auf weitere Güter zugreifen kann. Das Motiv für das Streben nach Vorteilen ist der Wille zur Bewältigung von Notsituationen, so dass die Politik an eine Bedingung des ›tierischen‹ Lebens gebunden bleibt, die sie zwar mildern, aber nicht vollständig abstoßen kann. Konkrete Machtkonstellationen können der Rechtlichkeitspolitik entgegenkommen, sie aber auch im Kern bedrohen. Die Qualität einer politischen Aktionseinheit zeigt sich deshalb daran, dass sie auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen zwischen beiden Typen des ›Gebrauchs‹ politischer Macht situationsgerecht wechseln kann. Wenn sich eine Polis nicht aus Herrschsucht, sondern aus guten Gründen für eine Politik militärischer Machtbehauptung entschieden und in ihrem Rahmen Mittel eingesetzt hat, die die Grundlagen rechtlich fundierter Poli­ tik schwächen, zeigt sich ihre politische Qualität daran, dass sie die ›tierische‹ Aktionsform ihres Handelns so ›milde‹ wie möglich ›gebraucht‹ und so bald wie möglich auf rechtliche Politik zurückstellt, und zwar auch dann, wenn der Einsatz von ›Gewalt‹ für viele Bürger vorteilhaft gewesen ist. Isokrates diskutiert im Panathenaikos letztlich die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Moral. Dabei stellt er die Einsicht, dass Politik sich die Option militärischer Machtbehauptung offen halten muss, in den Horizont der weiter ausgreifenden Frage, ob und wie es möglich ist, das einmal mit Erfolg in Gang gesetzte Schema gewaltsamer Machtbehauptung auf rechtlich fundierte 98 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Politik zurückzustellen. Per definitionem gibt es in einer rechtlich fundierten Polis keine Umstellung von »guter« zu »schlechter«, sondern nur die zu »weniger guter« und vice versa nur die von »weniger guter« zu »besserer« Politik. Isokrates spricht über das Thema ›Politik und Moral‹ zusätzlich unter der Voraussetzung, dass ethische Einstellungen von Lebensgewohnheiten abhängen und diese wiederum von Situationen, die das Empfinden, Denken und Handeln vorprägen. Das Ethos einer politischen Gemeinschaft ist deshalb ein Mittel der Problemlösung und nicht das Produkt freier Wahl oder die Umsetzung eines gut begründeten normativen Wissens. Zur Zeit des Isokrates haben die Bürger Athens das homogene Ethos ihres imaginierten Anfangs verloren, weil sie im Rahmen der Modernisierung ihrer »kriegerischen Kunst« Personengruppen in ihre Mitte holen mussten, die zuvor an ihrem Rand (Theten, Metöken) oder außerhalb ihrer Grenzen (nomadisierende Söldner) gelebt haben.171 Die »alten« Bürger haben zwar auch verschiedene Lebensmuster (»Reiche« – »Arme«) gekannt, ohne dass dies jedoch ihr einheitliches Ethos gefährdet hätte. Während nämlich nach der Konstruktion des Isokrates die Ärmeren in der Lage und damit zufrieden waren, ihren Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen, haben die Reicheren ihre Ehre dadurch gesteigert, dass sie überschüssige Güter für das allgemeine Wohl (Liturgien) und überschüssige Zeit (»Muße«) dafür eingesetzt haben, als gewählte Amtsträger der Polis zu dienen.172 In der Polis befinden sich aber jetzt als Schiffebauer und Ruderer Personen, die »ihr Eigen­tum verloren« und sich deshalb daran gewöhnt haben, »ihren Lebensunterhalt aus fremden Mitteln zu beschaffen« (12, 116). Da deren normative Vorstellungen mit denen der ›alten‹ Bürger kollidieren, kann die zur Seemacht veränderte Polis ihre internen Spannungen nicht mehr auf der Grundlage eines einheitlichen Ethos bewältigen. Das Ethos, das Isokrates Schiffe­bauern und Ruderern unterstellt, ist in historischer Perspektive betrachtet kaum etwas anderes als eine parteipolitische Projektion. Die Begrifflichkeit, in der er es beschreibt, macht daraus eine Variante des Räuberethos, das in entfesselter Form die Epoche des ›tierischen‹ Daseins, aber auch die griechischen Verhältnisse in der Zeit nach Salamis geprägt hat. Insofern konstruiert er eine Situation, in der die Gefahr droht, dass das Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 99

›schlechtere‹ das ›bessere‹ Ethos verdrängt und das menschliche damit ins ›tierische‹ Dasein zurückfällt. Wenn man die Ausführungen des Isokrates zum Ethos der Bürger-Polis Athen nicht zum Nennwert nimmt und sie aus der quaestio finita in die quaestio infinita transponiert, kann man sie als begriffliche Simulation einer potentiell stasislastigen Krise verstehen. Im Blick auf sie lassen sich Fragen stellen, die für jede Art von Ordnungspolitik relevant sind. Kann eine Gesellschaft nach innen und außen rechtlich handeln, wenn größere Personengruppen einem primär egoistischen Ethos folgen, damit die bisherige Verteilung politischer Gestaltungsmacht und möglicherweise auch die der ökonomischen Güter in Frage stellen? Ist ethische Homogenität die Voraussetzung für ›gute‹ Politik? Wie weit verträgt das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gesellschaft ethische Unterschiede? Und wie ist es möglich, dass aus solchen Unterschieden keine unverträglichen Gegensätze werden? Sind ökonomische (Minimal-)Autarkie (›Grundsicherung‹) und ›Vollbeschäftigung‹ aller Bürger eine notwendige Voraussetzung für Rechtlichkeitspolitik? Was bedeutet es für die Stabilität rechtlicher Politik, wenn Bürgergruppen für ihren Lebensunterhalt auf ›fremde Hilfe‹ angewiesen sind, während wirtschaftlich besser Gestellte dafür nicht nur ihr politisches Gestaltungsmonopol aufgeben, sondern Bürgern, die sich durch ihr Ethos von ihnen unterscheiden, eigene Mittel für ihren Lebensunterhalt zur Verfügung zu stellen müssen (›Umverteilung‹)? Kann eine Polis nach außen Rechtlichkeitspolitik betreiben, wenn sie dem Expansionsdrang einer rechtlos agierenden Macht ausgesetzt ist? Da es für Isokrates die Abweichung von rechtlich fundierter Politik immer gibt, liegt seinen Überlegungen letztlich die Frage zugrunde, unter welchen Bedingungen eine primär vom Machtfaktor Überzeugungskraft getragene Politik sich gegen den Druck egoistisch motivierter Ansprüche (Stasis) behaupten kann, wenn sie sich zugleich gegen den Zugriff externer Gewalt wehren muss. Isokrates kennt nicht nur zwei Typen des Umgangs mit politischer Macht, sondern auch zwei Typen der politischen Entscheidung. Der erste ist die zwischen »gut« und »schlecht« und hat in einer »guten« Polis kein anderes Ziel als die Erhaltung oder die moderate Erweiterung vorhandener Macht. Der zweite besteht in 100 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

der Wahl zwischen zwei Übeln, intendiert also nicht die Realisierung eines Guten, sondern erklärt offen, Schaden nicht verhindern, sondern nur begrenzen zu können. Der erste Typus gehört in die Epoche, in der niemand expansive Ambitionen verfolgt, der zweite in eine spätere, in der Instrumente für den Aufbau großräumiger Machtsphären vorhanden sind und zu diesem Zweck auch eingesetzt werden. Vereinfacht und in Bezug auf griechische Verhältnisse formuliert, gehört der erste Typus zu einer primär auf die eigene Ordnung bezogenen Politik, die Fußsoldaten und Reiterverbände hauptsächlich zur Grenzsicherung einsetzt, und der zweite zu einer Militärpolitik mit expansiven Zielen, die im Gesamtraum umstrittener Macht mit schnell beweglichen Schiffskontingenten strategisch wichtige Teilräume kontrollieren, lokal begrenzte Operationen zu Aktionseinheiten zusammenführen und auf diese Weise Vorteile gegenüber Konkurrenten gewinnen kann, die über derartige Bewegungsmöglichkeiten nicht oder nur in einem geringeren Maß verfügen. Solange die Mittel für eine expansive Militärpolitik noch nicht existieren, bleiben »Verfassungen« wegen ihrer Orientierung am überlieferten Nomos weitgehend stabil. Wenn dennoch »Krisen« aufkommen, resultieren sie aus einer Verschlechterung des überkommenen Ethos und führen dann zur Stasis oder zur Tyrannis. Das Mittel der Krisenlösung besteht deshalb in der freiwilligen Entscheidung für die Verstärkung des überkommenen Nomos und für einen Kampf gegen das ›Schlechte‹, das relativ leicht daran zu erkennen ist, dass es die alte Norm bürgerlicher (Minimal)-Gleichheit verletzt. Zu Anfang des 5. Jahrhunderts verändern sich jedoch die Rahmenbedingungen griechischer Politik, weil die modern gerüstete Großmacht Persien auf die Inseln der Ägäis und das griechische Festland zugreift. Griechische Politik musste deshalb nachrüsten und ebenfalls einen Verbund aus See- und Landstreitkräften aufbauen. Da Griechenland noch nie ein handlungsstarker Gesamtverband gewesen ist und nur einzelne Städte (Korinth, Ägina) relativ kleine Flottenverbände besessen haben, musste die bisherige »kriegerische Kunst« so schnell wie möglich auf den großräumigen Einsatz einer »modernen« Marinestreitmacht (Trieren) vorbereitet werden. In dieser Situation konnte in der Sicht des Isokrates nur der zweite Typus der politischen Entscheidung zum Tragen kommen, Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 101

der das geringere Übel wählt, damit nicht das Schlimmste eintritt. Das Schlimmste wäre nicht die militärische Niederlage, sondern sondern der Sieg eines Gegners, der »noch nie« die polis-typischen »Prinzipien der Gleichheit praktiziert hat«. Seine Folge wäre nämlich das Auseinanderfallen der Bürgergemeinschaft in die »ungeordnete Masse« (Ôcloj ¥taktoj) Einzelner, die dann mit »schwierigen Situationen« keine selbständigen Erfahrungen mehr machen und sich deshalb auch nicht mehr in den Tugenden üben könnten, die das Leben einer Polis tragen. Das größte Übel, das mit allen Mitteln verhindert werden muss, ist demnach die Auslöschung der Kulturform, die »menschliches« Leben überhaupt erst begründet und bislang vor dem Rückfall in »tierisches« Dasein bewahrt hat.173 In der Sicht des Isokrates musste die Wahl des geringeren Übels für die griechischen Verhältnisse folgende Wirkungen haben: (1)  Eine seemachtgestützte Polis, die einen äußeren Aggressor vom Format Persiens zurückschlagen kann, besitzt automatisch auch innergriechisch einen erheblichen Machtvorsprung. Das führt zu verschärfter Machtkonkurrenz zwischen den führenden Stadtstaaten, die um ihrer eigenen Sicherheit willen keinem ihrer Konkurrenten das militärische Machtmonopol kampflos überlassen dürfen. Wegen der unterschiedlichen Ressourcen, die sie mobilisieren können, entstehen dabei stärkere und schwächere Einheiten, die für den Sieg über einen externen Aggressor zur Kooperation gezwungen sind. Die Einführung dieser neuartigen Handlungsform bringt die Gefahr mit sich, dass über Organisation und Ziele des gemeinsamen Handelns gestritten wird. Die militärische Aktionseinheit ist deshalb nur im Rahmen eines Bündnisses zu sichern, das seinen Mitgliedern erhebliche und zudem ungewohnte Belastungen auferlegt. Da es für schwächere Partner verlockend ist, bei günstiger Gelegenheit den eigenen Vorteil im Arrangement mit dem Gegner zu suchen, muss die Führungsmacht des Bündnisses jedes Defektieren mit abschreckender Gewalt verhindern. Griechenland wird dann selbst zu einem Konfliktraum und damit zum Gegenteil dessen, was es in der Konstruktion des Isokrates gewesen ist und bleiben sollte. (2) Die personalintensive Umstellung der »kriegerischen Kunst« auf Flottenmacht führt in einer Polis, in der die Teilhabe an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten vom Beitrag 102 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

zum Wehrdienst abhängt, zu einer Umstellung der bisherigen Verfassung. Isokrates beschreibt sie als Ablösung einer Ordnung, die die Norm bürgerlicher Gleichheit geometrisch konkretisiert, also jedem »das Seine« gegeben hat, durch eine neue, die die politischen Partizipationsrechte nach der Regel arithmetischer Gleichheit auf alle Bürger gleich verteilt (7, 21). Damit rücken Bürger, die für ihren Lebensunterhalt ›fremde Mittel‹ benötigen, von der Peripherie ins Zentrum der Polis vor und verdrängen dort die wirtschaftlich autarken Bürger, insbesondere die alte aristokratische Führungsschicht.174 Mit der Entscheidung für den Aufbau einer Trierenflotte konnten die Athener zwar hoffen, den Zugriff persischer Gewalt abzuwehren. Sie mussten dafür aber eine Schwächung des politischen Ethos in Kauf nehmen, das ihrer ›guten Herrschaft‹ bis dahin zugrunde gelegen hat. Die Qualität dieses Ethos hat sich für Isokrates ein letztes Mal an der Entscheidung der Athener »für die Ausübung der Seeherrschaft« gezeigt. Sie erfolgt aus einer Einsicht, der »alle vernünftigen Menschen« zustimmen, dass es nämlich besser ist, »anderen Gewaltiges anzutun« als selber »Unrecht zu erleiden«.175 Anders als dem Volk des Theseus waren den Athenern des 5. Jahrhundets Vorund Nachteile verschiedener Verfassungen bekannt. Sie wussten deshalb, dass eine ›radikal‹ demokratische Verfassung zwar »für die Ausübung der Seeherrschaft nützlicher« ist als ihre bisherige, aber auch, dass ihre alte aristokratisch ausgerichtete ›Volksherrschaft‹ »in allen anderen Bereichen« größere Vorteile bietet (12, 114). Wenn Isokrates die Entscheidung für die Seeherrschaft, die er im Areopagitikos und in seiner Friedensrede (De pace) aus ethisch-politischer Perspektive kritisiert, im Panathenaikos als genuin politische Leistung lobt, so kommt darin die Hoffnung zum Ausdruck, dass dasselbe Ethos, das die Gewalt in die Politik eingeführt hat, sie daraus auch wieder entfernen kann. Sie wird zur Mitte des 4. Jahrhunderts stärker, weil die Erfahrungen mit innergriechischer Hegemonialpolitik zeigen176 , dass thalassokratisches Dominanzstreben für jeden Akteur ein Übel ist und das gesamte Hellenikon in den Zustand der Stasis versetzt. Das einzige Heilmittel dagegen ist die Zurückstellung der Politik auf Kooperation und »Überzeugungskraft«, die nur im Rahmen einer aristokratisch temperierten Demokratie gelingen kann. Erst in dem Maße, in dem Isokrates Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 103

den griechischen Städten diese Umstellung nicht mehr zutraut, sieht er in Philipp II. den Akteur, der mit der Einführung einer Form starker Staatlichkeit die innergriechischen Streitigkeiten beenden und im Krieg gegen Persien ›gute Herrschaft‹ auch in der barbarischen Welt zur Geltung bringen kann.177 Er würde damit für das gesamte Hellenikon wiederholen, was um 500 Kleisthenes für Attika gelungen war, und letztlich auch die Kraft erneuern, mit der das isokratische Ur-Athen den Raum eines spezifisch menschlichen Lebens ursprünglich aufgebaut hat. 3. Die Möglichkeit der Rückkehr zu guter Herrschaft

Der Zustand des bellum omnium contra omnes, den Isokrates für seine Zeit befürchtet, ist nach den Voraussetzungen seines Denkens nur durch die Schlüsselmacht zu überwinden, die bereits in der Vergangenheit ›gute‹ Politik begründet oder wiederbelebt hat. ›Schlechte‹ Politik strebt mit Gewalt nach dem monopolistischen Besitz von Macht. Da sie monologisch konzipiert ist und sich jeder Verständigung verweigert, kann ihr nur eine überlegene Macht der gleichen Art wirksam entgegentreten. ›Gute‹ Politik strebt dagegen nach verteilter Macht. Sie ist dialogisch angelegt, weil sie nach ­ihrer Überzeugung durch eine glaubwürdige Öffnung nach außen an Stärke gewinnt. Sie setzt deshalb dem eigenen Machtstreben selbst die Grenze, in der sie für andere zumindest erträglich und nach Möglichkeit sogar nützlich ist. Jede Politik strebt unter Wettbewerbsbedingungen nach der »Schlüsselmacht«, die zu ihrer inneren Einstellung passt. Der Wettbewerb um den Besitz gewaltgestützter Schlüsselmacht setzt das eigene Handeln von der Bindung an rechtliche Normen frei. Es nimmt dann die Form einer dynamisch-expansiven Bewegung an, die den Raum der eigenen Macht so weit ausdehnt, bis er von innen nicht mehr kontrollierbar ist, dadurch seine Konsistenz verliert und schließlich dem Gegendruck konkurrierender Macht unterliegt. Dagegen ensteht aus dem Wettbewerb um den Besitz rechtlich fundierter Schlüsselmacht eine Bewegung, die den Raum eigener Macht so erweitert, dass er jederzeit von innen kontrollierbar bleibt und deshalb auch nach außen gesichert ist. Die Hand104 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

lungseinheiten, die dadurch zustandekommen, beruhen auf gegenseitiger Verständigung, orientieren sich am gemeinsamen Vorteil und gewinnen durch freiwillige Kooperation an Handlungskraft. Da griechische Politik unter persischem Druck zum Wettbewerb um militärische Schlüsselmacht getrieben wurde, stellt sich für Isokrates die Frage, unter welchen Voraussetzungen sie wieder auf »Überzeugungskraft« zurückgestellt werden kann. Dem steht jedoch entgegen, dass der ›Gebrauch‹ der Überzeugungskraft in der lang andauernden Phase der ›Gewaltpolitik‹ außer Übung gekommen ist. Die gegenwärtigen politischen Akteure müssen deshalb nach der Regel ›Lernen durch Leid‹ zu der Überzeugung kommen, dass gewaltgestütztes Machtstreben auch für sie selbst schädlich ist und dass es ihrem Vorteil dient, auf Kooperation zu setzen. Da für Isokrates die Innenseite die Außenseite der Politik bestimmt, ist der Wiedergewinn ›guter Politik‹ identisch mit dem Wiedergewinn ›guter Herrschaft‹ in der Polis, von der die Umstellung auf Gewaltpolitik ausgegangen ist. Es kommt deshalb in erster Linie darauf an, dass Athen die gegenwärtige auf seine frühere Verfassung zurückstellt.178 Diese Verfassung ist das besondere Thema der Areopagitikos-Rede des Jahres 355 (or. 7). Sie soll im Folgenden als Darstellung der strukturellen Voraussetzungen für ›gute‹ Politik interpretiert werden. Grundlage der Verfassung Alt-Athens war ihre »Volksfreundlichkeit« (7, 23) 179. Sie hat als »Demokratie« die politische Macht in die Hand der Bürger gelegt und dafür gesorgt, dass sie im allgemeinen Interesse ausgeübt wurde. Durch die Konkretisierung der Norm der »Volksfreundlichkeit« zu Regeln für die Verteilung und Kompetenzbestimmung der Ämter, die Gestaltung der Lebensund Arbeitsverhältnisse und die Erziehung der Bürger hat sie einen institutionellen Rahmen geschaffen, innerhalb dessen das individuelle Streben nach Vorteilen nur als »Sorge um das Gemeinwohl« und nicht als Zugriff auf fremden Besitz auftreten konnte (25). Auf diese Weise ist eine Arbeits- und Kooperationsgesellschaft entstanden, die den Wohlstand aller Bürger maßvoll, aber zuverlässig gesteigert hat. In ihrem Rahmen wurde deshalb erreicht, was »den meisten Menschen am schwersten fällt«, nämlich ein »Zufriedensein mit dem Vorhandenen«, so dass der »Wahn« (¥noia) eines Strebens nach Gütern um jeden Preis überhaupt nicht aufkommen Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 105

konnte (8, 6  f ). Das Ethos dieser ›guten‹ Polis war nicht das Werk einzelner ›Großer‹ oder die praktische Verwirklichung eines besonderen Gerechtigkeitswissens, sondern die Folge davon, dass die Bürger ihren Eros und damit ihr Streben nach Vorteilen auf allgemein nützliche Ziele ausgerichtet haben. Aus affektiver Zustimmung zur Form ihres Zusammenlebens (7, 24) haben die altathenischen Bürger Leitungsfunktionen nur Personen übertragen, die für ihre besonders intensive Liebe zur bestehenden Verfassung bekannt waren (23: oƒ ¢gapîntej m£lista t¾n kaqestîsan polite…an). Liebe zur Polis hat auch das Wissen erzeugt, das nötig war, um mit den wichtigsten Unterscheidungen des politischen und sozialen Lebens so umzugehen, dass sich daraus kein bürgerkriegerischer Gegensatz entwickeln konnte. Dabei ging es vor allem die Unterscheidungen zwischen Regierenden und Regierten (I) und zwischen »Reichen« und »Armen« (II). Beide Gegensätze lassen sich nur vernünftig bewältigen, wenn die darauf gerichteten organisatorischen Maßnahmen zusätzlich von einer »Tugend der Selbstbeherrschung« unterstützt werden, die infolge der in­sti­tu­ tio­nalisierten Erziehung verlässlich das Denken und Handeln der Bürger bestimmt (III). Isokrates plädiert also ebenfalls für eine Verbindung von Institutionen- und Individualethik. (I)  Amtsträger sind als Inhaber politischer Gestaltungsmacht besser gestellt als Bürger, die lediglich ihr Stimmrecht in der Volksversammlung (Wahl und Kontrolle der Amtsträger) und in den Institutionen der ›niederen‹ Gerichtsbarkeit ausüben.180 Mit dieser asymmetrischen Verteilung politischer Macht können die ›ärmeren‹ Bürger, die nicht zur Amtstätigkeit berechtigt sind, nur unter folgenden Bedingungen zufrieden sein: (1)  Sie bestreiten als Grund besitzende Bauern oder als Handwerker ihren Lebensunterhalt aus eigener Arbeit und bilden dabei Rücklagen für die Bewältigung allfälliger Mangelsituationen. Mit dieser Aufgabe sind sie vollständig ausgelastet, aber auch nicht überfordert. Die wohlhabenderen Bürger hingegen, die auf der Grundlage ihres größeren Besitzes mehr erwirtschaften als sie für ihre Lebensführung benötigen, können ohne Schwierigkeiten Eigen­mittel »für das Gemeinwohl« zur Verfügung stellen. Die mit politischer Amtsführung verbundenen ökonomischen Nachteile sind deshalb für sie gut verkraftbar, während es für die ärmeren 106 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Bürger ein Vorteil ist, dass sie ihre Arbeitskraft vollständig für den Erwerb ihres Lebensunterhalts einsetzen können und nicht wie die ›Reichen‹ erhebliche Teile davon für politische Amtstätigkeit aufwenden müssen. (2)  Das nicht mit Amtsmacht ausgestattete »Volk« erhält zum Ausgleich die politische Vorteilsposition des »unumschränkten Herrn« (tÚrannoj) über die Ämterverteilung, wobei es die Amtsinhaber nicht nur wählen, sondern nach dem Ende ihrer Amtszeit auch einer strengen Kontrolle unterziehen darf. Das gewährt dem »Volk« erheblichen Einfluss und verhindert, dass Amtsträger aus ihrer politischen Tätigkeit ein »gewinnbringendes Geschäft« ­machen. (3)  Amtsträger werden vom »Volk« so gewählt, dass dabei nur die jeweils »Besten« und für ihre besondere Verfassungsliebe bekannten Bürger zum Zuge kommen.181 Das hierarchische Gefälle zwischen Regierenden und Regierten ist deshalb ein Gefälle von Erfahrung, Kompetenz und politischer Moral. Da Amtsführung immer auch öffentliche »Lehre« in politischer Ethik bedeutet, gleicht vorbildliche Amtstätigkeit die sittlichen Qualitätsdifferenzen innerhalb der Bürgerschaft weitgehend aus und steigert zugleich ihr Gesamtniveau. Wegen des Gewinns an Ehre, der mit guter Amtsführung verbunden ist, sind alle »Reichen« daran interessiert, zu den »Besten und Geeignetsten« zu gehören, die das »Volk« zu Amtsträgern wählt (22). (4)  Nicht zuletzt aus erzieherischen Gründen ist Amtstätigkeit eine Sache des Wettbewerbs. Er betrifft jedoch anders als in modernen Demokratien nicht den Zugang zum Amt, sondern allein die Amtsausübung. Das negative Ergebnis einer nachträglichen Amtsführungsprüfung bedeutet harte Strafe, während vorbildliche Amtsträger den Sondervorteil genießen, dass sie öffentlich als Wohltäter der Polis geehrt werden (25  ff ). (II)  Das in jeder Polis bestehende und nach Isokrates im 4. Jh. zur besonderen Belastung gewordene Gefälle zwischen »Armen« und »Reichen«182 wird in einer ›guten‹ Polis so gestaltet, dass beide Bürgergruppen dauerhaft durch »gegenseitige Sorge« (31) mit­ einan­der verbunden sind. Man mag die Ausführungen zu diesem Punkt für den Traum eines Sozialromantikers oder für pure Propaganda zugunsten der »Reichen« halten183 , sollte aber doch sehen, Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 107

dass Isokrates damit auch Grundzüge einer ›Sozialpolitik‹ entwirft, die nicht auf staatlichem Zwang, sondern auf freiwilliger Kooperation beruht. Sie kann allerdings nur auf der Grundlage eines Ethos funktionieren, das die Zeitgenossen nach seiner Auffassung verloren haben. Das theoretisch richtige Wissen, dass besitz- und arbeitslose Menschen zwangsläufig nach fremden Gütern greifen184 , um ihr Leben zu sichern, führt in Alt-Athen zur Einrichtung von Gesetzen, die das forciert egoistische Streben nach Vorteilen bestrafen und das kooperative belohnen. Sie werden aus der Überzeugung erlassen, dass ›rechtliches‹ Streben nach Vorteilen allen Bürgern zugute kommt und dadurch die Ursache für jede Art von innerem und äußerem Krieg beseitigt. Nur wenn die ›Armen‹ die Erfahrung machen, dass die Rechtsbindung des Strebens nach Vorteilen auch ihre Lage zuverlässig verbessert, entwickeln sie kein Interesse daran, auf den Besitz wohlhabender Mitbürger (Stasis) oder den Reichtum einer fremden Polis (Krieg) zuzugreifen. In der integrativen Arbeitsgesellschaft des Isokrates sind, wie im karthagischen Demokratiemodell bei Aristoteles185 , die beiden Grundelemente des Wirtschaftslebens, Geld und Arbeit, so miteinander verknüpft, dass alles Geld arbeitet, während die Arbeit aller186 die Geldmenge erhöht, die für weitere Investitionen in arbeitsintensive Projekte zur Verfügung steht. Auf diese Weise wird der Kreislauf von Geld und Arbeit in Gang gehalten und vorsichtig, aber kontinuierlich intensiviert.187 Isokrates setzt für seine Überlegungen das Bestehen einer agrarisch geprägten Subsistenzwirtschaft voraus. Nur in ihrem Rahmen kann man sich vorstellen, dass ›Arme‹ auch bei (langsam) steigendem Wohlstand kein Interesse an politischer Amtstätigkeit entwickeln, und ›Reiche‹ ihre Gewinne grundsätzlich in Unternehmungen investieren. Weil die Akkumulation privaten Reichtums immer der Allgemeinheit zugute kommt, löst sie keine politische Unruhe aus. Der wichtigste Motor dieses Kreislaufs ist das wohl verstandene Eigeninteresse der Reichen an der Aufrechterhaltung ihres exklusiven Zugangs zu politischer Amtsmacht und an der Sicherheit ihres Besitzes. Wenn sie nämlich brach liegenden Grund zu erträglichem Zins an ›Arme‹ verpachten, andere mit Handelsgeschäften beauftragen und wieder andere als Arbeitskräfte beschäftigen oder mit Darlehen für selbständige Unternehmungen ausstatten188 , gewinnen sie mit dem 108 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Wohlwollen der Ärmeren für ihren Reichtum größere Sicherheit als ein Gesetz gewähren kann, das jederzeit durch Volksversammlungsbeschluss veränderbar ist (35). Isokrates vertritt ein ›liberales‹ Konzept gesellschaftlicher Selbst­organisation. Ihr liegt das individuelle Streben nach Vorteilen der ›Reichen‹, die davon am meisten profitieren, aber auch das der ›Armen‹ zugrunde, deren Lebenssituation sich dadurch ebenfalls verbessert. Die gut austarierte Arbeitsgesellschaft AltAthens ist die Grundlage für ein ›schönes Miteinander‹ (35: kalîj ¢ll»loij Ðmile‹n), das »die ärmeren Bürger … um reiche Häuser ebenso besorgt sein« lässt »wie um ihren eigenen Besitz« und die Vermögenden anhält, die Armut ihrer Mitbürger zu bekämpfen, weil sie deren Not »als Schande für sich selbst betrachten« (31  f ). Da ›Arme‹ unter Unrechtshandlungen mehr zu leiden haben als ›Reiche‹ (34), beschränkt sich die Politik auf die Herstellung von Rechtssicherheit (32  ff), vermeidet aber potentiell stasisträchtige Eingriffe in die bestehenden Besitzverhältnisse. (III)  In einer ›guten‹ Polis wird jeder Bürger zu autarker Lebens­ führung erzogen, so dass er »die tagtäglich anfallenden Lebens­ aufgaben gut verrichten« kann. Dazu bedarf es der geistigen Kraft, auch in Bezug auf neuartige Probleme »die Vorstellung« zu entwickeln, »die zur jeweiligen Situation passt und damit meistens das Vorteilhafte« trifft, und der moralischen Stärke, auch mit den Bürgern »geziemenden und gerechten Umgang zu pflegen«, die ein »unangenehmes Wesen« an den Tag legen, sofern es unterhalb der Schwelle einer Rechtsverletzung bleibt.189 Nur wenn Herrschaft über die eigenen Affekte das alltägliche Verhalten bestimmt190 , kann eine Gesellschaft, ohne Schaden zu nehmen, dem individuellen Streben nach Vorteilen freien Lauf lassen. Erziehung zur Selbstbeherrschung ist jedoch nicht die Angelegenheit individueller Selbstorganisation, sondern Aufgabe der Politik, die das überzeugende Wort und strafende Gewalt so einsetzt, dass die Anteile des Überzeugens so groß und die des Bestrafens so klein wie möglich ausfallen. Sie bekämpft vor allem das vielgestaltig-zügellose Vorteilsstreben (7, 50), das als Hauptursache aller auf Unwissenheit beruhenden und deshalb vermeidbaren Übel (45) eine Dynamik entwickelt, die nur in der Doppelgestalt von prophylaktischer Vorsorge und effektiver Nachsorge einzudämmen ist. Das wichtigste Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 109

Erziehungsziel besteht deshalb darin, den Sinn für Rechtlichkeit und Selbstbeherrschung in der Tiefe der »Seele« möglichst vieler Bürger zu verankern (40  f ). Da das weder durch eine Perfektionierung der Gesetzgebung noch allein durch mahnende Reden gelingt, müssen die Arbeitsverhältnisse so organisiert sein, dass für die ärmeren Bürger die »Mühe«, die sie in ihre Arbeit investieren, durch die für antike Verhältnisse zweifellos ›lustvolle‹ Erfahrung ausgeglichen wird, zu selbständiger Lebensführung fähig zu sein (43  ff ). Die Bürgergruppe, die wegen ihrer besonders reichhaltigen Ressourcen an Körperkraft, Geld und Bildung am leichtesten aus eigenem Impuls zur Stasis oder Tyrannis drängt und dadurch die Gegenwehr der ›Armen‹ provoziert, besteht aus den jungen, noch nicht verlässlich in die Polis eingebundenen ›Reichen‹. Sie müssen deshalb dazu erzogen werden, ihre überschüssigen Kräfte in »Bemühungen um schöne Verhaltensweisen« zu investieren, nämlich in Tätigkeiten, mit denen sie sich auf die Ausübung sowohl der ›kriegerischen‹ (Reiten, Sport und Jagd) als auch der ›gesetzgeberischen Kunst‹ (Philosophie, Redekunst) vorbereiten.191 Wenn man das Streben nach Vorteilen auf eine physikalische Bewegungsenergie zurückführt, könnte man sagen, dass Isokrates einen sozialen Raum konstruiert, der unterschiedlich große Bewegungsenergien in einen geschlossenen, sich wechselseitig verstärkenden Kreislauf von Arbeit und Selbstgenuss so einbindet, dass dort keine Energie die explosive Schubkraft »vielgestaltiger Zügellosigkeit« annehmen kann.192 Träger der Bürgererziehung ist im isokratischen Alt-Athen der Areopag, der wie in der Orestie des Aischylos aus den besten Bürgern der Stadt besteht193 und deshalb die Grundwerte der »volksfreundlichen« Verfassung nicht nur glaubwürdig verkörpert, sondern als »Oberaufseher über Sitte und Ordnung« sie auch ebenso besonnen wie nachhaltig geltend macht (37 und 39). Da dort, wo Unrechtstäter leicht gerechter Strafe entgehen, auch »anständige Charaktere verdorben werden«, aber dort, wo Unrecht verlässlich aufgedeckt und gerecht bestraft wird, »sogar bösartige Gesinnung verschwindet« (47), unterliegt nicht nur die Tätigkeit der Regierenden, sondern auch das sozialrelevante Verhalten der Regierten einer Kontrolle durch die Areopagiten, die wegen ihrer Bindung an die Normen der Polis nicht die Form der Gewalt, sondern die der 110 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Erziehung annimmt. Im isokratischen Alt-Athen schreckt bereits die bloße Existenz dieser Institution die meisten Bürger vom Unrechttun ab (38). Gegen die Minderheit der anderen setzt der Areopag nach der Regel geometrischer Gleichheit »Überzeugungskraft« und rechtlich kontrollierte »Gewalt« ein, indem er kleinere Übeltäter ermahnt, größeren mit empfindlicher Strafe droht und nur diejenigen, die für mahnende und drohende Worte unzugänglich sind, »angemessen bestraft« (46). Regeln für eine ›gerechte‹ und transparente Verteilung politischer Macht und für die Organisation einer kooperativen Arbeitsgesellschaft bilden zusammen mit Rechtssicherheit und einer klug gehandhabten politischen Erziehung der Bürger einen komplexen ordnungspolitischen Rahmen, der das Aufkommen jeder Art von ›vielgestaltiger Zügellosigkeit‹ verhindert. Nicht nur in der Sicht des Isokrates hat Athen mit den Reformen des Ephialtes seine gute politische Ordnung verloren. Schwerer als ihr faktischer Verlust wiegt jedoch die Tatsache, dass auch ihre Kriterien vergessen sind und sich deshalb niemand mehr um die Einrichtung einer guten Verfassung kümmert. Anders als die Athener der Perserkriege lieben die Bürger des 4. Jhs. ihre »jetzige Verfassung mehr (m©llon ¢gapîmen) als die von unseren Vorfahren hinterlassene« (7, 12 und 15). Ein politischer Redner, der die wahre Ursache für die gegenwärtige Krise der Polis in öffentlicher Rede benennt, zieht sich deshalb den Hass seiner Mitbürger zu194 , die mehrheitlich dem einschläfernden Irrglauben (9: ¢naisqhs…a) folgen, sie könnten immer noch »ganz Griechenland beherrschen«, so dass nur ihre »Feinde« Grund hätten, »in Furcht zu leben« und »sich ernsthaft Gedanken um ihre Sicherheit zu machen« (1  ff ). Diese träge Selbstsicherheit kann nur durch die Erkenntnis erschüttert werden, dass gerade die Athener sich in einer Notsituation befinden, die allen Anlass gibt zum Erschrecken, weil sie ihre Ursache in ihrem eigenen Verhalten hat.195 Sie müssen deshalb von einem politischen Redner angehalten werden, den allgemein akzeptierten Satz, dass Menschen, die sich fälschlicherweise im Besitz unangreifbarer Machtressourcen wähnen, zu einem hybrid überzogenen Streben nach Vorteilen neigen und dann zwangsläufig »die schlechtesten Entscheidungen treffen« (3  f ), kritisch auf sich selbst zu beziehen. Der Übergang von der Furcht Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 111

zur Selbstkritik ist die Voraussetzung dafür, dass die Bürger ihren politischen Eros statt an den Machtfaktor »Gewalt« wieder an »Überzeugungskraft« und kooperatives Handeln binden und so zu der Kraft zurückzufinden, mit der ihre Vorfahren vergleichbare Krisen bewältigt haben. Um dieses Erschrecken auszulösen, schildert Isokrates das gegenwärtige Griechenland als Welt des Todes und des lange überwunden geglaubten ›tierischen‹ Daseins. Die flächendeckende Ausbreitung von Kriegen und Parteikämpfen hat zur Folge, dass »Griechen in ihren eigenen Poleis gesetzwidrig hingerichtet werden«, »aus Mangel am Notdürftigsten« gezwungen sind, »in der Fremde mit Frau und Kindern« ein nomadisches Leben zu führen, oder als Söldner im Dienst fremder Mächte andere Griechen bekämpfen (4, 167  f ). In Anknüpfung an die ›Pathologie des Krieges‹ bei Thukydides196 zeichnet Isokrates das Bild eines Griechenland, in dem es »keinen Ort« mehr gibt, »der nicht erfüllt wäre von Kriegen, Aufständen, Morden und unzähligen Leiden« (ep. 9, 8  f ). Ursache dieses Übels ist die gewaltsam »in alles sich einmischende Politik« (8, 108: polupragmosÚnh), die im Ausgang von Athen das gesamte Hellenikon durchdrungen197 und im Streben »nach Seeherrschaft« das eigene Handeln auf »üble Machenschaften« (7, 75  f ) und ungerechtes Tun eingestellt hat (8, 17). Sie hat damit »Verwirrung« (tarac») hervorgerufen und jene Demokratie aufgelöst, unter der unsere Vorfahren … die glücklichsten Griechen waren« (8, 64.). Die Umstellung auf bessere Politik verlangt deshalb eine erneute und dauerhafte Bindung des politischen Eros an das ›Gute‹, der sich zum »Hass auf das Schlechte« konkretisiert und dadurch die Daueranstrengung kritischer Selbstkorrektur auslöst. Diese Arbeit an sich selbst muss von dem Wissen getragen sein, dass in der menschlichen Welt jedem Guten Schlechtes bei­gemischt ist. Es geht deshalb nicht darum, das Schlechte vollständig und möglichst mit einem Schlag aus der eigenen Welt zu entfernen, sondern es so klein wie möglich zu halten (7, 76). Die Seeherrschaft hat den Eros der Athener so geprägt, dass sie ihr Streben nach Lust nur noch durch eine »unbeherrschte Lebensweise« (¢kolas…a) befriedigen wollten (8, 102  f ). Sie haben deshalb ihr Machtstreben auf »Raub« umgestellt und dadurch alle ethischen Differenzen eingeebnet, die zuvor zwischen persischer 112 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

und griechischer, aber auch zwischen athenischer und spartanischer Politik bestanden haben.198 Auch wenn Athen sein altes politisches Ethos lange bewahren konnte, sind seine sozialen Träger, die bedeutendsten Familien der Stadt, aus dem Raum der Polis verschwunden, weil sie zwar »die Revolten unter den Tyrannen und den Perserkrieg« noch überlebt haben, aber »während der (See-) Herrschaft untergegangen sind«.199 Gegen diese Tendenz zum Schlechten steht jedoch die Erfahrung, dass selbst die »schlecht eingerichtete Demokratie« der Gegenwart (7, 70), wenn man sie mit einer reinen Oligarchie vergleicht, immer noch eine »göttliche Schöpfung« darstellt.200 Dass auch sie zu ›guter‹ Politik im Sinne von Ausgleich und Verständigung fähig ist, wird vor allem an der »Milde« erkennbar201, die Athens Demokraten im Jahr 403 nach ihrem Sieg im Bürgerkrieg im Umgang mit ihren oligarchischen Gegnern bewiesen haben. Während die Oligarchen (Tyrannis der Dreißig) in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft »eintausendfünfhundert Bürger ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet und mehr als fünftausend Bürger gezwungen hatten, Zuflucht im Piräus zu suchen«, haben die siegreichen Demokraten die Kette wechselseitiger Rache unterbrochen und »nur die Hauptschuldigen getötet, die anderen jedoch anständig und rechtlich (67: kalîj kaˆ dika…wj) behandelt«. Sie haben sogar die Anleihe, die die Oligarchen von den Lakedaimoniern erhalten hatten, um die demokratischen Truppen im Piräus belagern zu können, entgegen dem ursprünglichen Kapitulationsvertrag zu Staatsschulden erklärt und ihre Tilgung aus öffentlichen Mitteln angeordnet.202 Die ›natürliche‹ Folge der Gesinnung (69: gnèmh), in der die Demokraten bürgerliche »Eintracht« wiederhergestellt und dabei das politisch Richtige auch unter Hintanstellung geltenden Rechts umgesetzt haben 203 , war ein Machtzuwachs der Athener, den nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges niemand erwartet hätte. Während sie nämlich nach ihrer Niederlage für das Überleben ihrer Stadt auf das Wohlwollen Spartas angewiesen waren, sind die Lakedaimonier, als sie nach der verlorenen Schlacht bei Leuktra (371) die Zerstörung ihrer Stadt befürchten mussten, »hilfeflehend mit der Bitte an uns herangetreten, ihre Vertreibung aus der Heimat nicht zuzulassen«.204 Dass die »Schutzflehenden« des Jahres 404 gut dreißig Jahre später gebeten werden, ihre traditionelle Hikesiepolitik wieder aufzunehmen, beIsokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 113

stärkt Isokrates in der Hoffnung, die Athener seiner Zeit mit ›heilendem‹ Wort ›überreden‹ zu können, ihre Politik auf ein besseres Handlungsmuster umzustellen. 4. Griechische Erfahrungen mit kooperativer Politik

Kooperatives Handeln ist eine besondere kulturelle Errungenschaft und kommt deshalb nicht automatisch oder aufgrund physischer Notwendigkeit zustande. Sie setzt vielmehr den gemeinsamen Willen der Beteiligten sowie ein gewisses Maß an Gleichheit und gegenseitiger Verständigungsbereitschaft voraus. In diesem Abschnitt geht es um Erfahrungen, die die Griechen des 5. und 4. Jhs. mit der für sie neuartigen Form kooperativer Politik gemacht haben. Wenn man vom Sonderfall des von Sparta geführten Kriegsbundes der peloponnesischen Städte (mit Ausnahme von Argos) absieht, dann steht am Anfang griechischer Kooperationspolitik der im Jahr 481 gegründete Hellenenbund, der unter dem äußeren Druck persischer Bedrohung zustande gekommen ist. Folgt man Herodot, dann hat er weitgehend den von Isokrates formulierten Prinzipien kooperativer Politik entsprochen. Er war ein agonal strukturiertes und durch ein gemeinsames Ethos zusammengehaltenes Bündnis von Stadtstaaten, die mehr an ganz »Hellas« als an sich selbst interessiert waren und deshalb nach gemeinsamer Beratung beschlossen haben, ihre bisherigen Streitigkeiten zu beenden, ihr Handeln zukünftig auf gegenseitiges Vertrauen (p…stij) zu gründen, ihren Bund durch das religiöse Sanktionsmittel wechselseitiger Eide zu bekräftigen und ihn als gegen Persien gerichtete Kampf- (Ðmaicm…h) und Eidgenossenschaft (Hdt. VII 148, 1: sunwmÒtai) einzurichten.205 Auf diese Weise ist aus dem zuvor zersplitterten Griechenland eine Einheit geworden (Hdt. VII 145), deren hegemoniale und kooperative Führung ganz selbstverständlich von Sparta als der erfahrensten und stärksten Militärmacht Griechenlands übernommen wurde. Das Zentralorgan des Bundes war die Beratungsversammlung (Synhedrion) aller Mitglieder, die als gleichberechtigte Souveräne unter dem Vorsitz eines Vertreters der Hegemonialmacht nach Rede und Gegenrede über ihr gemeinsames Handeln durch Abstimmung entschieden haben. Als 114 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

vor der Seeschlacht beim Kap Artemision einige Bundesgenossen die Hegemonie über die Schiffe den in dieser Hinsicht erfahreneren Athenern anvertrauen, andere aber nur unter spartanischer Gesamtleitung weiterkämpfen wollten, haben sich die Athener an den Grundsatz gehalten, »dass Zwietracht im Innern (st£sij œmfuloj) um so viel schlimmer ist als ein einmütig geführter Krieg, wie Krieg schlimmer ist als Friede« (Hdt. VIII 3, 1). Weil sie wussten, dass Griechenland bei einem »Streit um die Hegemonie unter­ gehen werde«, haben sie den Führungsanspruch Spartas über Heer und Flotte akzeptiert, so dass die Bindung an ein gemeinsames Ethos die Handlungsfähigkeit des Bündnisses auch in einer kritischen Situation gesichert hat. Die im Verlauf des Perserkrieges aufgetretenen Spannungen, die diese Handlungsfähigkeit immer wieder in Frage gestellt haben, werden im Themistokles-Kapitel des vorliegenden Buches thematisiert. Isokrates hat dem Hellenenbund keine ausdrückliche Aufmerksamkeit gewidmet. Als Wettkampf zwischen Athen und Sparta um den ersten Rang bei der Wahrung gesamtgriechischer Interessen gehört er für ihn in die Schlussphase ›guter‹ Politik.206 Die ethnische Nähe zwischen Athen und den ionischen Städten Kleinasiens, aber auch gemeinsame geopolitische Interessen waren die Grundlage für den im Jahr 478 gegründeten delisch-attischen Seebund, der als besondere maritime Kampfeinheit des Hellenenbundes bis zum Ende des Peloponnesischen Krieges bestanden hat.207 Er soll dadurch zustande gekommen sein, dass »die Führer der Griechen zu Land und zur See, besonders die Chier, Samier und Lesbier«, den Athener Aristeides »überreden« konnten, »den Oberbefehl (sc. über die Flotte) zu übernehmen« und die Mitglieder des Hellenenbundes »an sich zu ziehen, die schon lange von den Spartanern loskommen und sich … den Athenern anschließen wollten«208 , die als Seemacht deutlich entschiedener als die Landmacht Sparta an der Weiterführung des Perserkrieges interessiert waren (vgl. Thuk. I 95, 7 – 96, 1). Rechtsgrundlage des Bündnisses waren unbefristete bilaterale Verträge einzelner Stadtstaaten mit Athen, so dass die Mitglieder nicht untereinander verbündet waren. Der Bündniseid hat sie verpflichtet, »denselben Feind und denselben Freund« wie die Athener zu haben (AP 23, 5), »immer auf deren Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 115

Seite zu bleiben und nicht abzufallen«.209 Offizielles Zentrum des Bundes, d. h. Tagungsort der Bundesversammlungen und Sitz der Kasse, war bis zum Jahr 454 die Insel Delos, der Geburtsort Apolls, also des Stammgottes der Ionier.210 Aller Wahrscheinlichkeit nach konnten die Mitglieder anfangs frei zwischen der Gestellung von Kriegsschiffen und einer Geldleistung (fÒroj) wählen.211 Das Verfahren der Beitragserhebung hat in der Hand des Aristeides gelegen, der nach der späteren Überlieferung die Phoroszahlungen »auf Wunsch« der Bündnispartner »Stadt für Stadt … nach ihrem Rang und ihren Möglichkeiten« »auf der Grundlage von Freundschaftlichkeit und zu allgemeiner Zufriedenheit« festgesetzt hat (Plutarch, Aristeides 24, 1  f). Er und sein Nachfolger Kimon sollen aber auch die spartanische Handlungsschwäche (vgl. Thuk. I 128  ff ) ausgenutzt haben, um mit einer Mischung aus Druck und Überredungskunst die innergriechische Machtstellung Athens auszubauen. Kimon habe die Bundesgenossen, die nach dem überraschenden Ausbleiben persischer Vergeltung für Salamis und Plataiai »ihr eigenes Land bestellen und in Ruhe leben wollten«, nicht »zur Erfüllung ihrer Verpflichtung« gezwungen, sondern stattdessen »Geld« und »leere Schiffe« verlangt, so dass sie, »von der Ruhe geködert, sich nur noch mit ihren häuslichen Geschäften befasst haben« und deshalb aus »Bequemlichkeit und eigenem Unverstand unkriegerische Bauern und Geschäftsleute« geworden sind. Da er die Athener jedoch »abwechselnd in großer Zahl die Schiffe besteigen ließ und in Feldzügen abhärtete«, konnten sie sehr bald über ihre Bundesgenossen regieren wie »Herren« über »Untertanen und Knechte«.212 Obwohl die von Athen seit etwa 460 auch gegen griechische Städte außerhalb des Seebundes geführten Kriege durch den Bundeseid formal gedeckt waren (»denselben Feind und denselben Freund haben«), kam in dieser Zeit der Vorwurf auf, die Hegemonialmacht missbrauche den zur »Befreiung von den Persern« geschlossenen Bund zur »Unterwerfung von Hellenen« unter die eigene Herrschaft.213 Offensichtlich hat Athen seine Bündnispolitik in dieser Zeit von kooperativer »Vorherrschaft (¹gemon…a) über … selbständige Bundesgenossen« auf machtpolitische Dominanz (¢rc») umgestellt (Thuk. I 97, 1 und 99, 1  f ). Was auch immer der Hintergrund dafür gewesen ist, diese Umstellung reagiert of116 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

fensichtlich auf Abfalltendenzen innerhalb des Bündnisses. Aufstände gegen die Athener wurden gewaltsam niedergeschlagen214 und die unterworfenen Städte gezwungen, seeseitige Befestigungsmauern niederzulegen, die Kriegsschiffe auszuliefern, eine finanzielle Entschädigung und für die Zukunft einen Tribut in die Bundeskasse zu zahlen, dessen Höhe einseitig von der Hegemonialmacht festgelegt wurde.215 Die besiegte Polis verlor damit ihre politische Selbständigkeit und war rechtlich gesehen »Untertan« der Athener. Infolge dieser Entwicklung war das Verhältnis zwischen der Hegemonialmacht und ihren Verbündeten von Furcht und Misstrauen bestimmt. Im Jahr 454 hat Perikles die Bundeskasse nach Athen in den neu errichteten Parthenon verbringen lassen, so dass die Athener allein über die Verwendung der Phorosbeiträge entscheiden konnten. Das hat ihnen den Vorwurf eingetragen, sie verwendeten das »Gemeingut aller Griechen« vertragswidrig zur Verschönerung ihrer Stadt (Bauprogramm des Perikles) statt für Rüstungszwecke, beleidigten damit ganz Griechenland und herrschten über die Bundesgenossen wie ein Tyrann.216 Zugleich wurde Athene anstelle Apolls zur Schutzgottheit des Seebundes217 und Athen damit auch sein religiöses Zentrum und zudem der Gerichtsort für die Klärung aller bündnisinternen Streitigkeiten.218 Von einem nicht genau identifizierbaren Zeitpunkt an hat Athen allein bestimmt, ob ein Bündnismitglied seinen Verpflichtungen durch Geldleistungen und oder die Gestellung von Schiffen nachzukommen hatte.219 Seit etwa 450 haben die immer schon von Athen gestellten Amtsträger des Bundes die Magistrate der Verbündeten »zu Hilfsdienste leistenden Behörden« degradiert 220 und häufig mit Gewalt (vgl. z. B. Thuk. IV 46  ff ) oligarchische durch demokratische Verfassungen ersetzt. Da Sparta im Peloponnesischen Krieg unter oligarchischen Vorzeichen dasselbe getan hat 221, sind in Griechenland zwei Blöcke entstanden, die sich zunehmend auch als ideologische Gegner betrachtet haben. Der seit etwa 460 erkennbare Rationalisierungs- und Brutalisierungsschub der athenischen Politik 222 ließ sich mit einer sophistisch inspirierten Ideologie der Macht ›legitimieren‹, die »Freiheit« als »Herrschaft über andere« definiert hat.223 Da der athenische Demos nach 462 auch alle wichtigen Angelegenheiten des Seebundes entschieden hat 224 , wurde der Polis eine »in alles sich einmischende« Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 117

tyrannische Politik vorgeworfen.225 Der gegen sie gerichtete Kampf galt deshalb als gesamthellenischer Befreiungskrieg. Infolge seiner Ideologisierung hat sich der Machtkampf zwischen Athen und Sparta zum innergriechischen Bürgerkrieg intensiviert. Die dritte Form kooperativer Politik betrifft den 378/77 gegründeten zweiten attischen Seebund, der sich im bewussten Gegensatz zum ersten von Anfang an auf den Machtfaktor »Überzeugung« verpflichtet hat. Das wichtigste Dokument dafür ist das sogenannte Psephisma des Aristoteles aus Marathon226 , ein im Jahr 377 von der athenischen Volksversammlung beschlossenes Dekret, das unmittelbar nach der Bundesgründung 227 weitere Städte zum Beitritt einladen sollte. Der Text umschreibt als das Ziel der Symmachie, Sparta, das nach dem Sieg im Peloponnesischen Krieg durch seine »zu Lande wie zu Wasser« errungene »Hegemonie« »allseitig … Schrecken verbreitet hat« (Diodor XV 23, 3  f ), zu zwingen, die anderen Städte Griechenlands »frei und unabhängig leben (zu) lassen« und ihnen den »sicheren Besitz ihres gesamten Gebietes« zu garantieren (Z 9  ff ). Außerdem sollte der »gemeinsame Frieden« (= Königs- oder Antalkidasfriede von 386) bekräftigt und »die Bestimmungen vollständig umgesetzt werden, die die Griechen und der Großkönig gemäß den Verträgen … geschworen haben« (Z 12  ff ). Die Bestimmung, dass dem gegenseitigen Schutzbündnis nur Städte beitreten konnten 228 , die im ›Königsfrieden‹ dem geopolitischen Raum griechischer Interessen zugeordnet worden waren, zeigt, dass der zweite Seebund auf Verständigung mit Persien angelegt war.229 Das Bündnisziel, die Sicherung der Autonomie seiner Mitglieder, hat auch seine innere Organisationsform bestimmt (Z 20  f ). Kein Mitglied konnte zur Aufnahme von Besatzungstruppen oder von Amtsträgern der Hegemonialmacht oder zu Tributzahlungen (fÒroj) gezwungen werden (Z 22  f ). Das Bündnis hatte zwei Leitungsorgane, die beide in Athen ansässig waren: ein Synhedrion, in dem jede Stadt außer der Hegemonialmacht »gleichberechtigt mit einer Stimme vertreten« war (Diodor XV 28, 4), und die Volksversammlung der Athener.230 Bereits von athenischen Kleruchen besiedeltes Land wurde den früheren Besitzern zurückgegeben und ein Gesetz erlassen, das den Athenern für die Zukunft den Erwerb von Grundbesitz auf dem Territorium eines Verbün118 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

deten verbot. Der Schutz athenischen Eigentums konnte deshalb gegen ein Bündnismitglied nicht mehr als legitimer Kriegsgrund geltend gemacht werden. Die Unveränderbarkeit der Vertragsbestimmungen war durch ein allgemeines Klagerecht und durch die Androhung schwerster Bestrafung für jeden Änderungsversuch garantiert (Z 55  ff ). Die Athener haben sich durch diese Festlegung auf rechtlich gebundene und dem »gemeinschaftlichen Frieden« dienende Politik 231 »erneut die Zuneigung der Griechen« erworben und »ihre Hegemonie gefestigt« (Diodor XV 29, 8). Im zweiten Seebund hat Athen die militärischen Aktionen weitgehend allein getragen. Die Zahlung des vom Synhedrion bestimmten und bewusst nicht als »Phoros«, sondern als »Syntaxis« bezeichneten und ausschließlich für Kriegszwecke verwendbaren Beitrags war »die einzige reguläre … Belastung der Bundesgenossen«.232 Für die Athener hatte das militärische Handlungsmonopol allerdings zur Folge, dass den begüterten Bürgern – also auch Isokrates – ›Liturgien‹ insbesondere zur Finanzierung von Kriegsschiffen und Sondersteuern (Eisphora) auferlegt wurden.233 Da sie dieser Verpflichtung häufig nur widerwillig oder auch gar nicht nachgekommen sind, war die Flotte ständig unterfinanziert, so dass Athen nach 360 nicht mehr als maritime Großmacht auftreten konnte.234 Obwohl mit der Niederlage Spartas bei Leuktra im Jahr 371 das Bündnisziel erreicht war, hat der Seebund weiter bestanden. Allerdings haben die Athener danach ihre strategischen Interessen zunehmend nach Norden (Makedonien, Amphipolis) verlagert, was die Städte Euböas und Akarnaniens veranlasst hat, das Bündnis zu verlassen und sich mit Theben zusammenzuschließen. 364/63 sind die auf der Chalkidike gelegenen Städte des Olynthischen Bundes, deren Sicherheit durch den Amphipolis-Konflikt zwischen Athen und Makedonien bedroht war, diesem Beispiel gefolgt.235 Theben hat außerdem versucht, Byzanz, Chios und Rhodos aus dem Seebund herauszulösen. Infolge der Eroberung von Amphipolis durch Philipp II. von Makedonien (im Jahr 357)236 und der von Byzanz und Keos unterstützten Rebellionen auf Chios und Rhodos waren die Operationsmöglichkeiten der athenischen Flotte auch dadurch eingeschränkt, dass sie die lebenswichtige Getreidetransportroute vom Schwarzen Meer nach Attika absichern musste. Der Versuch der Athener, das zerbröckelnde Bündnis mit Methoden des ersIsokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 119

ten Seebundes zusammenzuhalten 237, hat einen Krieg ausgelöst, in dem die Flotte der Athener eine so schwere Niederlage (Embata) erlitten hat, dass sie »die Selbständigkeit … ihrer ehemals wichtigsten Bündnispartner anerkennen« mussten.238 Die innergriechischen Erfahrungen mit kooperativer Politik sind also, abgesehen vom Perserkrieg, derart, dass man nachvollziehen kann, warum Isokrates vor einer Wiederholung der machtpolitischen Fehler warnt, die Athen im delisch-attischen Seebund begangen hat. Das Streben nach innergriechischer Dominanz kann in seiner Sicht nur dazu führen, dass sich die Politik der Gewalt flächendeckend ausbreitet und wie im Peloponnesischen Krieg für ganz Griechenland katastrophale Folgen hat. 5. Der Beitrag der politischen Rhetorik zur Realisierung guter Politik

Im letzten Abschnitt des Isokrates gewidmeten Kapitels sollen Partien aus seinen Reden so zusammengestellt werden, dass man sie als generelle Reflexion auf Möglichkeiten und Hindernisse für den Versuch verstehen kann, eine Situation »schlimmster Übel« durch ›gute‹ Rede zum Besseren zu wenden. Die Darstellung ist zugleich eine Überleitung zum dritten Hauptteil, in dem es um konkrete Realisierungsprobleme einer Politik geht, die sich primär auf Überzeugungskraft stützt. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist ein Doppel-Satz, mit dem Isokrates in allgemeiner Form die Situation umschreibt, in der zwingend versucht werden muss, durch »Verständigung« und »Beratung« eine Handlungseinheit herzustellen, die in der Lage ist, gemeinsam Ziele zu verfolgen und die dafür geeigneten Mittel zielgerecht einzusetzen. Dabei wird der Grundsatz seiner Anthro­pologie239: »Alle Menschen sind auf ihren Vorteil bedacht und wollen mehr haben als alle anderen« mit einem Satz fortgeführt, der eine Dilemmasituation beschreibt: »doch sind sie sich über die nötigen Schritte nicht im klaren, die zu diesem Ziel führen« (8, 28). Menschen, die ›an einem Ort zusammenkommen‹, um diese Schwierigkeit zu überwinden, können sich dafür nicht auf methodisch fundiertes, allgemein lehrbares oder logisch de120 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

monstrierbares Herstellungswissen stützen (15, 271), sondern nur auf »unterschiedliche Vermutungen«, unter denen sich »richtige«, aber auch »völlig falsche Ansichten« befinden können (8, 28). Die allgemeine ›Ratlosigkeit‹ wird durch die kognitive und moralische Inhomogenität der ›Zusammengekommenen‹ verschärft: Einige besitzen große »seelische Vorzüge« und »geistige Fähigkeiten«, so dass sie aus eigener Kraft besser leben können als die meisten (ebd. 32), während andere von »schlechten Begierden« angetrieben sind (39) und deshalb nur die Fähigkeit entwickeln, sich selbst und andere »zu täuschen und zu betrügen« (36). Da Isokrates für seine Zeit annimmt, dass sich die meisten Menschen von ›täuschenden‹ Reden beeindrucken lassen, simuliert er keine ideale Beratungsoder Kommunikations-, sondern eine Notsituation, in der ein ›rettender‹ Konsens nur schwer zu finden ist (vgl. 9  f ). Unabhängig davon nennt er die folgenden Kriterien oder Mindestbedingungen, die eine ›Meinung‹ erfüllen muss, wenn sie überhaupt das Handeln einer ›Menge‹ auf längere Zeit anleiten soll: Sie muss den ›Glauben‹ begründen, dass das von ihr empfohlene Handlungsziel allgemein vorteilhaft und die damit verbundene Last ›gerecht‹ verteilt ist. Das kann aber nur gelingen, wenn sie in einem transparenten Beratungsverfahren gefunden wird. Wenn sie durch Zufall zustande kommt, bringt sie allenfalls punktuelle Vorteile, die schnell wieder verspielt werden, und wenn sie mit Gewalt durchgesetzt wird, verhindert sie selbst im Fall ihrer Richtigkeit von vornherein jede Kooperation oder zerstört sie nachträglich. Die ›Zusammengekommenen‹ können deshalb eine zielführende, langfristig wirksame und gemeinsam umzusetzende Vorstellung von ihrem Nutzen nur finden, wenn sie die darauf bezogenen Meinungen nicht für gesichertes Wissen, sondern für irrtumsanfällige Vermutungen halten. Nur dann ist es für sie rational, sie neben­ einander zu stellen und durch Rede und Gegenrede zu versuchen, einen Konsens zu erzielen. Obwohl grundsätzlich jeder Mensch seinen Vorteil erkennen kann (6, 3), ist diese Fähigkeit vor allem in unvorhergesehenen Krisensituationen, für die es keine fertigen Lösungsmuster gibt, in der Regel nur schwach ausgebildet und in hohem Maße fehler­anfäl­lig. In solchen Situationen tendiert die ›Menge‹ nämlich zu kuranten Meinungen und bringt nicht die Selbstbeherrschung auf, sie kriIsokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 121

tisch zu prüfen. Da Isokrates eine Anthropologie menschlicher Schwäche vertritt, die sich unter bestimmten Voraussetzungen  – ›schlechte‹ Verfassung, Dominanz gewaltgestützter Politik – zu politischer Blindheit verschärft, ist eine handlungsbestimmende Meinung, die eine ›Menge‹ aus ›schlimmem Übel‹ herausführt, aus folgenden Gründen besonders schwer zu finden: (1)  Menschen lassen sich häufig von irrigen Meinungen beeindrucken 240 , so dass die meisten ihr Interesse verkennen und ihm deshalb entgegenhandeln.241 (2)  Viele Menschen haben sogar eine ausgeprägte Vorliebe für das in Wahrheit Schädliche (2, 45). Damit verbunden ist (3)  ein heftiger Unwille, die Anstrengung auf sich zunehmen, »etwas von dem, was« in einer bestimmten Situation »notwendig ist, mit der erforderlichen Sorgfalt zu betrachten« (2, 46). (4)  Daraus entsteht die fatale Neigung, »vor der Wahrheit in den das Leben betreffenden Angelegenheiten« insbesondere dann »zu fliehen«, wenn sie unangenehm ist und den Einsatz eigener ›Mühe‹ verlangt. Im Sozialverhalten wird daraus (5)  die Neigung, sich nur mit denen zusammenzuschließen, die diese Schwächen teilen, so dass Kritiker als Abweichler ausgegrenzt oder offen angegriffen werden (2, 42 und 46). Aus der Bewegung des Strebens nach Vorteilen wird deshalb bei den meisten Menschen eine Strategie der Lustmaximierung, die eigenen Belastungen ausweicht und sie nach Möglichkeit anderen aufbürdet, obwohl man wissen könnte, dass es langfristig vorteilhafter ist, durch »Übung« die Tüchtigkeiten aufzubauen, mit denen man Notlagen aus eigener Kraft bewältigen kann.242 Gegen diese Schwächen hilft allein die Tugend der »Wohlberatenheit« (1,  34), weil sie zu einer Selbstbeherrschung führt (21), die das »Furcht­ erregende«, das menschliche Lebenszusammenhänge immer wieder bedroht (vgl. z. B. 6, 48; 7, 4  f und 8), unverstellt in den Blick nimmt und die Ursache dafür nicht auf andere abschiebt, sondern im eigenen Verhalten sucht. Nur der beherrschte Blick auf selbst verschuldete »größte Übel« kann das produktive Erschrecken erzeugen, aus dem der »Mut« hervorgeht, an den eigenen Einstellungen und Handlungsgewohnheiten »zu ändern, was nicht gut ist« (9, 7). Zugleich aber muss das Bewusstsein dafür erhalten bleiben, dass die erfolgreiche Korrektur des ›Schlechten‹ immer auch auf 122 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

das gute Glück (eÙtuc…a) angewiesen ist, das die Götter wiederum nur denen gewähren (1, 34), die sich selbst im Maße des Möglichen um eine Veränderung zum Besseren bemühen. Die richtige Beratung über die ›Rettung‹ aus ›gegenwärtiger Gefahr‹ setzt im politischen Kontext die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, vergangene Ereignisse, die entweder auf verhängnisvolle Weise nachwirken oder ein besseres Leben begründet haben, so zu bewerten, dass »eine richtige Entscheidung über die Zukunft« getroffen wird. Weil auch dabei zwangsläufig verschiedene »Vermutungen« aufeinander treffen, lässt sich eine solche Entscheidung nur finden, wenn es für die Beteiligten zur Gewohnheit geworden ist, »entgegengesetzte Meinungen« über die Bedeutung früherer, gegenwärtiger und zukünftiger Handlungsmuster »gegeneinander abzuwägen« (8, 8  f ). Unter monarchischen Bedingungen ist es die Aufgabe des Königs, auch komplizierte Problemlagen so zu erfassen, dass er seine Polis aus Notlagen herausführen, ihren Wohlstand sichern oder ihre Macht erweitern kann (2, 9). Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die Arbeit an seinem Charakter, bei der er sich vor allem darin üben muss, »Erörterungen anderer aufmerksam zuzuhören« und selbst frei »über schöne und gute Handlungen zu reden« (1, 18). Isokrates bindet die ›königliche Kunst‹ an eine Institution, wenn er im Sinne Homers betont, dass »gute Gedanken« am besten in einer Beratung gefunden werden, an der viele »Gute« unter gleichen Bedingungen teilnehmen (2, 38). Die Kunst des Regierens hat ihren Schwerpunkt deshalb nicht im Handeln, sondern nur der König, der »den größten Teil seiner Zeit mit dem Suchen, Überlegen und Beraten« verbringt, kann die Fähigkeit entwickeln, für seine Polis »in den meisten Fällen das Richtige zu treffen« (9, 41). Die Mitglieder der Bürger-Polis sind die Erben der ›königlichen Kunst‹. Sie müssen deshalb ebenfalls wissen, dass das politisch Richtige nur im kritisch prüfenden Blick auf potentiell irrtumsanfällige Vermutungen zu finden ist (8, 8). Grundsätzlich können nur wenige Menschen »über nützliche Dinge richtige Vermutungen« anstellen und öffentlich darlegen (10, 5). Sie benötigen dafür aber nicht nur Erfahrung und Urteilsklugheit, sondern auch den Mut, im Redewettkampf um das allgemeine Wohl ihre Stimme zu erheben (10, 9). Im Rhetorikunterricht, wie ihn Isokrates versteht, geht es deshalb in erster Linie um die Arbeit an dieser Tüchtigkeit. Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 123

Aufnahmebedingung ist die erwiesene Selbstberatungskompetenz in den Angelegenheiten des eigenen Lebens, die im Unterricht zur Fähigkeit ausgebildet wird, die Polis hinsichtlich des für sie Richtigen zu beraten (15, 190). Im besten Fall kann ein Redner im Wettbewerb der Meinungen nicht nur das »Wort« finden, das Fehlverhalten zu kritisieren wagt«243 , sondern es auch mit dem Wohlklang ausstatten (13, 16 und 15, 189), durch den es wie ein »Heilmittel« (f£rmakon) wirken und sogar die Denkweise (gnèmh) solcher Menschen ändern kann, die in ihrem Handeln »schlechten Begierden« folgen (8, 39). Dass mit dieser Forderung nach der Verbindung von gravitas und suavitas kein Zauberwort gemeint ist, das alles mit einem Schlag zum Guten wendet, wird daran deutlich, dass Isokrates seine eigenen Reden dadurch charakterisiert und auch so gestaltet, dass sie inhaltlich ›vieles ansprechen‹ und ›weiter ausholen‹, als das in einer monothematischen oder ausschließlich auf unmittelbar Gegenwärtiges bezogenen Rede möglich wäre. Nur durch den Einsatz vielfältiger Formen des sprachlichen Ausdrucks, die ›bald an manches erinnern, bald Kritik üben, manches loben und in anderen Dingen Ratschläge erteilen‹ (27), kann ein Redner historische und psychologische Hintergründe eines gegenwärtigen ›Übels‹ so darstellen, dass seine Hörer dazu übergehen, seine Ursache selbstkritisch auch im eigenen Verhalten zu suchen. »Heilung« durch das Wort ist jedoch nie ein monologischer, sondern immer ein dialogischer Vorgang, der auch auf Seiten der Hörer das Ethos der Bürgerfreundschaft und die Befähigung zu politischem Urteil voraussetzt. Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, wird die Polis zu einem Ort, an dem immer mehr Menschen nur noch als atomisierte, ausschließlich auf ihr Privatinteresse bezogene Individuen nebeneinander leben (15, 153  f und 159  ff ). Infolgedessen kann auch die beste politische Beratungsrede nicht mehr die Resonanz finden, die sie für ihre ›heilende‹ Wirkung benötigt (8, 27). Eine gute politische Beratungsrede stützt sich deshalb bereits bei ihrer formalen Gestaltung nicht nur auf rhetorisch-technische Kenntnisse, sondern vor allem auf die Fähigkeit, sie in den verschiedensten Situationen zielgerecht ›in Gebrauch zu nehmen.‹244 Nur wenn der Redner an der jeweils richtigen Stelle seiner Rede »Vermutungen« über das »für die jeweilige Situation Angemessene« vorträgt, besteht die Möglichkeit, dass »vernünftige Menschen« das darin als 124 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

vorbildlich Dargestellte verstehen und ihre dadurch gewonnenen Einsichten an andere »tüchtige Menschen« weitergeben (9, 73  ff ). Der Wettkampf der Reden ist deshalb auf ein ›mitüberlegendes‹ und ›mitkämpfendes Publikum‹ angewiesen. Nur als Resultat einer Interaktion zwischen Redner und Publikum kann eine Rede der Kraft ähnlich werden, die nach der Konstruktion des Isokrates in der Frühzeit Griechenlands von Athen aus eine anomische Umgebung zu rechtlich geprägter Ordnung umgestaltet hat.245 Nach der Diagnose des Isokrates verhalten sich die führenden Politiker der Gegenwart jedoch so, dass der ›gute‹ Redner auf sich allein gestellt ist und deshalb kaum mehr die Möglichkeit hat, eine Kampfgemeinschaft für das ›Gute‹ zustande zu bringen. Selbst in der Polis, die die menschliche Kultur geschaffen und bereits »dreimal die Griechen befreit hat«246 , lassen sich die Bürger von den kriegstreiberischen Worten derer beeindrucken 247, die jetzt »auf der Rednerbühne ihr Unwesen treiben« (5, 129). Aus diesem Grund kann nur die Erinnerung an gelungene Interaktionen zwischen ›besonnenen‹ Rednern und einem ›vernünftigen‹ Publikum aus der früheren Geschichte Athens ein Anstoß dafür sein, ›gute‹ Politik wiederzubeleben. In der Antidosis-Rede nennt Isokrates vier Musterbeispiele, die verdeutlichen sollen, »dass unter den heutigen und den jüngst verstorbenen Politikern sich diejenigen als die Besten gezeigt haben, die sich am meisten um das öffentliche Reden gekümmert haben« und dadurch für die Polis die Geber der größten Güter gewesen sind (15, 231): 15, 232: »Angefangen hat das mit Solon. Denn als er an die Spitze des Volkes (prost£thj toà d»mou)248 getreten war, gab er ihm Gesetze, brachte die öffentlichen Angelegenheiten in Ordnung (t¦ pr£gmata dištaxe) und richtete die Polis so ein (kateskeÚasen), dass die Liebe ihrer Bürger sogar noch heute (æst’ œti kaˆ nàn ¢gap©sqai) den Regelungen gilt, die er zu einer politischen Ordnung zusammengefügt hat (t¾n dio…khsin t¾n Øp’ ™ke…nou suntacqe‹san). Als nächster überredete Kleisthenes (lÒgJ pe…saj), nachdem er von den Tyrannen aus Athen vertrieben worden war, die Eidgenossenschaft der Amphiktyonen, ihm Geld des Gottes (sc. aus dem Tempelschatz des Delphischen Apoll, AR) zu leihen.249 Damit brachte er das Volk wieder zur Macht, vertrieb die Tyrannen und richtete die Demokratie ein (katšsthse), die für die Griechen insgesamt zur Ursache der größten Güter (mšgista ¢gaq£) geworden ist.250 Isokrates und sein Konzept politischer Rhetorik | 125

(233) Danach riet (sumbouleÚsaj) Themistokles, nachdem er im Persischen Krieg zum militärischen Führer bestimmt worden war, unseren Vorfahren, die Stadt zu verlassen – und wer hätte sie dazu überreden können (pe‹sai), wenn nicht ein solcher, der sich mit Hilfe des überzeugenden Wortes durchzusetzen vermag (tù lÒgJ dienegkèn)? – und förderte damit ihre politische Machtstellung so weit, dass sie sich um den Preis, für einige Tage Vertriebene zu sein, auf lange Zeit zu Herren (despÒtai) aller Griechen gemacht haben. (234) Als letzter (tÕ d teleuta‹on) hat Perikles, ein ausgezeichneter Führer des Volkes (dhmagwgÕj ¢gaqÒj) und überragender Redner (∙»twr ¥ristoj), die Stadt so prächtig mit Tempeln, Denkmälern und anderem geschmückt (™kÒsmhse), dass noch die heutigen Besucher Athens zu der Überzeugung gebracht werden, diese Stadt sei würdig, nicht nur die Griechen, sondern die ganze Welt zu beherrschen«.251

In der Helena-Rede ergänzt Isokrates diese Beispiele durch den Mythos von der Polisgründung durch Theseus, der in seiner Sicht für die Leistungen dieser Politiker den ersten Grund gelegt hat. Die folgenden Kapitel thematisieren ›allgemein verbreitete Vorstellungen‹ von diesen Personen, wie sie im Erinnerungsraum der Zeitgenossen des Isokrates präsent gewesen sind.252 Die dafür heran­ gezogenen Texte verdeutlichen aber auch Probleme der Umsetzung einer Politik, die sich primär auf die Gestaltungskraft der ›guten‹ Rede stützt.

126 | Die konzeptionellen Grundlagen der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

III. Realisierungsprobleme – Möglichkeiten und Grenzen rhetorisch fundierter Politik A. Der Ruf des Theseus oder die Gründung der Polis durch überzeugende und machtgestützte Rede

Soweit das für uns nachvollziehbar ist, hat zuerst Thukydides Theseus die institutio prima Athens als Bürger-Polis zugeschrieben. Zu annähernd derselben Zeit tritt er in den Hiketiden des Euripides als demokratisch gesonnener Monarch auf, der sich für Redefreiheit1, gleiches Stimmrecht für alle Bürger, den jährlichen Wechsel in den Regierungsämtern und die Bindungskraft des schriftlich codifizierten Rechts einsetzt.2 Seine Integration in eine demokratisch gefärbte Frühgeschichte Athens erscheint im Blick auf die ältere Überlieferung als mythopoietische Revolution, die den an Marathon und Aphidnai gebundenen Lokalheros mit notorischer Neigung zu hybrid-verwegenen Abenteuern zum maßgeblichen Begründer athenischer Poliskultur umgestaltet hat.3 Theseus ist bereits zur Zeit des Kleisthenes als attisch-demokratisches Gegenbild zu einem Herakles aufgebaut worden, der eher die Ideale der dorischen Aristokratie verkörpert hat.4 Dieser ›jüngere‹ Theseus ist der große Wohltäter der Polis, der die Ungeheuer, die Attika und die Verkehrswege von der Peloponnes nach Athen unsicher gemacht haben, getötet, die Stadt mit gleichsam proto-themistokleischer Weitsicht auf die Auseinandersetzung mit einer übergroßen Seemacht (Kreta) vorbereitet 5 , sie von ungerechten Tributzahlungen an Minos befreit, Wehrlose vor dessen hybriden (= tyrannischen) Übergriffen beschützt 6 , die feindlichen Amazonen aus der Stadt vertrieben und mit ihnen Friedensverträge (sunq»kai) geschlossen7, seine Herrschaft gegen die Söhne des Pallas behauptet 8 und sich als König für das Recht ›Bittflehender‹ eingesetzt hat. Seine Stilisierung zum Sohn Poseidons sollte ihn auch hinsichtlich seiner Herkunft mit den Zeussöhnen Minos und Herakles auf die | 127

gleiche Stufe stellen.9 Am Schatzhaus der Athener in Delphi – um 500 errichtet – waren die wichtigsten Taten, die Theseus zum Wohl der Polis vollbracht hat, auf den Metopen der dem Prozessionsweg zugewandten Süd- und Ostseite, die »Arbeiten« des Herakles dagegen auf der dem Prozessionsweg abgewandten West- und Nordseite dargestellt. Die Mittelmetope der Südseite zeigte das Zusammentreffen von Theseus mit Athene als der Schutzgöttin ihrer Stadt und ihres Königs. Ihre Stellung in der Mitte zwischen ihm und Herakles im Tympanon des Ostgiebels sollte ihre »Beistandsgarantie« für beide Heroen zum Ausdruck bringen10 und deren Taten als sittlich vorbildliche Handlungen auszeichnen.11 Die Zuordnung des mythischen Gründungskönigs zum ›demokratischen‹ Athen kommt außerdem im Kult, aber auch in Bildern zum Ausdruck, die in seinem Heroon12 und in der Stoa Poikile zu sehen waren.13 In den Hiketiden des Euripides (421 v. Chr.) verteidigt Theseus nicht nur die ›demokratische‹ Verfassung seiner Stadt gegenüber dem Gesandten aus Theben14 , der sie als Anhänger der Monarchie vehement kritisiert (409  ff ), sondern setzt sich auch für panhellenisches Recht ein, indem er unter dem Eindruck der Worte seiner Mutter Aithra (297–331) das Begräbnis gefallener Kriegsgegner zu einem verbindlichen Rechtsanspruch erklärt15 , dem er mit Zustimmung der Bürger (349  ff, 393  f ) zunächst »durch gute Worte« (347: lÒgoisi peiqèn) und, wenn das nicht genügt, auch »mit der Gewalt (b…v) des Speeres« Geltung verschaffen will.16 Im Oedipus auf Kolonos des Sophokles ist er ebenfalls Herr einer Polis, »die dem Rechte dient und ohne die Gesetze nichts vollzieht« (913  f ), so dass er ›gerecht‹ handelt, wenn er Oedipus und seine Töchter vor ­K reons Zugriff schützt (ebd. 1143  ff ).17 Mit der Aufnahme des Theseus in die offizielle Königsliste der Stadt und seiner Stilisierung zum Zeitgenossen des Herakles erhält Athen aktiven Anteil an der Welt des heroischen Mythos und kann dadurch sein Ansehen inner­halb Griechenlands steigern.18 Thukydides führt die Leistungen des Theseus, mit denen er Attika »überhaupt erst eine feste politische Ordnung« (diekÒsmhse t¾n cèran) gegeben hat, auf seine politischen ›Tugenden‹ zurück und charakterisiert sie durch die Fähigkeit zur situationsgerechten Mischung von ›Gewalt‹ und ›Überzeugungskraft‹. Nur als ebenso »verständiger« wie »mächtiger Mann« konnte er Menschen, die 128 | Realisierungsprobleme 

seit »den ersten Königen in Einzelstädten mit eigenem Rathaus und eigenen Amtsträgern gelebt haben, … sich selbst … verwalteten und auch gegeneinander Kriege führten«, »in der jetzigen Stadt« vereinigen (xunókise) und im Gegenzug »Ratsversammlungen und Herrschaftsämter« der Einzelstädte »auflösen«. Damit wird ein Vorgang der Staatenbildung beschrieben, bei dem die unverändert dezentral organisierte ökonomische Sphäre (»jeder bewirtschaftete wie früher seinen Besitz«) von einer neuen, zentral organisierten und auf Wachstum angelegten politischen Sphäre überlagert wurde.19 Nach der von Herakleides aus Lembos (2.  Jh.  n. Chr.) verfassten Epitome der aristotelischen Athenaion Politeia, die ihren verlorenen Anfang in Kurzfassung wiedergibt, hat Theseus das nur tun können, weil er die Stasis zwischen den Söhnen des Pandion, in der es um die Herrschaft über ganz Attika ging, durch »Ruf« und »Zwang« (™k»ruxe kaˆ suneb…base) beendet und sie »auf der Grundlage gleich großer und gleichwertiger Anteile« (™p’ ‡sV kaˆ Ðmo…v) versöhnt hat. Plutarch, der den Synoikismus im Unter­schied zu Thukydides als Umsiedlung aller Bewohner Attikas in eine einzige Stadt missversteht (sunókise e„j žn ¥stu), beschreibt die Machtmittel des Theseus ebenfalls als Mischung von ›Zwang‹ und ›Überzeugungskraft‹, die präzise auf die Sozialstruktur Attikas und die dadurch bedingten mentalen Unterschiede abgestimmt war. Attika besteht aus Dorfgemeinden (Demen) und Familienverbänden, die Theseus einzeln aufsucht, um sie von seinem Konzept politischer Zentralisierung zu überzeugen (¢nšpeiqe kat¦ d»mouj kaˆ gšnh). Dabei folgen »die schlichten und armen Leute schnell seinem Aufruf«, weil sie durch die neue Ordnung den bislang Mächtigen rechtlich und politisch gleichgestellt werden. Die Adligen müssen jedoch ihre königlichen Würden aufgeben (polite…a ¢bas…leutoj), sich in eine Ordnung fügen, in der alle Bürger »gleiches Recht („somoir…a) genießen«, und Theseus als ihren Oberherrn anerkennen, der ihr alleiniger »Anführer im Kriege« (¥rcwn polšmou) und der »Hüter der Gesetze« (fÚlax nÒmwn) ist.20 Einige der bislang ›Mächtigen‹ lassen sich vom Wort des Theseus überzeugen (œpeiqen), während die anderen, die ihm nur aus Furcht vor seiner überlegenen Durchsetzungskraft gehorchen (Thes. 24  f ), für die soziale Quelle der Stasis und der Tyrannis stehen. Sie wird erst von Kleisthenes dadurch Der Ruf des Theseus | 129

verschlossen, dass er den Synoikismus des Theseus gleichsam wiederholt und die dezentrale Gesellschaftsstruktur Attikas mit einer politischen Struktur überlagert.21 Den ersten Hinweis auf eine von Theseus eingerichtete Verfassung enthält die Atthis des Isokrates-Schülers Androtion (ca. 343).22 Sie wird in einer kurz danach entstandenen, Demosthenes zugeschriebenen Rede als »Demokratie« bezeichnet, weil das ›Volk‹ seinen König aus einer Gruppe von Personen wählen durfte, die »zuvor aufgrund ihrer Tüchtigkeit vorausgewählt waren« (™k prokr…twn kat’ ¢ndragaq…an).23 Aristoteles charakterisiert die ›Verfassung‹ des Theseus als »geringfügige Abweichung von der Königsherrschaft« (AP 41, 2: mikrÕn paregkl…nousa tÁj basilikÁj), die als erste ebenso große »Hinneigung zum Volk« (AP, Fr.  4 = Plutarch, Thes. 25: ¢pškline prÕj tÕn Ôclon) den entfaltungsfähigen Keim einer politischen Ordnung enthalten hat (AP 41, 2: œcous£ ti polite…aj t£xin). Sie war deshalb der Anfang einer teleologischen Bewegung, an deren ›natürlichem Ende‹ nur eine Verfassung stehen konnte, in der »das Volk sich selbst zum Herrn über alles gemacht hat« (ebd.). Die ›Verfassung‹, die von der Mitte des 4. Jhs. an auf Theseus projiziert wird, ist also entweder eine vom Willen des Volkes getragene Monarchie oder eine den Idealen guter Königsherrschaft verpflichtete Demokratie. Sie wird von Anhängern einer aristokratisch ausgerichteten Demokratie als vorbildlich gelobt und von Anhängern einer radikalen Oligarchie als zu volksfreundlich getadelt.24 Für den Platoniker Plutarch hat Theseus die Polis zuerst gegründet, sie dann zu ihrer vollen Größe erhoben 25 und ihr schließlich durch die Einteilung der Bürger in drei Klassen (eupatridischer Adel, Grund besitzende Bauern und Handwerker) eine Binnenordnung gegeben, die ihr inneren Frieden und politische Aktions­ fähigkeit gesichert hat.26 Die Minderung an Ehre, die der Adel durch seine politisch-rechtliche Gleichstellung mit den einfachen Bürgern, die Bindung an eine gesetzliche Ordnung und den Verzicht auf selbständige Kriegführung hinnehmen musste, wird nach dieser Konstruktion dadurch ausgeglichen, dass die Eupatriden das Monopol auf Kultvollzug, Amtsführung und Rechtssprechung erhalten und damit für den Weg zuständig sind, auf dem das Göttliche, das im Kult als das in Wahrheit Gerechte erkannt 130 | Realisierungsprobleme 

wird (ginèskein t¦ qe‹a), auf der Handlungsebene der Polis zum Tragen kommt.27 Gleichzeitig verfügen aber auch die beiden anderen Bürgerklassen über ein Alleinstellungsmerkmal. So besteht die Ehre der Bauern in ihrem Monopol auf »Nützlichkeit« hinsichtlich der Lebensmittelversorgung, während die Handwerker die beiden anderen Bürgergruppen an ›Menge‹ übertreffen. Die Einteilung der Bürger in Klassen mit verschiedenen Aufgaben und Rechten folgt der Regel der geometrischen Gleichheit und verhindert dadurch das Aus­einander­fallen der Bürgerschaft in ein »ungeordnetes«, stasisanfälliges »Durcheinander« (25, 1  f). Die Polis des Theseus erscheint im Bild Plutarchs als lebendiger Kosmos im Sinne Platons, in dem jeder Teil das Seinige zu einem vollkommen durchgeordneten Ganzen beiträgt. Ihr Entstehungsgrund sind der konstituierende »Ruf« und das mehrfach gesprochene Wort eines volksfreundlichen Königs, der die in ihm wirksame Kraft des Guten auf den von ihm begründeten sozialen Körper überträgt und dabei keine physische Gewalt anwendet, sondern, ähnlich wie die Athene des Aischylos gegenüber den Erinyen, die eigene Überlegenheit lediglich in E ­ rinnerung bringt, um gewaltbereite Gegenkräfte im Zaum zu halten. Isokrates lobt im Panathenaikos Theseus dafür, dass er mit seiner »Tüchtigkeit und Klugheit« »Vieles und Schönes« (poll¦ kaˆ kal£) in der ›kriegerischen‹ wie in der ›gesetzgeberischen‹ Kunst geleistet und sich dadurch »eine völlig ungefährdete und sehr mächtige Herrschaft« erworben hat. »In der Blüte seiner Jahre hat er die Polis dem Volk zur Regierung übergeben«, das daraufhin spontan »die gemeinnützigste, gerechteste, vorteilhafteste und für die Bürger angenehmste Demokratie« eingerichtet und dadurch verhindert hat, dass »Zügellosigkeit« und »individuelles Belieben« die Einheit der Polis zerstören. Theseus steht bei Isokrates auch für die politisch richtige ›Ingebrauchnahme‹ ›kriegerischer Kunst‹, weil er die durch Entlastung von der täglichen Arbeit des Regierens gewonnene Freiheit nicht zur Vergrößerung seiner Eigenmacht eingesetzt, sondern »beständig irgendwelche Gefahren für seine Polis und die anderen Griechen« auf sich genommen und den Bürgern dadurch eine für sie nur schwer zu leistende und zudem für ihren inneren Zusammenhalt gefährliche ›Mühe‹ abgenommen hat (12, 127  ff ). Der Ruf des Theseus | 131

Ein ausführlicheres Bild von der ›guten Herrschaft‹ des Theseus entwirft Isokrates in seiner Helena-Rede.28 In ihr verdeutlicht er den grundsätzlich ambivalenten Charakter der politischen Macht, die nur dann »schöne Werke« hervorbringt, wenn sie aufgrund ihrer Volksfreundlichkeit und Gerechtigkeit die Gunst der Götter verdient, während sie in der Fixierung auf das eigene Interesse zur Tyrannis entartet, die jede Gemeinschaft und schließlich sich selbst zerstört. Aus Liebe zur Polis hat Theseus erkannt, dass das größte Übel für eine politische Gemeinschaft und für ihren ›Herrscher‹ in der ›Krankheit‹ der Tyrannis besteht.29 Weil sie als Gewalt Gegengewalt provoziert, treibt sie die Polis ins ›tierische‹ Dasein zurück und gestattet dem Tyrannen lediglich das erbärmliche Leben eines Menschen, »der im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet« (10, 33). Die Erkenntnis des größten Übels hat Theseus aber auch zu der Einsicht geführt, dass er für sich selbst das größte Gut nur erreichen kann, wenn er seine Liebe zur Polis zur triadischen Einheit von Frömmigkeit, Besonnenheit und Weisheit konkretisiert und damit über die Vollkommenheitstugend der Selbstbeherrschung verfügt, die allein dazu befähigt, auch über andere gerecht zu herrschen.30 Bei der praktischen Umsetzung dieser Tugend hat Theseus in einem ersten Schritt »die bis dahin weit verstreut und in einzelnen Dörfern lebende Bevölkerung« »zu einer Einheit zusammengeführt (e„j tautÕn sunagagîn) und diese so groß gemacht, dass Athen auch heute noch … die größte griechische Polis ist«. In einem zweiten Schritt hat er ihre Binnenordnung auf einen offenen »Wettbewerb um Tugend« (™x’ †sou t¾n ¡m…llan … perˆ tÁj ¢retÁj) gegründet und damit alle Bürger zu einer ständigen Bemühung um Tüchtigkeit herausgefordert. Dieser Wettbewerb sorgt für einen transparenten Zugang zu politischer Macht und garantiert zugleich, dass sie nur den Besten übertragen wird. Da Theseus sich dabei als der überragende Sieger bewährt, gewinnt er für sich zu Recht das höchste menschlich erreichbare Gut, nämlich ungefährdete, weil vom »Wohlwollen« »großherzig denkender« Polisbürger gestützte Macht. Damit erreicht aber auch die Polis das höchste Gut, nämlich die vollkommene Verwirklichung von Gemeinschaftlichkeit, die im gerechten Tausch von Gabe und Gegengabe bzw. von Liebe und Gegenliebe besteht. Die Gabe des Theseus hat darin bestanden, dass er aus dem Willen, »nichts gegen den 132 | Realisierungsprobleme 

Willen der Bürger« zu tun, den Demos »zum Herrn über die Polis gemacht« hat, und die Gegengabe der Bürger darin, dass sie ihn gebeten haben, ihr König zu bleiben, weil sie davon überzeugt waren, »dass seine Alleinherrschaft (monarc…a) vertrauenswürdiger ist und den Grundsatz der Gleichberechtigung besser verwirklicht als ihre Volksherrschaft«.31 Als ›wahrer Lenker und Wohltäter des Volkes‹ hat Theseus dem Demos »Gefahren« abgenommen und alles durch eigene ›Mühe‹ Gewonnene gerecht auf die Bürger verteilt. Obwohl es ihm leicht möglich gewesen wäre, als Tyrann zu herrschen, hat er die Polis »so sehr im Einklang mit den Gesetzen und so gut regiert, dass auch heute noch Spuren seiner milden Herrschaft in unseren Einrichtungen zu finden sind«.32 Isokrates hat den von ihm bewusst verdeckten ›wilden‹ Zügen des alten Theseus-Bildes33 das Schönheitsbild eines Tüchtigkeitswettkampfs zwischen ihm und Herakles entgegengestellt und damit im Wort verdeutlicht, was bereits der skulpturale Schmuck am Schatzhaus der Athener in Delphi zum Ausdruck gebracht hatte. Beide Heroen waren in der griechischen Frühzeit die einzigen »Wettkämpfer für das Leben der Menschen« (23). Auch in diesem Wettkampf war Theseus der Sieger, weil er als freier Mann »Gefahren« zugunsten der Griechen, insbesondere der Athener »auf sich genommen« hat, während Herakles als Diener des Eurystheus Arbeiten verrichten musste, die für niemanden nützlich waren und nur ihn selbst in Gefahr gebracht haben (24). Theseus hingegen hat als Einzelkämpfer den marathonischen Stier (25) und den Minotauros getötet, der als »Mischung aus Mensch und Stier« die Wildheit des ›tierischen‹ Lebens verkörpert hat. 34 Zusammen mit den Lapithen hat er die ebenfalls »zweigestaltigen« Kentauren besiegt, die mit ihrer »Schnelligkeit, Kraft und Dreistigkeit« (tÒlma) darauf bedacht waren, Städte zu zerstören (26). Und in den gemeinsam mit seinen Bürgern bestrittenen Kämpfen hat er sowohl seine hervorragende Kenntnis der ›kriegerischen Kunst‹ als auch mit dem Einsatz für ›Schutzflehende‹ »Frömmigkeit gegenüber den Göttern« bewiesen (31). Theseus verkörpert die vollkommene politische Kunst, so dass seine überragende Tugendhaftigkeit auch den von ihm ­begründeten sozialen Körper geprägt hat.

Der Ruf des Theseus | 133

B. Solon und seine Politik der Eunomia

Thema dieses Kapitels ist das vor allem von Aristoteles skizzierte und für das 4. Jahrhundert insgesamt charakteristische Solon-Bild. Danach ist er der große Gesetzgeber Athens, der eine Stasis zwischen »Armen« und »Reichen« beendet 35 und der Polis eine »Verfassung« gegeben hat, in der »das Volk nicht zu kurz kam« und »die Vornehmen« gehalten waren, »ohne Fehler zu regieren« (Pol. VI 4, 1319 a 1–4). Trotzdem steht am Schluss des ihm gewidmeten Teils der Athenaion Politeia erneut eine Periode der Stasis, die erst mit der Tyrannis des Peisistratos ihr Ende findet. Weil Solons Verfassung aber in der ›gesetzlichen‹ Regierung der Tyrannen nachgewirkt hat (AP 16, 7  f ), so dass Kleisthenes das in ihr Angelegte mit seiner »volksfreundlichen« Verfassung weiterführen konnte, ist sie für Aristoteles der »Ursprung« der athenischen Demokratie (AP 41, 2: ¢rc¾ dhmokrat…aj). Das aristotelische Solon-Bild hat seine eigenen Voraussetzungen36 und ist deshalb keine historische Darstellung seiner Tätigkeit 37. Es verdeutlicht jedoch die Verwirklichungsprobleme einer Politik, die in einer Stasis allein mit rhetorischer Überzeugungskraft und ›gesetzgeberischer Kunst‹ bürgerliche ›Eintracht‹ herstellen und für die Zukunft sichern wollte. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels geht es um die politischen Maßnahmen, die Solon im Blick auf dieses Ziel zugeschrieben werden, und im zweiten um Solons Dichtung, die seine Gesetzgebung medienwirksam unterstützen und seiner politischen Ethik zur Wirkung verhelfen sollte. Sie ist deshalb die lyrische Ursprungsform der ­politischen Rhetorik. 1. Die Vorstellungen des 4. Jhs. von Solons Politik

Bei Herodot ist das Bild vom Gesetzgeber noch der relativ kleine Teil des größeren Bildes vom ›weisen‹ Solon (I 29, 1), der die Unberechenbarkeit der göttlichen und die Fragilität der menschlichen Wirklichkeit hervorhebt, um vor allem diejenigen vor hybri­ der Selbstüberschätzung zu warnen, die sich wegen ihrer Erfolge beim Streben nach Reichtum und Macht für besondere Günstlinge der Götter halten.38 Zu seiner Weisheit hat es auch gehört, dass er 134 | Realisierungsprobleme 

nach seiner Gesetzgebungstätigkeit auf Reisen gegangen ist, um den Athenern keine Gelegenheit zu geben, ihn zur Änderung von Gesetzen zu drängen, die er ihnen auf ihren eigenen Wunsch hin gegeben und auf dauerhafte Geltung angelegt hatte.39 Für Platon ist Solon als wirkungsmächtiger Gesetzgeber (Symp. 209 d) ein Repräsentant alter ›lakedaimonischer‹ Weisheit (Prot. 343 a), aber auch ein Athener, dem wie seinen Mitbürgern insgesamt die tatsächlichen Anfänge ihrer Polis unbekannt sind. Da er sich aber vor seiner gesetzgeberischen Tätigkeit von den ägyptischen Priestern in Sais darüber unterrichten lässt40 , steht er in der Mitte zwischen einer alten, dem göttlichen Ursprung der Stadt verpflichteten Weisheit und einem neuartigen sophistisch inspirierten Wissen, das die politische Ordnung ausschließlich an menschlichen Interessen ausrichtet. Wäre er bei seiner Rückkehr aus Ägypten nicht »durch Aufruhr und andere Missstände« zu gesetzgeberischer Tätigkeit genötigt worden, hätte er als Dichter auf der Grundlage der »aus Ägypten mitgebrachten Sage« seine Mitbürger wieder mit dem göttlichen Ursprung ihrer Polis in eine produktive Verbindung bringen können (Tim. 21 c–d). In der aristotelischen Politik gehört Solon zur Sonderklasse der »überragenden Gesetzgeber« (nomoqšthj spouda‹oj), d. h. er war zugleich handelnder Politiker, »Hersteller von Gesetzen« (dhmiourgÕj nÒmwn) und Hersteller einer Verfassung« (dhmiourgÕj polite…aj) (Pol. II 12, 1273 b 32  ff ). Hinter dem Begriff »Herstellung« steht die von Platon nobilitierte Vorstellung eines Demiurgen, der für die Anfertigung seines ›Werkes‹ ein ›Gutes‹ vor Augen hat und sein Handeln ganz auf dessen Realisierung ausrichtet. Der überragende Gesetzgeber gleicht deshalb einem Architekten, der den Plan eines Bauwerks entwirft, und zugleich einem Baumeister, der ihn umsetzt, »bis alles, was dazu gehört, zu einem wohlgeordneten Werk zusammengestellt« ist (Platon, Gorgias 503 e – 504 a). Als Philosoph beschreibt Aristoteles Formen politischer Tätigkeit wie Herrschaftsausübung oder Gesetzgebung als begrifflich definierbare Einheiten, die auf verschiedene ›Arten‹ zu verwirklichen sind. Er interpretiert außerdem Tätigkeiten als Vorgänge, die Früheres vervollkommnen oder von Späterem vervollkommnet werden können. Die Spannung zwischen den Modalzuständen ›Möglichkeit‹ (dÚnamij) und ›Wirklichkeit‹ (™nšrgeia) gehört zu einem Begriff Solon und seine Politik der Eunomia | 135

teleologischer Bewegung, der natürlich auch den Ausführungen des Aristoteles zur Bedeutung der solonischen Verfassung für die athenische Demokratie zugrunde liegt. Zur Zeit Solons hat es den demiurgisch-souveränen Gesetzund Verfassungsgeber ebenso wenig gegeben wie die bei Aristoteles vorausgesetzte Unterscheidung zwischen Verfassungs- und Zivilrecht.41 Der Gesetzgeber des 7. und 6. Jhs. sollte vielmehr als »Schiedsrichter«, Diallaktēs42 oder Aisymnet43 konkrete Störungen des gesellschaftlichen, religiösen, wirtschaftlichen oder politischen Lebens durch Verhandlungen mit den Betroffenen beheben.44 Wenn Solon in seiner Dichtung betont, er habe »Gesetze aufgeschrieben (qesmoÝj œgraya), gleichermaßen für den Schlechten und den Guten45 , geraden Rechtsspruch einem jeden anpassend« (36  W  18  ff ), so umschreibt er damit sein Vorhaben als den Versuch, die archaische Praxis informeller Streitschlichtung zu institutionalisieren und den Bedingungen der Bürger-Polis anzupassen. Geschriebene und jedermann zugängliche Gesetze (AP 7,2) treten an die Stelle der ›geraden Rechtssprüche kluger Könige‹, die in der archaischen Welt für die Verwirklichung von Gerechtigkeit verantwortlich waren.46 Bei Aristoteles kann man sehen, dass das Bild vom Gesetzgeber Solon, der eine ›ungemischte Oligarchie‹ durch eine ›demokratische‹ Ordnung ersetzt hat, in den Parteienstreit zwischen ›gemäßigten‹ und ›radikalen‹ Demokraten des 5. und 4. Jhs. geraten ist.47 Für beide gilt Solon als Gründer der ›väterlichen Demokratie‹ (dhmokrat…a p£trioj), die als ›gute‹ Mischverfassung mit der Bestätigung der Aufsichts- und Gestaltungsbefugnisse des Areopag ihr oligarchisches, der Beibehaltung des Ämterprivilegs für die ›Reichen‹48 ihr aristokratisches und der Neueinrichtung von Gerichtshöfen49, deren Mitglieder durch das Los aus dem gesamten ›Volk‹ bestimmt wurden, ihr demokratisches Element erhalten hat. Genau darin sehen die ›gemäßigten‹ Demokraten eine Schwächung der ›besseren‹ Bürger, die zuvor das Monopol auf kultische, politische und juristische Handlungskompetenz innehatten. Da sie aufgrund der Gesetze Solons Rechtsansprüche vor »Volksgerichten« statt vor dem aus eigenen Standesgenossen zusammengesetzten Areopag geltend machen mussten, hätten sie sich daran gewöhnt, »dem Volke wie einem Tyrannen zu schmeicheln«, mit der Folge, 136 | Realisierungsprobleme 

dass der von Solon den einfachen Bürgern zugewiesene Macht­ anteil ständig erweitert worden sei und seine ›väterliche‹ zur »jetzt bestehenden« ›ungemischten‹ Demokratie verändert habe. Die Kontrolle der gesamten politischen Tätigkeit durch das zu Gericht sitzende »Volk« habe eine Entwicklung auf die Bahn gebracht, an deren Ende »das Volk« zwangsläufig »Herr über alles« geworden sei (Pol. II 12, 1273 b 35 – 1274 a 11). Aristoteles teilt diese Auffassung nicht, obwohl Solon auch für ihn das »Volk« zum »Herrn über den Stimmstein im Gericht« gemacht und damit die monarchische »Hinneigung« des Theseus »zum Volk« unter aristokratisch-demokratischen Vorzeichen wiederholt hat (AP 41, 2). Die »nach allgemeiner Ansicht volksfreundlichsten Maßnahmen« Solons sind für ihn jedoch die »Abschaffung der Darlehen, für die mit dem eigenen Körper gehaftet werden musste«, die Einführung einer Popularklage 50 und das Recht auf Überweisung (= Ephesis) von Prozessen, die in erster Instanz von einem Amtsträger entschieden worden sind, zur Überprüfung oder Neuverhandlung an die neu geschaffenen Volksgerichte. Verfassungspolitisch hat Solon »dem Volk« jedoch nur »die notwendigste Macht« (t¾n ¢nagkaiot£thn dÚnamin) gegeben, nämlich das Recht, in der Ekklesia die Archonten mitzuwählen und zur Verantwortung zu ziehen; »denn wenn das Volk darüber nicht die Entscheidung hätte, wäre es ja wohl geknechtet (doàloj) und deshalb gegenüber der Verfassung feindlich eingestellt (polšmioj)«.51 Die von konservativer Seite beklagte Zerstörung der ›väterlichen Demokratie‹ hat für Aristoteles ihren wirklichen Grund nicht in der solonischen Verfassung, sondern in der Seeherrschaft der Athener. Sie hat »das Volk« so selbstbewusst gemacht, »dass es sich schlechte Führer nahm«, die aus Eigennutz und gegen den Widerstand der »Anständigen« die Macht des Demos ständig erweitert haben. 52 Solons ›schöner Mischung‹ (vgl. Pol. II 12, 1273 b 39) hat dagegen die richtige Einsicht zugrunde gelegen, dass jedes Zuviel an Macht das innere Gleichgewicht und damit die Grundlage der Bürger-Polis zerstört. Ein solches Übermaß war das Festhalten der »Reichen« am Monopol auf Grundbesitz, weil dadurch die »Armen« gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt als deren Lohnarbeiter oder Kleinpächter (»Hektemoren«) zu verdienen 53 . Da Hektemoren nach attischem Recht für die Pacht mit dem eigenen Solon und seine Politik der Eunomia | 137

und dem Leib ihrer Familienangehörigen haften mussten 54 , hat Zahlungsunfähigkeit ›sklavische Abhängigkeit von den Reichen‹ bedeutet (AP 2,2). Wegen des Festhaltens der ›Wohlhabenden‹ am politischen Gestaltungsmonopol konnten die »Armen« (Pol. II 12, 1274 a 11–18) ihre Notlage nicht auf legale Weise ändern (AP 2, 1–3). Das hybride Insistieren der ›Angesehenen‹ auf Übermacht war für Aristoteles der Entstehungsgrund einer besonders brutalen Stasis, die deshalb auch über einen langen Zeitraum in blutigen Kämpfen ausgetragen wurde (AP 5, 3). Nach der Interpretation des Aristoteles war mit der »Wahl« Solons zum »Schiedsrichter« die bestehende oligarchische Verfassung außer Kraft gesetzt. Die souveräne Gestaltungsmacht des »Herrn über die politischen Angelegenheiten« (AP 6, 1: kÚrioj tîn pragm£twn) hat damit in der Hand eines angesehenen Bürgers gelegen, der trotz seiner vornehmen Herkunft weder zu den ›Reichen‹ noch zu den ›Armen‹ gehört, sondern zwischen beiden Gruppen eine ›mittlere‹ Stellung eingenommen hat.55 Wie der Theseus des Isokrates hat Solon aus Liebe zur Bürger-Polis und als »in jeder Hinsicht maßvoller (mštrioj) Mann« die ihm übertragene Macht (™xous…a) nicht verwendet, um »die anderen zu Untertanen zu machen und über die Polis wie ein Tyrann zu herrschen«56 , sondern um einen Bürgerkrieg durch für beide Seiten annehmbare Regelungen zu beenden. Aus Interesse an dauerhafter Ehre für sich selbst hat er »das Wohlergehen der Polis über den eigenen Vorteil gestellt« und dafür das Risiko in Kauf genommen, sich den »Hass« beider Parteien zuzuziehen (AP 6, 3  f ). Obwohl die Tyrannis um 600 ein übliches Instrument der Stasisbekämpfung war57, hat sich Solon ähnlich wie Theseus bei Plutarch für die Mühe des ›Hin- und Hergehens (diamfisbhte‹) zwischen den Parteien‹ entschieden und ›so lange zugleich gegen und für beide gekämpft, bis sie bereit waren, ihren fanatischen Kampfeswillen (filonik…an) aufzugeben‹ (AP 5, 2). Das Verbot der Schuldsklaverei 58 hat in Verbindung mit dem »Erlass« aktueller Schulden59 das Volk von »drückender Last« befreit und seine »Knechtschaft« beendet (Pol. II 12, 1273 b 37  f, vgl. AP  6, 1). Damit verbunden war ein »Ehrgeschenk«, das auch den ›Armen‹ den Status eines freien, unter dem Rechtsschutz der Polis stehenden 138 | Realisierungsprobleme 

Bürgers gesichert hat (Solon 5 W 1  f ). Solon hat in seiner Dichtung die Maßnahmen zur »Lastenabschüttelung« mit einem ungewöhnlichen Bild gerechtfertigt. Er stellt sich dort nämlich als denjenigen dar, der mit dem ›Ausheben vielerorts eingepflockter Markierungssteine‹ (Horoi)60 aus der ›schwarzen Erde‹ (vgl. He­siod, Theog. 69), also der attischen Gaia, nicht nur Unrecht an vielen Kindern eines ›gottgegründeten Vaterlandes‹ (36 W, 8: patrˆj qeÒktitoj)61, sondern auch einen Frevel an der »größten Mutter der olympischen Götter« beendet hat (ebd. 13). Er spielt damit auf den Mythos von der Autochthonie der Athener62 und auf die »Untat« des ›Tyrannen‹ Uranos bei Hesiod an (Theog. 160: dol…h kak»), der seine von Gaia zur Welt gebrachten ›schrecklich-gewaltigen‹ Kinder nach ihrer Geburt in den Leib ihrer Mutter zurückgestoßen und mit ihrem Schoß die Quelle allen Lebens verschlossen hat (ebd. 154  ff ). Solon beansprucht, die Integrität und damit auch die Fruchtbarkeit der attischen Gaia wiederhergestellt und »viele« Athener wieder zu ihrer göttlichen Mutter zurückgeführt zu haben63 , die »außerhalb des Rechts« oder auch »rechtens« (36 W 9  f ) in die Fremde verkauft oder durch Not gezwungen waren, auf der Flucht ›vielerorts umherzuirren‹ (12: pollacÁi planèmenoi) und sich bereits der attischen Sprache entwöhnt hatten. Betroffen waren aber auch diejenigen, die »hier an Ort und Stelle« »ungebührliche Knechtschaft (13: doul…hn ¢eikša) zu leiden« oder für die Zukunft zu fürchten hatten. Diese theologisch aufgeladene Selbstrechtfertigung zeigt, dass sich Solon der Eingriffstiefe seiner Maßnahmen bewusst war. In der Tat war damit das traditionelle Rechtsprinzip in Frage gestellt, das der Integrität des Eigentums vorrangigen Stellenwert eingeräumt hatte. Weil der zahlungsunfähige Schuldner als Dieb galt, der seinem Gläubiger rechtmäßiges Eigentum entzieht, verlor er den Rechtsschutz der Polis und konnte deshalb als »Ehrloser« dem mobilen Besitz seines Gläubigers zugeordnet werden. 64 In demselben Iambos bringt Solon aber auch den innovativen Charakter seiner gesamten Politik zum Ausdruck, indem er sein Machtinstrument (15: kr£toj) als neuartige, von ihm selbst geschaffene ›Zusammenfügung‹ der an sich miteinander unvereinbaren Kräfte der Gewalt und des Rechts (16: Ðmoà b…hn te kaˆ d…khn xunarmÒsaj) beschreibt. Um seine Macht von der rechtlosen Gewalt eines Tyrannen oder einer Stasispartei zu unterscheiden, ruft Solon und seine Politik der Eunomia | 139

er die von ihm zuerst befreite Gaia als Zeugin dafür auf, dass er seine Macht ausschließlich in der Bindung an zuvor vereinbartes Recht ›in Gebrauch genommen‹ hat (2 und 17). Weil er außerdem davon überzeugt war, dass die von ihm in die Wege geleiteten Maßnahmen mit göttlichem Recht verträglich sind, konnte er den Satz aussprechen: »Was ich gesagt, habe ich mit den Göttern vollendet, Weiteres aber tat ich nicht« (34 W 6  f ). 65 Bei Aristoteles stehen neben der ›Seisachtheia‹-Politik Gesetze zur Korrektur einer in »Unordnung« geratenen Verfassung (AP 7, 1). Das erste und wichtigste betrifft die ›gerechte‹ Verteilung des Ausmaßes an politischer Mitgestaltungskompetenz (»Ehre«). In einer arbeitsintensiven Agrar- und Handwerkswirtschaft, in der ›Arme‹ an ihr ›Haus‹ gebunden waren und nur ›Reiche‹ ohne ökonomische Nachteile politische Ämter übernehmen konnten, kam als Verteilungsmaß dafür nur die geometrische, also eine meritokratisch abgestufte Form von Gleichheit in Frage. Grundlage der Anwendung dieses Maßes war die Einteilung der Bürger in vier Zensusklassen: Pentakosiomedimnen, Hopliten (»Ritter«), Zeugiten (»Gespannbauern«) und Theten. Mit ihr soll eine ältere, auf »edle Geburt« abgestimmte Einteilung (AP 7, 3) 66 so umgestellt worden sein, dass dem ›Mehr‹ und ›Weniger‹ an politischer ›Ehre‹ der in Medimnen gewogene jährliche Ernteertrag an Weizen und damit ein Maß zugrunde lag, das dem aktiven Beitrag eines Bürgers zur prekären Getreideversorgung Attikas entsprach. Da auf derselben Grundlage auch die Beteiligung am Kriegsdienst geregelt wurde, bestand zwischen politischem Mitwirkungsrecht, Waffendienst und agrikultureller ›Nützlichkeit‹ ein transparenter und zugleich gerechter Zusammenhang. Politische Ämter waren Mitgliedern der drei ersten Klassen vorbehalten, die wichtigeren den beiden ersten und die neun Archontenämter oder wenigstens die meisten von ihnen – insbesondere das Schatzmeisteramt – den Pentakosiomedimnen. Die ›Ehre‹ der Theten bestand dagegen lediglich im Recht zur Teilnahme an der Rechtspflege sowie an der Wahl und Überprüfung der Amtsträger. Die besondere Privilegierung der von Solon neu eingeführten ersten Zensusklasse war auch ein Instrument institutioneller Stasisprophylaxe, weil sie den ›Reichen‹ unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum alten Eupatriden-Adel die Möglichkeit eröffnet hat, im Rahmen der Polis und nicht im Kampf gegen sie 140 | Realisierungsprobleme 

danach zu streben, im Sinne der heroisch-­agonalen Ethik Homers ›der Beste und den anderen überlegen‹ zu sein. Die in der AP beschriebene Mischung aus aristokratischem Wahl- und demokratischem Losverfahren bei der Zuteilung der einzelnen Archontenämter macht deutlich, dass neben der ›künstlich‹ durch Setzung (qšsij) geschaffenen (oder modifizierten) Einteilung der Bürger in Zensusklassen eine frühere Einteilung in Phylen bestanden hat, die wegen ihrer Zurückführung auf Ion, den Sohn Apolls und Stammvater der Ionier, theologisch legitimiert war und wegen ihres Alters als ›natürlich‹ empfunden wurde (AP 41, 2). Solon hat beide Einteilungsprinzipien folgendermaßen miteinander verbunden: Jede der vier ionischen Phylen hat zehn nach Maßgabe ihrer Zensuszugehörigkeit amtsberechtigte Kandidaten gewählt, unter denen die einzelnen Ämter verlost wurden67, und 100 Männer aus den drei ersten Zensusklassen als Vertreter in den Rat der 400 entsandt. 68 Diesem Bürger-Rat stand der aus ehemaligen Archonten zusammengesetzte Areopag gegenüber, der als »Aufseher über die Ordnung der Polis« (™p…skopoj … tÁj polite…aj) die »meisten und wichtigsten politischen Angelegenheiten« in seiner Hand behielt. Zum Ausgleich für den Verlust des Rechtsprechungsmonopols, das mit der Schaffung von ›Dikasterien‹ verbunden war, konnte der Adelsrat auf der Grundlage des sogenannten Eisangeliegesetzes gegen Bürger vorgehen, die sich »zur Auflösung des Demos zusammengerottet« hatten (AP 8, 4), und so als aktives Organ des Verfassungsschutzes mit dem Instrument des Rechts eine Stasis im Keim ersticken und die Gefahr der Tyrannis abwehren. 69 In der Sicht des Aristoteles war Solons Politik bereits in der Phase ihrer Umsetzung dem Widerstand der ›Armen‹ und der ›Reichen‹ ausgesetzt, weil er sowohl die Hoffnung des ›Volkes‹ auf eine arithmetisch gleiche Verteilung des Grundbesitzes und der politischen Mitwirkungsrechte als auch die Hoffnung der Eupatriden auf Wiederherstellung der »früheren (sc. oligarchischen) Ordnung« enttäuscht hatte. Um diesem Druck zu entgehen, hat sich Solon für zehn Jahre auf eine »Handels- und Bildungsreise nach Ägypten« begeben (AP 11, 1  f ) und dadurch sein »Gesetzeswerk« einer Haltbarkeitsprobe ausgesetzt, die es aber nur vier Jahre bestanden hat. Gesetzesverstöße bei der Besetzung der ArchontenSolon und seine Politik der Eunomia | 141

ämter und gewaltsamer Dauerstreit der ›Reichen‹ um das Amt des Archon Eponymos (13, 2)70 haben die Polis wieder in den Zustand »gegenseitiger Feindschaft« (AP 13, 3: filonik…a prÕj ¢ll»louj) versetzt. Der aristotelische Bericht von der Übernahme der Herrschaft durch Peisistratos verdeutlicht das Scheitern der solonischen Befriedungspolitik. Peisistratos, der anerkanntermaßen »volksfreundlichste« unter den Anführern von drei Stasisparteien, hat durch die Vortäuschung einer im Kampf erlittenen Verletzung in der Volkversammlung den Antrag stellen lassen, ihm zu seinem persönlichen Schutz die Aufstellung einer Leibwache zu gestatten. Da der inzwischen nach Athen zurückgekehrte Solon als einziger dagegen gesprochen, aber die Athener »mit seinen Worten nicht überzeugt hat«71, konnte Peisistratos mit Billigung des »Volkes« »die sogenannten Keulenträger« aufstellen, die sich dann gegen das »Volk« erhoben und ihm selbst zur »Alleinherrschaft« verholfen haben (AP 14, 1–3). Die Tatsache, dass das größte Kollektivorgan der Polis die eigene Lebensgrundlage zerstört hat, ist ein Indiz dafür, dass den Athenern Solons Vorstellungen von bürgerlicher Gleichheit und der aktiven Verantwortung für das politische Zusammenlebens letztlich fremd geblieben sind. 2. Solons Dichtung als Lobrede auf die Eunomia und als politische Selbstreflexion

Solons Dichtung thematisiert in einer ersten Phase individual- und sozialpsychologische Gründe für die Entstehung der Stasis und Möglichkeiten, sie im Rahmen der Bürger-Polis zu überwinden.72 Dabei geht es um die Vorstellung, dass die »Wunde« einer gravierenden Ordnungsstörung, der Dysnomie, nur »geheilt« werden kann, wenn sowohl Lehre und Handeln des »Herrn über die öffentlichen Angelegenheiten« (AP 6, 1) als auch die »Herzen« der Bürger von der Kraft der Eunomie (»Wohlordnung«) durchdrungen sind. An diese Kraft appelliert Solon auch in der späteren Phase seines vergeblichen Kampfes gegen die aufkommende Tyrannis des Peisistratos.73 Die wichtigsten Texte der ersten Phase sind die bei Demosthenes überlieferte Eunomia-Elegie, die von Stobaios festgehaltene Musen-Elegie und die von Aristoteles in der AP zitierten 142 | Realisierungsprobleme 

Dichtungen zur Seisachtheia-Politik. Für die zweite Phase stehen die bei Diodor, Plutarch und Diogenes Laërtios überlieferten antityrannischen Mahngedichte. Solons Dichtung ist bis in die jüngste Zeit immer wieder Gegenstand intensiver Interpretation und editorisch-kommentierender Tätigkeit gewesen.74 Die folgende Darstellung knüpft an die These von John Lewis an, nach der Solon als »proto-rhetor« eine politische Ethik entworfen hat, die seine gesetzgeberischen Maßnahmen zur Wiederherstellung politischer Eintracht unterstützen sollte.75 Dabei werden die seit Werner Jaeger (1926) diskutierten Hinweise auf Solons ›rationales‹ Politikverständnis76 ebenso aufgenommen wie dessen These von der inneren Einheit seiner Dichtung.77 Sie besteht nach Fabienne Blaise darin, dass Solon dort die eigene Rolle als die eines Politikers thematisiert, der sich für die Wiederherstellung einer gestörten Ordnung nicht auf theologisch legitimiertes Wissen, sondern nur auf das eigene Urteil stützen und dabei die Wahrnehmung nicht verdrängen kann, dass jede menschliche Ordnung Gegenkräften ausgesetzt bleibt. Herstellung von Eunomie ist deshalb an eine kommunikative Praxis des Schlichtens gebunden, die konkretes Unrecht tilgen will, aber nicht die Absicht verfolgt, ein theoretisch fundiertes Konzept idealer Ordnung umzusetzen.78 Aus diesem Grund ist Solons E ­ unomia, die bei Hesiod als Tochter und Helferin des Zeus für eine theonome Gerechtigkeitsordnung steht (Theog. 901  ff ), eine innermenschliche Gestaltungskraft.79 Die theologische Dimension, die aber auch seinem Denken zugrunde liegt, entfaltet er im Rahmen einer Theodizee, die aus dem Satz, dass die Götter als Beschützer der Polis nicht ihre Zerstörer sein können80 , die Folgerung ableitet, dass die Bürger selbst für ihr Zusammenleben und damit auch für seine Störungen verantwortlich sind. Vor allem die »großen Frevel« der ›Reichen‹ und die »rechtlose Gesinnung der Führer des Volkes« (4 W 5  ff) verursachen Elendszustände, die eine Polis in den Ruin treiben können. Solon unterscheidet stillschweigend zwischen unvermeidlichen und selbst verursachten Übeln, so dass die Aufgabe der Dichtung darin besteht, die letzteren öffentlichkeitswirksam zu benennen und Wege zu ihrer Beseitigung aufzuzeigen. Im politischen Handeln bekämpft er das Übel der Dysnomie als ›Schiedsrichter‹ in einer Stasis, der mit der ihm übertragenen Macht zwar über den Bürgern, Solon und seine Politik der Eunomia | 143

aber aufgrund seiner Abhängigkeit von ihrer Zustimmung auch zwischen ihnen steht und an dieser ambivalenten Stellung weder etwas ändern kann noch will. 81 Solon präzisiert seine Reflexion über die Natur der politischen Macht in der Musen-Elegie. 82 Dort wird die Welt des menschlichen Handelns als eine rational nicht vollständig beherrschbare, für Kräfte der Unordnung anfällige und deshalb auf die Gunst der Götter angewiesene Wirklichkeit interpretiert (13 W 33–73), in der die Politik immer nur eine relative, aber keine ideale Ordnung herstellen kann. 83 Da Solon auch die Grenzen seines eigenen Handelns kennt, bittet er die Musen für sein privates Leben um die Sicherheit gerecht erworbenen Wohlstands (7  f ), für seine politische Tätigkeit hingegen um das Machtmittel des »guten Rufes« (dÒxa ¡gaq»), das ihm alles gewährt, was er benötigt, weil er dadurch Freunden »angenehm« und »ehrfurchtgebietend«, Feinden hingegen »bitter« und »furchterregend« (deinÒj) erscheint (4  ff ). 84 Er knüpft damit an Hesiod an, bei dem die Musen das der Ordnung des Zeus zugrunde liegende Maß des Gerechten auf zwei verschiedenen Wegen in der menschlichen Welt zur Wirkung bringen, die sich bei Solon miteinander verbinden sollen. Der erste verläuft über den Gesang des Dichters, dem die Musen die Gunst gewähren, dieses Maß so erklingen zu lassen, dass Menschen, die es unter dem Druck schwersten Leids nicht mehr wahrnehmen können, ihren Lebensmut wiedergewinnen. Der zweite Weg verläuft über die ›geraden Rechtssprüche‹ ›zeusgehegter Könige‹, denen sie »süßen Tau auf die Zunge träufeln«, so dass ihrem »Mund gewinnende Worte entströmen«, die ›Schaden zum Guten wenden und sogar gewaltigen Streit rasch und klug beenden‹ (Theog. 80–93). Mit Hilfe der Musen hofft auch Solon darauf, »Worte« zu einem Klangkörper formen zu können85 , in dem das ›verborgene‹ und deshalb ›am schwersten erkennbare Maß der Weisheit‹, ›das allein die richtigen Maße für alles enthält‹ 86 , so erklingt, dass in seinen Hörern die Sehnsucht erwacht 87, im eigenen Denken und Handeln mit diesem Maß verbunden zu sein. Das Gegeneinander von Schreckensbildern der Dysnomie und Sehnsucht erregenden Bildern der Eunomie, das für Solons Dichtung charakteristisch ist, soll die Bürger anhalten, diese Bilder im eigenen Denken (nÒoj) so zu verarbeiten, dass sie ihren Handlungswillen (qumÒj) für die Gestaltungsmacht der 144 | Realisierungsprobleme 

­ unomia öffnen. 88 Dichtung, die mit Hilfe der Musen Macht über E den ›Sinn‹ ihrer Hörer gewinnt, kann sie im besten Fall bewegen, die Gesetze Solons nicht als Befehle, sondern als Regeln wahrzunehmen, die ihr gemeinsames Leben aus dem Elendszustand der Dysnomie in den Glückszustand der Eunomie überführen. 89 Solon verdeutlicht die Ausgangssituation für die Herstellung von Eunomie im Rekurs auf eine Anthropologie, die den Menschen als nicht-autarkes ›Mängelwesen‹ versteht (vgl. Hdt. I 32, 8  f ), das sich nur durch ›Mühen‹ (13 W 43: speÚdein) im Dasein halten kann.90 ›Mühe‹ meint ein inhaltlich offenes Streben nach Vorteilen (ebd.: »es müht sich ein jeder anders«), das durch »Sättigung« nicht zur Ruhe kommt, sondern sich gerade im Erfolg leicht zur Hybris steigert.91 Da »für den Reichtum keine Grenze den Menschen klar gesetzt ist« (ploÚtou d’ oÙdn tšrma pefasmšnon ¢ndr£si ke‹tai), streben diejenigen, »die von uns jetzt das meiste an Lebensgut besitzen, es zu verdoppeln«. Im Rahmen einer Subsistenzökomomie führt das zu einer Güterknappheit (»Wer könnte sie alle sättigen?«), die den Ausbruch einer Stasis begünstigt.92 Nur Menschen, die im ungebremsten Streben nach Vorteilen die entscheidende soziale Übelquelle erkennen, können dieses Streben im Zustand der »Sättigung« mit ›passender Vernunft‹ (6 W 4: nÒoj ¥rtioj) »aufs Maßvolle« (4 c W: ™n metr…oisi) beschränken und »die vorhandenen Festesfreuden ordnen in der Ruhe des Festmahls«.93 Da diese Einstellung weder durch Gewalt noch allein durch das Gesetz zu erzwingen ist, muss Dichtung als politische Rhetorik auf den »Sinn«, d. h. gleichzeitig und mit derselben Intensität auf das Denken (nÒoj = Vernunft) und die Affekte (qumÒj = Wille) der Bürger so einwirken, dass sie im Blick auf den Zusammenhang von Handlungen und Handlungsfolgen die Norm der Eunomia verinnerlichen und aus wohl verstandenem Eigeninteresse die ›Mühe‹ auf sich nehmen, sie auch in der Polis zur Geltung zu bringen.94 Der Übergang von der »Sättigung« zur Hybris beruht aber nicht nur auf einem prinzipiell korrigierbaren moralisch-kognitiven Fehler, sondern hat auch eine ›natürliche‹ Ursache im Handlungszwang einer ›schwachen‹ Natur, für die bei jedem Handeln »Gefahr im Spiel ist«, weil ja »niemand weiß, wo er am Ende landen wird, wenn die Sache beginnt« (13 W 65  f ). Da der Blick auf »Gefahr« ErSolon und seine Politik der Eunomia | 145

schrecken auslöst und damit das Handeln blockiert, kommt eine Handlung nur zustande, wenn dem Handelnden das Ziel seines Begehrens im Schein des Schönen vor Augen steht.95 Bei Händlern, die »in Schiffen Gewinn ins Haus zu bringen hoffen« und dafür »auf bedenklicher Fahrt das Leben zum Pfand setzen« (ebd. 44), bei Bauern, die ›das Land durchpflügen in jahrelanger Plage‹ (ebd. 47), oder Handwerkern, die durch Arbeit »in den Werken Athenas und des Schmiedes Hephaistos den Lebensunterhalt sammeln« (ebd. 49  f ), wirkt immer derselbe psychische Mechanismus: Das stimulierende Bild des erhofften Gewinns (ebd. 42) muss das handlungshemmende Bild der damit verbundenen »Gefahren« (ebd. 48) aus der ›Seele‹ vertreiben.96 Dass bei jedem Handeln ›Gefahr im Spiel‹ ist, zeigt sich daran, dass nicht nur der ›Bau‹ ungerecht erworbenen Reichtums ›Lücken‹ aufweist, in die sich »schnell Ate einmischt« und das Erworbene wieder zum Einsturz bringt 97, sondern dass ihre Zerstörungsmacht auch die von den Musen begünstigten Sänger, die von Apoll begnadeten Seher, tüchtige Ärzte und jeden anderen treffen kann, der sich ehrlich bemüht, eine Sache gut zu machen.98 Der Aufforderung zu Maß und Selbstkontrolle, die Solons Dichtung durchzieht, steht deshalb der Satz entgegen, dass »Schickung (Mo‹ra) in der Tat den Sterblichen das Übel und auch das Gute bringt«, so dass niemand »den Gaben der Götter, der unsterblichen, entkommen kann« (63  f ). Die ›Zusammenfügung‹ der einander widersprechenden Vorstellungen von göttlicher Übermacht, nach der nur »Zeus von allem das Ende überwacht« (17), und von der Selbstverantwortung des Handelnden ist kein Indiz für die Inkonsistenz des solonischen Denkens, sondern veranschaulicht den engen Spielraum für eine ›gute‹ Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse und ist deshalb als dringliche Aufforderung an die Bürger gemeint, alles zu tun, um das Wenige, wenn auch letztlich Unsichere, das in ihrer Macht steht, mit aller Entschiedenheit für die Verwirklichung ›guter Ordnung‹ einzusetzen. Dysnomie entsteht, wenn die Bürger nur »dem Besitze gehorchen« (cr»masi peiqÒmenoi) und »die Führer des Volkes« bei ihrem Streben nach Reichtum weder »der Götter Güter« noch die »des Volkes« schonen, sondern »Dikes heilige Grundsteine« umstoßend sie »wegraffend stehlen, ein jeder anderswoher« (4 W 6–14). Dadurch, dass sich der fanatisch entfesselte Kampfeswille derer, 146 | Realisierungsprobleme 

»die Macht haben und um ihres Besitzes bewundert werden«, gegen das einfache »Volk« (5 W: dÁmoj) richtet, entsteht innerer Krieg (ebd. 19: st£sij œmfuloj), der sogar eine von den Göttern geschützte Stadt vernichten (ebd. 5  f ) und mit der »lieblichen Jugend vieler« ihre Lebensgrundlage zerstören kann (17  ff ). Die Entstehungsherde der Stasis sind die Hetairiengruppen99, in denen sich raubsüchtige Adelige ›zusammenrotten‹, um »eigenen Leuten Unrecht zu tun«.100 Sie verursachen und befördern damit das öffentliche Übel schlechthin (26: dhmÒsion kakÒn), das unwiderstehlich »ins Haus eines jeden« dringt, selbst wenn er es durch »Hoftor« und »hohe Umfriedung« schützt oder sich selbst »flüchtend im Winkel des Schlafgemachs« verbirgt (19–23). Die andere für die Polis ebenso tödliche »Wunde« ist die Tyrannis. Auch für sie sind die Bürger selbst verantwortlich. Solange sie sich nämlich als Gemeinschaft ebenso klug verhalten wie als Einzelne, hat die Polis eine Grundlage, die auch ein ›mächtiger Mann‹ nicht zu erschüttern vermag. Die Einheit von privatem und politischem Bewusstsein zerbricht jedoch, wenn jeder nur »für sich darum bemüht ist, ein Fuchs zu sein«, aber beim gemeinsamen Handeln »auseinander-klaffender«, ›löchriger‹ »Einsicht« (caànoj nÒoj) folgt.101 Es ist ein Zeichen für diese ›Löchrigkeit‹, wenn die Bürger »auf den Zungenschlag und die Worte (™j g¦r glîssan … kaˆ e„j œph) eines schmeichelnden Mannes« hören, der ihnen alle möglichen Vorteile verspricht, und darüber den Blick für das, »was da wirklich geschieht« (e„j œrgon … gignÒmenon), verlieren (11 W 5  ff ). Sie vergessen oder verdrängen dann nämlich die einfache Einsicht, dass ein Mensch, ›den man allzu weit emporhebt, nicht leicht zu bändigen‹ (9 W 5) und deshalb kaum mehr daran zu hindern ist, »das Volk in des Alleinherrschers Knechtschaft zu stürzen« (ebd. 3  f ). Wenn die Bürger dann auch noch den Göttern die Schuld für ihr ›jammervolles Leid‹ zuweisen, verschließen sie sich sogar der nachträglichen Einsicht, dass niemand anders als sie selbst einem Mann wie Peisistratos leichtfertig »Schutzwehr« gegeben und ihm damit zur Tyrannis verholfen haben (11 W 1–4). Solon tritt in seiner Dichtung als der Mann auf, der seinen Mitbürgern an politischer Tugend überlegen ist. Von daher kommt ihm in der Polis eine einzigartige Position zu. Nur er kann die Solon und seine Politik der Eunomia | 147

psychologischen Mechanismen erkennen und darlegen, die der Entstehung »öffentlicher Übel« zugrunde liegen102 , und nur er kann deshalb auch zeigen, wie sie zu bekämpfen und zu vermeiden sind. Solon verkörpert in der Polis die vollkommene Einheit von Weisheit (sof…h) und Redefähigkeit (glîssa), die für ihn die entscheidende Quelle menschlicher Tüchtigkeit darstellt103 , während sie seinen Mitbürgern weitgehend fehlt. Solons Bild vom Kontrast zwischen der Tüchtigkeit des Einen und der Schwäche der Vielen verweist auf den Grund für das Scheitern seiner Politik und beschreibt indirekt die Voraussetzung für ihr Gelingen. Ein anderes Bild veranschaulicht seine ambivalente Stellung in der Polis als Mitte zwischen Extremen, die er sich selbst geschaffen hat, indem er sich ›gleichsam zwischen den Fronten‹ (™n metaicm…wi) der Stasisparteien ›als Grenzstein (Óroj) aufgestellt‹ und damit ihren gegeneinander gerichteten ›Lauf‹ zum Stillstand gebracht hat.104 Er hat damit einen neutralen Zwischenraum geschaffen, den nur er betreten konnte und den er dafür genutzt hat, beiden Parteien »einen starken Schild umzuwerfen«, sie dadurch vor dem Zugriff der Gegenpartei zu schützen und so »keine von beiden siegen zu lassen auf rechtlose Weise« (5 W 5  f). Im Stillstand der Stasis konnte er verbrecherische »Horoi« aus dem Boden Attikas herausreißen und durch die Festlegung des Maßes an ›Ehre‹ für das ›Volk‹ und für die, »die Macht (dÚnamin) besaßen und aufgrund ihrer Reichtümer bewundert waren« (ebd. 3), dafür sorgen, dass in der Polis wieder ›Dikes heilige Grundsteine‹ beachtet werden (4 W 14). Da einige Bürger jedoch ihrem Streben nach Vorteilen kein Maß auferlegen wollten, war Solon gezwungen, von seiner ›mittleren Stellung‹ aus ›allzu Entfesselte‹ mit einer »Gerte« (ebd. 20) ›niederzuhalten‹. Zugleich aber war er damit dem Angriff beider Stasisparteien ausgesetzt. Vertreter des »Volkes« drängten auf Gleichheit des Grundbesitzes (34 W 8  f: „somoir…hn), obwohl sie das, »was sie jetzt haben, niemals mit ihren Augen im Schlafe gesehen hätten« (37 W1–3), während Vertreter der »Mächtigen und Besseren« (ebd. 7) ihn »wie einen Feind« angesehen haben (34 W 5), obwohl sie allen Grund gehabt hätten, ihn als Freund zu betrachten, weil nur er imstande war, »das Gemeindevolk« in seinem Drängen auf Gleichheit des Grundbesitzes zu ›bändigen‹ (37 W 5  ff ). Solon vergleicht sich deshalb mit einem Wolf, der von jagenden Hunden 148 | Realisierungsprobleme 

umstellt und deshalb gezwungen ist, sich »auf allen Seiten Wehr« zu verschaffen (36 W 26). Das Bild von der Mitte zwischen Extremen verdeutlicht also zum einen das Wirkungspotential einer Politik, die zwischen gegensätzlichen Bürgergruppen einen ›gerechten‹ Ausgleich herstellen will. Zum anderen verweist es aber auch auf die Durchsetzungsschwäche einer Befriedungspolitik, die auf die einsichtige Besonnenheit und den Kooperationswillen der zuvor miteinander zerstrittenen Parteien angewiesen ist. Wenn jedoch im Sinne der Formulierung des Isokrates das ›mitkämpfende Publikum‹ fehlt105 , wird der Vermittler zum gejagten Wolf, der sich zwischen seinen Feinden »hin und her dreht«106 (36 W 27) und dabei nur hoffen kann, ihnen so ›bitter und furchterregend‹ zu ›erscheinen‹ (13 W 6), dass sie von einem Angriff auf ihn und damit von der Weiterführung der Stasis absehen. Die Spannungen, die nach der Darstellung des Aristoteles schon wenige Jahre nach der Gesetzgebung Solons wieder aufgebrochen sind, finden ihre Widerspiegelung in seiner Dichtung. Mit ihr will er die Bürger von ihrer Verantwortung für die Gerechtigkeitsqualität ihres Zusammenlebens überzeugen und ihnen deutlich machen, wie sie aus dem Zustand selbst verursachter Dysnomie herauskommen können. Die Bürger müssen dafür nach seinem Vorbild das »Niedergebeugtsein« der Stadt unverstellt wahrnehmen und den Schmerz, der dadurch im ›Innern‹ ausgelöst wird107, zu dem festen Willen verarbeiten, die ›Niedergebeugte‹ wieder aufzurichten. Bei ihm selbst ist daraus der Wille geworden, mit Gesetzgebung und belehrend-mahnender Dichtung die verlorene bürgerliche Eintracht wiederherzustellen.108 Weil das nur gelingen kann, wenn die Bürger an diesem ›Werk‹ mitarbeiten, stellt er nach dem Vorbild Homers und Hesiods109 dem Schreckensbild der rechtlosen, von der Stasis verzehrten Stadt das Schönheitsbild der Eunomie entgegen. Sie nämlich »bringt alles klar gut geordnet und passend (eÜkosma kaˆ ¥rtia) heraus, / Und dicht an dicht legt sie den Ungerechten Fußfesseln um. / Rauhes glättet sie, macht der Gier ein Ende, Freveltat schwächt sie, / … / Gerade richtet sie die Rechtssprüche, die krummen, und hochfahrende Werke / Besänftigt sie; sie endet die Werke der Zwietracht, / Endet schmerzlichen Streites Bitterkeit, und es ist durch sie / Alles unter den Menschen Solon und seine Politik der Eunomia | 149

passend und vernünftig« (4 W 32–39). Nur wenn die Bürger Solons Dichtung so verarbeiten, dass sie ihr ›hartes, zur Sättigung an vielen Gütern getriebenes Herz im Innern zur Ruhe bringen‹ und ihr ›Planen vom Großen auf’s Maßvolle‹ umstellen (4 c W), kann das »Schöne«, das im Gesetz nur Vorzeichnung ist, für sie gelebte Wirklichkeit ­werden.110 C. Die Isonomiepolitik des Kleisthenes

Solon und Kleisthenes wollten beide die Bürger-Polis für die Gegenkräfte der Stasis und der Tyrannis resistent machen. Anders als Solon hat Kleisthenes jedoch in der Sozialstruktur Attikas den Entstehungsherd der Stasis gesehen und sie deshalb in sein Reformprogramm einbezogen. Die Stasis war in der attischen Gesellschaft kein Klassenkampf zwischen ›Armen‹ und ›Reichen‹, sondern ein Rivalitätskampf zwischen ›Reichen‹, die ihresgleichen aus der eigenen oder einer fremden Stadt, aber auch ›Arme‹ in ihre ›Hetairienverbände‹ aufgenommen und damit ähnlich organisierte Konkurrenten bekämpft haben.111 Besonders ›Reiche‹ waren außerdem mit ihresgleichen in anderen Städten durch Gastfreundschaftsverhältnisse (Proxenie) verbunden. Da sie häufig auch außerhalb des Territoriums ihrer Polis Grund besessen haben, konnten sie sich nach einer Stasisniederlage auf ihren auswärtigen Besitz zurückziehen und von dort im Bündnis mit ›Freunden‹ ihre Revanche vorbereiten.112 Die Sozialstruktur Attikas war der ›natürliche‹ Nährboden für eine Ethik »agonaler Aristie«113 , die die Tendenz zum »Kampf aller gegen alle« nur verstärken konnte.114 In dieser Welt musste Solons politische Ethik ein Fremdkörper bleiben, solange keine Macht vorhanden war, die dem stasisträchtigen Streben der ›Reichen‹ nach Vorteilen wirkungsvoll hätte entgegentreten können. Erst die Tyrannis hat aus Athen einen ›Staat‹ gemacht, weil sie nach der gewaltsamen Entwaffnung aller Bürger durch gesetzmäßiges und »volksfreundliches« Regieren, d. h. durch eine geschickte Kombination von Wohlfahrtspflege, Steuer-, Rechts-, Kult- und Kulturpolitik die Polis zum entscheidenden Machtzentrum ausgebaut und damit einen Zustand des inneren Friedens hergestellt hat, in dem vor allem die nicht-adligen Bürger 150 | Realisierungsprobleme 

ohne Behelligung durch Stasis-Konflikte ihrer Arbeit nachgehen konnten.115 Kleisthenes hat die alte, auf den ionischen Phylen und Phra­trien beruhende Sozialordnung allerdings nicht beseitigt, sondern sie mit einer neu geschaffenen Struktur überlagert, die auf die Polis als Bürgergemeinschaft ausgerichtet war. Dadurch, dass er die von der Tyrannis begonnene Politik der Verstärkung staatlicher Strukturen unter ›demokratischen‹ Vorzeichen weitergeführt hat116 , konnte er wesentliche Ziele Solons verwirklichen. Die »Berichte« von Herodot und Aristoteles über sein politisches Handeln sind deshalb eine vorzügliche Fallstudie für die Überwindung des bellum omnium contra omnes durch die institutio rei publicae. Vor allem an Hero­dot lässt sich zeigen, wie es dem Verband der von Kleisthenes angeführten Alkmeoniden gelungen ist, auf der Grundlage von Überzeugungskraft Handlungsmacht aufzubauen und die dadurch zustandegekommene ›Gewalt‹ zu ›gebrauchen‹, um die innere Ordnung der Polis verlässlich auf Kooperation und bürgerliche Gleichheit einzustellen. 1. Gewalt, List und Überzeugungskunst in der Politik des Kleisthenes

Die Verfassung des Kleisthenes steht am Ende von Stasiskonflikten, in denen sich die Alkmeoniden zuerst gegen die Peisistratiden (Hippias) und danach gegen die aristokratischen Anhänger des Isagoras, seine spartanischen Verbündeten und mächtige Nachbarstädte durchsetzen mussten. An Herodots Beschreibung der Isagoras-Stasis kann man nachvollziehen, wie eine agonale Auseinandersetzung zwischen Adligen in politisch motivierte und dadurch radikalisierte Feindschaft umgeschlagen ist. In der dadurch aufgebrochenen Krise konnte nur eine situationsgerechte Kombination von Überzeugungskunst, Gesetzgebung und kriegerischem Handeln die bis dahin größte Stasis Athens beenden und der Polis die Verfassung geben, mit der sie auf lange Zeit bürgerliche ›Zwietracht‹ hinter sich lassen und an Sparta vorbei zur stärksten Militärmacht Griechenlands aufsteigen konnte.117 Im Folgenden sollen die wichtigsten Stationen des mühsamen Weges nachgezeichnet Die Isonomiepolitik des Kleisthenes | 151

werden, auf dem die Polis aus dem Zustand stasisträchtiger ›Unordnung‹ herausgefunden hat und in den einer institutionell gefestigten ›Ordnung‹ übergegangen ist. Stasis 1: Unmittelbar nach der endgültigen Übernahme der Tyrannis besitzt Peisistratos das militärische Machtmonopol und kann auf dieser Grundlage »volksfreundlich« und »gesetzmäßig« regieren118 (AP 15, 2–4). Als Reaktion auf die Ermordung seines Bruders Hipparchos hat Hippias, der älteste Sohn und Nachfolger des Peisistratos, seine Herrschaft auf harte ›Gewalt‹ umgestellt und durch ein Heiratsbündnis mit dem Tyrannen von Lampsakos, der »beachtlichen Einfluss beim Großkönig Dareios hatte«, Verbindungen zu Persien aufgebaut, um für den Fall einer Bedrohung seiner Herrschaft eine Großmacht auf seiner Seite zu haben (Thuk. VI 59, 2  f ), die schon seit längerem daran interessiert war, auch in Griechenland politisch präsent zu sein.119 Als Anführer der von Hippias aus Attika vertriebenen (oder freiwillig ins Exil gegangenen) Familien versuchen die Alkmeoniden zunächst, ihre »Rückkehr mit Waffengewalt zu erzwingen« (Hdt. I 62, 2). Nach dem endgültigen Scheitern dieses Vorhabens (AP 19, 3) stellen sie ihren Kampf gegen die Tyrannis von der ›Gewalt‹ auf das ›Taktieren mit allen Mitteln‹ um (Hdt. V 62, 2: p©n … mhcanèmenoi).120 Dabei verstärken sie zunächst ihre alten Verbindungen mit Delphi und sichern sich dadurch das prestigeträchtige Projekt der Neuerrichtung des 548/47 durch Feuer zerstörten Apollontempels. Zu der ihnen dafür zugewiesenen Geldsumme (vgl. Hdt. II 180, 1) schießen sie eigene Mittel hinzu, um dessen Ostfront mit parischem Marmor schmücken und so mit dem annähernd gleichzeitig von den Peisistratiden betriebenen Projekt eines neuen, ähnlich aufwändig geschmückten Athena-Tempels auf der Athener Akropolis konkurrieren zu können.121 Dadurch rufen sie der griechischen Öffentlichkeit ihren ›Reichtum‹ in Erinnerung, verstärken aber auch ihren Einfluss auf die delphische Priesterschaft und die Mitglieder der Amphiktyonie. Im nächsten Schritt drängen sie auf dem Umweg über das Delphische Orakel die Spartaner, die größte Militärmacht Griechenlands, zu einer Operation gegen die Peisistratiden und ›überreden deshalb die Pythia mit Geld‹ (V 63, 1: ¢nšpeiqon … cr»masi)122 , alle Spartaner, die das Orakel befragen, zur Befreiung Athens aufzurufen‹, bis diese endlich dem »Befehl des Gottes« trotz ihrer 152 | Realisierungsprobleme 

freundschaftlichen Verbindung mit der Familie der athenischen Tyrannen nachkommen. Spartas König Kleomenes dringt daraufhin mit einem Hoplitenheer in Athen ein und belagert dort, von freiheitsliebenden Athenern unterstützt (V 64, 2), die Peisistratiden auf der Akropolis. Da deren Söhne beim Versuch, sie außer Landes zu bringen, vom Gegner aufgegriffen werden, sind sie, um die Stasisfähigkeit ihrer Familie aufrechtzuerhalten, zur Kapitulation gezwungen. Sie müssen zwar Attika verlassen, können sich aber auf ihren Besitz in der Troas (Sigeion) zurückziehen und dort im Kontakt mit dem Perserkönig ihre Rückkehr nach Athen vorbereiten.123 Stasis 2:  Bereits kurze Zeit nach dem Rückzug der Tyrannen kommt es in Athen zu einer neuen Stasis zwischen den Alkmeoniden und der Hetairie des Isagoras, der ebenfalls »aus angesehenem«, aber nicht identifizierbaren »Hause stammte« (V 66, 1). Auch sie beginnt als inneraristokratischer Machtkampf, in dem zunächst Isagoras seine Gegner schwächt (Hdt. V 66, 2), d. h. seine Anhängerschaft kann die Mitglieder der Volksversammlung so unter Druck setzen124 , dass er und nicht sein alkmeonidischer Gegenkandidat zum eponymen Archonten für das Amtsjahr 508/07 gewählt wird. Kleisthenes verändert daraufhin das eingespielte Muster zur Verstärkung einer Hetairie, indem er »das früher (sc. von den ›Angesehenen‹, AR) abgelehnte Volk der Athener« (69, 2: tÕn 'Aqhna…wn dÁmon prÒteron ¢pwsmšnon) »in seine Hetairie aufnimmt« (66, 2: prosetair…zetai).125 Weil er dadurch seinen Gegnern (69, 2: ¢ntistasiètai) überlegen ist, kann in einer von Isagoras präsidierten Volksversammlung ein Anhänger der Alkmeoniden zum Archonten für das folgende Amtsjahr (507/06) gewählt werden. Für diesen Erfolg gibt es kaum eine andere Erklärung als die, dass Kleisthenes Grundzüge eines mit den Aristokraten seiner Stasisfaktion abgesprochenen politischen Reformprogramms vorgetragen und damit den nicht-adeligen Bürgern ein Angebot gemacht hat, das sie nicht ablehnen konnten. Seine im Einzelnen nicht rekonstruierbaren Vorschläge haben jedenfalls durch Abstimmungen (yhf…smata) der Volksversammlung und des ebenfalls von Isagoras präsidierten Rates alsbald Gesetzeskraft erhalten und konnten deshalb sofort danach umgesetzt werden. Die direkte Parteinahme der beiden legislativen Organe der Polis zugunsten der alkmeonidischen Stasispartei ist nicht nur ein Indiz Die Isonomiepolitik des Kleisthenes | 153

für die »Schwächung« des Isagoras, sondern auch für Politisierung der Stasis, in der jetzt um die innere Ordnung der Polis gerungen wird. Da die Phylenreform des Kleisthenes, die in den antiken Darstellungen übereinstimmend als das Herzstück seiner Politik dargestellt wird, noch im Archontat des Isagoras zumindest beschlossen wurde (AP 21, 1), werden sich die Vorschläge der Alkmeoniden auf die Neugliederung der politischen Struktur Attikas und die Neuorganisation des Militärwesens bezogen haben. Da zu erwarten stand, dass die Peisistratiden alles unternehmen würden, um ihre Herrschaft über die Polis so rasch wie möglich zurückzugewinnen, mussten die Alkmeoniden, um ihnen gewachsen zu sein, so schnell wie möglich ebenfalls über schlagkräftige Hoplitenverbände verfügen können. Dafür standen aber nur Bauern der zweiten oder dritten solonischen Zensusklasse zur Verfügung, die nach ihrer Entwaffnung unter der Tyrannis ungestört durch aristokratische Stasiskämpfe ihrer Arbeit nachgehen konnten. Um sie als aktive Mitkämpfer auf die Seite der Alkmeoniden zu bringen, muss ihnen das Recht auf lokale Selbstverwaltung und eine Erweiterung ihrer politischen Mitwirkungsrechte glaubhaft in Aussicht gestellt worden sein. 126 In der nächsten Runde der Isagoras-Stasis wird jedenfalls deutlich, dass Kleisthenes mit seinen Vorschlägen das Richtige getroffen hat. Als Antwort auf seine Abstimmungsniederlagen in den legislativen Organen der Polis erweitert Isagoras die Stasis und drängt Sparta zur militärischen Unterstützung seiner Partei. Dabei veranlasst er im Rahmen einer »Machenschaft« seinen »Gastfreund«, den Spartanerkönig Kleomenes127, das nicht einmal von der Tyrannis aktivierte Instrument der »sakralpolitischen Verfemung« (Egon Flaig) gezielt gegen Kleisthenes und den Kern seiner Hetairie zu richten. Da die Alkmeoniden nämlich in der athenischen Ur-Stasis (wahrscheinlich im Jahr 636) für die Tötung der Anhänger des Tyrannisprätendenten Kylon verantwortlich waren, obwohl ihnen als ›Schutzflehenden‹ das Leben zugesichert war, sind sie von einem Gericht aus 300 aristokratischen Bürgern als »Verfluchte und Frevler gegen die Göttin« (Thuk. I 126, 11) zu ›ewiger Verbannung‹ verurteilt worden128 , konnten aber nach der rituellen ›Reinigung‹ der Stadt auf der Grundlage eines von Solon erlasse154 | Realisierungsprobleme 

nen Amnestiegesetzes nach Athen zurückkehren. Nach der Interpretation von Egon Flaig war es deshalb keinem Athener, sondern nur einem Fremden wie Kleomenes möglich, den auf den Alkmeoniden lastenden »Fluch« (¥goj) in Erinnerung zu rufen und die Verbannung des Kleisthenes einzufordern.129 Die Polis war damit aufgefordert, ihre derzeit wichtigste Führungsfigur für ›ehrlos‹ und sich selbst für ›befleckt‹ zu erklären, weil sie einem ›Verfluchten‹ erlaubt hätte, auf ihrem Territorium gesetzgeberisch tätig zu werden.130 Das Ziel dieser ›Machenschaft‹ hat also darin bestanden, ohne den Einsatz militärischer Gewalt alles wieder rückgängig zu machen, was auf Initiative des Kleisthenes schon zum Gesetz geworden war. Die Erfolgsaussichten dieser Forderung sind daran zu erkennen, dass der Anführer der Alkmeoniden auf der Stelle die Stadt heimlich verlassen und damit so reagiert hat, wie das für einen auf Blutschuld verklagten Bürger üblich und ratsam war. Daraufhin konnte Kleomenes »mit einem unbedeutenden Heer« in Athen einmarschieren und 700 von Isagoras benannte Familien aus der Stadt vertreiben.131 Er hat damit einen »Eingriff in den Bürgerbestand« vorgenommen, der »alle Ausmaße« übertraf, »die man von der Tyrannis gewohnt war«.132 Der weitere Versuch, auch die institutionelle Grundlage der alkmeonidischen Politik zu zerstören und den bereits in ihrem Sinne tätig gewordenen Rat133 durch einen Rat »von 300 Anhängern« (V 72, 1: stasiètai) des Isagoras zu ersetzen134 , traf jedoch auf den Widerstand der Ratsmitglieder und einer Gruppe verfassungspolitisch gleich gesonnener Bürger135, die die Akropolis belagert und damit den Abzug der spartanischen Hopliten erzwungen haben. Danach konnten sie die athenischen Anhänger des geflüchteten Isagoras besiegen und die Überlebenden »in Fesseln« töten (V 73, 1). Nach Egon Flaig war diese »Massenhinrichtung« die direkte Antwort auf die gegen Kleisthenes erhobene Verbannungsforderung, weil sie durch die Tat bekunden sollte136 , dass nicht die Nachkommen derer »ehrlos« sind, die in der Kylon-Affäre die Anhänger eines Tyrannisprätendenten an den Altären der Götter getötet haben, sondern diejenigen, die eine bürgerlich-isonome Verfassung gewaltsam bekämpft haben und das politische Handlungsmonopol einer Elite spartafreundlicher Aristokraten vorbehalten wollten. Sie fallen als die wirklichen Schädlinge der Bürger-Polis mit ihrer Niederlage auf den Status Die Isonomiepolitik des Kleisthenes | 155

wertloser Gegenstände zurück, mit denen jeder, der sie in die Hand bekommt, machen kann, was er will. Nach der Rückkehr des Kleisthenes und der von Kleomenes vertriebenen Familien war das Volk ›Herr über die öffentlichen Angelegenheiten‹, so dass Kleisthenes sein Reformprojekt ohne Widerstand zu Ende führen konnte. Die weiteren Berichte Herodots zeigen, dass die Stasis damit noch lange nicht ausgefochten war. Sie geht vielmehr in eine nächste Runde, in der Kleomenes, um sich am athenischen »Volk« zu ›rächen‹, das Ziel verfolgt, den rechtzeitig aus Athen geflohenen Isagoras mit einem größeren militärischen Aufgebot als Tyrann in die Stadt zurückzuführen. In Absprache mit den Boiotern und Chalkidiern dringt er mit einem »aus der ganzen Peloponnes« zusammengestellten Heer (Hdt. V 74, 1) in die Gegend um Eleusis vor, so dass die Athener einen Mehrfrontenkrieg befürchten müssen. Da die Mitglieder des Peloponnesischen Bundes aber wissen, dass nach spartanischem Recht ein nicht von der Volksversammlung (Apella) beschlossener Heereszug der Zustimmung beider Könige bedarf (Hdt. VI 56)137, macht ein Streit zwischen Kleomenes und seinem Mitkönig Demarat deutlich, dass es sich bei diesem Vorhaben um ein privates Racheunternehmen handelt. Eine Beteiligung daran wäre deshalb ein Rechtsverstoß, der keinem Bundesmitglied zugemutet werden darf (V 75). Nach dem Rückzug der Verbündeten Spartas können die Athener sich an den Mitbürgern rächen, die Kleomenes in Eleusis unterstützt haben, indem sie ihre Häuser zerstören, ihr Eigentum konfiszieren und sie selbst, darunter wahrscheinlich auch Isagoras, zum Tode verurteilen.138 Sie besiegen danach auch die nunmehr auf sich allein gestellten Chalkidier und Boioter und erweitern in einer Vorwegnahme der später im attisch-delischen Seebund systematisch betriebenen Kleruchie­ politik ihre Einflusszone durch die Ansiedlung von 4000 Kolonisten auf Euböa.139 Dadurch wird den Spartanern bewusst, dass die Athener für sie ernst zu nehmende machtpolitische Konkurrenten geworden sind, so dass sie in einer Versammlung des Peloponnesischen Bundes dafür werben, den von ihnen selbst aus Athen vertriebenen Hippias dort wieder zum Tyrannen einzusetzen, um die Stadt unter ihrer Kontrolle zu halten.140 Das scheitert jedoch an einer Gegenrede der Korinther, in der sie die Tyrannis, die sie aus eigener leidvoller Erfahrung kennen, als die ›ungerechteste und 156 | Realisierungsprobleme 

blutrünstigste‹ Herrschaft charakterisieren und dadurch die Versammlung davon überzeugen, dass es kein größeres Unrecht gibt, als »auf Gleichheit gegründete Herrschaftsformen („sokrat…aj) aufzuheben und Tyrannen in die Städte zurückzuführen«.141 Dem von Kleisthenes initiierten Bündnis zwischen einem großen Teil des attischen Adels und dem ›Volk‹ ist es auf diese Weise gelungen, den status naturalis des bellum omnium contra omnes, in den die Polis immer wieder zurückgefallen war, verlässlich in den status civilis zu überführen und eine auch machtpolitisch gesicherte res publica zu begründen. Im Blick auf Herodots Darstellung dieses Vorgangs lassen sich die beiden folgenden Sätze ins Zentrum einer Ethik für die Bürger-Polis stellen: (1) Der ›Gebrauch‹ von Gewalt ist gerechtfertigt, wenn nur dadurch ein Rechtszusammenhang hergestellt oder gesichert werden kann. (2) Wer einen Raum rechtlich fundierter Macht schaffen will, muss neben gesetzgeberischer Vorstellungskraft und »Liebe zur Polis« über hinreichende militärische Mittel verfügen und sie so einsetzen, dass weder innen- noch außenpolitische Gegner in der Lage sind, die Einführung einer isonomen Ordnung zu verhindern. Dem Satz der Tyrannen und Oligarchen: Macht schafft Recht, antwortet deshalb nicht seine einfache Umkehrung, sondern der komplexere Satz: Nur eine ›gesetzgeberische Kunst‹, die die ›kriegerische‹ in sich aufnimmt, sie aber ihren eigenen Zielen unterordnet, kann eine politische Gemeinschaft begründen und erhalten, die sich auf die Gestaltungskraft der überzeugenden Rede und das von ihr geschaffene Recht stützt. 2. Die gesetzgeberische Kunst des Kleisthenes oder die Verankerung der Praxis der Isegorie in einer isonomen Verfassung

Die Eingriffstiefe der politischen Maßnahmen des Kleisthenes verdeutlicht Herodot dadurch, dass er die Einführung neuer Phylen als einen Vorgang beschreibt, mit dem der Athener Politiker »seinen Großvater mütterlicherseits nachahmte, den Tyrannen Kleisthenes von Sikyon«, der »die Namen bei den Stämmen der Dorer änderte«.142 Anders als sein Großvater stützt sich der Enkel dafür Die Isonomiepolitik des Kleisthenes | 157

jedoch auf das bessere Instrument der Überzeugungskraft und gibt auf diese Weise seiner Polis eine machtpolitisch vorteilhafte und zugleich auf maximale Partizipation der Bürger ausgerichtete Verfassung. Zu diesem Zweck werden die Bewohner Attikas, die seit Menschengedenken zu einer der vier ionischen, nach den Söhnen des Ion benannten Phylen gehören143 , in zehn neu geschaffene Phylen eingeteilt, die ihre Namen von »anderen einheimischen Heroen« (sc. als den Söhnen des Ion, AR) und von Ajax erhalten, »der zwar ein Fremder, aber ein Nachbar und Verbündeter der P ­ olis gewesen war«.144 Als weitere verfassungspolitische Maßnahmen erwähnt Herodot nur die Ernennung von zehn ›Phylarchen‹ und die Zuordnung der ›Gemeinden‹ (Demen) Attikas zu den neuen Phylen.145 Die damit geschaffene Verfassung bezeichnet er an einer Stelle als »Demokratie« (VI 131, 1), normalerweise jedoch als »Isonomie«, »Isegorie« oder »Isokratie«.146 Sie ist für ihn die Ursache dafür, dass eine zuvor bereits große Stadt (V 66, 1) unter der Tyrannis »keinem einzigen Nachbarn im Krieg überlegen war«, aber nach ihrer Beseitigung zur Führungsmacht Griechenlands aufgestiegen ist.147 Er betont damit den engen Zusammenhang zwischen der inneren Ordnung und der äußeren Handlungsstärke einer Polis.148 Die Einführung der neuen politischen Struktur bedeutet eine entscheidende substantielle Veränderung der Bürgerschaft. Dadurch, dass Kleisthenes ›vierphylige‹ zu ›zehnphyligen Athenern gemacht hat‹ (V 66, 2: tetrafÚlouj ™Òntaj 'Aqhna…ouj dekafÚlouj ™po…hsen), konnte eine Epoche relativer Schwäche beendet und von ­einer Periode kontinuierlich wachsender Stärke abgelöst werden. Die politische Neuordnung Attikas wäre ohne den Leidensdruck einer sich zunehmend radikalisierenden Stasis, aber auch ohne die Volks- und Rechtsfreundlichkeit der Tyrannis in ihrer Frühform, die Ethik nachbarschaftlicher Solidarität149, die Überwindung der Blutrache durch richterliches Urteil und selbstverständlich auch ohne die Nachwirkung der Politik Solons nicht möglich gewesen. Auf dieser Grundlage konnte Kleisthenes die ihm erreichbaren Machtmittel so ›in Gebrauch nehmen‹, dass die Verbindung von aristokratischen und demokratischen Elementen, die dem Bündnis der Alkmeoniden mit dem Demos zugrunde lag, auch die bürgerlich-isonome Verfassung der Polis geprägt hat. In ihr sieht Herodot eine institutionelle Konkretisierung der sozial158 | Realisierungsprobleme 

anthropologischen Einsicht, dass Menschen, die einem »Herrn« (despÒthj) dienen, sich »absichtlich« »feige und träge verhalten« und dadurch ihre Handlungskraft verlieren, während Freie »eifrig für sich selbst schaffen« (V 78) und dadurch auch ihrer Gemeinschaft mehr nützen als Bürger, die, wie die Spartaner, aufgrund ihrer vorgängigen Bindung an einen übergeordneten Nomos ein individuelles Interesse überhaupt nicht kennen.150 Es ist deshalb machtpolitisch »außer­ordentlich nützlich« (crÁma spouda‹on), die informelle Praxis des gleichen Rederechts (Isegorie) als Isonomie in der Verfassung einer Polis zu verankern.151 Nach der von Otanes in der persischen Verfassungsdebatte vertretenen Regel wird damit die gesamte legislative und exekutive Macht »der Masse des Volkes« übertragen, so dass ›alle Gesetzesanträge und Handlungspläne (bouleÚmata) der Gesamtheit vorgestellt (™j tÕ ­k oinÒn ¢nafšrei), die Ämter verlost und die Amtsträger öffentlich kontrolliert werden‹.152 Der größte Feind dieser Ordnung ist der Tyrann, der seinerseits nichts mehr zu fürchten hat als die Macht einer bürgerlich-isonomen ­Polis, weil sie für die institutionelle Überwindung der Tyrannis steht, die hinsichtlich ihrer Wirkung jeder anti-tyrannischen Einzel­a ktion überlegen ist.153 Der wesentlich ausführlichere Bericht des Aristoteles zur Kleisthenes-Verfassung steht ebenfalls unter dem Generaltitel der »Schaffung« (po…hsij)154 eines Neuen durch klug berechnendes »Ausdenken« (Pol. VI 4, 1319 b 25: sof…zesqai) der dafür erforderlichen Maßnahmen. Auch er hebt die Einteilung (AP 21, 2) der Bürger in zehn neue Phylen als ihre »erste« und deshalb wichtigste hervor (1), bevor er die übrigen aufzählt: (2)  Kleisthenes »richtete (21, 3: katšsthsen) als nächstes den Rat der Fünfhundert … ein, fünfzig aus jeder Phyle.« Dieser Rat trat an die Stelle des solonischen Rates der Vierhundert, in dem die alten Phylen mit je hundert Ratsmitgliedern (Buleuten) vertreten waren.155 (3)  Kleisthenes »teilte (21, 4: dišneime) das Land nach Demen in dreißig Teile auf, von denen zehn dem »Stadtgebiet (¥stu), zehn der Küste (paral…a) und zehn dem Binnenland (mesoge…a) zugehörten. Diese nannte er Trittyen und loste jeder Phyle drei davon zu, damit jede Phyle an allen Gegenden Anteil habe.«156 Nach Aristoteles war das Ziel dieser Maßnahme eine »Vermischung« von Die Isonomiepolitik des Kleisthenes | 159

Bürgern aus den unterschiedlichen Regionen Attikas. Man könnte auch von ihrer Politisierung sprechen, weil die politische Struktur die Einbindung der Bürger in ihre gewohnten nachbarschaftlichen Lebenszusammenhänge zwar nicht abschafft, aber deren Bedeutung für das Leben der Einzelnen relativiert. Die Maßnahme sollte nicht nur die Zahl der Beteiligten an der Ausübung politischer Macht vergrößern, sondern auch ihren Willen zur Kooperation fördern.157 (4)  Kleisthenes »verband die in jedem Demos Wohnhaften miteinander zu Demenmitgliedern«. Sie gehörten damit zu einer politischen Einheit, was nach Aristoteles darin zum Ausdruck kommt, dass der Name der Deme als Demotikon anstelle des bisherigen Patronymikon zum Teil des Eigennamens wurde.158 (5)  Wie jede politische Einheit musste auch die Deme ›regiert‹ werden. Dafür setzte Kleisthenes Demarchen ein (21, 5: katšsthse), die für besondere Verwaltungsaufgaben zuständig waren.159 (6)  Kleisthenes »verlieh den Demen Namen, die »teils von ihrer Lage, teils von ihren Gründern abgeleitet waren« (21, 5).160 (7)  Allen Bürgern »gestattete er, dem Herkommen gemäß (21, 6: kat¦ t¦ p£tria) weiterhin den alten Hausverbänden (gšnh), den Phratrien und den Priesterschaften anzugehören.«161 (8)  Kleisthenes »gab (™po…hse) den Phylen Eponymoi, indem die Pythia aus hundert vorgeschlagenen Gründungsheroen zehn auswählte« (21, 6). Auf diese Weise sollte seine wichtigste Maßnahme nicht als tyrannische Willkürtat ihres ›Schöpfers‹, sondern als von Delphi gebilligter und unterstützter Vorgang wahrgenommen werden.162 Die theologische Legitimation der neuen politischen Struktur fand zusätzlich ihren Ausdruck in Kultstiftungen für die eponymen Heroen,163 so dass die Athener auch über den regelmäßigen Kultvollzug in ihre neue politische Ordnung hineinwachsen konnten. In der Sicht des Aristoteles »wurde infolge dieser Maßnahmen die Verfassung viel demokratischer als die Solons«. Dazu haben auch neue Gesetze beigetragen, die ›auf die Gunst der Menge zielten‹.164 Aristoteles erläutert das am Beispiel der Gesetze zum Scherbengericht (Ostrakismos) und zur Wahl des Strategen und betont dabei den zeitlichen Abstand zwischen dem Impuls, aus dem sie hervorgegangen sein sollen, und ihrer faktischen ›Ingebrauch­ 160 | Realisierungsprobleme 

nahme‹. Aus schmerzvoller Erinnerung daran, dass sich Peisi­ stratos aus der Position »des Volksführers und Strategen zum Tyrannen aufgeworfen hatte«, war beschlossen worden, die Strategen zukünftig auf der Grundlage der neuen Phylenordnung zu wählen. Dieses Gesetz wurde jedoch erst im »fünften Jahr nach der Einrichtung« der Kleisthenes-Verfassung ›in Gebrauch genommen‹.165 »Tiefes Misstrauen gegenüber den Inhabern von Machtstellungen« war auch die Grundlage für das Gesetz über das Scherbengericht. Aber erst zwei Jahre nach dem Sieg bei Marathon fühlte sich »das Volk« stark genug (AP 22, 3: qarroàntoj ½dh toà d»mou), es erstmals gegen den Peisistratiden Hipparchos (ebd.: prîton ™cr»santo)166 , danach drei Jahre hintereinander gegen »Freunde der Tyrannen« und ab 485/84 auch gegen andere anzuwenden, die dem »Volk« »zu mächtig erschienen« (22, 6).167 Offensichtlich hat Aristoteles Verfassung und Gesetzgebung des Kleisthenes als eine Form verstanden, die nur mit der Zeit aus der ›Möglichkeit‹ (dÚnamij) in ›vollkommene Wirklichkeit‹ (™nšrgeia) übergehen konnte. Erst nachdem die Athener die Erfahrung gemacht hatten, dass die neue Ordnung ihre Handlungskraft stärkt, sind sie wirklich in sie hineingewachsen und waren dann auch imstande, das von Kleisthenes Geschaffene in seinem Sinne zu erweitern.168 Für Aristoteles hat Kleisthenes zu voller ›Wirklichkeit‹ gebracht, was in den ›volkfreundlichsten‹ Maßnahmen Solons nur ›der Möglichkeit nach‹ angelegt war (AP 22, 1: dhmotikwtšra polÝ … ™gšneto ¹ polite…a). Wichtig ist jedoch, dass mit Ausnahme des neu strukturierten und mit größeren Kompetenzen ausgestatteten Rates169 die politischen Institutionen (Volksversammlung, Gerichtswesen, Areopag) kaum verändert wurden. Da der privilegierte Zugang der »Reichen« zum Archontat erhalten blieb und den Theten lediglich die ihnen von Solon zugewiesene »notwendigste« Macht zugestanden wurde, konnte die Verfassung des Kleisthenes um 460 als aristokratisch gelten und bei der Gesetzesrevision des Jahres 411 von oligarchischer Seite gegen die bestehende demokratische mit der Begründung ins Feld geführt werden, sie sei nicht »demosfreundlich« (oÙ dhmotik»), sondern der solonischen ähnlich gewesen (AP 29, 3).170 Sie hat aber gerade deswegen die Bürger an die Polis binden können, die wegen ihres besonderen ReichDie Isonomiepolitik des Kleisthenes | 161

tums, ihrer vielen ›Freunde‹ und ihres sonstigen Einflusses171 in der Vergangenheit die entscheidenden Träger der Stasis gewesen oder als Tyrannen aufgetreten sind. Kleisthenes hat jedenfalls die aristotelische Einsicht durch die Tat vorweggenommen, dass der erfolgreiche Aufbau einer politischen Gemeinschaft die Einteilung der Bürger in politisch ausgerichtete Verbände und damit politisch bestimmte Wege voraussetzt, auf denen die freien jungen Männer Attikas aus ihren familiären und nachbarschaftlichen Bindungen in den Raum der Polis hineinwachsen konnten (Pol. II 5, 1264 a 5  ff ). Er hat sich damit an eine Maxime gehalten, der nach Aristoteles jeder Politiker folgen muss, der ›bürgerliche Eintracht‹ begründen will, obwohl diesem Vorhaben »frühere Gemeinschaftsformen« wie Phylenverbände oder private, an das ›Haus‹ gebundene Kultvereine im Wege stehen. Nur die Schaffung »anderer und zahlreicherer Phylen« und das Zusammenziehen der alten Privatkulte »auf wenige gemeinschaftliche« schwächt dann die Bindungskraft »früherer Gemeinschaften« und stärkt die der Polis.172 Christian Meier hat die Kleisthenes-Verfassung als die ihrer Zeit angemessene Institutionalisierung »bürgerlicher Gegenwärtigkeit« interpretiert.173 Sie findet ihre besondere Ausprägung im Institut der Prytanie, das, wenn seine Einrichtung nicht auf Kleisthenes selbst zurückgeht, eine sinnvolle Erweiterung des von ihm Begründeten darstellt. Nach Aristoteles (AP 43, 3 – 44, 4) mussten die 50 Buleuten einer Phyle in ihrer Eigenschaft als Prytanen für ein Zehntel des in 10 gleich große Einheiten (4  ×  36  +  6  ×  35 Tage) aufgeteilten Jahres im Zentrum der Polis anwesend sein (AP 43, 2  f ), um als geschäftsführender Ausschuss des Rates dessen Plenarversammlungen vorzubereiten und zu verbindlich vorgeschriebenen Terminen Volksversammlungen einzuberufen.174 Da der Areo­pag und die Archonten weiterhin für die wichtigsten politischen Angelegenheiten zuständig waren, verschaffte die Prytanie den nichtadligen Bürgern, die politisch primär im Rat der Fünfhundert aktiv waren, eine neuartige Nähe zum Zentrum der Macht. In der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Zusammenarbeit »mit den Amtsträgern bei der Erledigung der meisten politischen Angelegenheiten« konnten sie informell Kenntnisse und Erfahrungen erwerben, die jeder Bürger benötigt, wenn er seiner Polis ›mit gutem Rat dienen will‹.175 Die Kooperation zwischen Adel und Demos – 162 | Realisierungsprobleme 

das Markenzeichen der Politik des Kleisthenes – fand damit eine besondere Institution, die darauf berechnet war, das Erfahrungsund Bildungsgefälle zwischen diesen beiden Bürgergruppen nach und nach abzubauen, und zwar nicht durch Anpassung der ›Besseren‹ an das ›Volk‹, sondern umgekehrt durch eine Aristokratisierung des Demos. Die Reformen des Kleisthenes haben die Praxis der Isegorie auf allen Entscheidungsebenen der Polis zur Geltung gebracht und damit Athen zur Stadt der politischen Debatte werden lassen. Gerade dadurch ist sie aber auch zur handlungsstarken Stadt geworden, die ihre isonome Ordnung nicht nur gegen oligarchische Kräfte im griechischen Umfeld, sondern auch gegen die monarchisch organisierte Großmacht Persiens behaupten konnte. Die Verfassung des Kleisthenes steht für den glücklichen Augenblick des produktiven Zusammenwirkens von ›Überzeugungskunst‹ und ›Gewalt‹ oder, anders formuliert, für die Verwirklichung der von Solon konzeptionell vorweggenommenen ›Zusammenfügung von Macht und Recht‹. D. Themistokles oder: Die Praxis der Isegorie als Grundlage für eine Politik des kühn wagenden Mutes

Themistokles hat früh erkannt, dass die neue Stärke der isonom verfassten Polis den Konflikt mit Persien verschärfen musste, das von den Athenern mit der Unterstützung des Aufstands der griechisch-ionischen Städte in Kleinasien, der Niederbrennung der Heiligtümer in Sardes und dem Sieg über die Hopliten des Großkönigs bei Marathon in besonderer Weise herausgefordert worden war. In dieser Situation konnte Themistokles seine Mitbürger überreden, ihre gerade erst neu geordneten militärischen Verbände um eine Trierenflotte zu erweitern und damit die Voraussetzung dafür zu schaffen, den Schwerpunkt ›kriegerischer Kunst‹ vom Hoplitenheer auf moderne seekampftaugliche Schiffsverbände zu verlagern. Sein Wort hat den Athenern außerdem vor der Schlacht bei Salamis den »kühn wagenden Mut« (Thuk. I 74, 2: proqum…an d kaˆ polÝ tolmhrot£thn) eingegeben, ihr bis dahin fest an die heilige Erde Attikas gebundenes Dasein176 im klaren Blick auf die Themistokles | 163

drohende Gefahr vollständiger Vernichtung dem unkalkulierbar bewegten, von feindlichen Schiffen durchkreuzten Meer und damit dem vagen Element der Hoffnung anzuvertrauen.177 Wenn jemand »unsere Vorfahren« durch diese lebensbedrohliche Krise so hindurchgeführt hat, dass sie ›um den Preis einer nur wenige Tage dauernden Vertreibung aus ihrer Polis für lange Zeit die Griechen beherrschen konnten‹ (despÒtai tîn `Ell»nwn), dann kann ein solcher Mann nach den Kriterien des Isokrates nur ein »hervor­ ragender Redner« gewesen sein.178 In der Darstellung Herodots hat Themistokles sowohl in Athen als auch im Hellenenbund seine Pläne grundsätzlich durch Rede »in die Mitte« der Betroffenen »getragen«, sie dadurch der Probe durch Gegenrede ausgesetzt und durch kluge ›Ingebrauchnahme‹ der Praxis der Isegorie vielfältige Kräfte, die aus Angst um ihr Überleben aus dem Gesamtverband der griechischen Militärmacht ausscheren wollten oder in depressive Niedergeschlagenheit zu verfallen drohten, wiederholt zu einer erfolgreichen Handlungseinheit zusammengeführt. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels geht es um eine hauptsächlich an Herodot orientierte Fallstudie zur Anwendung dieser Redepraxis durch einen Themistokles, der in bestimmten Situationen auch auf »härtere« Mittel wie Gewalt­a ndrohung, Bestechung und List zurückgreift, um seine strategischen Pläne durchzusetzen. Sein Verhalten beleuchtet Möglichkeiten und Grenzen der Isegorie, die für Athen wie für den Hellenenbund das obligatorische Verfahren der politischen Entscheidungsfindung war. Das Thema vom Nutzen und Nachteil der Isegorie wird im zweiten Abschnitt im Blick auf eine Diskussion aufgenommen, die Herodot ins Machtzentrum der persischen Monarchie gleichsam ›ausgelagert‹ und ausdrücklich mit der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen, insbesondere des politischen Handelns verbunden hat. Es geht deshalb in diesem Abschnitt auch um Herodots eigenen Beitrag zu einer politischen Ethik, die das menschliche Handeln als Streben nach Vorteilen auffasst und die ethische Differenz in die Unterscheidung von ›gutem‹ und ›schlechtem‹ ›Gebrauch‹ verlagert. Im dritten Abschnitt wird zunächst im Ausgang von Herodot, dann aber vor allem im Blick auf Thukydides die Frage aufgenommen, inwieweit der ›kühn wagende Mut‹, den das Wort des Themistokles in das politische Handeln der 164 | Realisierungsprobleme 

Athener gleichsam als genetisches Merkmal ›eingepflanzt‹ hat, die Keimzelle für ihre gewaltzentrierte Politik im Rahmen des delischattischen Seebundes gewesen ist. 1. Die Machtmittel des Themistokles: Überredungskunst, ­Bestechung, List, Gewaltandrohung und Zwang

Vor dem Hintergrund von Spannungen zwischen anti-persischen ›Falken‹ und verständigungsbereiten ›Tauben‹ wurde Themistokles im Jahr 493 zum Archon Eponymos gewählt. Als führender Vertreter anti-persischer Politik musste er seine Mitbürger von der Unausweichlichkeit eines militärischen Konflikts mit der Großmacht Asiens überzeugen und sie veranlassen, sich darauf rechtzeitig durch den Aufbau einer Trierenflotte und eine auf sie abgestimmte Umorientierung ihrer Kriegsführung vorzubereiten. Als Vertreter seiner Polis im Strategenkollegium des Hellenenbundes war es seine Aufgabe, zerstrittene Griechen von der Notwendigkeit zur Einigung auf eine gemeinsame Militärstrategie zur Abwehr einer Gefahr zu überzeugen, die sie letztlich alle in gleicher Weise bedrohte.179 Wegen der Hindernisse, die er in Athen überwinden musste, dramatisiert Plutarch das Verhältnis des Themistokles zu seiner Polis zum Gegensatz zwischen der Weitsicht des Einen und der Blindheit der Vielen.180 Sein Themistokles konnte deshalb nur mit Hilfe rhetorischer Manipulation die athenische Volksversammlung zu dem Beschluss überreden, unerwartete Zusatzeinnahmen aus den attischen Silberbergwerken in den Aufbau einer Trierenflotte zu investieren statt sie wie gewohnt unter die Bürger zu verteilen.181 Dabei bediente er sich ihrer gegenwärtigen Angst vor den Aigineten, die »mit ihrer mächtigen Flotte das Meer beherrschten« und ihnen schwere Niederlagen beigebracht hatten182 , um einen Rüstungsplan umzusetzen, der in Wirklichkeit auf die Abwehr persischer Expansion berechnet war.183 Bereits Herodot hat die Hinweise auf die für jedermann erkennbare aiginetische Gefahr als Worte von ›zwingender‹ Macht bezeichnet und damit ebenfalls die rhetorische Überzeugungskraft ins Zentrum seines Themistokles-Bildes gestellt. Danach konnte er als souveräner Rhetor aus der richtigen Einschätzung der gegenwärtigen SituaThemistokles | 165

tion darüber entscheiden, was er sagt und was er verschweigt, und dadurch die Athener gegen ihr aktuelles Wissen und Wollen ›zwingen‹, ihr bisheriges Dasein als Landmacht zu dem eines Seevolks zu verändern (VII 144, 1  f: ¢nagk£saj qalass…ouj genšsqai). Der Krieg zwischen Athen und Aigina war deshalb für Herodot letztlich die ›Ursache‹ für die Rettung ganz Griechenlands (VII 144, 2). Und da er den Perserkrieg als das agonale Gegeneinander von freier und sklavischer Lebensform bzw. von isonomer und tyrannischer Herrschaft verstanden hat, war die Rettung Griechenlands für ihn identisch mit der Wiederherstellung des von den Persern gestörten Gleichgewichts zwischen den beiden wichtigsten Machtzentren der menschlichen Welt.184 Die rhetorische Kunst des Themistokles ist also kein Instrument, das willkürlich und eigenmächtig Neues schafft, sondern die Ordnung wieder in Kraft gesetzt, die die Götter den ›menschlichen Angelegenheiten‹ (Hdt. Prooemium: t¦ genÒmena ™x ¢nqrèpwn) auferlegt haben.185 Herodot schreibt über die Praxis rhetorischer Machtausübung als ein Autor, der selber ihre Kunstmittel zur Herstellung von Glaubwürdigkeit sehr genau kennt und im eigenen Werk souverän ›in Gebrauch nimmt‹. So sieht er, dass seine Behauptung, die Athener der Perserkriege seien die göttergleichen »Retter« (swtÁrej)186 Griechenlands gewesen, gegenwärtig, d. h. um ca. 460, »den meisten Menschen« »unangenehm« ist187, weil sie auf der Seite Spartas stehen, das mit dem Schlagwort »Freiheit für die Griechen« Athens Seemachtpolitik als Tyrannis bekämpft.188 Um seinen Satz, der in der Öffentlichkeit nur über ›schwache‹ Glaubwürdigkeit verfügt, so ›stark‹ wie möglich zu machen, betrachtet er die Entscheidungsoptionen, die die Athener des Jahres 480 tatsächlich hatten, und verwendet dabei ein Analysemodell für die Beziehungen zwischen Handlungen und Handlungsfolgen, das den gegenwärtigen Zustand griechischer Freiheit auf eine bestimmte Handlung in der Vergangenheit in allgemein nachvollziehbarer Weise als auf seinen Grund zurückführt. Der Satz, dass die Entscheidung der Athener, den Persern militärisch entgegenzutreten, die ›Ursache‹ für die Freiheit Griechenlands war, wird von Herodot zunächst in negativer und danach in positiver Hinsicht begründet. Wenn die Athener diese Entscheidung nämlich nicht getroffen, sondern ihre Heimat verlassen oder sich wie andere griechische Städte »dem 166 | Realisierungsprobleme 

­ erxes ergeben« hätten189, wäre die einzig relevante Seestreitmacht X der Griechen ausgefallen und die gesamte Verteidigungslast auf die Landtruppen Spartas und seiner peloponnesischen Verbündeten zugefallen. Da diese schon vorher am Isthmos von Korinth eine Schutzmauer errichtet hatten, wären sie unter dem Druck des persischen Heeres dahinter zurückgewichen und hätten damit ihre noch in Attika stehenden Streitkräfte (Hdt. VII 104, 4  f ) vor die Wahl zwischen »ruhmvollem Tod nach tapferem Kampf« und einer »schändlichen« Verständigung mit Xerxes gestellt.190 Zwar hätte die Isthmosmauer das Heer der Perser zum Stehen gebracht, aber ihre Flotte nicht daran gehindert, Landtruppen an der peloponnesischen Küste abzusetzen. Da die bei Korinth versammelten peloponnesischen Verbände sich dann von dort zurückgezogen hätten, um ihre Heimatstädte zu verteidigen, hätte der griechische Widerstand nur noch in kleinräumigen Einzelaktionen bestanden, so dass über kurz oder lang ganz Griechenland in die Gewalt des Gegners gekommen wäre (VII 139). Auf der anderen Seite musste die tatsächliche Entscheidung der Athener zum Kampf gegen die Feinde »das übrige Griechenland, soweit es nicht persisch gesinnt war«, »zum Widerstand« aufrütteln, weil weder Sparta als sein Hegemon noch ein anderes Mitglied des Hellenenbundes den Athenern den Preis der Tapferkeit allein hätte überlassen können. Die Entscheidung der Athener war deshalb der Grund dafür, dass die Griechen stark genug waren, um ihre Freiheit gegen den Angriff des Xerxes zu verteidigen.191 Für die Darstellung des faktischen Zustandekommens der athenischen Entscheidung und ihrer konkreten Folgen wechselt Herodot von der analytischen wieder auf die narrative Ebene. Da an allen wichtigen Stellen der von ihm berichteten Ereignisfolge die Überzeugungskraft des Themistokles die entscheidenden Weichen gestellt hat und sie deshalb die Ursache für die Entscheidung der Athener zum Kampf gegen die Perser gewesen ist, lässt sich Herodots Text als Fallstudie zu den politischen Wirkungsmöglichkeiten der Rhetorik und als Probe auf seine These vom machtpolitischen Nutzen der Isegorie interpretieren. Die tatsächliche Entscheidung der Athener stand am Ende einer kontrovers und unter massivem Druck geführten Debatte, in die Themistokles | 167

Themistokles zu einem bestimmten Zeitpunkt eingegriffen und die Athener davon überzeugt hat, dass es das Beste sei, dem persischen Angriff unerschrocken ins Auge zu sehen, das Land zu verlassen und ihr Überleben den Schiffen anzuvertrauen. Da dies die Zerstörung der Stadt und ihrer Heiligtümer zur Folge haben würde, mussten die Athener gegen ihr überkommenes Ethos ein religiöses Tabu verletzen und gegen das Gebot verstoßen, feindliche Angriffe von dem Boden aus zurückzuschlagen, der ihnen von den Göttern als ›natürlicher‹ Lebensort zugewiesen war.192 Um mit dieser Herausforderung überhaupt umgehen zu können, wurden Gesandte nach Delphi geschickt, die dort aber »schreckliche Sprüche« zu hören bekamen, nämlich die Aufforderung, auf der Stelle ihre Häuser zu verlassen und »bis ans Ende der Erde« zu fliehen. Nachdem ihnen jedoch von kompetenter Seite erklärt worden war, sie seien durch diesen Spruch »Schutzflehende« geworden und hätten deshalb das Recht erworben, das Orakel in derselben Angelegenheit noch einmal zu befragen, wurde ihnen mit »einem besseren Spruch« der Rat erteilt, ihre Hoffnung auf die »hölzerne Mauer« zu setzen und dem »drohenden Angriff den Rücken zuzuwenden«.193 Die Rätselhaftigkeit dieses Spruchs wurde durch die Doppeldeutigkeit seines Schlusssatzes verstärkt, der Salamis als »göttliche« und zugleich als todbringende Insel (»Die Kinder der Frauen vertilgst du«) bezeichnet hatte. Nach der Rückkehr der Gesandten wurde in der Volksversammlung eine Debatte über den Sinn dieses Spruchs angesetzt, in der »viele und verschiedene Meinungen« aufeinander trafen. Für ›einige Ältere‹ war die hölzerne Mauer die Dornenhecke, die »seit alten Zeiten« die Akropolis umgab, so dass sie meinten, der Gott befehle ihnen »die Erhaltung der Burg«. Eine größere Gruppe hauptsächlich jüngerer Bürger verstand jedoch darunter die Schiffe und meinte deshalb, der Gott gebiete ihnen, für ihre Rettung »die Flotte einzusetzen und alles andere zu unterlassen«. Diese Meinung konnte sich aber nicht durchsetzen, weil auch bei ihren Vertretern Zweifel aufkamen, nachdem die professionellen Orakeldeuter die Todesverkündung am Schluss des zweiten Götterspruchs auf die Athener bezogen und deshalb behauptet hatten, sie würden nach dem Willen der Götter »bei Salamis unterliegen, wenn sie zu einer Seeschlacht rüsteten«.194 168 | Realisierungsprobleme 

Herodot führt seinen Lesern Athener vor Augen, die sich auch in der Stunde größter Gefahr für lebenswichtige Entscheidungen auf die Praxis der Isegorie stützen und zugleich dem Glauben folgen, dass menschliche Angelegenheiten von göttlichen Kräften abhängen, die sich unter bestimmten Bedingungen um diese kümmern. Deshalb setzen sie ihre eigene Beratungspraxis nicht absolut, sondern verbinden sie mit der kultischen Praxis der Orakelbefragung. Da sie auch diese Praxis nicht absolut setzen, verstehen sie den zweiten Spruch der Gottheit als Aufforderung, sich im Rahmen einer politischen Debatte mit seiner Bedeutung auseinanderzusetzen und dadurch seinen rätselhaften Sinn zu erschließen.195 Nach Herodot hat die Widersprüchlichkeit der dabei geäußerten Meinungen eine Entscheidung der Volksversammlung blockiert. Das gibt ihm die Möglichkeit, Themistokles, der sich »schon früher« (Flottenbaudebatte) als hervorragender Ratgeber bewährt hatte (VII 144, 1), aber »erst seit kurzem« einer der ersten Männern Athens war (143, 1), im ›rechten Augenblick‹ als denjenigen auftreten zu lassen, dem es gelingt, den mehrdeutigen Rat der Gottheit in menschlich einleuchtende Sprache zu übersetzen und dadurch für das Handeln der Athener wirksam zu machen.196 Themistokles beginnt seine Rede mit einer Infragestellung des Auslegungsmonopols der professionellen Orakeldeuter und beansprucht damit Deutungskompetenz auch in göttlichen Angelegenheiten, sofern sie sich auf menschliche beziehen. Dabei konzentriert er sich auf den strittigen Schlusssatz des zweiten Orakels und setzt für dessen ›richtige‹ Deutung voraus, dass ein göttlicher Spruch bei aller Rätselhaftigkeit, durch die er sich von menschlichdiskursiver Rede unterscheidet, nicht in widersprüchliche Teile auseinander fallen kann. Da der zweite Teil des Schlusssatzes – die Todesverkündigung – deshalb nicht seinen ersten, der Salamis als »göttliche Insel« preist, rückgängig machen kann, gilt die Todesverkündung nicht den Athenern und Salaminern, die ebenfalls athenische Bürger sind, sondern ihren Feinden. Wenn die Insel also für den Kampf zur See und für einen Ort der Rettung steht, dann lässt sich aus dem ›richtigen Zusammennehmen‹ der ›Glieder‹ des Götterspruchs (sullamb£nonti kat¦ tÕ ÑrqÒn) nur der Rat ableiten, »sich zum Kampf mit Schiffen zu rüsten, denn sie Themistokles | 169

seien die hölzernen Mauern« (VII 143, 2). Da diese Erklärung den Athenern »viel annehmbarer« erscheint als der erste Spruch der Pythia und die früher vorgetragenen Auslegungen ihres zweiten Spruchs, befreien sie sich unter dem Eindruck der Rede des Themistokles von handlungslähmender Furcht und kommen zu einem Beschluss, der nach ihrer gemeinsamen Überzeugung der äußeren Gefahrenlage, der eigenen Erwartung und dem Willen des Gottes (tù qeù peiqÒmenoi) gleichermaßen gerecht wird, und stimmen deshalb dafür, »zusammen mit allen Griechen, die dazu bereit sind, dem Angriff des Feindes … mit aller Macht zur See zu begegnen« (VII 144, 3). Plutarch bezeichnet in einer Erweiterung der Darstellung Herodots »die Beilegung der Bürgerkriege und die gegenseitige Versöhnung der (sc. griechischen) Städte« als die größte politische Leistung des Themistokles, die er im Rahmen des Hellenenbundes im Vorfeld von Salamis erbracht hat. Weil er die Verbündeten »zu überreden vermochte, ihre eigenen Fehden hintanzusetzen, solange der Krieg von außen droht«, hat sein überzeugendes Wort ihre Zerrissenheit beendet und den Griechen zu einer von gegenseitiger Freundschaft getragenen Handlungsstärke verholfen (Them. 6, 3). Herodot und Plutarch haben das Bild des redenden Themistokles jedoch auch durch »Berichte« modifiziert, nach denen er sich auf andere Machtmittel gestützt hat, wenn es ihm nicht möglich war, allein mit dem belehrenden Wort allgemeine Zustimmung für seine grundsätzlich gemeinwohlorientierten Vorhaben zu finden. Nach Plutarch hat sich der weit vorausschauende Themistokles bereits unmittelbar nach der Übernahme des Strategenamtes und damit zu einem Zeitpunkt vor dem Übergang des persischen Heeres nach Europa darum bemüht, »seine Mitbürger auf die Trieren zu bringen, indem er ihnen zuredete, sie sollten die Stadt verlassen und den Barbaren in größtmöglicher Entfernung von Griechenland zur See entgegentreten« (ebd. 7, 1). Da sich die Athener aber zu diesem Zeitpunkt noch als Landmacht verstanden, drang seine Rede nicht durch. Nachdem ein Voraustrupp der Perser nördlich von Thessalien Fuß gefasst hatte, hat er – man könnte fast sagen, wie in einem Experiment – freiwillig die Rolle des Strategen einer Landmacht übernommen und nach dem Bericht Herodots als Anführer eines attischen Hoplitenkontingents das mehrheitlich be170 | Realisierungsprobleme 

schlossene Vorhaben unterstützt, zusammen mit den Spartanern das Tempetal beim Olymp für das persische Heer zu sperren (Hdt. VII 173). Da die Perser aber einen anderen Durchmarschweg wählten, mussten sich die griechischen Soldaten zurückziehen und die gegnerischen Bodentruppen weiterziehen lassen (VII 174). Nach Plutarch fand Themistokles infolge dieses Desasters »für seinen Plan, aufs Meer zu gehen, … willigeres Gehör«, so dass er jetzt mit der Flotte »nach Artemision« geschickt wurde197, um die Meerenge zwischen Euboia und Attika für die persische Flotte zu blockieren (Plutarch, Them. 7, 2). Bei Artemision musste Themistokles die unerfahrene griechische Flotte in dem Augenblick beisammen halten, in dem die Soldaten und ihre Anführer zum ersten Mal die versammelte Kriegsmacht des Gegners direkt vor Augen hatten und darüber so heftig erschraken, dass sie sich so schnell wie möglich »in das innere Griechenland zurückziehen« wollten. Da die Bewohner Euboias daraufhin fürchten mussten, das nächste Ziel des persischen Angriffs zu sein, »überredeten« sie Themistokles, an Ort und Stelle zu bleiben und die Seeschlacht vor ihrer Insel zu liefern (Hdt. VIII 4, 1  f ). Ihr Überredungsmittel bestand in diesem Fall in einer Bestechungssumme von 30 Silbertalenten, von denen Themistokles 22 für sich behielt und die Restsumme seinerseits als Bestechungsmittel einsetzte, um Eurybiades, den zaudernden spartanischen Oberkommandanten des Hellenenbundes, und Adeimantos, den abzugswilligen Strategen der Korinther, zu ›überreden‹, ihre Schiffskontingente vor Ort zu belassen.198 Da ihm das gelang, konnte die griechische Flotte bei Artemision in der Kriegsführung zur See die dringend benötigten ersten Erfahrungen sammeln199, so dass Plutarch in Anlehnung an die Argumentationstechnik Herodots behauptet hat, Artemision sei die entscheidende »Waffenprobe« für Salamis gewesen (Them. 8, 1). Nach der Niederlage der spartanischen Hopliten bei den Thermopylen mussten sich die griechischen Schiffe jedoch vom Kap Artemision zurückziehen, wobei die Athener die attische Küste und ihre Verbündeten Salamis ansteuerten. Als die Athener erfuhren, dass die Peloponnesier entgegen der Abrede nicht »mit ihrer gesamten Heeresmacht abwehrbereit gegen die Barbaren in Boiotien«, sondern am Isthmos bei Korinth standen und nur noch Themistokles | 171

die Peloponnes »verteidigen, alles Übrige aber aufgeben« wollten (Hdt.  V III  40), haben sie umgehend die Evakuierung ihrer Zivilbevölkerung eingeleitet, und zwar im festen Glauben, mit dem Verlassen der Stadt dem Spruch der Pythia zu gehorchen und dem Vorbild der Stadtgöttin zu folgen.200 Während ihrer Beratung über das weitere Vorgehen traf bei den in Salamis versammelten Strategen des Hellenenbundes die Nachricht von der Zerstörung Athens und anderer attischer Städte ein (Hdt. VIII 50  ff ). Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich dort eine Mehrheit für den Beschluss ab, »nach dem Isthmos zu segeln und die Seeschlacht vor der Peloponnes zu liefern« (VIII 50). Die kurz danach eintreffende Nachricht von der Einnahme der Athener Akropolis hat die Strategen aber »in solchen Schrecken« versetzt, dass einige die offizielle Abstimmung nicht mehr abwarten wollten, »sondern sofort zu ihren Schiffen geeilt sind …, um auf der Stelle davonzufahren«, während die anderen, darunter auch Eurybiades und Themistokles, die Entscheidung trafen, »die Schlacht vor dem Isthmos zu liefern« (VIII 56). Bei der Rückkehr auf sein Schiff hat Themistokles seinem Demengenossen Mnesiphilos diesen Beschluss mitgeteilt, der ihn daraufhin beschwor, alles zu tun, ihn so schnell wie möglich rückgängig zu machen.201 In der Handlungskonstruktion Herodots ist die Stimme des Themistokles, der als Einziger den Ausweg aus größter Not kennt, in der Strategenversammlung stumm geblieben, weil er gesehen hat, dass seine Kollegen im Zustand panikartiger Furcht für seine Rede unempfänglich waren. Sie erklingt deshalb als Privatrede seines Demengenossen, der als Athener davon überzeugt ist, dass die Abfahrt zum Isthmos die Auflösung des Hellenenbundes als Kampfeinheit und damit den Untergang Griechenlands »durch eigene Unvernunft« bedeutet (VIII 57). Die Stimme des Themistokles kehrt auf die Bühne des Geschehens zurück, indem er die Argumente des Mnesiphilos zunächst im Zwiegespräch mit Eury­ biades im eigenen Namen vorträgt und ihn dadurch veranlasst, seine Kollegen erneut zur Beratung zusammenzurufen. Obwohl sie dort wieder ihre ganze Kraft entfaltet, stößt sie auf unüberwindlichen Widerstand. Die Debatte verändert sich dadurch zum Wortgefecht, dass Themistokles die zustechende Kurzrede seines Opponenten, des Korinthers Adeimantos, mit einer ebenso gefass172 | Realisierungsprobleme 

ten, aber »nicht unfreundlichen« Gegenrede pariert, so dass ihr Gegensatz nicht offen ausbricht. Im Anschluss daran lässt Herodot Themistokles die Form der Rede nachahmen, mit der Miltiades vor Marathon den zögernden Polemarchen Kallimachos bewegen konnte, dem sofortigen Beginn der Schlacht zuzustimmen.202 Auch vor Marathon hatte sich im Rat der athenischen Strategen zunächst »die schlechtere Meinung« durchgesetzt, nämlich die Schlacht zu meiden, weil man glaubte, dem Gegner nicht gewachsen zu sein. Daraufhin hatte Miltiades erklärt, Athen habe »seit seinem Bestehen nie in so großer Gefahr geschwebt wie jetzt« und dann die beiden allein verbliebenen Handlungsoptionen einschließlich ihrer Konsequenzen einander gegenübergestellt: entweder Verzicht auf die Schlacht mit den Folgen innerer Zwietracht, Verwirrung des klaren Denkens, Annäherung an die Meder, Niederlage und Versklavung der Athener durch den Tyrannen Hippias – oder Aufnahme des Kampfes, »noch ehe ein Riss unter weiteren Athenern sich auftut«, in der gut begründeten Hoffnung, »bei unparteiischer Haltung der Götter« daraus »als Sieger hervorzugehen … . Alles das liegt jetzt bei dir. … Wenn du (sc. Kallimachos) dich meiner Meinung anschließt, dann ist dein Vaterland frei, und Athen wird die erste Stadt in Griechenland. Trittst du aber auf die Seite derer, die von der Schlacht abraten, dann wirst du das Gegenteil von all dem Guten, das ich aufzählte, erleben« (VI 109). In der Orientierung am Argumentationsmuster dieser Rede konfrontiert Themistokles Eurybiades mit den beiden Optionen: Seeschlacht bei Salamis oder vor der Peloponnes, einschließlich der daraus nach aller Wahrscheinlichkeit resultierenden Folgen für den weiteren Kriegsverlauf, um ihm und seinen Kollegen die Möglichkeit zu geben, das Bessere zu erkennen und zur Grundlage ihres Handelns zu machen.203 Dabei stellt er die anstehende Einzelfall­entscheidung (quaestio finita) in den Horizont einer allgemeinen strategischen Überlegung (quaestio infinita). Die Seeschlacht vor dem Isthmos steht deshalb für den Kampf zwischen einer großen, aus schnell beweglichen (persischen) und einer kleineren, aus langsamer beweglichen Schiffen bestehenden (griechischen) Flotte »in einem großen Raum«, die Seeschlacht bei Salamis hingegen für den Kampf derselben Verbände auf engem Raum. Da im offenen Raum die kleinere und in ihren Teilen langsamer bewegliche Flotte im Themistokles | 173

Nachteil ist, wäre die erste wahrscheinliche Folge einer Entscheidung für diese Art des Kampfes die Niederlage der griechischen Flotte und damit die Ausweitung des von persischen Truppen kontrollierten Gebietes auf fast ganz Attika. Die dort noch stehenden griechischen Landtruppen hätten dann ihre Flottenunterstützung verloren, so dass Eurybiades sie »nach der Peloponnes führen und dadurch ganz Griechenland in Gefahr bringen würde«. Mit derselben Allgemeinheit gilt, dass im engen Raum der kleinere Verband aus weniger beweglichen Schiffen im Vorteil ist. Wenn nämlich die besser ausgestattete größere Flotte nicht in der für sie gewohnten Art kämpfen und deshalb weder ihre Übermacht noch ihre größere Beweglichkeit ausspielen kann, besteht die gut begründete Hoffnung, dass die kleinere den »vollständigen Sieg« erringt. Die unmittelbare Folge davon wäre die Rettung von Salamis, einschließlich der dorthin evakuierten Zivilbevölkerung der Athener, und zugleich die Rettung der Peloponnes, weil »die Barbaren« beim Verlust der Unterstützungsmöglichkeit ihrer Bodentruppen durch Schiffsverbände auch mit ihrem Heer »Hals über Kopf abziehen« müssten.204 Themistokles beendet seine Rede damit, dass er den von der athenischen Volksversammlung im Vertrauen auf seine Inter­pretation des delphischen Orakels bereits getroffenen Beschluss ›in die Mitte‹ des Strategenkollegiums trägt und seine Kollegen auffordert, diesem Beispiel zu folgen. Die unmittelbare Wirkung seiner Rede besteht jedoch in der endgültigen Deformation der Debatte zu einem ›üblen‹ Wortgefecht. Adeimantos will Themistokles delegitimieren, weil er nach der Zerstörung Athens ein »Mann ohne Polis« sei und deshalb als Privatperson das Mitwirkungsrecht im Strategenkollegium verloren habe. Der Angegriffene wehrt sich dagegen mit ebenfalls »bösen Worten«, die mit dem Hinweis darauf beginnen, dass die Existenz einer Polis nicht von der Größe ihres unversehrten Territoriums, sondern vom Aktionspotential ihrer ›kriegerischen Kunst‹ abhängt und im Fall Athens ausreicht, um jede andere griechische Stadt erfolgreich angreifen zu können.205 Er droht außerdem mit der Abfahrt der Athener nach Siris in Italien, die sie dem Zugriff Persiens entziehen, die anderen Griechen aber in die sichere Niederlage stürzen würde. Nicht bessere Argumente, sondern zum ›richtigen Zeitpunkt‹ ausgesprochene und machtpolitisch glaubwürdige Dro174 | Realisierungsprobleme 

hungen veranlassen Eurybiades und die anderen Strategen zur Entscheidung für die Seeschlacht bei Salamis (VIII 56–63). Es ist charakteristisch für Herodots Blick auf die innergriechische Zerrissenheit, dass in seiner Darstellung diese Entscheidung sofort wieder in Frage gestellt wird, weil die peloponnesischen Mannschaften durch ihre Bekanntgabe »in große Angst« geraten und die zunächst nur im kleinen Kreis geäußerte »Verwunderung« über die vermeintliche »Verblendung (VIII 74, 2: ¢boul…h) des Eurybiades« »in die Mitte« der gesamten Truppe tragen (ebd.: ™xerr£gh ™j tÕ mšson). Die dadurch ausgelöste Verwirrung kann ihre selbstzerstörerische Spitze nur verlieren, wenn Gründe und Gegengründe für diese Entscheidung einschließlich der damit verbundenen Hoffnungen und Befürchtungen in ›die Mitte‹ einer allgemeinen Versammlung (sullogÒj) gebracht werden. Dort setzt sich nach »vielen Reden« die Meinung der Peloponnesier, die in ihre Heimat zurücksegeln wollen, gegen die der Athener, Aigineten und Megarer durch, die von der Richtigkeit des ThemistoklesPlans überzeugt sind. Mit dem Sieg der ›schlechten‹, ausschließlich von der Angst diktierten Mehrheitsmeinung über die ›bessere‹ erweist sich die Praxis der Isegorie, das Fundament der athenischen und der symmachialen Politik, als Sicherheitsrisiko.206 Daraufhin steigt Themistokles aus dieser Praxis aus207 und setzt stattdessen auf das Mittel der List, um auch unter diesen Umständen in der Lage zu sein, Feinden zu schaden und Freunden zu helfen.208 Er schickt nämlich einen ihm ergebenen Boten zur persischen Heeresführung und lässt ihn dort erklären, ›er komme ohne Wissen der anderen Griechen im Namen des Themistokles, der auf der Seite des Königs stehe und eher ihm als den Griechen den Sieg wünsche. Deshalb teile er ihnen mit, dass sie, da die Griechen in ihrer Angst fliehen wollten, jetzt den größten Erfolg erringen könnten, wenn sie ihnen die Fluchtwege abschnitten. Da sie außerdem uneins seien, würden die propersisch eingestellten die anderen Griechen bekämpfen, so dass der Sieg der Perser gewiss sei‹ (VIII 75, 2  f). Diese Rede hat den gewünschten Erfolg. Erst nachdem die Griechen durch die Fakten darüber belehrt sind 209, dass die persische Flotte ihnen kein Entfliehen mehr gestattet, treten sie im letzten Augenblick in die Seeschlacht bei Salamis ein (Hdt. VIII 83, 1  f ).

Themistokles | 175

2. Herodot über den Nutzen und Nachteil der Isegorie für die politische Gestaltung der menschlichen Angelegenheiten

Für Herodot ist die Fähigkeit des Themistokles, situationsgerecht nicht nur zwischen verschiedenen Modi des Redens, sondern auch zwischen Rede, Schweigen, zwingender List und glaubwürdiger Gewaltandrohung zu wechseln, die wichtigste menschliche Ursache dafür, dass die Griechen vor Salamis »in guter Ordnung und geschlossener Front (sÚn kÒsmJ kaˆ … kat¦ t£xin) gekämpft« haben und deshalb in der Lage waren, »Feinde«, die »weder geordnet noch mit Verstand gehandelt haben« (oÛte tetagmšnwn œti oÜte sÝn nÒJ poieÒntwn), zu besiegen (VIII 86).210 Herodot versteht die Auseinandersetzung zwischen Griechen und Persern als Machtprobe zwischen einer Politik, die sich auf die Praxis der Isegorie stützt, und einer Politik, die diese Praxis zwar kennt, aber letztlich vom autoritativen Spruch eines einzigen königlichen Entscheidungsträgers abhängt. Die Praxis der Isegorie ist im persischen Raum ein Fremdkörper und wird deshalb nur ›in Gebrauch genommen‹, wenn der König das will und auch dann nur zu dem Zweck, seine Meinung zu unterstützen. Wer dabei nicht mitspielt und ihm widerspricht, muss mit schwersten Strafen rechnen. Herodot veranschaulicht die monarchische Verzerrung dieser Praxis exemplarisch an der von Xerxes nach Phaleron einberufenen Versammlung der persischen Heerführer, die in etwa zeitgleich mit der Beratung des Hellenenbundes auf Salamis stattfindet und nach der Zerstörung Athens das weitere Vorgehen klären soll. Dabei weist der König den »Fürsten (tÚrannoi) der verschiedenen Völker und den Admiralen« seiner Schiffsverbände in der Reihenfolge ihre Sitze zu, die dem Maß an ›Ehre‹ entspricht, das er ihnen zuteilt. Damit die Distanz zwischen ihm und seinen engsten Beratern gewahrt bleibt, ordnet er an, dass die Versammelten ihre Meinungen nicht ihm, sondern Mardonios mitteilen sollen, der als der verantwortliche Leiter des Griechenlandzuges »alle der Sitzordnung nach« zu fragen hat, »ob der König eine Seeschlacht liefern solle«. Da Xerxes dazu bereits entschlossen ist, wird die Versammlung zu einer ritualisierten Loyalitätsprobe.211 Während alle anderen sich an diese Vorgabe halten und ›der Reihe nach‹ für die Seeschlacht plädieren, weicht die einzige Frau unter den Anwesenden, die Kö176 | Realisierungsprobleme 

nigin Artemisia aus Herodots Heimatstadt Halikarnass212 , von ihr ab. Gegen die in Persien übliche Regel erklärt sie die Versammlung zum Ort freimütiger Meinungsäußerung und empfiehlt, da sie die gegenwärtige Situation mit derselben Kompetenz wie Themistokles beurteilt, von persischer Seite aus das einzig Richtige, nämlich keine Seeschlacht zu liefern, sondern mit dem Heer »auf dem Lande zu bleiben oder nach der Peloponnes vorzurücken«.213 Daraufhin fürchten ihre Freunde, dass »ihr der König Böses antun könnte«, während ihre Feinde sich über ihre Worte freuen, »als wären sie ihr Verderben«. Die Reaktion des Xerxes ist jedoch in sich gespalten. Obwohl er sich entgegen der allgemeinen Erwartung über ihre Worte »freut« und sie für ihre Tapferkeit lobt, »befiehlt« er, »dem Rat der Mehrheit zu folgen«, und zwar nicht, weil dieser entscheidend wäre, sondern weil er glaubt, die jedermann sichtbare Anwesenheit seines königlichen Körpers am Ort der Schlacht werde den Kampfesmut seiner Soldaten so weit anstacheln, dass sie die Griechen besiegen.214 In der Sicht Herodots kann monarchisch-tyrannische Politik weder eine allgemein verteilte noch eine in sich geordnete Tapferkeit generieren, weil sie ihr Zentrum allein in der Tüchtigkeit eines Königs hat, dem per definitionem nichts Gleichwertiges zur Seite steht. Seine Mitkämpfer sind aber auch deshalb »schlechte Diener«, weil ihre Tapferkeit lediglich auf einer sekundären Motivation beruht, nämlich auf ›Furcht‹ vor dem Zorn des Königs oder auf dem Bestreben, in der Skala der royalen Ehrenverteilung weiter nach oben zu rücken und andere auszustechen. Eine monarchisch zentrierte Ordnung hat deshalb viele ›Teile‹, die nur mit Gewalt in sie hineingezwungen sind und deshalb die ihnen zugeteilten Aufgaben nicht zuverlässig erfüllen (VIII 68 g). Dagegen hat die isonome Ordnung das Problem, dass die Einheit ihrer originär freien ›Teile‹ nur durch Freiheit hergestellt werden kann, also durch überzeugende Rede oder ein gemeinsam beschlossenes Gesetz. Eine kommunikativ begründete Einheit hat zwar gegenüber einer monarchisch fundierten den Vorteil, dass in ihr ›Tüchtigkeit‹ gleichmäßig verteilt und deshalb von jedem ihrer Teile aus wirksam ist. Sie ist aber zugleich dadurch bedroht, dass die ›Teile‹ ihre Freiheit behalten und sich deshalb aus ihrem Verbund auch wieder Themistokles | 177

lösen können, wenn sie etwa glauben, dass dort nur die Interessen anderer und nicht ihre eigenen zum Zuge kommen. Herodot hat die strukturelle Schwäche dieser Form von Einheitsbildung und Konsensfindung mit seinem ›Bericht‹ über das Zustandekommen der Salamis-­Entscheidung bereits indirekt angedeutet. Ausdrücklich thematisiert er sie im Ausgang von der Debatte, die nach persischer Überlieferung vor dem Beginn des Griechenlandfeldzugs im Kronrat des Xerxes stattgefunden hat, und im Blick auf die sich daran anschließenden Privatgespräche des Königs mit seinem engsten Berater Artabanos. Für Herodot waren die Griechenlandzüge des Dareios und des Xerxes eine Sache ihrer freien Entscheidung, zu der Dareios jedoch von seiner Gemahlin Atossa (III 133  f ) und Xerxes von seinem Vetter Mardonios überredet werden musste.215 Xerxes, der den Zug gegen Athen erst nach der Niederschlagung eines Aufstands in Ägypten »in die Hand nehmen« kann, beruft dafür »einen Rat (sÚllogoj) der persischen Großen ein, um ihre Meinung zu hören und ihnen seinen Willen mitzuteilen«. Er eröffnet die Versammlung mit einer Rede, in der er erklärt, nicht nur die Expansionspolitik seiner Vorgänger fortsetzen und seiner Rachepflicht gegen die Athener nachkommen, sondern »alles Land« durch die Verknechtung seiner Bewohner zu einem einzigen Reich zusammenfassen und damit »den Himmel des Zeus zur Grenze des Perserlandes« machen zu wollen (VII 8 g). Am Schluss seiner Rede stehen ein Befehl 216 , der jede Beratung überflüssig macht, und ein Satz, der die Versammlung zwar der Regel der Isegorie unterstellt, sie aber zugleich zur Scheinveranstaltung erklärt: »Damit ich euch nicht jemand zu sein scheine, der sich nur mit sich selbst berät (8 d 2: ‡na d m¾ „dioboulšein Øm‹n dokšw), stelle ich die Sache in eure Mitte (t…qhmi tÕ prÁgma ™j mšson) und ordne an (keleÚwn), dass jeder von euch, der will (Ð boulÒmenoj), seine Meinung offen aussprechen soll«.217 Daraufhin äußert sich Mardonios, der aus Eigeninteresse den königlichen Beschluss vorbehaltlos unterstützt.218 Alle anderen schweigen, weil sie es nicht wagen, eine Gegenmeinung zu äußern, bis auf Artabanos, der bereits, wenn auch ohne Erfolg, Dareios vom Feldzug gegen die Skythen abgeraten hatte und jetzt »im Vertrauen auf seine Verwandtschaft« mit Xerxes, der sein Neffe ist, Mardonios 178 | Realisierungsprobleme 

widerspricht. Seine Rede hat drei Ebenen: die direkte Aussage, die Xerxes rät, den Feldzug nicht persönlich zu leiten, sondern Mardonios anzuvertrauen; eine gerichtliche Anklage, die Mardonios ein doppeltes Unrecht vorwirft: (1) Herabsetzung der Griechen, »die es nicht verdienen, in üblen Ruf zu geraten«219, und (2) Verleitung des Königs zu einer ungerechten Tat, die darin besteht, ohne vorherige Beratung des Für und Wider ein riskantes Unternehmen zu beginnen. Die gerechte Strafe dafür wird in Form einer tödlichen Doppelwette ausgesprochen: Wenn Mardonios die Griechen besiegt, werden Artabanos und seine Kinder umgebracht, bei einem Fehlschlag hingegen die Kinder des Mardonios und dieser selbst, falls er nicht schon vorher »von Hunden und Vögeln zerrissen worden ist« (VII 10 q 2  f ). Auf der dritten Ebene geht es wie im späteren Dialog mit Xerxes um die innere Logik der Isegorie und die ihr zugrundeliegende Ethik. Dieses Thema steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Für Artabanos kann nur die Praxis der Isegorie den König nicht nur daran hindern, das Unrecht zu begehen, einer Meinung ohne Prüfung »zu folgen«, sondern ihm auch den Vorteil verschaffen, zwischen verschiedenen Meinungen »die bessere wählen« zu können (10 a). Sie kompensiert außerdem eine grundsätzliche Schwäche des menschlichen Wissens, nämlich die Unmöglichkeit, das tatsächliche Gewicht eines Gedankens, der in einem bestimmten Satz ausgesprochen ist, ausschließlich im Blick auf ihn zu beurteilen. Wie ›lauteres Gold‹ nur erkennbar wird, wenn man es an einem Prüfstein ›reibt‹, so müssen auch Reden aneinander gerieben werden, wenn sich zeigen soll, welche von ihnen wirklichen Wert besitzt.220 Handlungsentscheidungen können sich nur auf Urteile stützen und setzen deshalb die Fähigkeit voraus, in knapper Zeit und in unvollständiger Kenntnis späterer Folgen und Nebenwirkungen zwischen verschiedenen, prinzipiell irrtumsanfälligen »Vermutungen« die situativ beste zu treffen. Aus diesem Grund ist die Tugend der Wohlberatenheit, die sich nur bei richtiger ›Ingebrauchnahme‹ der Isegorie entwickeln kann, das größte Gut für die menschliche Lebensführung (10 d 2: eâ bouleÚesqai kšrdoj mšgiston). Es ist deshalb geradezu geboten, der Tendenz zur Handlungsbeschleunigung, die sich vor allem in Krisensituationen Bahn bricht, mit der Praxis der Isegorie eine Kraft der HandlungsberuThemistokles | 179

higung entgegenzustellen. Sie verringert auch das Risiko der Entartung des Handelns zur Hybris und wirkt damit der Gefahr des Zugriffs der Gottheit entgegen, die denjenigen bestraft, der die im Kern isonome Ordnung verletzt, die die Götter den ›menschlichen Angelegenheiten‹ auferlegt haben. Der Satz, dass »in der Zurückhaltung Gutes liegt«, ist deshalb auch dann richtig, wenn er den strukturellen Nachteil hat, sich erst im Nachhinein bewahrheiten zu können.221 Artabanos will die originär griechische Praxis der Isegorie im Zentrum persischer Macht verankern, das darauf aber wegen seiner Zentrierung auf den Monarchen in keiner Weise eingestellt ist. Seine Rede provoziert deshalb den Zorn des Xerxes, und nur seine enge Verwandtschaft mit ihm rettet ihn davor, »gerechten Lohn für eitles Geschwätz« zu erhalten (VII 11, 1). Da seine Argumente und Ratschläge an Xerxes abprallen, bleibt es bei seiner Entscheidung, den Rachefeldzug gegen die Griechen persönlich anzuführen, und zwar mit der Begründung, dass jeder, der vor die Wahl zwischen Tun und Erleiden von Gewalt gestellt ist, sich für das Tun und damit für die Verschärfung des Machtkampfs entscheiden muss, der in seiner Sicht mit den antipersischen Gewaltakten der Athener begonnen (Sardes und Marathon) und bereits kräftige Fahrt aufgenommen hat. Da im Kampf von Gewalt gegen Gewalt nur siegen kann, wer seinen Gegner zuerst ausschaltet, wäre es ein Übel, das eigene Handeln durch beratendes Reden zu verlangsamen und damit dem Gegner einen Vorsprung zu verschaffen, der später kaum noch aufzuholen ist. Die Worte des Artabanos haben jedoch eine überraschende Spätwirkung. Für Xerxes wird nämlich die folgende Nacht zu einer Zeit einsamer Reflexion, die damit beginnt, dass er die am Tag verworfene »Ansicht des Artabanos« überdenkt und sich daraufhin vornimmt, am nächsten Morgen die Proklamation des antigriechischen Feldzugs zu widerrufen. Nach dem Einschlafen erscheint ihm aber im zweiten Teil der Nacht eine Traumgestalt und befiehlt ihm, »den Weg zu gehen, den du am Tage beschlossen hast«. Am nächsten Morgen setzt sich Xerxes über diese Stimme hinweg und trägt im Kronrat vor, was ihm die schlaflose Nacht geraten hat, und gesteht, den Beschluss des vorherigen Tages nicht auf der Höhe seines Nachdenkens, sondern im defizitären Zustand eines aufbrau180 | Realisierungsprobleme 

senden Jünglings getroffen und darüber hinaus mit seinen Vorwürfen gegen Artabanos einem »älteren Mann« Unrecht getan zu haben. Da sich sein Denken im Lauf der Nacht aber dem besseren des Artabanos angeglichen habe, erteile er jetzt den Befehl, »nicht gegen Griechenland in den Kampf zu ziehen«. Der neue Beschluss, »Ruhe zu halten«, resultiert also nicht aus verwirklichter Isegorie, sondern ist die verspätete Nachwirkung der einzigen freimütigen Meinung, die im Kronrat vorgetragen wurde. Herodot veranschaulicht damit die strukturelle Schwäche der monarchischen Ordnung: Der König, der sich der allgemeinen Meinung nach über seine wichtigsten Berater und Handlungsträger so weit erhebt, dass sie als seine »Knechte« nur »schlechte Diener« sind, zeigt sich als schwankender Mensch, der keineswegs die untrügliche Weisheit besitzt, die er allein durch seine Rolle als Alleinherrscher für sich beansprucht. In der folgenden Nacht fordert dieselbe Traumgestalt Xerxes ein weiteres Mal auf, unverzüglich in den Krieg zu ziehen. Andernfalls werde er seine Macht ebenso schnell wieder verlieren, wie er sie gewonnen habe. Psychologisch betrachtet ist die erneute nächtliche Erscheinung ein Indiz dafür, dass sich Xerxes nur schwer vom Bann des alten persischen Eroberungsnomos befreien kann.222 Er befindet sich deshalb, wie er dem unverzüglich herbeigerufenen Artabanos erklärt, in einem Zustand der Schwäche: Er kann nämlich das, was er im nächtlichen Nachdenken über dessen Rede als richtig erkannt hat, nicht umsetzen, weil die Drohungen einer nächtlichen Traumgestalt ihn in Angst und Schrecken versetzen (VII 15, 2). Deshalb schlägt er vor, die Qualität dieser Erscheinung durch ein scheinbar klug konstruiertes Experiment zu testen. Sie erwiese sich als göttlich, wenn sie dem Kriterium der Kontinuität genügen und auch in einer dritten Nacht, in der Artabanos sich in den Kleidern des Königs auf dessen Thron setzen und im königlichen Bett zum Schlaf niederlegen soll, genau so auftreten und dasselbe sprechen würde wie in den beiden vorangegangenen Nächten (VII 15, 3). Obwohl Artabanos der Meinung ist, dass eine Gottheit nichts Ungöttliches und deshalb auch nichts ›Schlechtes‹ lehren könne, nämlich »mehr besitzen zu wollen, als man schon hat«, und auch »so töricht nicht sein kann«, die Identität eines Menschen nur »nach seinem Kleide« zu beurteilen (16, g 2), lässt er sich als gehorThemistokles | 181

samer Diener auf den Vorschlag des Xerxes ein und akzeptiert für die Göttlichkeitsprobe der Traumgestalt auch das von ihm festgelegte Kriterium.223 Da er jedoch gegen seine Erwartung in der folgenden Nacht im Traum genau dasselbe sieht und hört wie der König zuvor, rät er ihm jetzt selber, den Persern als seinen Befehl zu verkünden, was die Gottheit ihm aufgetragen habe (18, 3). Herodots Darstellung der persischen Entscheidung für den Griechenlandzug ist als Kontrastbild zur Kriegsentscheidung der Athener angelegt. Sie folgen den Regeln der Isegorie, verstehen aber einen Spruch der Gottheit als verbindliche Vorgabe für ihren Beschluss und finden so das ›richtige‹ Mittel für ihre Rettung. Dagegen ist im Zentrum persischer Macht die Praxis der Isegorie nur zum Schein wirksam, während die Stimme der Gottheit für die Öffentlichkeit stumm bleibt und nur auf dem Umweg über eine fragwürdige Authentizitätsprobe die offensichtlich vom Laster der Hybris geprägte Entscheidung für den Kriegszug herbeiführt.224 Herodot unterstreicht diesen Befund durch seinen ›Bericht‹ über das Verhalten des Königs in Abydos am Hellespont, von wo aus sein Heer nach Europa übersetzt. Im Blick darauf, dass seine dort versammelte Streitmacht durch ihre schiere Menge alle natürlichen Unterschiede zwischen Meer, Küste und Ebene überdeckt, erhebt sich Xerxes zu einer Seligpreisung seiner selbst, um im nächsten Augenblick, in dem ihm die Kürze der menschlichen Lebenszeit bewusst wird, in Tränen auszubrechen.225 Dieser abrupte Stimmungswechsel wird von Artabanos beobachtet, der daraufhin einen Dialog mit ihm beginnt, in dem unter dem Titel der Ambivalenz des menschlichen Lebens das Verhältnis von überdenkendem Reden und der Notwendigkeit des Handelns zur Sprache kommt. Dabei verdeutlicht Herodot indirekt auch das Verständnis der ›menschlichen Angelegenheiten‹, das seinen ›Historien‹ insgesamt zugrunde liegt.226 Im Gespräch mit Xerxes vertieft Artabanos seine bereits im Kronrat vorgetragenen Ausführungen über den Nutzen der Isegorie durch eine anthropologische Reflexion, die inhaltlich den Reden Solons am Hof des Kroisos folgt. Danach besteht das Elend des menschlichen Daseins weniger in seiner von Xerxes beklagten Kürze, sondern darin, dass Menschen wegen ihres Mangels an Autarkie zur ›Mühe‹ des Handelns und damit zur Wahl von 182 | Realisierungsprobleme 

Handlungszielen gezwungen sind, von denen kein einziges zum Glücksgefühl der ›Sättigung‹ führt. Die Unerfüllbarkeit des Strebens nach dauerhaftem Glück hat den theologischen Grund, dass die Gottheit das menschliche Leben so eingerichtet hat, dass darin »Süßigkeit« und »mühevolles Leid« untrennbar miteinander verbunden sind. Herodot gibt damit dem mythischen Bild vom ›Neid‹ der Gottheit 227, das seine Historien leitmotivartig durchzieht, eine ›rationale‹ Fassung, die das göttlich gewollte Gegeneinander von ›Süßigkeit‹ und ›Leid‹ als die entscheidende Gerechtigkeitsgarantie für die menschliche Welt interpretiert.228 Er begründet damit ein ›ökonomisches‹ Wirklichkeitsverständnis, nach dem die Welt des Handelns nur ›gut‹ sein kann, wenn dort für jeden Gewinn ein angemessener Preis bezahlt wird.229 Einzig in der Orientierung an diesem ›Gesetz‹ gibt es die Ordnung eines Ganzen, die zerstört wäre, wenn eine einzelne Kraft kontinuierlich und damit auf Kosten anderer ›bis an den Himmel des Zeus‹ wachsen könnte. Jeder Versuch, die Grenze zwischen menschlicher und göttlicher Wirklichkeit aufzuheben, provoziert den strafenden Eingriff der Gottheit, der in aller Regel auf dem Umweg über Naturphänomene (Unwetter), verführerische Träume oder den Gegendruck einer feindlichen Macht erfolgt. Die göttlich fundierte Ordnungsform der nicht-göttlichen Welt ist die Einheit des Gegensätzlichen im Sinne Heraklits (DK 22, B 8). In ihr sorgt der ›Krieg‹ als ›Vater aller Dinge‹ (DK 22, B 53) dafür, dass jeder Macht eine andere entgegensteht, so dass die dort miteinander konkurrierenden Kräfte sich gegenseitig zwingen, das Maß einzuhalten, das mit den Maßen anderer Macht und damit auch mit der Ordnung des Kosmos einschließlich seiner von Menschen bewohnten Teile verträglich ist (DK 22, B 30  f ). In der menschlichen Welt gilt deshalb die Regel, dass mit der Größe der Handlungsziele auch »Mühe und »Leid« des Handelnden zunehmen. Es kann deshalb keine politische Handlungseinheit geben, in der »alles zusammentrifft, was zur Glückseligkeit gehört«. Da die Bewegung, in der sie »beschaffen muss, was gebraucht wird«230 , auch im Erfolg nicht zu ›Sättigung‹ und ›Ruhe‹ führt, treibt sie Gegenkräfte hervor, denen sie letztlich unterliegt.231 Für Artabanos ist es deshalb das Beste, freiwillig dorthin zu fliehen, wo nicht mehr gehandelt werden muss. Unabhängig davon, ob er Themistokles | 183

damit einen Todeswunsch oder den Wunsch nach einem privaten Rückzug aus der politischen Welt zum Ausdruck bringt 232 , bleibt diese Möglichkeit jedem verwehrt, die sich wie der König der Perser in der Welt der »großen und Staunen erregenden Taten« (Hdt. I, Prooem.) bewegt. Xerxes entwickelt deshalb auf der Grundlage der Einsicht des Artabanos in die selbstzerstörerische Eigendynamik des Strebens nach Übermacht den Gedanken, dass jeder, der »wichtige Angelegenheiten« (VII 47, 1: crhst¦ pr»gmata) betreibt, die Kraft besitzen muss, sein Wissen von der wahren Grundgestalt des menschlichen Lebens und Handelns zu verdrängen. Außerdem macht er deutlich, dass nicht nur das Handeln, sondern auch das Beraten eine selbstzerstörerische Eigendynamik entwickeln kann. Das Hineintragen sämtlicher Handlungsziele und -mittel in einen Raum des Redens, in dem das Bedenken ihres Für und Wider der Tendenz nach auf unbegrenzte Dauer gestellt ist (50, 1: ™pˆ tù a„eˆ ™pesferomšnJ pr»gmati tÕ p©n Ðmo…wj ™pilšgesqai), verändert die Praxis der Isegorie zu einer Praxis der Eristik, die jedem Logos einen ebenso starken entgegenstellt (50, 2: ™r…zwn prÕj p©n tÕ legÒmenon) und dadurch das Handeln blockiert.233 Die »Weisheit« des Alles-Beratens ist deshalb sowohl Ursache als auch Ausdruck einer pathologischen Handlungsphobie. Da Xerxes am Gedanken der Handlungsnotwendigkeit festhält, plädiert er für die Tugend reflektierter Tapferkeit, die zwar anerkennt, dass jedes Handeln eine Fehlerquelle in sich trägt und daran letztlich scheitert, aber dennoch »lieber die Hälfte der bösen Folgen auf sich nehmen will, als von vornherein alles furchtsam zu unterlassen, um niemals Unglück zu erleiden« (50, 1). Der ›beste Mann‹ ist deshalb nicht der ›Weise‹, der »im Beraten mit sich selbst … jeden Fehlschlag einrechnet«, sondern derjenige, der die Struktur des Handelns erkannt hat und dennoch »im Handeln Mut beweist« (49, 5). Mit seiner Darstellung des Zwiegesprächs zwischen Xerxes und Artabanos thematisiert Herodot auch den Handlungsbegriff, der seinen Historien zugrunde liegt und den er offensichtlich mit S­ olon und der Tragödie teilt. Handlungsreflexion und Handlungsvollzug bilden demnach eine in sich gegensätzliche Einheit, so dass die prekäre Aufgabe der menschlichen Lebensführung darin besteht, zwischen den ›Teilen‹ dieser Einheit jeweils situationsgerecht einen 184 | Realisierungsprobleme 

Ausgleich herzustellen. Die Einsicht in die antinomische Struktur von Handlung und Reflexion führt in der Darstellung Herodots dazu, dass die Praxis der Isegorie an dem Ort, an dem sie in verzerrter Form präsent und deshalb für das Handeln nutzlos ist, mit einer Theorie der ›menschlichen Angelegenheiten‹ zusammengebracht und in ihrem Für und Wider ausführlich erörtert wird. Das ändert aber nichts daran, dass das vom persischen Machtzentrum aus­ gehende Handeln die Form der Hybris annimmt und deshalb aus endogenen Gründen in sich zusammenbricht. Der Entstehungsort der Isegorie ist die griechische Welt. Kleisthenes hat sie im Zentrum der athenischen Politik verankert. Sie ist auch im Hellenenbund die Grundlage symmachialer Politik und wird dort so ›in Gebrauch genommen‹, dass sie in der Stunde größter Not trotz aller Hindernisse zur Quelle des Guten wird. Griechenland ist aber nicht der Ort, an dem die Grenzen dieser Praxis offen diskutiert werden, obwohl auch dort der Zusammenhalt kommunikativ und kooperativ fundierter Handlungseinheiten in kritischen Situationen durch Angst, Uneinsichtigkeit oder nacktes Eigeninteresse gefährdet ist. Herodot differenziert die These vom Nutzen der Isegorie, die im Zentrum seines politischen Denkens steht, indem er zeigt, dass auch sie ihre Nützlichkeit nicht aus sich selbst garantieren, sondern auch zum Sicherheitsrisiko werden und zur Handlungsblockade führen kann. Die Ambivalenz, die für ›menschliche Angelegenheiten‹ insgesamt gilt, betrifft deshalb auch die Praxis, die bei ›richtigem Gebrauch‹ eine kooperative Handlungseinheit herstellen und ihr die Kraft geben kann, die Lebensform ­bürgerlicher Freiheit sogar gegen den gewaltsamen ­Zugriff einer quantitativ weit überlegenen Macht zu verteidigen. 3. Das Handlungsmuster von Salamis und die Politik der Athener im delisch-attischen Seebund

Für Thukydides war Themistokles allein aus »eigener Einsicht (o„ke…v xunšsei) … in Bezug auf das Gegenwärtige … der beste Kenner (kr£tistoj gnèmwn) und für das Zukünftige in den meisten Fällen der Beste im Vermuten« (¥ristoj e„kast»j). Er konnte »das, womit er befasst war, überzeugend darlegen« (™xhg»sasqai), Themistokles | 185

»das, worin er keine Erfahrung besaß«, »zulänglich beurteilen (kr‹nai ƒkanîj) und in Bezug auf Undeutliches (™n tù ¢fane‹)« besser als jeder andere »das Vorteilhaftere und Nachteiligere voraussehen«. »Aufgrund der gewaltigen Leistungskraft seiner Natur« (fÚsewj mn dun£mei) war er »der Stärkste (kr£tistoj) darin, unmittelbar aus sich selbst das hier und jetzt Notwendige zu tun« (aÙtoscedi£zein t¦ dšonta). Dieser Beschreibung (Thuk. I 138, 3) liegt ein Begriff der Autarkie zugrunde, der an den Satz Hesiods erinnert: »Der ist von allen der Beste, der alles selbst einsieht und bedenkt, was schließlich und endlich Erfolg bringt« (Erga 292  f ). Thukydides erweitert ihn um eine kommunikative Dimension und stellt ihn in ein Handlungsfeld, das sich nach seinem Verständnis der Beherrschung durch epistemisches Wissen entzieht. Da in der Welt des sozialen Handelns »das hier und jetzt Notwendige« zum richtigen Zeitpunkt getan werden muss, ist dort vor allem eine Urteilskraft gefragt, die ›von Natur aus‹ zielsicher auch in Bezug auf komplexe und schwer durchschaubare Vorgänge das Vorteilhafte erkennt und überzeugend ausspricht. Wie sonst nur Perikles steht Themistokles bei Thukydides für die bereits von Solon ausgezeichnete Einheit von Urteilen, Reden und Handeln und damit für die Fähigkeit des Redners, Handlungseinheiten herzustellen und sie so zu organisieren, dass sie den größten Herausforderungen gewachsen sind. Mit seiner Darstellung der Politik Athens im Rahmen des delisch-attischen Seebundes suggeriert Thukydides, dass zentrale Merkmale der ›Natur‹ des Themistokles auf den politischen Körper übergegangen sind, den er mit seinem überzeugenden Wort durch die Krise des Jahres 480 hindurchgeführt hat. Die deutlichsten Belege dafür sind die Reden der Korinther und der Athener, die sie im Jahr 432 im unmittelbaren Vorfeld des Peloponnesischen Krieges in zwei direkt aufeinander bezogenen Volksversammlungen der Spartaner halten.234 In der ersten wollen »vor allem die Megarer« und »zuletzt« die Korinther die Spartaner davon überzeugen (I 67, 4  f ), dass sie ihre abwartende Haltung aufgeben und den Athenern als Antwort auf eine Serie gewaltsamer Verstöße gegen die Bestimmungen des dreißigjährigen Friedensvertrags von 446 endlich den Krieg erklären müssen.235 Die Korinther sehen in der Politik Athens seit Salamis ein Streben nach kontinuierlichem Macht186 | Realisierungsprobleme 

zuwachs, das schon mit dem Mauerbauprojekt des Themistokles begonnen hat und danach, gedeckt durch den Anspruch, Befreier von Hellas zu sein (I 69, 1), »nach einem fest beschlossenen Plan« zu Ende geführt wurde.236 Ihrem »kraftvollen Handeln« (dÚnamij) stellen sie das »zaudernde Bedenken« der Spartaner gegenüber, das schon den Persern das Vordringen ihres Heeres fast bis zur Peloponnes und in der Zeit nach 480 den ständigen Machtzuwachs der Athener ermöglicht hat (69, 3  f ). Die Spartaner sind offensichtlich blind dafür, dass sie und ihre Verbündeten vor der Wahl zwischen ›Tun‹ und ›Erleiden‹ von Macht stehen. Sie verweigern sich deshalb der Erkenntnis, dass sie das ›Tun‹ wählen müssen, bevor es nichts mehr zu wählen gibt 237. Die Korinther verstehen Athen als einen sozialen Körper, der aus innerer Kraft kontinuierlich wächst, ohne zu implodieren. Er sprengt nicht nur jede Grenze, die ihn zu anderen Körpern in ein berechenbares Verhältnis setzen würde, sondern entfaltet eine expansive Kraft, die sich jeden anderen Körper einverleibt, der für seine Bewegung ein Hindernis darstellt. Das liegt daran, dass bei den Athenern das »Erdenken« (™pinoÁsai) und das »ZuEnde-Führen (™pitelšsai œrgJ) des als richtig Erkannten« ein und dasselbe sind.238 Da ihnen bei Salamis sogar das vollständige Aufgeben des Eigenen größten Nutzen gebracht hat, sind sie in ihrem Handeln »über ihre Macht hinaus wagemutig (par¦ dÚnamin tolmhta…) und wider alle Vernunft draufgängerisch (par¦ gnèmhn kinduneuta…)« geworden. Sie begegnen deshalb »jeder Gefahr voller Zuversicht« (70, 3: ™n deino‹j eÙšlpidej) und dehnen dabei ihren Handlungsraum so weit aus, dass es in der ganzen Welt keinen Ort mehr gibt, an dem sie nicht für sich »etwas zu gewinnen glauben« (70, 4). Innerhalb ihres sozialen Körpers spielt der individuelle Körper des Einzelnen mit seinen Affekten und Empfindungen keine Rolle, weil sich die Athener durch kontinuierliche Kriegsführung daran gewöhnt haben, in ihrem Leib lediglich das Instrument ihres politischen Handelns zu sehen. Ihr ureigener Besitz ist deshalb nicht der eigene Körper, sondern eine von ihm entkoppelte politische Urteilskraft (gnèmh), die sie jederzeit für die Machtinteressen ihrer Polis einsetzen (70, 6). Wegen der inneren Spannung ihres sozialen Körpers lösen bereits kleine Misserfolge bei ihrem Streben nach Vorteilen eine maximale und Themistokles | 187

in der Regel erfolgreiche Gegenbewegung aus, während sie selbst große Gewinne nur als kleine Vorleistung für das empfinden, was noch kommt. Ihr Leben ist deshalb kontinuierliches Handeln »unter Mühen und Gefahren«, so dass sie »kaum ihre Habe genießen«, sondern »immer auf neuen Gewinn« aus sind. Da sie »kein anderes Fest kennen als das Tun des dringlich Bevorstehenden« (t¦ dšonta pr©xai) und »mühselige Arbeit« (¢scol…a ™p…ponoj) kein ›Unglück‹ bedeutet, von dem man sich durch ›untätige Ruhe‹ (¹suc…a ¢pr£gmwn) erholen müsste, können sie »weder selbst Ruhe halten noch andere Menschen in Ruhe lassen« (70, 8). Weil sie mit dieser Lebensweise zwangsläufig die reichhaltigsten und vielfältigsten Erfahrungen (polupeir…a) machen, ist ihre kollektive Mentalität »auf ständige Neuerung (™pitšcnhsij) eingestellt« (71, 3). In der eigenen Rede, in der sie ihre Politik der gewaltsamen Machterweiterung rechtfertigen, führen die Athener selber das Muster ihres Handelns auf die Erfahrung der Perserkriege zurück und bestätigen damit das Urteil der Korinther. Zu ihrer Rechtfertigung berufen sie sich auf den Grundsatz: Durch eigene ›Mühe‹ erworbene Macht ist gerecht erworbene Macht, so dass es auch gerecht ist, das gerecht Erworbene im eigenen Interesse zu ›gebrauchen‹.239 Er wird durch den Zusatz ergänzt, dass die Realisierung von Gerechtigkeit in einer Welt der Machtkonkurrenz nur aus der Position überlegener Stärke gelingen kann. Die Athener haben ihre Macht gerecht erworben, weil sie beim Angriff der Perser, von allen anderen im Stich gelassen 240 , ganz allein das größtmögliche Risiko auf sich genommen und dadurch nicht nur sich selbst, sondern alle Griechen gerettet haben (73, 3).241 Außerdem haben sie zur Aktionskraft der siegreichen Flotte »die drei nützlichsten Dinge beigetragen«: die »entschlossenste Bereitschaft« (proqum…an ¢oknot£thn) ihrer Soldaten und der Zivilbevölkerung, »den Großteil der Schiffe« und den »verständigsten Feldherrn« (strathgÕn xunetètaton), dessen Führungskompetenz »am meisten die Ursache dafür war« (a„tiètatoj), dass die Seeschlacht in der Meerenge bei Salamis geschlagen wurde, was »ohne Zweifel die Rettung brachte« (74, 1). Die Athener haben den Wagemut aufgebracht, in größter Not ihr Dasein als Polis an eine Hoffnung zu binden, die nur noch von der Festigkeit ihres Urteilsvermögens getragen war.242 In dieser Kraft haben sie nicht nur ihre ›kriegerische 188 | Realisierungsprobleme 

Kunst‹, sondern ihre gesamte Existenz vom Land auf die Schiffe verlagert und damit ihren sozialen Körper freiwillig auf den kritischen Grenzwert des Nichtseins zurückgenommen.243 Weil das aber die entscheidende Ursache für den Sieg gewesen ist, beruht die gesamte Macht, die die Polis danach aufgebaut hat, auf eigener Mühe und ist deshalb gerecht erworben. Das gilt auch für die Führungsposition im delisch-attischen Seebund, die der Stadt wegen ihrer Verdienste im Perserkrieg und als Reaktion darauf angetragen wurde, dass die Spartaner nicht mehr mit der nötigen Energie den Kampf gegen die »Reste der Barbaren« weiter führen wollten. Da jeder Austritt aus dem Seebund seine Handlungsfähigkeit und die seiner Hegemonialmacht schwächt und die Peloponnesier verstärkt, befinden sich die Athener dauerhaft in einer Situation, in der sie das Erleiden von Macht nur durch die kontinuierliche Ausübung ihrer Macht verhindern können.244 Sie folgen darin keinem menschlichen Nomos245 , sondern dem Gebot der Natur, das »seit jeher bestimmt, dass der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird«.246 Sie ›gebrauchen‹ ihre Macht jedoch ›gerecht‹, weil sie Streitigkeiten mit ihren Bundesgenossen in »vertraglich festgelegten Prozessen« klären und sich dabei Gesetzen unterwerfen, die für sie und die Bündnispartner gemeinsam gelten (77, 1). Die Aufnahme einer rechtlich-kommunikativen Komponente in ihre Politik ist als freiwillige und deshalb ›künstliche‹ Abweichung vom Gesetz der Natur ein machtpolitischer Nachteil, weil sie die Bundesgenossen daran gewöhnt, mit ihrer Hegemonialmacht von gleich zu gleich zu verkehren (¢pÕ toà ‡sou Ðmile‹n). »Wenn sie dann entgegen ihrer Meinung von dem, was sein sollte, durch eine in der Herrschaft begründete Entscheidung … auch nur im Geringsten geschmälert werden, sind sie nicht dankbar dafür, dass sie doch des größeren Teils ihrer Eigenmacht nicht beraubt wurden, sondern empören sich über diese Beschränkung mehr, als wenn wir gleich von Anfang an jegliches Recht beiseite gesetzt und ganz offen unseren Vorteil gesucht hätten« (77, 3). Nach dieser Darstellung ist rechtliches Verhandeln im Machtinstrumentarium der Athener ein Fremdkörper, den sie jederzeit abstoßen können, wenn das ihr Streben nach Ehre und Nutzen behindert.247 Die ›Ingebrauchnahme‹ ›künstlich‹ vereinbarten Rechts liegt deshalb ganz im Ermessen eines Mächtigen, der weiß, dass derjenige, der Themistokles | 189

alles gewaltsam regeln kann, sich auf rechtliche Regelungen nicht einlassen muss (77, 2). Dieses ungeschminkte Selbstportrait gewaltfundierter Machtpolitik legt die Vermutung nahe, dass die Politik des Themistokles, die die Athener ›nach vorn gebracht‹ und dadurch ganz Griechenland vor dem Zugriff Persiens gerettet hat, auch die mentale Grundlage für die thalassokratische Politik gewesen ist, mit der sie in der Zeit nach Salamis ganz Griechenland in den Kriegszustand versetzt und am Ende sogar tatsächlich, diesmal jedoch unfreiwillig und zu eigenem Schaden, am Rand des Nicht-Seins gestanden haben. Bereits in dem Bild, das Herodot vom späteren Handeln des Themistokles zeichnet, ist das Muster dieser Politik zu erkennen. Zugleich werden aber auch die Gründe angedeutet, die den Sieger von Salamis bewogen haben, sein Handeln nicht mehr auf das Wohlergehen Athens und Griechenlands, sondern auf sein persönliches Überleben einzustellen. Sie hängen damit zusammen, dass der Riss zwischen seiner anti-persischen Politik und der abwartend-zögerlichen Politik der peloponnesischen Mitglieder des Hellenenbundes, den Themistokles bereits vor Salamis nur mühsam mit seinem überzeugenden Wort kitten konnte, größer geworden war und deshalb ein gemeinsames Handeln auf der Grundlage seiner strategischen Konzeption blockiert hat. Bezeichnend dafür ist, dass im Kriegrat der Strategen auf der Kykladeninsel Andros, der unmittelbar nach dem Sieg bei Salamis stattfand, sein Vorschlag, »man solle« den fliehenden Flottenresten der Perser »quer durch die Inseln nacheilen und geradewegs nach dem Hellespont fahren, um die Brücken zu zerstören«, auf die »gerade entgegengesetzte Meinung« des Eurybiades stieß, der im Vertrauen darauf, dass die Perser »nach der Niederlage zur See« aus eigenem Antrieb auch mit ihrem Heer Europa verlassen würden, eine Strategie des ruhigen Abwartens befürwortete. Da »die andern Feldherrn aus der Peloponnes dieser Meinung beistimmten«, war Themistokles nicht nur im Strategenkollegium isoliert, sondern auch dem Druck der Athener ausgesetzt, die infolge ihres Überzeugtseins von seiner bisherigen Politik »am unwilligsten darüber waren, dass die Perser ihnen entkommen waren,« und deshalb »sogar auf eigene Faust nach dem Hellespont fahren wollten.« Damit erwies sich der Hellenenbund als handlungsunfähig und bot deshalb den Persern 190 | Realisierungsprobleme 

mittelfristig die Möglichkeit, sich von der Niederlage ihrer Flotte zu erholen, ihr Heer nach Asien zurückzuführen und den Krieg zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen. Da Themistokles deswegen auch um seine Glaubwürdigkeit bei den Athenern fürchten musste, ›überredete‹ er sie gegen seine innere Überzeugung ebenfalls zu einer Politik des Ruhehaltens, nämlich die Fahrt »nach dem Hellespont und nach Ionien« auf das nächste Frühjahr zu verschieben. Für Herodot gehört diese Rede, in der Themistokles den Sieg bei Salamis nicht auf die eigene Tüchtigkeit, sondern ausschließlich auf die besondere Gunst der Götter zurückführt 248 , zu einem Täuschungsmanöver, mit dem er sich »bei den Persern Rückhalt schaffen wollte, um seine Zuflucht dorthin nehmen zu können, wenn ihm von den Athenern Böses widerfahren sollte, was später ja auch geschah.«249 Die Parallelaktion dazu bestand in einer weiteren Täuschungsrede, die dem noch in Attika weilenden Xerxes von demselben Boten überbracht wurde, der ihm vor der Schlacht bei Salamis die trügerische Nachricht von der angeblichen Perserfreundlichkeit des Themistokles übermittelt hatte. In dieser Botschaft bezeichnet sich Themistokles erneut als Freund des Perserkönigs, der ›in dem Wunsch, ihm einen Gefallen zu erweisen, die Griechen davon abgehalten habe, seine Schiffe zu verfolgen und die Brücken am Hellespont zu zerstören, wie sie es wollten‹, und ihm damit die Möglichkeit gegeben habe, ›jetzt in aller Ruhe seinen Rückzug nach Asien anzutreten‹.250 Bei Thukydides werden die Gründe für den ›Gesinnngswandel‹ des Themistokles deutlicher ausgesprochen als bei Herodot.251 Dem Sieger von Salamis wurde wie dem Spartaner Pausanias, der maßgeblich zum Sieg über das Heer der Perser bei Plataiai beigetragen hatte, Kollaboration mit dem Gegner vorgeworfen. Anschuldigungen dieser Art führten schließlich dazu, dass Themistokles im Jahr 472/71 von den Athenern ostrakisiert (472/71) und kurz danach von einem gesamtgriechischen Gericht zum Tode verurteilt wurde.252 Um sein Leben zu retten, floh er auf komplizierten Umwegen in den Machtbereich Persiens (Thuk. I 136  f ), übernahm Sprache und Lebensweise des Gegners und setzte dort seine Worte so ein253 , dass er »wegen seines Ansehens von früher und der Hoffnung«, die er dem Nachfolger des Xerxes »auf die Unterwerfung von Hellas machte, vor allem aber wegen der Proben, die er von seiner EinThemistokles | 191

sicht ablegte«, vom neuen Perserkönig Artaxerxes ein großzügiges Lehen erhielt und wie kein Grieche zuvor zum »großen und mächtigen Mann« aufsteigen konnte. Nach seinem Ableben wurde er in seiner kleinasiatischen Residenzstadt Magnesia mit einem öffentlichen Grabmal geehrt, während seine Gebeine »auf eigenen Wunsch in seine Heimat überführt« und, weil ihm als Landesverräter in Griechenland das Bestattungsrecht aberkannt war, »unbemerkt von den Athenern in attischer Erde beigesetzt wurden« (Thuk. I 135–138). Das Schicksal des Themistokles veranschaulicht ein Strukturproblem isonomer Ordnung, nämlich die Spannung zwischen der qualitativen Exzellenz eines Einzelnen und der Norm bürgerlicher Gleichheit.254 Eine Bürger-Polis kann ihre Gleichheit dadurch sichern, dass sie Ungleiches aus sich entfernt. Wenn das Ungleiche jedoch in überragender politischer Urteils- und Handlungskompetenz besteht, schwächt sie sich damit selbst. Solange Themistokles seine eigene Tüchtigkeit durch überzeugende Rede auf eine ›Menge‹ wie die Athener Volksversammlung oder den Strategenrat des Hellenenbundes übertragen konnte, hat er eine Handlungseinheit hergestellt, die in allen Teilen von politischer Tüchtigkeit geprägt war. Das Ende des Themistokles steht dagegen für die Spaltung des zuvor miteinander Verbundenen, die ihren Grund darin hat, dass die ›Menge‹ ihren früheren ›Retter‹ als Gefahr betrachtet und ihn deshalb aus ihrem Raum entfernt. Die für ihn charakteristische Mischung von rhetorischer Überzeugungskraft und List sichert ihm zwar sogar im Land eines fremdartigen Gegners, den niemand entschiedener und kompetenter als er bekämpft hat, ein ehrenvolles Leben. Die von Thukydides so eindrucksvoll beschriebene ›Natur‹ des Themistokles kann aber Griechenland und insbesondere Athen keinen Nutzen mehr bringen. Und nur sein mysteriöser Tod (Krankheit oder Selbstmord) verhindert, dass sein Können dem ehemals Feindlichen nützt und dem ehemals Eigenen schadet.255

192 | Realisierungsprobleme 

E. Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides 1. Das Perikles-Bild des Isokrates

Die Liste der Politiker, denen Athen ›höchste Güter‹ verdankt, endet bei Isokrates mit dem »guten Volksführer« und »hervorragen­ den Redner« Perikles (15, 234). Wenn man sie an ihrem Anfang um Theseus erweitert, dann umschreibt sie das Entstehen und das zweimalige Wiedererrichten einer in Unordnung geratenen und von der Tyrannis zerstörten Bürger-Polis, die danach stark genug war, um äußerste Gefahr zu überstehen und zur Großmacht aufzusteigen. An ihrem Schluss ist Athen für die Götter ein prächtig geschmückter Kultort und für die Menschen der Inbegriff ›guter Herrschaft‹. Hinter diesem Bild steht die Vorstellung einer wechselseitigen und von den Göttern begünstigten Verbindung von Kunst und Natur. Als ›Werk‹ menschlicher Kunst verfügt die Polis über dieselben Wachstumskräfte wie ein gesunder Organismus, der auch durch stärkste Gegenkräfte nicht daran gehindert werden kann, seine Größe vollständig zu entfalten. Sie ist näherhin ein durch rhetorische Kunst geschaffenes und von ihr mehrfach gekräftigtes Werk, das durch Perikles einen ornatus erhält, der ihm die »Überzeugungskraft« unwiderstehlicher Schönheit verleiht.256 Als Zusammenhang ›schöner‹ Bilder, die die Geschichte der Polis vergegenwärtigen 257, gleicht die Stadt einer wohl gebauten und mit allem Schmuck ausgestatteten Rede, die als pictura oder architectura loquens jeden davon überzeugt, dass ihre Macht auf ›Würde‹ beruht und deshalb für alle, über die sie herrscht, eine Quelle des Guten darstellt. Isokrates verwendet das Bild vom wirkungsmächtigen Redner Perikles ausschließlich zur Veranschaulichung seines Begriffs ›guter‹ Politik. Danach muss politisches Handeln so weit wie möglich überzeugendes Reden werden, das den Machtfaktor ›Gewalt‹ nur im Notfall und in der Bindung an das Recht ›gebraucht‹. Mit Perikles kommt deshalb der überzeugende Logos selbst zur Herrschaft, der als originärer Begründer und Gesetzgeber menschlicher Gesittung (15, 255) der einzige Hegemon ist, der aufgrund seiner ›Würde‹ regiert (257). Die Athener verwirklichen die beste Form politischer Herrschaft, weil sie sich nicht primär »durch eifriges Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 193

Kriegswesen«, Handlungsgeschicklichkeit oder besondere Gesetzestreue, sondern »im Denken und in der Redekunst« auszeichnen, also in der Kunst, die den Unterschied zwischen animalischem und menschlichem Leben und innerhalb der menschlichen Welt die Differenz zwischen ›Barbaren‹ und ›Hellenen‹ ausmacht (15, 293  f ). Mit dem Bild eines Perikles, der von ihm selbst aufgebrachtes und im neu errichteten Parthenon verwahrtes Geld (15, 234 und 307) verwendet, um die Stadt mit Tempeln und Heiligtümern zu schmücken, antwortet Isokrates kritisch auf Thukydides, für den die Machtsteigerung Athens auf dem Geld beruht, das die Polis in den Aufbau ihrer »Kriegsflotte« investiert hat. Sie ist das Instrument, mit dem Athen seine Seeherrschaft und den kontinuierlichen Zufluss finanzieller Ressourcen sichern und auf dieser Grundlage seine »Herrschaft über andere« immer weiter ausdehnen konnte.258 Für den Perikles des Thukydides ist Geld auch die entscheidende Machtressource der Athener im Kampf gegen Sparta, zu der sogar der abnehmbare und deshalb für Kriegszwecke verwendbare Goldschmuck der Athena-Statue des Phidias für den neuen Parthenon gehört.259 Dagegen entwirft Isokrates das Bild einer Politik, die Geld nicht zu gewaltgestützter »Herrschaft über andere«, sondern zum Aufbau einer »Rede« verwendet, die durch ihre Schönheit alle, die sie wahrnehmen, in ihren Bann zieht, so dass sie sich wie Theseus gegenüber Helena, die Athener gegenüber ihrem Gründungskönig und die Nicht-Athener gegenüber dem isokratischen Ur-Athen verhalten und sich freiwillig von einer Macht beherrschen lassen, die sie in den Zustand des Glücks versetzt. De facto hat Athen nach den Perserkriegen gerade auch unter Perikles260 eine an ihrem Schluss sogar selbstzerstörerische Gewaltpolitik betrieben. Die Schuld dafür trifft nach Isokrates, der in diesem Punkt Thukydides folgt, allerdings nicht Perikles, sondern seine Nachfolger.261 Er selbst gehört noch zur ›guten‹ Phase kooperativ-aristokratischer Politik, weil er »eine Polis übernommen« hat, die nach dem »Aufbau der Seeherrschaft« zwar »unvernünftiger« als zuvor, aber immer noch »leidlich gut regiert« war (8, 126). Das zeigt sich daran, dass das »Volk« »den weisesten, gerechtesten und besonnensten« Bürger (15, 111; 16, 28) zum Strategen gewählt hat, während Perikles diese allgemein anerkannte Tüchtigkeit im Umgang mit Anaxagoras und Damon erworben hat. Auf der Grund194 | Realisierungsprobleme 

lage derselben Art von ›Weisheit‹, die zuvor schon in Solon wirksam war (15, 235), hat er nicht den eigenen, sondern den Reichtum der Polis vermehrt (8, 136) und seine ›Herrschaft‹ auf die Kunst überzeugender Rede gestützt.262 Anders als Isokrates zeigt Thukydides Perikles als Redner in Aktion. Da seine Darstellung auf den Vergleich mit den Reden anderer Politiker angelegt ist 263 , lässt sie sich als weitere Fallstudie zu den Voraussetzungen lesen, unter denen die Überzeugungskraft ›besonnener‹ Rede für die Polis als Quelle des ›Guten‹ wirken kann. In der folgenden Darstellung geht es vor allem um die Frage, was aus der politischen Rhetorik und der von ihr bestimmten Praxis der Entscheidungsfindung wird, wenn im Feld umstrittener Macht ›größte Bewegung‹ aufkommt, die alles weniger Bewegte mit sich zu reißt, bis sie zuletzt den anomischen Untergrund der menschlichen Natur entfesselt, der das normale ›Verschwinden‹, dem ›alles Entstan­ dene‹ unterliegt (II 64, 3), zum politischen Kataklysmus forciert. 2. Thukydides und die Praxis der Isegorie

Sämtliche Reden, die Thukydides in seine Darstellung des Peloponnesischen Krieges einflicht 264 , werden auf »Versammlungen« gehalten, in denen durch das Aussprechen dessen, »was man will« (I 119, 1), in Bezug auf »Zukünftiges« oder »nicht klar Ersichtliches« (III 42, 2: perˆ toà mšllontoj kaˆ m¾ ™mfanoàj) das Deutliche hergestellt werden soll, mit dem ein Sozialverband aus einer Situation der Ratlosigkeit herausfindet. Die Aussprache wird auf ein bestimmtes Thema festgelegt, zu dem sich mehrere Sprecher in Rede und Gegenrede äußern (I 31, 3) und dabei im Wettkampf mit ihren Konkurrenten für den eigenen Vortrag den »Glauben« (p…stij) der Versammelten gewinnen wollen (II 35, 2). Bei Thukydides findet eine Reflexion auf diese Praxis ausschließlich in ihrem eigenen Rahmen statt und ist deshalb kein Beitrag zu einer Theorie der Isegorie, sondern Teil einer Strategie, die die eigene Rede stärken und Gegenreden schwächen will. Reflexionen zur Praxis der Isegorie gehören bei Thukydides aber auch in den Zusammenhang einer Anthropologie, die das Reden und Handeln als die Fähigkeiten versteht, durch die sich Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 195

Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden. Dabei vollzieht das Handeln eine Bewegung, die sich beschleunigen und auf externe Güter zugreifen kann, während das beratende Sprechen einen Zustand relativer ›Ruhe‹ erzeugt, in dem der Handelnde über sich selbst und seinen Bezug auf anderes nachdenkt.265 Da Handeln und Sprechen nicht schon automatisch optimal miteinander verbunden sind, können Situationen eintreten, in denen zum eigenen Schaden überhaupt nicht oder kopflos gehandelt oder aber überhaupt nicht oder nur um seiner selbst willen gesprochen wird. Die Fähigkeit zur richtigen Kombination von Beratung und Handlung ist im perikleischen Epitaphios das Alleinstellungsmerkmal der Athener: »Nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch, denn nicht schaden nach unserer Meinung Worte den Taten, vielmehr ist es ein Schaden, sich nicht durch das Wort vorbelehren zu lassen, ehe man an die nötige Tat herangeht« (II 40, 2). In Athen ist die reguläre Versammlung ­aller Bürger als Institution der letzten Entscheidung für sämtliche Angelegenheiten der Polis und des Seebundes jedoch mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, so dass regelmäßig unter dem Eindruck unerwarteter und erschreckender Ereignisse Entscheidungen getroffen werden müssen, die innerhalb der Bürgerschaft Spannungen oder gar stasisaffine Spaltungen hervorrufen. Sie resultieren in der Anfangsphase des Peloponnesischen Krieges (Archidamischer Krieg) daraus, dass Sparta als Landmacht mit seinen überlegenen Bodentruppen in Attika eindringt und dort die Wohnsitze und Felder der Landbevölkerung zerstört, während die Athener diesen Raubzügen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben. Nach der Kriegsstrategie des Perikles soll sich die Landbevölkerung Attikas deshalb in die uneinnehmbar befestigte Stadt zurückziehen und darauf vertrauen, dass die Aktivität ihrer Flotte auf längere Sicht die Spartaner, die weder die materiellen Ressourcen noch die mentalen Voraussetzungen für den Aufbau und die erfolgreiche Handhabung einer gleichwertigen Seestreitmacht besitzen, zur Kapitulation zwingen wird. Perikles hat den Athenern diese Strategie immer wieder in öffentlicher Rede erklärt und ihnen dabei im Einzelnen vorgerechnet, dass sie bei konsequenter Handhabung zum Sieg führen muss.266 Zu seiner Kunst als politischer Redner gehört es aber auch, die Praxis der Isegorie nicht zu ›gebrauchen‹, 196 | Realisierungsprobleme 

wenn er erkennt, dass sein ›heilendes‹ Wort gegen die affektive Erregung der ›Menge‹ nichts ausrichten kann. Ein Musterbeispiel dafür ist seine Entscheidung, in der Situation, in der die attische Landbevölkerung zum ersten Mal von den Mauern ihrer Stadt aus der Verwüstung ihrer Häuser, Tempel und Ahnengräber durch spartanische Bodentruppen tatenlos zusehen muss, keine Volksversammlung einzuberufen, weil Menschen, die »mehr im Zorn als im Zustand vernünftiger Überlegung (ÑrgÍ m©llon À gnèmV) zusammenkommen, zwangsläufig fehlerhaft handeln«.267 Um ihrer Erregung die Spitze zu nehmen, bedient er sich deshalb nicht der Rede, sondern der Tat, indem er ihrer ungeordneten Bewegung seine eigene Ruhe entgegenstellt, aber auch »regelmäßig Reiter aussendet«, die verhindern sollen, dass »Stoßtrupps vom Heer (sc. der Peloponnesier) in das Ackerland nahe der Stadt einbrechen« (II 22, 2). Dieses Verfahren lässt sich jedoch beim Verwüstungszug der Peloponnesier im Folgejahr nicht wiederholen, weil die in der Stadt eingeschlossenen Athener unter den verheerenden Wirkungen der »Pest« zu leiden haben.268 Sie schicken deshalb gegen den Willen des Perikles Gesandte nach Sparta, um einen Einigungsvertrag auszuhandeln, und geraten nach ihrer erfolglosen Rückkehr in eine Situation vollständiger Ausweglosigkeit (II 59, 2: pantacÒqen te tÍ gnèmV ¥poroi kaqesthkÒtej). In ihrer Verzweiflung konfrontieren sie Perikles mit Beschuldigungen, die ihn politisch kalt stellen könnten und damit auch seine Kriegsstrategie gefährden würden. Während die Bürger auf unerwartet Bedrohliches mit panischem Erschrecken reagieren und darüber ihre politische Urteilskraft verlieren, stellt ihnen Perikles, weil er den Grund für ihren »Zorn« erkennt, nicht das Gleiche entgegen, sondern versucht, mit einer Rede in der Volksversammlung »das Zornhafte aus ihrem Denken und Empfinden wegzuführen (59, 3: ¢pagagîn tÕ ÑrgizÒmenon tÁj gnèmhj)269 und sie in eine weniger vom Affekt der Furcht bestimmte mildere Stimmung zu versetzen« (ebd.: prÕj tÕ ºpièteron kaˆ ¢dešsteron katastÁsai), 270 in der sie dann, wie er hofft, auch wieder vernünftigen Überlegungen wenigstens folgen können. Zur Reflexion auf die Praxis der Isegorie gehört auch der Hinweis auf Gefahren, die daraus resultieren, dass sie sich verselbständigt und dadurch ihre Anbindung an den Handlungsraum verliert. Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 197

Dieser Defekt tritt nach den Worten des Epitaphios jedoch nicht Athen, sondern nur beim Gegner auf, so dass »wir kühnen Mut und kluge Überlegung bei allem, was wir anfassen, in uns vereinen«, während die anderen entweder durch den Ausfall des Überlegens zu selbstzerstörerischer Hybris neigen oder über das Nachdenken ihren Handlungsmut verlieren (II 40, 3). Demgegenüber zeigt die Mytilene-Debatte des Jahres 427, dass diese Gefahr in der Zeit nach Perikles auch die Athener betrifft. Zusätzlich wird an diesem Beispiel deutlich, dass die Praxis der Isegorie in dem Maße, wie der Krieg sich intensiviert, in den Sog einer Machtpolitik gerät, die aus nachvollziehbaren Gründen den Faktor ›Gewalt‹ verstärkt und den der kommunikativen Verständigung schwächt. Die Mytilene-Debatte steht im folgenden Handlungskontext: Nach dem Rückzug der Spartaner aus dem Perserkrieg war das auf Lesbos gelegene Mytilene dem delisch-attischen Seebund beigetreten und hatte darin zusammen mit Chios länger als andere Mitglieder seine Selbständigkeit bewahrt.271 Wegen der Umstellung der athenischen Politik auf »Unterwerfung der Hellenen« (III 10, 2  ff ) wollten sich die Mytilener jedoch dem Peloponnesischen Bund anschließen, waren aber von Sparta abgewiesen worden (13, 1). Im Jahr 428 nutzt Mytilenes oligarchische Faktion die augenblickliche Schwäche Athens272 , das wegen der Pest seine Flotte nur eingeschränkt nutzen kann und wegen finanzieller Engpässe den Verlust seiner Machtstellung ernsthaft befürchten muss, zu einem diesmal erfolgreichen Bündniswechsel. Darauf antworten die Athener mit einer von ihrem Strategen Paches geleiteten Belagerung Mytilenes, das von spartanischen Truppen unter dem Kommando des Salaithos unterstützt wird. Im Verlauf der Belagerung kommt es in Mytilene jedoch zu einem Aufstand des zu Athen tendierenden »Volkes« gegen die eigenen prospartanischen Oligarchen273 , die daraufhin ihren Widerstand gegen die Belagerungstruppen aufgeben müssen. Sie können jedoch mit Paches eine Abmachung über das weitere Vorgehen treffen. Darin akzeptieren sie die Besetzung ihrer Stadt und das Recht der Athener, »über Mytilene zu beschließen, was sie wollten«, während Paches ihnen gestattet, »in ihrer Sache eine Gesandtschaft nach Athen zu schicken«, und sich selbst verpflichtet, »bis zu ihrer Rückkehr keinen Mytilener zu fesseln, als Sklaven zu verkaufen oder zu töten« (III 28, 1  f ). Nach der Rückkehr 198 | Realisierungsprobleme 

von weiteren Militäroperationen vor der kleinasiatischen Küste schickt Paches den aufgegriffenen Salaithos »samt den Mytilenern von Tenedos, die er dort gefangen hielt 274 , und die, die ihm sonst noch an dem Abfall mitschuldig schienen, nach Athen.« Dort wird nach der sofortigen Hinrichtung des Salaithos in der Volksversammlung über Strafmaßnahmen gegen die Mytilener diskutiert. In einer ersten Zusammenkunft beschließen die Athener »im Zorn«, alle männlichen Bewohner der Stadt hinzurichten und die Frauen und Kinder zu versklaven. Eine Triere wird abgeschickt, um Paches den Befehl zu erteilen, »die Mytilener eiligst umzubringen« (36, 2  f). Da sie diesen Beschluss am nächsten Tag »plötzlich bereuen«, setzen »die Gesandten der Mytilener und ihnen freundlich gesonnene Athener« die Einberufung einer neuen Volksversammlung durch, um den Beschluss des Vortages noch einmal zu beraten. In ihr beklagt Kleon, »der am meisten zu einer Politik der Gewalt tendierende275 und damals beim Volk hoch angesehene Bürger«, der den Beschluss des Vortages maßgeblich herbeigeführt hatte, dass in Athen die Praxis der Isegorie zu einem »Wetteifer des künstlichen Scharfsinns« verkommen sei (III 37, 5: xunšsewj ¢gîn) und damit der Demokratie die Fähigkeit entziehe, über die Bundesgenossen mit der nötigen Härte »zu herrschen« (III 37, 1). Hegemoniale Herrschaft im Seebund bedeutet notwendigerweise Tyrannis276 , die sich, um »hinterhältige und widerwillige« Bundesgenossen in Schach zu halten, konsequent auf ›Gewalt‹ („scÚj) zu stützen hat. Die Hegemonialmacht muss deshalb jeden Abfall als ein »Leiden« (p£qoj) verstehen, das sich nur dann nicht epidemisch ausbreitet, wenn dem Täter (tù dr£santi) sofort gleichwertiges »Leid« zugefügt wird.277 Das dafür erforderliche Handlungstempo wird jedoch gemindert, wenn regulär zustande gekommene Volksversammlungsbeschlüsse keine »unumstößliche Festigkeit« haben. Kleon wirft den Athenern den Verlust politischer Urteilskraft vor und führt ihn darauf zurück, dass sich im Zentrum der Polis eine Praxis des Redens breit gemacht hat, die sich das Monopol auf den Besitz von »Weisheit« anmaßt und daraus das Recht ableitet, Volksversammlungsbeschlüsse nach Belieben zurücknehmen und nach ›plötzlicher Reue‹ durch andere zu ersetzen. Die politische Debatte verlässt damit in seiner Sicht das genus deliberativum, in dem über Vor- und Nachteile von Beschlüssen und Handlungen in Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 199

der Polis gestritten wird, und entartet stattdessen zu einem Wettbewerb in der Prunkrede (genus demonstrativum), die das Schöne und Angenehme zum Thema hat. Das führt zwangsläufig dazu, dass sich daran nur solche Bürger beteiligen, »die sich klüger als die Gesetze dünken und bei allem, was zum Besten der Gemeinschaft vorgebracht wird, ihre eigene Überlegenheit« beweisen wollen 278 , während die Mehrheit durch ihr Schweigen demonstrieren will, dass sie den Rednern an Klugheit (gnèmh) nicht nachsteht.279 Kritisch nachdenkende Hörer werden dadurch schönheitsversessene »Zuschauer der Worte«280 , die sich wie in einer Theaterveranstaltung ihrer »Hörlust« hingeben und von der Gewalt (37, 5: deinÒthj) »prächtiger Reden« (38, 2: tÕ eÙprepj toà lÒgou) in eine Welt imaginärer Wünsche entführen lassen, die mit der Härte der politischen Wirklichkeit nichts zu tun hat (38, 7: zhtoàntšj te ¥llo ti … À ™n oŒj zîmen). In dieser Welt des schönen Scheins finden sie Gefallen am eigenen Großmut 281 und entwickeln deshalb eine lebensgefährliche Empathie für Bundesgenossen, die als tyrannisch beherrschte Untertanen »notwendig Feinde bleiben« (III 40, 2). Kleon ist der Demagoge, der bei der ›Menge‹ am leichtesten Glauben findet (IV 21, 3: ¢n¾r dhmagwgÕj … [kaˆ] tù pl»qei piqanètatoj), weil er sein rhetorisches Können darauf eingestellt hat, ›ärmere‹ Bürger, die infolge der Reformen des Ephialtes an politischem Einfluss gewonnen haben, gegen die alte Führungsschicht aufzuhetzen. Er baut sich deshalb zum Beschützer der »schlichteren« (faulÒteroi), aber tatentschlossenen Angehörigen der Unterschicht auf und deklariert die besser gebildeten Bürger (xunetèteroi: »die Überklugen«) zu Feinden der Polis, die sich zwar mit besonderem Geschick einer sophistisch hochgezüchteten Rhetorik bedienen, aber damit im Zentrum der Polis genau die »Zuchtlosigkeit« (dexiÒthj met¦ ¢kolas…aj) zur Wirkung bringen, die ihrem eigenen Reden und Handeln zugrundeliegt (III 37, 3). Mit dieser Polarisierung will Kleon eine Stimmung erzeugen, in der die besonneneren Bürger die Feindschaft der ›schlichteren‹ fürchten müssen und deshalb schweigen, wenn die Mehrheit des ›Volkes‹ ohne langes Debattieren einer Politik folgt, die das vermeintlich Richtige mit der erforderlichen Entschlossenheit und Schnelligkeit umsetzt. Nach Kleon ergreift der ansonsten unbekannte Diodot das Wort, 200 | Realisierungsprobleme 

der schon in der Versammlung des Vortags sein Gegenredner war.282 Im ersten Teil seiner Rede thematisiert er die Vorteile der Isegorie und unterstellt seinem Kontrahenten die Absicht, Übereile (t£coj), Zorn (Ñrg»), Unverstand (¥noia), Unbildung (¢paideus…a) und kurzsichtiges Denken (bracÚthj gnèmhj) an Stelle von ›Wohlberatenheit‹ zur Grundlage der politischen Entscheidungsfindung machen zu wollen. Er erinnert die Athener deshalb an den Grundsatz, dass derjenige, »der alles richtig bedenkt«, größere Macht über seine Gegner gewinnt als derjenige, »der mit Gewalttaten, aber ohne Sinn und Verstand auf sie losstürmt« (III 48, 2: met’ œrgwn „scÚoj ¢no…v ™pièn). Kleon hingegen erzeuge mit seiner massiven Verleumdung von »Gegenrednern und Zuhörern« ein Klima des Misstrauens, das die freie Teilnahme eines jeden, der will, an der politischen Debatte verhindern soll. Wer jeder Rede egoistische Interessen unterstellt, erklärt die Volksversammlung zum Ort der Unehrlichkeit und macht deshalb aus der ›vernünftigen‹ Stadt, in der sich die Redner im Wettbewerb darum bemühen, ihre »Vorschläge durch jedermann zugängliche Argumente als die besseren zu erweisen« (III 42, 1–5), eine Stadt des Betrugs (43, 2  f ), die nicht mehr in der Lage ist, ihre Entscheidungen auf der Grundlage kluger Voraussicht zu treffen. Nach der Analyse Diodots hat Kleon die Debatte im falschen genus dicendi, nämlich im genus iudiciale geführt und deshalb über die gerechte Strafe für ein schwer wiegendes Unrecht der Mytilener gesprochen. Dabei hat er vorausgesetzt, dass das, was die Athener in einem Rechtsstreit als das Gerechte festlegen, für sie auch das Nützliche ist.283 Da Diodot diese Gleichsetzung nicht akzeptiert, verschiebt er die Debatte in die Redegattung des genus deliberativum, so dass jetzt die wirklich entscheidende Frage nach dem Nutzen für die Polis auf der Tagesordnung steht 284 und er sich selbst als Teilnehmer an einem Redewettbewerb darstellt, in dem es »nicht um Recht oder Unrecht, sondern allein darum geht, ob wir für uns den besten Rat finden« (44, 1  f ). Dabei muss bedacht werden, dass die Aristokraten in allen Städten Griechenlands zu Sparta, die einfachen Bürger hingegen zu Athen tendieren, so dass die Hinrichtung der gesamten Bürgerschaft Mytilenes die eigenen Anhänger schockieren und auf die Gegenseite treiben würde (47, 2  ff ). ›Maßvolle‹ Strafe hingegen würde Athen weiterhin die SymPerikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 201

pathie der Bevölkerungsmehrheit in den verbündeten Städten und zudem die Konstanz der dringend benötigten Phoros-Einnahmen sichern, die bei »unheilbarer Strafe« (39, 7) zwangsläufig entfielen. Sein Antrag lautet deshalb, »die von Paches hergesandten Mytilener, soweit sie schuldig sind, in aller Ruhe zu richten, und die übrigen in ihrer Stadt wohnen zu lassen« (48, 1).285 Diodot bestreitet den Nutzen ›unheilbarer Strafe‹ aber auch auf der Grundlage einer Anthropologie, die der menschlichen Natur generell einen durch nichts zu bändigenden Hang zum »Verbrechen« unterstellt (III 45, 3). Das Gesetz der ›wilden Natur‹, das nach dieser Voraussetzung stärker ist als jeder künstliche Nomos, setzt bei ›Armen‹ und ›Reichen‹ das Streben nach Vorteilen von jeder sozialverträglichen Norm frei, so dass ›blinder Wagemut‹ ihr Bewusstsein für real bestehende Gefahren erstickt und sie »mit ­a ller Macht zu irgendeinem Handeln« treibt. Wenn jedoch blinder Eros und wunschgetriebenes Hoffen die ›wilde Natur‹ entfesseln, gibt es nichts Abschreckendes (deinÒn) mehr, das dem eigenen Handeln Schranken auferlegen könnte (45, 2–7). Mit seinen Ausfühungen zum anomischen Abgrund der menschlichen Natur verlässt aber auch Diodot das von ihm ausdrücklich eingeführte genus deliberativum und erschüttert damit nachträglich die Glaubwürdigkeit des Teils seiner Rede, in dem er seine Mitbürger vom besonderen Nutzen der agonalen Debatte überzeugen wollte. Die Mytilene-Debatte ist ein Indiz für die innere Zerrissenheit der Polis und für die kriegsbedingte Polarisierung der politischen Auseinandersetzung. Da in ihr nicht nur »verschiedene Meinungen« (36, 6), sondern zwei »Vorschläge« vorgebracht werden, die »beide gleich viel für sich haben«, kommt es zu einer Kampfabstimmung, in der beide Anträge »fast gleich viel Stimmen« erhalten, aber derjenige Diodots sich letztlich, wenn auch nur mit knapper Mehrheit, durchsetzt. Das Willkürliche dieser Entscheidung prägt auch ihre Umsetzung. Da am Vortag bereits eine Triere mit der Überbringung des ersten Beschlusses der Volksversammlung beauftragt worden war, wurde unmittelbar nach seiner Revision »in aller Eile eine zweite« entsandt, die nur wegen des geballten Zusammentreffens kaum glaublicher Zufälle gerade noch rechtzeitig in Mytilene eintraf, um die Hinrichtung aller männlichen Bewohner der Stadt zu verhindern (49). Die perikleische Politik rationaler 202 | Realisierungsprobleme 

Selbstkontrolle wird offensichtlich von einer Politik abgelöst, die einerseits dem Zufall Tür und Tor öffnet und andererseits ihre Gewaltkomponente verstärkt. »Die andern Männer, die Paches als die Hauptschuldigen am Abfall« nach Athen gesandt hatte – »es waren etwas mehr als 1000« Personen –, werden nämlich nicht, wie Diodot beantragt hatte, »in aller Ruhe« gerichtet, sondern ohne Prozess »getötet«. Diodot hatte auch nicht das Schleifen der Mauern, die Wegnahme der Schiffe und die später erfolgten kleruchie­ politischen Maßnahmen beantragt.286 Vielmehr muss es, wie Egon Flaig plausibel gemacht hat, in der zweiten Volksversammlung Reden und Gegenreden gegeben haben, auf die hin Diodot seinen ursprünglichen »Rat« in einen Haupt- und einen Zusatzantrag aufgeteilt hat. Da nur sein Hauptantrag, der das Überleben Mytilenes sichern sollte, die knappe Mehrheit der Volksversammlung fand, während sein Zusatzantrag – ›in aller Ruhe über die Schuldigen richten‹ – durchfiel, konnte Kleon mit Erfolg die »kollektive Hinrichtung« (Flaig) der von Paches nach Athen entsandten Mytilener beantragen. Die Anhänger einer perikleisch rationalen Macht­poli­ tik konnten sich also mit den Vertretern radikaler Gewaltpolitik noch auf ein gemeinsames Prozedere für die Entscheidungsfindung und auf Maßnahmen einigen, die teils dem Willen der einen und teils dem der anderen Gruppe entsprach. Erst nach dem Abfall von Skione (423) setzt sich Kleons harte Linie in der Weise durch, dass die Athener »sogleich«, d. h. ohne lange Debatte, »den Beschluss fassten, Skione zu zerstören und alle Einwohner zu töten«.287 Das von Kleon angesprochene Auseinanderklaffen zwischen der Welt der ›Worte‹ und der Welt der ›Taten‹ wird von Thukydides auch systematisch thematisiert (I 20–22) und vor allem dann aufgegriffen, wenn auf der Handlungsebene Entscheidungen über Leben und Tod anstehen. Das betrifft in besonderer Weise die Ereignisse um Melos aus dem Jahr 416/15. Die Athener wollten Melos, die letzte immer noch neutrale Kykladeninsel, zum Eintritt in den Seebund zwingen, um mit der Schließung der östlichen Ägäisflanke den Rücken für ihre Flottenoperationen im westlichen Mittelmeer (Sizilien) frei zu haben. In der Regel steht der Melier-Dialog, der diesen Vorgang widerspiegelt, für die brutale Machtpolitik Athens und damit als Dokument für das Kriegsverbrechen, das, sozusagen als Strafe der Nemesis, den Zusammenbruch der Polis Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 203

einleitet.288 Dagegen hat schon Felix Wassermann betont, dass auf der politischen Reflexionsebene des Textes nicht das Verbrechen Athens im Zentrum steht, sondern Themen wie die ›immanente Dynamik der Macht‹ mit ihren Folgen für das politische Denken und Handeln, ›der Zusammenprall gegensätzlicher politischer Philosophien und Lebensformen‹ und der Umschlag einer Politik der persuasio in die gewaltsame Vernichtung dessen, der sich nicht überzeugen lässt. Melos steht für die traditionsgebundene Polis mit begrenztem Handlungsspielraum, die sich an dorisch-aristokratischen Werten (»Ehre«, »Recht«) orientiert, Athen hingegen für eine innovativ-expansive Politik, die sich allein auf die realen Machtverhältnisse und die Berechnung des eigenen Vorteils stützt.289 Die auf Melos herrschenden Oligarchen verweigern den Eintritt in den Seebund, weil sie an der theologischen Überzeugung festhalten, dass Menschen, die »gottesfürchtig (Ósioi) Ungerechten entgegentreten, vom Schicksal, das aus der Hand der Gottheit hervorgeht, nicht geschädigt werden«, und sie berufen sich auf die Ethik der »Stammesverwandtschaft«, die die Lakedaimonier »um ihrer Ehre willen« verpflichte, schwächere Mitglieder des eigenen Ethnos vor dem Zugriff stärkerer Mitglieder eines anderen ›Stammes‹ zu schützen.290 Sie glauben deshalb, ihre Entscheidung nicht primär von der ihnen durchaus bekannten militärischen Machtkonstellation abhängig machen zu müssen, und verfallen deshalb in der Fehler der Hybris.291 Nach der These von Albert Bosworth thematisiert Thukydides im Melier-Dialog vor allem den Gegensatz zwischen dem Interesse der athenischen Generäle, ihrer Polis Tributzahlungen zu sichern und Melos deshalb ohne Blutvergießen in den Seebund zu ›zwingen‹292 , und dem Selbstbehauptungswillen der melischen Oligarchen, die sich unter dem Bann illusorischer Schlagworte weigern, eine Entscheidung zu treffen, die das Leiden auf beiden Seiten so klein wie möglich gehalten und jedes Blutvergießen verhindert hätte.293 Bosworth folgt explizit Thomas Hobbes, der im Vorwort zu seiner Thukydides-Übersetzung die Konfliktsituation zwischen den in Melos regierenden Oligarchen und den athenischen Generälen folgendermaßen beschrieben hat: Da die Athener Volksversammlung ihren »captains« den Befehl erteilt hatte, Melos einzunehmen, konnten sie mit den Meliern nicht über diese Anordnung 204 | Realisierungsprobleme 

als solche verhandeln, sondern nur darüber, ob sie »by fair or foul means« umgesetzt wird.294 Die »captains« der Athener registrieren genau, dass sie nur mit den Amtsträgern und dem Adelsrat, aber nicht in der Volksversammlung sprechen dürfen, weil die Oligarchen verhindern wollen, dass das »Volk«, das auch auf Melos zu Athen tendiert (vgl. III 47, 2), »in fortlaufender Rede … verlockende und unwiderlegbare Dinge in einem Zuge hört und damit betört wird«.295 Während die Oligarchen also die Praxis der Isegorie im Interesse ihres Machtmonopols verkürzen, klammern sie sich im Rahmen dieser Praxis an »schöne Worte« (V 104) und stürzen damit, wie die Athener ihnen zu Recht vorhalten, im ›unverständigen‹ und ›schandbaren‹ Vertrauen auf »die Kraft des Zauberwortes« Ehre296 sich selbst und ihr »Volk« »in heilloses Verderben« (V  111, 3). Auch wenn am Ende der Geschichte, die mit Überredung begonnen hat, blanke Gewalt steht – die Athener töten alle erwachsenen Männer, die sie ergreifen können, verkaufen die Kinder und Frauen in die Sklaverei, gründen den Ort neu und besiedeln ihn mit eigenen Bürgern (V 116, 4) –, stellt Thukydides nicht ›gerechte‹ Melier ›ungerechten‹ Athenern gegenüber. Wohl aber korrespondiert der unverantwortlichen Blindheit der melischen Oligarchen für die realen Machtverhältnisse und die Interessen ihres Demos die Blindheit der Athener für die langfristig selbstzerstörerischen Folgen ›tyrannischer‹ Herrschaft, die die melischen Oligarchen ­ihnen ebenso richtig wie vergeblich vorhalten.297 Wie kaum ein anderer Text des Thukydides veranschaulicht der Melier-Dialog die Grenzen, die der Praxis der Isegorie durch machtpolitische Verhältnisse gesetzt sind. Ihr allgemeines Ziel besteht darin, »auf der Grundlage des gemeinsam als wahr Erkannten das Mögliche zu erreichen« (V 89). Im Austausch von Rede und Gegenrede zwischen gleich mächtigen und in gleicher Weise rational im Sinne ihrer Interessen agierenden Partnern wird daraus eine Verhandlung über das für beide Seiten Gerechte, im Austausch von Rede und Gegenrede zwischen ungleich Mächtigen hingegen eine Verhandlung über das für beide Seiten Nützliche (V  87 und 90). Wenn die schwächere Partei den Vorteil nicht erkennen will, den die stärkere ihr anbietet, oder es für »Schande« hält (100), sich darauf einzulassen, begibt sie sich in eine Situation, in der »alle sichtbare Hoffnung verschwindet« (V 103). Sie verlässt sich dann im ›Raum‹ Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 205

des Verhandelns lediglich auf ungedeckte »Vermutungen über die Zukunft« (V 87) und im Handlungsraum auf »unsichtbare« Hoffnung – »Weissagung, Göttersprüche und dergleichen mehr« wie z. B. die Normen der aristokratischen Freundschafts­ethik –, die aber in der Konfrontation mit harter Macht nicht weiterhelfen (V 103). Die Neigung, beim Urteil über Gegenwärtiges »mehr verschwommenen Wünschen« als »verständiger Voraussicht« zu folgen, ist für Thukydides eine grundsätzliche Schwäche der menschlichen Natur, die unter der narkotisierenden und zugleich tonisierenden Wirkungsmacht ›schöner Worte‹ allzu leichtfertig verdrängt, was man »nicht an sich heranlassen« will. Menschen, die den Gegenstand ihrer Wünsche »unbedachter Hoffnung anheim stellen«, machen sich deshalb zu Gefangenen einer »selbstherrlichen Überlegung« (logismÒj aÙtokr£twr), so dass sie sich über die Wirklichkeit hinwegsetzen und dann dem gegenwärtig Erforderlichen nicht mehr gewachsen sind (IV 108, 3  f ). Diesen Fehler begehen nicht nur die melischen Oligarchen oder die thrakischen Mitglieder des delischattischen Seebundes, die im Jahr 422/21 glauben, gefahrlos auf die Gegenseite wechseln zu können298 , sondern auch die Athener, wenn sie beim sizilischen Unternehmen des Jahres 415 unter der Wirkung des blinden Eros299 und in falscher Nachahmung des bei Salamis bewährten Handlungsmusters »Bestehendes (t¦ Øp£rconta) für Ungewisses und Künftiges aufs Spiel setzen« (perˆ tîn ¢fanîn kaˆ mellÒntwn kinduneÚein) und darüber die von Nikias, dem letzten Repräsentanten der traditionellen Polis-Ethik (VII 86, 5), ausgesprochene Regel vergessen, »dass durch leidenschaftliche Gier das Wenigste, durch kluge Voraus­sicht aber das Meiste gelingt« (VI 13, 1). In der ›gemeinsamen Hoffnung‹ auf maximalen Gewinn folgen die Bürger aller Schichten den Reden des Alkibiades, der sie davon überzeugt, dass die Furcht, »von anderen beherrscht zu werden«, nur dadurch zu besiegen ist, dass sie »über alle anderen herrschen« (VI 18, 3). Da spätere Volksversammlungsbeschlüsse, die nicht aus ›Wohlberatenheit‹, sondern aufgrund der jeweiligen innenpolitischen Gemenge- und Stimmungslage getroffen werden (II 65, 11), das Sizilien­unterneh­men nur halbherzig unterstützen, steht für die Athener am Ende der von ihnen ausgelösten ›größten Bewegung‹ (VII 87, 5) mit physikalischer Notwendigkeit der ›größte Zusammenbruch‹ (VIII 96, 1: meg…sth kat£plhxij). 206 | Realisierungsprobleme 

3. Die Bürger-Polis Athen – eine sichere Insel im Umfeld größter Bewegung?

Als der wichtigste Text des Thukydides zur Lebensform der Polis Athen gilt bis heute die am Ende des ersten Kriegsjahres im Winter 431 gehaltene Gefallenenrede des Perikles. Weil das höchste Lob auf Athen in einer rituell vorgeschriebenen Gedenkrede erklingt, die zugleich als Trostrede für die Hinterbliebenen konzipiert ist, und mit einer Kritik an dieser Redegattung beginnt 300 , wäre es leichtfertig, das dort entworfene Bild der Lebensform Athens als Schilderung eines faktisch erreichten Idealzustands zu verstehen. Mit ihr soll zwar ein ›Wirkliches‹ (œrgon) gepriesen werden, das keinen Homer als Lobredner nötig hat, aber dieses Wirkliche hat am Schluss seiner Regierungszeit seinen festen Ort nur noch im Denken und Reden des Perikles. Die Gefallenenrede ist keine vorbehaltlose Verherrlichung Athens, keine nachträgliche Rechtfertigung perikleischer Politik oder ein allgemeines Lob der Demokratie und der für sie angeblich bezeichnenden Verbindung von Politik und Kultur301, aber auch keine ideologisch aufgeladene Propaganda- oder eine zynische Täuschungsrede, mit der Thukydides die Machtideologie des Perikles und die Militärpolitik Athens im Seebund hätte kritisieren wollen.302 Es geht es in ihr nicht um das unverantwortliche Aufheizen patriotischer Gefühle, wie das für den Militarismus und Nationalismus vor allem im 20. Jh. charakteristisch gewesen ist, sondern sie bringt, wie Christian Meier zu Recht betont hat, durchaus authentisch das dem modernen Leser fremd gewordene Selbstverständnis einer Bürger-Polis zum Ausdruck, die sich als normativ fundierte Leistungs- und Nutzensgemeinschaft verstanden hat. Sie hat zwar den einzelnen Bürger mit einer Intensität für sich in Anspruch genommen, die unter modernen Bedingungen überhaupt nicht vorstellbar wäre, aber ihn auch für die von ihm eingeforderte ›Mühe‹ mit der Teilhabe am gemeinsam erarbeiteten Nutzen und vor allem an der ›Ehre‹ belohnt, die der Polis in Form von Bewunderung, aber auch von Neid, Hass und Feindschaft entgegengebracht wurde.303 Das von Perikles formulierte Lob kann man deshalb nur verstehen, wenn man den Anspruch der Polis ernst nimmt, der legitime Erbe der agonalen Ethik des heroischen Zeitalters zu sein. Die Athener konnten sich Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 207

deswegen als Nachfolger des Theseus empfinden, der Herakles im Wettkampf um Tugend übertroffen hat, weil er mit seiner ›Mühe‹ dem Wohl und dem Ruhm der Polis gedient hat.304 Die folgende Überlegung setzt bei der begrifflichen Substruktur an, die nicht nur dem Epitaphios, sondern dem Gesamtwerk des Thukydides insofern zugrunde liegt, als dort geschichtliche Prozesse und Sozialformen grundsätzlich im Ausgang von einer naturalistischen Anthropologie beschrieben werden, die als soziale Physik mit dem Grundbegriff der Bewegung operiert. Bewegung ist eine Realisierungsform des Werdens und meint im Rahmen einer anthropologischen Reflexion das Streben nach Gütern, die zum Zweck der Lebenssicherung erworben werden müssen. Daraus wird im politischen Kontext das Streben nach Macht, wobei »Macht« die Fähigkeit des ungehinderten Zugangs zu den Gütern bedeutet, die in Abhängigkeit von eingespielten Gewohnheiten und konkreten Situationen für das Leben und die Identität eines Sozialverbandes als unentbehrlich oder zumindest als förderlich betrachtet werden. Da das Streben nach Macht unter Konkurrenzbedingungen stattfindet, gehört dazu auch die Fähigkeit, andere Handlungseinheiten präventiv daran zu hindern, die eigenen Bewegungsspielräume zu begrenzen. Die Bewegung des Strebens nach Macht lässt sich grundsätzlich mit Begriffspaaren wie ›groß – klein‹, ›schnell – langsam‹, ›Zunahme – Abnahme‹, ›Beschleunigung – Verlangsamung‹, ›Werden – Vergehen‹ oder ›Verdichtung – Auflösung‹ beschreiben. Großr­äu­mige, beschleunigte und in sich verdichtete Bewegungen lösen Zonen relativer Ruhe in sich auf oder veranlassen langsamere Bewegungen, sich ihrerseits durch Beschleunigung und Verdichtung dem Verschluckt- oder Verdrängtwerden durch größere zu widersetzen. Der auslösende und dauerhaft wirksame Impuls für alle sozialen Bewegungen ist eine Trias von Trieben, die aus zwei aktiven und einer reaktiven Einheit besteht. Die aktiven Teile sind das Streben nach Nutzen und mehr noch das Streben nach ›Ehre‹, die unter griechischen Bedingungen als das höchste im Handeln erreichbare Gut gilt, während die reaktive Einheit in der Furcht vor dem Verlust des eigenen Besitzes besteht und deshalb die treibende Kraft dafür ist, das Eigene vor dem Zugriff anderer zu schützen. Die Grundtriebe der menschlichen Natur können durch ›blinde‹ 208 | Realisierungsprobleme 

Hoffnung, die sich über das real Erreichbare hinwegsetzt, zu einem besonders intensiven und bis zur Besinnungslosigkeit aufgeladenen Begehren (Elpis und Eros) forciert werden, während »Furcht« sich auch zu einer Panik steigern kann, die jeden Handlungsimpuls niederschlägt. 305 Im begrifflichen Rahmen dieser sozialen Physik lassen sich nur fragile Machtkonstellationen beschreiben, die sich in der Regel in der variablen und leicht verschiebbaren Mitte zwischen räumlich und zeitlich begrenzter Stabilität und katastrophischem Zusammenbruch bewegen, aber auch diese beiden Extremwerte erreichen können. Da Thukydides den Zusammenbruch Athens im Peloponnesischen Krieg vor Augen hat, steht im Zentrum seines Werkes die Frage nach dem Grund für die Entstehung »größter Bewegung«, die ihre gesamte Umgebung zwingt, zu ihr in ein Verhältnis der Anpassung, der Unterwerfung, der Kooperation oder der Gegenwehr zu treten. Die Beziehungen, die sich dann zwischen verschiedenen Bewegungsgrößen einpendeln, sind Konstellationen unterschiedlich verteilter, in sich verschieden organisierter und aufgrund ihrer Wechselwirkung der Veränderung unterliegender Macht. Man kann diese Konstellationen als Welt des »Willens zur Macht« im Sinne Nietzsches verstehen, in der sämtliche »Quanten« in Relation zu ihrer Umgebung jederzeit für sich selbst die äußerste Konsequenz ziehen.306 In einer derartigen »Welt« ist konservative Machtsicherung durch den Rückzug in eine neutrale Zone oder durch defensive Selbstkonsolidierung zum Scheitern verurteilt. Vielmehr stehen sämtliche Bewegungseinheiten vor der Wahl zwischen dem ›Tun‹ und dem ›Erleiden‹ von Macht, so dass sie wie im hobbesianischen status naturalis strukturell gezwungen sind, ihre Macht auch präventiv so weit wie möglich auszudehnen und dadurch dem ›Erleiden‹ von Macht so lange wie möglich auszuweichen. Die wichtigste »Tugend« einer politischen Handlungseinheit besteht deshalb darin, aus der kognitiven Fähigkeit zum illusionsfreien Durchrechnen der für sie relevanten Machtverhältnisse die moralische Kraft zu gewinnen, das eigene Handeln mit aller Konsequenz auf diese Rechnung einzustellen und jeden Ausflug in die Welt des Wünschbaren zu unterlassen. Die perikleische Gefallenenrede beschreibt eine Sozialform, in der die Bewegung des Strebens nach Gütern und Macht sowie nach Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 209

Nutzen und Ehre eine vielfältig aufgefächerte, perfekt ausbalancierte und insofern ideale Gestalt angenommen hat.307 Sie ist im Rahmen der Bewegungen entstanden, die den griechisch geprägten Handlungsraum zuvor bestimmt haben. Die Frage nach ihrer Bedeutung für eine Theorie der Macht und für eine politische Ethik lässt sich deshalb nur im Blick auf die Geschichte dieser Bewegungsformen beantworten. a) Der griechisch geprägte Handlungsraum und seine B ­ ewegungsformen

Die Kontextualisierung des perikleischen Lobs auf Athen als ›idealer‹ Realisierungsform des Strebens nach Nutzen und Ehre beginnt bereits im Prooemium mit der ersten Nennung des Begriffs Bewegung und der Definition des Peloponnesischen Krieges als »größter Bewegung« (I 1, 1: k…nhsij meg…sth), die deshalb die größte ist, weil sie nahezu die gesamte menschlich bewohnte Welt in maximale Unruhe versetzt und dort alle gewohnten Lebensverhältnisse erschüttert hat.308 Eine Antwort auf die Frage nach dem Grund ihres Entstehens setzt einen Blick auf den Anfangszustand des griechisch besiedelten Handlungsraums voraus. Bei seiner Beschreibung stützt sich Thukydides auf die Vorstellung von einem inhomogenen Großraum, der nach dem Zufallsprinzip die Bewegung der Lebenssicherung an manchen Stellen begünstigt und an anderen erschwert 309, aber insofern ›leer‹ ist, als er keine naturhaft wachsende oder kontinuierlich an Größe und Geschwindigkeit zunehmende Bewegungen aufweist. Vielmehr besetzen die Handlungseinheiten (›Stämme‹), die sich in diesem Raum bewegen, im Streben nach dem elementaren Gut einer durch Ackerbau und Viehzucht gesicherten Ernährung unterschiedliche Stellen, an denen sie sich so lange halten, bis sie von einer stärkeren Handlungseinheit vertrieben werden.310 Solange lediglich der Zeitpunkt ungewiss ist, zu dem sie »ein anderer« »überfällt und … ihres Besitzes beraubt« (I 2, 2), behauptet das kriegerische Streben nach Vorteilen seine absolute Dominanz. Die Intensität des Kampfes um die Besetzung von Raumstellen hängt anfänglich entscheidend von ihrer Eignung zum Anbau von 210 | Realisierungsprobleme 

Nahrungsmitteln ab, d. h. fruchtbarer Boden wird heftiger und häufiger, weniger fruchtbarer gelinder und seltener, unfruchtbarer dagegen überhaupt nicht umkämpft. An den fruchtbarsten und deshalb attraktivsten Stellen kommen mit der Zeit zwar größere Bewegungskräfte zu einer Einheit zusammen, die aber wegen ihrer mangelhaften Binnenorganisation schnell wieder zerfällt (2, 4). Nur in einem so unfruchtbaren Gebiet wie Attika kann die Einheit, die sich dort ›einnistet‹, auch für die Zukunft homogen und stabil bleiben311, weil sie ihre Einwohnerzahl trotz Zuwanderung aus anderen Gebieten Griechenlands durch eine kluge Mischung aus Integrations- (Bürgerrechtsverleihung) und Vertreibungs-, d. h. Kolonisationspolitik auf einem sozialverträglichen Stand hält (2, 6). Die Athener sind deshalb »die ersten«, die es sich leisten können, »das Eisen und die alte Straffheit abzulegen und sich mehr den Annehmlichkeiten zuzuwenden« (I 6, 3), so dass dort schon früh die Keimform einer Lebensweise aufkommt, die im Epitaphios des Perikles das Alleinstellungsmerkmal seiner Polis ist. Insgesamt herrscht aber im Raum der griechischen Frühgeschichte »Schwäche« (I 3, 1: ¢sqšneia), weil der weitgehende Ausfall dauerhafter ›Einnistung‹ keine verlässliche ökonomische, militärische oder gar politische Kooperation zulässt. Selbst nach der Einführung des Seewesens, das unkriegerische Formen des Strebens nach Vorteilen (Handel) begünstigt, bestimmt wechselseitiger Raub das tägliche Leben. 312 Erst nach einer längeren Phase ökonomischer Machtkonzentration kommt es zur Gründung »dauerhafterer«, teilweise auch befestigter Wohnsitze, »die von den Stärkeren, Mächtigeren und Reicheren«, die sich »die kleineren Städte« in ihrer Umgebung unterwerfen, regiert werden.313 Damit entsteht als neuer Siedlungstyp die in Meeresnähe gegründete Stadt, die als bevorzugter Handelsplatz ihre Einnahmen steigert, Überschüsse in den Bau von Befestigungsanlagen investiert und sich dadurch vor Nachbarn und Seeräubern schützt (I 7, 1). Auf der Grundlage einer derartigen Machtkonzentration hat Agamemnon als das erste gesamtgriechische Unternehmen den Kriegszug gegen Troja in die Wege geleitet. Das von ihm angeführte Kollektiv war aber keine freiwilligfreundschaftliche, sondern eine durch Furcht vor einem »Herrn« zusammengehaltene Handlungseinheit, der als Stärkerer den anderen überlegen war.314 Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 211

Die geringe Bedeutung des Trojazuges zeigt sich daran, dass sich danach an der in Hellas vorherrschenden Lebensweise sporadischer Vereinzelung und des unkonsolidierten Gegeneinanders nichts geändert hat. Die späte Rückkehr der Trojakämpfer erzeugt sogar weitere Unruhe in Form von Bürgerkriegen, Vertreibungen und Städtegründungen (I 12, 1). In den allmählich größer werdenden Machtzentren nimmt das Streben nach Vorteilen jedoch erstmals eine unkriegerische Form an, wobei das Streben nach Geld anders als das nach Grundbesitz und mobilen Gebrauchsgütern eine besondere Dynamik entwickelt. Die Anhäufung von Geld in den großen Handelszentren ist deshalb die Ursache dafür, dass Hellas nicht mehr »von Stammesaustreibungen erschüttert wird« und »nach langer Zeit« »zu dauerhaftem Frieden« findet (12, 4). Diese Entwicklung wird dadurch unterstützt, dass die Herrschaftsform der Tyrannis die familienrechtlich gebundene Königsherrschaft ablöst. Die neuen Machthaber sind ›Unternehmer‹, die anders als die heroischen Könige der Frühzeit primär auf ihre persönliche Sicherheit und den Nutzen ihres Hauses bedacht sind und deshalb bei kriegerischen Aktionen Risiken nach Möglichkeit meiden. 315 Ihr Ehrgeiz konzentriert sich deshalb auf die kommerzielle Seefahrt und nur insofern auf den Bau spezieller Kriegsschiffe, als sie damit die ›wilde‹ Seeräuberei bekämpfen und so den großräumigen Handelsverkehr sicherer machen können. Korinth, die griechischen Städte in Ionien, Samos und Phokaia sind die wichtigsten Beispiele für diese neuartigen Machtzentren, die auch erstmals »Herrschaft über andere« ausüben (I 15, 1). Da aber die inneren und äußeren Rahmenbedingungen der Ausbildung größerer Handlungseinheiten, die entweder hierarchisch oder kooperativ organisiert sind, im Wege stehen, bleiben auch die neuen Machtzentren zu schwach, um allein oder im Verbund »Herrliches« zu vollbringen, so dass »auswärtige Feldzüge zur Unterwerfung anderer« unterbleiben (I 17). Die erste Form politischer Stabilität entsteht in Sparta, das nach einer Periode heftiger Bürgerkriege die Epoche der Tyrannis überspringt und deshalb »sehr früh zu Gesetz und Ordnung« kommt. Auf der Grundlage der kontinuierlich beibehaltenen Verfassung Lykurgs entwickelt sich Sparta zum Prototyp gesetzlicher Herrschaft und gewinnt dadurch die Macht, auch »in die inneren Verhältnisse anderer Städte einzugreifen« und die dort regieren212 | Realisierungsprobleme 

den Tyrannen – wie die Peisistratiden in Athen – zu vertreiben (I 18, 1). Eine erste Form politischer Kooperation entsteht dagegen erst unter dem äußeren Druck persischer Expansion (Hellenenbund) (18,2). Da die griechische Waffengemeinschaft aber nach ihrem Erfolg keinen äußeren Gegner mehr hat, bricht sie wieder aus­einander, so dass die in ihr konzentrierte kriegerische Handlungsenergie (18, 3–19) implodiert. Sie zerfällt dadurch in viele einzelne Teile, die sich entweder der stärksten Landmacht Sparta oder der stärksten Seemacht Athen anschließen. Dadurch, dass sich diese beiden Städte mit ihren Verbündeten im Peloponnesischen Krieg mit zunehmender Intensität bekämpfen, gerät ganz Griechenland in ›größte Bewegung‹. Das wird nicht nur an der langen Dauer dieses Krieges deutlich, sondern vor allem daran, dass nie zuvor »so viele Städte erobert und entvölkert wurden, teils von Barbaren, teils von den kämpfenden Gegnern selbst – einige erhielten sogar nach der Eroberung eine völlig neue Bevölkerung –, nie gab es so viele Verbannungen, so viel Blutvergießen, sei es im Krieg, sei es in den Parteikämpfen. Was man früher nur vom Hörensagen kannte, in der Wirklichkeit aber nur selten bestätigt fand, das erschien jetzt nicht mehr unglaublich: Erdbeben, die weite Landstriche mit ungeahnter Stärke heimsuchten, Sonnenfinsternisse, die in dichterer Folge eintraten, als es von früher berichtet wurde, außerdem an manchen Orten gewaltige Dürre und in der Folge dann Hungersnot und schließlich, der härteste Schlag, ja zum Teil die Vernichterin (fqe…rasa): die Pest – alles das brach im Gefolge des Krieges herein.« Diese in der Literatur als Pathemataliste bezeichnete Aufzählung beschreibt nicht nur einzelne Leiden, sondern einen Vorgang, der das menschliche Leben grundsätzlich in den Zustand des Erleidens versetzt und damit jedes zielgerichtete Tun blockiert, das aus ihm herausführen könnte. (I 23, 2–3). Die letztlich von den Athenern ausgelöste ›größte Bewegung‹ zwingt vielmehr in ihrem gesamten Umfeld »besonnene Männer (¥ndrej sèfronoi), die, solange sie kein Unrecht erleiden, Ruhe halten« (¹suc£zein), »handlungstüchtige Männer« (¥ndrej ¢gaqo…) zu werden, die rechtzeitig »vom Frieden zum Krieg übergehen«316 , während die Chance, diese Bewegung umzukehren und bei günstiger »Gelegenheit« »aus dem Kriegzustand durch einen Vertrag wieder herauszukommen«, so weit schwindet, dass keine Polis »die Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 213

Annehmlichkeiten des Friedens« genießen kann (I 119, 3). Als den kritischen »point of no return« für diese Entwicklung beschreibt Thukydides die Kämpfe der Athener und der Spartaner bei Pylos aus dem Sommer des Jahres 425. Für das Thema des vorliegenden Buches ist daran wichtig, dass heftige, verlustreiche und für die Spartaner nachteilige Kampfhandlungen durch einen Waffenstillstand unterbrochen werden (IV 15, 2), den die geschwächten Spartaner zu einer friedlichen »Beilegung des Krieges« nutzen wollen. Ihre Gesandtschaft bemüht sich in Athen um einen »maßvollen Vergleich«, der in ganz Griechenland die Bereitschaft wecken soll, »Gutes mit Gutem zu vergelten«317, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem noch nicht »Unheilbares« eingetreten ist, das beide Seiten »völlig beherrscht«, und deshalb beiden Kriegsparteien noch erlaubt, ohne Gesichts- und empfindlichen Machtverlust »Frieden statt Krieg zu wählen« und so auch »den übrigen Hellenen Erlösung von allen Leiden zu schenken« (20, 1  ff ). Im Bewusstsein ihrer augenblicklichen Überlegenheit schrauben die Athener jedoch unter dem Einfluss Kleons ihre Forderungen so hoch, dass die Spartaner sich darauf nicht einlassen können, ohne ihre Bundesgenossen zu verprellen. Sie machen zwar noch einen letzten Versuch zu einer Verhandlungslösung, indem sie darum bitten, »Unterhändler zu bestimmen, mit denen sie sich in ruhigem Reden und Hören Punkt für Punkt auf das einigen könnten, was gegenseitig zu erreichen sei« (22, 1). Da Kleon diesen Vorschlag jedoch als bloßes Täuschungssmanöver ablehnt, werden die Kampfhandlungen von beiden Seiten »mit aller Macht« (23, 2) fortgesetzt. Damit aber tritt der Krieg in die Phase ein, in der niemand mehr daran denken kann, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt aufzuhalten. Pylos steht deshalb für eine Situation, in der die moralische Rede318 ihre eigenständige Bedeutung verliert und nur noch als letzte Waffe in der Hand eines Gegners gilt, der der ›Gewalt‹ des Stärkeren im Handlungsraum nichts Gleichwertiges entgegensetzen kann. Die Logik der moralischen Rede erliegt damit der Logik der Macht, die seit jeher ›gebietet‹, dass der Schwächere vom Stärkeren beherrscht wird.

214 | Realisierungsprobleme 

b) Die Bürger-Polis unter dem Druck größter Bewegung

In der Lebensform, die Perikles im Epitaphios beschreibt, hat das Streben nach Vorteilen eine optimale Selbstdifferenzierung und dadurch ein Maximum an Stabilität erreicht. Insofern ist sie die beste, die sich im Bewegungszusammenhang der griechischen Geschichte entwickelt hat. Sie besitzt einen ›natürlichen‹ Entstehungsgrund in der »Tüchtigkeit« der ersten Athener, die sie an ihre Nachkommen kontinuierlich weitergegeben haben. Auf dieser Grundlage haben die »Väter« der jetzt Lebenden ›imperiale‹ Herrschaft und deren ›Söhne‹ eine »im Krieg wie im Frieden« autarke Polis (II 36, 3: pÒlij aÙtarkest£th) begründet. Athen ist damit ein Realisierungsort der Freiheit, den die Athener seit Generationen immer wieder verteidigt und erfolgreich vergrößert haben. Der Entstehungsgrund ihrer Tüchtigkeit war eine früh entwickelte freiheitliche Lebensweise (vgl. I 6, 3), die ihre institutionelle Form in einer Verfassung gefunden hat, die ebenso dem demokratischen Prinzip politisch-rechtlicher Gleichheit wie dem aristokratischen Prinzip des Verdienstes verpflichtet ist. Zum Wohl der Stadt kann deshalb jeder Bürger beitragen, der will 319, während die Regierungsämter nur dem exklusiven Kreis der Besten übertragen werden, die, wie exemplarisch Perikles, nach allgemeiner Überzeugung mehr als andere dem Nutzen aller dienen. Da sich die Bürger in ›verschiedenen Tätigkeiten ebenso intensiv um das Wohl ihres Hauses wie um das der Stadt kümmern‹ (II 40, 2), wird die Polis zu einem Ort, an dem sich ökonomischer und politischer Nutzen, also das individuelle und das Gesamtwohl, parallel entwickeln und sich wechselseitig verstärken (II 36 f.). Die andere Balance, die das Leben in der Polis optimiert, ist die von individueller Freiheit und sozialer Ordnung. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse und die Lizenz, der Lust des Augenblicks nachzugehen, führen nicht zu Anarchie und Anomie, weil sich die Bürger vor Rechtsverletzungen fürchten und gemeinsam beschlossenene Gesetze respektieren. Ebenso wenig verhärten sich ›Mühe‹ und ›Schmerz‹ zu sozialzerstörerischem »Zorn«, weil sie im privaten wie im öffentlichen Raum durch Freude an der Schönheit häuslicher Einrichtungen und am Prunk gemeinsam begangener Feste ausgeglichen werden. Wegen der ökonomischen Ressourcen Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 215

der Polis320 fällt die Gesamtbilanz der Affekte, die über die Einstellung zum eigenen Leben entscheidet, zugunsten der Lust aus. 321 Da jeder Enttäuschung Erfolge gegenüberstehen, können sich alle Bürger mit ihrer Polis identifizieren und in ihrem Rahmen ein insgesamt vorteilhaftes, von gegenseitigem Vertrauen getragenes Leben führen.322 Die Synthese von Ordnung und Freiheit bestimmt auch die Handhabung der ›kriegerischen Kunst‹. Die Polis legt keinen Wert darauf, ihre militärischen Ressourcen geheim zu halten, so dass jedermann ihre Handlungsmacht klar erkennen und in sein Kalkül einbeziehen kann. Athen präsentiert sich deshalb im Unterschied zum fremdenfeindlichen Sparta als offene Stadt. Hinter dieser Einstellung steht die Überzeugung, dass militärische Durchsetzungskraft weniger von technischen Instrumenten und taktischen Raffinessen, sondern primär von dem »tatkräftigen Mut« (39, 1: tÕ ™j t¦ œrga eÜyucon) abhängt, mit dem die Bürger den eigenen Körper genau so wie ihre Waffen für das Wohl der Polis einsetzen. Das Vertrauen in ihre Tapferkeit ist die Voraussetzung für eine flexible und weiträumig ausgreifende Militärstrategie, die Heeres- und Flottenoperationen trennen und verbinden kann, ohne die Einheit der Gesamtaktion zu gefährden, während die Spartaner und ihre Bundesgenossen sich gegenseitig misstrauen und deshalb zu weiträumigen Aktionen unfähig sind. Hinter den verschiedenen Realisierungsformen ›kriegerischer Kunst‹ stehen unterschiedliche Mentalitäten und Erziehungsstile. Das spartanische Erziehungsziel ist kriegerische Handlungstapferkeit, die ihre volle Stärke nur im engen Raum, nämlich im Kampf Mann gegen Mann entfaltet.323 Das Mittel, das zu diesem Ziel führen soll, ist »angestrengte Übung« (39, 1: ¥skhsij ™p…ponoj), die eine eigenständige Phase kindlicher Verspieltheit nicht zulässt, sondern darauf bedacht ist, so früh wie möglich das »Männliche« (tÕ ¢ndre‹on) hervorzutreiben. Spartanische Handlungstüchtigkeit beruht deshalb nicht auf einem ›natürlichen‹ Entwicklungsprozess, sondern auf anerzogenem Zwang, der von der Sanktionskraft des Gesetzes verstärkt wird. Das Erziehungsziel der Athener ist dagegen eine »mehr sorglose« Handlungskühnheit, die ein Element von Kindlichkeit auch im Zustand des Erwachsenseins bewahrt und deshalb in einem Selbstvertrauen zum Ausdruck kommt, das 216 | Realisierungsprobleme 

sich ohne allzu große Furcht vor dem, was kommen könnte, auf das im Augenblick Erforderliche einstellt (39). Der berühmte Satz: »Wir lieben das Schöne (filokaloàmen) mit maßvoller Zurückhaltung und das Wissen (filosofoàmen), ohne dadurch schlaff zu werden«, bringt in gnomischer Präzision den Kern des athenischen Lebensprinzips zum Ausdruck (40, 1). Als »Einheit des in sich Verschiedenen« gleicht das Leben der Athener der lebendig differenzierten Ordnung, die Heraklit dem vom göttlichen Logos durchdrungenen Kosmos und die hippokratische Medizin einem gesunden Organismus zuschreibt.324 Die Einheit von Denken und Handeln findet ihre politische Konkretion in der Institution der Isegorie. Anders als in Sparta ist sie in einen Zusammenhang eingebunden, in dem die Bürger mit gleicher Intensität sich um eigene und öffentliche Angelegenheiten kümmern325 , so dass es auf vielfach bewährter Erfahrung beruht, wenn sie sich gegenseitig »in politischen Dingen« ein gut »fundiertes Urteil« zutrauen. Die aktive Teilhabe an der politischen Debatte, sei es als Redner oder als Hörer in der Volksversammlung und im Rat sowie ihre Tätigkeit im Gericht bilden die historisch gewachsene und täglich gelebte Basis bürgerlicher Einheit. Sie verhindert eine Aufspaltung in ›Reiche‹ und ›Arme‹ oder in eine Elite der ›Wissenden‹ und eine ›Menge‹ der ›Nicht-Wissenden‹. Als einträchtige Bürgergemeinschaft entwickeln die Athener auch in ihrer Außenpolitik ein ungebrochenes Selbstvertrauen, so dass sie einerseits keiner Gefahr ausweichen und sich andererseits so weit wie möglich um ›freundschaftliche‹ Kooperation bemühen (40, 3–5). Perikles will mit der Epitaphios-Rede verhindern, dass sich die Trauer der Bürger über die ersten Kriegstoten zum »Zorn« verfestigt. Er antwortet deshalb auf ihre Niedergeschlagenheit mit dem Bild einer Polis, das sie im Glanz beglückender Schönheit erstrahlen lässt. Dem ›Haus‹ als dem Raum individueller Leid- und Lust­ erfahrung stellt er den Handlungsraum einer Stadt gegenüber, die sich »Zugang zu jedem Meer und Land« verschaffen (41, 4) und deshalb den Spielraum ihrer Interessen ins Unbegrenzte ausdehnen kann. Er macht ihnen deutlich, dass sie auch mit diesem Raum von ›Natur‹ aus verwachsen sind, weil er die Summe dessen darstellt, was »kühne Männer« vom ersten Anfang der Stadt bis in die Gegenwart »mit wagemutiger Einsicht in das jeweils Nötige« (43, 1: Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 217

tolmîntej kaˆ gignèskontej t¦ dšonta), und zwar durch »ehrenvolle Tätigkeit« errungen haben. Polis und Bürger sind nach diesem Verständnis interaktive, sich gegenseitige bedingende und einander durchdringende Größen, so dass das Verhältnis der Bürger zur Polis im Kern ein Selbstverhältnis ist. Weil sie in der politischen Gemeinschaft ihr individuelles Leben zu einem allgemeinen erweitern und sich darin »am vielseitigsten mit Anmut und gewandt in jeder Lage so weit wie möglich selbst genügen« (41, 1), sind sie im politischen Leben keine Mängelwesen, die ängstlich auf ihre Selbsterhaltung bedacht sein müssten, sondern Mitbegründer und Nutznießer einer Autarkie, die im Rahmen der von Solon und Herodot vorausgesetzten Anthropologie als unerreichbar gilt.326 Das Glanzbild der autarken Polis kann jedoch nur wirken, wenn es in der von Gorgias beschriebenen Weise in die ›Seelen‹ der Bürger eindringt und dadurch ihr Empfinden, Denken und Handeln prägt. Sie sollen deshalb die Macht (dÚnamij) ihrer Stadt »in vollständiger Wirklichkeit (œrgJ) Tag für Tag« betrachten, so dass sie daraus das Verlangen entwickeln, mit dem von ihr ausgehenden Glanz wie mit ihrem besseren Selbst so intensiv wie möglich verbunden zu sein. Auf diese Weise werden sie »Liebhaber« (™rasta…) der Polis, so dass sie in der Liebe zu ihr größere Befriedigung finden als in jeder individuellen erotischen Beziehung. Der Blick auf die überwältigende Größe des über Generationen kontinuierlich akkumulierten ›Reichtums‹ der Stadt erzeugt deshalb ›höchste Lust‹ und damit ein energetisches Maximum, das wie ein Narkotikum jede individuelle Schmerzempfindung ausschaltet. In einem solchen Zustand haben die Gefallenen des ersten Kriegsjahres die Tüchtigkeit ihrer Vorfahren nachgeahmt und dem Gegenstand ihrer größten Liebe mit ihrem eigenen Leib die »schönste Liebesgabe« (k£lliston œranon) dargebracht. 327 Ihr Leid war also in Wirklichkeit eine ebenso affektiv gesteuerte wie bewusst gewählte Tat, die größte Bewunderung hervorruft und deshalb zur Nachahmung antreibt. Jeder Bürger, der sie in ihrer wahren Gestalt vor Augen hat, kann deshalb gar nicht anders als sein eigenes »Glück« ebenfalls an die »Freiheit« der Polis zu binden und daraus denselben »seelischen Mut« zu entwickeln, mit dem die besten Bürger der Vergangenheit im Augenblick größter Gefahr das eigene Leben für ihr besseres Selbst eingesetzt haben (43). 218 | Realisierungsprobleme 

Athen lebt daraus, dass sich die Bürger vor allem in Krisenzeiten mit dem ›wahren‹ Entstehungsgrund ihrer Polis so intensiv verbinden, dass sie die Tüchtigkeit, aus der sie hervorgegangen ist, für die eigene Gegenwart zur Wirkung bringen. Das setzt voraus, dass sie die Polis als notwendige Voraussetzung für ein Leben in Freiheit und ›Schönheit‹ verstehen und empfinden, so dass es für sie ebenso unvernünftig wie ›schändlich‹ wäre, mehr an ihrem privaten Glück als am Wohlergehen der Stadt interessiert zu sein.328 Perikles will seine Mitbürger davon überzeugen, dass die jüngst Gefallenen in bewundernswerter Weise »das Ungewisse des Erfolgs« allein »der Hoffnung anvertraut« (42, 4: ™lp…di … tÕ ¢fanj toà katorqèsein ™pitršyantej) und deshalb, getragen von ihrer besten Kraft, den Schmerz des Todes kaum gespürt haben.329 Mit dieser Aussage verbindet Perikles das Bild vom politischen Eros als dem Grund für die Wahl »der schönsten Gefahr« (kindÚnwn … tÒnde k£lliston nom…santej) mit der Erinnerung an die Handlungsform, die bei Salamis die Stadt gerettet hat. Er charakterisiert damit den energetischen Zustand, in dem sich die ›Seele‹ aus der Enge ihrer privaten Liebesverhältnisse ›befreit‹ und dadurch den Willen entwickelt, das »Übermaß an Tüchtigkeit« (45, 1: Øperbol¾ ¢retÁj) in den wirklich »großen Wettkampf« (45, 1: mšgaj ¢gèn) einzubringen, der allein dem Wohl der Polis gilt 330 . Im Rahmen ›kriegerischer Kunst‹ wird aus diesem Willen herausragende Tapferkeit und im Rahmen ›gesetzgeberischer Kunst‹ die exemplarisch von Perikles verkörperte Fähigkeit, »mit einem auf Gleichheit und Gerechtigkeit bezogenen Sinn« das Richtige für die Polis zu erkennen und öffentlichkeitswirksam darzulegen (44, 3). In der Lebensform der Athener scheint das menschliche Streben nach Vorteilen vor Störungen und erst recht vor dem Rückfall in den Zustand der Anomie sicher zu sein. Die dem Epitaphios unmittelbar folgende Schilderung der Pest zeigt jedoch, dass sie bereits durch erwartbare Übel ins Wanken gerät und unter dem Druck unerwarteter Leiden, die auch noch mit lebensgefährlicher Plötzlichkeit auftreten, sehr schnell in sich zusammenbricht.331 Die Athener machen mit der Pest die paradoxe Erfahrung, dass gerade der von Perikles so klug auf die Minderung kriegsbedingter Leiden berechnete Plan die Ausbreitung der Krankheit begünstigt. Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 219

Die Polis erweist sich damit in Wirklichkeit als ein allzu enger Raum, in dem nicht der politische Eros, sondern »Mutlosigkeit« herrscht. 332 Gleichzeitig entlarvt die Pest die Vorstellung von der Autarkie des politischen Lebens als Illusion. Das gilt ebenso für das Selbstverständnis der Polis als Ort eines Lebens, das sich im Kult von jeder ›Befleckung‹ durch den Tod reinigen kann, und für ihren Anspruch, ein Raum besonderer Sittlichkeit zu sein. Die Pest führt nämlich dazu, dass die vom Urkönig Kekrops eingeführten »göttlichen und menschlichen Gebote« der Totenbestattung außer Kraft gesetzt werden, was letztlich zu einer Indifferenz gegenüber allem führt, was einer sittlich geprägten Gemeinschaft als gut und ›heilig‹ gilt. 333 Gleichzeitig verändert die Erfahrung der Unberechenbarkeit aller Lebensverhältnisse das Streben nach Vorteilen, das in der Polis dazu erzogen wird, sich auf ›schöne‹ Ziele zu richten, zum Streben nach solchen Gütern, die lediglich für den nächsten Augenblick Lust oder auch nur Erleichterung versprechen. 334 Der Selbsterfahrung wird damit die Dimension der Zeit und damit die Fähigkeit entzogen, Gegenwärtiges durch den Vergleich mit Vergangenem und Zukünftigem oder Besonderes durch seine Zuordnung zu einem größeren Allgemeinen zu relativieren. Die ausschließliche Fesselung des Eros an das, was hier und jetzt Lust verschafft, die den Zustand größter Not charakterisiert, verhindert die Orientierung an »Götterfurcht« (fÒboj qeîn) und »Menschensatzung« (nÒmoj ¢nqrèpwn) und verhilft damit dem ›Wildheitspotential‹ der menschlichen Natur zur Macht, das die Polis in den Zustand der Anomie zurücktreibt (II 53). Die Pest ist die stärkste naturhafte Realisierungsform ›größter Bewegung‹, die als »Macht der Veränderung« (II 48, 3: dÚnamij ™j tÕ metastÁsai) alles in den Wirbel des Werdens hineinreißt, was zuvor Sicherheit, Wohlfahrt oder »Würde« nicht nur zu versprechen, sondern auch zu gewährleisten schien. Unter dem gleichzeitigen Druck der Pest und des Krieges335 konzentrieren sich die Athener vernünftigerweise auf die Minderung der selbst verursachten, also der politisch bedingten Übel. Weil übermäßiges Leid jedoch die Tugend der »Wohlberatenheit« angreift, machen sie gerade dabei entscheidende Fehler. Sie bemühen sich im Zustand einer jedermann erkennbaren Schwäche um eine Verhandlungslösung mit Sparta und entziehen sich ihrer gemeinsa220 | Realisierungsprobleme 

men Verantwortung für den Krieg, indem sie ihn auf den persönlichen Willen und die betörende Redekunst des Perikles zurückführen.336 Sie verstehen also die Polis als den Lebensort von Individuen, die ohne Rücksicht auf andere ihren privaten Interessen nachgehen, so dass sie den gemeinsam gewählten Strategen wie einen Privatmann, der ihnen schweren Schaden zufügt, unter strafbewehrte Anklage stellen.337 Perikles reagiert darauf mit ­einem Satz, der ihr Verhalten psychologisch erklärt und ihm dadurch den Charakter eines individuellen Fehlers nimmt: Es ist ein Naturgesetz, dass menschliches Denken in der tödlichen Bedrohung durch eine Gefahr, die »plötzlich und gegen alle Berechnung« eintritt, die Fähigkeit verliert, in Ruhe die realen Zusammenhänge des eigenen Lebens zu überdenken (II 61, 2  f ). Er hofft, auf diese Weise den »Zorn« seiner Mitbürger so weit dämpfen zu können, dass sie wenigstens ihre individuellen Überlebenschancen richtig einschätzen, die für sie jetzt die einzig wichtigen geworden sind. Sie müssten nämlich auch aus dieser Perspektive erkennen, dass gerade in der gegenwärtigen Not die »Rettung der Polis« von größter Bedeutung ist, weil nur eine auf Dauer angelegte politische Gemeinschaft Leiden mindern, auffangen und langfristig sogar ausgleichen kann, die individuell überhaupt nicht zu bewältigen sind. Da das persönliche Wohlergehen niemandem mehr nützt, wenn die Polis zusammenbricht 338 , verlangt auch die an sich fehlerhafte Fixierung auf das individuelle Interesse in der gegenwärtigen Situation vorrangig die Rettung der Polis. Bei Thukydides ist Perikles in der Schlussphase seiner politischen Tätigkeit der einzige vollkommene Bürger, der in seinem politischen Empfinden und Urteilen deshalb auch ›immer derselbe‹ ist (Ð aÙtÒj e„mi kaˆ oÙk ™x…stamai), während die ›Menge‹ ihren »Sinn« je nach Lage der Dinge ändert (Øme‹j d meta ­b£llete) und das, was sie »im Vollbesitz der Macht« für gut befunden hat, unter dem Eindruck eines »großen Umschwungs« (meta ­b ol» meg£lh) für falsch hält. 339 Die letzte Rede des Peri­ kles ist in Verbindung mit der Darstellung ihrer Wirkung auf die Athener eine objektive Reflexion des Thukydides auf Grenzen, die auch dem besten politischen Redner gesetzt sind, wenn das Leben der Bürger durch »Plötzliches und Unvorhersehbares« tödlich bedroht wird. Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 221

c) Die Grenzen der politisch verantwortlichen Rhetorik im Umfeld größter Bewegung

Für Thukydides ist Perikles der Politiker, für den Denken und öffentlichkeitswirksames Reden eine unauflösbare Einheit bilden. Hinter seinem Satz: »Hat jemand Einsicht, kann sie aber nicht klärend darlegen (m¾ safîj did£xaj ™n ‡sJ), so ist das ebenso viel wert, als hätte er überhaupt nicht nachgedacht« (II 60, 5), steht die Vorstellung, dass es in der Polis nicht darauf ankommt, über welche Güter ein Individuum verfügt, sondern ausschließlich darauf, dass individuelle Güter dem Nutzen der Allgemeinheit dienen. Da Perikles zu Recht von sich sagen kann, dass er »wie kein anderer … das jeweils Richtige erkennen und darlegen kann (gnîna… te t¦ dšonta kaˆ ˜rmhneàsai taàta), die Stadt liebt (filÒpolij) und über Geld erhaben ist«340 , ruft er sich den Athenern in seiner letzten Rede glaubwürdig als den Mann in Erinnerung, der besser als jeder andere die beiden wichtigsten Machtmittel der Politik, die nach außen gerichtete ›Gewalt‹ und die nach innen gerichtete ›Überzeugungskraft‹, zum Wohl der Polis eingesetzt hat. Der gegen ihn gerichtete »Groll« ist deshalb selbstzerstörerisch, stasislastig und ungerecht. Indem er darauf nicht mit demselben Affekt, sondern mit besänftigender und belehrender Rede reagiert, bewährt er sich auch der Situation persönlicher Bedrohung als der »Erste Mann« der Polis (II 65, 9). Da die Athener seit Generationen dazu erzogen sind, ihr Denken und Empfinden auf das Wohl der Stadt einzustellen und sich für ihre politischen Entscheidungen an der Praxis der Isegorie zu orientieren, hofft Perikles, dass er Muster erfolgreicher Krisenbewältigung, die schon früher mit Hilfe politischer Rhetorik zur Wirkung gekommen sind, mit seiner Rede reaktivieren kann. Nach seinem Urteil haben die Bürger zwar darin Recht, dass sie in der Pest eine elementare Bedrohung ihres Lebens sehen, aber nicht darin, dass sie wegen der gegenwärtigen Kriegslage jeden Mut verlieren. Er setzt deshalb an diesem Punkt an und stellt seinen Hörern, die vom Blick auf den gegenwärtigen Zustand ihres Landes niedergeschlagen sind, die dem Meer zugewandte Seite ihrer poli­tischen Existenz vor Augen, die seit Themistokles ihre entscheidende Machtquelle darstellt. Er knüpft damit an seine 222 | Realisierungsprobleme 

Rede in der Kriegsbeschlussdebatte an, in der er durch eine ­exakte Bilanzierung der eigenen und gegnerischen »Kriegsmittel«341 die Athener davon überzeugen wollte, dass sie ihre Unterlegenheit im Landkrieg durch Über­legen­heit zur See mehr als ausgleichen können.342 Der Blick auf das Meer ist ein Blick auf den für die Gegenwart wie für die Zukunft offenen Weg zu ›höchster Macht‹343 und müsste deshalb ihren gegenwärtig »niedergeschlagenen« Sinn so weit heben, dass sie ihre Wirklichkeit wieder vollständig wahrnehmen und daraus eine in jeder Hinsicht berechtigte Hoffnung auf eine Wende zum Besseren gewinnen. 344 Perikles setzt darauf, dass die Athener die Salamis-Erfahrung verinnerlicht haben und deshalb erkennen, dass die augenblickliche militärische Bedrohungssituation mit derjenigen der Perserkriege nicht vergleichbar ist. Weil sie über eine überlegene Flotte und eine sicher befestigte Stadt verfügen 345 , wäre es in gefährlicher Weise kurzsichtig, den Blick ausschließlich auf ihre gegenwärtig verwüsteten Häuser und Ackerflächen zu richten, weil sie doch im Blick auf die wirkliche und nach wie vor wirksame Quelle ihrer Macht wissen müssten, dass sie das gegenwärtig Verlorene wegen ihrer maritimen Über­ legen­heit in Zukunft leicht wiedergewinnen k­ önnen.346 Zur Belehrung über die gegenwärtige Situation gehört auch die Einsicht in den tyrannischen Charakter ihrer Herrschaft innerhalb des Seebundes (63, 2). In der Polis darf sich nicht die Anti­k riegs­ partei durchsetzen, die der vagen Hoffnung anhängt, mit einer Politik der »Friedfertigkeit« kriegsbedingte Leiden für die Zukunft ausschließen zu können. Vielmehr muss klar gesehen werden, dass gegenwärtig ein Versuch zur Verständigung mit Sparta als Eingeständnis eigener Schwäche wirkt und deshalb dem rächenden »Hass« der Bundesgenossen Tür und Tor öffnet.347 Im Feld forcierter Machtkonkurrenz gilt für eine »herrschende Stadt« (™n ¢rcoÚsV pÒlei) die Regel, dass »Friedfertigkeit nur in engster Verbindung mit Tatkraft (tÕ ¥pragmon … met¦ toà drasthr…ou tetagmšnon) bestehen kann« (63). Tatkraft aber bedeutet im konkreten Fall, sich nicht von der Krankheit niederdrücken zu lassen, sondern sie als das einzige Leiden, »das wirklich unsere Erwartung überstieg«, gemäß der überlieferten Sitte als »Götterfügung« zu ertragen 348 und gleichzeitig die Politik kriegerischer Entschlossenheit weiterzuführen, durch die Athen zur Großmacht Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 223

aufgestiegen ist. Nach den Gesetzen der sozialen Physik kann die einzigartige Vorteilsposition »höchster Macht« im Raum agonaler Machtkonkurrenz nur durch »schwerste Opfer an Blut und Mühen im Krieg« aufgebaut und gehalten werden. Sie werden aber nach denselben Gesetzen nicht nur durch handgreiflich gegenwärtige Macht, sondern zusätzlich durch den Ehrenvorteil der kontinuierlichen Anwesenheit »im rühmenden Gedächtnis der Nachwelt« mehr als ausgeglichen (64, 1–3). Auch wenn man wie der thukydideische Perikles weiß, dass jede Macht als Gewordenes den Keim des Vergehens in sich trägt (3: p£nta pšfuke kaˆ ™lassoàsqai), gebietet die gegenwärtige Situation Handlungstapferkeit, die von dem gut begründeten Wissen getragen ist, »den Feinden« auf längere Sicht nicht nur strategisch, sondern vor allem in der Fähigkeit überlegen zu sein, aus dem Überdenken der realen Machtverhältnisse die richtigen Konsequenzen für das eigene Handeln zu ziehen.349 Mit dem konkreten Rat, »keine Gesandtschaften zu den Lakedaimoniern zu schicken und sich nicht anmerken zu lassen, dass gegenwärtig Not auf ihnen laste«, ermahnt er die Athener, größtmögliche Stärke zu beweisen und aus der Kraft des politischen Eros »das eigene Denken auch im Unglück so wenig wie möglich vom Schmerz bestimmen zu lassen und der eigenen Not mit Tatkraft entgegenzuarbeiten«.350 Im Bild des Thukydides ist Perikles der Politiker, der die Athener, »sooft er bemerkte, dass sie zur Unzeit in leichtfertiger Zuversicht übermütig waren, mit seiner Rede niedergeschlagen (lšgwn katšplhssen ™pˆ tÕ fobe‹sqai), sie aber dann, wenn sie unvernünftigerweise niedergeschlagen waren, wieder aufgerichtet hat« (65, 9: ¢ntikaq…sqh p£lin ™pˆ tÕ qarse‹n). Er konnte deshalb einer irregulär bewegten ›Menge‹, die von ihren schwankenden Affekten hin und her getrieben war und deshalb Wirklichkeit nur noch ›erlitten‹ hat, als aktiv gestaltende Kraft gegenüber treten und aus ihr eine vernunftbestimmte Handlungseinheit formen. Dadurch, dass er die Athener mit der Macht seines Wortes immer wieder auf die mittlere Bahn zwischen Übermut und Niedergeschlagenheit zurückgebracht hat, konnte er ihnen die Kraft vermitteln, Situationen der Not nicht mehr als absolutes Übel wahrzunehmen, gegen das nichts auszurichten ist, sondern als eine Mischung aus Schlechtem und Besserem, die es immer noch erlaubt, den eige224 | Realisierungsprobleme 

nen Nutzen durch entschlossenes Handeln zu mehren. In seiner letzten Rede gelingt das Perikles jedoch nur noch zum Teil. Die Athener geben zwar die Verständigungsversuche mit Sparta auf und konzentrieren sich wieder stärker auf die Kriegsführung, bleiben aber in ihrem privaten Empfinden vom gegenwärtigen Leid beeindruckt 351, so dass sie den »Groll« gegen Peri­k les erst aufgeben, nachdem sie ihn zu einer Geldstrafe verurteilt haben. Wie sehr ihr politisches Bewusstsein schwankt, zeigt sich daran, dass sie ihn kurz danach aus unterschiedlichen Gründen erneut zum Strategen wählen, die einen, weil sie ihn immer noch für den kompetentesten Politiker halten, die anderen aber nur deshalb, weil sie »gegen ihr privates Elend schon so abgestumpft sind«, dass sie in den ö ­ ffentlichen Angelegenheiten blind ihren Gewohnheiten folgen (II 65, 2  ff ). In der Analyse des Thukydides ist Athen unter der Führung des in Wahrheit »Ersten Mannes«352 , »im Frieden« sicher zur ›größten‹ und auch zu einer für den Krieg bestens gerüsteten Stadt aufgestiegen (65, 5). In der Anfangsphase des Peloponnesischen Krieges konnte er mit seiner Rede die Handlungsfähigkeit der Polis noch sichern, während der Ausbruch der Pest seine Überzeugungskraft schwächt. Da nach seinem Tod nicht mehr der »Erste Mann« regiert, sondern Personen um diese Position kämpfen, die ihre politi­schen Karrieren »aus persönlichem Ehrgeiz und zu eigenem Gewinn« betreiben und deshalb »den jeweiligen Wünschen des Demos« hinterherlaufen, fehlt der Polis die Kraft, aus der sie groß geworden ist. Für Thukydides ist es ein sicheres Indiz für die Größe der Handlungskraft, die Perikles der Polis gegeben hat, dass sie erst im Jahr 403 endgültig zusammengebrochen ist, und zwar nicht wegen der Überlegenheit ihrer Gegner, sondern weil die Athener »in bürgerkriegerischen Streitigkeiten über sich selber hergefallen waren«.353 Ein ebenso sicheres Indiz für die politische Urteilssicherheit des Perikles ist es, dass er bereits in der Kriegsbeschlussdebatte die entscheidende Schwäche, an der die Athener letztlich scheitern sollten, erkannt und deshalb nicht nur vor einem unbesonnenen Umgang mit den eigenen Machtmitteln gewarnt 354 , sondern ausdrücklich betont hat: »Ich bin mehr in Furcht vor eigenen Fehlern als vor den Anschlägen unserer Feinde« (I 144, 1).

Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 225

In der Sicht des Thukydides treten nach dem Tod des Perikles in ganz Griechenland Handlungskräfte auf, die sich nicht mehr durch ›kluges Abwägen‹ davon abhalten lassen (IV 10, 1) ›in wilder Leidenschaft zum Wagnis zu treiben‹ (III 45, 4). In dieser ›Bewegung‹ verwischen sie die Grenze zwischen »Krieg« und »Bürgerkrieg«355 und lösen damit eine Spirale der Gewalt aus, die durch das »Ausklügeln stets neuer Anschläge« und »immer maßloserer Formen der Rache«356 nicht nur materiellen Besitz und menschliches Leben, sondern auch alle normativen Güter vernichtet, ohne die eine politi­sche Gemeinschaft zusammenbricht. Für diesen Vorgang steht exemplarisch die Kerkyra-Stasis des Jahres 427357, die mit dem Sieg des pro-athenischen Demos über die pro-spartanischen ›Reichen‹ endet. Thukydides stellt sie so dar, dass sich in ihr Formen der Gewaltanwendung, die bereits in der athenischen Proto-Stasis, der Kylon-Affäre, zum Vorschein gekommen waren, in radikalisierter Form wiederholen358: Auf Kerkyra haben sich zahlreiche Anhänger der unterlegenen Faktion in das Heiligtum der Hera zurückgezogen und dadurch den Rechtsstatus von ›Schutzflehenden‹ erworben. Fünfzig von ihnen ließen sich in der Hoffnung auf Wiederherstellung des Rechtszustands von Vertretern der Sieger überreden, »sich einem Gericht zu stellen«, von dem sie jedoch »alsbald«, d. h. ohne Prozess, »zum Tode verurteilt« und hingerichtet wurden. Daraufhin »brachten« ihre im Tempel verbliebenen Mitstreiter »sich im Heiligtum gegenseitig um, … oder entleibten sich selbst, wie jeder konnte«. Da die Sieger in den folgenden sieben Tagen »jeden ermordeten, den sie für ihren Gegner hielten«, trat der Tod »in jeder­lei Gestalt« auf (p©s£ te „dša katšsth qan£tou). Es gab deshalb »nichts, was es nicht gab, und noch darüber hinaus (oÙdn Ó ti oÙ xunšbh kaˆ œti peraitšrw), erschlug doch der Vater den Sohn, manche wurden von den Altären weggezerrt oder noch dort niedergehauen, einige auch im Heiligtum des Dionysos eingemauert, in dem sie dann verhungerten« (III 81, 2–5). Im direkten Anschluss an die Schilderung der Kerkyra-Stasis beschreibt Thukydides in der sogenannten Pathologie des Krieges die Mentalität, die die neuartige Spirale der Gewalt erst möglich gemacht hat. Er versteht sie als das Ergebnis einer radikalen ›Umwertung aller Werte‹, die alle bislang als »Tugend« bezeichneten 226 | Realisierungsprobleme 

Verhaltensweisen zu »Lastern« und die als »Laster« bezeichneten zu »Tugenden« erklärt. Diese ›Umwertung‹ untergräbt auch die Praxis der Isegorie und damit die wichtigste institutionelle Stütze für das politische Ethos der Bürger. Die maßgeblich von ihr bekämpfte »vernunftlose Tollkühnheit« (tÒlma ¢lÒgistoj) gilt jetzt als »Tapferkeit« und das »von Voraussicht« und »Besonnenheit« geleitete Handeln als »aufgeputzte Feigheit« oder als »Deckmantel der Ängstlichkeit«. Die »alles bedenkende Klugheit« und das von ihr getragene »sorgfältig abwägende Weiterberaten« werden zu Symp­ tomen einer pathologischen Handlungsphobie (»alles lähmende Trägheit«) erklärt, die ihren lasterhaften Kern hinter einem »schön klingenden« Wort verbirgt (III 82, 4). In der Sicht des Thukydides ist die Umkehr der traditionellen Moral das Ergebnis einer ebenso stummen wie stumpfsinnigen Anpassung an eine ›Realität‹, die ohne jede kritische Prüfung als das Gegebene hingenommen wird. Die Polis wird dadurch zu einem Raum des gegenseitigen Misstrauens, in dem das Handeln ausnahmslos der binären Logik des Freund-Feind-Schemas unterliegt. ›Freund‹ ist nur, wer alles, was der Gegner tut, »lauthals beschreit« und jeden als ›Feind‹ behandelt, der dem eigenen Vorhaben auch nur das geringste Wort der Kritik entgegenhält (82, 5). Den Ehrentitel politischer Tüchtigkeit (xÚnesij) erhält derjenige, der eigene »Anschläge« erfolgreich durchführt und die des Gegners »rechtzeitig durchschaut«. Wer hingegen seine Angelegenheiten »im voraus so bedenkt, dass er weder das Durchführen noch das Durchschauen von Anschlägen nötig hat«, gilt als jemand, der den Zusammenhalt einer Stasispartei zerstört, und wird deshalb von den Schlägertruppen beider Parteien umgebracht, sobald sie seiner habhaft werden. In der radikalisierten Stasis genießt das höchste Ansehen, wer »mit bösem Tun einem anderen, der es erst plant, zuvorkommt« oder »einen anderen, der gar nicht daran denkt, zu bösem Tun anhält«. Nach Thukydides steigert nicht die Wirklichkeit selbst, sondern ihre Interpretation, die die überkommenen Bewertungsmuster des menschlichen Handelns auf den Kopf stellt, den Wirbel tödlicher Zerstörung, so dass ihm nichts und niemand entkommen kann (III 82, 5). Die Stasis unterminiert nicht nur die normativen Grundlagen der politischen Gemeinschaft, sondern auch die ihrer Substruktur, der Haus- und Familienverbände (tÕ xuggenšj), weil sich ihre Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 227

Mitglieder unterschiedlichen Hetairien anschließen und dadurch die Stasis zum innerfamiliären Vernichtungskrieg erweitern (s. o. »erschlug doch der Vater den Sohn …«). In den Hetairienverbänden, die jetzt als skrupellose Schlägerbanden auftreten, beruht das gegenseitige Vertrauen (p…steij), ohne das auch sie nicht handeln können, statt auf auf göttlich beglaubigtem Recht oder gemeinwohlorientierten Gesetzen nur noch auf der Erinnerung an »gemeinsam begangenes Unrecht«. Da sie jede normative Bindung ablehnen und deshalb »viel rascher« »zu verwegener Tat« schreiten (III 82, 6) als sittlich gebundene Handlungseinheiten, entfalten sie eine Bewegungsdynamik, die jeden rechtlich gebundenen Kampf359 und erst recht jede kommunikative Konfliktlösung verhindert. In einer Welt, in der sich niemand auf ein »unumstößliches Wort« (lÒgoj ™curÒj) oder die bannende Macht des Eides (Ôrkoj foberÒj) verlassen kann, bleibt dem Einzelnen nichts übrig, als das eigene Leben mit allen erdenklichen Mitteln zu schützen (83, 2). Aus dem für die Polis ursprünglich charakteristischen ›Wettkampf um Tüchtigkeit‹ wird deshalb ein Wettkampf um »den Siegespreis der Schlauheit« (xunšsewj ¢gènisma), der die verschlagensten Übeltäter (kakoàrgoi dexio…) belohnt und die unbelehrbar G ­ uten 360 (¢maqe‹j ¢gaqo…) bestraft. In der radikalisierten Stasis verlieren auch die Bezeichnungen für die traditionellen Stasisparteien, »Volk« und »Adel«, jede Bedeutung, weil deren ›führende Männer‹ unter dem Deckmantel »wohlklingender Parolen« (met' ÑnÒmatoj eÙprepoàj) wie Isonomie für die Menge oder gemäßigte Aristokratie (¢ristokrat…a sèfrwn) lediglich ihren »wechselseitigen Rachekampf« vorantreiben, um »das Gemeingut«, zu dessen Schutz sie sich dem Wort nach verpflichten, »zu ihrer alleinigen Beute« zu machen. Da die Stasiskämpfer die Erfahrung der Lust nur als ›Sättigung der Kampfwut des Augenblicks‹ (t¾n aÙt…ka filonik…an ™kpimpl£nai) kennen, entwickeln sie einen fanatischen Siegeswillen (tÕ filonike‹n), der die eigene Handlungsbereitschaft »um jeden Preis nach vorn treibt«361, so dass Bürger, die sich der Stasis verweigern, keine Überlebenschance haben (82, 2). Da unter diesen Umständen die simpleren Gemüter (oƒ faulÒteroi), deren einziger Besitz in brutaler Schlagkraft besteht, länger überleben als diejenigen, die im Bewusstsein geistiger Überlegenheit der Gewalt reserviert ge228 | Realisierungsprobleme 

genüberstehen (83, 3), verändert sich die Zusammensetzung der Bürgerschaft zum Schlechteren, so dass im Raum der Polis »alle erdenklichen Formen des übelsten Verhaltens« dominieren und »die Frömmigkeit sowie die dem Edelmut nahekommende sittliche Schlichtheit« (tÕ eÜhqej) dort keinen Platz mehr haben (83, 1).

Perikles in der Sicht von Isokrates und Thukydides | 229

Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik Thukydides stellt dem Schönheitsbild des perikleischen Epitaphios die Schreckensbilder der Pest und der radikalisierten Stasis entgegen und verdeutlicht damit den Grundsatz seines politischen Denkens, der besagt, dass »solange die Natur der Menschen sich gleich bleibt, Städte und Menschen, die in guten Verhältnissen (pr£gmata) leben, bessere Gesinnungen (gnèmai) haben, weil sie nicht in unfreiwillige Zwänge geraten«. Als größter ›unfreiwilliger Zwang‹ stimmt »der Krieg«, der »die Annehmlichkeit (eÙpor…a) des täglichen Lebens raubt, wie ein gewaltsam zwingender Lehrmeister (b…aioj did£skaloj) das Begehren der Menge gleich­ artig«, indem er es »auf das im Augenblick Erreichbare« ausrichtet. Damit aber wird »mal schlimmer, mal harmloser und in immer wieder anderen Formen je nach dem Wechsel der Umstände«1 das normale Streben nach Vorteilen zu einer Bewegung, die, wenn sie nicht gleich am Anfang beruhigt wird, ihre Dynamik unaufhaltsam verschärft und letztlich alles, was ist, in den zerstörerischen Wirbel des ›stets Werdenden‹ hineinreißt. Der Satz, mit dem Thukydides die Ereignisse der Kerkyra-Stasis abschließend kommentiert, gehört in den Kontext einer allgemeinen sozialanthropologischen Reflexion. Das gilt auch für den Satz aus der letzten Rede des Perikles, der das menschliche Handeln insgesamt der Welt des Werdens zuordnet und für sie das Grundgesetz formuliert, dass allem, was entsteht, von Anfang an ein Keim des Vergehens innewohnt (II 64, 3). In der Kriegsbeschlussdebatte hatte Peri­k les diesen Satz zu der Behauptung konkretisiert, dass »die Menschen nach den Wechselfällen der Ereignisse auch ihre Meinungen und Denkweisen ändern« (I 140, 1). Thukydides und sein Perikles sprechen also dieselbe Sprache und antizipieren damit den sozial­ anthropo­logischen Grundsatz des Thukydides-Übersetzers Thomas Hobbes, dass sich Menschen im status naturalis zueinander wie Wölfe, im status civilis hingegen wie Götter verhalten.2 Nach | 231

den Voraussetzungen dieser im Kern naturalistisch konzipierten Sozialanthropologie ist die menschliche Natur unveränderbar auf das Streben nach Nutzen und Vorteil eingestellt. Sie weist damit keineswegs einen grundsätzlichen Hang zum Bösen auf, sondern es sind die jeweiligen ›Verhältnisse‹, die die sozial relevanten ›Gesinnungen‹ einer ›Menge‹ und damit die konkreten Formen ihres Strebens nach Vorteilen so weit bestimmen, dass man darüber in einer Gesamtbetrachtung individuelle Abweichungen, die es immer gibt, vernachlässigen kann. Das menschliche Ethos stellt demnach keine selbständige Größe dar, so dass schlechte ›Gesinnungen‹ nicht durch moralische Appelle, sondern nur durch konkrete Arbeit an den jeweiligen ›Verhältnissen‹ verbessert werden können. Wenn diese Arbeit nicht geleistet wird oder nicht durchführbar ist, bleibt das auf sich allein gestellte Wort zu schwach, um eine Wende zum Besseren zu bewirken. Diese Regel gilt auch für moderne Demokratien, obwohl sie im Vergleich zu ihren antiken Vorformen über ein wesentlich ausgefeilteres Konfliktlösungspotential, insbesondere über Verfahren der Entscheidungsfindung verfügen, die dem unmittelbaren Druck von Stimmungen und Meinungen entzogen sind. 3 ›Verhältnisse, die als ›Wegnahme des Angenehmen‹ oder als ›unfreiwilliger Zwang‹ empfunden werden, führen zu einer Verengung des Strebens nach Vorteilen auf das je eigene Interesse. Und die daraus resultierenden Konflikte lassen sich nur entspannen, wenn es der Politik gelingt, die ›Verhältnisse‹ so zu gestalten, dass das ›Angenehme‹ erreichbar bleibt. In der Antike steht Thukydides mit seiner Einsicht in die Inter­ dependenz von ›Gesinnungen‹ und ›Verhältnissen‹ nicht allein. Bereits Herodot hat das Wechselverhältnis zwischen der Handlungsmacht, dem Ethos und der internen Verfassung eines Sozialverbandes herausgestellt. Die persischen Verfahren der politischen Entscheidungsfindung schaffen Gewohnheiten und Erwartungen, die auch das Handeln des Großkönigs vorprägen und nahezu zwangsläufig zum Scheitern bringen, während die isonome Organisation der Bürger-Polis eine ›Gesinnung‹ stärkt, die ihrer Handlungsmacht zugute kommt. Auch Isokrates betont bei seinem Versuch, die ›Gesinnung‹ der Athener durch Rede zu beeinflussen, die Notwendigkeit, durch Verfassungspolitik, Rechtspflege und die Gestaltung befriedigender Arbeitsverhältnisse Rahmenbedingun232 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

gen zu schaffen, die dem Ethos der Bürgerfreundschaft und damit einer Politik des Ausgleichs, der Rechtlichkeit und der allgemeinen Wohlstandsförderung entgegenkommen. Das Problem, das ihn in besonderer Weise umtreibt, betrifft den ›unfreiwilligen Zwang‹, in den eine Bürger-Polis gerät, wenn ein mächtiger Sozialverband, der in seinem Handeln auf ›Gewalt‹ eingestellt ist, ihr nicht nur das ›Angenehme‹, sondern die gesamte Existenz wegzunehmen droht. Dabei macht er deutlich, dass in der Politik nicht primär die Form des Handelns, sondern die ›Gesinnung‹ entscheidend ist, mit der sie ›in Gebrauch genommen‹ wird. Gewaltpolitik, der eine gewaltaffine ›Gesinnung‹ wie der persische Eroberungs­nomos zugrunde liegt, ist unveränderbar und deshalb eine konstante Übelquelle, die zur Hybris anstachelt und sich dadurch selbst zerstört. Wenn die Entscheidung für ›Gewalt‹ jedoch auf ›Liebe‹ zur BürgerPolis beruht, die ihre eigene Existenzform erhalten will, kann gewaltfundierte wieder auf konsensuelle und kooperative Politik zurückgestellt werden. Schwierig ist das jedoch, wenn der erfolgreiche und allgemein als vorteilhaft erfahrene ›Gebrauch‹ von ›Gewalt‹ zur geliebten Gewohnheit und zum Gefallen an institutionellen Voraussetzungen geworden ist, die der Rückkehr zu kooperativem Handeln im Wege stehen. Demgegenüber zeigt Herodot am Beispiel der Alkmeoniden, wie ein sinnvoller Wechsel zwischen gewalt- und überzeugungsfundierter Politik gelingen kann. Nach seiner Darstellung hat Kleisthenes durch Überredung zum einen Gewaltpotentiale aufgebaut und sie dann genau so ›in Gebrauch genommen‹, wie es jeweils das nötig war, um die Einrichtung einer isonomen, von der Praxis der Isegorie geprägten Verfassung gegen tyrannische und oligarchische Widerstände durchsetzen zu können. Zum anderen hat er mit seiner Rede »das Volk« auf seine Seite gebracht und mit dieser zunächst strategisch-taktischen Maßnahme die machtpolitische Grundlage für eine dauerhafte Kooperation zwischen »Volk« und »Adel« geschaffen. Vor diesem Hintergrund konnte er die Bürger mehrheitlich von der Vorteilhaftigkeit einer Verfassung überzeugen, die durchgängig auf die Norm der ›Bürgerfreundschaft‹, nämlich auf Selbstverwaltung, Kommunikation und Kooperation eingestellt war. Seine Politik hat deshalb die Quelle bürgerkriegerischer Gewalt dauerhaft verschlossen und die Polis so mächtig werden lassen, dass später sogar der Versuch PerZur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik | 233

siens gescheitert ist, Athen unter tyrannische Herrschaft zu stellen und dadurch als Machtkonkurrenten auszuschalten. Wenn Isokrates im 4. Jh. das Thema der Umstellung des politischen Handelns von imperialer Herrschaft auf Kooperation aufnimmt, teilt er im Blick auf die veränderten Verhältnisse die Skepsis des Thukydides und dessen Überzeugung, dass ›gute‹ Rede nur dann zur Quelle ›guter‹ Politik werden kann, wenn Redner und Publikum in einer annähernd gleichartigen Weise dem Ethos der Bürgerfreundschaft verpflichtet sind. Da diese Voraussetzung in seiner Sicht nicht mehr gegeben ist, befürchtet er, dass die Kulturwelt der griechischen ­Polis, die auf die soziale Gestaltungsmacht der Rede gegründet war, sich selbst zerstört. Xenophon veranschaulicht die Wirkungsgrenzen der besonnenen Rede unter einem anderen Gesichtspunkt. In der Dreierkonstellation Kritias, Alkibiades und Sokrates stehen sich verschiedene ›Naturen‹ gegenüber. Die beiden ersten verkörpern eine ›gewaltbereite‹ Natur, die in dem Maße, wie sie zu sich selbst kommt, die in Sokrates verkörperte Wirkungskraft besonnener Rede von sich abstößt. Letztlich sind es für Xenophon also Naturkräfte, die auf dem Weg über charismatische Personen ›Gesinnungen‹ und über sie die ›Verhältnisse‹ in einer Polis bestimmen. Die Macht eines Alkibiades oder die eines Kritias blockieren die Wirkung sokratischer Besonnenheit, während die Macht des Sokrates eine Bürger-Polis begründen würde, in der weder gewaltbereite Oligarchen noch gewaltbereite Demokraten zur Herrschaft kommen könnten. Eine politische Ethik muss sich aber nicht nur mit der Wechselwirkung von ›Gesinnungen‹ und ›Verhältnissen‹, sondern auch mit ihrem Gegenstand auseinandersetzen und deshalb ihr Verständnis des politischen Handelns klären. Die rhetorisch fundierte PolisEthik folgt darin weitgehend Solon und versteht deshalb die politische als in sich gebrochene Wirklichkeit, die zwar eigenständige, rational nachvollziehbare und in bestimmten Grenzen gestaltbare Gesetzmäßigkeiten aufweist, aber auch Kräften ausgesetzt ist, die sich menschlicher Einsicht und bewusster Steuerung entziehen. Bei aller Verantwortung, die die Bürger für den Zustand ihres Gemeinwesens haben, sind deshalb auch dem verantwortlichen politischen Gestaltungswillen Grenzen gesetzt, die nicht oder zumindest nicht ausschließlich mit ›schlechter Gesinnung‹, sondern 234 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

letztlich mit der ›Natur‹ des sozialen Handelns zusammenhängen. Grundsätzlich gilt für die antike Polis die Ordnungsregel der rechtlichen Gleichheit und der gerechten, durch Leistung erworbenen Verteilung politischer Gestaltungsmacht. Zur Arbeit der Polis an sich selbst gehört deshalb der Mut, Defizite, die bei dieser Verteilung auftreten, klar zu erkennen und sie auch, was ihre Folgen betrifft, so darzulegen, dass notwendige Verbesserungen, die möglich sind, auch zustande kommen. Solon hat das Bewusstsein dafür geschärft, dass das Gerechte zwar sein Fundament in der göttlichen Wirklichkeit hat, aber in der menschlichen Welt nur in der Brechung durch konkrete ›Verhältnisse‹ zur Wirkung kommen kann. Die Realisierung des Gerechten ist deshalb kein Durchsetzen von oben nach unten, sondern die Aufgabe einer Kunst des Möglichen, die aus dem Wissen ihrer Abhängigkeit von der Zustimmung der Bürger das Gerechte so formuliert, dass es darin auch als das ›Angenehme‹ wahrnehmbar wird. Da die rhetorisch fundierte PolisEthik das menschliche Handeln als Streben nach Vorteilen versteht, verbindet sie den Begriff des Gerechten mit dem des Nützlichen und stellt deshalb die Polis als den singulären Raum dar, in dem individueller und allgemeiner Nutzen sich gegenseitig steigern, weil dort geschriebene Gesetze dafür sorgen, dass in ihrem Geltungsbreich »Dikes heilige Grundsteine« beachtet werden.4 Die im vorliegenden Buch thematisierte Polis-Ethik folgt Solon aber auch in der Erkenntnis, dass Institutionen nur funktionieren, wenn sie von den entsprechenden ›Gesinnungen‹ getragen werden. Sie ist deshalb immer auch eine Instanz der Belehrung und der Erziehung, die dazu ermahnt, beim Streben nach Vorteilen das Wohl des Ganzen einer politischen Gemeinschaft im Auge zu behalten. Das soziale Fundament dieser Mahnung ist die exemplarisch im Epitaphios des Perikles beschriebene, nur im Personenverband der Polis verwirklichte Praxis eines Wettkampfs um Aristie, in dem alle Bürger mit ihrer individuellen Leistung zum Ruhm einer Gemeinschaft beitragen, von der sie aufgrund eigener Erfahrung ›glauben‹, dass sie jedem anderen Sozialverband einschließlich ­ihrer eigenen ›Häuser‹ an Tüchtigkeit überlegen ist. Die Anthropologie menschlicher Schwäche, auf die sich die rhetorisch fundierte Polis-Ethik stützt, hat auch eine zentrale BedeuZur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik | 235

tung für sie selber. Sie tritt deshalb ihren Adressaten nicht aus der Position des Besserwissens gegenüber, sondern versteht sich als Dienstleistungsethik, die der Bürger-Polis helfen will, ihre drei wichtigsten ordnungspolitischen Aufgaben zu lösen: Das Treffen der situativ richtigen ›Mitte‹ zwischen dem aristokratischen und dem demokratischen Muster der polisinternen Machtverteilung und der kollektiven Handlungsorientierung; die Herstellung eines transparenten Zugangs zu politischer Gestaltungsmacht nach der Maßgabe eines ›gerechten‹ Verhältnisses von ›Leistung‹ und ›Ehre‹ und schließlich die Schaffung von Voraussetzungen dafür, dass der ›Krieg‹ ein Mittel der Politik bleibt und sich nicht zu zerstörerischer ›Gewalt‹ verselbständigt. Als Gegenleistung dafür beansprucht die rhetorisch fundierte Polis-Ethik für sich die ›Ehre‹, als das Pharmakon anerkannt zu sein, das besser als jedes andere eine Gemeinschaft der Gleichen prophylaktisch vor den tödlichen ›Krankheiten‹ der Stasis und der Tyrannis bewahren und ihr die Kraft vermitteln kann, ihre isonome Ordnung auch gegen Widerstand auf Dauer zu stellen. Ihr Dienst an der Bürger-Polis besteht also im Kern darin, dass sie mit ihrem überzeugenden Wort über die richtige Mischung wacht, die innerhalb der ›politischen Kunst‹, die der Norm der ›Bürgerfreundschaft‹ verpflichtet ist, zwischen ›gesetzgeberischer‹ und ›kriegerischer‹ Kunst gefunden und je nach Situation auch wieder neu justiert werden muss. Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik konkurriert nicht nur mit der Sophistik, sondern auch mit der philosophisch begründeten Ethik im Sinne von Platon und Aristoteles. Für Platon gehört die politische Wirklichkeit zum »stets Werdenden«, das, für sich betrachtet, nicht »wirklich seiend« und deshalb im menschlichen Bewusstsein nur in Form täuschungsanfälliger Wahrnehmungen und Meinungen präsent ist. Politische Organisationsformen und ihr Handeln können deshalb nur insofern vernünftig sein, als ihnen die strukturierende Kraft einer sich stets gleich bleibenden und nicht die einer von Menschen ›geschaffenen‹ Form zugrunde liegt.5 Da diese Voraussetzung in den politischen Gemeinschaften seiner Zeit nicht mehr besteht, wird Platons Polis-Ethik zur Ethik der Konfrontation. Dem »Verfall der Gesetzgebung und der Sitten«, der dazu geführt hat, dass »die Städte insgesamt eine schlechte Verfassung« haben und kaum noch etwas anderes sind als Brutstätten 236 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

bürgerkriegerischer Zwietracht, steht die »wahre Philosophie« gegenüber, die das Monopol auf die Kraft hat, das »Muster der göttlichen Glückseligkeit« zu erkennen und im öffentlichen wie im privaten Leben zur Geltung zu bringen (Platon, ep. VII, 325 d – 326 a). Aus dieser Perspektive setzt die rhetorisch fundierte Ethik ihr Ziel zu tief an. Sie will lediglich die »im Volk wirksame politische Tugend« (¹ dhmotik¾ kaˆ politik¾ ¢ret») stärken, die sich zwar mit prächtigen Namen wie »Besonnenheit« und »Gerechtigkeit« schmückt, aber nur auf »vernunftloser (¥neu filosof…aj te kaˆ noà) Gewohnheit (œqoj) und Übung (melšth)« beruht und deshalb keine wirkliche Tugend ist (Phaed. 82 b). Während sie sich damit begnügt, ›wilde‹ Lebewesen zu zähmen und gesellig zu machen, so dass sie als ›maßvolle Männer‹ zusammenleben können6 , ist die richtige Philosophie auch die einzig richtige Ethik, weil sie die menschliche Seele lehrt, durch eine intensive Bezugnahme auf das ›stets Seiende‹ die Macht körpernaher Begierden zu brechen und ihr Leben statt an selbst geschaffenen Regeln am Ordnungszusammenhang der stets sich selbst gleich bleibenden Grundformen aller Wirklichkeit (»Ideen«) auszurichten. Platon nimmt den Kampf mit der rhetorisch fundierten Polis-Ethik direkt auf, wenn er das Streben nach ›Ehre‹, das auch für ihn die beste Form des Strebens nach Vorteilen darstellt, vom Streben nach politischer Macht auf das göttlich Gute umlenken will, das alle anderen Güter »an Würde und Kraft« überragt.7 Da die menschliche Seele wegen ihrer Bindung an den Körper leicht zur ›Wildheit‹ verführbar ist, kann nur die wahre Philosophie, indem sie ihr »gelinde zuspricht« (Phaed. 83 a: ºršma paramuqe‹tai), ihr Begehren (Eros) nach Gütern so beeinflussen, dass sie im Überschreiten der Grenze vom animalisch-vegetativen zum vernünftigen Leben, soweit das für Menschen möglich ist, der Gottheit ähnlich wird. 8 Nur die Einsicht, dass es im ›wirklich großen Wettkampf‹ (Ð mšgaj ¢gîn) allein darum geht, »ob man« im angedeuteten Sinn »gut werde oder schlecht« (Resp. 608 b), kann die irrige, aber weit verbreitete Meinung, dass der wahrhaft ›männliche‹ Wettkampf um den Besitz politischer Macht (¢rc») ausgetragen wird 9, bekämpfen und damit den wahren Grund für die bürgerliche Zwietracht, die sowohl die Kämpfenden als auch die Polis zugrunde richtet, in der Wurzel beseitigen (Resp. 520 e – 521 b). Weil Platon die Auffassung Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik | 237

des Thukydides teilt, dass blindes ›Begehren‹ und ›Hoffen‹ (Eros und Elpis) das Streben nach Nutzen und Ehre leicht um jeden Preis vorantreiben, ist Philosophie Erziehung des Eros, die ihn für das in Wahrheit Gute sehend machen will, so dass ihn das Glück der Erfüllung des dadurch ausglösten Begehrens davon abhält, mit maximaler Energie in den Wettkampf um den Besitz knapper und deshalb notwendig umkämpfter Güter einzutreten.10 Die von Platon philosophisch auf die Verliererposition verwiesene Polis-Ethik, der er allenfalls mit einem mehrdeutigen Lob auf Isokrates einen gewissen Respekt bezeugt11, hat ebenfalls eine genuin theologische Dimension. Wenn man für ihre Charakterisierung die stoischen Unterscheidungen der theologia tripertita aufnimmt12 , wäre sie der theologia politica zuzuordnen, in der das Selbstverständnis der Polis als Kultgemeinschaft zum Ausdruck kommt, während die platonische Philosophie als theologia naturalis den Anspruch erhebt, die wahre Natur des Göttlichen erkennen und der Seele als das allein nachahmenswerte Muster aller Ordnung vor Augen stellen zu können. Nach der Grundannahme der rhetorisch fundierten Polis-Ethik bleibt Menschen diese Erkenntnis jedoch versagt, so dass man hinsichtlich der Götter lediglich wissen kann, dass sie sind und dass sie mit ihrer überragenden Macht auf ambivalente Weise in menschliche Angelegenheiten eingreifen. Theologisches ist deshalb von vornherein selbstbezüglich-praktisches Wissen, das zur Selbstrelativierung und zu der Anstrengung auffordert, die Tugend maßvoller Besonnenheit nicht durch äußere Dressur oder unter dem Druck der öffentlichen Meinung, sondern aus Einsicht in die Grenzen der menschlichen Natur zur Grundlage des Denkens und Handelns zu machen. Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik gehört wie die praktische Philosophie des Aristoteles zum Ethik-Typus der immanenten Korrektur. Aristoteles stützt sich dafür jedoch auf andere Voraussetzungen. Grund der Polis ist für ihn die vernünftige und dadurch zugleich politische Natur des Menschen, die als Quelle des Guten das der Möglichkeit nach in ihr Angelegte aus eigener Kraft zur vollständigen Wirklichkeit einer Bürger-Polis entfaltet, auch wenn ihr der Gegendruck verschiedener Formen des egoistisch-gewaltsamen Machtstrebens (Stasis und Tyrannis) dafür eine Reihe teils 238 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

drastischer ›Umbiegungen‹ abverlangt.13 Die Polis muss also nicht aus ihrem Gegenteil gegründet oder durch Überzeugungskunst einer widerstrebenden Gewaltnatur abgekämpft werden. Aristoteles wendet sich deshalb sowohl gegen eine Anthropologie der originären Schwäche (vgl. Partes animalium IV 10, 687 a 23  ff ) als auch gegen die platonische Vorstellung eines radikalen Gegensatzes zwischen dem Übelzustand der politischen und der Glück­ seligkeit der göttlichen Welt.14 Die Polis ist vielmehr die entscheidende ›Mitte‹ zwischen menschlicher und göttlicher Wirklichkeit, die zum einen darin unterstützt werden muss, in ihrer Verfassung im Sinne der constitutio pacis atque iustitiae einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Interessen des Adels und des »Volkes« zu finden, und zum anderen darin, ein Ort nicht nur der Arbeit und der Bedürfnisbefriedigung, sondern auch der Muße, des menschlichen Glücks und der philosophischen Theorie zu sein.15 Mit seinem Begriff des Wissens bewegt sich Aristoteles jedoch insofern im Horizont des platonischen Denkens, als er die menschliche Vernunft nicht nur als die Fähigkeit versteht, sinnvoll mit Wahrnehmungen, Erinnerungen, Meinungen und Handlungsformen umzugehen und dadurch empirisches und begriffliches Wissen aufeinander zu beziehen, sondern auch als eine Kraft, die die Wirkungsmacht und die interne Ordnung allgemeiner Formen für sich selbst und um ihrer selbst willen betrachten und darin der göttlichen Vernunft ähnlich werden kann. Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik kennt zwar auch rational nachvollziehbare Zusammenhänge zwischen ›Vorstellungsbildern‹, ›Meinungen‹, Intentionen und Handlungen, von Handlungen und Handlungsfolgen oder von ›Verhältnissen‹ und ›Gesinnungen‹. Die Steuerungskräfte des Handelns sind für sie jedoch Urteile, die nur auf der Grundlage irrtumsanfälliger ›Meinungen‹ zu gewinnen, aber weder in epistemisches Wissen transformierbar noch durch ein solches Wissen zu ersetzen sind. Für sie geht es deshalb vor allem um die Kunst, in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen eine bestimmte Vorstellung zu entwickeln und so darzulegen, dass eine ›Menge‹ sie für das ›Heilsame‹ hält und deshalb ihr Handeln daran ausrichtet. Das Wissen, das sie damit in Anspruch nimmt, hat Aristoteles unter dem Titel der handlungsleitenden Urteilsklugheit (frÒnhsij) als den ›vernünftigen Habitus‹ definiert, mit dem Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik | 239

sich Menschen auf veränderbare Güter beziehen (EN VI 5, 1140 b 20  ff). Sie sorgt in seiner Analyse zusammen mit den Tugenden der Wohlberatenheit16 , der Verständigkeit (sÚnesij)17 sowie dem Bedenken des jeweils Angemessenen und Schicklichen (ebd. 1143 a 18  ff ) dafür, dass gut begründete (di£noia, logismÒj) öffentlich ausgesprochene Urteile zu Beschlüssen und Handlungen führen, die entweder für das Ganze oder für einen bestimmten Teil des menschlichen Lebens gut und nützlich sind. Diese Fähigkeit besitzt innerhalb der Gesamtarchitektonik der dianoetischen Tugenden zwar nicht den Rang des epistemischen Wissens, aber dennoch eine exklusive Zuständigkeit für den Erwerb von Gütern, die man nur durch überlegtes Handeln erreichen kann. Sie steht als spezielle dianoetische Tugend nicht nur über dem bloßen Meinen und geschickten Erraten (EN 1142 a 33: eÙstoc…a), sondern auch über den ethischen Tugenden, die als Tapferkeit, Maß haltende Besonnenheit, Freigebigkeit oder Großzügigkeit gut begründete Urteile in konkretes Handeln umsetzen. Ihr wichtigstes Betätigungsfeld ist die Politik, näherhin die Gesetzgebung, die ihrerseits ein Wissen über politische Verhältnisse voraussetzt, das jeder Bürger besitzen muss, der bei den Entscheidungen der vielfältigen Rats- und Gerichtsversammlungen seiner Polis qualifiziert mitwirken will (ebd. 1141  b  33  f ). Für die rhetorisch fundierte Polis-Ethik ist die Urteilsklugheit kein integraler Teil einer komplexen und durchgängig auf Kooperation eingestellten Gesamtordnung von Wissens- und Handlungstüchtigkeiten. Dennoch wird sie nicht einfach aus sich selbst, sondern nur bei ›richtigem Gebrauch‹ zur Quelle des Guten. Ihre Ratschläge müssen deshalb von einer glaubwürdigen Autorität auf belehrende Weise vorgetragen werden und zugleich auf Bürger treffen, die in die Praxis der Isegorie eingelebt sind und sie aus innerer Überzeugung mittragen. Das setzt voraus, dass Redner und Publikum die Bereitschaft entwickeln, die Norm des Guten zu vergegenwärtigen, die zusammen mit der Polis entstanden ist und ihr die Kraft gegeben hat, das ›tierische‹ Dasein zu überwinden und sich als Rechtsgemeinschaft einzurichten. Die Erinnerung an diese Norm erzeugt zugleich ›Ehrfurcht‹ vor der göttlichen Wirklichkeit, die das eigene Wollen auf rechtliches und kooperatives Handeln einstellt. 240 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik nimmt in der antiken praktischen Philosophie neben der platonischen und aristotelischen Philosophie eine selbständige dritte Position ein. Dadurch, dass Platon die Distanz zwischen dem göttlich Guten der intelligiblen Welt und der Realität des menschlichen Handelns zum Maximum verschärft, ist aber auch seine Philosophie Rhetorik, und zwar insofern, als sie damit ein Erschrecken auslösen will, das nur durch die Anstrengung einer radikalen Änderung aller Lebensformen zu bewältigen ist, die von technischen, strategischen und macht­ politischen Interessen gesteuert werden. Zudem teilt er mit der Rhetorik die Auffassung, dass menschliches Denken und Handeln sich maßgeblich an den Bildern und Reden orientiert, die in der Umgebung eines Personenverbandes als das Schöne und Nach­ ahmens­werte »in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen«. Platons Kampf mit der politischen Rhetorik ist deshalb ein Kampf um die Bilder, die »die menschliche Seele in sich aufnimmt und daran nährt« (Platon, Politeia 401 d – 402 a). Gegen die Bilder, die den normativen Grund der ­Polis vergegenwärtigen, setzt Platon Bilder, die auf eine Wirklichkeit jenseits der Polis verweisen. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Polis ein Ort von Übeln ist, aus dem sie aus eigener Kraft nicht herauskommen kann. ›Rettung‹ der Seele gelingt deshalb nur in der Kraft solcher Bilder, die sie aus der engen, lichtlosen und stasisträchtigen Welt der P ­ olis heraus­f ühren und ihr eine göttliche Weite und Helligkeit vor ­Augen stellen, in der ihr das ›Heilsame‹ als das in Wahrheit ›Schöne‹ und Gute erscheint. Nicht auf dem mittleren Weg zwischen Stasis und Tyrannis, sondern nur dadurch, »dass wir uns immer an den oberen Weg halten und der Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit auf alle Weise nachtrachten«, können wir ein Leben führen, in dem wir mit uns selbst und mit den Göttern befreundet sind.18 Eine rhetorische Komponente eignet aber auch der aristotelischen Philosophie insofern, als sie mit der ausführlichen Nachzeichnung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen der göttlich gegründeten Welt allgemeiner Formen und den Strukturen der Erfahrungswirklichkeit die menschliche ›Seele‹, die in der Welt des Handelns auf Bewegung eingestellt ist, so weit zur Ruhe bringen will, dass sie im Besonderen das Allgemeine erkennen und im Blick Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik | 241

auf Allgemeines den besonderen Aufgaben ihrer Lebensführung besser gerecht werden kann. Platon und Aristoteles wollen in je verschiedener Weise dem menschlichen Bewusstsein den Zugang zu einer Wirklichkeit vollkommener Ordnung erschließen und das Denken dazu erziehen, die konkrete Erfahrungswelt der Polis mehr (Platon) oder weniger (Aristoteles) zu verlassen und sich stattdessen (Platon) oder auch (Aristoteles) in einer Welt allgemeiner Formen zu bewegen. Demgegenüber bleibt die rhetorisch fundierte politische Ethik ein Teil der Stadt. Sie unterscheidet sich deshalb von anderen und in dieser Hinsicht bis in die Gegenwart dominierenden Erscheinungsformen der Ethik dadurch, dass sie keine irrtumsfrei gewonnene normative Wahrheit einer im Irrtum befangenen Wirklichkeit entgegenstellt, sondern im interpretierenden Blick auf die Verfassung der Polis und ihre Geschichte eine Vorstellung von ihrem normativen Grund entwickelt, der nicht einfach nur da ist, sondern immer wieder neu vergegenwärtigt werden muss. Sie ist auch darin ein Teil der Polis, dass sie sich mit ihren Urteilen über die konkrete Umsetzung dieser Norm irren kann, sowie darin, dass sie grundsätzlich an die politische Auseinandersetzung gebunden bleibt, in der sie sich mit den für sie charakteristischen »Waffen« gegen andere Reden durchsetzen muss.19 Seit Hegel wird der Moderne unterstellt, aufgrund ihrer Orientierung am Prinzip Subjektivität traditional legitimierte soziale Bindungskräfte (Familie, religiöse Gemeinde, Stände, Zünfte etc.) aufzulösen. Insbesondere die moderne Markt- und Arbeitsgesellschaft macht aus der societas civilis im Sinne der antiken Polis einen »Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle«.20 Die daraus resultierende Auflösung von Gemeinschaften in die »formlose Masse« (Hegel § 279) »von zersplitterten Atomen« (Hegel § 290, Zusatz) führt in einer Gesellschaft, in der sich die Tendenz zur Individualisierung und »Singularisierung« weiter verschärft 21 und damit gerade auch den ›Gebrauch‹ kommunikativer Medien prägt, zu der Frage, ob und wie es unter diesen Bedingungen überhaupt noch ›Gemeinschaft‹ geben kann, die ihren Zusammenhalt sichert und ihren Mitgliedern zugleich ein individuelles Leben ermöglicht.22 Hegel hat im Staat die Institution gesehen, die als »Wirklichkeit der konkreten Freiheit« die »persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen vollständig zur Entwicklung 242 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

bringt und ihr Recht anerkennt«, aber auch den Rahmen dafür schafft, dass die Bürger »mit Wissen und Willen« das allgemeine Interesse »als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig werden« (Hegel § 260). Auf die Frage, wie unter den Bedingungen einer Gegenwart, die dem Hegelschen Lösungsvorschlag misstraut, soziale Bindungskräfte und individuelle Freiheit zusammenpassen, kann auch die rhetorisch fundierte politische Ethik keine praktikable Antwort geben, obwohl es ihre Aufgabe war, aus einer ›Menge‹, die sich mit ihren gegensätzlichen Interessen blockieren und sogar zur Stasis zersplittern konnte, eine handlungsfähige, durch gemeinsame Überzeugungen zusammengehaltene Wertegemeinschaft zu machen. Sie kann deshalb daran erinnern, dass auch in einer rechtsstaatlich gebundenen Demokratie politische Handlungskraft auf eine lebendige politische Debatte angewiesen ist, in der Probleme, die ihren Zusammenhalt gefährden, nicht hinter schönen Worten oder den gängigen Formeln politischer Korrektheit versteckt, sondern offen ausgesprochen und mit Respekt vor der Gegenrede kontrovers diskutiert werden. Hegels ›lebendige, sich gegenseitig unterrichtende und überzeugende, gemeinsam beratende Versammlung‹ (Hegel § 309) ist jedenfalls nicht nur ein Erinnerungsbild an die antike ­Polis, sondern auch ein Vorbild für die Gegenwart. Die rhetorisch fundierte Polis-Ethik der Antike zeichnet sich durch eine hoch entwickelte Sensibiltät für soziale Störpotentiale aus. Von daher kann sie das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch eine hoch professionalisierte und umfassend verrechtlichte Politik den Mut behalten muss, eigene Fehler zu erkennen, eingespielte Handlungs- und Entscheidungsmuster selbstkritisch zu überprüfen und sich in dieser Haltung der Aufgabe zu stellen, »menschliches Leben begehbar aus dem Weglosen und geregelt aus dem Regellosen« zu machen (Gorgias, in Pal. 30). Gegen die Tendenzen zur Entpolitisierung und Neutralisierung moderner Lebensverhältnisse bleibt die letztlich personengebundene Kunst, »so zu sprechen, dass Überzeugung entsteht«23 , ein unentbehrlicher Orientierungsfaktor für die öffentliche Meinungs- und die politische Willensbildung. Weil die antike politische Rhetorik diese Kunst an die Norm bürgerlich-rechtlicher Gleichheit und an das Prinzip vom Vorrang des Allgemeinwohls gegenüber ausschließlich individuellen Interessen gebunden hat, Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik | 243

kann eine Besinnung auf ihre begrifflichen Grundlagen und ihre Wirkungsmöglichkeiten im Rahmen einer Bürger-Polis auch für die ›gesetzgeberische Kunst‹ der Gegenwart ein Impuls sein, im Blick auf die Probleme der eigenen Zeit den Mut zu entwickeln, die »Wirklichkeit der konkreten Freiheit« zu fördern und dem »Belieben der Willkür« (Hegel § 270) solcher Kräfte Grenzen zu setzen, die darauf aus sind, »Staat und Gesellschaft als Bereicherungs­ apparate ihrer selbst zu missbrauchen«.24

244 | Zur philosophischen Bedeutung der rhetorisch fundierten Polis-Ethik  

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260 | Bibliographie 

Anmerkungen Einleitung Aristoteles, Pol. I 2, 1253 a 37  ff. Im Text des vorliegenden Buches dienen einfache Anführungszeichen entweder, wie in diesem Abschnitt, der Begriffshervorhebung – dasselbe gilt auch für Kursivierungen innerhalb von Zitaten – oder der Umschreibung von Zitaten, die nicht im exakten Wortlaut wiedergegeben werden. 2  Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung des status coniecturalis (stocasmÒj) im Rahmen der antiken Rhetorik vgl. Lausberg (1960) 64–71. Vgl. dafür auch Platon, Tim. 29 c–d und 48c–d. 3 Cicero, Pro Sestio 91: »ex feritate illa ad iustitiam atque ad mansuetudinem transduxerunt«. 4 Cicero, De inventione I 2, 3: »qui tandem fieri potuit, nisi homines ea, quae ratione invenissent, eloquentia persuadere potuissent? Profecto nemo nisi gravi ac suavi commotus oratione, cum viribus plurimum posset, ad ius voluisset sine vi descendere, …« 5 Cicero, Pro Sestio 91: »Tum res ad communem utilitatem, quas publicas appellamus, tum conventicula hominum, quae postea civitates nominatae sunt, tum domicilia coniuncta quas urbis dicimus, invento et divino iure et humano moenibus saepserunt.« 6  Vgl. dafür Flaig (2013). 7  Zu den vielfältigen, keineswegs nur kriegerischen Formen der Stasis vgl. Hans-Joachim Gehrke, Stasis. Untersuchungen zu inneren Kriegen in den griechischen Staaten des 5. und 4. Jahrhunderts, München (1985) 6  f und Schmitz (2011) 37–42. 8  So die Formulierung von Michael Stahl (1987) 89  f. 9 Platon, Gorgias 457 a. Vgl. damit die klassische Formulierung der rhetorischen »Macht« als ›Herstellung des möglicherweise Glaubenerweckenden (piqanÒn) in Bezug auf jeden Gegenstand‹ bei Aristoteles, Rhet. I 2, 1, 1355 b 25 und die Definition des primum oratoris officium als »dicere ad persuadendum accomodate« bei Cicero, De oratore I 138. 10  Nach Platon, Theaet. 167 c hat Protagoras den guten politischen Redner durch dieses Können definiert. Vgl. dazu Jochen Martin, Zur Entstehung der Sophistik, Saeculum 27 (1976) 143–164, insbes. 150  ff, auch in: ders., Bedingungen menschlichen Handelns in der Antike. Gesammelte Beiträge zur Historischen Anthropologie, hrsg. von Winfried Schmitz, Stuttgart (2009) 427–448. 1  Vgl.

 | 261

Rhet. I 2, 4, 1356 a 4  ff: »Durch den Charakter wird Überzeugung hergestellt, wenn die Rede so gehalten wird, dass sie den Redner vertrauenswürdig macht; denn den Tugendhaften glauben wir mehr und schneller, … besonders da, wo keine letzte Gewissheit (tÕ ¢kribšj) ist, sondern Zweifel (tÕ ¢mfidoxe‹n) herrscht.« 12  Vgl. dafür Aristoteles, Rhet. I 2, 3–6. 13  Zur technisch-moralischen Doppelbedeutung des bene in der Bestimmung der Rheorik als ars oder scientia bene dicendi vgl. Lausberg (1960) 40, § 32. 14  In der vorliegenden Arbeit stütze ich mich grundsätzlich auf die antike Unterscheidung zwischen der ›Beschaffenheit‹ und dem ›Gebrauch‹ einer Sache, nach der ihre Qualität nicht primär von ihren natürlichen Eigenschaften, sondern von der Art ihres Gebrauchs abhängt. Vgl. dazu Christian Gnilka, CRHSIS. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Literatur. Bd. I. Der Begriff des ›rechten Gebrauchs‹, Basel / Stuttgart (1984) insbes. 29  ff. 15  Vgl. Cicero, De nat. deor. I 12: »Ich gehöre nicht zu denen, die nichts für wahr anerkennen, sondern zu denen, die behaupten, alles Wahre sei mit irgendwelchen falschen Vorstellungen verbunden und beides sei sich so ähnlich, dass sie kein sicheres Kriterium für das Urteil und die Zustimmung enthalten (omnibus veris falsa quaedam adiuncta esse … tanta similitudine, ut in iis nulla insit certa iudicandi et adsentiendi nota). Daraus ergibt sich der Grundsatz, vieles sei glaubwürdig (multa esse probabilia), von dem eine genaue Erkenntnis (perceptio) zwar versagt bleibe, aber das Leben eines Weisen leiten könne, weil es eine klare und deutliche Vorstellung (visum quendam insignem et inlustrem) aufweise«. Diese Schlussfolgerung gilt auch für die politische Rhetorik, die sich nicht um das Wohl eines Einzelnen, sondern um das einer politischen Gemeinschaft kümmert. 16  Vgl. Cicero, Tusc. disp. I 17: »Allerdings wird das, was ich sagen werde,  … die Rede eines von vielen Menschen sein, der dem nachgeht, was sich für die Vermutung als wahrscheinlich erweist (coniectura probabilia sequens)«; und ebd. I 23: Der »große Streit« (quaestio magna), in dem die Menschen zu einem Urteil kommen müssen, bezieht sich darauf, welche von verschiedenen Aussagen zu einer Sache »die wahrscheinlichste« (veri simillima) ist. Die aus der Gerichtsrede abgeleitete Regel des in utramque partem disserere, mit der Cicero Fragen nach der »Natur der Dinge« (quaestio de rerum natura) zu klären sucht, gilt auch für ethisch-politische Streitfragen (quaestio de moribus). 17  So die Formulierung von Siegbert Peetz, Ciceros Konzept des probabile, Philosophisches Jahrbuch 112 (2005) 105. 18  Vgl. Meier (1980) 144–246 und (1988) 117–156. 19  Vgl. dafür neben Isokrates Cicero, Brutus 27: »… Clisthenem multum … valuisse dicendo«. 20  Um den interpretierenden Charakter dieser Aussagen deutlich zu ma11 Aristoteles,

262 | Anmerkungen

chen, wird an den dafür geeigneten Stellen in Fußnoten auf die fachhistorische Diskussion verwiesen, die dem Leser helfen kann, zwischen ›Fakten‹ und ihrer Deutung zu unterscheiden. Da es in der vorliegenden Darstellung um die begrifflichen Konzepte geht, die zu bestimmten Interpretationen führen, werden sie selbstverständlich auch dann aufgenommen, wenn sie ›Fakten‹ verzerrt wahrnehmen oder sich im Extremfall auch über sie hinwegsetzen. 21  Für die Zitate, die in den Zusammenhang der Unterscheidung von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Geschichtsschreibung gehören, vgl. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Abschnitt 2 und 3: KSA I, 258, 265 und 269. »Dekonstruieren« heißt bei Nietzsche: »zerbrechen und auflösen« (269).

I. Das Problem: Von der Stasis zur Polis Vgl. dazu Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt am Main (1982) 19–37 (dt. Übersetzung von Les origines de la pensée grecque, Paris 1962). 2  Vgl. dafür den relativ gut rekonstruierbaren Anfang der AP des Aristoteles (im Anschluss an Rackham): »Am Anfang hatten die Athener eine Monarchie. Pandion, der nach Erechtheus König war, teilte die Herrschaft unter seine Söhne auf (gab Aigeus die Stadt und ihre Nachbarschaft, das Hügelland Lykos, die Küste Pallas und Nisos Megara), und diese stritten ununterbrochen« (dietšloun … stasi£zontej). Vgl. dazu Chambers (1990) 436. Für das Konfliktpotential im ›Haus‹ der athenischen Könige vgl. auch Ps.-Apollodor III 14–15,6. 3  Vgl. dazu M. Stahl (1987) und ders. (2003) 76–88. 4  Vgl. dazu Konrad H. Kinzl (Hrsg.), Die ältere Tyrannis bis zu den Perserkriegen, Darmstadt 1979 und M. Stahl (2003) 252–266. 5  Ich folge Meier (1988) und M. Stahl (2003) II 122  ff. 6  Ich beziehe mich auf die von Aristoteles, Rhet. I 5, 1360 b 14  ff zusammengestellten umgangssprachlichen Definitionen menschlicher »Glückseligkeit«. 7  Vgl. Eum. 237  ff, 280  ff und 445  ff. Vgl. dafür Dodds (1960) 64. 8  Vgl. dafür Dodds (1960) 60: Athen ist eine Stadt »ohne König«, aber auch noch keine Bürger-Polis: »Herrscherin ist allein Athena«. 9  Bereits in der Ilias (1, 188–221) und in der Odyssee (24, 530–548) greift Athene mit besänftigender Stimme in Konflikte ein und verhindert dadurch den Ausbruch offener Gewalt. 10  Zur Theologie des Aischylos vgl. Reinhardt (1949), Sommerstein (1989) 19  ff und (1996) 355–390, insbes. 383  ff. Zur Orestie als politischer Theologie vgl. Meier (1980) 164  ff und 222  ff. 11  Dass Heraklit den Erinyen diesen Titel gibt (DK 22, B 94), zeigt seine 1 

Anmerkungen | 263

Verbundenheit mit dem Gedanken von der kosmischen Dimension der Gerechtigkeitsordnung des Zeus. 12  Vgl. dafür den »uralten«, von Zeus, den Moiren und Dike sanktionierten »Spruch«: »Dem (sc. unrecht) Handelnden widerfährt Leid« (dr£santi paqe‹n) (Choeph. 313). Das Gesetz (qšsmion) vom »Erleiden des Getanen« (paqe‹n tÕn œrxanta) gilt, solange Zeus auf seinem Thron bleibt (Ag. 1562  ff ). Zum ›Lernen durch Leid‹ vgl. Dodds (1960) 68–77 und Meier (1980) 170  ff. Für eine Darstellung der Diskussion über dieses Thema vgl. Kleopatra Ferla, Von Homers Achill zur Hekabe des Euripides. Das Phänomen der Transgression in der griechischen Kultur, München (1996) 68  ff. 13  Ich folge Sommerstein (1989) 13  ff. 14  Die Einrichtung des Areopag als besonderes Blutgericht geht angeblich auf Solon zurück. Vgl. dazu Ruschenbusch (1960). 15  Nach Demosthenes 23, 67  ff haben die Götter oder die Heroen der Frühzeit bestimmt, dass in diesem Rahmen zuerst der Kläger einen Überführungseid (diwmos…a) schwören musste, der nur dann nicht zur Verurteilung des Beklagten führte, wenn dieser darauf mit einem Reinigungseid (¢ntwmos…a) antwortete. Vgl. dazu Sommerstein (1989) 16. Das Verfahren der freien Tatwürdigung durch das Gericht existiert erst seit Drakon (ca. 624 v. Chr.). Vgl. dazu Ruschenbusch (1960) 153 und ders. (1968) 118  ff. 16  Die wichtigsten mythischen Beispiele dafür sind der Einsatz des Theseus für die von Kreon verweigerte Bestattung der im Kampf der »Sieben gegen Theben« Gefallenen und der Einsatz seines Sohnes Damophon zugunsten der von Eurystheus aus der Peloponnes vertriebenen Kinder des Herakles. An diese Mythen erinnern zwei Tragödien des Euripides mit den Titeln Die Hike­ tiden und Die Herakliden. 17  Zur Frage nach dem Grund für den Zorn der Artemis vgl. die skeptische Antwort von Dover (1973) 62 mit dem Deutungsansatz von Lutz Käppel, Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos. Die Makrostruktur des ›Plot‹ als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs, München (1998) 62  ff: Da Artemis als Hüterin des jungen Lebens nicht auf Rache für die Tötung der Kinder des Thyest durch Atreus verzichten kann, verlangt sie von Agamemnon als dem gegenwärtigen Nutznießer dieses Verbrechens die Tötung seiner Tochter genau in dem Augenblick, in dem ihn das Gebot des Zeus Xenios (60  ff ) dazu verpflichtet, seinem Bruder Menelaos aktiven »Rechtsbeistand« (46) zu leisten. 18  Zur Textkorruption der Stelle, an der Agamemnon die Notwendigkeit des Opfers unter Berufung auf ein Gebot der Themis begründet (216  f ), vgl. Aeschylus, Agamemnon, ed. with a Commentary by Eduard Fraenkel, Oxford (1950) 124  ff. 19  Das Problem tragischer Schuld (vgl. dafür nur: Arbogast Schmitt, Tragische Schuld in der griechischen Tragödie, in: Günther Eifler u. Otto Sahme, Hrsg., Die Frage nach der Schuld. Vorträge. Studium Generale der Johannes264 | Anmerkungen

Gutenberg-Universität, Mainz (1991) 157–192) kann an dieser Stelle ebenso wenig aufgenommen werden wie das der Schuld Agamemnons. Für angemessene Interpretationen seiner Dilemmasituation vgl. Dover (1973), Dodds (1960) 68  ff sowie Jean Bollack et Pierre Judet de La Combe, L’ Agamemnon d’ Eschyle. Le texte et ses interprétations, Agamemnon 1, Lille (1981) CXXff und 186  ff. 20  Agamemnon ist für die Bürger von Argos trotz ihrer Kritik an der Opferung Iphigenies (Ag. 709  ff ) der »Schützer« (fÚlax) seines Hauses (1452) und deshalb ein »göttlicher Mann« (1547). 21  Zu Klytaimestras Umdeutung ihrer Mordtat zu einer göttlich gerechtfertigten Handlung vgl. Gödde (2011) 103  ff. 22  Choeph. 461: Orest: »Kraft mess’ an Kraft sich (”Arhj ”Arei xumbale‹) im Kampf und Recht an Recht! (D…kv D…ka).« 23  Choeph. 899: »Was soll ich tun? Die Mutter morden – soll ich das scheuen?« 24  Apoll ist in Delphi »heilender Seher« (Eum. 62: „atrÒmantij), der ›Häuser‹ von Blutschuld reinigt (63: dwm£twn kaq£rsioj). 25 Der œrwj aƒmatoloicÒj (Ag. 1475  ff )4, unter dessen Wirkung Klytaimestra Agamemnon getötet hat, war bereits die Triebkraft für die Tötung Iphigenies (214  ff ). Für seine Wirkung im Trojanischen Krieg vgl. 700  ff und 740  ff. 26  Choeph. 594  ff : Der »verwegen wagende Eros« der Frauen und die »übers Maß wagenden Herzen« der Männer »gatten« sich notwendig mit »Schuld« (Ate). Die von Klytaimestra ausgesprochene Bitte, die Griechen mögen bei ihrem Sieg über Troja frei bleiben von der »Gier« (œrwj Ag. 341), »zu schänden Heiliges, von der Habsucht übermannt« (342), zeigt, dass sie die Übelquelle des »alles wagenden Eros« zwar kennt, aber seinemWirken in ihr selbst nichts entgegensetzen kann. 27  Nach Auffassung des Chores kann diese Gewaltgier bei Frauen und Männern mit gleicher Heftigkeit wirken (Ag. 1468  ff ). Klytaimestra sieht sich als Gefangene eines Daimon, der im Stamm der Atriden den »blutlechzenden Eros« nährt und damit immer wieder »des Erbübels Weh« zur Wirkung bringt (1475  ff ). 28  Vgl. damit das Kontrastbild bei Euripides, Iphigenie in Tauris 1235  ff. Dort erscheint die Geschichte der Kultübernahmen in Delphi als Geschichte der Gewalt, die erst mit einem Machtspruch des Zeus ihr Ende findet. 29  Die Erinyen bezeichnen gegenüber Athene ihre Aufgabe als Rache an ­jedem Mord (Eum. 336  ff, 421) und jedem Frevel »an einem Gott«, »Gastfreund« oder »lieber Eltern Haupt« (269  ff ). Vgl. 538: »Überall gilt mein Wort (™j tÕ p©n soi lšgw): Ehre den Altar des Rechts!« 30  Für die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten der quaestio vgl. Lausberg (1960) 62  f, §§ 69  f und 73. 31  470  ff: »Der Fall liegt schwerer, als dass hier sich zutraun könnt / Ein Mensch zu richten; und auch mir kommt es nicht zu, / Um Mord den Streit zu schlichten, bittrem Groll entstammt.« Anmerkungen | 265

32  Eum.

481 und die Wiederholung dieser Einschätzung unmittelbar vor der Urteilsfindung 678. 33  Vgl. dazu Douglas M. MacDowell, Athenian Homicide Law in the Age of the Orators, Manchester (1963) 33–38. 34  Zum Text vgl. Sommerstein (1989) 169  ff. 35  Zum Ansehen des historischen Areopag und seiner Mitglieder vgl. Wallace (1985) 121  ff und Charlotte Schubert, Der Areopag. Ein Gerichtshof zwischen Politik und Recht, in: Burckhardt / v. Ungern-Sternberg (Hrsg. 2000) 50–65. 36  In der Anakrisis vor Athene bedauern die Erinyen, dass Orest ihren Überführungseid nicht als Beweismittel akzeptiert und deshalb auch nicht mit einem Reinigungseid beantwortet (Eum. 429). Athene weist die Macht des Eides als hinreichendes Beweismittel im Verfahren zurück (432). 37  Zum Kreuzverhör als Teil einer Prozessrede vgl. Sommerstein (1989) 192. Zu den Regeln für Gerichtsreden vor dem Areopag in historischer Zeit vgl. Wallace (1985) 124. 38 Eum. 658   ff: Die Mutter ist nicht Erzeugerin, sondern Ernährerin und Gastgeberin des männlich gezeugten Sprosses, aber nicht seine Blutsverwandte. Auch Orest leugnet im Kreuzverhör mit den Erinyen die Blutsverwandtschaft zwischen Mutter und Kind, was die Gegenseite mit der Behauptung kontert, gerade die pränatale Ernährungsbeziehung begründe die intensivste Blutsverwandtschaft (Eum. 606  ff ). Vgl. dazu Sommerstein (1996) 206  ff. 39  Eum. 645: Beschimpfung der Erinyen als »Untiere« (knèdala). 40  Meier (1980) 186 bezeichnet die Auseinandersetzung zwischen Apoll und den Erinyen zu Recht als »Meisterstück von Parteilichkeit und Ungerechtigkeit«. 41  Vgl. dazu Müller (2004) 69: Für die zeitgenössischen Zuschauer war dies jedoch kein purer Dezisionismus, sondern Ausdruck ihrer Sympathie für das Rechtsverständnis der männlichen Vollbürger, das sich mit primitiver Blutrache nicht verträgt. 42  Vgl. dafür Rudolf Schottländer, Ist der Freispruch am Schluss der Orestie moralisch gerechtfertigt? in: ders., Ursprung – Ursache – Urheber und andere Themen in philosophischer Neubefragung. Hrsg von Ernst Oldemeyer, Würzburg (1989) 208–218. 43  Für das Motiv der Veränderung des Zeus Xenios zum Zeus Agoraios vgl. Peter M. Smith, On the Hymn to Zeus in Aeschylus’ Agamemnon, Ann Arbor 1980. 44  Ein Sohn Poseidons hatte eine Tochter des Ares vergewaltigt und war dafür von deren Vater getötet worden. Daraufhin wurde Ares von Poseidon verklagt und im Prozess freigesprochen. Vgl. dafür Ps.-Apollodor III 180. 45  Vgl. dazu Demosthenes 23, 65  f : »Bei uns gibt es viele Institutionen, von denen man anderswo nichts Vergleichbares findet, aber darunter eine, die für 266 | Anmerkungen

uns selbst besonders charakteristisch und ehrwürdig ist. Ich meine den Gerichtshof des Areopag. Was ihn betrifft, so könnte ich eine größere Zahl an ehrwürdigen Geschichten anführen … als für irgendeinen anderen Gerichtshof. Zuerst: In alten Zeiten … haben sich die Götter allein vor diesem Gericht dazu herabgelassen, für Mord Recht zu sprechen und Richter zu sein über streitende Parteien.« Als Beispiel wird neben dem Streit zwischen Poseidon und Ares derjenige zwischen den Eumeniden und Orest angeführt. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Hinweise auf archaische Prozesse vor dem Areopaggericht bei Müller (2004) 67  f. 46  Die Zahl der von Athene berufenen Areopagiten wird nicht ausdrücklich genannt. Da der Abstimmungsvorgang, bei dem die Richter nach athenischem Prozessrecht ohne vorhergehende Aussprache nacheinander stillschweigend ihren Stimmstein in die Urnen für die Ja- oder Neinstimmen werfen, von elf Wortwechseln zwischen den Erinyen und Apoll begleitet wird, liegt die Annahme nahe (vgl. 711–733), dass elf Personen abstimmen und Athene danach als zwölfte ihren Stimmstein hinzufügt. Vgl. dazu Hellmut Flashar, Orest vor Gericht (1997), in: ders., Spectra. Kleine Schriften zu Drama, Philosophie und Antikerezeption, hrsg. von Sabine Vogt, Tübingen (2004) 13–29 und Braun (1998) 100. 47  Durch das Versprechen Orests, als ›König‹ von Argos ein ›ewiges‹ Bündnis mit Athen zu schließen (Eum. 289  ff ), das Apoll unmittelbar vor der Abstimmung wiederholt (Eum. 671  ff ) und Orest nach seinem Freispruch erneut bestätigt (762  ff ), erfährt das im Jahre 462 mit Argos geschlossene Bündnis, das außenpolitisch gegen Sparta und innenpolitisch gegen die Vertreter der bisherigen spartafreundlichen Politik gerichtet war, eine mythische Legitimation. Vgl. dafür Sommerstein (1996) 392  ff. 48 Choeph. 585. Apoll verwendet Eum. 645 für die Erinyen dasselbe Schimpfwort, mit dem der Chor des zweiten Teils der Orestie lebensbedrohliche Meerungeheuer charakterisiert: »Untiere« (knèdala). Vgl. dazu Garvie (1986) 203  f. 49  Die Ermordung Agamemnons, die Zerstückelung seines Leichnams (vgl. dazu Garvie (1986) 163  f ) und das von Klytaimestra angeordnete Beschwichtigungsopfer an seinem Grab sind Taten »liebloser Liebe« (Ag. 1545: ¥carij c£rij und Choeph. 43). Für Orest hat seine Mutter dadurch ihre ›nichtswürdige Liebe‹ (Choeph. 517: deila…a c£rij) bewiesen. 50  Vgl. dafür Ps.-Apollodor I 9, 17 und Apollonios Rhodios, Argonautica 1, 609  ff. Choeph. 630  ff vergleicht der Chor ausdrücklich »das Unheil hier«, also die Ermordung Agamemnons, mit »dem lemnischen Geschehn«. 51  Das menschliche ›Herz‹ erwirbt sich damit den Rechtstitel, der in der vorpolitischen Welt dem königlichen Herrn eines ›Hauses‹ zugekommen war. 52  Eum. 826  ff : Athene. »Ich bin vertraut mit Zeus; was braucht’s der Worte mehr? / Den Schlüssel weiß von Göttern ich nur des Gemachs, / In dem der Blitz sich findet unterm Siegel aufbewahrt; / Doch braucht es seiner nicht, ….«. Anmerkungen | 267

53 

Vgl. Eum. 801: »Bedenkt euch (skšyasqe)! Zürnet nicht (m¾ qumoàsqe)!« Vgl. dazu Henrichs (1991) und ders., Anonymity and Polarity: Unknown Gods and Nameless Altars at the Areopagos, Illinois Classical Studies 19 (1994) 27–58. 55  Für Aristoteles ist die vernünftige Natur des Menschen zugleich eine politische. Zur Bestimmung der Vernunft als Fähigkeit zur kategorialen Differenzierung vgl. exemplarisch: Aristoteles, Metaphysica IV 2. 56  Ich folge Dodds (1960) 74. 57  Eum. 881–891: »Nicht werd ich müde, dir zu sagen, was dir frommt (lšgousa t¢gaq£), / Dass nie du sagest, von der jüngern, mir, seist du, / Die alte Göttin und vom stadtschirmenden Volk / Verunehrt (¥timoj) fortgegangen als Verstoßne dieses Lands. / Wenn aber heilig dir die Scheu (sšbaj) vor Peitho ist, / Dir meiner Zunge freundlich Wort besänftgend wirkt (glèsshj ™mÁj me…ligma kaˆ qelkt»rion), / Wirst du hier bleiben, … / Steht’s dir doch frei, hier dieses Lands Miteignerin (tÁsde gamÒrJ cqÒnoj) / Zu sein, dem Recht nach, stets in allem hochgeehrt!« 58  Eum. 990  ff: (Athene): »Aus den so grausgen Gesichtern … / Kommt hoher Gewinn für die Bürger hier. / Wenn den Freundlichen freundlich ihr allezeit / Hohe Ehre erweist, werdet Land ihr und Stadt / In Ordnung und Recht / Voller Glanz in die Zukunft führen!« 59  Für den Unterschied zwischen mythischer und kultischer Theologie vgl. Henrichs (1991) 195  f: Um mit der Ambivalenz der göttlichen Mächte zurechtzukommen, wird ihre negative und bedrohliche Seite »in den Mythos verdrängt«, während im Kult ›zwischen Göttern und Menschen optimale Verhältnisse‹ hergestellt werden sollen. 60  Nach Meier (1980) 208–214 ist dies der früheste Beleg für das Konzept der Bürgerfreundschaft. 61  Vgl. dazu Sommerstein (1989) 269. 62  Zu Athena Promachos vgl. Simon (1985) 189  ff. 63  Nach Sommerstein (1989) 259 vertritt Athene eine im Kern eine defensive Politik der Machtsicherung. 64  Ich folge Sommerstein (1989) 239. 65  Zur Einheit des in sich Verschiedenen vgl. Heraklit DK 22, B 8, 10 und 51. Zu Affinitäten zwischen Aischylos und Heraklit vgl. Braun (1998) 236  f. 66  Zur Ambivalenz der Peithō vgl. Richard G. A. Buxton, Persuasion in Greek Tragedy. A Study of Peitho, Cambridge (UK) 1982. Für eine gut nachvollziehbare Darstellung des ambivalenten Charakters euphemischer Rede in der Orestie vgl. Gödde (2011) 95–148. Im Blick auf diese Ambivalenz ist der Schluss der Orestie als kritische Darstellung rhetorischer Gewalt interpretiert worden, die Platons Kritik an der sophistischen Rhetorik antizipiert. Für diese nach meiner Auffassung abwegige Deutung vgl. Katherina Glau, Zur Diskussion um die Deutung des Schlusses der Aischyleischen »Eumeniden«, Poetica 30 (1998) 291–315. 54 

268 | Anmerkungen

der Literatur ist ausführlich dargelegt worden, dass die Orestie in eine Situation hineinspricht, in der die Veränderung der innenpolitischen Ordnung von der Aristokratie zur Demokratie und die gleichzeitige Umakzentuierung der Außenpolitik von einer prospartanischen zu einer auf Athen zentrierten antispartanischen Stoßrichtung (Bündnis mit Argos, delisch-attischer Seebund) um das Jahr 460 die Einheit der Bürgerschaft auf eine harte Belastungsprobe gestellt hat. Vgl. dazu Kenneth J. Dover, The Political Aspects of Aeschylus’ ›Eumenides‹, JHS 77 (1957) 230–237, Dodds (1960), Anthony J. Podlecki, The Political Background of Aeschylean Tragedy, Ann Arbor (1966) 63–100, Meier (1980) 144–246, ders., (1988) 113–156, Sommerstein (1989) 25–32, (1996) 392  ff, 413  ff, 423  ff, 434  ff., Braun (1998) 105–133 und M. Stahl (2003) II 131–162. Die politische Bewältigung der Folgen des Freispruchs für Orest kann als Muster eines »nichts Schlechtes bringenden Sieges« dazu auffordern, diejenigen, die in grundlegenden politischen Fragen eine andere Auffassung vertreten, als Mitbürger und nicht als bekämpfenswerte Gegner zu behandeln. Die unaufgeklärte Ermordung des ›demokratischen‹ Ephialtes (vgl. AP 25, 5) und die heftigen Auseinandersetzungen zwischen seinen Anhängern und der ›aristokratischen‹ Partei Kimons verdeutlichen (vgl. Thuk. I 107, 4 und Plutarch, Kimon 15–17), dass dies keine Selbstverständlichkeit gewesen ist. 67  In

II. Die konzeptionellen Grundlagen 1  Die

wirkungsgeschichtlich folgenreiche Definition der Dichtkunst als »sprechender Malerei« (vgl. Horaz, Ars poetica 361: ut pictura poesis) wird von Plutarch, De gloria Atheniensium = Moralia 346 F, dem Dichter Simonides (ca. 557–468) zugeschrieben. 2  Vgl. dafür den Hinweis Herodots auf die kultur- und kultschaffende Bedeutung Homers und Hesiods: Sie haben das Nichtwissen der Griechen hinsichtlich ihrer Götter dadurch beseitigt, dass sie deren »Stammbaum aufgestellt, ihnen ihre Beinamen gegeben, Ämter und Ehren unter sie verteilt und ihre Gestalten klargemacht haben« (Hdt. II 53, 1). 3  Zum Titel vgl. Newiger (1973) 1, Anm. 3. 4  Vgl. dazu Newiger (1973) 4  ff, 19  f, 29, 32 u. ö. sowie Buchheim (1989), insbesondere XVIff (Sprache ohne Sein). Bei Parmenides hat allein das Denken und Sprechen des in Wahrheit Seienden und Erkennbaren überzeugende Kraft (Parmenides, DK 28 B 8, 12: p…stioj ‡scuj). Vgl. dazu Reckermann (2011) I 30  ff, insbes. 42  ff. 5  Ich zitiere nach Gorgias (ed. 1989) 40  f = Ps.-Aristoteles, De Melisso Xenophane Gorgia (MXG) 5, 1 (979 a 11  ff ). 6  Zur Form des hypothetischen Argumentierens, die den drei Kernsätzen des Gorgias zugrunde liegt, und zu ihrer Voraussetzung in der Dialektik eleatischer Philosophie vgl. Newiger (1973) 11  ff. Anmerkungen | 269

7 Zur

philosophischen Skepsis bei Sextus Empiricus vgl. Reckermann (2011) III 134  ff. 8  DK 82 B 3, Sextus, adv. math. VII 85  f. Vgl. Gorgias (ed. 1989) 50  f, MXG 6, 21  f, 980 b 1–9: »Wie nämlich auch das Sehen nicht Laute erkennt, so hört auch das Gehör keine Farben, sondern Laute. … Was nun einer nicht auffasst (™nnoe‹), wie wird er das von anderer Seite durch Rede oder irgendein Zeichen, andersartig als das Ding, auffassen, außer eben im Fall einer Farbe, sehend, im Fall eines Geräusches, hörend? Denn im Prinzip redet, wer spricht, kein Geräusch und auch keine Farbe, sondern eine Rede.« 9  Zur Unterscheidung zwischen ›dogmatischer‹ und ›undogmatischer‹ Philosophie bei Sextus Empiricus vgl. Reckermann (2011) III 145  ff. 10  Vgl. Gorgias (ed. 1989) 104  f, Test. 1 (4) mit Philostrats Charakterisierung der in Olympia vorgetragenen ›panhellenischen‹ Rede des Gorgias: »Weil er (Gorgias) nämlich Griechenland in innerem Streit befangen sah, machte er sich zum Mahner der Eintracht für sie (stasi£zousan g¦r t¾n `Ell£da Ðrîn Ðmono…aj xÚmbouloj aÙto‹j ™gšneto), indem er … sie dazu über­ redete (pe…qwn), ihre Städte nicht untereinander zum Kampfpreis der Waffen zu machen, sondern das Land der Barbaren« (DK 82, A 1, 4  ff ). 11 Gorgias, in Hel. 14: »Im selben Verhältnis steht die Wirkkraft (dÚnamij) der Rede zur Ordnung der Seele (prÕj t¾n tÁj yucÁj t£xin) wie die geordnete Zusammenstellung von Pharmaka (¹ tîn farm£kwn t£xij) zur körperlichen Konstitution. Denn wie andere Pharmaka andere Säfte aus dem Körper austreiben, und die einen Krankheit, die anderen aber das Leben beenden, so auch erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuss, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit etwas Üblem (peiqo‹ tini kakÍ)«. Zur analogen Wirkung von Rhetorik und Medizin bei Gorgias vgl. Buchheim (1985). 12 Vgl. in Hel. 13. Das Beispiel dafür sind »die Reden von Himmelskundigen, die stets – Ansicht für Ansicht (dÒxan ¢ntˆ dÒxhj), die eine wegnehmend, die andere einbildend – das Unglaubliche und Unsichtbare den Augen der Ansicht (= Meinungsbildung, AR) erscheinen lassen (t¦ ¥pista kaˆ ¥dhla fa…nesqai to‹j tÁj dÒxhj Ômmasin ™po…hsan).« 13  Vgl. Platon, Philebos 58 b: Protarchos: »Ich meinesteils, o Sokrates, habe immer vom Gorgias vielfältig gehört, dass die Kunst zu überreden vor allen anderen bei weitem den Vorzug verdiene. Denn sie mache sich alles unterwürfig freiwillig und nicht mit Gewalt und sei also bei weitem die trefflichste (makrù ¢r…sth) unter allen Künsten.« 14  Vgl. dafür Platon, Gorgias 452 d – 453 a. 15  Nur weil ich »mit mir selbst sicher weiß (sÚnoida g¦r ™mautù safîj), nichts dergleichen getan zu haben«, »weiß ich, dass der Ankläger nicht in sicherem Wissen Klage führt gegen mich« (in Pal. 5, DK 82, B 11a). Vgl. dazu Buchheim (1989) XVIIIf. 270 | Anmerkungen

16 Gorgias,

in Pal. 15: »ihr lebt mit mir zusammen – deshalb wisst ihr dies

mit.« 17  Ein gemeinsames Wissen der Wahrheit gibt es nur dort, »wo alle alles sehen und alle von allen gesehen werden« (in Pal. 12). Vgl. ebd. 22: »Du weißt etwas, weil du es gesehen hast oder beteiligt warst oder es erfuhrst von einem (Beteiligten).« Nur innerhalb des in sich geschlossenen Wahrheitsraumes gilt die parmenideische Regel der unaufbrechbaren Einheit von Sein, Denken und Sprechen (DK 28, B 6, 1 und 8, 33  ff ). 18  Vgl. Gorgias, in Hel. 5: »den Wissenden zu sagen, was sie wissen, hat … Glaubwürdigkeit«, und in Pal. 24: Man darf vor allem als Richter über Tod und Leben nur »den Wissenden trauen«, nicht denen, die lediglich »eine Ansicht hegen«. Die Erfolglosigkeit der Apologie des Palamedes (vgl. dafür im vorliegenden Buch S. 54) bestätigt den Satz, dass sich außerhalb des direkten Zusammenhangs von Sehen, Reden und Handeln nicht ›Wahrheit‹, sondern ›Meinung‹ durchsetzt. 19  Vgl. dafür Buchheim (1985) und (1989) XV. 20  Den Handlungszusammenhang berichtet Ps.-Apollodor II 23, III 15 und ep. III 7  f. 21  Die Hinrichtung des Palamedes gilt als mythisches Beispiel für einen tödlichen Justizirrtum. Sokrates hat sich darauf in seiner Apologie berufen (Platon, Apol. 41 b und Xenophon Apol. 26), um – ebenfalls vergeblich – seine Richter vor einem Fehlurteil derselben Art zu warnen. 22  Vgl. dazu Heinimann (1945) 147  ff. Die Belege, auf die ich mich in diesem Kapitel stütze, entnehme ich seiner Darstellung. Heinimann hat sie einer Tradition ›orphischen‹ Denkens zugeordnet. Vgl. dazu auch Walter Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart / Berlin / Köln / Leipzig (1977) 440  ff und ders., Orpheus und die Vorsokratiker, ­Antike und Abendland 14 (1968) 93–114. 23  Vgl. als Parallele: Euripides, Palamedes, TrGF V, ed. Kannicht 578: »Ich allein erfand ein Mittel (f£rmakon) gegen das Vergessen, indem ich Silben als Verbindungen von Konsonanten und Vokalen definierte und die Menschen die Buchstaben lehrte.« 24 Vgl. als Parallele: Aischylos, Palamedes, TrGF III, ed. Radt, 181 a: »Dann ordnete ich des ganzen Hellas wie auch der Mitkämpfer Leben, das zuvor verworren war … und Tieren gleich. Zuerst erfand die Zahl ich, die Allweise (tÕn p£nsofon ¢riqmÕn), aller Wissenschaften trefflichste« (œxocon sofism£twn). Ferner Sophokles, Nauplios, TrGF IV, ed. Radt, 432: »Sein (sc. des Palamedes) Werk ist Findung von Gewichten, Zahl und Maß; Schlachtreih’n sowohl wie Himmelszeichen lehrte er. … Auch den Feuerzeichendienst schuf er fürs Heer und wies manch Unbekanntes nach, erkannte der Gestirne Stand (mštra) und Umlaufzeit (peristfof£j), verlässliche Zeichen für die Wächter in der Nacht …« 25 Gorgias, in Pal. 30. Vgl. als Parallele: Sophokles, Palamedes, TrGF IV, ed. Anmerkungen | 271

Radt 479: »Hat er (sc. Palamedes) nicht höchst klugen Zeitvertreib ersonnen, wenn sie ruhten nach des Kampfes Müh, Heilmittel gegen Langweil, Brettund Würfelspiel?« 26  Zur Diskussion über die Autorschaft des »Gefesselten Prometheus« vgl. Conacher (1980) Appendix I, 141–174. 27  Zur Prometheus-Figur bei Aischylos vgl. Reinhardt (1949) 29  ff. 28 Aischylos, Prom. desm. 447  ff : »Vordem ja, wenn sie sahen, sahn sie ganz umsonst; / Vernahmen, wenn sie hörten, nichts, nein: nächt’gen Traums  / Wahnbildern gleich, vermengten all ihr Leben lang / Sie blindlings alles …  / Und hausten eingegraben gleich leicht wimmelnden / Ameisen in Erdhöhlen ohne Sonnenstrahl. / … ohne Verstand war all ihr Handeln.« 29  Vgl. 110: Prometheus ist nicht nur als Erfinder, sondern auch »als Lehrer aller Kunst« ein »Helfer voller Macht«. Zur ›unsystematischen‹ Liste der von Prometheus erfundenen Künste vgl. Kleingünther (1933) 66  ff. 30  Vgl. dazu Reinhardt (1949) 42  ff und Conacher (1980) 98  ff und 120  ff. 31 Vgl. Aischylos, Eum. 13. Zur Beziehung zwischen Hephaistos und Athena vgl. die Hinweise S. 300  f, Anm. 62 des vorliegenden Buches. Zu ihrer Darstellung auf dem Ostfries des perikleischen Parthenon vgl. Knell (1990) 114  f mit Abb. 178. 32  Für ein auf Athen bezogenes menschlich-stasislastiges Gegenbild zu dieser göttlich-›rechtlichen‹ Verteilung vgl. im vorliegenden Buch S. 263, Anm. 2. 33 Platon, Kritias 109 b–c: »nur dass sie nicht Körper durch Körperkraft bändigten, wie die Hirten ihr Vieh durch Schäge auf die Weide treiben, …«. 34  Von dieser Verfassung und ihrer Wirkung wird Solon von den Priestern in Sais unterrichtet. Vgl. dafür Platon, Tim. 24 a ff. Sais ist eine spätere Gründung Athenes, das aber im Unterschied zu Athen die Erinnerung an seinen göttlichen Ursprung bewahrt hat. 35  Vgl. dafür Platon, Tim. 25 c–d. 36 Platon, Kritias 109 b–110 a. Vgl. damit auch Platon, Tim. 23 b–25 b. Auch Solon muss sich deshalb über den göttlichen Ursprung Athens von den ägyptischen Priestern in Sais belehren lassen. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 56 f. und die Hinweise S. 300 f, Anm. 62 des vorliegenden Buches. 37  Vgl. dazu Horaz, Ars poetica 391–400. 38  Die Formulierung »gemeinschaftliches Gemach« überdeckt die Drastik des S. 300  f, Anm. 62 des vorliegenden Buches erwähnten Mythos. 39  Wie Hephaistos war auch die von den Athenern zuerst mit dem Beinamen »Ergane« versehene Athena (vgl. Pausanias I 24, 3) eine Schutzgottheit des Handwerks. Für diese Gemeinsamkeit vgl. auch Homer, Od. 6, 233  f. 40  Als Beispiel nennt Protagoras im Jahr 420 beim Lenäenfest aufgeführte Komödie des Pherekrates mit dem Titel »Die Wilden«. 41  Die meisten Editoren und so auch Hermann Diels übernehmen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Zuschreibung des Textes an Kritias, den führenden Kopf der Tyrannis der Dreißig. Albrecht Dihle (1977) hat sich dagegen 272 | Anmerkungen

für die Autorschaft des Euripides stark gemacht. Die Frage der Autorschaft ist jedoch für die folgende Überlegung ohne Bedeutung. 42  DK 88, B 25, 1 f. Die Vorstellung, dass das tierische Leben vom Fressen und Gefressenwerden bestimmt ist, geht zurück auf Hesiod, Erga 274  ff. Für die Vorstellung, ›dass die Menschen sich im Anfangszustand ihres Lebens gegenseitig auffraßen und bekriegten, wobei der Stärkere jeweils den Schwächeren niederzwang‹, vgl. Diodor I 90 1 und 14, 1 sowie Sextus Empiricus, adv. math. II 31  f: ¢llhlÒfagoj ¢nom…a. 43  Nach dem Referat von Sextus Empiricus (adv. math. IX 15) hat bereits Orpheus gelehrt, dass der ursprünglich ›tierische‹ und ordnungslose Zustand des menschlichen Lebens in zwei Schritten überwunden werden musste: Die »ersten Anführer« haben ›Gesetze aufgestellt, um die Übeltäter von offensichtlichen Verbrechen abzuhalten, und danach Gottheiten erfunden, die das gesamte Tun der Menschen übersehen (vgl. Hesiod Erga 248–261), damit niemand es wagen sollte, im Verborgenen Unrecht zu tun‹. Man könnte fragen, ob diese Vorstellung in der Sisyphos-Komödie parodiert werden sollte. 44  Ich folge Dihle (1977) 42. 45  B 25, 24–36: »Er behauptete, um zu sagen, was die Menschen am meisten in Schrecken versetzt, dass die Götter dort ihren Wohnsitz haben, von woher, wie er erkannte, die Ängste den Sterblichen kommen und die Hilfen für ihr mühseliges Leben, nämlich aus dem sich drehenden Gewölbe dort oben, wo er Blitze wahrnahm und das furchtbare Donnergetöse und den sternäugigen Himmelsbau, … wo die strahlende Masse des Sonnengestirns wandelt und von wo der feuchte Regen zur Erde fließt.« Vgl. dazu Klaus Döring, Antike Theorien über die staatspolitische Notwendigkeit der Götterfurcht, Antike und Abendland 24 (1978) 43–56, auch in: ders., Kleine Schriften zur antiken Philosophie und ihrer Nachwirkung, Stuttgart (2010) 9–25. 46  Zur Funktion der ›untadeligen, in einem bestimmten Zusammenhang notwendigen und deshalb löblichen, weil heilsamen Täuschung‹ bei Platon vgl. Politeia 382 c, 389 b und 414 b–c. 47 Cicero, De inventione I 2: »So missbrauchte aus Irrtum und Unwissenheit die Leidenschaft (cupiditas), die blinde und zügellose Herrin über die Seele, zu ihrer eigenen Befriedigung die Kräfte des Körpers, diese überaus verderblichen Helfershelfer.« Vgl. Cicero, De oratore I 30  ff und im vorliegenden Buch S. 261, Anm. 3 ff. 48  Nach Cicero, De legibus I 5, 16 ist der menschliche Geist (mens) »von der Natur« mit einer »Fülle wertvollster Gaben« ausgestattet, durch die er dem göttlichen Geist ähnlich ist (ebd. I 8, 25: similitido). Auf der Grundlage dieser Ähnlichkeit besteht eine natürliche Gemeinschaft (I 7, 22: societas) nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Gott. Diese Gemeinschaft (vgl. 5, 16) und nicht eine beliebige menschliche Meinung (10, 28: opinio) ist der entscheidende Grund für das Bestehen von Recht und Gesetz. 49 Cicero, De inv. I 4 und ders., De or. I 32. Anmerkungen | 273

Parallele Cicero, Pro Sestio 91. De inv. I 2: »ex feris et immanibus mites reddidit et mansuetos.« Vgl. ebd. I 2, 3 wie im vorliegenden Buch S. 261, Anm. 4. Die philosophia, der diese Leistung in den Tusculanae disputationes (V 5  ff ) zugeschrieben wird, ist die als sapientia bezeichnete »Lehrerin sowohl des richtigen Handelns als auch des in guter Weise Redens« im Sinne von De or. III 56  f. 52  Vgl. dafür Cicero, Pro Sestio 92: »Nun aber wird der Unterschied zwischen unserer verfeinerten menschlichen Lebensweise und jener rohen durch nichts deutlicher als durch den zwischen Recht (ius) und Gewalt (vis). Wollen wir das eine nicht anwenden, so müssen wir uns an das andere halten. Wir wollen, dass die Gewalt ausstirbt, also muss das Recht gelten, … . Will man keine Gerichte oder existieren sie nicht, herrscht notwendigerweise Gewalt.« 53  Vgl. dazu die Beschreibung der rhetorischen Kunst des Gorgias bei ­Cicero, De inventione I 5, 7. 54 Xenophon, Mem. I 4, 12: »Und während alle Tiere wohl eine Zunge haben, schufen die Götter allein die des Menschen derart, dass sie mal da, mal dort den Mund anschlagend die Stimme gliedert und wir einander alles mitteilen können, was wir wollen.« 55  Vgl. dafür Mem. I 2, 34. 56  Zur Kritik an der sophistischen Rhetorik vgl. Xenophon, Cyneg. 13, 1–9. 57 Die grundsätzliche Ambivalenz aller Kräfte, die bei der Gestaltung menschlicher Lebenszusammenhänge eine Rolle spielen, ist das Thema in Mem. III 8, 2–7 und IV 2, 31–36. 58  Die vorliegende Darstellung stützt sich hauptsächlich auf die wichtigste sokratische Schrift Xenophons, die ca. 370 verfassten Memorabilia Socratis. Xenophon hat diesen Text ist als posthume Verteidigung gegen die reale Anklage des Jahres 399 und die fiktive des Polykrates aus dem Jahr 393 (Sokrates als Freund des Kritias und als Gegner der Demokratie von 403) konzipiert. Vgl. dazu Dorion in: Xenophon, Mém. I 79  f. Zur Datierung der Memorabilia vgl. Dorion in: Xenophon, Mém. I, CCXL  ff. Andere sokratische Schriften Xeno­phons, wie die Apologie des Sokrates oder der Dialog Oeconomicus, werden im Folgenden nur gelegentlich herangezogen. 59 Für eine zureichende Darstellung der politischen Ethik Xenophons müsste die sokratische mit Gestaltungskräften verglichen werden, die in anderen Texten dem persischen Reichsgründer Kyros und dem Spartanerkönig Agesilaos zugeschrieben werden. Auch seine Ausführungen zur Erziehung von Jagdhunden (Cynegeticus) und zum Training für Reitpferde (Hipparchicus, De re equestri) sind metaphorische Darstellungen der ›richtigen‹ Herrschaft über andere, die auf Überzeugungskraft und nicht auf Gewalt beruht. 60  Zum Wissensbegriff Xenophons vgl. Reckermann (2011) II 7  ff. 61  Vgl. dazu Mem. I 4, 11: Die Götter »gaben zuerst allein dem Menschen unter allen Lebewesen eine aufrechte Stellung, die … doch die Möglichkeit gibt, weiter vorauszusehen und besser zu betrachten, was über uns ist.« 50 

51 Cicero,

274 | Anmerkungen

IV 3, 13: »… besonders das göttliche Wesen, welches den ganzen Kosmos mit all seinem Schönen und Guten ordnet und zusammenhält, … wird wohl als dasjenige sichtbar, welches das Größte schafft, bleibt aber in der Art und Weise, wie es das in Ordnung bringt und erhält (o„konomîn), für uns unsichtbar.« Zum Menschen und zum Kosmos als Werk »eines weisen und dem Leben freundlich zugewandten Werkmeisters« (sofoà tinoj dhmiourgoà kaˆ filozóou) vgl. ebd. I 4, 6  ff. 63  Xenophons Ethik ist insofern Ökonomik, als das richtige Erkennen, Fördern und Gebrauchen eigener Ressourcen das beste Mittel zur Selbstbereicherung ist und deshalb gewaltsame und in der Folge riskante Zugriffe auf fremde Güter überflüssig macht. Ethische Ökonomie in diesem Sinn ist auch das richtige Orientierungsmodell für die Außenpolitik Athens. Vgl. dafür Xenophon, Poroi I 1, II 1  ff und V 1  ff und die Ausführungen von Schütrumpf (1982). 64  Für gegensätzliche Zugänge zum Dialektikbegriff Xenophons vgl. Patzer (1999): ›gedankenlose Nachahmung der platonischen Dialektik‹ und Robin Waterfield, Xenophon’s Socratic Mission, in: Tuplin (Hrsg. 2004) 79–113: öffentlichkeitswirksame Erneuerung der traditionellen, von der Sophistik in Frage gestellten Normen. Zu den ethischen und erzieherischen Implikationen der Dialektik bei Xenophon vgl. Dorion (2013) 93–122: Akrasia et enkrateia dans les Mémorables (Erstdruck 2003). 65  Vgl. dazu Patzer (1999) 69  ff. 66 Xenophon, Mem. IV 6, 1. Xenophon konzipiert den Wahrheits-Raum nicht wie Gorgias als in sich geschlossenen (vgl. im vorliegenden Buch S.  52  f ), sondern als einen Raum, der nach außen geöffnet ist und deshalb andere zum Betreten einlädt. 67  Nach Dorion (2013) 93–122 (wie Anm. 64) distanziert sich Xenophon mit seiner Bestimmung der Selbstbeherrschung (™gkr£teia) und Selbstgenügsamkeit (aÙt£rkeia) als der einzigen Quelle des Guten von Platon, für den die Realisierung des Guten Teilhabe an göttlicher Weisheit voraussetzt. Vgl. dazu auch Dorion (2013) XIXff und 123–146: La nature et le statut de la sophia dans les Mémorables (Erstdruck 2008). 68  Zur Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Wissen vgl. auch Xenophon, Cyr. I 6, 44 und 46. 69  Beispiele sind agrikulturelle Tätigkeit, Hausbau, Kriegführung, politische Tätigkeit und Eheschließung (Mem. I 1, 8). 70  Ein Vorbild dafür ist die Gebetspraxis des Sokrates, der den Göttern keine konkreten Wünsche vorträgt, sondern sie »einfach« (¡plîj) bittet, »das Gute« im Vertrauen darauf zu gewähren«, dass sie »am besten wüssten, welcher Art es sei« (Mem. I 3, 2). 71  Mem. I 1, 6. Für Parallelstellen vgl. Dorion (2013) 286, Anm. 21: Socrate, le daimonion et la divination (Erstdruck 2003). 72  Zur vernünftigen Macht der Götter und zur menschlichen Kalokagathie als Voraussetzung für die Freundschaft zwischen Menschen und Göttern 62 

Anmerkungen | 275

vgl. Xenophon, Symposion IV 47  ff. Zur Sprache (fwn») und zu den Zeichen, mit denen die Götter ihren menschlichen Freunden wie Sokrates Ratschläge für ihr Tun und Lassen geben, vgl. Apol. 12. Der von den Göttern ausgehende Kreis des Guten wird dadurch kontinuierlich größer, dass Sokrates deren Ratschläge an seine Freunde weiter gibt. 73  Vgl. Xenophon, Mem. IV 7: Sokrates lehrt, »in welchem Umfange ein wahrhaft Gebildeter mit den wichtigsten Wissensgegenständen vertraut sein soll. Mit der Geometrie beispielsweise … nur so weit«, um, »falls nötig, ein Stück Land richtig vermessen, übernehmen, übergeben, verteilen oder einen solchen Vorgang bezeugen« zu können, aber nicht »bis zum Verständnis der schwierigen Figuren«, weil dann die Zeit zum Erwerb anderer nützlicher Kenntnisse fehlen würde. Nach demselben Muster definiert Sokrates die Grenzen für das Studium der Astronomie (IV 7, 4) und der Arithmetik (IV 7, 8). Insbesondere warnt er vor einem fruchtlosen Nachgrübeln darüber, wie der Gott »die Vorgänge am Himmel … eingerichtet habe, denn er glaubte, dass dies den Menschen nicht erkennbar und es den Göttern auch nicht recht sei, wenn jemand erforsche, was sie nicht offenbaren wollten«. Wer diese Grenze nicht respektiert, läuft Gefahr, »Unsinn zu reden«, und fällt deshalb wie Anaxago­ras aus der menschlichen Gemeinschaft heraus (IV 7, 6). 74  Vgl. dazu insbesondere Xenophon, Mem. IV 6, 8  f. 75  Vgl. dafür Protagoras, DK 80, B 6 a: »Über jede Sache gibt es zwei einander entgegengesetzte Aussagen.« 76  Die bei Protagoras vorausgesetzte ›Gleichwertigkeit‹ einander widersprechender Aussagen wird unter dem Begriff »Isosthenie« von der philosophischen Skepsis aufgenommen. Vgl. dafür Reckermann (2011) III 135  ff. 77 Xenophon, Mem. I 1, 13. Bei den ›normalen‹ Wahnsinnigen steht der Meinung, ›nichts sei furchtbar, die Auffassung entgegen, alles sei entsetzlich, der Meinung, man dürfe unter Menschen alles Mögliche sprechen und tun, die Meinung, man dürfe sich überhaupt nicht unter Menschen trauen, und der Meinung, nichts verdiene Ehrfurcht, die Auffassung, sogar Steine, Holzblöcke und Tiere verdienten göttliche Ehren‹. Die Struktur der Antilogie bestimmt auch die Aussagen der ›alten‹ Naturphilosophen und ist deshalb ein sprechendes Zeichen dafür, dass sie keine Wissenden, sondern wissenschaftlich aufpolierte ›Wahnsinnige‹ gewesen sind. Der Behauptung, das in Wahrheit Seiende scheine »Eines zu sein«, tritt nämlich die Meinung entgegen, es sei »der Zahl nach unbegrenzt Vieles«, während dem Satz, »alles sei in unablässiger Bewegung«, die Aussage opponiert, »nichts sei jemals bewegt«, und der Aussage, alles entstehe«, die entgegengesetzte, »nichts sei jemals entstanden oder vergangen« (I 1, 14). 78  Mem. IV 6, 15: »Homer, so meinte er (sc. Sokrates), habe Odysseus das Prädikat eines überzeugenden Redners zuerteilt, weil er es verstanden habe, seine Reden auf Gründe zu stützen, die allen Menschen einleuchten.« 79  Diese Regel gilt auch für die Außenpolitik. Vgl. dazu Xenophon, Poroi 276 | Anmerkungen

V 5  ff mit Rückblick auf den Grund (»Wohltaten« für andere Poleis statt Ausübung von Gewalt) für die innergriechische Vorherrschaft Athens zur Zeit der Perserkriege. Die spätere Missachtung dieser Regel hat zur »Erschütterung« (ebd. V 8) geführt und lang anhaltende Kämpfe um die innergriechische Vorherrschaft verursacht. 80  Die Vorgabe dafür ist Gorgias, in Hel. 10. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S.  50 f. 81  Vgl. dafür auch Xenophon, Symp. VIII 39 mit dem Lob des Perikles als bestem Ratgeber. 82  Zu den ›Zaubermitteln‹ des Sokrates und seinem darauf bezogenen subtilen Spiel mit der Hetaire Theodote vgl. Mem. III 11, 16–18. 83  Anders Olof Gigon, Kommentar zum zweiten Buch von Xenophons Memorabilien, Basel (1956) 145. 84  Vgl. dazu Dorion (2013) 219–246: Hérakles entre Prodicos et Xénophon (Erstdruck 2008). 85  Vgl. Xenophon, Mem. I 2, 23: »Mir scheint es jedenfalls so, dass alles Tüchtige und Gute der Übung bedarf, und nicht zuletzt die Besonnenheit. Denn in demselben Leibe sind der Seele die Lustgefühle miteingepflanzt und diese versuchen, sie zu überreden, nicht Maß zu halten, sondern so schnell wie möglich ihnen und dem Körper gefällig zu sein.« 86  Für den Parallelismus von Ethik und Athletik vgl. insbes. Mem. III 12 und Cyr. VII 5, 75. 87  Vgl. dafür den Kontext: Mem. I 2, 19–22. Ausgangspunkt sind die Verse des Theognis: »Treffliches wirst du von Trefflichen lernen; doch wenn du mit Schlechten Umgang hast, verlierst du deinen rechtschaffenen Sinn« (= Theognis 35  f ). Xenophon kommentiert sie folgendermaßen: »Ich bezeuge dies ebenfalls; denn ich sehe: Wie jene die Versdichtungen vergessen, die sich nicht darin üben, so geraten auch bei jenen, die sich nicht darum kümmern, die Lehren der Lehrer in Vergessenheit; wenn aber jemand die Vernunft begründenden Lehren vergisst, dann hat er auch vergessen, unter welchen Einflüssen die Seele nach Besonnenheit verlangt hat; wenn man aber dies vergisst, dann wundert es auch nicht mehr, dass die Besonnenheit selbst in Vergessenheit gerät.« 88  Vgl. exemplarisch Xenophon, Cyr. I 5, 9: »Ich glaube, kein Mensch würde auf Dauer große Leistungen erbringen, wenn ihm seine Tüchtigkeit keine Vorteile gegenüber den Untüchtigen einbrächte.« 89  Vgl. dafür Xenophon, Cyr. I 5, 9: »Wer ein tüchtiger Redner werden will, tut dies nicht in der Absicht, sein Leben lang gute Reden zu halten, sondern weil er sich davon, dass er mit seiner Redekunst viele Menschen beeinflusst, große Vorteile erhofft.« 90  Vgl. Xenophon, Cyr. III 1, 20. 91  Gäbe Herakles dieser Rede nach, gliche er dem Tyrannen, der »herrschen will, um die Möglichkeit eigener Bereicherung zu haben«, deshalb ›anAnmerkungen | 277

deren Gewalt antut‹ und als Unrechtstäter außerstande ist, »sich mit anderen zu vertragen« (Xenophon, Mem. II 6, 24). 92  Vgl. dazu Xenophon, Cyr. VII 5, 74: »Wenn wir uns der Leichtlebigkeit und dem Sinnesrausch von Schwächlingen ausliefern, die glauben, dass Anstrengung Unglück und das Leben ohne Mühe Glück bedeuten, dann … werden wir uns selbst bald widerlich vorkommen und schnell unseren ganzen Besitz wieder verlieren.« 93  Zu der im antiken Denken weit verbreiteten (vgl. exemplarisch Gorgias, in Pal. 18 und Platon, Menon 71 a) und in aller Offenheit ausgeprochenen Maxime, den Freunden zu nutzen und Feinden zu schaden, vgl. auch Xenophon Mem. II 3, 14; II 6; 35 und IV 2, 15  ff. 94 Xenophon, Symp. 4, 13: »Der Starke muss sich durch Mühsal, der Tapfere durch Gefahren, der Kluge (Ð sofÒj) durch Reden das Gute erwerben; der Schöne hingegen erreicht alles, indem er Ruhe hält.« 95 Xenophon, Oec. XXI 8: »Eben die nennt man … besonders verständig, denen viele aus Einsicht folgen. Und von dem kann man … sagen, er ziehe mit großer Mannschaft einher, dessen Einsicht viele Männer dienen wollen. Und wirklich groß ist, wer Großes eher aufgrund seines Verstandes als durch Gewalt erreicht.« 96 Xenophon, Oec. XXI 10 »wen … jeder Arbeiter nur sehen muss, um in Bewegung gebracht und von Einsatzfreude, Wetteifer mit anderen und Ehrgeiz, der stärksten Triebfeder für den einzelnen, erfasst zu werden, von dem würde ich behaupten, er besitze etwas vom Wesen eines Königs.« Man erkennt in dieser Beschreibung die Wirkungsform der Schönheit und des Eros, der im Streben nach der Verbindung mit dem Schönen besteht (vgl. dafür die Anm. 94). 97 Xenophon, Mem. IV 2, 11. Vgl. dafür Dorion (2013) 147–169: Socrate et la basilikê tekhnê (Erstdruck 2004). 98 Xenophon, Hieron XI 12: »Du fändest freiwilligen Gehorsam bei deinen Untergebenen und sähest sie freudig bereit, für dich zu sorgen; und wenn eine Gefahr bestünde, sähest du sie nicht nur mit dir, sondern aufopferungsvoll für dich kämpfen«. Zur Unterscheidung zwischen königlicher Regierung, »die dem Willen des Volkes und den politischen Gesetzen entspricht«, und der Tyrannis, die »gegen den Willen des Volkes und nicht nach den Gesetzen erfolgt«, vgl. Mem. IV 6, 12. Zu dieser Unterscheidung vgl. auch Donald Morrison, Tyrannie et Royauté selon le Socrate de Xénophon, Les Études philosophiques 2 (2004) 177–192. 99  Zur politischen Position Xenophons vgl. Ernst Badian, Xenophon the Athenian, in: Tuplin (Hrsg. 2004) 33–53 sowie Gray (2010) 12  f und 19  f. 100  Xenophon plädiert deshalb für die Einbindung der aristokratischen Elite in die (aristokratisch aufgebesserte) demokratische Polis. Vgl. dazu Gray (2010) 14 und Philippe Gauthier, Le programme de Xénophon dans les Poroi, RPh 58 (1984) 181–199. Musterbeispiel des an die Polis gebundenen Aristokra278 | Anmerkungen

ten ist Sokrates, der als »Freund des Volkes und aller Menschen« (Mem. I 2, 60) Bürger und Fremde in seinen Kreis aufnahm und »allen reichlich von dem Seinigen mitteilte«. 101 Xenophon, Mem. 2, 24. Für ein ähnliches Bild von Alkibiades vgl. Platon, Alc. maior 119 a–122 a. 102 Xenophon, Cyr. I 2, 2. Für Xenophon ist der »schöne« Kyros auch der überzeugend redende Herrscher, der freiwilligen Gehorsam findet, so dass in dem Bild, das er von ihm zeichnet, affektiv und reflexiv fundierte Überzeugungskraft zusammenwirken. Die dritte Komponente der ›königlichen Kunst‹ ist natürlich die politisch kontrollierte ›kriegerische Kunst‹. Nach Xenophon erwirbt Kyros seine Herrschaft in Persien zwar mit ›Gewalt‹, stellt seine Politik aber danach so weit wie möglich auf Menschenfreundlichkeit um. 103 Kritias verkörpert die Politik offener Gewalt und zugleich ihre expansive Kraft, weil sie nicht nur selbst Unrecht tut, sondern auch ›viele zum Unrecht veranlasst‹ (I 2, 32). Immerhin hat der Demos selbst die Dreißig Tyrannen gewählt (Xenophon, Hell. II 3, 2) und nach der Etablierung ihrer Herrschaft die von Kritias beantragten Todesstrafen »gern« verhängt (ebd. II 3, 12). 104  I 2, 14: »Sie wussten, dass Sokrates alle, die sich mit ihm unterhielten, im Gespräch dahin lenkte, wohin er wollte«. 105  Vgl. I 2, 15: Alkibiades und Kritias wollten durch den Umgang mit Sokra­tes »besonders geschickt im Reden und Handeln« werden (I 2, 15). Vgl. dazu auch I 2, 39: Sie sind zu Sokrates gegangen »nicht, weil er ihnen zusagte, sondern weil beide gleich von Anfang an danach gestrebt haben, in der Polis die Ersten zu sein«. 106  Vgl. I 2, 24 und Xenophon, Hell. II 3, 36. 107  Der jüngere Perikles ist im Jahre 406 als Stratege in der Seeschlacht bei den Arginusen zusammen mit fünf Amtskollegen nach einem rechtswidrig geführten Prozess hingerichtet worden. Die Anklage hatte ihnen vorgeworfen, nach dem Sieg weder die Gefallenen geborgen und bestattet noch die über­ lebenden Schiffsbrüchigen gerettet zu haben. Für dieses Versäumnis konnten sich die Aneklagten zu Recht auf höhere Gewalt (Unwetter) berufen (vgl. Xenophon, Hell. I 6, 29  ff und I 7). Nach der übereinstimmenden Darstellung von Xenophon (vgl. Hell. I 7, 15, Mem. I 1, 18, IV 4, 2) und Platon (Apol. 32 b) war Sokrates der einzige, der dem Todesurteil des Volksgerichts nicht zugestimmt hat. 108 Xenophon, Mem. III 5, 10: t¾n tîn qeîn kr…sin, ¿n oƒ perˆ Kškropa di’ ¢ret¾n œkrinan. Xenophon umschreibt diesen ›Kreis‹ mit derselben Formel wie den um Sokrates (vgl. Mem. IV 3, 1) und spielt damit auf die Definition der Dialektik als gemeinschaftlicher Untersuchungspraxis an (vgl. im vorliegenden Buch S.  67). Im politischen Mythos Athens hat Kekrops durch die Erfindung der Buchstabenschrift Attika »aus dem Zustand der Wildheit (¢griÒthj) in den der Zahmheit (¹merÒthj) geführt« (Schol. 773 d zu Aristophanes, Plutos, Cicero, De legibus 2, 63). Zu diesem Zweck hat er die 12 Städte Anmerkungen | 279

des Landes zu einem einzigen Herrschaftsgebiet zusammengefasst (Philochoros = FGrH 328, 94 = Strabo IX 1, 20 und Schol. 773 b zu Aristophanes, Plutos) und Gesetze zur Monogamie und zum Totenkult erlassen. 109  Nach Ps.-Apollodor haben die Zwölf Götter Athen aufgrund einer bewusst falschen Zeugenaussage des Kekrops in den Kultbesitz Athenes gegeben (III 179). Bei Xenophon wird der Streit zwischen Athene und Poseidon ›gerecht‹ entschieden, nämlich durch das Urteil der aristokratischen Berater eines tugendhaften Königs. Zur Darstellung dieser Entscheidung auf dem Westgiebel des perikleischen Parthenon vgl. Knell (1990) 115–118. 110  Bei Euripides will Eumolpos seinem Vater verschaffen, was ihm das Urteil der Zwölf Götter verweigert hat. Vgl. dazu Oliver Primavesi, König zwischen zwei Göttern: Die Erechtheus-Tragödie des Euripides, in: Brinkmann (Hrsg. 2016) 109  ff. Die von Sokrates genannten exempla virtutis waren den Athenern nicht nur als Topoi der Gefallenenrede (vgl. Aristoteles, Rhet. II 22, 1396a 12  ff ) und aus dem Kult, sondern auch aus bildhaften Darstellungen in und an den Heiligtümern ihrer Stadt bekannt. 111 Xenophon, Mem. III 5, 3. Für ein ähnliches Argument bei Isokrates vgl. im vorliegenden Buch S. 89. 112  Vgl. Xenophon, De re publica Lacedaemoniorum XIV 1 und 5. 113  Sokrates nennt als Beispiele die Schifffahrt, gymnastische Wettkämpfe, das Auftreten von Festchören und den Gerechtigkeitssinn, den die Bürger dem Areopag in Erinnerung an seine altbewährte Tüchtigkeit zugestehen (III 5, 18  ff ). 114  Auch die in der Literatur kontrovers diskutierten Dialoge zwischen dem jungen Alkibiades und Perikles (Mem. I 2, 40  ff ) und zwischen Sokrates und Hippias identifizieren das Gerechte mit dem gerechten Gesetz. Vgl. dazu Dorion (2013) 51–92: L’exégese straussienne de Xénophon: le cas paradigmatique des Mémorables IV 4 (Erstdruck 2001). Für Xenophon ist ein Gesetz, das Unrecht gebietet, ›Befehl‹ und damit Gewalt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn der Machthaber seinen ›Befehl‹ als ›Gesetz‹ bezeichnet. 115  Vgl. Quintilian, 3, 1, 13; Plutarch, Vitae decem oratorum IV (Moralia 836 F). 116  Eucken (1983) hat die begrifflichen Grundlagen des isokratischen Denkens und dessen Selbständigkeit gegenüber den Sokratikern, insbesondere Antisthenes, aber auch gegenüber Platon und Aristoteles sowie seine Distanz zur rhetorischen Normalpraxis (Alkidamas, Sophistik) herausgearbeitet. Da inzwischen wichtige Reden in kommentierten Ausgaben vorliegen, kann man sich über den gegenwärtigen Stand der Isokrates-Forschung leicht informieren. Vgl. dafür neben Zajonz (2002), Roth (2003), Too (2008) und Böhme (2009) auch Niall Livingstone, A Commentary on Isocrates’ Busiris, Leiden / Boston / Köln 2001 und Evangelos Alexiou, Der Euagoras des Isokrates. Ein Kommentar, Berlin / New York 2010. Einen besonderen Hinweis verdient die Arbeit von Buchner (1958) zum Panegyrikos. Für die ältere Forschung vgl. 280 | Anmerkungen

Friedrich Seck (Hrsg.), Isokrates. Wege der Forschung 351, Darmstadt 1976, für die neuere Orth (Hrsg. 2003). Zu erwähnen sind außerdem die Monographien von Sylvia Usener, Isokrates, Platon und ihr Publikum. Hörer und Leser im 4. Jahrhundert v. Chr., Tübingen 1994 und Yun Lee Too, The Rhetoric of Identity in Isocrates. Text, Power, Pedagogy, Cambridge / New York / Melbourne, 1995. Zur Isokrates-Rezeption in der Politikwissenschaft vgl. Vivien J. Gray, Xenophon and Isocrates, in: Christopher Rowe / Malcolm Schofield (Hrsg.), The Cambridge History of Greek and Roman Political Thought Cambridge (UK) 2000, 142–154 und Ottmann (2001) 1/2, 238–245 und 252  f. 117  Isokrates, 3, 2: »Wir erweisen den Göttern Ehre, üben Gerechtigkeit und alle anderen Tugenden nicht, um gegenüber anderen im Nachteil zu sein, sondern um ein Leben auf der Grundlage möglichst vieler Güter zu führen.« 118  Ebd. 4: »Es ist nicht richtig, die Schlechtigkeit der Menschen auf diese Güter (sc. Reichtum, Körperkraft, Tapferkeit, Redekunst, Philosophie) zu übertragen, man muss vielmehr denjenigen Vorwürfe machen, die mit diesen Gütern schlecht umgehen und versuchen, ihren Mitbürgern mit dem, was an sich nützlich ist, Schaden zuzufügen.« Vgl. dazu S. 262, Anm. 14. 119  3, 5–9 = 15, 253–257. 120  Isokrates 15, 268. Vgl. damit auch 10, 3: »Wie könnte nämlich jemand den Gorgias übertrumpfen, der zu behaupten wagte, es gebe nichts der seienden Dinge, oder Zenon, der versuchte, das Gleiche als möglich und unmöglich aufzuzeigen, oder Melissos, der trotz der unbestimmten Vielzahl der Dinge Beweise dafür zu finden suchte, dass das Ganze eines sei.« 121  Es ist ein verbreiteter Topos der Forschung, dass Isokrates die hauptsächlich von Platon begründete Unterscheidung zwischen Philosophie und Rhetorik nicht akzeptiert hat. »Vernunft« meint deshalb bei ihm die Fähigkeit, sich mit sich selbst und mit anderen über die wichtigsten Angelegenheiten des menschlichen Zusammenlebens zu beraten und auf dieser Grundlage zu handeln. Zum vor-platonischen Philosophiebegriff, mit dem Isokrates an die Umgangssprache anknüpft, vgl. Eucken (1983) 6–18 und Böhme (2009) 21  ff. 122  Vgl. dazu Isokrates, 10, 3; 12, 26 und 15, 266–269. 123  Vgl. dazu vor allem Isokrates, 10, 1. Zur Bedeutung der figura paradoxos, die eine vom Gewohnten und Üblichen abweichende Meinung glaubhaft machen will, vgl. Lausberg (1960) I 58, § 64, 3. 124  Vgl. dazu Isokrates 10, 8–12. Zu seiner Kritik an der Philosophie und Rhetorik seiner Zeit vgl. Eucken (1983) 44  ff. 125  Vgl. Isokrates 15, 283  ff und Too (2008) 15  ff. Isokrates 13, 20 nennt diese Redner »Lehrer des sich in alles Einmischens und der Gewinnsucht« (po­ lupragmosÚnhj kaˆ pleonex…aj did£skaloi) und nimmt damit Schlagworte aus der Kritik an der thalassokratischen Politik Athens auf (vgl. dafür im vorliegenden Buch S. 112). Zu seiner Kritik an den ›heutigen‹ Volksrednern vgl. 8, 36, 72 und 121  ff. 126  Isokrates 15, 231. Exemplarisch für dieses Selbstverständnis sind neben Anmerkungen | 281

der Antidosis-Rede die or. 13 (Contra Sophistas) und die Prooemien zu or. 10 (in Helenam) und 12 (Panathenaicus). Aus gesundheitlichen Gründen konnte Isokrates nicht selbst als politischer Redner auftreten. Vgl. dazu 12, 9  ff f. 127  Die vorliegende Darstellung gilt den normativen Voraussetzungen des Politikverständnisses von Isokrates und nicht der Frage nach dem politischen Wert der konkreten Ziele, für die er sich im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit eingesetzt hat. Vgl. dazu vor allem Bringmann (1965) und Dieter GrieserSchmitz, Die Seebundpolitik Athens in der Publizistik des Isokrates. Eine quellenkritische Untersuchung vor dem Hintergrund realer Prozesse, Bonn 1999. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang auch die Beiträge von Uwe Walter, Isokrates metanóôn? Traditionen athenischer Kriegs- und Außen­politik bei Isokrates, in: Orth (Hrsg. 2003) 78–94 und Michael Weißenberger, Isokrates und der Plan eines panhellenischen Perserkrieges, in: Orth (Hrsg. 2003) 95–110. 128  Isokrates 15, 48. Zum isokratischen Philosophiebegriff als Anknüpfung an die überlieferte aristokratisch geprägte Weisheitslehre vgl. Eucken (1983) 14  ff. 129  Isokrates 15, 46  ff und 12, 2. Zu dieser Stelle und zum Topos vom altersbedingten Abschied von der dichterisch geschmückten Rede vgl. Roth (2003) 73  ff. 130 Der Panegyrikos (or. 4), die erste politische Rede des Isokrates, bezieht sich auf die politischen Entwicklungen nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges: Sparta hat nach der Niederlage Athens mit allen Mitteln seine innergriechische Vormachtstellung behaupten und ausbauen wollen. Die Niederlage seiner Seestreitmacht bei der Insel Knidos durch die vom Athener Konon befehligte persische Flotte (394) hat dem jedoch einen Riegel vorgeschoben und Athen die Chance geboten, die eigene Macht vorsichtig wieder aufzubauen (vgl. dazu: 5, 62  f, und 9, 68). Sparta hat sein früheres Ansehen als Vorkämpfer griechischer Freiheit durch seine Gewaltpolitik und den so genannten Königs- oder Antalkidas-Frieden (387/86) verspielt, der die griechischen Städte Kleinasiens und Zypern der Herrschaft des Großkönigs unterstellt hat (vgl. dazu 4, 122, 179; 8, 68; 12, 105  ff und ep. 9, 8  f ). Im Panegyrikos plädiert Isokrates für eine Beendigung der innergriechischen Streitigkeiten und einen Krieg gegen Persien unter der kooperativen Führung Athens, das von Sparta unterstützt werden soll (vgl. 4, 172  ff ). Er folgt damit Vorstellungen des 5. Jahrhunderts, die von der Erinnerung an Marathon, Salamis und Plataiai geprägt sind. 131  Zur Datierung des Textes (ca. 600) vgl. Kleingünther (1933) 6, Anm. 3. 132  Vgl. Isokrates 4, 9 und 30  f : »Was aber ist glaubwürdiger als das, wofür die Gottheit selbst ihre Stimme erhebt, worin viele Griechen einer Meinung sind, worin alte Erzählungen gegenwärtige Bräuche bestätigen und heutige Ereignisse mit den Erzählungen der Menschen aus jenen Zeiten übereinstimmen?« 282 | Anmerkungen

133  Isokrates

orientiert sich für die Beschreibung des anomischen »Anfangs« der griechischen Welt an Thuk. I 2 und I 5–6,2. Vgl. dazu auch Isokrates 12, 43  f und 166. 134  Ps.-Homer, Hymnus 2, 478  ff : »Selig wer dies sah von den erdbewohnenden Menschen! Wer uneingeweiht, nicht Teil hat, dem kommt ein gleiches Schicksalslos nie zu, er schwindet in düsterem Moder«; ebd. 486  ff: »Hochselig die erdbewohnenden Menschen, denen die beiden (Demeter und Persephone) sich gütig und liebend erzeigen.« Ähnlich Pindar, Fr. 137 (Snell): »Selig, wer dies sah, bevor er unter die Erde ging, weiß er doch des Lebens Ende, weiß auch den von der Gottheit gegebenen Anfang.« Zum eleusinischen DemeterKult vgl. Simon (1985) 97  ff. Dass Isokrates mit seinen Ausführungen zum Demeter-Mythos nicht seiner eigenen Phantasie folgt, zeigt die Integration des Demeter-Kultes in den Kult Athens. Vgl. dafür Deubner (1932) 40  ff und Walter Burkert, Homo Necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin / New York (1997) 162  ff und 293  ff. 135  Isokrates 4, 28 ist eine Antwort auf die in der vorhergehenden Anm. zitierten Seligpreisungen: Denen, die ihr in der Not Gutes tun, schenkt Demeter »Feldfrüchte, denen wir … verdanken …, dass wir nicht wie wilde Tiere leben, und die Mysterien, die den Eingeweihten für ihr Lebensende und für die gesamte Ewigkeit süßere Hoffnungen gewähren.« 136  Isokrates 4, 32 bezeichnet die Athener als Erstbewohner der Erde: oƒ prètoi fanšntej ™pˆ gÁj. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 139 mit Anm. 62. 137  Isokrates leitet 4, 31 aus dieser »Wohltat« die Sitte ab, »dass die meisten Poleis … uns Jahr für Jahr die Erstlingsfrüchte des Getreides schicken.« Im delisch-attischen Seebund ist daraus (ca. 416/15) eine allgemeine Abgabe-Verpflichtung geworden, die mit einer auf Athen zentrierten Variante des Mythos von Demeter und Triptolemos begründet wurde. Vgl. dafür Smarczyk (1990) 167  ff und 224  ff. 138  Vgl. 4, 34: »Während die Barbaren das meiste Land besaßen, waren die Griechen auf ein kleines Gebiet beschränkt, unternahmen gegenseitige Kriegszüge, und ein Teil der Bevölkerung kam durch Mangel am Notdürftigsten für das Leben um, ein Teil starb durch den Krieg.« 139  Zur Bedeutung des Verhältnisses von Gabe und Gegengabe im Zusammenhang mit dem Konzept der Bürgerfreundschaft vgl. im vorliegenden Buch S. 43 f, 70, 89 f und 107 f. 140  Vgl. dazu Isokrates 4, 1  f mit der Klage, dass die Erfinder panhellenischer Festversammlungen außerhalb Athens nur »körperliche Vorzüge«, aber nicht die Personen auszeichnen, »die sich in Eigeninitiative für das Gemeinwohl eingesetzt und ihre geistigen Fähigkeiten auch zum Nutzen für andere ausgebildet hätten«. Vgl. dafür auch 15, 295. 141  Vgl. dazu Ottmann (2001) I 2, 240. 142  Nach Isokrates besteht »die stärkste Kraft der Philosophie« (1, 4) in einer »Sorge um die Seele«, die zum kontinuierlichen »Besitz der Tugend« führt Anmerkungen | 283

und damit das, »was anderen unmöglich ist, möglich« und das, »was der großen Masse … Furcht erregend erscheint«, erträglich macht (1, 6  f ). Philosophie ist deshalb im Kern Erziehung zur »Selbstbeherrschung« (1, 21), in der man »Herr über seine Freuden und Leiden« wird und deshalb »im Unglück nicht allzu niedergeschlagen ist, sondern sich tapfer und würdig unserer allen gemeinsamen menschlichen Natur verhält«, und im Glück »sich nicht selbst vergisst oder hochmütig wird«. Vgl. dazu auch 12, 31  f: »Wer seine Seele so gebildet hat, … ist ein verständiger und vollkommener Mensch und im Besitz aller Tugenden.« 143  Vgl. dazu die Beschreibung der auf Interaktion ausgerichteten Sozialform des Lehrens und Lernens bei Isokrates 15, 188. 144  Der Deutlichkeit halber zitiere ich an dieser Stelle aus der Antidosisrede or. 15, 293: Ihr (sc. die Athener) »überragt alle anderen Menschen darin, worin sich das Wesen der Menschen von allen übrigen Lebewesen und das Geschlecht der Griechen von dem der Barbaren unterscheidet: Ihr seid im vernünftigen Denken und in der Redekunst besser erzogen als die anderen.« Der Sache nach behauptet die Panegyrikos-Rede dasselbe: »Athen hat auch die Kunst der Rede hochgeschätzt. … Denn unsere Polis wusste wohl: Unter allen Lebewesen besitzen allein wir Menschen diese Fähigkeit als spezielle Gabe der Natur«. Die besten Redner »haben nicht nur in ihrer eigenen Polis großen Einfluss, sondern finden auch bei anderen große Anerkennung. Unsere Polis hat im Denken und Reden (tÕ frone‹n kaˆ lšgein) alle anderen Menschen so weit übertroffen, dass die Schüler Athens Lehrer der anderen geworden sind (= Anspielung auf Thuk. II 41, 1: Athen als ›Schule‹ von Hellas, AR)« und der Name ›Hellene‹ nicht mehr ein Volk, sondern eine Denkweise (di£noia) bezeichnet« (4, 47–50). 145  Zur Verwirklichung ›guter Herrschaft‹ als Monarchie vgl. die Reden Euagoras, Busiris und Nikokles. ›Gute Herrschaft‹ kommt zustande, wenn ein »wohlberatener, volksfreundlich gesonnener« Herrscher über den besonderen Verfassungsformen steht und deshalb aus jeder »das Beste« auswählt (9, 46). Vgl. dafür auch das Lob der ›gemischten‹ Herrschaft: 1, 5–13 und 2, 15–24. Während sich Oligarchien (Gleichheit der Besten) und Demokratien an der arithmetischen Gleichheit (Gleichheit aller Bürger) orientieren, folgt die »milde und gerechte« Monarchie der Regel geometrischer Gleichheit, die »den Besten den höchsten, dem Nächstbesten den zweiten und allen übrigen entsprechend dem gleichen Verhältnis den dritten und vierten Rang« einräumt (3, 14  ff ). 146  Isokrates definiert die Qualitäten guter Herrschaft unter monarchischen Vorzeichen: 9, 26: Ðs…wj kaˆ dika…wj labe‹n t¾n ¢rc»n; 9, 43: qeofilîj kaˆ filantqrèpwj dièkei t¾n pÒlin. 147  Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 61  f. 148  Vgl. dafür 4, 54  ff und 12, 168  ff. 149  Isokrates formuliert dieselbe Regel wie Platon, Politeia 469 b–c. 284 | Anmerkungen

150  Zur

politischen Bedeutung der »Frömmigkeit« vgl. 2, 20: »Betrachte es als das schönste Opfergeschenk und die größte Huldigung für die Götter, wenn du dich selbst (sc. als Herrscher) als möglichst gut und gerecht erweist. Wer dies tut, hat bessere Aussichten, von den Göttern Gutes zu erfahren, als alle, die viele Opfertiere schlachten.« Frömmigkeit verlagert sich vom äußeren Kultvollzug auf die innere Einstellung, die jedoch nicht reiner Selbstbezug, sondern zugleich ›Gabe‹ ist, die nach außen wirkt und einen Zusammenhang des Guten herstellt. 151  Andere Beispiele ›guter Herrschaft‹ (Agamemnons Hegemonie im trojanischen Krieg: 12, 76  ff, die Alleinherrschaft des Euagoras auf Zypern: 9, 43  ff ) bleiben in der vorliegenden Darstellung außer Betracht, weil sie zum begrifflichen Konzept ›guter Herrschaft‹ nichts Zusätzliches beitragen. 152  Vgl. dafür das Kapitel III A des vorliegenden Buches. 153  Vgl. dazu die Ausführungen von Jean-Pierre Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, Frankfurt am Main (1982) 34  f (dt. Übersetzung von Mythe et société en Grèce ancienne, Paris 1981) zur Einheit von politischer und militärischer Funktion. Zentrum dieser Einheit war die Volksversammlung, die in militärischer Funktion nur eine andere Konkretionsform annahm (»Volksversammlung unter Waffen«), während die im engeren Sinne politischen Rechte der Bürger direkt vom Beitrag des Einzelnen zur Verteidigung der Polis abhängig waren. Man könnte diese Beobachtung Vernants ergänzen, indem man die Einheit von politischer und militärischer Funktion um die von richterlicher und kultischer Funktion erweitert. Die Heliaia ist die Volksversammlung im Gericht (vgl. dazu im vorliegenden Buch S.  299, Anm.  49), während sich im Kult das Volk versammelt, um das Verhältnis zu den Göttern zu pflegen. 154  Vgl. dazu auch Platons Kritik am moralischen Zerfall einer Polis, die sich in der ›kriegerischen Kunst‹ auf Seesoldaten stützt: Nomoi IV, 706 c – 707 d. 155  Vgl. Isokrates 12, 114  ff. Vgl. dazu unten S. 103. 156  Vgl. Isokrates 12, 177  ff. Sparta ist in der Konstruktion des Isokrates fast immer der Ort eines ›räuberischen‹ Ethos. Vgl. dafür auch die Zitate in der folgenden Anm. 157  Isokrates 12, 53–100 stellt die »Verbrechen« einander gegenüber, die Athen und Sparta in der Periode ihrer jeweiligen Hegemonie begangen haben. Wegen ihres ›besseren‹ Ethos sind die der Athener geringfügiger. Außerdem haben sie länger an ihrem alten Ethos festgehalten, während Sparta nach der Übernahme der Seeherrschaft sofort und in großem Stil Gewaltpolitik betrieben hat. Natürlich ist dieser Vergleich eine Konstruktion, die jedoch nicht nur einfach vor Gewaltpolitik warnen, sondern auch kritisch auf ihre Voraussetzungen hinweisen will. Für die historischen Details vgl. Roth (2003) 116  ff. 158  Zur Datierung und zum Titel vgl. Roth (2003) 71. 159  Vgl. dafür Isokrates 5, 129  ff zur Situation Athens. Die griechischen Städte haben insgesamt den Charakter einer Polis verloren, weil sie ausAnmerkungen | 285

schließlich »ihren eigenen Vorteil suchen« und »einander« nicht mehr »gleiche Rechte zugestehen« (5, 39). Vgl. ebd. 45: Sie »kümmern sich weder um frühere Feindschaft (sc. mit Persien, AR) noch um eidliche Versprechungen oder irgendetwas anderes, es sei denn, sie hielten das für ihren eigenen Vorteil«. Die thukydideische Pathologie des Krieges ist als das literarische Vorbild für diese Beschreibungen erkennbar. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 226 ff. 160  Vgl. dazu Isokrates, or. 5 (346 v. Chr. ) sowie ep. 2 (344 v. Chr.) und ep.  3 (338 v. Chr.). Für Isokrates kann nur noch Philipp II. die miteinander zerstrittenen griechischen Stadtstaaten einigen, ihre Kollaboration mit Persien beenden, den Expansionsdrang der ›barbarischen‹ Gegenmacht eindämmen und den Wirkungsraum griechischer Rechtlichkeitspolitik erweitern. 161  Zur athenischen Königsliste bei Isokrates vgl. Roth (2003) 156. 162  Vgl. Isokrates 12, 130: Trotz ihrer Unerfahrenheit in der Wahl von Verfassungen hatten die Athener aufgrund ihrer Erziehung so viel Vernunft (di£noia), dass sie sich ohne Diskussion für die »nach allgemeiner Ansicht … gemeinnützigste, gerechteste, … für alle vorteilhafteste und … angenehmste« entschieden haben. 163 Im Panathenaikos steht am Anfang des Lebens bei Barbaren und Griechen nicht die Anomie, sondern die Monarchie. In Athen waren Könige und »Volk« tugendhaft (»die vernünftigsten und mildesten Menschen«), während die Könige außerhalb Attikas (Argos, Theben) eher das ›tierische‹ Leben verkörpert haben (Mord an Familienangehörigen und Fremden, Inzest, Verzehr und Aussetzung eigener Kinder etc.). Weil die Athener »ihre politischen und privaten Angelegenheiten so fromm und schön« geregelt haben, »wie es einem Volk anstand, das von Göttern abstammte«, haben sie »als erste eine Polis bewohnt und nach Maßgabe von Gesetzen gelebt«. Die üblichen Hinweise auf die Autochthonie und die ethnische Homogenität der Athener schließen sich an (12, 121–126). 164  Vgl. dazu Eucken (1982) 52  ff. 165  Isokrates folgt in diesem Punkt Platons Sokrates, wenn er betont, »dass der wahre Gesetzgeber« sich weder in einem schlechten noch in einem guten Staat mit detaillierten gesetzlichen Regelungen befassen soll, »in dem einen, weil sie unnütz sind und nichts dabei herauskommt, in dem andern, weil einiges davon wohl jeder finden kann, anderes aus den bestehenden Einrichtungen von selbst folgt« (Platon, Politeia 427 a). 166  Vgl. Isokrates 7, 14. Man erkennt an dieser Formulierung die elementare Bedeutung der Politik für die menschliche Daseinssicherung, die insofern »Philosophie« im Sinne des Panegyrikos ist. 167  Zur Bedeutung der Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen der Herrschaft vgl. Buchner (1958) 40  f. 168  Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 105 und 112 f. 169  Vgl. dazu die Beschreibung des Anfangs dorisch-spartanischer Politik (12, 177–184), die als Kontrastbild zu den Anfängen Athens konzipiert ist: Die 286 | Anmerkungen

Dorer sind mit Gewalt in die Peloponnes eingedrungen und haben »recht­ mäßigen Besitzern« Land weggenommen. Bei der Gestaltung ihrer Herrschaft waren sie »uneins (stasi£sai) wie sonst kein Volk unter den Griechen«. Ihre Aristokraten haben nur unter sich »Rechtsgleichheit« („sonom…a) eingeführt, aber »das Volk« durch Versklavung »aller Rechte beraubt, an denen … freie Menschen Anteil haben sollten«. Zudem trägt das »Volk« bei der Kriegsführung »die Hauptlast der Gefahren«, genießt aber in Friedenszeiten keinen Rechtsschutz, so dass die Ephoren »ohne Gerichtsurteil« die Todesstrafe verhängen können. »Kämpfe gegen die (sc. rechtlos gemachte) Masse« der Heloten gelten sogar als »gottgefällig und gut«, so dass das Leben in Spartas Herrschaftsgebiet »einem beständigen Kriegszustand« gleicht (188). Spartas Herrschaft über die Peloponnes beruht deshalb allein auf Furcht (46  f ). Für ein freundlicheres Bild von den Anfängen Spartas vgl. Isokrates 4, 61  ff; 6, 16  ff und 24  ff und 12, 253  ff. 170  Isokrates 8, 28  ff : »Alle Menschen sind meiner Meinung nach auf ihren Vorteil bedacht und wollen mehr haben als alle anderen« und 15, 217: »Alle Menschen tun alles, weil sie entweder mehr Lust, größeren materiellen Gewinn oder mehr an Ehre haben wollen.« 171  Vgl. dafür Meier (1991) 34: Während die Gesamtzahl der Marathonkämpfer (Hopliten, Reiter) 9.000 Personen betrug, bestand die zwischen 483 und 480 aufgebaute Trierenflotte aus 200 Schiffen mit je 200 Ruderern. Der Personalbedarf für den gesamten Kriegsapparat war natürlich deutlich größer. Um 500 haben sich unter den insgesamt 250.000 Einwohnern Attikas (darunter 30–50.000 Frauen und 60–100.000 Kinder) nur 30–50.000 erwachsene männliche, aber nicht ausnahmslos kriegstaugliche Bürger befunden. Die Zahl der Metöken wird auf 10–30.000 geschätzt. Zur Diskussion über Größe und Zusammensetzung der Bevölkerung Attikas um 500 vgl. Bleicken (1995) 546  ff. Für die hier angeführten Zahlen vgl. Josiah Ober, Das antike Griechenland. Eine neue Geschichte, Stuttgart (2016) 239, Abb. 7. 1 (dt. Übers. von The Rise and the Fall of Classical Greece, Princeton (N. J.) / Woodstock (Oxfordshire) 2015). 172  Vgl. dafür 7, 24  ff und die Ausführungen im vorliegenden Buch S. 107  f zur integralen Arbeitsgesellschaft des isokratischen Alt-Athen. 173  Vgl. 4, 150  ff. Die Perser sind »aufgrund ihrer Monarchie in ihrer Seele unterwürfig und äußerst furchtsam« und gehören wie die Skythen, Amazonen und Thraker der Frühzeit zu den »herrschsüchtigsten« und »mächtigsten« Stämmen. Für eine ähnliche Bewertung der Perser vgl. Platon, Nomoi III 697 c–d. Vgl. Vgl. ferner Isokrates 4, 67  f. mit dem Hinweis auf die Bedrohung Athens durch barbarische Mächte (Skythen, Amazonen, Thraker) in archaischer Zeit. Der Perserkrieg ist nach dieser Vorstellung eine Wiederholung des Urkonflikts zwischen ›tierischem‹ und ›menschlichem‹ Dasein. 174  Bereits für Ps.-Xenophon war Seemachtspolitik die Ursache dafür, dass die Athener ihre ›väterliche‹ zur radikal demokratischen Verfassung (EphialAnmerkungen | 287

tes) verändert und damit angeblich das Gewinnstreben der minder bemittelten Bürger zur Grundlage ihres politischen Handelns gemacht haben (Const. Ath. 1, 2 und 4). Dieser Einschätzung folgt auch Platon, Nomoi 704 d–705 a. Vgl. dazu Kurt Arnold Raaflaub, Democracy, Power, and Imperialism in FifthCentury Athens, in: J. Peter Euben, John R. Wallach, and Josiah Ober, eds., Athenian Political Thought and the Reconstruction of American Democracy, Ithaca (N. Y.) / London (1994) 103–146 und ders., Father of All, Destroyer of All: War in Late Fifth-Century Athenian Discourse and Ideology, in: David R. McCann and Barry S. Strauss, eds., War and Democracy. A Comparative Study of the Korean and the Peloponnesian War, Armonk (N. Y.) (2001) 307–356, insbes. 308  f und 314  ff und Ober (1998) 14–27. 175  Isokrates 12, 117. Diese Formulierung zielt kritisch auf die Maxime des Sokrates in Platons Gorgias, nach der Unrechtleiden in jedem Fall dem Unrechttun vorzuziehen sei (469 b ff). Vgl. dazu Eucken (1982) 51  f und Roth (2003) 151  f. 176  Vgl. dafür im vorliegenden Buch S. 117  ff. 177  Vgl. dazu bereits Isokrates 4, 172–174: »den Krieg, der ja auch zur Auflösung unserer Freundschaften führt, unsere Verwandtschaften in Hass entzweit und alle Menschen zu Krieg und Aufständen treibt, … auf das (sc. asiatische) Festland … verpflanzen«. Vgl. damit auch die Wiederholung dieses Vorschlags in der Rede an Philipp: 5, 9. Zu vergleichbaren Überlegungen bei Aristoteles im 7. Buch seiner Politik vgl. Müller (2017) 72  ff. 178  Nach Alexander Fuks, Ancestral Constitution. Four Studies in Athenian Party Politics at the End of the Fifth Century B. C ., London (1953) 11 und 26, n. 14 bezeichnet Isokrates die alt-athenische Verfassung bewusst nicht als »Verfassung der Väter« (p£trioj polite…a). Die oligarchische Gewaltherrschaft der Jahre 411 und 404 hatte unter Berufung auf dieses Schlagwort die Reformen des Ephialtes rückgängig gemacht. Wer sich im 4. Jh. erneut auf diese Formel beriefe, wäre dem Verdacht ausgesetzt, ein Feind der Demokratie zu sein, der möglicherweise erneut einen oligarchischen Umsturz plant. Das Muster ›guter Politik‹ heißt deshalb bei Isokrates »aristokratisch temperierte Demokratie« (12, 131: dhmokrat…a … ¢ristkrat…v crwmšnh und 153: dhmokrat…a … ¢ristokrat…v memigmšnh). Zur seiner verfassungspolitischen Position vgl. Bringmann (1965) 83. Für das politische Schlagwort »väterliche Verfassung« vgl. Ruschenbusch (1958). 179  Diese »Verfassung« weist erhebliche Ähnlichkeiten mit der »besten« Demokratie im Sinne von Aristoteles auf, der sie auf Solon zurückführt (Pol. VI 4, 1318 b 8  ff, vgl. ebd. IV 6, 1292 b 25  ff und II 12 zu Solon). Vgl. dazu Bringmann (1965) 87 und Schütrumpf (1982) 50  ff. 180  Mit Schütrumpf (1982) 53, Anm. 42 folge ich Franz Pointner, Die Verfassungstheorie des Isokrates, München (1969) 135. 181  Bei Isokrates werden die Amtsträger nicht (wie in Solons Verfassung nach AP 8, 1) ausgelost, sondern aus vom Areopag »Vor-Ausgelesenen« (˜k 288 | Anmerkungen

prokr…twn) gewählt. Zur Bedeutung, die diesem Wahlmodus in der Verfassungsdiskussion des 4. Jahrhunderts zugeschrieben wird, vgl. Bringmann (1965) 86  f. 182  Vgl. dafür Isokrates, 8, 19: »Der Krieg … hat uns ärmer gemacht«, so dass »heute« die Anzahl der Armen die der Wohlhabenden übertrifft, während früher »kein Bürger unter dem Mangel am Lebensnotwendigen« gelitten hat (7, 83). Vgl. dafür Fuks (1972) 17–44 und Hornblower (2011) 271  ff. 183  Für die Einordnung der Vorstellungen des Isokrates in die sozialpolitische Reformliteratur des 4. Jahrhunderts (vor allem Xenophon, Poroi und Aristoteles, Politik VI 5) vgl. Schütrumpf (1982), insbesondere 45–65. 184  Vgl. Isokrates 7, 83: »Es ist … angebracht, gegenüber diesen armen Bürgern nachsichtig zu sein, wenn sie sich überhaupt nicht um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern, sondern nur darauf achten, wie sie jeweils ihren täglichen Lebensunterhalt bestreiten können.« Hilfe bringt nicht die mahnende Rede, sondern eine institutionelle Regelung, die »Arme« von exzessiver Sorge für ihren Lebensunterhalt entlastet. 185  Vgl. Aristoteles, Pol. VI 5, 1320 a 33–b 6. 186  Vgl. damit Thuk. II 40, 1 (Epitaphios): »Reichtum dient bei uns eher der wirksamen Tat als dem prahlenden Wort« (ploÚtJ te œrgou m©llon kairù ¼ lÒgou kÒmpJ crèmeqa). 187  Vgl. Isokrates 7, 35: »Niemand verbarg sein Vermögen oder zögerte, Geld zu verleihen, ja man sah lieber Menschen, die sich etwas borgten, als solche, die ein Darlehen zurückzahlten. Denn so genossen die Wohlhabenden beide Vorteile, wie vernünftige Menschen es wünschen: Sie nützten gleichzeitig ihren Mitbürgern und legten ihr Geld gewinnbringend an.« 188  Arbeit wird an ›Arme‹ nach der Regel geometrischer Gleichheit verteilt: »Da sie sich in ihrer Lebensweise unterschiedlich verhalten, können nicht alle mit den gleichen Aufgaben beschäftigt werden, sondern jeder erhält eine Beschäftigung, die auf sein Können abgestimmt ist« (7, 44). 189  Vgl. dafür auch den Epitaphios des Perikles bei Thuk. II 37, 2. 190  Vgl. dazu Isokrates 12, 30–32. Zur Selbstbeherrschung als politischer Schlüsseltugend vgl. 7, 37 und die Ausführungen zu Xenophon im vorliegenden Buch S. 64, 67 und 72. 191  Vgl. dazu auch Isokrates 15, 261  ff und 304. 192  Die »vielgestaltige Zügellosigkeit« des Isokrates findet ihre Entsprechung bei Platon im Prinzipienbegriff der ›unbestimmten Zweiheit‹ und bei Thukydides im Begriff »größter Bewegung«. 193  Isokrates 7, 37: »Die Zugehörigkeit zu ihm war … Personen vorbehalten, die eine gute Herkunft nachweisen konnten und ihr Leben sehr tugendhaft und selbstbeherrscht geführt hatten.« 194  Vgl. damit Platon, Politeia 426 a: »…, dass sie den für ihren Feind halten, der ihnen die Wahrheit sagt, …«. Hinter dieser Formulierung steht das Schicksal des Sokrates. Anmerkungen | 289

195 

Eine Zusammenstellung der Formulierungen, mit denen Isokrates die Krisensituation seiner Zeit beschreibt, findet man bei Fuks (1972) 18  ff. 196  Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 226  ff. 197  Das Schlagwort polupragmosÚnh charakterisiert die Politik von »Habenichtsen«, die, um den Reichtum anderer in ihren Besitz zu bringen, zu einer ›radikal‹-demokratischen Verfassungs- und einer aggressiv-imperialen Außenpolitik tendieren. Demgegenüber umschreibt das Schlagwort ¢pragmosÚnh das aristokratische Ideal einer in sich ruhenden Politik, die auf Verständigung und fairen Wettbewerb mit den Aristokraten in anderen Poleis bedacht ist. Vgl dazu Victor Ehrenberg, Polypragmosyne: A Study in Greek Politics (1947), in: ders. (1965) 466–501 und Bringmann (1965) 62  ff. 198  Vgl. dazu Kurt Arnold Raaflaub, Learning from the Enemy: Athenian and Persian ›Instruments of Empire‹, in: Interpreting the Athenian Empire, ed. by John Ma, Nikolaos Papazarkadas and Robert Parker, London (2009) 89–124. Vgl. dazu grundlegend Isokrates, 7, 95–115. 199  Isokrates 8, 88  f. Näheres dazu bei Chambers (1990) 262  f. 200  Die Einschätzung der ephialtischen Demokratie als »göttlicher Schöpfung« (7, 62), die »Schönes oder Heiliges« (63: kalÕn À semnÒn) vollbracht hat, verdeutlicht Isokrates u. a. daran, dass Perikles »unsere Polis« nach ihrer Zerstörung durch die Perser mit Tempeln und Kultgebäuden (to‹j ƒero‹j kaˆ to‹j Ðs…oij) geschmückt« und damit zu einem glanzvollen Wohnort der Götter gemacht hat, »so dass heute noch Besucher glauben, Athen verdiene es, nicht nur über die Griechen zu herrschen, sondern auch über alle anderen Völker der Erde« (66). Ein anderer Beweis ist die Weigerung der Demokraten, nach der Vernichtung ihrer Flotte bei Aigispotamoi (405 v. Chr.) auf Befehl der siegreichen Spartaner »die Mauern niederzureißen und Knechtschaft auf sich zu nehmen« (64). 201  7, 67: praÒthj. Zur Bedeutung von »Milde« für den Übergang vom ›tierischen‹ zum menschlichen Leben vgl. im vorliegenden Buch S. 91  f. 202  Für Isokrates ist das »der schönste und stärkste Beweis für die Anständigkeit der Volksregierung« (7, 68). Aristoteles, der diese Bewertung teilt, referiert die Details (AP 39–40) und spricht in diesem Zusammenhang von einer Aussöhnung auf der Grundlage von Eid (AP 39, 4) und Vertrag (AP 39, 1). 203  Isokrates, 7, 67–69, ferner Xenophon, Hell. II 4, 43 und AP 39–40. Für eine ideenpolitische Interpretation dieser Aussöhnung vgl. Flaig (1991) und Müller (2017) 108  ff. Zur rechtspolitischen Bedeutung des dabei beschworenen Eides, die Verbrechen der Oligarchen aus dem Gedächtnis zu tilgen, vgl. Isokrates, 18, 1–3 und passim. Für Aristoteles ist die Verfassung von 403 die vollkommene Verwirklichung einer rechtlich fundierten Demokratie. Vgl. dazu Müller (2017) 98  ff, insbes. 107–116. 204  7, 69. Vgl. dazu auch 8, 105. 205  Ich orientiere mich an Hans Schaefer, Staatsform und Politik. Unter290 | Anmerkungen

suchungen zur griechischen Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts, Leipzig (1932) 67  ff und 209  f. 206  Vgl. Isokrates, 4, 85–99. 207  Ich folge Jacob Aall Ottesen Larsen, The Constitution of the Delian League, HSPh 51 (1940) 184. Für die folgende Darstellung orientiere ich mich an Schuller (1974). 208 Plutarch, Aristeides 23, 1–4. Vgl. Diodor (= Ephoros) XI 44, 6: Der Athener Aristeides »zog im Verlauf seiner Unterredungen viele Städte zu sich herüber und machte sie durch sein gewinnendes Wesen zu Verbündeten Athens«, so dass sie sich »wie auf einen Anstoß hin den Athenern zuwandten« und Aristeides »das Oberkommando zur See unangefochten übernehmen konnte« (ebd. 46, 2  ff ). Vgl. damit Isokrates 16, 27: Die Athener hatten sich in den Perserkriegen, »was gerechtes Verhalten angeht, einen so guten Ruf erworben, dass die Griechen ihnen aus freien Stücken die Seeherrschaft übertrugen«. 209  Hdt. IX 106, 4. Zur Eidesformel des Bundes vgl. Kurt Arnold Raaflaub, Beute, Vergeltung, Freiheit? Zur Zielsetzung des Delisch-Attischen Seebundes, Chiron 9 (1979) 9. 210  Zur religiösen Bedeutung von Delos für die ionischen Griechen vgl. Russell Meiggs, The Athenian Empire, Oxford (1972) 43. Zur anfänglich kooperativen Organisation des Seebundes vgl. ebd. 46  ff. 211  Vgl. Thuk. I 99, 3 und Franz Kiechle, Athens Politik nach der Abwehr der Perser, HZ 104 (1967) 274  f. 212 Plutarch, Kimon 11. Vgl. damit auch Thuk. I 99, 3: »In ihrer Abneigung gegen den Kriegsdienst verpflichteten sich die meisten von ihnen, um nicht von zu Hause wegzumüssen, eine gewisse Geldsumme statt des ihnen zukommenden Anteils an Schiffen zu stellen. Dadurch vergrößerten sie den Athenern die Flotte mit dem Geld, das sie beisteuerten, sie selbst aber gingen, sooft sie abfielen, ungerüstet und unerfahren in den Krieg.« 213  Vgl. dazu die Rede der Mytilener in Olympia (im Jahr 428) Thuk. III 10, 2  ff und die des Hermokrates in Kamarina (im Jahr 415/14) Thuk. VI 76–80. 214  Vgl. Thuk. I 98, 4: Naxos war die erste verbündete Stadt, die nach ihrem Abfall von den Athenern belagert, unterworfen und »gegen die Satzung des Bundes unterjocht wurde« (um das Jahr 470). 215  So z. B. im Fall von Thasos im Jahr 464. Vgl. Thuk. I 101, 3. 216  Vgl. dazu Raaflaub (1979) und Smarczyk (1990) 4  ff und 8  f sowie im vorliegenden Buch S. 199 und 223. 217  Athens Hegemonie wird dadurch auch theologisch und kultisch legitimiert. Vgl. dazu Schuller (1974) 113  f, 117  f, 169  f und Smarczyk (1990) 31  ff. Für die Kritik des Isokrates an der athenischen Phorospolitik vgl. 5, 146 und 8, 82  ff. 218  Vgl. dazu Schuller (1974) 48  ff. 219  Thuk. I 96, 1. Die Schiffesteller Samos, Chios, Lesbos, Naxos und Thasos bildeten die kleinere Einheit des Bundes. Nach Aufständen gegen Athen sind Naxos um 470 (Thuk. I 98, 4) und Thasos 463 (Thuk. I 100, 2 und 101, Anmerkungen | 291

1–3) aus dieser Gruppe ausgeschieden. Die verbleibende Dreiergruppe war nach Aristoteles (AP 24, 2) die wichtigste »Stütze der Herrschaft« Athens im Seebund. Vgl. dazu Schuller (1974) 144  f. Nach dem von Perikles im Jahr 439 niedergeschlagenen Aufstand der Samier (vgl. Thuk. I 117, 3) haben sich nur noch Lesbos (Mytilene) und Chios an der Kriegsflotte des Seebundes beteiligt. 220  Ich folge Schuller (1974) 46  f. Für Einzelheiten vgl. ebd. 36  ff. 221  Vgl. Aristoteles, Politik V 7, 1307 b 22  ff : »die Athener lösten überall die Oligarchien auf und die Spartaner die Demokratien.« Isokrates 4, 104  f verteidigt Athens Politik des gewaltsamen Verfassungswechsels, während er sie 8, 79 als »Unverschämtheit« kritisiert. Ein weiteres »direktes« Herrschafts­ instrument Athens war die teils mit gewaltsamer Vertreibung und Tötung der einheimischen Bevölkerung verbundene Gründung von Kolonien und Kleruchien. Vgl. dazu Schuller (1974) 13  ff. Zur Besatzungspolitik Athens ebd. 32  ff. 222  Das ist die an Thukydides und Max Weber orientierte Interpretation von Schuller (1974). 223  Vgl. dazu Raaflaub (1979) und ders. (1984). 224  Schuller (1974) 178. 225  Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 112 mit Anm. 197 226  Ich zitiere den griechischen Text nach Hermann Bengtson, Hrsg., Die Staatsverträge des Altertums, Bd. II, Die Verträge der griechisch-römischen Welt von 700 bis 338 v. Chr. Unter Mitwirkung von Robert Werner bearbeitet von Hermann Bengtson, München / Berlin (1962) 207  ff (= Nr. 257) und die deutsche Übersetzung nach Gerhard Pfohl, Hrsg., Griechische Inschriften als Zeugnisse des privaten und öffentlichen Lebens. Griechisch-deutsch, München, 2. verb. Aufl. (1980) 106  ff. Für eine ausführliche Interpretation des Urkundentextes vgl. Cargill (1981) 14  ff. 227 Für eine Darstellung der Bündnisgründung vgl. Victor Ehrenberg, Zum zweiten attischen Bund (1929), in: ders. (1965) 321  ff und Zimmermann (1974) 189  ff. 228  Vgl. dazu Z 47  ff : Alle Mitglieder waren verpflichtet, jedem anderen »mit aller Macht im Rahmen des Möglichen« gegen jeden zu helfen, der ihn »zu Lande oder zu Wasser« mit Krieg überzieht. 229  Vgl. dazu Xenophon, Hell. V 1, 30. Der Königsfriede hat die griechischen Städte Kleinasiens und Zypern dem Herrschaftsbereich des Großkönigs zugeordnet, während Lemnos, Imbros und Skyros »wie in der Vergangenheit den Athenern gehören sollen«. Ausdrücklich wurde auch den kleinen Städten des griechischen Festlands Autonomie zugesichert. 230  Vgl. dazu Cargill (1981) 115  ff, insbesondere 127  f. 231  Vgl. dafür Bringmann (1965) 44  ff. 232  Dreher (1995) 278  ff : Der Phoros war eine Zwangssteuer und die Syntaxis ein Mitgliedsbeitrag. Nichtzahlung hatte deshalb nicht Krieg, sondern lediglich den Verlust des Schutzrechts zur Folge. 233  Vgl. dazu Dreher (1995) 280. 292 | Anmerkungen

234 

Vgl. dazu Hornblower (2011) 273  f. Zimmermann (1974) 194. 236  Zu Athens Amphipolis-Politik vgl. Badian (1995) 94  ff. 237  Für die historischen Einzelheiten vgl. Zimmermann (1974) 191  ff und Badian (1995) 94. In der gegenwärtigen Forschung wird die Politik Athens im zweiten Seebund kontrovers beurteilt. Nach Cargill (1981) sind die kooperativen Prinzipien der Bundesgründung im Entscheidenden bewahrt worden. Badian (1995) 99 spricht dagegen von einer ›Rückkehr zum uneingeschränkten Imperialismus‹. Für eine mittlere Position vgl. Dreher (1995) 287  ff. 238  Zimmermann (1974) 194. 239  Isokrates will die menschliche Natur ›als ganze betrachten und das durchschnittliche Verhalten beschreiben‹ (2, 45). Vgl. dazu insbesondere 2, 43–49. 240  Isokrates 1, 17: »Die Wahrheit verkennen sie, aber auf die allgemein verbreitete Ansicht blicken sie.« Isokrates übernimmt einen Topos, der seit Theognis (54  ff ) und Herodot (III 81, 1  ff: »die breite Masse handelt ohne Einsicht«) zur Kritik an der Demokratie gehört. Für eine ähnliche Formulierung vgl. auch Ps.-Xenophon, Constitutio Atheniensium I 5. 241  Isokrates 2, 43  ff : »Sie vermeiden es so sehr, der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass sie nicht einmal mehr über ihre eigenen Interessen Bescheid wissen und sich nur sehr ungern Gedanken über ihre eigenen Belange machen«. Der Grund dafür ist, dass Menschen »von Natur aus mehr mehr zu fehlerhaftem als zu richtigem Tun neigen« (5, 35). 242  Isokrates 2, 43  ff : Obwohl Hesiod, Theognis und Phokylides (ein milesischer Spruchdichter des späten 6. Jhs.) zu Recht als diejenigen gelten, die »die besten Ratschläge für das Leben erteilt haben«, beschäftigen sich die meisten lieber »mit dem Unsinn …, den sie untereinander von sich geben«. 243  Isokrates beschreibt sich als den einzigen, der es in seiner Zeit gewagt hat, sich der bislang von den Athenern betriebenen Kriegspolitik mit der Behauptung entgegen zu stellen, es sei »vorteilhafter und nützlicher, Frieden zu bewahren« (8, 26). 244  Vgl. dazu Isokrates 15, 183  ff. Zur Bedeutung des rhetorischen Unterrichts für die politische Kultur vgl. ebd. 201  ff. 245  Isokrates 5, 26  f : »Wenn einer Rede das persönliche Ansehen, das der Redner genießt, die Stimme und die Variationsmöglichkeiten beim Vortrag, der rechte Zeitpunkt sowie der Eifer für die Sache fehlen und wenn kein mitkämpfendes Publikum da ist, … dann erscheint die Rede den Zuhörern begreiflicherweise als nichts sagend.« Zur Wirkung einer guten politischen Rede vgl. exemplarisch auch den Schlussabschnitt des Panegyrikos (4, 187  ff ), der zur Versöhnung zwischen Athen und Sparta und zum gemeinsamen Kampf gegen Persien aufruft: »Ihr selbst müsst also mitüberlegen, welch großes Glück uns zuteil wird, falls wir den Krieg, den wir jetzt gegen einander führen, gegen die Bewohner des (sc. persischen) Festlandes richten und den Wohlstand von 235 

Anmerkungen | 293

Asien nach Europa bringen. Ihr dürft auch nicht weggehen, indem ihr euch damit begnügt, bloß zugehört zu haben, sondern alle Einflussreichen unter euch müssen sich gegenseitig ermuntern, unsere Polis mit der der Lakedaimonier zu versöhnen. Alle aber, die sich etwas auf ihr Redetalent zugute halten, müssen aufhören ›Über das anvertraute Geld‹ zu schreiben oder über all das Reden zu verfassen, was man heutzutage so schwätzt – nein, in mein jetziges Thema müsst ihr euren Ehrgeiz setzen und darauf sinnen, wie ihr besser als ich über denselben Gegenstand reden könnt.« 246  Marathon und Salamis stehen für die Befreiung der Griechen von den ›Barbaren‹, der unter dem Athener Konon im Jahr 394 bei Knidos errungene Sieg der persischen über die lakedaimonische Flotte hingegen für die Befreiung vom ›Joch‹ der Spartaner. 247  Vgl. dafür 8, 5  f mit der Kritik an den Rednern, die »euch zu Gefallen reden«, indem sie »euch zum Krieg ermuntern« und »die Erwartung wecken, wir könnten in den betreffenden Poleis unseren Besitz zurückerhalten und wieder zu solcher Macht gelangen wie früher«. Vgl. dafür auch 8, 121  ff. 248  Zu dieser Formel vgl. AP 2, 2. Aristoteles verwendet sie auch für Kleisthenes (AP 20, 4) und Perikles (AP 28, 1). 249  Die Amphiktyonen (»die Umwohnenden«) waren die Mitglieder eines polisübergreifenden Kultverbandes, der sich um alle Delphi betreffenden Angelegenheiten gekümmert hat und deshalb auch ein politisches Beratungs­ gremium gewesen ist. 250  Vgl. dazu auch Isokrates 16, 26  ff. 251  Vgl. 15, 306  ff: »Erinnert euch also an die Schönheit und Größe der Taten, die von der Polis und den Vorfahren vollbracht worden sind, geht sie in Gedanken bei euch selbst durch und prüft (dišlqete prÕj Øm©j aÙtoÝj kaˆ skšyasqe), was für ein Mann es war, aus welcher Familie er kam und welche Erziehung er genossen hatte, der die Tyrannen vertrieb, das Volk wieder zur Macht brachte, die Demokratie einführte; was für ein Mann es war, der in der Schlacht bei Marathon die Barbaren besiegt und den für die Polis daraus resultierenden Ruhm erworben hat (sc. Miltiades). Überlegt, wer es war, der nach ihm die Griechen befreit und unsere Vorfahren zur Hegemonie und Machtstellung, die sie innehatten, geführt hat, der die von Natur aus günstige Lage des Piräus erkannt und gegen den Willen der Lakedaimonier die Polis mit Mauern umgeben hat. Überlegt, wer es war, der nach ihm die Akropolis mit Gold und Silber angefüllt und die Privathaushalte mit großem Wohlstand und Reichtum versehen hat. Ihr werdet finden, wenn ihr jeden von ihnen überprüft, dass diese Taten nicht von denen vollbracht wurden, die … ohne Interesse an öffentlichen Angelegenheiten gelebt haben oder der großen Masse ähnlich waren, sondern von denen, die sich nicht nur durch ihre hervorragenden Anlagen und ihr Ansehen, sondern auch durch ihr Denken und Reden (tù frone‹n kaˆ lšgein) ausgezeichnet haben …«. 294 | Anmerkungen

252  Das

ist der Grund dafür, dass die Biographien Plutarchs zu Theseus, Solon, Themistokles und Perikles, obwohl sie sich häufig auf ältere Quellen beziehen und insofern auch allgemein Bekanntes referieren, zwar gelegentlich herangezogen, aber nicht systematisch ausgewertet werden.

III. Realisierungsprobleme 1  Theseus

erklärt den Aufruf, mit dem in historischer Zeit die Volksversammlung eröffnet wurde: »Wer will hier mit gutem Rat dienen seiner Stadt« (T…j qšlei pÒlei crhstÒn ti boÚleum’ ™j mšson fšrein œcwn;) zum sprechenden Zeichen für die Gleichheit und Freiheit der Bürger (Euripides, Hik. 438  f ). Die wichtigsten Quellen für die vom Herold ausgerufene Eöffnungformel (t…j ¢goreÚein boÚletai;) sind aufgeführt bei Hansen (1995) 276  ff. Ich nenne davon nur Aischines 3, 4: »der schönste und besonnenste Ausruf, der in der Polis erklingt«, und Demosthenes 18, 170: »Die Stimme, die der Herold von Gesetzes wegen ertönen lässt, darf mit Recht für die öffentliche Stimme des Vaterlandes gelten«. 2  Nachweise s. u. Anm. 14. 3  Vgl. dafür Hans Herters Unterscheidung zwischen einem älteren pan­ ionischen, mit Thessalien verbundenen und einem späteren athenischen Theseus (Theseus der Ionier, RhM 85 (1936) 177–239 und: Theseus der Athener, RhM 88 (1939) 244–286, 289–326 sowie den Theseus-Artikel in: RE Suppl. XIII 1045–1238, Separatdruck München 1973). Vgl. dazu auch Walker (1995) und Mills (1997). Für zusammenhängende Darstellungen des Theseus-Mythos vgl. Ps.-Apollodor, III 208, 216  ff und epit. 1, 1–24, Pausanias I 17, 2–6 und die Theseus-Biographie Plutarchs. 4  Zur Integration des Theseus in die Frühgeschichte Athens vgl. Raaflaub (1988) 208  ff. 5 Plutarch, Theseus 19, 5, unter Berufung auf den Atthidographen Kleidemos F 17, zitiert nach Harding (2008) 57. Vgl. dazu Harding (2008) 60: »a sort of proto-Themistokles« und Walker (1995) 94. 6  Bakchylides 17, 6  ff. 7 Plutarch, Theseus 27, 4 unter Berufung auf Kleidemos F 18, zitiert nach Harding (2008) 65, Nr. 75. Auf diese Weise haben auch die Auseinandersetzungen mit Kreta ihr Ende gefunden. Vgl. Plutarch, Theseus 19, 7 = Kleidemos F 17, zitiert nach Harding (2008) 57, Nr. 63. Zur Bedeutung der Vertreibung der Amazonen durch Theseus in den Eumeniden des Aischylos vgl. im vorliegenden Buch S. 37  f. 8 Ps.-Apollodor, epit. 1, 11; Plutarch, Thes. 13. 9  Bakchylides 17, 52  ff. Vgl. dafür Walker (1995) 84  ff. Zu Theseus als Sohn Poseidons vgl. auch Isokrates, 10, 18. Weitere Belege bei Zajonz (2002) 157. 10  Knell (1990) 52. Anmerkungen | 295

11 Knell

(1990) 52–63 mit Abbildungen. Für die Verbindung zwischen Kleisthenes und Delphi vgl. im vorliegenden Buch III C 2. 12  Nach der Eroberung der Insel Skyros durch die Athener im Jahr 476/5, also in der Anfangsphase des delisch-attischen Seebundes, wurden die Gebeine des dort ermordeten Theseus (vgl. dazu Pausanias 1, 17, 4–6 und Ps.Apollodor, epit. 1, 24) nach Athen überführt und in einem Heroengrab beigesetzt. Vgl. dazu Plutarch, Theseus 36 und ders., Kimon 8. Zum Bildprogramm des Heroon vgl. Pausanias 1, 17, 2  f und Schefold (1946) 75  ff. 13  Zum Freskenzyklus der Stoa Poikile (ca. 455, beschrieben von Pausanias, 1, 15, 1–3) vgl. Tonio Hölscher, Griechische Historienbilder des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., Würzburg (1973) 50–84 und Walker (1995) 59  f. Zur Bedeutung des Theseus in Bildprogrammen der perikleischen Zeit vgl. Knell (1990) 100  f (Parthenon-Metopen) und ebd. 132  ff (Metopen am Hephaisteion). Für den ideologischen Hintergrund vgl. Mario Rausch, Isonomia in Athen. Veränderungen des öffentlichen Lebens vom Sturz der Tyrannis bis zur zweiten Perserabwehr, Frankfurt am Main etc. (1999) 63  ff, 86  ff und 365  ff. 14 Euripides, Hiketiden 238–245: demokratische Polis; 348–353: Einheit von Monarchie und Demokratie (= pÒlij „sÒyhfoj) und 403–408: »Du suchst hier einen Herrn (tÚrannoj) des Lands, doch sind / Wir frei (™leuqšra pÒlij) und nicht nur einem untertan. / Das Volk herrscht mit (dÁmoj ¢n£ssei) und wechselt Jahr um Jahr, / Auf Reich und Arm verteilt es gleiche Macht.« Die politische, auf Gleichheit (tÕ ‡son) gegründete Herrschaft garantiert die Stärke einer Polis, während die Herrschaft des schriftlich fixierten Rechts tyrannische Willkür verhindert (ebd. 429  ff ). Vgl. dazu Kurt Arnold Raaflaub, Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffs der Griechen, München (1985) 285  ff. 15  Aithra spricht von der »Satzung der Götter« (19: nÒmima qeîn), Theseus vom »panhellenischen Recht« (526: Ð Panell»nwn nÒmoj) und vom »alten göttlichen Gesetz« (562: nÒmoj palaiÕj daimÒnwn). Vgl. dazu Isokrates 10, 31 und 12, 168  ff. 16  Während Theseus bei Euripides göttliches Recht letztlich »kriegerisch« durchsetzen muss, ist ihm das nach der von Plutarch referierten »Meinung der meisten« durch »Überredung und Vertrag« gelungen (Theseus 29, 4). Vgl. dazu Schubert (2014) 939  f. Zum Theseus-Bild bei Euripides vgl. insbesondere Mills (1997). Aithras Reden an ihren Sohn (306  ff und 320  f ) und die Kritik des Theseus an der politischen Hybris Adrasts (114–161, 216  ff ) stehen dem politischen Denken des Isokrates nahe. 17  Zum Theseus-Bild des Sophokles im Oidipus auf Kolonos vgl. Walker (1995) 171–190 und Mills (1997) insbes. 160  ff. 18  So Raaflaub (1988) 209. 19 »Er zwang sie nur, einzig und allein diese Stadt (sc. als politisches Zentrum, AR) anzuerkennen (ºn£gkase miÍ pÒlei crÁsqai), die, weil alle nunmehr die gemeinschaftlichen Abgaben an sie entrichteten, sich machtvoll 296 | Anmerkungen

entwickelte und als solche … den Nachfolgenden übergeben wurde« (II 15, 1  f ). »Synoikismus« meint nicht die Umsiedlung der Landbevölkerung in die Stadt, sondern die Herstellung der politischen Einheit Attikas. Vgl. dazu Hignett (1952) 34  f. Dieser Vorgang wurde im Synoikia-Fest regelmäßig erinnert. Vgl. dazu Deubner (1932) 35  ff. Dort auch zu der von Isokrates 15, 109 erwähnten Erweiterung dieses Festes um einen Eirene-Kult nach dem Friedensschluss mit Sparta im Jahr 374. 20  Das Monopol auf die Ausübung der ›kriegerischen Kunst‹ beendet die Epoche der Privatkriege zwischen den Adligen Attikas. Der König besitzt außerdem die letzte Kontrolle über die ›gesetzgeberische Kunst‹. 21  Nach Diodor (= Ephoros) war die größte von Theseus gleichsam als Proto-Kleisthenes unmittelbar nach der Übernahme der Königsherrschaft vollbrachte Leistung die, dass er »die Demen, klein an Ausdehnung, doch groß an Zahl, in die Stadt Athen einordnete« (IV 61, 8). 22  Ruschenbusch (1958) 110 weist nach, dass alle antiken Beschreibungen einer Theseus-Verfassung auf Androtion zurückgehen. 23  So Ps.-Demosthenes 59, 75. Nach Demosthenes 60, 28 hat Theseus in Athen eine auf bürgerlicher Gleichheit („shgor…a) beruhende Verfassung eingeführt. Vgl. dazu auch die von Pausanias wiedergegebenen, aber als unzutreffend bezeichneten ›allgemein verbreiteten Ansichten‹ über eine demokratische Theseus-Verfassung (1, 3, 3). 24  Nach Auffassung der Anhänger einer ›ungemischten‹ Oligarchie hat Theseus eine Demokratie eingerichtet, »in der nur noch Demagogen das Sagen haben.« Außerdem wird durch die Ansiedlung der »Massen aus zwölf Städten in einer einzigen« aus der »alten regionalen Königsherrschaft« eine selbstzerstörerische »Vielherrschaft«. Vgl. dafür Theophrast, Charaktere 26. Zum politischen Kontext des Theseus-Bildes im 4. Jh. vgl. Ruschenbusch (1958) 101  ff und Flaig (1991) 138, 144  ff. 25  Vgl. dafür Plutarch, Thes. 25, 1: »In dem Bestreben, die Stadt noch mehr zu vergrößern, berief er alle mit dem Versprechen der Gleichberechtigung (™k£lei p£ntaj ™pˆ to‹j ‡soij), und der Aufruf (k»rugma): ›Kommt hierher, alles Volk‹ soll von Theseus stammen, da er eine politische Ordnung für den gesamten Demos (polite…an pandhm…an) schaffen wollte.« 26  Zur Herkunft dieser Einteilung des politischen Körpers in drei Funktionsgruppen vgl. Georges Dumézil, Mythe et épopoée. I: Idéologie des trois fonctions dans les épopoées des peuples indo-européens, Paris (1968) 496. 27  Die Eupatriden machen ihre Autorität als »Lehrer« und »Ausleger« der politischen und kultischen Gesetze (nÒmwn did£skaloi … kaˆ Ðs…wn kaˆ ƒerîn ™xhghta…) durch ›Belehrung‹ geltend (Plutarch Thes. 25, 2). 28  Zajonz (2002) 58  f datiert sie auf die Zeit zwischen 393/2 und 380. Im Prooemium dieser Rede definiert Isokrates die Aufgabe des Rhetors in der Polis und wirbt damit für das Erziehungsprogramm seiner eigenen ›Schule‹. Vgl. dazu Zajonz (2002) 54–57. In der Hauptsache veranschaulicht die HelenaAnmerkungen | 297

Rede die Wirkungsmacht göttlicher Schönheit. Vgl. dazu Zajonz (2002) 40–46. Auf diese beiden Themen wird im Folgenden nicht eingegangen. 29  Vgl. dazu die klassische Bezeichnung der Tyrannen als Pestbeulen der Polis (nos»mata tÁj pÒlewj) bei Isokrates, 10, 34 und Platon, Nomoi 544c. 30  Vgl. Isokrates 10, 21: »So hat Theseus allein nicht einen einzigen Teil der Tugend vermissen lassen, sondern die Tugend ganz und vollkommen besessen.« 31  Vgl. damit die Charakterisierung des guten Herrschers bei Isokrates, 2, 15–26. 32  10, 35–37. Zur »Milde« als Merkmal des zivilisierten Lebens vgl. im vorliegenden Buch S. 91. 33  Vgl. dafür Ps.-Apollodor, epit. 23  f, Diodor 4, 63 und Plutarch, Theseus 32–35. 34 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung in der Theseus-Biographie Plutarchs (15  ff ). 35  Zur Vorstellung einer gleichsam klassenkämpferischen Spaltung zwischen »Armen« und »Reichen«, die der tatsächlichen Gesellschaftsordnung Attikas um 600 nicht entsprochen hat, vgl. den klärenden Beitrag von Aloys Winterling (1993). 36 Vgl. dafür Hignett (1952) 86–107, James Day / Mortimer Chambers, Aristotle’s History of Athenian Democracy, Berkeley / Los Angeles (1962) 71–89 und Claude Mossé, Comment s’élabore un mythe politique: Solon »père fondateur« de la démocratie athénienne, Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 34 (1979) 425–437. Zum Solon-Bild des 4. Jhs. vgl. auch Hansen (1995) 309  ff. 37  Für Versuche, dem historischen Solon unter Umgehung der literarischen Überlieferung (Inschriftenforschung, archäologische Befunde zur demographischen und agrikulturellen Entwicklung Attikas, zu Bestattungsgewohnheiten oder zur Entwicklung von Handelsbeziehungen) näher zu kommen, vgl. Almeida (2003) 1–69: »Solon: Historical Sources and Scholarship: What We Do and Do Not Know.« 38 Solon lehrt Kroisos, der sich auf dem Höhepunkt seiner Macht für ›glücklich‹ hält, »dass das ganze göttliche Walten neidisch und unbeständig« und das menschliche Leben ein leidvolles »Spiel des Zufalls ist« (I 32, 1–3 und 32, 7  f ). Für die Menschen gibt es allenfalls ein bescheidenes Glück, wie es der Athener Tellos als Bürger »einer blühenden Stadt« im Leben, im Tod und über den Tod hinaus genießen konnte (30, 4  f ). Insgesamt gilt jedoch, wie die Geschichte von Kleobis und Biton verdeutlicht, der Satz, »dass der Tod für den Menschen besser sei als das Leben« (31). 39  Hdt. I 29, 1  f. Die Festlegung ihrer Geltungsdauer auf hundert Jahre (AP  7) ist nach Ruschenbusch (2010) 156  f eine spätere Veränderung der ursprünglichen, bei Dio Chrysosthomos 80, 6 und Aulus Gellius 2, 21, 1 korrekt überlieferten Festlegung auf ›ewige Zeit‹. 298 | Anmerkungen

40  Zum

Mythos vom göttlichen Ursprung Athens vgl. im vorliegenden Buch S. 56  f und Solon 36 W 8 und 4 W 1  f. 41  Die AP 7, 1 verwendete und in der Politik (II 12, 1273 b 32  ff ) explizit formulierte Unterscheidung zwischen nÒmoi (leges) und polite…a im Sinne von ›Verfassung‹ stützt sich auf die Rechts- und Gesetzesdiskurse des 4. Jhs. 42  Hersteller einer diallag» im Sinne von ›Tausch‹ oder ›Ausgleich‹. 43  Festsetzer einer a�sa, d. h. des Teils, der jemandem gebührt. Zur Kompetenz eines Aisymneten in der griechischen Frühzeit vgl. Aristoteles, Pol. III 14, 1285 a 31  ff und IV 10, 1295 a 14. 44  Zum Unterschied zwischen der Nomothesie des 4. Jhs. und der richterlichen Schlichtungstätigkeit im 7. und 6. Jh. vgl. Karl-Joachim Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, Stuttgart (1999) 28–59 und Edward M. Harris, Solon and the spirit of laws in archaic and classical Greece, in: Blok / Lardinois (Hrsg. 2006) 290–318. 45  Diese Formulierung umschreibt eine soziale, keine moralische Unterscheidung, meint also Ähnliches wie ›Arme‹ und ›Reiche‹. 46  Vgl. dafür exemplarisch Homer, Ilias 18, 497–509 und Hesiod, Theog. 80  ff, Erga 7  ff, 224  f und 248  ff. Zum Gesetzeswerk Solons vgl. Ruschenbusch (2010). 47  Vgl. dazu Hignett (1952) 6  ff. 48  Vgl. Aristoteles, Pol. II 12, 1274 a 18  ff : »Die Amtsträger holte er sich alle aus den Angesehenen und Reichen«. 49  Aristoteles verwendet dafür den zu seiner Zeit üblichen Terminus »Dikasterien«. Zu Solons Zeit hat es sich dabei um den zu Gericht sitzenden, als »Heliaia« bezeichneten Teil der Volksversammlung gehandelt. Vgl. dazu Hignett (1952) 97  f und Karl-Wilhelm Welwei, Die Entwicklung des Gerichtswesens im antiken Athen. Von Solon bis zum Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr., in: Burckhardt / von Ungern-Sternberg (Hrsg. 2000) 15–18. 50  Die Popularklage ergänzt oder ersetzt das Institut der nur vom Geschädigten oder seinen nächsten Verwandten zu erhebenden Privatklage durch die Bestimmung, »dass jeder, der will, für diejenigen, die Unrecht erlitten hatten (sc. aber etwa als Unmündige nicht klageberechtigt waren, AR), Vergeltung fordern« kann (AP 9,1). Für Einzelheiten vgl. Ruschenbusch (1968) 100–104. Zur politischen Bedeutung dieses Rechtsinstituts vgl. M. Stahl (1987) 180  f. 51  Vgl. dazu Hignett (1952) 96  ff. 52 Aristoteles, Pol. II 12, 1274 a 8–18. Aristoteles folgt Platon, Gorgias 517 b–c und Politeia 426 c. 53  Die Behauptung vom Monopol der ›Reichen‹ auf Grundbesitz stimmt mit der historischen Wirklichkeit nicht überein. Außerdem konnten waffenunfähige ›Arme‹ keine Stasisgruppe bilden, die von der Gegenpartei der ›Reichen‹ zu fürchten gewesen wäre. Vgl. dazu Hignett (1952) 88. Die Ursachen der um 600 aufgebrochenen Stasis sind in der Forschung ebenso umstritten wie die Bedeutung der Begriffe, mit denen sie beschrieben wird (›HektemoAnmerkungen | 299

ren‹, ›Darlehen‹, ›Pacht‹, ›Horoi‹; vgl. dafür Rhodes (1981) 89  ff und Chambers (1990) 143  ff ). Für ihre Deutung als politische Krise vgl. Harris (2002): Zusammenbruch von »law and order« durch notorische Rivalitätskämpfe zwischen den attischen Adligen mit kriegsähnlichen »raids for slaves and booty«. Für ihre Deutung als ökonomische Krise vgl. Ruschenbusch (1968) 95  ff : Das attische Erbrecht mit der Verpflichtung zur Realteilung des Grundbesitzes an alle erbberechtigten Söhne hat wegen des demographischen Wachstums zur Aufsplitterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in immer kleinere Parzellen geführt. Viele Eigentümer konnten deshalb nur mit Hilfe von Darlehen überleben, auf deren Rückzahlung keine realistische Aussicht bestand. Wenn sie bei Zahlungsunfähigkeit der Versklavung entgehen wollten, mussten sie den Gläubiger zum Erben ihres Grundstücks einsetzten, es an ihn verkaufen, verpfänden oder als wirtschaftlich Abhängige (= Hektemoren) in seinen Dienst treten. Die Markierung eines Grundstücks mit einem ›Horos‹ war das Zeichen seiner Bewirtschaftung durch Hektemoren oder seiner Verpfändung. 54  Zur Kritik an dieser Beschreibung vgl. Ruschenbusch (2010) 135. 55  AP 5, 3. Hinter dieser ›Beschreibung‹ steht der Begriff des ›mittleren Bürgers‹ (mšsoj pol…thj). Nach Aristoteles, Pol. IV 11, 1296 a 18  ff stammen die besten Gesetzgeber aus dieser Bürgergruppe. Zur Bedeutung der ›Mitte‹ für eine gute politische Ordnung vgl. ebd. IV 11. 56  Vgl. dafür AP 12, 13 mit dem Zitat aus Solon 34 W 7  f : »Es gefällt mir nicht, etwas mit der Alleinherrschaft Machtgewalt zu tun.« In 33 W zitiert Solon Meinungen seiner Zeitgenossen, die ihn als unentschlossen und »unverständig« tadeln, weil er mit der Tyrannis das ›herrliche Gottesgeschenk ungefährdeten Reichtums‹ ausgeschlagen habe. Vgl. dazu die ausgeschmückte Darstellung bei Plutarch, Solon 14, 3. 57  Vgl. dazu M. Stahl (1987), insbes. Teil II und Robert W. Wallace, Revolutions and a New Order in Solonian Athens and Archaic Greece, in: Kurt A. Raaflaub, Josiah Ober and Robert W. Wallace, Origins of Democracy in Ancient Greece, Berkeley / Los Angeles / London (2007) 51  ff. 58  Zur Differenzierung dieser Darstellung vgl. Ruschenbusch (1968) 89  ff und Harris (2002) 415. 59  Vgl. dafür Chambers (1990) 164  f. 60  36 W 6 = AP 12, 4. Zur unklaren Bedeutung dieses Ausdrucks vgl. Mülke (2002) 375  ff: 61  36 W 13. Zum Mythos von Athen als Gründung Athenes vgl. Mülke (2002) 380  f. Zur »schwarzen« Gaia vgl. ebd. 371  ff. 62 Die Athener sind als Nachkommen des Erechtheus  / Erichthonios Kindeskinder von Hephaistos, Gaia und Athene. Zur Beziehung zwischen Gaia und Athene im politischen Kult Athens vgl. M. Stahl (1992) 403 und Brinkmann (2016) 34  ff : Da die göttliche Jungfrau dem in Liebe zu ihr entbrannten Hephaistos entfloh und seinen Samen, der nur ihren Schenkel getroffen hatte, auf die Erde warf, wurde die attische Gaia die ›Ernährerin‹ des 300 | Anmerkungen

Erichthonios / Erechtheus (Ps.-Apollodor III 14, 6  f, 187–191 und Isokrates 12, 126: Erichthonios als Sohn des Hephaistos und der Gaia). Sie übergab ihn nach neun Monaten an Athena, die ihn in ihrem Peplos in Empfang nahm (vgl. Platon, Tim. 23 d: Athena ließ Attika »gedeihen und heranbilden, … indem sie den Samen eures Volkes von Hephaistos und der Gaia emfing«; für bildhafte Darstellungen dieses Vorgangs in Anwesenheit des Hephaistos vgl. Brinkmann (2016) 38  f ) und in ihrem Tempel aufzog (vgl. Homer, Ilias 2, 547  ff und Euripides, Ion 267  ff ). Im ursprünglichen Mythos bilden Erechtheus und Erichthonios eine Einheit (vgl. Euripides Ion 260 und 268) und treten erst in späterer Zeit auseinander. Vgl. dafür die Genealogie der attischen Könige bei Ps.-Apollodor, 3, 187–190, 196 und 203  f: Erechthonios, das Kind von Hephaistos und Athena, ist der vierte König und Großvater des sechsten Königs Erechtheus, der nach seinem Sieg über Eumolpos und die von ihm angeführten Eleusinier von dessen Vater Poseidon getötet (vgl. im vorliegenden Buch S. 280, Anm. 110), aber, zurückverwandelt in seine ursprüngliche Gestalt, als Burgschlange zum Hüter der Akropolis wird. 63  Noch für Platon, Politeia 470 d bedeutet die Stasis eine ›Verstümmelung‹ der allen Bürgern gemeinsamen »Ernährerin und Mutter«. Mülke (2002) 373 verweist zu Recht auf den ps.-homer. Hymnus an Gaia (Nr. 30) als Hintergrundvorstellung für Solons Verse. 64  Ich folge Ruschenbusch (2010) 95 und 125. 65  Solon 34 W 6  f. Das »Weitere« wäre die gleichmäßige Verteilung des Bodens an »Edle« und »Schlechte« gewesen (= „somoir…h). Solon verweigert sie, weil sie als maßlose Maßnahme »aussichtslos« gewesen wäre, aber auch, weil er nichts tun wollte, was nur »mit der Alleinherrschaft Machtgewalt« hätte verwirklicht werden können (ebd. 7  ff ). 66  Vgl. dazu Bleicken (1995) 26  f. Zur Solonischen Zensuseinteilung und zu ihrer Bedeutung im 5. und 4. Jh. vgl. Winfried Schmitz, Reiche und Gleiche. Timokratische Gliederung und demokratische Gleichheit der athenischen Bürger im 4. Jahrhundert v. Chr., in: Eder (Hrsg. 1995) 573–597. 67  AP 8, 1. Zuvor hatte der Areopag die politischen Ämter auf »ihm dafür geeignet erscheinende Bewerber unter Vorgabe von Richtlinien für die Amtsführung« verteilt (8, 2). 68  Vgl. dazu Armin Müller, Die Städte, in: ders. (Hrsg.), Die Welt der Hellenen, Münster (1995) 38  f. Dort auch zum Verhältnis zwischen der alten Phylenund der neuen Zensusordnung. 69  AP 8, 4. Gegen Ruschenbusch (2010) 73 argumentiert Schmitz (2011) und (2014) 48 für die Glaubwürdigkeit der aristotelischen Darstellung. 70  Für Einzelheiten vgl. Rhodes (1981) 179  ff. Das Amt des Archon Eponymos hat nach M. Stahl (1987) 177 in der Zeit nach Solon besonders den jüngeren Mitgliedern der ersten Zensusklasse »ständig Gelegenheit zu Auftritten vor der Gemeindeöffentlichkeit« geboten und damit ›die Tür zum Areopag‹ als der wichtigsten Machtinstanz der Polis geöffnet. Anmerkungen | 301

71 

AP 14, 2. Vgl. dafür Solon 9 W und 11 W. die ausschließlich sekundäre Überlieferung der solonischen Dichtung vgl. Mülke (2002) 19–21. Zur Diskussion über ihre Authentizität vgl. André P. M. H. Lardinois, Have we Solon’s verses? in: Blok / Lardinois (Hrsg. 2006) 15–35 und Eva Stehle, Solon’s self-reflexive political persona and its audience, ebd. 79–113. 73  Die wenigen Fragmente aus der Phase, in der sich Solon als Feldherr im Krieg gegen Megara das Ansehen eines durchsetzungsfähigen Politikers erworben hat (1–3 W), bleiben im Folgenden außer Betracht. 74  Wichtige frühere Arbeiten sind Jaeger (1926) und (1959), Bd. 1, 187–205: »Solon und die Anfänge der politischen Bildung in Athen«, Fränkel (1962) 249–273 und Büchner (1959). Für neuere Beiträge vgl. Nicole Loraux, Solon au milieu de la lice, in: Aux Origines de l’ Hellénisme. La Crète et la Grèce. Hommage à Henri van Effenterre, présenté par le Centre Gustave Glotz, Paris (1984) 199–244 und dies., Solon et la voix de l’écrit, Cahiers de philologie 14 (1998) 95–125, Manuwald (1989), M. Stahl (1992), Anhalt (1993), Blaise (1995), dies., (2005), dies., Poetics and Politics: Tradition re-worked in Solon’s ›Eunomia‹ (Poem 4), in: Blok  /  Lardinois (Hrsg. 2006) 114–133, Almeida (2003), Elisabeth Irwin, Solon and Early Greek Poetry. The Politics of Exhortation, Cambridge (UK) 2005, und Lewis (2006). Neuere kommentierte Editionen sind Mülke (2002) und Maria Noussia-Fantuzzi: Solon the Athenian, the Poetic Fragments, Leiden / Boston 2010. 75  Vgl. dafür Lewis (2006) 58  ff. Für eine plausible Modifizierung seiner These, dass Solon die Polis als politische Gemeinschaft geschaffen habe, vgl. Almeida (2003), der im Blick auf Ergebnisse der New Classical Archaeology (vgl. exemplarisch Ian Morris, Burial and Ancient Society: The Rise of the Greek City-State, Cambridge (UK) 1987) Solons Leistung als Wiederherstellung einer nach dem Zusammenbruch der mykenischen Palastkultur schon in ganz Griechenland verbreiteten, aber nach 700 durch die ›Gewalt‹ der ›Guten‹ zerstörten Polisordnung charakterisiert hat. 76  Vgl. dazu Meier (1980) 86 und 224  ff. 77  Vgl. dazu auch Manuwald (1989). 78  Blaise (2005) 15. Diese These richtet sich in diesem Punkt gegen die Interpretation von Werner Jaeger und folgt dem Satz Plutarchs, Solon habe seine Gesetze ›mit einem Blick auf das Mögliche abgefasst‹ (Solon 21, 1) und deshalb nicht das ideal beste, sondern das beste Gesetz gesucht, ›das die Bürger sich gefallen lassen‹ (15, 2). 79  Blaise (2005) 16. Vgl. dazu bereits M. Stahl (1992) 397  ff. 80  Solon 4 W 1  f: »Unsere Stadt wird niemals untergehen nach des Zeus Fügung und der glückseligen Götter Willen … . Denn ebenso hält Pallas Athene, Tochter des gewaltigen Vaters, als engagierte Wächterin (meg£qumoj ™p…skopoj) die Hände über sie«. 81  Blaise (2005) 20  f. 72  Für

302 | Anmerkungen

82 

Blaise (2005) 35  ff. Bereits Jaeger (1959) 1, 187–205 und Manuwald (1989) 23  f haben die interne Konsistenz des solonischen Denkens herausgestellt, soweit es in seiner Dichtung zum Ausdruck kommt. Dagegen steht die Interpretation von Gregory Vlastos (Solonian Justice, CQ 41 (1946) 65–83 (= ders., Studies in Greek Philosophy, Vol. 1: The Presocratics, ed. by Daniel W. Graham, Princeton (N. J.) 32–56) mit der These von der Widersprüchlichkeit zwischen dem rationalen Wirklichkeitsverständnis der Eunomia- und dem eher irratio­ nalen der Musen-Elegie. 83  Diese Deutung widerspricht der Interpretation von Jaeger (1926). 84  Büchner (1959) 189  f interpretiert deshalb zu Recht die Musenelegie als performative Dichtung und selbstbezügliche Reflexion des Politikers Solon. 85  Vgl. dafür die Selbstcharakterisierung Solons als Dichter im Fragment 1 aus der frühen Salamis-Elegie (1 W): »Selbst bin ich gekommen als Herold vom lieblichen Salamis her, die Ordnung der Worte zu Gesang statt zur Rede mir setzend« (kÒsmon ™pšwn çid¾n ¢nt’ ¢gorÁj qšmenoj). Dichtung ist also dadurch definiert, dass sie die Wirkung einer öffentlichen Versammlungsrede übertrifft. Vgl. dazu Fränkel (1962) 251 und Mülke (2002) 79  ff. 86  16 W: gnwmosÚnhj d’ ¢fanj calepètatÒn ™sti noÁsai mštron, Ö d¾ p£ntwn pe…rata moànon œcei. 87  13 W 51  f bezeichnet den Dichter als den, der aufgrund seiner Belehrung durch die Musen »sehnenerregender Dichtung volles Maß versteht« (ƒmertÁj sof…hj mštron ™pist£menoj) und so auch zur Wirkung bringt. Zur Bedeutung von sof…h als »Dichtkunst« vgl. Mülke (2002) 305. 88  Werner Jaeger (1926) 317 hat zu Recht Solons Dichtung als »erzieherische Gesetzgebung in Form von anschaulichen tÚpoi und parade…gmata« und als intensive Form der persuasio charakterisiert, die »von Hesiod gelernt (hat), dass nichts so sehr die Wirkung der drohenden Warnung erhöht, als wenn es der Mahner versteht, die erschütterten Gemüter im richtigen Augenblick mit dem Wunschbilde des Ideals zu locken« (ebd. 332). Im Horizont dieses Dichtungsverständnisses schreibt Plutarch dem »weisen Thales« »Gesänge« (òda…) zu, die ›Mahnsprüche zum Gehorsam und zur Eintracht in Form von Melodien und Rhythmen sind und so viel Maßvolles und Beruhigendes enthalten, dass die Hörer unmerklich in ihrem Sinn gemildert werden, so dass sie die herrschende feindliche Gesinnung gegeneinander überwinden und für das Streben nach dem Guten gewonnen werden‹ (Plutarch, Lyc. 4, 1  f ). 89  Solon soll sich deshalb bemüht haben, »seine Gesetze in Gedichtform zu bringen« (Plutarch, Solon 3, 4). Vgl. dazu Lykurg, Rede gegen Leokrates 102: »Durch ihre Knappheit belehren die Gesetze nämlich nicht, sondern befehlen lediglich, was man tun soll. Die Dichter aber … überreden die Menschen mit der Kraft ihrer Worte und ihrer Darstellung.« 90  Vgl. Solon 14 W: »Kein Sterblicher ist selig, sondern alle … befinden sich in einem Zustand der Mühsal.«

Anmerkungen | 303

91  6 W 3  f :

»Es zeugt ja Sättigung immer freche Übertretung (t…ktei g¦r kÒroj Ûbrin), wenn viel Segen folgt den Menschen.« 92  13 W 71  ff. Im Unterschied zu Homer, Hesiod und der archaischen Lyrik ist das menschliche Streben nach Vorteilen für Solon eine inhaltlich unbestimmbar offene und insofern grenzenlose Bewegung. Vgl. dazu Anhalt (1993) 82  ff. 93  Solon 4 W 9. Zum Bild der symposiastischen Feier als Ausdruck der Zufriedenheit mit dem gegenwärtigen Glück vgl. Fränkel (1962) 253  f, 265 und M. Stahl (1992) 389. 94  Zum Begriff qumÒj bei Solon vgl. M. Stahl (1992) 396. Vgl. dort auch S.  402 zum Verhältnis von qumÒj und swfrosÚnh in Solons politischer Ethik. 95  Solon, 13 W 33  ff : »Wir Sterblichen jedoch denken es uns so, Gute wie Schlechte: dass gut ausgehe die Erwartung, die jeder für sich selbst hat, bis ein Leid eintritt; dann wiederum jammert er; bis dahin aber erfreuen wir uns gaffend leichtfertiger Hoffnungen«. 96  Für die Beschreibung desselben Mechanismus bei Aischylos vgl. im vorliegenden Buch S.  25  ff. 97  Solon 13 W 9–16. Vgl. dafür die eindrucksvollen Bilder von der göttlichen Strafe, die den »Werken des frechen Übergriffs« folgt: 13 W 14–32 und 4 W 12  ff. 98  13 W 51  ff. Vgl. ebd. 67  ff : »Der eine versucht, gut zu handeln und fällt dann unvorhergesehen in großes Unheil …, der andere jedoch handelt schlecht, und ihm verleiht ein Gott in allem guten Ausgang.« 99  Zur Bedeutung der Hetairienverbände vgl. Welwei (1999) 3  ff. 100  4 W 22: ™n sunÒdoij to‹j ¢dikšousi f…louj. Gegen diese Gruppenbildungen richtet sich das von Aristoteles AP 8, 4 Solon zugeschriebene Eisangeliegesetz. 101  Ich folge der Übersetzung von Mülke (2002) 225. Vgl. dort auch die Hinweise auf verschiedene Übersetzungen des Adjektivs caànoj. 102  Vgl. dafür Fränkel (1962) 256 und 262 mit Hinweisen auf das prononcierte »Ich erkenne (ginèskw) …« (4a W 1) und die Betonung der Notwendigkeit, nicht nur dies und das, sondern »alles«, d. h. den Zusammenhang, aus dem Einzelnes hervorgeht, »rechtzeitig zu bedenken« (9 W 6: ¢ll’ ½dh cr¾ … p£nta noe‹n). 103  Vgl. dafür Solons Lebensalter- oder Hebdomaden-Elegie 27 W 13–16. 104  37 W 9  f. Auch hier fällt das betonte »Ich aber« (™gë d) auf, das die Einzigartigkeit und das Risiko dieses Dazwischentretens verdeutlicht. Zum Terminus meta…cmion als Bezeichnung für den »Zwischenraum zwischen zwei Armeen vor ihrem Eintritt in die Schlacht« und für einen Raum, um den in der Stasis gestritten wird, vgl. Mülke (2002) 408  f. 105  Vgl. dafür im vorliegenden Buch S.  1 24  f. 106  Vgl. damit AP 5, 2 wie im vorliegenden Buch S. 138  f. 107  Solon 4 a W: »Hinblickend erkenne ich wieder und wieder – und mir 304 | Anmerkungen

sitzen tief im Innern die Schmerzen – / Dass das älteste Land Iaoniens / Sich niederbeugt …« 108  Solon 4 W, 30: »Das zu lehren die Athener heißt mich drängende Regung, / Wie die größten Übel der Stadt Missordnung bringt. / Wohlordnung jedoch bringt alles klar gut geordnet und passend heraus, …«. 109  Vgl. dafür Homer, Ilias 18, 490 mit den Darstellungen der friedlichen und der kriegerischen Stadt auf dem Schild des Achill und Hesiods Beschreibung des Unterschieds zwischen dem Leben in der rechtschaffenen und dem in der frevelhaften Stadt (Erga 224–246). 110  Zum Doppelaspekt der Eunomia als politischer und individueller Praxis vgl. Ostwald (1969) 62  ff und M. Stahl (1992) 397, Anm. 30. 111  Zur Gesellschaftsordnung Attikas vgl. Winterling (1993). 112  Vgl. dafür M. Stahl (1987) 93–99 und die von ihm herangezogenen grundlegenden sozialgeschichtlichen Studien von Félix Bourriot, Recherches sur la nature de genos. Étude d’histoire sociale athénienne. Périodes archaïque et classique, Lille / Paris 1976 und Denis Roussel, Tribu et cité. Études sur les groupes sociaux dans les cités grecques aux époches archaïque et classique, Paris 1976. 113  M. Stahl (1987) 86. 114  M. Stahl (1987) 91. 115  Vgl. dazu AP 16 und M. Stahl (1987) 233  ff und 243  ff. 116  Vgl. dazu Jochen Martin, Von Kleisthenes zu Ephialtes. Zur Entstehung der athenischen Demokratie (Erstdruck 1974), zitiert nach Kinzl (Hrsg. 1995) 181  ff. 117  Für das Verständnis des Folgenden vgl. die chronologische Darstellung der Ereignisse bei Kienast (2005) 100. 118  Nach Aristoteles gelingt das erst im dritten Anlauf, bei dem Peisistratos »zum ersten Mal Gewalt« einsetzt (AP 15, 2). Die Entwaffung des »Volkes« erfolgt jedoch nicht durch Gewalt, sondern mit Hilfe einer List. Danach beschwichtigt der Tyrann das »Volk« mit einer Rede, in der er die konsternierten Bürger auffordert, »weder Erstaunen zu zeigen noch den Mut zu verlieren, sondern wegzugehen und sich um ihre Privatangelegenheiten zu kümmern; alle Staatsangelegenheiten werde er selbst besorgen« (AP 15, 4  f ). 119  Dieses Interesse hatte bereits Kroisos (Hdt. I 56, 1  f ). 120  Vgl. dazu Bornitz (1968) 31  f. 121  Vgl. Hdt. V 62, 3: »Weil sie reich und ein altes, angesehenes Geschlecht waren, bauten sie den Tempel schöner aus, als es der Vertrag vorschrieb.« Auch das Betreiben prestigeträchtiger Bauprojekte war ein normaler Schachzug im Rahmen agonaler Konkurrenz. Vgl. dazu Schefold (1946). 122  Vgl. dazu Bornitz (1968) 37  ff und M. Stahl (1987) 121  ff. 123  Hdt. V 64  f. Nach dem Scheitern eines ersten Versuchs, mit Hilfe der Spartaner als Tyrann nach Athen zurückzukehren – die Spartaner hatten inzwischen die Überredungskünste der Pythia als alkmeonidische List durchAnmerkungen | 305

schaut und den Machtzuwachs Athens als Bedrohung ihrer innergriechischen Führungsstellung wahrgenommen (vgl. Hdt. V 90  ff wie im vorliegenden Buch S.  307, Anm. 140) –, bemüht sich Hippias von Sigeion aus, »Athen in seine und des Dareios Gewalt zu bringen« (V 96). Die Zurückweisung der ultimativen Forderung des persischen Satrapen Artaphernes, Hippias »wieder in die Stadt aufzunehmen«, durch die Athener beweist für Herodot deren Bereitschaft zum Krieg mit Persien (V 96, 2). Noch im Vorfeld der Schlacht bei Marathon verfolgt Hippias im Bündnis mit den Persern den Plan, als deren Satrap Athen zu beherrschen (VI 107, 2). 124  Vgl. dafür Hignett (1952) 126. Ihm folgen Ostwald (1969) 142 und (1986) 16. Hetairiengruppen konnten durch den Aufbau von Drohkulissen Abstimmungen der Volksversammlung beeinflussen. Zum konkreten Fall vgl. AP 20, 1. 125  Nach David Malcolm Lewis, Cleisthenes and Attica, Historia 12 (1963) 38 ist das die Wiederholung der tyrannischen Zuwendung zum Demos unter aristokratisch-demokratischen Vorzeichen. 126  Ich folge der Darstellung von Siewert (1982) 156  ff. 127  Nach der Interpretation von Hdt. V 70 durch Bornitz (1968) 56  ff konnte Isagoras damit drohen, Kleomenes, den er während seines Aufenthalts in Athen als ›Gastfreund‹ in sein Haus aufgenommen hatte, in Sparta wegen des Ehebruchs mit seiner Frau zu verklagen. Da Kleomenes in seiner eigenen Stadt umstritten war, hätte dieser Prozess das Ende seiner politischen Karriere bedeutet. 128  Die Quellen dafür sind Hdt. V 71, Thuk. I 126 und Plutarch, Solon 12. 129  Ich folge Flaig (2004) 40. Im unmittelbaren Vorfeld des Peloponnesischen Krieges haben die Spartaner das Druckmittel der ›sakralpolitischen Verfemung‹, allerdings vergeblich, aktiviert, um von den Athenern die Verbannung des Perikles zu verlangen, der »durch mütterliche Verwandtschaft« mit dem gegen die Alkmeoniden verhängten ›Fluch‹ behaftet war. Vgl. Thuk. I 127. 130  Raaflaub (1980) 19 zeigt, dass der »Befleckte« in der Polis auf den Status eines rechtlosen Sklaven zurückfällt und damit natürlich auch sein Rederecht verliert. 131  Das sind die »Familien«, die den Kern der Alkmeonidenfaktion gebildet haben. Vgl. dazu Welwei (1999) 4  f. 132  Ich zitiere Flaig (2004) 39. 133  Vgl. dazu Welwei (1999) 10. In der Forschung ist umstritten, welcher Rat aufgelöst werden sollte. Gute Gründe sprechen für den bereits eingerichteten Rat der 500. Vgl. dafür Kienast (1965) 273 und ders. (2005) 91. Gehrke (1984) 539  f interpretiert das Zusammenwirken von neuem Rat und gleichgesinnter Bürgerschaft als »eigentliche Geburtsstunde der Demokratie«. 134  Das ist als aktive Erinnerung an das Gericht gemeint, das die Alkmeoniden zu ewiger Verbannung verurteilt hatte, und deshalb nichts anderes als ein oligarchischer Umsturzversuch. 306 | Anmerkungen

135 

Nach Flaig (2004) 47  ff hat der Rat als »funktionstüchtige Institution der Polis … die Bürger zu den Waffen gerufen und die konkreten Schritte des Aufstandes koordiniert«. Es ging demnach um die Verteidigung einer Form von Staatlichkeit, die bereits in der Tyrannis als Stasisblockade gewirkt hat, und um die Verhinderung aristokratischer Rivalitätskämpfe, die für das oligar­ chiefreundliche Sparta eine Einladung waren, in die inneren Angelegenheiten der Athener einzugreifen. Vgl. dazu auch Siewert (1982) 166. 136  Vgl. Flaig (2004) 54  ff. 137  Ich folge Bornitz (1968) 73. 138  Vgl. dafür das von Ostwald (1969) 146, n. 1 zitierte Aristophanes-Scholion zu Lysistrata 273, das allerdings in seinem Quellenwert umstritten ist. 139  Hdt. V 77. Vgl. dazu Welwei (1999) 25. 140  Hdt. V 91, 1  f : »Als die Lakedaimonier … einsahen, dass Athen ständig wuchs und ihnen nicht mehr gehorchen wollte, wurde ihnen klar, dass sich das attische Volk in seiner Freiheit zum ebenbürtigen Gegner entwickeln würde, aber unter einer Tyrannenherrschaft schwach und gefügig bliebe«. Vgl. dafür auch die Rede der Spartaner in der genannten Bundesversammlung (ebd. 91, 2): »Kaum begann das Volk der Athener, durch uns befreit, aufzuatmen, da verjagte es uns und unseren König in frevelhaftem Übermut und wird jetzt immer mächtiger in seinem Dünkel.« 141  Hdt. V 92 a. Nach Auffassung des Sprechers der Korinther käme die Wiedererrichtung einer Tyrannis dem Rückfall der kosmischen (isonomen) Ordnung ins Chaos gleich: »Der Himmel wird sich unter die Erde senken und die Erde über den Himmel erheben, es werden Menschen ihre Wohnung im Meer und die Fische ihre Bleibe in den früheren Wohnungen der Menschen haben, wenn ihr, Lakedaimonier, Freiheit und Gleichheit aufheben und Tyrannen in die Städte zurückführen wollt.« 142  Vgl. Hdt. V 68. 143  Die vier alten Phylen haben nach Pollux (VIII 109) von Erechtheus die Namen der vier Söhne des Ion (Geleontes, Hopletes, Aigokoreis und Argadeis) erhalten und stehen deshalb für die ionische Identität der Athener. Vgl. dazu Lambert (1993) 3 und 15. 144  Hdt. V 66, 2. Die Namen der neuen Phylen stehen für die spezifisch attische Identität der Polis. Vgl. dafür die Aufzählung bei Demosthenes 60, 27–31 und Pausanias I 5, 1. Zu den neuen Phylenheroen gehören u. a. die attischen Urkönige Kekrops, Erechtheus, Aigeus (der ›Vater‹ des Theseus) und Pandion. Zu ihrer Darstellung auf dem Ostfries des perikleischen Parthenon vgl. Knell (1990) 114  f. 145  Hdt. V 69, 2. Herodot äußert sich weder zur Anzahl der Demen noch zum Verfahren ihrer Zuordnung zu den Phylen. 146  Für Nachweise und nähere Erläuterungen vgl. Ostwald (1969) 96  ff und 154  ff. 147  Hdt. V 78. Vgl. dazu auch I 59, 1: Das »attische Ethnos« war unter der Anmerkungen | 307

Tyrannis »niedergehalten und zerrissen« (katecÒmenon – das ist der Ausdruck für Versklavung – kaˆ diespasmšnon). Vgl. dazu Bornitz (1968) 20  ff. 148  Christian Meier (1980) 141 spricht in diesem Zusammenhang von einer »breiten Lagerung der Macht«. 149  Nach Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, HZ 268 (1999) 561–597 stand der aristokratischen Wettbewerbsethik eine Ethik gegenseitiger Hilfe gegenüber, die auf der Grundlage von Leistung und Gegenleistung das Leben in den bäuerlichen Demen Attikas prägte und bereits von Solon auch auf der politischen Ebene zur Geltung gebracht wurde. Vgl. dazu auch ders., Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004. 150  Zu dieser Unterscheidung zwischen dem Ethos der Athener und dem der Spartaner vgl. Fornara (1971) 48  ff und Munson (1988) 99  ff. 151  Für den ideenpolitischen Zusammenhang zwischen Isegorie und Isonomie vgl. Raaflaub (1980), insbes. 11  ff und 15  ff: Isegorie meint nicht das Recht auf freie Rede, sondern ›gleiches Rederecht‹ auch für bislang unterprivilegierte Bürger, die dadurch in die Lebensform der »sozial und politisch höher stehende(n)« »regimentsfähigen Bürger« hineinwachsen. 152  Hdt. III 80, 6. Zur persischen Verfassungsdebatte vgl. Heinrich Ryffel, METABOLH POLITEIWN. Der Wandel der Staatsverfassungen, Bern (1949) 63–73, Jochen Bleicken, Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), Historia 28 (1979) 148–172. Zur Einordnung dieser Debatte in die Darstellung der persischen Geschichte bei Herodot vgl. Bornitz (1968) 204  ff. 153  Die Einzelaktion der Ermordung des Hipparchos durch Harmodios und Aristogeiton »hat die übrigen Peisistratiden nur in wilden Zorn versetzt, aber die Tyrannenherrschaft nicht beendet« (Hdt. VI 123, 2). Auch die Vertreibung der Peisistratiden durch spartanische Hopliten konnte als individuelle Aktion nicht nachhaltig sein. 154  Aristoteles verwendet als Varianten zu ™po…hsen auch katšsthsen und sunšneime. Nachweise werden im Text gegeben. 155  Nach Kienast (1965) 273 war der neue Rat der »Schlussstein« der Reformen des Kleisthenes und nach Gehrke (1984) 537  f die entscheidende Verkörperung der »Immediatisierung der Bürger gegenüber der Polis«. 156  In der Forschung wird intensiv über die Anzahl der Kleisthenes-Demen gestritten. Pierre Lévêque und Pierre Vidal-Naquet, Clisthène l’Athénien. Essai sur la représentation de l’espace et du temps dans la pensée politique grecque de la fin du VIe siècle à la mort de Platon, Paris (11964) 9 plädieren mit besonderem Blick auf Hdt. V 69, 2 (s. o. S.  158 mit Anm.  145) und mit pythagoreisch geschärftem Bewusstsein für hundert Demen, die sich wunderbar auf zehn Phylen verteilen lassen. Dieser Einschätzung folgt u. a. Dietmar Kienast, Die Zahl der Demen in der Kleisthenischen Staatsordnung, Historia 54 (2005) 495  f. In der Neuauflage ihres Buches von 1996 (XXXV) korrigiert Vidal-Na308 | Anmerkungen

quet diese Einschätzung und folgt Eliot (1962) und John Stewart Traill, The Political Organization of Attica. A Study of Demes, Trittyes, and Phylai, and their Representation in the Athenian Council, Princeton (N. J.) 1975, die aufgrund archäologischer Befunde 139 ›konstitutionelle‹ Demen ermittelt haben. Vgl. dafür auch Whitehead (1986) 18  f. Mit ähnlicher Intensität wird über die Probleme gestritten, die sich bei der Herstellung größengleicher Trittyen ergeben haben (sollen). Vgl. dafür Siewert (1982) 126  ff und 135. 157  AP 21, 2 und Aristoteles, Pol. VI 4, 1319 b 25  f. 158  AP 21, 4. Die alten Demen waren Siedlungseinheiten, die neuen sind Verwaltungseinheiten. Vgl. dazu Eliot (1962) 4. Zum Binnenleben der Demen vgl. Whitehead (1986), insbes. 65  ff. Nach Kienast (2005) 71  ff gab es bereits zur Zeit Solons eine Demenordnung. In ihrem Rahmen hatte sich eine Schicht von Lokalhonoratioren herausgebildet. Sie waren wegen ihrer Verwaltungserfahrungen ›natürliche‹ Kandidaten für das neue Demarchat und deshalb auch wichtige Unterstützer der alkmeonidischen Reformpolitik (ebd. 86). 159 Zur Bestellung und Amtsbefugnis des Demarchen vgl. Whitehead (1986) 58  ff, 122  ff (in der Deme) und 130  ff (in der Polis). 160  Vgl. dazu Whitehead (1986) 24  ff. 161  Kleisthenes antizipiert die später von Aristoteles formulierte Einsicht, dass eine ›politische Gemeinschaft‹ nicht das Ganze ist, sondern auf eine vorpolitische Substruktur angewiesen bleibt, die von ihr respektiert werden muss (Pol. III 9, 1280 b 31: ¢nagka‹on Øp£rcein, e‡per œstai pÒlij). Die vorpolitische Sozialstruktur besteht nach Aristoteles aus ›natürlichen‹ Gemeinschaften (Phratrien, private Kultverbände), aber auch aus ökonomischen Kooperationseinheiten (koinwn…ai crhmatistika…) (Eud. Ethik VII 9, 1241 b 25–27). Vgl. dazu auch Pol. III 9, 1280  b  30  ff. 162  Als Vater des Ion hat Apoll gleichsam das ›natürliche‹ Recht, der Revision der ionisch geprägten Struktur Attikas seinen Segen zu geben. Vgl. dazu Lambert (1993) 371  ff ). 163  Vgl. dazu Uta Kron, Die zehn attischen Phylenheroen, Berlin 1976. 164  AP 22, 1 Zur Diskussion über ›Gesetze‹ des Kleisthenes vgl. Wade-Gery (1933). 165  Für die Datierungsprobleme vgl. Chambers (1990) 235  f. 166  Schon für Herodot beweist Marathon, dass die Reformen des Kleisthenes die militärische Handlungskraft Athens gestärkt haben. Vgl. dafür Bornitz (1968) 16  ff: Während Peisistratos bei seinem Zug von Eritrea über Marathon nach Athen sträflich leichtsinnige Athener noch mühelos in die Flucht schlagen konnte (Hdt. I 63), stießen die Perser, die bewusst denselben Weg wählten, bei Marathon auf den Widerstand des nach den neuen Phylen aufgestellten Heeres der Athener (VI 103). Die Marathon-Kämpfer waren die ersten Griechen, die »den Anblick medischer Kleidung und medischer Krieger ausgehalten haben«, während es zuvor »ein Schrecknis war, den Namen der Meder auch nur zu hören« (VI 109–111). Anmerkungen | 309

167 

Zur Ostrakophorie im 4. Jh. vgl. AP 43, 5 und Ostwald (1992) 334  f. Nach Schmitz (2011) 44  ff ist der Ostrakismos die verbesserte, zunächst dem Rat und ab 488/87 der Volksversammlung anvertraute Fassung des von Solon dem Areopag zugewiesenen Eisangelia-Verfahrens. Vgl. dazu Gehrke (1984) und Martin Dreher, Verbannung ohne Vergehen. Der Ostrakismos (das Scherbengericht), in: Burckhardt / v. Ungern-Sternberg (Hrsg. 2000) 66–77. 168  Vgl. dafür die Ausführungen zum Institut der Prytanie im vorliegenden Buch S. 162 und die Hinweise von Schmitz (2011) 25 auf spätere Maßnahmen zur Tyrannisprophylaxe. 169  Vgl. dafür Kienast (2005): Dokimasie der neu bestellten Buleuten und der Archonten, letzte Entscheidung über Krieg und Frieden, Mitwirkung bei Verhängung der Todesstrafe und gravierender Geldstrafen (ebd. 96  f mit Blick auf AP 45, 1). Zur gleichzeitigen Einschränkung der richterlichen Befugnisse der Archonten vgl. Ostwald (1992) 327  ff. 170  AP 29, 3. Auch für Isokrates zeigt sich ihre »Volksfreundlichkeit« an der ›geometrischen‹ Verteilung der politischen Mitwirkungsrechte (7, 17  ff ). 171  Die Formulierung spielt an auf Aristoteles, Pol. III 13, 1284  a  17  ff. 172 Aristoteles, Pol. VI 4, 1319 b 21  ff. Vgl. dazu exemplarisch Schmitz (2014) 66. 173  Meier (1980) 91–143, insbes. 127  ff. 174  Für die Einzelheiten vgl. AP 43, 2–6. Zur Ergänzung vgl. ebd. 44, 1: Der durch das Los »für eine Nacht und einen Tag« bestimmte Vorsitzende der Prytanen, der diese Aufgabe in der Amtszeit seiner Prytanie aber »nur einmal wahrnehmen darf«, »verwahrt die Schlüssel der Heiligtümer, in denen sich die Gelder, Urkunden und das Siegel der Polis befinden«, und zwar zusammen mit einer »von ihm dazu bestimmten Trittys der Prytanen« (vgl. dazu Chambers (1990) 353), die mit ihm in der Tholos verbleiben muss. Damit sollte jeder willkürliche Zugriff auf wichtige Machtressourcen der Polis verhindert werden. 175  AP 47, 1. Vgl. dafür Meier (1980) 137. 176  Vgl. dazu die Hinweise S.  139 mit Anm. 62. 177  Vgl. Hdt. VII 139. Es gehört zu den Topoi der Lobrede auf Athen, der Polis »größte Seelenstärke« zuzusprechen, weil sie »das Furchtbare« deutlich »erkennt und deshalb keiner Gefahr ausweicht« (Thuk. II 40, 3, Epitaphios des Perikles). Vgl. dafür auch im vorliegenden Buch S. 187  ff und 217. 178  Isokrates 15, 233. Die Formulierung despÒtai tîn `Ell»nwn zielt kritisch auf die Politik Athens im delisch-attischen Seebund, während das »Verlassen der Stadt« höchste Bewunderung verdient. 179  Hdt. VII 138: »Obwohl die Griechen längst wussten«, dass der Zug des Xerxes ihnen allen galt, »handelten sie nicht gemeinsam. Die einen boten dem Perserkönig Erde und Wasser und lebten in der Zuversicht, sie würden  … nichts Unfreundliches erleiden, die anderen schenkten nichts und gerieten jetzt in große Furcht.« 310 | Anmerkungen

Vgl. Plutarch, Them. 3, 4: Für die meisten Griechen war Marathon das Ende der Perserkriege und allein für Themistokles »der Anfang größerer Kämpfe«. 181  Plutarch stilisiert im Blick auf Thuk. I 93, 4 und 138, 3 Themistokles zum Einzigen, der es wagen konnte, mit diesem Antrag vor die Volksversammlung zu treten (Them. 4,1: mÒnoj e„pe‹n ™tÒlmhse parelqîn e„j tÕn dÁmon). 182  Vgl. Hdt. V 81, 2  f : »Während die Athener mit den Boiotern im Kampf lagen« (vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 156), … gedachten die Aigineten, durch großen Reichtum übermütig geworden, ihrer alten Feindschaft mit Athen« und fuhren ohne Kriegserklärung »auf Kriegsschiffen hinüber nach Attika, plünderten den Phaleron und viele andere Küstengemeinden«. Zur Reak­t ion der Athener und zu ihrer Angst vor einem Bündnis der Aigineten mit den Persern vgl. Hdt. V 89, VI 49, VI 87–93 und Blösel (2004) 81  f. 183 Plutarch, Them. 4, 1  f : Da der Krieg mit Aigina »eben zu jener Zeit mit größter Heftigkeit geführt wurde« (vgl. Hdt. V 81, 2  f ), »drohte er nicht mit dem Schreckgespenst des Dareios und der Perser, denn diese waren weit weg, und die Furcht, sie könnten wiederkommen, saß gar nicht tief«, sondern bediente sich »im richtigen Augenblick (eÙka…rwj) … des Hasses und der Eifersucht seiner Mitbürger« gegen ihre Nachbarn. 184  Dass diese Grenze den Persern bekannt war, betont Hdt. I 4, 4: »Denn die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als ihr Land an, Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb ihrer Grenzen.« 185 Herodot unterscheidet also zwischen der subjektiven Intention des Handelnden und strukturellen Handlungsfolgen. Zum theologischen Aspekt des Perserkrieges vgl. insbesondere Immerwahr (1982) und ders., Aspects of Historical Causation in Herodotus (1956), zitiert nach: Rosaria Vignolo Munson (ed.), Herodotus / 1: Herodotus and the Narrative of the Past, Oxford (2013) 157–193. Zur Opposition gegen die anti-persische Politik des Themistokles vgl. Hignett (1952) 173–189, insbes. 185  ff. 186  Zur gleichsam göttlichen Rolle der Athener als Retter Griechenlands vgl. Strasburger (1958) 507. 187  Vgl. Hdt. VII 139, 1: »Hier sehe ich mich … gezwungen, eine Erkenntnis (mit Gründen) darzutun, die bei der Mehrzahl der Menschen Ärger erregen wird. Trotzdem will ich mit dem Urteil, wie sich mir die Sache in Wirklichkeit zu verhalten scheint, nicht hinter dem Berge halten«. Nach Kleinknecht (1940) 247  f antizipiert Herodot die z»thsij ¢lhqe…aj im Sinne von Thukydides, der auch Herodots Bewertung der Rolle Athens im Perserkrieg teilt. 188  Vgl. Thuk. II 8, 4  f : »Die Stimmung der meisten Menschen neigte sich … den Lakedaimoniern zu, zumal sie die Rettung von Hellas verkündet hatten.« 189  Vgl. dazu Kleinknecht (1940) 242  f: »Die Möglichkeiten, die hier für Athen in Rechnung gestellt werden, sind … von anderen griechischen Staaten in der gleichen oder einer ähnlichen Lage tatsächlich schon durchgeführt und sogar von den Athenern selbst … ernstlich erwogen worden. … Herodot ar180 

Anmerkungen | 311

beitet also … nicht mit leeren Abstraktionen, sondern mit objektiv gegebenen Möglichkeiten der damaligen Politik.« 190  Auch die Entscheidung zur Gegenwehr, mit der wegen des spartanischen Tapferkeitsethos sicher zu rechnen gewesen wäre, hätte auf der Handlungsebene dieselben Folgen gehabt wie eine ›schändliche‹ Kapitulation. 191  Hdt. VII 139, 5  f : »Der Verlauf der Dinge hing einzig und allein davon ab, auf welche Seite sie (sc. die Athener) sich stellen würden.« Für eine ausführliche Charakteristik des herodoteischen Argumentationsverfahrens vgl. Kleinknecht (1940) 241  ff. 192  Vgl. dazu im vorliegenden Buch die Hinweise S. 300  f, Anm.  62 193  Hdt. VII 141, 4: »Doch erwarte du nicht der Reiter Schar und das Fußvolk / Ruhig auf festem Boden! Entweiche dem drohenden Angriff, / Wende den Rücken ihm zu!« 194  Hdt. VII 140–142. Für den historischen Hintergrund vgl. Blösel (2004) 91  ff und 101  ff. 195  Zum Gedanken der Kooperation von Göttern und Menschen vgl. im vorliegenden Buch S. 45  ff, 68 und 88. 196 Zu Herodots Konstruktion des themistokleischen Auftritts in der Volksversammlung als »Epiphanie« vgl. Blösel (2004) 105  ff. Zur Konstruktion seiner Themistokles-Figur vgl. Fornara (1971) 65  ff. 197  Plutarch orientiert sich an Hdt. VII 174  f. Dort geht es um die strategische Bedeutung von Artemision und um den Beschluss des hellenischen Strategenkollegiums, das koordinierte Vorgehen von Heer und Flotte des Gegners mit einer ähnlichen Strategie zu beantworten, so dass gleichzeitig mit der Entsendung der Flotte zum Kap Artemision ein von Sparta geführtes Hoplitenheer zum Pass bei den Thermopylen geschickt wird. Die Niederlage bei den Thermopylen macht jedoch deutlich, dass die bei Marathon noch erfolgreiche Tapferkeit des »an Ort und Stelle in der Ordnung Bleibens« (Hdt. VII 219, 2) nicht ausreicht, um den persischen Angriff abzuwehren. Vgl. dazu Kleinknecht (1940) 243  f. 198  Hdt. VIII 5. Als der Wichtigere erhält Eurybiades fünf und Adeimantos, der besondere Gegner des Themistokles im Strategenkollegium, drei Talente, die Themistokles für sein eigenes Geld ausgibt. Für den historischen Hintergrund vgl. Blösel (2004) 137  f. 199  Vgl. dazu Hdt. VIII 6–18. Herodot parallelisiert das erste Auftreten griechischer Schiffe gegen die Flotte der Perser (VIII 10  f) mit dem ersten Kampf der griechischen Hopliten gegen das persische Landheer bei Marathon (VI 112). Vgl. dazu im vorliegenden Buch S.  309, Anm. 166. 200  Herodot verdeutlicht das Zusammenwirken von menschlich und theologisch motiviertem Handeln: Die Athener ließen gleich nach der Ankunft ihrer Schiffe »durch Herolde verkünden, jeder Athener solle … Kinder und Haushalt in Sicherheit bringen. … Sie schafften in Eile heimlich alles fort, um dem Götterspruch gehorsam zu sein, besonders aber aus folgendem Grund: 312 | Anmerkungen

Die Athener erzählen, als Wächter der Burg halte sich eine große Schlange im Heiligtum (sc. der Athena Polias) auf«, die »wie ein lebendes Wesen« einen Honigkuchen »als monatliches Opfer« erhielt. »Dieser Honigkuchen, der bisher jedesmal aufgezehrt war, blieb diesmal unberührt. Als die Priesterin das verkündete, verließen die Athener noch viel bereitwilliger und entschlossener ihre Stadt, weil ja auch die Göttin ihre Burg verlassen habe« (VIII 41). Die Burgschlange ist der nach seinem Tod vergöttlichte Urkönig Erechtheus. Vgl. dazu Brinkmann (2016) 43. Lediglich die Verwalter des Tempelschatzes und einige andere, »die aus Armut nicht nach Salamis gegangen waren«, blieben im heiligen Bezirk und stürzten sich beim Angriff der Perser nach tapferer Gegenwehr entweder von der Mauer der Burg oder wurden von den Siegern im Tempel erschlagen (Hdt. VIII 51–53). 201  Zur Rolle des Mnesiphilos bei Herodot vgl. Blösel (2004) 188  ff. 202  Vgl. dafür Hdt. VI 109. Zur Parallelisierung von Miltiades und Themistokles bei Herodot vgl. Blösel (2004) 191. 203  Hdt. VIII 60 a: »In deiner Hand liegt jetzt die Rettung Griechenlands, Eurybiades, die es dann geben wird, wenn du auf mich hörst, hier bleibst und eine Seeschlacht lieferst, nicht aber auf die Ratschläge dieser Männer hin die Schiffe zum Isthmos absegeln lässt. Höre zu und halte beides gegeneinander.« Die Rede folgt in ihrem Aufbau der von Themistokles (Hdt. VIII 83) selbst formulierten Regel des genus deliberativum, in einem Hauptteil »die besseren insgesamt den schlechteren Dingen gegenüberzustellen, soweit sie aus der Natur und der jeweiligen Lage des Menschen hervorgehen« (‹t¦› kršssw to‹si ¼ssosi ¢ntitiqšmena, Ósa d¾ ™n ¢nqrèpou fÚsi kaˆ katast£si ™gg…gnetai), um dann mit der optimal begründeten »Ermahnung« schließen zu können, »das Bessere zu wählen« (t¦ kršssw aƒršesqai). 204  Im Blick auf das officium der symbuleutischen Rede dient die erste Reihe dem Abraten (¢potrop») und die zweite dem Zuraten (protrop»). Vgl. dazu Aristoteles, Rhet. I 3, 1358 b 8  f. Zum Aufbau symbuleutischer Reden bei Herodot vgl. Erwin Schulz, Die Reden im Herodot, Phil. Diss. Greifswald (1933) 25  ff und 46 und August Deffner, Die Rede bei Herodot und ihre Weiterbildung bei Thukydides, München, Phil. Diss. (1933) 74  ff und 78  ff. 205  Die offene Drohung mit Gewalt verändert die Debatte zum »Wortgefecht« (VIII 64, 1: œpea ¢krobolis£mena, 78: çqismÕj lÒgwn und 81: lÒgwn ¢mfisbas…h) und zeigt, dass die Strategen den falschen ›Krieg‹ wählen, indem sie sich gegenseitig mit »üblen Worten« (VIII 61, 2: œpea kak£) beschimpfen statt geschlossen die angreifenden Feinde zu bekämpfen. 206  Zu anderen Risiken der Isegorie vgl. die von Megabyzos in der persischen Verfassungsdebatte vorgetragene Rede über die Unvernunft und den Hochmut der blinden Masse (III 81, 2  f ) und Herodots Kommentar zum Redeerfolg des milesischen Tyrannen Aristagoras, der, nachdem ihm Sparta die kalte Schulter gezeigt hat, die athenische Volksversammlung mit seinen Versprechungen überreden kann, den ionischen Aufstand zu unterstützen: Anmerkungen | 313

»Offensichtlich ist es leichter, viele zu täuschen als einen. Bei einem Kleomenes in Sparta war es ihm nicht gelungen, bei 30.000 Athenern hatte er damit Erfolg. Also ließen sich die Athener überreden und beschlossen, den Ioniern 20 Schiffe zu Hilfe zu schicken«. Damit hat »das Übel für die Griechen und Barbaren« begonnen (V 97) . 207  Nachdem Themistokles »von den Peloponnesiern überstimmt« wird, verlässt er »heimlich die Versammlung« (VIII 75, 1). 208  Themistokles hält sich an die Regel, die Platons Sokrates in der Politeia so formuliert, dass die »Unwahrheit in Reden« gegenüber Feinden »nützlich« ist, aber auch »der Freunde wegen, wenn diese … aus irgendeiner Unvernunft Arges zu tun unternehmen« (382 c). 209  Themistokles erkennt die Grenze seiner eigenen Überredungskunst, wenn er seinen Rivalen Aristeides, der in der Stunde der Gefahr mit ihm kooperiert, bittet, den Verbündeten die Nachricht vom Einschluss ihrer Schiffe zu überbringen: »Denn wenn ich es ihnen mitteile, so werde ich den Anschein erwecken, als rede ich aus eigener Erfindung, ich werde sie nicht überzeugen … . Wenn … sie dir glauben, ist alles gut. Halten sie es aber für unwahr, dann soll es uns gleich sein; denn wenn wir von allen Seiten eingeschlossen sind, werden sie nicht mehr auseinander laufen können« (VIII 80, 2). 210  Vgl. auch Hdt. VIII 89, 2 und Diodor XI 18, 4–6. 211  Vgl. dazu Munson (1988) 96: »failed test of democratic behavior«. 212  Zur Rolle Artemisias bei Herodot vgl. Munson (1988). Da sie zur Teilnahme am Zug des Xerxes nicht verpflichtet ist und ihn nur »aufgrund ihres Mutes und ihrer Tapferkeit« unterstützt, vertritt sie in der persischen Welt das griechische Element der Freiheit und ist deshalb auch die beste Ratgeberin des Königs (VII 99). Für den Vergleich ihrer politischen Urteilskompetenz mit der des Themistokles vgl. Munson (1988) 97  f. 213  Hdt. VIII 68 bff: »Bestehst du nicht auf der Seeschlacht, sondern … bleibst auf dem Lande oder rückst nach der Peloponnes vor, so wird sich dir … alles leicht nach der Absicht gestalten, mit der du gekommen bist; denn lange können die Griechen nicht Widerstand leisten. … Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Leute aus der Peloponnes ruhig bleiben, wenn du mit deiner Landmacht gegen ihre Heimat ziehst. Es wird ihnen dann wenig daran liegen, für die Athener in einer Seeschlacht zu kämpfen. Wenn du aber sofort auf einen Kampf zur See drängst, fürchte ich, dass der Verlust deiner Seemacht das Landheer mit ins Verderben zieht.« 214  Vgl. VIII 69, 2. Xerxes verarbeitet Artemisias Satz, dass die griechischen den persischen Seesoldaten überlegen sind wie »Männer den Frauen« (68 a), zu der hybriden Überzeugung, dass von seinem königlichen Körper auf diejenigen, die ihn erblicken, magische Kräfte ausgehen, die Kämpfer, die zuvor »Frauen« waren, in »Männer« verwandeln würden. 215  VII 5  f. Im Unterschied zum zögerlichen Xerxes ist Mardonios, der »auf ihn den größten Einfluss von allen Persern besaß« (5, 1), »ein auf neue Taten 314 | Anmerkungen

versessener Mann«, der »selbst gern Satrap von Griechenland werden wollte« (6, 1). Er erinnert deshalb Xerxes ständig an seine Rachepflichten gegenüber den Athenern und stellt ihm mit Europa den Besitz eines bedeutenden Landes in Aussicht. Er wird dabei von fragwürdigen griechischen Kräften unterstützt, den thessalischen Alauaden, den aus Athen vertriebenen Peisistratiden und von einem unzuverlässigen Orakeldeuter aus Athen. 216  VII 8 d: »Zu der von mir bezeichneten Zeit muss sich jeder von euch bei mir bereitwillig einfinden. Wer das am besten ausgerüstete Heer mitbringt, erhält von mir Geschenke, die in unserem Land als die kostbarsten gelten. Dies also müsst ihr nun so tun!« 217  Zum Scheincharakter der Kronratsdebatte vgl. Immerwahr (1982) 519  f. Zur Bedeutung der Bulomenos-Formel für die Praxis der politischen Isegorie im Rahmen der athenischen Demokratie vgl. die Hinweise S.  295 Anm. 1. 218 Zur Rede des Mardonios vgl. Kurt Arnold Raaflaub, Herodot und Thukydides: Persischer Imperialismus im Lichte der athenischen Sizilienpolitik, in: Norbert Ehrhardt und Linda-Marie Günther (Hrsg.), Widerstand – Anpassung – Integration. Die griechische Staatenwelt und Rom. Festschrift für Jürgen Deininger zum 65. Geburtstag, Stuttgart (2002) 19  f. 219  Vgl. dafür die Rede des Mardonios Hdt. VII 9, 2 b und g: Obwohl die Griechen die gleiche Sprache sprechen, legen sie ihren Streit nicht durch Verhandlungen bei, sondern tragen ihn in selbstzerstörerischen Schlachten aus und erleichtern damit einem externen Gegner die Kriegsführung. 220  Artabanos umschreibt mit diesem Bild die rhetorische Technik des vergleichenden Prüfens, die an das utramque partem disserere der Gerichtsrede anknüpft. Für ihre Charakteriserung als Verfahren der Erkenntnisförderung vgl. Aristoteles (Rhet. 1368  a  23  ff ¢ntiparab£llein) und Isokrates (12, 39  f ). Weitere Hinweise auf seine Bedeutung für die Rhetorik gibt Roth (2003) 106  ff. 221  VII 10 e-z: »Du siehst, wie der Gottheit Blitze die sich erhebenden Lebewesen trifft und sie nicht ihrer Einbildung überlässt … . Denn der Gott duldet nicht, dass ein anderer außer ihm sich groß dünkt.« 222  Vgl. VII 8 a 1  f : »Wie ich von den Älteren weiß, sind wir noch niemals zur Ruhe gekommen, seit wir diese Herrschaft von den Medern durch Kyros übernahmen … . Aber die Gottheit führt uns so und hilft, dass unsere zahlreichen Unternehmungen zum Besten geraten. Was Kyros, Kambyses und mein Vater Dareios geleistet haben, … wisst ihr … . Seitdem ich diesen Thron bestieg, sann ich darüber nach, wie ich hinter meinen Vorgängern nicht zurückbliebe und den Persern keine geringere Macht hinzueroberte.« 223  Vgl. VII 16 g 3: Wenn die Traumgestalt »unausgesetzt (sunecšwj) käme, dann würde ich sie selbst für göttlich halten.« Vgl. damit das von Themistokles in der Debatte über das delphische Orakel angesetzte Kriterium begrifflicher Konsistenz (im vorliegenden Buch S. 169). 224  Zum Traum des Xerxes und zum ›nächtlichen‹ Umgang mit seiner Erscheinung vgl. Immerwahr (1982) 523–527. Anmerkungen | 315

225 

Hdt. VII 45. Seine Seligpreisung steht für den Anspruch, der Gottheit und ihrer Ordnung überlegen zu sein. Dieselbe Hybris kommt darin zum Ausdruck, dass Xerxes durch Geißelung, Fesselung und Brandmarkung den Hellespont bestrafen will, weil ein Unwetter die Pontonbrücken zerstört hat, auf denen sein Heer die Grenze nach Europa überschreiten sollte (VII 35, 2). Die religiös-zeremonielle Staffage des Übergangs von Asien nach Europa thematisiert Immerwahr (1982) 502  f. 226  Vgl. dafür Charles Fornara, Form and Thought in Herodotus, Cleveland (1966) insbes. 75  ff. 227  VII 46, 4: Ð d qeÕj glukÝn geÚsaj tÕn a„îna fqonerÕj ™n aÙtù eØr…sketai ™èn. Vgl. damit Solons Satz: »Das ganze göttliche Walten ist neidisch und unbeständig«, so dass der Mensch »in der langen Zeit seines Lebens vieles sehen und erleiden muss, was er nicht gern will« (I 32, 1  f ). 228  Von daher gilt für Herodot auch der Satz des Sokrates der platonischen Politeia: »Gott ist niemals und auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne vollkommen gerecht« (509 b). 229  »Menschliches Glück kann in keiner Weise bleiben, wie es ist«, so dass »Städte, die früher groß waren, größtenteils klein geworden sind, und die, die zu meiner Zeit mächtig waren, früher unbedeutend waren« (I 5, 3  f ). Vgl. dazu auch die Rede des entmachteten Lyderkönigs Kroisos im Rat des Kyros: »Alles Menschliche vollzieht sich wie ein Kreis. Da er sich ständig dreht, kann es nicht sein, dass immer die Gleichen glücklich leben« (I 207, 2). 230  Das ist nach Herodot I 32, 8 die Lehre Solons. 231  VII 49, 4: eÙprhx…hj d oÙk œsti ¢nqrèpoisi oÙdem…a plhqèrh. Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 145. Selbst die Lakedaimonier, die nach Herodot alle Griechen an Sittlichkeit übertreffen, wollten, nachdem sie aufgrund der guten Gesetze Lykurgs zu »Ansehen und Wohlstand« gekommen waren, nicht mehr »ruhig leben« (I 66, 1). 232  Für den privaten Rückzug aus der Welt der großen Handlungsziele steht die Entscheidung des Isonomieanhängers Otanes, der nach der Einführung der Monarchie auf seine eigene Bewerbung um das Königsamt verzichtet, sondern sich in das eigene ›Haus‹ zurückzieht und dort ohne Verletzung persischer Gesetze nach eigenem Willen leben will (III 83). 233  Zum sophistischen Hintergrund dieses Begriffs der Eristik vgl. im vorliegenden Buch S. 276, Anm.  75  f. 234  Zum Handlungskontext vgl. Thuk. I 66  f : Ereignisse, die Kerkyra und Potideia betreffen, veranlassen die Korinther und die Athener zu gegenseitigen Anschuldigungen. Auch Mitglieder des Peloponnesischen Bundes und die zum delisch-attischen Seebund gehörenden Aigineten beklagen sich in Sparta über Vertragsbrüche der Athener. Daraufhin werden sie und jeder, »der sonst ein Unrecht von den Athenern erlitten zu haben glaubte«, von den Spartanern aufgefordert, »in einer ihrer üblichen Versammlungen das Wort zu ergreifen«. Da zu demselben Zeitpunkt auch eine Gesandtschaft der Athener vor Ort ist, 316 | Anmerkungen

kann sie auf ihren Antrag hin die Grundzüge athenischer Politik in einer weiteren Volksversammlung erläutern (ebd. 72). 235  Thuk. I 69, 4: »Denn ihr (sc. die Spartaner) sitzt untätig da, und als Einzige von den Hellenen wehrt ihr euch nicht durch kraftvolles Handeln …«. Zum dreißigjährigen Friedensvertrag von 446 vgl. Welwei (1999) 125  f. 236  Thuk. I 69, 2. Zu diesem maßgeblich von Themistokles vorangetriebenen Plan, mit dessen Umsetzung bereits im Jahr 493 unter seinem Archontat begonnen wurde, vgl. ebd. I 90  ff. Für die Fortsetzung und Vollendung dieses Projekts (Lange Mauern) vgl. Thuk. I 89–92. 237  Der entscheidende Vorwurf lautet, dass die abwartenden »Besonnenheit« (swfrosÚnh) der Spartaner auf »Mangel an Einsicht (¢maq…a) in die auswärtige Lage« beruht und deshalb keine Tugend, sondern ein Fehler ist (68, 2). Vgl. dazu ebd. 69, 1: »Nicht wer unterjocht, sondern derjenige, der Unterjochung verhindern könnte, aber untätig zusieht, ist in Wahrheit der Unterdrücker.« 238  Thuk. I 70, 2, vgl. dazu auch 70, 7: absolute Einheit von Planen und Verwirklichen. 239  Zur athenischen Macht-Ideologie vgl. Raaflaub (1984). 240  Athen hat bereits bei Marathon »den Vorkampf gegen den Barbaren allein ausgefochten« (73, 4) und die Voraussetzungen für den Sieg bei Salamis geschaffen, »als uns zu Lande niemand half und alle anderen bis zu uns schon Sklaven waren« (74, 2). Andere Griechen haben sich an der Schlacht bei Salamis nur aus Angst vor der Zerstörung ihrer eigenen Städte beteiligt, aber die Athener nicht unterstützt, als auch sie »noch heil waren« (74, 3  f ). 241  Vgl. damit die Gegenerzählung Platons. Bei ihm erklären die ägyptischen Priester Solon, dass die vergessenen Vorfahren der Athener im Kampf gegen die Könige von Atlantis, als diese »das gesamte Land« diesseits der Säulen des Herkules (der heutigen Straße von Gibraltar) »unterjochen« wollten, »durch Mut und Kriegskünste … teils an der Spitze der Hellenen, teils, nach dem Abfall der übrigen, notgedrungen auf sich allein angewiesen, in die äußersten Gefahren« gerieten, aber »die Angreifer besiegten, dadurch verhinderten, dass die noch nicht Unterjochten unterjocht wurden«, während sie die bereits Unterworfenen anderen »großzügig befreiten.« Der wahre Perserkrieg ist demnach nicht der historische, auf den die Athener sich so gerne berufen. Vielmehr ist die Tapferkeit, die sie in ihren Reden über diesen Krieg in Anspruch nehmen, lediglich in mythischer Vorzeit »vor allen Menschen offenbar« geworden, d. h. in der Epoche, als die Athener noch direkt mit ihrem göttlichen Ursprung verbunden waren (Platon, Tim. 25 b–c). 242  Thuk. I 75, 1: gnèmhj xÚnesij. Vgl. damit die Rede der Korinther ebd. 70, 6: gnèmh o„keiot£th als ureigener Besitz der Athener. 243  Thuk I 74, 2: »Allerverwegensten Mut zeigten wir, … als wir die Polis geräumt und unser Eigenes (t¦ o„ke‹a) dem Verderben ausgeliefert haben«, statt »das Gesamtinteresse der übrigen Verbündeten preiszugeben.« Im UnterAnmerkungen | 317

schied zu den Peloponnesiern haben »wir im Ausgang von einer nicht-seienden und nur noch auf geringer Hoffnung beruhenden Stadt (¢pÒ te tÁj oÙk oÜshj … kaˆ Øpr tÁj ™n brace…v ™lp…di oÜshj sc. pÒlewj) Gefahren auf uns genommen und mit uns auch euch gerettet« (74, 3). Um das von den Athenern beanspruchte ›Wagnis‹ richtig einschätzen zu können, muss man den in der Anm. 62, S.  300  f des vorliegenden Buches umschriebenen Mythos von der göttlichen Gründung Athens beachten. 244  Thuk. I 76, 1: »entweder mit Härte … herrschen oder … beherrscht zu werden«. 245  Vgl. dafür im vorliegenden Buch S.  315, Anm. 222. 246  Thuk. I 76, 2. Im Melier-Dialog glauben die Athener sogar, dass die Götter hinter diesem Gesetz stehen. Vgl. V 105, 1–3. 247  Vgl. Thuk. I 76, 2: Die drei größten Antriebskräfte der menschlichen Natur sind »Ehre, Furcht und Nutzen«. Vgl. dazu auch I 75, 3. 248  Hdt. VIII 109, 2  f : »… denn dass wir Griechenland und uns selbst gerettet haben, verdanken wir einer ganz besonderen Gunst des Schicksals … . Nicht wir haben das nämlich vollbracht, sondern Götter und Heroen, die nicht zulassen wollten, dass Asien und Europa einen einzigen Herrscher haben, dazu noch einen so gottlosen Frevler, der Heiligtümer ebenso behandelte wie Menschenbesitz, der Götterbilder verbrannte und umstürzte, der sogar das Meer geißeln ließ und in Ketten legte.« 249  Hdt. VIII 109 und 110, 1: »Themistokles also täuschte die Athener mit seinen Worten. Sie aber gehorchten ihm. Denn wie er auch früher schon als kluger Mann galt, so hatte er sich jetzt wirklich als schlau und überlegt erwiesen. Sie folgten ihm also jetzt ohne Widerrede aufs Wort.« 250  Hdt. VIII 108–110. Xerxes fürchtet nach Salamis in der Tat, »dass die Griechen … auf den Gedanken kommen könnten, nach dem Hellespont zu segeln, weil er dann Gefahr liefe, in Europa abgeschnitten, den Tod zu finden« (Hdt. VIII 97). Zum Bild Herodots vom Handeln des Themistokles in der Zeit nach Salamis gehört es, dass er aus »unersättlicher Habsucht« (VIII 112, 1) und ohne das Wissen der anderen Feldherrn des Hellenenbundes zunächst von den Andriern Geld erpresst und ihnen dabei erklärt, »die Athener seien mit zwei gewaltigen Göttern gekommen, ›Überredung‹ und ›Zwang‹, so dass jene unbedingt zahlen müssten«. Die Andrier, die in ihrer Antwortrede jede Geldzahlung verweigerten, wurden daraufhin belagert. Nach demselben Muster »erpresste er große Summen von den Karystiern und den Pariern, die auf die Nachricht von der Belagerung von Andros … und wegen des großen Ansehens des Themistokles … furchtsam wurden und Geld schickten« (112, 3). Hermann Strasburger, Herodot und das perikleische Athen, Historia 4 (1955) 21 sieht darin die Machtpolitik der Athener vorweggenommen, die bei Thukydides im Melier-Dialog zum Ausdruck kommt. Kritisch zum Wahrheitsgehalt und zum historischen Hintergrund der Andros-Episode vgl. Blösel (2004) 278  ff, 285  ff und 298  ff. 318 | Anmerkungen

251  Für

den Topos vom »Gesinnungswandel« des Themistokles vgl. Munson (1988) 99  ff und Blösel (2004) 260  ff. 252  Thuk. I 135, 2  f. Vgl. dazu: Lukas Thommen, Spielräume der Demokratie. Der Prozess gegen Themistokles, in: Burckhardt / v. Ungern-Sternberg (Hrsg. 2000) 81–95. 253  Vgl. Thuk. I 137, 4 zitiert ein Schreiben an Artaxerxes, in dem Themistokles auf seine Wohltaten gegenüber Xerxes verweist, auch ihm selbst »große Dienste« verspricht und sich als denjenigen darstellt, der nur wegen der »Freundschaft« mit ihm aus Hellas vertrieben worden sei. 254  Vgl. dazu Plutarch, Them. 22,3 und 23, 4. 255  Vgl. dafür Thuk. I 138, 4 und die dramatisch erweiterte Darstellung bei Plutarch, Them. 31, 2–5. 256  Nach Quintilian (VIII 3, 2  ff) verleiht der ornatus dicendi einer gut erfundenen und durchgestalteten Rede »strahlende Waffen« und sichert ihr deshalb nicht nur die Zustimmung der Kenner, sondern auch den »Beifall der Menge.« Ihre Hörer werden »durch Genuss (delectatione) gewonnen und manchmal durch Bewunderung (admiratione) mitgerissen.« 257  Vgl. dafür Knell (1990), Müller (2004) und Brinkmann (Hrsg. 2016). 258  Vgl. dazu Thuk. I 13, 1: »Als Hellas mächtiger wurde und sich mehr als früher auf das Geldwesen verlegte, … rüsteten die Hellenen auch Kriegsflotten auf und befassten sich mehr mit dem Seewesen.« Vgl. ferner 15, 1: »Staaten, die sich mit dem Seewesen befassten, errangen dadurch eine nicht geringe Machtstellung«, weil ihnen das den Zufluss von Geld sicherte, so dass sie auf dieser Grundlage zur »Herrschaft über andere« fähig waren. 259  Vgl. Thuk. II 13, 5: Perikles »wies darauf hin, dass die Statue 40 Talente pures Gold an sich habe und alles sei rundum abnehmbar; wenn sie das in äußerster Not zu ihrer Rettung einsetzten, würden sie später in der Lage sein, keinen geringeren Ersatz zu leisten und alles von Neuem anzubringen.« 260  Isokrates 15, 111: Eroberung des rebellierenden Samos. Vgl. dazu Thuk. I 115–117 und Charlotte Schubert, Perikles. Tyrann oder Demokrat?, Stuttgart (2012) 121  ff. 261  Isokrates 7, 126  f. Vgl. Thuk. II 65, 7, 10  ff und Aristoteles, AP 28, 1–4. 262  Zur Nachwirkung dieses Bildes vgl. Cicero, Brutus 44: Perikles »vermochte, von Anaxagoras, dem Naturphilosophen, ausgebildet, die bei der Erforschung dunkler und schwieriger Fragen gewonnene Denkfähigkeit mit Leichtigkeit auch auf juristische und politische Probleme anzuwenden (exercitationem mentis a reconditis abstrusisque rebus ad causas forensis popularisque facile traduxerat).« Cicero zitiert im Zusammenhang mit Perikles auch das Diktum des Komödiendichters Eupolis, nach dem »auf den Lippen des Perikles die Göttin Peithō thronte« (Cicero, Brutus 59). Deshalb habe er »über eine solche Macht (vis) verfügt, dass er so etwas wie einen Stachel in den Herzen der Zuhörer hinterlassen konnte« (Cicero De oratore III 138). Für das Eupolis-Diktum aus der auf das Jahr 412 datierbaren Komödie Demoi und Anmerkungen | 319

für seine Verbreitung in der antiken Literatur vgl. Poetae Comici Graeci, ed. Rudolf Kassel und Colin Austin, Bd. V, Berlin etc. 1986, Eupolis, Demoi fr. 102 = Diodor XII 40, 6. 263  Die Vergleichsmöglichkeiten, die Thukydides anbietet, können im Folgenden nicht vollständig ausgenutzt werden. Unberücksichtigt bleiben insbesondere die für das Thema des vorliegenden Buches durchaus aufschlussreichen Reden, die im Zusammenhang des Sizilienabenteuers gehalten werden. Vgl. dafür Flaig (2013) 330–350. 264  Zur Diskussion über den thukydideischen »Redensatz« (I 22, 1) vgl. exemplarisch Kagan (1975) 71–79. Die Reden gelten in der neueren Forschung in der Regel als Konstruktionen des Thukydides, die sich primär an Leser wenden. Vgl. dazu exemplarisch Will (2003) 361–367. Demgegenüber vertritt Kagan im Rekurs auf den kaum beachteten Beitrag von Arnold Wycombe Gomme, The Speeches in Thucydides, in: ders., Essays in Greek History and Literature, Oxford (1937) 156–189 die These, Thukydides habe im Wortlaut bekannte Reden handelnder Politiker ausgewählt und an der ihm geeignet erscheinenden Stelle in seine Darstellung eingefügt. In meinen Überlegungen halte ich mich an den Wortlaut des Thukydides, ohne mich auf die für das Thema des vorliegenden Buches irrelevante Frage einzulassen, ob und in welchem Ausmaß Thukydides seine Reden konstruiert hat. 265  Für das Konzept sozialer Physik, das diesen Vorstellungen zugrunde liegt, vgl. im vorliegenden Buch S. 208  ff. 266  Vgl. Thuk. I 140–144 und II 13, 2: »den (sc. mobilen) Besitz vom Land (sc. in die Stadt) hereinholen, nicht zu einer Schlacht ausrücken, sondern die Stadt von innen schützen, die Flotte, auf der ihre ganze Stärke beruht, instand und die Verbündeten fest in der Hand halten«, weil ihre »Stärke im Einlaufen der Bündnistribute besteht, und im Kriege letztlich Einsicht (gnèmh) und finanzielle Überschüsse (crhm£twn perious…a) das Entscheidende sind.« 267  Zu Beginn des sogenannten Archidamischen Krieges meinen insbesondere die jungen Leute in ihrer Erregung über das unerwartet »Schreckliche«, »man müsse ausrücken und dürfe nicht länger nur zusehen. Es bildeten sich feindliche Lager, die in heftigen Streit gerieten (kat¦ xust£seij te gignÒmenoi ™n pollÍ œridi Ásan). Die einen forderten den Aufmarsch, andere wandten sich dagegen. Wahrsager trugen allerlei Orakelsprüche vor, die jeder eifrig geneigt war anzuhören.« Perikles wird deshalb beschimpft und »für ihr ganzes Leid verantwortlich gemacht« (II 21). Die Athener entsprechen damit der ›Erwartung‹ des Spartanerkönigs Archidamos, »dass sie gewiss ausrücken wollen, sobald sie uns im Land hausen und ihr Hab und Gut verderben sehen. Denn jeden überfällt Zorn, der gegenwärtig sieht, wie ihm unmittelbar vor seinen Augen ungewohnte Unbill geschieht, und je weniger man sich auf vernünftiges Überlegen stützt, desto mehr treibt Empörung zur Tat« (II 11, 6  ff ). 268  Obwohl der Ausdruck »Pest« irreführend ist – im Griechischen steht der einfache Ausdruck nÒsoj = »Krankheit« –, wird er hier als der üblich 320 | Anmerkungen

gewordene beibehalten. Zu den diversen und kontroversen Versuchen einer genaueren Diagnose vgl. Karl-Heinz Leven, Thukydides und die »Pest«, Medizinhistorisches Journal 26 (1991) 128–160. 269  Vgl. dafür Gorgias, in Hel. 8. 270  Zur Bedeutung dieser Umstimmung vgl. im vorliegenden Buch S. 91  f. 271  Vgl. dazu S. 291, Anm. 219 des vorliegenden Buches. 272  Vgl. Thuk. III 3, 1: »Die Athener aber, erschöpft von der Seuche und vom Krieg, … hielten es für äußerst gefährlich, auch noch Lesbos zum Feind zu haben, da es über eine Flotte und unverbrauchte Kräfte verfügte.« Vgl. damit auch die Rede der Mytilener, mit der sie die Aufnahme in den Peloponnesischen Bund beantragen: »Der Augenblick ist jetzt günstig wie nie zuvor. Von der Seuche sind die Athener mitgenommen und von den hohen Geldausgaben. Ihre Flotte ankert teils vor euren Küsten, teils ist sie gegen uns ausgeschickt, so dass sie kaum Schiffe zur Hand hätten, wenn ihr sie in diesem Sommer mit Flotte und Landheer gleichzeitig ein zweites Mal überfallen würdet« (III 13, 3). 273  Da Salaithos vergeblich auf weitere Unterstützung aus Sparta warten musste, verteilte er »an das vorher nur leicht bewaffnete Volk schwere Rüstung, um die (sc. Belagerungstruppen der) Athener anzugreifen; sobald aber die Leute Waffen hatten, gehorchten sie ihren Oberen nicht mehr, sondern rotteten sie sich zusammen und forderten, die Mächtigen (sc. also die Oligarchen Mytilenes, AR) sollten (sc. das von ihnen gehortete, AR) Getreide herausgeben und an alle verteilen; andernfalls würden sie sich mit den Athenern verständigen und sie (sc. die Oligarchen) an deren Stadt ausliefern« (III 27). 274  Das sind »diejenigen, die in Mytilene am meisten die Sache der Spartaner bertrieben«, sich deshalb beim Einzug der Besatzungstruppe als ›Schutzflehende‹ »an die Altäre gesetzt hatten« und von Paches mit der Zusicherung, dass ihnen »nichts zuleide geschehen solle, bis die Athener etwas beschlossen hätten«, nach Tenedos verbracht worden waren. 275  Ich folge dem Übersetzungvorschlag von Hornblower (1991) 420. 276  III 37, 2. Das ist eine Verschärfung der These des Perikles, die hegemoniale Herrschaft Athens über die Bundesgenossen sei einer Tyrannis ähnlich (II 63, 2  f ). Für den Unterschied zwischen dem Herrschaftsverständnis des Perikles und demjenigen Kleons vgl. Virginia Hunter, Athens Tyrannis. A New Approach to Thucydides, Classical Journal 69 (1973/74) 120–126. 277  Vgl. dazu auch III 40, 5: »Gleiches mit Gleichem vergelten« und die Berufung auf die archaische Rache-Regel des tù dr£santi paqe‹n (vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 24). Wie für die Erinyen der Orestie darf »Leid« nicht kategorial differenziert werden, sondern muss als ein »Zerstörtwerden« gelten, das nur durch die umgehende Zerstörung des Zerstörers heilbar ist. 278  III 37, 2  ff. Vgl. dazu Yunis (1996) 90  ff. 279  Für den historischen Hintergrund dieser Schilderung vgl. Moses Ian Finley, The Athenian Demagogues, Past and Present 21 (1962) 12  f, aufgenomAnmerkungen | 321

men bei Connor (1971) 116  f und Detlef Lotze, Zur Funktion des Redners in der Polis-Demokratie, Philologus 135 (1991) 119. 280  Sie gleichen »Zuschauern der Glanzauftritte sophistischer Wanderredner« (38, 7). Vgl. damit Platons Charakterisierung der Demokratie seiner Zeit als »Herrschaft des Theaterpublikums« und seine Kritik an der daraus resultierenden Gesetzesverachtung (Nomoi III 701 a). 281  Mitleid (40, 2  f : o�ktoj, œleoj) ist für Kleon nur gegenüber Gleichgesinnten (40, 3: prÕj Ðmo…ouj) eine Tugend, und Großzügigkeit (40, 3: ™pie…keia) nur »gegenüber dem, auf dessen Freundschaft man auch für die Zukunft hoffen kann.« 282  Thuk. III 41, 1. Zu den gegensätzlichen Politikkonzepten Kleons und Diodots vgl. Felix M. Wassermann, Die mytilenische Debatte bei Thukydides: Bild der nachperikleischen Demokratie (1956), in: Herter (Hrsg, 1968) 477–497. Nach Kagan (1975) sieht Kleon in Diodot den Vertreter einer perikleisch-moderaten Machtpolitik, die in seiner Sicht wegen ihrer zu großen Nachgiebigkeit für die gegenwärtige Bedrohungssituation Athens verantwortlich ist und deshalb auf harte imperiale Politik umgestellt werden muss. Für die Einordnung Kleons in den Zusammenhang athenischer Politik vgl. auch Anthony Andrewes, The Mytilene Debate: Thucydides 3. 36–49, Phoenix 16 (1962) 79  ff, Connor (1971) 119–136 sowie Jacqueline de Romilly, Thucydides and Athenian Imperialism, Oxford (1983) 156  ff (frz. Originalausgabe Paris 1951). 283  Vgl. Kleon: »Wenn ihr mir folgt, handelt ihr gerecht gegen Mytilene und vorteilhaft für euch« (III 40, 4). 284  Vgl. dafür Yunis (1996) 94  ff. Zur Konzentration der politischen Beratungsrede auf das für die Polis Nützliche vgl. Aristoteles, Rhet. I 3, 1358 b 8–25. 285  Diodot hält sich an die vom platonischen Sokrates in der Politeia formulierte Regel, »nicht hellenisches Land zu verwüsten noch Wohnungen zu verbrennen, noch jedesmal alle in der Stadt für feindselig zu halten, Männer, Weiber und Kinder, sondern immer nur wenige für ihre Feinde, nämlich die Urheber des Zwistes« (471 a–b). 286  Thuk. III 50: »Später … teilten sie alles Land, außer dem von Methymna, in 3000 Erbgüter auf, wovon sie 300 ausschieden und den Göttern weihten; auf die übrigen schickten sie nach dem Los eigene Leute als Besitzer aus. Diesen zahlten die Lesbier einen festgesetzten Zins, … und bebauten das Land selbst«. 287  Thuk. IV 122, 1. Ich folge der Darstellung von Flaig (2013) 320–324. 288  Kritisch zu dieser Sichtweise H.-P. Stahl (1966) 158  ff. 289  Vgl. Felix Wassermann, The Melian Dialogue, TAPhA 78 (1947) 18–36. Die Zitate ebd. 19, 21 und 25. 290  Thuk. V 84, 2: »Die Melier stammen von Auswanderern der Lakedaimonier ab und wollten den Athenern nicht untertan sein wie die anderen Inselvölker.« 291  Die Hybris der melischen Oligarchen besteht darin, dass sie für einen Plan, der aus menschlicher Sicht unvernünftig ist, göttliche Hilfe erwarten. 322 | Anmerkungen

292  Um

Blutvergießen zu vermeiden (V 91, 2, 93, 1), sichern die Athener Generäle den melischen Oligarchen zu, dass sie auch als tributpflichtige Bundesgenossen »im Genuss« ihres »Besitzes« bleiben könnten (V 111, 4: »maßvolle Forderungen der mächtigsten Stadt«). Sie handeln deshalb »gerechter«, als sie aufgrund ihrer Übermacht könnten. Vgl. dafür Meier (1991) 16 und im vorliegenden Buch S. 189. 293  Bosworth (1993) 30  f. 294  Hobbes’ Thucydides ed. by Richard Schlatter, New Brunswick (N. J.) (1975) 24  f. 295  Thuk. V 85. Ich folge Bosworth (1993) 33. 296  Thuk. V 111, 3: ÑnÒmatoj ™pagwgoà dun£mei und die Parallelformulierung: »von einem Wort besiegt (ºsshqeˆj toà ∙»matoj)« (ebd.). 297  Vgl. dafür Colin Macleod, Form and Meaning in the Melian Dialogue (1974), in: Macleod (1983) 52–67. Melos steht nicht für ein typisch athenisches, sondern für ein Verhalten, das auch die Spartaner praktizieren, wenn eine für sie machtpolitisch wichtige Polis wie Plataiai sich weigert, ihre bisherige Neutralität aufzugeben und dem von ihnen angeführten Peloponnesischen Bund beizutreten. Vgl. dazu Thuk. III 52–68. Für eine Interpretation dieser Textstelle vgl. H.-P. Stahl (1966) 115  f und Colin Macleod, Thucydides’ Plataean Debate (1977), in: Macleod (1983) 103–122. 298  Für den Handlungszusammenhang, in dem Thukydides für sein militärisches Missgeschick als verantwortlicher Stratege bei der Verteidigung von Amphipolis zu zwanzigjähriger Verbannung verurteilt wurde, vgl. IV 78–88, 103–108 und V 26, 5. 299  Vgl. VI 24, 2  f : »Und eine Sucht (œrwj, tÕ ™piqumoàn, pÒqoj) nach diesem Unternehmen überkam alle. Die Älteren wollten das Land unterwerfen, gegen das sie fuhren …, die in den besten Jahren Stehenden das Abwesende sehen und kennen lernen, voller Hoffnung, heil davon zu kommen, und die große Masse … wollte Geld … und eine Macht gewinnen, die ihnen dauernde Soldleistung sichern würde. Wegen der übermächtigen Leidenschaft der Menge verhielt sich auch mancher, dem die Sache missfiel, ruhig aus Furcht, er könne, wenn er in der Volksversammlung dagegenstimme, als Feind seiner Mitbürger gelten.« 300  Vgl. II 35, insbesondere 35, 2  f : »Denn schwer ist es, das rechte Maß der Rede zu treffen, wenn man die Vorstellung, die sich jeder von der Wahrheit macht, nur schwer bestätigen kann. Der wohlwollende Hörer, der die Zusammenhänge mitweiß (Ó … xuneidëj, vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 52  f ), wird leicht finden, die Darstellung bleibe hinter seinem Wunsch und Wissen zurück, und der unkundige, es sei doch manches übertrieben, … . Denn so weit ist Lob erträglich, das anderen gespendet wird, als jeder sich fähig dünkt, wie er es gehört hat, auch selbst zu handeln … . Da es aber von den Alten so als richtig gebilligt wurde, muss auch ich dem Brauche folgen und versuchen, eines jeden Wunsch und Ansicht zu treffen, soweit ich kann.« Anmerkungen | 323

301  In

der Forschung besteht weitgehend Konsens darüber, dass Thukydides die Gefallenenrede bei der Endredaktion seines Textes, also in Kenntnis der Niederlage Athens verfasst hat. Für einen typologisierenden Blick auf bisherige Interpretationstendenzen vgl. Flashar (1969) 435  ff, Gaiser (1975) 17  ff, Hornblower (1991) 294  ff, Karl Prinz, Epitaphios Logos. Struktur, Funktion und Bedeutung der Bestattungsreden im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts, Berlin / New York / Paris / Wien (1997) 96  ff und Ottmann (2001) I 142–149. 302  Vgl. dafür Flashar (1969), der die Interpretationen von Strasburger (1958) und H.-P. Stahl (1966) in ideologiekritischer Zuspitzung weitergeführt hat. Vgl. dazu auch Will (2003) 203  ff. 303  Vgl. dafür Meier (1991) 50. Zum Begriff der Bürger-Identität vgl. ders., Bürger-Identität und Demokratie, in: Christian Meier / Paul Veyne, Kannten die Griechen die Demokratie?, Berlin (1988) 47–95, insbes. 58  ff und 76  ff. 304  Vgl. dazu im vorliegenden Buch S.  133. 305  Für eine ausführliche und eindringliche Darstellung der Anthropologie des Thukydides vgl. Müri (1947). 306  Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, 14 [79], KSA XIII 258: »Ein Machtquantum ist durch die Wirkung, die es übt und der es widersteht, bezeichnet. Es fehlt die Adiaphorie: die an sich denkbar wäre. Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren. … Eine Übersetzung dieser Welt von Wirkung in eine sichtbare Welt … ist der Begriff ›Bewegung‹ … jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz.« Ebd. 259: »… dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten steht, in ihrem ›Wirken‹ auf dieselben.« Zum Thema Nietzsche-Thukydides vgl. Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin / New York, 2. durchgesehene und erweiterte Ausgabe (1999) 220–226 und Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York (1996) 64–67. Vgl. dort auch Teil 1: »Anthropologische, metaphysische und politische Momente der Macht.« 307  Vgl. dafür die Interpretation des Epitaphios bei Müri (1947) 148  ff. 308  Zum Begriff »größter Bewegung« vgl. Joachim Latacz, Die rätselhafte ›große Bewegung‹. Zum Eingang des Thukydideischen Geschichtswerks, WJ (1980) 77–99, auch in: ders., Erschließung der Antike. Kleine Schriften zur Literatur der Griechen und Römer, Stuttgart / Leipzig (1994) 399–426. 309  Die Frage nach dem naturphilosophischen Hintergrund der thukydideischen Geschichtsdeutung wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Vgl. dazu exemplarisch Rechenauer (1991). Auch wenn die Atomistik dabei nur eine marginale Rolle spielt (vgl. ebd. 194 mit Anm. 185 und 295 mit Anm. 60), ist jenseits der Frage nach möglichen »Einflüssen« zu bedenken, dass sie den Zustand konsolidierter Natur in einer begrifflichen Konstruktion auf einen ›Anfang‹ zurückgeführt hat, in dem unbestimmbar viele und verschie324 | Anmerkungen

dene Protokörper (Atome) mit unterschiedlicher Geschwindigkeit im ›leeren‹ Raum fallen, sich dabei berühren, abstoßen oder Zufallskoalitionen bilden, die sich an ihrem jeweiligen Ort so lange halten, bis ein größerer Körper sie in sich aufnimmt (Attraktion) oder von sich wegstößt (Repulsion). Erst nach unbestimmbar vielen Kombinationen zwischen heterogenen Protokörpern entstehen corpora solida, die das ursprüngliche bellum omnium contra omnes der atomaren Partikel allmählich beruhigen, aber nicht in verlässliche Stabilität überführen. Alle Körper werden deshalb zu einem nicht antizipierbaren Zeitpunkt wieder in unbestimmbar viele Teile aufgelöst und bestehen deshalb nur so lange, wie sie ihren Platz im ›Raum‹ der Natur behaupten können. Zu den Voraussetzungen dieses Konzepts vgl. Reckermann (2011) III 61  ff. 310  Thuk. I 2, 1: Das »jetzt Hellas genannte Gebiet war nicht von alters her fest besiedelt«, so »dass es häufig zu Ortsveränderungen kam und alle Stämme leicht ihre Wohnsitze verließen, wenn sie von den jeweils Mächtigeren dazu gezwungen wurden.« 311  Thukydides beschreibt nüchtern die materielle Voraussetzung für den Mythos von der Autochthonie der attischen Bevölkerung. 312  I 6, 1: »Ganz Hellas trug einst Waffen, weil die Siedlungen nicht befestigt und die Straßen unsicher waren.« Auch die später für das griechische Selbstbewusstsein grundlegende Absetzung von der ›barbarischen‹ Welt konnte sich in dieser Epoche noch nicht ausbilden. Vgl. dazu I 3, 1: Homer kennt für den griechisch besiedelten Raum noch keinen gemeinsamen Namen. 313  I 8, 3. Mit der honorigen Piraterie »tüchtigster Männer«, die auch für die Ernährung der Schwächeren sorgen (I 5, 1), entsteht die Keimform eines zugleich auf eigenen und fremden Nutzen bezogenen Strebens nach Vorteilen, das zugleich Streben nach Ehre ist. Minos, der mit seiner Flottenmacht »das Meer weithin beherrschte, die Kykladen eroberte, die karische Bevölkerung verdrängte und gegen die wilde Seeräuberei vorging, um die eigenen Einkünfte zu steigern« (I 6, 4), ist der mythische Prototyp der athenischen Seebundpolitik. 314  I 9, 3. Mit seiner nüchternen Rekonstruktion der Entstehung des Trojakrieges distanziert sich Thukydides bewusst von seiner Darstellung durch Homer (vgl. dazu I 21, 1 und I 22, 2–4). Seine zehnjährige Dauer ist kein Zeichen seiner ›Größe‹, sondern die Folge struktureller Handlungsschwäche: »Mangel an Geld« und die Notwendigkeit, die eigene Ernährung durch zeitraubende und personalintensive Nebentätigkeiten (Ackerbau, Seeräuberei) zu sichern, haben eine konzentrierte Kriegführung verhindert (I 11, 1). 315  I 17. Sie sind die egoistischen Erben der honorigen Seeräuber. 316  Ein frühes Musterbeispiel für diese Entwicklung ist der ins Jahr 433 zu datierende Antrag der Kerkyraier auf Mitgliedschaft im delisch-attischen Seebund. Die sich zuspitzenden Konfliktlage in Mittelgriechenland zwingt sie zu einer Neubewertung ihrer bisher für ›besonnen‹ gehaltenen Neutralitätspolitik. Sie sehen darin jetzt nur noch ›Gedankenlosigkeit‹ und wollen Anmerkungen | 325

deshalb, um vor dem Zugriff der Bundesgenossen Spartas geschützt zu sein, ihre »Zurückgezogenheit aufgeben« und sich der ›Bewegung‹ anschließen, die ihr Zentrum in Athen hat (I 32, 4  f ). 317  Thuk. IV 19, 1–4. Vgl. insbes. 19, 2  f : »Wir glauben …, dass man große Feindschaften nicht dadurch beilegt, dass man … nach siegreichem Krieg mit erzwungenen Eiden die andern auf ein ungleiches Abkommen verpflichtet, sondern gerade wenn man dazu die Macht hat, sollte man sich mäßigen, die anderen auch durch Edelmut besiegen und entgegen ihrer Erwartung einen billigen Frieden schließen. Denn wenn der Gegner sich verpflichtet fühlt, ­Gutes mit Gutem zu vergelten statt erlittene Gewalt zu rächen, wird er sich bereitwilliger und aus Ehrgefühl an die Verträge halten«. 318  Beispiele sind die Warnung, »bei ungewohntem Gewinn die eigenen Erwartungen immer weiter zu steigern« (IV 17, 1), oder die Aufforderung, gerade im Zustand des Glücks »das Wechselspiel des Schicksals« zu beachten (17, 5) und »durch eine edle Tat« den eigenen Vorteil und zugleich »höchstes Ansehen« zu gewinnen (20, 3  f ) 319  Ein wohlhabender Bürger, der sich auf sein Privatleben zurückzieht, gilt in Athen nicht als »müßig« (¢pr£gmwn), was ein Ehrentitel wäre, sondern als »nutzlos« (II 40, 2: ¢cre‹oj), während Armut nur dann »schimpflich« (a„scrÒj) ist, wenn ein Bürger nicht versucht, ihr durch eigene Tätigkeit zu entkommen (ebd. 40, 1). 320  Zu Athen als Handelszentrum vgl. II 38, 2 und im vorliegenden Buch S. 89  f. 321  II 37  f. Für den Gesamtraum der Polis gilt: »Freude vertreibt das Betrübende« (38, 1). 322  37, 2: »Frei leben wir als Bürger in der Polis und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht, und ohne Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt.« Vgl. dafür im vorliegenden Buch S. 109. 323  Die Tüchtigkeit der Spartaner bewährt sich nur im Hoplitenkampf, der auf engem Raum geführt wird. Sie können aber auch deswegen keine weiträumigen militärischen Aktionen durchführen, weil sie ausschließlich »von ihrer eigenen Hände Arbeit leben, weder persönlich noch im Staat über Geldmittel verfügen … und vom Meer abgesperrt sind« (I 141, 3–6). 324  Zum thukydideischen Verständnis der Polis als organischer Einheit im Sinne einer richtigen Mischung des Verschiedenen vgl. Rechenauer (1991) 284  ff und 296  ff. 325  Zur Isegorie in Sparta äußert sich Perikles in der Kriegsbeschlussdebatte: »Sind sie endlich versammelt, erwägen sie kurze Zeit gemeinsame Anliegen, betreiben aber in der Hauptsache private Interessen; jeder meint, die eigene Sorglosigkeit schade nichts, es werde schon ein anderer sorgen an seiner Statt, …, so dass … die gemeinsame Sache ganz und gar verdirbt« (I 141, 6). 326 | Anmerkungen

326 

Vgl. dafür Gaiser (1975) 65–72. 43, 3. Der bereits auf der S.  187 des vorliegenden Buches angesprochenen Politisierung des individuellen Körpers entspricht eine vollständige Erotisierung des politischen Körpers. 328  Vgl. II 42, 4: Sie haben »sich schimpflicher Rede dadurch entzogen, dass sie das Sichwehren und Erleiden mehr geliebt haben, als weichend sich zu retten«. 329  II 43, 6: »Schmerzhafter ist für einen Mann mit Vernunft (frÒnhma) die Schmach, wenn er sich feige zeigt, als der Tod, der im Zustand voll entwickelter, von allgemeiner Hoffnung getragener Tüchtigkeit gar nicht (oder kaum) als Schmerz gespürt wird.« 330  In vergleichbarer Weise hält der Kallikles des platonischen Gorgias die Liebe zur Polis für die größte, nämlich für eine transindividuelle Form der Liebe, so dass Sokrates ihr in dieser Gattung die Liebe zur Philosophie als die noch größere entgegenstellt (vgl. Platon, Gorgias 481 c – 482 a). Nach dieser Vorstellung hängt die Größe einer Liebe von der Größe des Raumes ab, den der Liebende erotisch besetzt, während der Größe des Raumes die Größe der Güter entspricht, die dem zugute kommen, der in ihn hineinwächst. 331  Schon Karl Reinhardt, Thukydides und Machiavelli (1943), in: ders., Vermächtnis der Antike, hrsg. von Carl Becker, Göttingen (1966) 212  ff hat die antithetisch gebaute Einheit von Epitaphios und Pestbeschreibung hervorgehoben und dabei gezeigt, dass es bei Thukydides kein Redner ist, der als »Gegenspieler … zu Perikles« auftritt, sondern allein die physische Zerstörungsgewalt der Pest (214). Zur Konstellation zwischen Epitaphios und Pest vgl. auch H.-P. Stahl (1966) 77–81, Flashar (1969) 463  f, Gaiser (1975) 52  ff und Rechenauer (1991) 271. 332  II 51, 4. Da gegen die Pest auch Gebete und Orakelsprüche versagen, muss sie im Zustand der Hilflosigkeit (¢mhcan…a) erlitten werden (II 47, 4). Das gilt auch für das Wort des Thukydides, der selber die Krankheit überlebt hat (48, 3), die »furchtbarer ist, als Worte es beschreiben können« (50, 1). 333  Vgl. II 52, 2–4: »Das Zusammenströmen der Leute vom Land in die Stadt« brachte die Athener, »in noch größere Bedrängnis. Denn da nicht genügend Häuser vorhanden waren und die Neuankömmlinge den Sommer in stickig-heißen Hütten zubringen mussten, starben sie in wüstem Durcheinander. Tote und Sterbende lagen übereinander, halbtot wälzten sie sich auf den Straßen und bei allen Brunnen im wilden Verlangen nach Wasser. Die Tempel … lagen voller Leichen der dort Verstorbenen. … Alle Bräuche, an die sie sich früher bei Begräbnissen gehalten hatten, wurden in der allgemeinen Verwirrung erschüttert«. Zur Einführung des Totenkults durch Kekrops und zu seiner Bedeutung für den Übergang Attikas aus dem Zustand der ›Wildheit‹ in den der menschlichen Gesittung vgl. im vorliegenden Buch S.  279  f, Anm. 108. 334  »Sich im voraus um etwas zu bemühen, das als schön galt, war niemand 327  II

Anmerkungen | 327

bereit, erschien es ihm doch unsicher, ob er nicht, ehe er es erreicht hätte, schon ums Leben gekommen sei« (II 53, 3). 335  Athen kann wegen der Pesttoten unter seinen Soldaten auf lange Zeit die eigene Flotte nur begrenzt einsetzen. Diese Schwäche wird vom Gegner natürlich erkannt und gnadenlos ausgenutzt. Vgl. dafür z. B. II 57, 1; 58, 2  f; III 3, 1; 13, 3  f und 87, 1  ff. Noch im Jahr 415 warnt Nikias vor neuen militärischen Abenteuern (Sizilien), weil die Stadt sich »erst in jüngster Zeit von der schweren Seuche … etwas erholt und an Geldmitteln und Bevölkerung wieder zugenommen habe« (VI 12, 1). Zur Pest als politisch-sozialer Krankheit vgl. Georg Rechenauer, Polis nosousa: Politics and Desease in Thucydides – the Case of the Plague, in: ders. / Vassiliki Pothou (eds.), Thucydides – A Violent Teacher? History and its Representations, Göttingen (2011) 241–260. 336  Thuk. II 59, 2. Dieser Angriff auf Perikles findet seine Widerspiegelung in der Komödie. Vgl. dafür Aristophanes, Acharnae 520–556 und Pax 603– 611. Der dort erhobene, wenn auch durch das Medium des Komischen gebrochene Vorwurf der persönlich motivierten Kriegstreiberei wird von Ephoros übernommen (= Diodor XII 38  f ) und wirkt noch in der Perikles-Biographie Plutarchs nach (29, 5; 31, 1; 32, 3; comp. 3). Zum negativen Perikles-Bild der alten Komödie vgl. Joachim Schwarze, Die Beurteilung des Perikles durch die attische Komödie und ihre historiographische Bedeutung, München 1971 und zu seiner Dekonstruktion: Kurt Arnold Raaflaub, Den Olympier herausfordern? Prozesse im Umkreis des Perikles, in: Burckhardt / v. Ungern-Sternberg (Hrsg. 2000) 102. Bei Thukydides antwortet Perikles auf diese Vorwürfe in der Kriegsbeschlussdebatte I 140, 2–5. 337  Zum Prozess gegen Perikles vgl. Charlotte Schubert, Perikles, Darmstadt (1994) 138  f. 338  II 60, 2  ff: »Ich glaube, eine Stadt, die als Ganze aufrecht steht ([¹] xump©sa Ñrqoumšnh pÒlij), nützt ihren Bürgern mehr als eine, deren Wohlergehen nur auf dem jedes Einzelnen beruht ([¹] kaq’ ›kaston tîn politîn eÙpragoàsa), aber in ihrer Gesamtheit zusammenbricht« (60, 2). 339  II 61, 1  f. Auch hier führt Perikles den Umschwung der öffentlichen Meinung auf das psychologische Gesetz zurück, dass das Schmerzhafte (tÕ lupoàn) eine Erfahrung des Augenblicks ist, die ihn ganz ausfüllt und gegen alles andere abschließt, während »das Vorteilhafte erst später allen offenbar wird«. 340  II 60, 5  f : Perikles stellt seinen Eros dem der demagogischen Redner entgegen, der auf Geldgewinn gerichtet ist und dafür den Schaden der Stadt in Kauf nimmt oder sogar absichtlich herbeiführt. 341  I 141, 2. Vgl. dazu auch die Perikles-Rede II 13, 3–8. 342  I 141, 3  f : »Wenn (die Lakedaimonier) mit einem Fußheer gegen unser Land rücken, so werden wir gegen das ihre segeln, und es wird dann nicht dasselbe bedeuten, ob ein Teil der Peloponnes verwüstet wird oder ganz Attika; denn sie werden sich kein anderes Land als Ersatz nehmen können 328 | Anmerkungen

ohne Kampf, wir aber besitzen viel Land auf den Inseln und auf dem Festland. Es ist etwas Großes um die Beherrschung des Meeres« (mšga g¦r tÕ tÁj qal£sshj kr£toj). 343  II 62, 2: »Ich will euch aber zeigen, dass von den zwei Bereichen, die dem Menschen zur Nutzung offen stehen, dem Land und dem Meer, ihr in dem einen die mächtigsten seid, soweit ihr jetzt darüber verfügt, und sogar noch weiter, wenn ihr wollt«, weil »zur Zeit niemand da ist, der euch, wenn ihr mit gesamter Seemacht die Meere befahrt, entgegentreten könnte, weder der Großkönig noch irgendein anderes Volk.« 344  II 61, 2. Der Perikles des Thukydides unterscheidet zwischen einer schwachen Hoffnung, die sich von schön klingenden Worten einschläfern lässt und das, was wirklich ist, verdrängt, und einer starken Hoffnung, der »wirklichkeitsnahes und tatbereites Wissen« zugrunde liegt (II 62, 4  f.). 345  Vgl. dazu bereits die Rede des Perikles in der Kriegsbeschlussdebatte I 144, 4: »Unsere Väter, die den Persern Widerstand leisteten und sich nicht auf solche Machtmittel stützen konnten (wie wir jetzt), sondern sogar ihre Lebensgrundlage (t¦ Øp£rconta) im Stich ließen, haben mehr mit politischer Urteilskraft als mit Glück (gnèmV m©llon À tÚcV) und mit einer über ihre Macht hinausreichenden Kühnheit (tÒlmV me…zoni À dun£mei) den Barbaren zurückgeschlagen … . Hinter ihnen dürfen wir nicht zurückbleiben.« 346  II 62, 3: »Zum Nutzwert der Häuser und des Landes, deren Verlust ihr so hoch veranschlagt, steht also diese Macht (sc. über das Meer) in gar keinem Verhältnis. … Begreift doch, Freiheit, wenn wir für sie eintreten und heil davon kommen, wird uns all dies leicht wiederbringen.« Bereits in der Kriegsbeschlussdebatte hatte Perikles betont, er würde den Athenern, wäre er der Meinung, sie überzeugen zu können, befehlen, ihren Landbesitz »aus eigenem Antrieb zu verlassen und zu verbrennen und so den Peloponnesiern zu zeigen, dass sie sich ihnen nicht unterwerfen würden, um den eigenen Besitz an Grund und Boden vor feindlichem Zugriff zu schützen« (I 143, 5). 347  II 63, 2: Tyrannische Herrschaft »zu ergreifen, mag ungerecht sein, sie aufzugeben ist gefährlich.« Vgl. 61, 1: »Für ein Volk, das die Wahl hat und dem es sonst gut geht, wäre Krieg zu beginnen große Torheit. Wenn es aber notwendig wäre, entweder sich anderen nachgiebig zu fügen oder aber unter Gefahren zu behaupten, so wäre das Ausweichen vor der Gefahr mehr zu tadeln als das Standhalten.« 348  Vgl. dazu im vorliegenden Buch S. 283  f mit Anm. 142. 349  Thuk. II 62, 3  f. Vgl. dazu Gaiser (1975) 94  f. 350  II 64, 2. Vgl. dafür im vorliegenden Buch S. 217  ff zur Wirkung des politischen Eros bei den Gefallenen des ersten Kriegsjahres und den tüchtigen Bürgern der Vergangenheit. 351  II 65, 2: Die Armen beklagten den Verlust ihrer wenigen Güter und die Reichen den »ihrer schönen Besitzungen auf dem Land, aber alle beklagten als das Schlimmste, dass sie Krieg hatten statt Frieden.« Anmerkungen | 329

352 

Für eine genaue Interpretation des berühmten Satzes, mit dem Thukydides die Herrschaft Athens unter Perikles charakterisiert: »So war es dem Namen (lÒgJ mn) nach Demokratie, in Wirklichkeit aber (œrgJ d) Herrschaft unter der Führung des Ersten Mannes« (ØpÕ toà prètou ¢ndrÕj ¢rc») vgl. Peter Spahn, »Dem Namen nach eine Demokratie« – was aber »in Wirklichkeit«? (Zu Thuk. 2, 65, 9), in: Gegenwärtige Antike – antike Gegenwarten: Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rilinger, hrsg. von Tassilo Schmitt, München (2005) 85–104. 353  II 65, 10–13: »Aber selbst nachdem sie in Sizilien eine solche Streitmacht und vor allem den größten Teil der Flotte eingebüßt hatten und in der Stadt schon Bürgerkrieg herrschte, behaupteten sie sich trotzdem noch zehn Jahre gegen ihre alten Feinde und die neuen aus Sizilien, gegen meistenteils abtrünnige Verbündete und schließlich sogar gegen Kyros, den Sohn des Großkönigs, der den Peloponnesiern Geld gab für den Flottenbau. … Ein solcher Überschuss an Macht berechtigte damals Perikles zu der Voraussage, dass sie gegen die Peloponnesier allein sogar sehr leicht den Krieg gewinnen würden.« 354  I 144, 1: »Noch viele andere Gründe bestärken mich in der Hoffnung, dass wir siegen werden, wenn ihr nur entschlossen seid, eure Herrschaft während des Krieges nicht auszudehnen und keine selbst gewählten Gefahren auf euch zu nehmen.« 355  III 82, 1: »Später (sc. in der Zeit nach 427) geriet sozusagen ganz Hellas in Bewegung. Überall entstand Zwiespalt, wobei die Führer des Volkes die Athener zu gewinnen suchten und die Adligen die Lakedaimonier. Im Frieden hatten sie freilich keine Gelegenheit, auch nicht den Willen, sie zu rufen; da aber der Krieg herrschte und es für beide Bündnissysteme darum ging, durch Schwächung des Gegners die eigene Macht zu stärken, war es für beide Stasisparteien leicht, bei der Planung eines Umsturzes fremde Hilfe heranzuziehen.« 356  III 82, 3. Zur Abkehr von den klassischen »rules of war« im Peloponnesischen Krieg vgl. Josiah Ober, The Rules of War in Classical Greece, in: ders., The Athenian Revolution. Essays on Ancient Greek Democracy and Political Theory, Princeton (N. J.) (1996) 53–71. Für die Deutung des Peloponnesischen Krieges als Stasis, die auf Thomas Hobbes zurückgeht (vgl. dafür die emblematische Gestaltung des Titelblatts des Erstdrucks seiner Thukydides-Übersetzung), vgl. Jonathan J. Price, Thucydides and Internal War, Cambridge (UK) 2001. 357  Für den Verlauf der Stasis vgl. III 70–81. Der Abschnitt III 84 hat bereits in der Antike als unauthentisch gegolten (vgl. Hornblower (1991) 488  f ) und bleibt deshalb im Folgenden unberücksichtigt. 358  Vgl. dafür im vorliegenden Buch S. 154 mit Anm. 128. 359  III 82, 7: »Edelmütige Vorschläge (t¦ kalîj legÒmena) des Gegners werden nur bei eigener Unterlegenheit aus Gründen der Zweckmäßigkeit, aber nicht aus edler Gesinnung akzeptiert.« Ein Vergleich (xunallag») kommt nur zustande, »wenn beide sich nicht anders zu helfen« wissen. Der gemein330 | Anmerkungen

same Eid, der einen Vergleich bekräftigt, gilt deshalb nur so lange, bis die Gegner »bei günstiger Gelegenheit« wieder zum Wechsel von Rache und Gegenrache (¢ntitimwr»sasqai) übergehen. Vgl. damit auch Platon, Nomoi III 701 c. 360  III 82, 7. Vgl. 82, 8: »Man verschaffte sich … einen guten Namen, wenn man unter dem Deckmantel eines schönen Wortes eine Tat des Hasses vollführen konnte.« 361  Vgl. 82, 8: p£ntwn d’ aÙtîn a‡tion ¢rc¾ ¹ di¦ pleonex…an kaˆ filotim…an : ™k d’ aÙtîn kaˆ ™j tÕ filonike‹n kaqistamšnwn tÕ prÒqumon.

Zur philosophischen Bedeutung der Polis-Ethik 1 

Thukydides III 82, 2: to‹j e‡desi dihllagmšna, æj ¨n ˜k£staij aƒ metabolaˆ tîn xuntuciîn ™fistîntai. 2  Thomas Hobbes, De Cive, The Latin Version. Critical Edition by Howard Warrender, Oxford (1983) 73: »Profecto utrumque vere dictum est, Homo homini Deus, et Homo homini Lupus. Illud si concives inter se; hoc, si civitates comparemus. Illic iustitia et charitate, virtutibus pacis, ad similitudinem Dei acceditur; Hic propter malorum pravitatem, recurrendum etiam bonis est, si se tueri volunt, ad virtutes Bellicas, vim et dolum, id est, ad ferinam rapacitatem«. 3  Bereits in der athenischen Demokratie des 4. Jhs. gab es institutionelle Ansätze zur Versachlichung der politischen Debatte. Vgl. dazu Jochen Bleicken, Die Einheit der athenischen Demokratie in klassischer Zeit, Hermes 115 (1987) 257–283. 4  Vgl. dazu die bei Plutarch referierte Aussage Solons, »er richte seine Gesetze so auf die Bürger ein, dass allen klar würde, es sei besser, nach dem Recht zu handeln als die Gesetze zu übertreten« (Plutarch, Solon 5, 3). 5  Vgl. Platon, Timaeus 27 d – 28 b: Nur »das stets Seiende, das keine Entstehung hat«, »ist als das immer mit sich selbst Gleiche durch verstandesmäßiges Denken zu erfassen« (no»sei met¦ lÒgou perilhptÒn), während »das stets Werdende, das niemals ein wirklich Seiendes ist«, nur Gegenstand von »Vermutungen« sein kann, denen »bloße mit vernunftloser Sinneswahrnehmung verbundene Meinungen« zugrunde liegen. Gewordenes lässt sich deshalb nur dann durch »verstandesmäßiges Denken erfassen«, wenn dessen »Form („dša) und Wirkkraft (dÚnamij) nach dem Vorbild (par£deigma) des stets sich gleich Verhaltenden gestaltet ist«. 6  Im Mythos von der Wiedergeburt alles Lebendigen gehen die Seelen derer, die sich um politische Tugend bemüht haben, nach ihrem Tod entweder in eine »gesellige und zahme Gattung« (Bienen, Wespen oder Ameisen) oder »erneut in diese menschliche Gattung« ein, so dass »wieder maßvolle Männer (¥ndrej mštrioi) aus ihnen werden … . In der Götter Geschlecht aber ist wohl keinem vergönnt zu gelangen, der nicht philosophiert und vollkommen rein Anmerkungen | 331

aus dem Leben geschieden ist.« (Platon Phaed. 82 b). Unter »Reinheit« versteht Platon die vollständige Distanz zu allen Formen des körperlichen Begehrens (vgl. ebd. 80 e). Zur Bedeutung des ›maßvollen‹ Lebens (Solon) vgl. im vorliegenden Buch S. 300, Anm.  55. 7  Vgl. Platon, Phaed. 81 d – 82 c und Resp. 509 b. 8  Vgl. Platon, Resp. 613 a und Theaet. 176 a – 177 a. 9  Vgl. dafür die Rede des Kallikles im platonischen Gorgias 485 c – 486 d, insbesondere 485 d mit Anspielung auf Homer, Ilias 9, 441  ff. 10  Musterbeispiel für die philosophische Erziehung des Eros ist die Belehrung des Sokrates durch die weise Priesterin Diotima in Platons Symposion. Vgl. dazu Reckermann (2011) II111–152 mit der Anm. 145. 11 Platon, Phaedr. 278 e – 279 b: Isokrates übertrifft wegen seiner natürlichen Begabung und seines Ethos bereits jetzt die Reden des Lysias, so dass »es nicht verwunderlich wäre, wenn er bei reiferem Alter teils in Reden, auf die er jetzt seinen Fleiß verwendet (das sind auf die Polis bezogene Reden des genus demonstrativum und des genus deliberativum, AR), alle, die sich je mit Reden abgegeben, als Kinder hinter sich zurückließe, oder, wenn ihm dies nicht mehr genügte, ein göttlicherer Trieb (Ðrm¾ qeiotšra) ihn zu etwas Größerem hinführte. Denn von Natur schon … ist etwas Philosophisches in des Mannes Denkweise (diano…v).« Für den gedanklichen Zusammenhang, in dem dieses Lob steht, vgl. Eucken (1983) 273  ff. Vgl. dazu auch Platons Bild von Solon (im vorliegenden Buch S. 135). 12  Vgl. dafür SVF II 1009, p. 300, 8–12 (Chrysipp) und die Varro-Zitate bei Augustinus, De civitate Dei VI 5. 13  Nach der überzeugenden Interpretation von Armin Müller (2017) 100– 117 beweist der Verlauf dieser Bewegung die politische Qualität des athenischen Demos, weil an ihrem Ende entgegen der Diagnose Platons mit der demokratischen Verfassung von 403 ein ›glaubhafter Gesetzesstaat‹ steht, der »auch ohne den Einsatz philosophischer Herrscher ein ›Ende der Übel‹ herbeigeführt« hat (ebd. 115). Obwohl auch nach dem Urteil Platons die Demokraten von 403 »mit großer Zurückhaltung vorgegangen sind« (pollÍ ge ™cr»santo … ™pieike…v), bestreitet er diese Einschätzung. Vielmehr haben »einige der neuen Machthaber« nur wenige Jahre später gegen Sokrates »eine äußerst ruchlose Anklage« wegen Gottlosigkeit erhoben, die er »am allerwenigsten verdiente«, während »andere für schuldig stimmten und ihn hinrichten ließen« (Platon, ep. VII, 325 b–c). 14  Von daher geht es bei Platon der »wahren« Rhetorik nicht darum, »mit Menschen zu reden und zu verhandeln«, sondern im Blick auf die Ordnung der intelligiblen Wirklichkeit »den Göttern Wohlgefälliges« auszusprechen »und ihnen wohlgefällig alles nach Vermögen auszurichten« (Platon, Phaedr. 273 e – 274 a). 15  Vgl. dazu Joachim Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks (1956), in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristo332 | Anmerkungen

teles und Hegel, Frankfurt am Main (1969) 57–105 und ders., Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles, Archiv f. Rechts- und Sozialphilosophie 46 (1960) 179–199. 16 Aristoteles, EN VI 8, 1141 b 12  ff und 10, 1142 b 28  ff: ›Wohlberatenheit schlechthin trifft das Richtige für den Zweck des Lebens schlechthin und die konkrete Wohlberatenheit das Richtige für ein einzelnes Geschäft.‹ 17  Ebd. VI 11, 1143 a 13  ff : ein Verstehen, bei dem man »das Meinen dazu in Gebrauch nimmt, richtig zu beurteilen, was ein anderer über Dinge sagt, die Gegenstand der Klugheit sind, und auf diese Weise auch selbst darüber richtig urteilt.« 18 Platon, Politeia 621 c. Vgl. damit auch den für Platons Denken zentralen Satz, dass »die Idee des Guten die größte Einsicht ist«, weil erst »durch sie das Gerechte und alles andere, was von ihr sonst noch Gebrauch macht, nützlich und heilsam wird« (ebd. 505 a). 19  Vgl. dafür den Hinweis auf den politisch nützlichen ›Gebrauch‹ der »arma eloquentiae« bei Cicero, De inv. I 1, 1. 20  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe, Frankfurt am Main 1970, § 289. Im Folgenden werden die diesem Text entnommenen Zitate durch die in Klammern gesetzte Angabe des jeweiligen Paragraphen nachgewiesen. 21  Vgl. dafür jetzt exemplarisch: Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 22  Die Formulierung spielt an auf zwei klassische Texte der Soziologie, die mit ihren Fragestellungen immer noch aktuell sind: Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 1.  Aufl. 1887, Darmstadt 1991 und Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924. 23 Cicero, De inv. I 5, 6: dicere apposite ad persuasionem. 24  Vgl. dafür Friedrich Nietzsche, Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. 3. Der griechische Staat, KWA I 773  ff.

Anmerkungen | 333

Personenregister Kursiv gesetzte Ziffern verweisen auf den Anmerkungsteil; die Nummer der jeweiligen Fußnote ist in Klammern hinzugefügt. Antike Autoren Aischines  295 (1) Aischylos  16, 55 f; 271 (24) Alkidamas  280 (116) Alkmaion 84 Anaxagoras  276 (73), 319 (262) Androtion 130 Antisthenes  280 (116) Apollonios Rhodios  267 (50) Aristophanes  328 (336) Aristoteles  9, 11, 14, 17, 21 f, 41 f, 108, 130, 134 ff, 238–242; 261 (9), 280 (110), 288 ff (179, 183, 202 f), 292 (219, 221), 294 (248), 306 (124), 313 (204), 315 (220), 319 (261), 322 (284) Augustinus  332 (12) Aulus Gellius  298 (39)  Bakchylides  295 f (6, 9) Bias von Priene  9 Chrysipp  332 (12) Cicero, Marcus Tullius  10, 61 f; 261 (9), 262 (19), 319 (262), 333 (19, 23) Demosthenes  264 (15), 266 (45), 295 (1), 297 (23), 307 (144)

Dio Chrysosthomos  298 (39) Diodor  118 f; 273 (42), 291 (208), 297 f (21, 33), 314 (210), 328 (336) Empedokles 84 Ephoros  s. Diodor Eupolis  319 (262) Euripides  127 f; 264 (16); 265 (28), 271 (23), 273 (41), 301 (62) Gorgias von Leontinoi  16, 25, 60, 63, 80, 83 f, 91, 218, 243; 274 (52), 275 (66), 277 (80), 281 (120) Herakleides aus Lembos  129 Heraklit  24, 46, 183 Herodot  17 f, 114 f, 134 f, 145, 151, 164 ff, 183, 185, 232 f; 269 (2), 293 (240) Hesiod  13, 15, 23 f, 139, 143 f, 149, 186; 269 (2), 273 (42, 43), 293 (242), 303 f (88, 92) Hippias aus Elis  280 (114) Homer  13, 21, 49, 149; 269 (2), 272 (39), 301 (62), 304 (92), 325 f (312, 314), 332 (9) Horaz  269 (1), 272 (37)  | 335

Ion von Chios  84 Isokrates  16 f, 25, 63, 131 ff, 149, 164, 232 ff; 295 ff (9, 15, 19), 301 (62), 310 (170), 315 (220), 319 (260 f) Kleidemos  295 (5, 7) Lykurg  303 (89) Melissos 84; 281 (120) Parmenides  47, 84 Pausanias  272 (39), 295 ff (3, 12 f, 23), 307 (144) Pherekrates  272 (40) Philochoros  279  f (108) Phokylides  293 (242) Pindar  283 (134) Platon  11, 13, 14, 51 ff, 56 ff, 60 f, 93, 135, 236–242; 261 (2, 9, 10), 271 (21), 273 (46), 278 (93), 279 (101, 107), 284  ff (149, 154, 165), 287  f (173 ff), 290 (192, 194), 298  ff (29, 52, 62 f), 314 (208), 316 f (228, 241), 322 (280, 285), 327 (330), 331 (359) Plutarch  129 ff, 165, 170 f; 269 (67, 1), 280 (115), 291 (208, 212), 295 f (252, 3, 5, 7 f, 12, 16), 298 (33 f), 300 (56), 302 f (78, 88 f), 306 (128), 319 (254), 328 (336), 331 (4)

336 | Personenregister

Pollux  307 (143) Prodikos von Keos  71, 73 Protagoras  57 ff, 66; 276 (75 f) Ps.-Apollodor  263 (2), 266 (44), 267 (50), 271 (20), 295 f (3, 8, 12), 298 (33), 300  f (62) Ps.-Aristoteles 47 Ps.-Demosthenes 130 Ps.-Homer  56, 87; 301 (63) Ps.-Xenophon  287  f (174), 293 (240) Quintilian  280 (115), 319 (256) Sextus Empiricus  47 f; 273 (42, 43) Simonides  269 (1) Sophokles  91, 128; 271  f (24, 25) Thales  303 f (88) Theognis  277 (87), 293 (240, 242) Theophrast  297 (24) Thukydides  17 f, 112, 115 ff, 127 ff, 152, 164 f, 185–189, 231 f, 237; 283 (133), 284 (144), 286 (159), 289 (186, 189), 306 (128 f), 310 f (177, 181), 319 (261) Xenophon  16, 83 f, 93; 271 (21), 289 f (183, 203), 292 (229) Zenon von Elea  281 (120)

Handelnde Personen der ­antiken Politik Adeimantos  171 f, 174 Agesilaos  274 (59) Alkibiades  76 f, 234; 280 (114) Archidamos  320 (267) Aristeides 116, 314 (209) Aristogeiton  308 (153) Aristoteles aus Marathon  118 Artabanos 178–184 Artaxerxes 191 Artemisia aus Halikarnass  176 f Dareios  152, 178; 315 (222) Diodot  200 ff Drakon  264 (15)

Kritias  76 f, 234; 272 (41) Kroisos  298 (38), 305 (119), 316 (229) Kylon  154 f Kyros  76, 79; 274 (59), 315 (222) Lykurg aus Sparta  316 (231) Mardonios  178 f Megabyzos  313 (206) Miltiades 173; 294 (251) Mnesiphilos 172 Nikias 206 Otanes  316 (232)

Ephialtes 95; 269 (67), 290 (200) Eurybiades  171 f, 174 f, 190 Harmodios  s. Aristogeiton Hipparchos, Sohn des Peisistratos 152; 308 (153) Hippias, Sohn des Peisistratos  152, 156, 173 Isagoras  153 ff Kallimachos 173 Kambyses  315 (222) Kimon 116; 269 (67) Kleisthenes, der Athener  17 f, 125, 127, 129 f, 134, 233 f; 294 (248) Kleisthenes von Sikyon  157 Kleomenes 153–156; 314 (206) Kleon  199–203, 214 Konon  282 (130), 294 (246)

Pausanias aus Sparta  191 Peisistratos  134, 142, 147, 152, 161; 309 (166) Perikles  17, 70, 117, 126, 186, 231; 277 (81), 280 (114), 292 (219), 294 (248) Perikles iunior  77 Philipp II. v. Makedonien  95 f, 104, 119 Sokrates  64 f, 54 ff, 69, 75–79, 83, 234 Solon  17, 25, 70, 125, 150 f, 154, 160 f, 186, 234 f; 272 (34, 36), 289 (179), 316 (230), 331 f (4, 11) Tellos, der Athener  298 (38) Themistokles  17 f, 70, 126, 313 (203) Xerxes  176–184, 191

Personenregister | 337

Mythologische und literarische Figuren Aigeus 38; 307 (144) Amazonen  37, 127 Amphion 57 Apollon  116, 141; 309 (162) Ares  27, 29 f, 37, 46 Ate  30, 146 Athene  56 ff, 78, 128; 263 (9)

Kallikles (Platon, Gorgias)  60, 71 Kekrops  78, 96 220; 307 (144) Kentauren 133 Kleobis  s. Biton Kronos  23 f

Biton  298 (38)

Minos 127; 325 (313) Minotauros 133

Demeter  87 ff; 283 (137) Dike  24, 29, 39, 146 Epimetheus 57 Erechtheus / Erichthonios  78, 96; 301 (62), 307 (143 f), 313 (200) Eumolpos 78; 301 (62) Gaia  45, 139 Helena  49 f Hephaistos  56 ff; 300  f (62) Herakles  71, 73 f, 127 f, 133 Hermes 58

Lapithen 133

Odysseus  21, 54, 69 Orpheus 57; 271 (22), 273 (43) Palamedes  54, 57 Pandion  263 (2), 307 (144) Peithō  16, 27, 43, 46, 51 f Persephone  87 f Poseidon  37, 78; 301 (62) Prometheus  55 f, 57 ff Theodote (Hetaire)  277 (82) Theseus  37 f, 96, 126, 137; 264 (16) Triptolemos 88; 283 (137) Uranos  23, 45

Ion, Stammvater der Ionier  141, 158

338 | Personenregister

Zeus  24, 36, 45 f, 55 f, 87 f

Moderne Autoren Alexiou, Evangelos  280 (116) Almeida, Joseph A.  298 (37), 302 (74 f) Andrewes, Anthony  322 (282) Anhalt, Emely, K.  302 (74), 304 (92) Badian, Ernst  278 (99), 293 (236 f) Bengtson, Hermann  292 (226) Blaise, Fabienne  143 f; 302 f (74, 79 ff, 81  f ) Bleicken, Jochen  287 (171), 300 (66), 308 (152), 331 (3) Blösel, Wolfgang  311 ff (182, 194, 196, 198, 201 f), 318  f (250 f) Böhme, Philipp  280 f (116, 121) Bollack, Jean  265 (19) Bornitz, Hans-Friedrich  305–309 (120, 122, 127, 137, 147, 152, 166) Boswoth, Albert B.  204; 323 (295) Bourriot, Félix  305 (112) Braun, Maximilian  267 ff (46, 65, 67) Bringmann, Klaus  282 (127), 288 ff (178 f, 181, 197), 293 (231) Brinkmann, Vinzenz  300 (62), 313 (200), 319 (257) Buchheim, Thomas  269 ff (4, 11, 15, 19) Buchner, Edmund  280 (116), 286 (167) Büchner, Karl  302  f (74, 84) Burkert, Walter  271 (22), 283 (134) Buxton, Richard G. A.  268 (66) Cargill, Jack  292 f (226, 230, 237)

Chambers, Mortimer  263 (2), 290 (199), 300 (53, 59), 309 (165) Conacher, Desmond J.  272 (26, 30) Connor, Walter R.  322 (279, 282) Day, James / Chambers, M.  298 (36) Deffner, August  313 (204) Deubner, Ludwig  283 (134), 297 (19) Dihle, Albrecht  272  f (41, 44) Dodds, Eric R.  263 ff (7 f, 12, 19), 268 f (56, 67) Döring, Klaus  273 (45) Dorion, Louis-André  274  f (58, 64, 67, 71), 277  f (84, 97), 280 (114) Dover, Kenneth J.  264 f (17, 19), 269 (67) Dreher, Martin  292  f (232 f, 237), 310 (167) Dumézil, Georges  297 (26) Ehrenberg, Victor  290 (197), 292 (227) Eliot, Charles W.  309 (156, 158)  Eucken, Christoph  280 ff (116, 121, 124, 128), 286 (164), 288 (175), 332 (11) Ferla, Kleopatra  264 (12) Finley, Moses I.  321 (279) Flaig, Egon  154 f; 261 (6), 290 (203), 297 (24), 320 (263), 322 (287) Flashar, Hellmut  256 (46), 324 (301), 327 (331) Fornara, Charles  308 (150), 312 (196), 316 (226) Fraenkel, Eduard  264 (18) Personenregister | 339

Fränkel, Hermann  302 ff (74, 85, 93, 102) Fuks, Alexander  288 ff (178, 182, 195) Gaiser, Konrad  324 (301), 327 (326, 331), 329 (349) Garvie, Alexander F.  267 (48 f) Gauthier, Philippe  278 (100) Gehrke, Hans-Joachim  261 (7), 306 (133), 308 (155), 310 (167) Gerhardt, Volker  324 (306) Gigon, Olof  277 (83) Glau, Katherina  268 (66) Gnilka, Christian  262 (14) Gödde, Susanne  265 (21), 268 (66) Gomme, Arnold W.  320 (264) Gray, Vivien J.  278 (99, 100), 281 (116) Grieser-Schmitz, Dieter  282 (127) Hansen, Mogens H.  295 (1), 298 (36) Harding, Philipp  295 f (5, 7) Harris, Edward M.  299 f (44, 53, 58) Hegel, Georg W. Fr.  242 ff  Heinimann, Felix  271 (22) Henrichs, Albert  268 (54, 59) Herter, Hans  295 (3) Hignett, Charles  296 (19), 298  f (36, 47, 49, 51, 53), 306 (124), 311 (185) Hobbes, Thomas  10, 204; 330 (356) Hölkeskamp, Karl-Joachim  299 (44) Hölscher, Tonio  296 (13) Hornblower, Simon  289 (182), 293 (234), 321 (275), 324 (301), 330 (357) Hunter, Virginia  321 (276)

340 | Personenregister

Immerwahr, Henry R.  311 (185), 315 f (217, 225) Irwin, Elisabeth  302 (74) Jaeger, Werner  143; 302 f (74, 78, 82, 88) Käppel, Lutz  264 (17) Kagan, Donald  320 (264), 322 (282) Kiechle, Franz  291 (211) Kienast, Dietmar  305  f (117, 133), 308 ff (156, 158, 169) Kinzl, Konrad H.  263 (4) Kleingünther, Adolf  272 (29), 282 (131) Kleinknecht, Hermann  311 f (187, 189, 191, 197) Knell, Heiner  272 (31), 280 (109), 295  f (10 f, 13), 307 (144), 319 (257) Kron, Uta  309 (163) La Combe, Judet de  s. Bollack, Jean Lambert, Stephen D.  307 (143), 309 (162) Lardinois, André P. M.  302 (72) Larsen, Jacob A. O.  291 (207) Latacz, Joachim  324 (308) Lausberg, Heinrich  261 f (2, 13), 265 (30), 281 (123) Leven, Karl-Heinz  321 (268) Lévêque, Pierre  308 (156) Lewis, David M.  306 (125) Lewis, John  143 Livingstone, Niall  280 (116) Loraux, Nicole  302 (74) Lotze, Detlef  322 (279)

MacDowell, Douglas M.  266 (33) Macleod, Colin  323 (297) Manuwald, Bernd  302 f (74, 77, 82) Martin, Jochen  261 (10), 305 (116) Meier, Christian  15, 22, 162, 207; 263 f (10, 12), 266 (40), 268 f (60, 67), 287 (171), 302 (76), 308 (148), 310 (175), 323 f (292, 303) Meiggs, Russell  291 (210) Mills, Sophie  295 f (3, 16 f) Morris, Ian  302 (75) Morrison, Donald  278 (98) Mossé, Claude  298 (36) Mülke, Christoph  300–304 (60 f, 63, 72, 74, 85, 101, 104) Müller, Armin  266 f (41, 45), 288 (177), 290 (203), 301 (68), 319 (257), 332 (13) Müri, Walter  324 f (305, 307) Munson, Rosaria V.  308 (150), 314 (211 f), 319 (251) Newiger, Hans-Joachim  269 f (3  f, 6) Nietzsche, Friedrich  19, 209, 244 (A 24) Noussia-Fantuzzi, Maria  302 (74) Ober, Josiah  287 (171), 330 (356) Orth, Wolfgang  281 (116) Ostwald, Martin  305 ff (110, 124, 138, 146), 310 (167, 169) Ottmann, Henning  281 (116), 283 (141), 324 (301, 306) Patzer, Andreas  275 (64, 65) Peetz, Siegbert  15 Plessner, Helmuth  333 (22) Podlecky, Anthony J.  269 (67)

Pointner, Franz  288 (180) Price, Jonathan  330 (356) Primavesi, Oliver  280 (110) Prinz, Karl  324 (301) Raaflaub, Kurt A.  288 (174), 290 ff (198, 209, 216, 223), 295 f (4, 14, 18), 306 (130), 308 (151), 315 (218), 317 (239), 328 (336) Rausch, Mario  296 (13) Rechenauer, Georg  324 (309), 327 f (331, 335) Reckermann, Alfons  269 f (4, 7, 9), 274 (60), 276 (76), 325 (309), 332 (10) Reckwitz, Andreas  333 (21) Reinhardt, Karl  263 (10), 272 (27, 30), 327 (331) Rhodes, Peter J.  300  f (53, 70) Ritter, Joachim  332  f (15) Romilly, Jacqueline de  322 (282) Roth, Peter  280 (116), 282 (129), 285  f (157 f, 161), 288 (175), 315 (220) Roussel, Denis  305 (112) Ruschenbusch, Eberhard  264 (14 f), 288 (178), 297 (22, 24), 298 ff (39, 46, 50, 53 f, 58, 64, 69) Ryffel, Heinrich  308 (152) Saussure, Ferdinand de  48 Schaefer, Hans  290  f (205) Schefold, Karl  296 (12), 306 (121) Schmitt, Arbogast  264  f (19) Schmitz, Winfried  261 (7), 301 (66, 69), 308 (149), 310 (167 f, 172) Schottländer, Rudolf  266 (42) Schubert, Charlotte  266 (35), 319 (260), 328 (337) Personenregister | 341

Schütrumpf, Eckart  275 (63), 288  f (180, 183) Schuller, Wolfgang  291 f (207, 217 f, 220 ff, 224) Schulz, Erwin  313 (204) Schwarze, Joachim  328 (336) Seck, Friedrich  281 (116) Siewert, Peter  306 f (126, 135), 309 (156) Simon, Erika  268 (62), 283 (134) Smarczyk, Bernhard  283 (137), 291 (216 f), Smith, Peter M.  266 (43) Sommerstein, Alan H.  263 f (10, 13), 266–269 (34, 37  f, 47, 61, 63  f, 67) Spahn, Peter  330 (352) Stahl, Hans-Peter  322 ff (288, 297, 302), 327 (331) Stahl, Michael  13; 263 (3  ff ), 269 (67), 299–305 (50, 57, 62, 70, 74, 79, 93 f, 110, 112–115, 122) Stehle, Eva  302 (72) Strasburger, Hermann  311 (186), 318 (250), 324 (302) Too, Yun Lee  280  f (116, 125) Traill, John St.  309 (156) Thommen, Lukas  319 (252) Tönnies, Ferdinand  333 (22)

342 | Personenregister

Usener, Sylvia  281 (116) Vernant, Jean-Pierre  263 (1), 285 (153) Vidal-Naquet, Pierre  308  f (156) Vlastos, Gregory  303 (82) Wade-Gery, Henry Th.  308 (164) Walker, Henry  295 f (3, 5, 9, 17) Wallace, Robert, W.  266 (35, 37), 300 (57) Walter, Uwe  282 (127) Wassermann, Felix M.  322 (282, 289)  Waterfield, Robin  275 (64) Weißenberger, Michael  282 (127) Welwei, Karl-Wilhelm  299 (49), 304 (99), 306 f (131, 133, 139), 317 (235) Whitehead, David  309 (156, 158 ff) Will, Wolfgang  320 (264), 324 (302) Winterling, Aloys  298 (35), 305 (111) Yunis, Harvey  321  f (278, 284) Zajonz, Sandra  280 (116), 295 (9), 297  f (28) Zimmermann, Hans-Dieter  292 f (227, 235, 237 f)