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German Pages 357 [360] Year 2011
STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 129
Kanon, Wertung und Vermittlung Literatur in der Wissensgesellschaft
Herausgegeben von Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko
De Gruyter
Gefördert von der VolkswagenStiftung
Redaktion des Bandes: Walter Erhart
ISBN 978-3-11-025994-0 e-ISBN 978-3-11-025996-4 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Kanon, Wertung und Vermittlung : Literatur in der Wissensgesellschaft / edited by Matthias Beilein, Claudia Stockinger, Simone Winko. p. cm. Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-025994-0 (alk. paper) 1. Canon (Literature) I. Beilein, Matthias. II. Stockinger, Claudia. III. Winko, Simone. PN81.K343 2011 807⫺dc23 2011024341
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis
Matthias Beilein / Claudia Stockinger / Simone Winko Einleitung Kanonbildung und Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft . . . . . . . . . . . .
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I. Mechanismen der Kanonbildung: textuelle und/oder soziale Faktoren? Benjamin Specht Polyvalenz – Autonomieästhetik – Kanon Überlegungen zum Zusammenhang von Textstruktur und historischer Ästhetik bei der Herausbildung des deutschsprachigen Literaturkanons . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Grübel Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis Bruch, Wandel und Stetigkeit in Kanones der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts zwischen 1984 und 2009 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Leonhard Herrmann System? Kanon? Epoche? Perspektiven und Grenzen eines systemtheoretischen Kanonmodells . . . . . . . . . . .
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Dominic Berlemann Das soziale Gedächtnis und der Nebencode des Literatursystems am Beispiel von Gert Ledigs Luftkriegsroman Vergeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Elisabeth Kampmann Der Kanonisierungsprozess in den Dimensionen Dauer und Reichweite Ein Beschreibungsmodell mit einem Beispiel aus dem Wilden Westen . . . . . . . . . .
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Harro Segeberg Von Kanon zu Kanon Ernst Jünger als Jahrhundertautor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
II. Wertung und Kanon in Institutionen Günter Scholdt Innere Emigration und literarische Wertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
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Annika Rockenberger / Per Röcken Ist Edition ein Kanonisierungsfaktor? Unvorgreifliche Überlegungen zur Präzisierung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . 145 Doris Moser Kanon, Koffer, Kunstbericht Staatliche Literaturförderung und nationale Kanonisierungstendenzen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Anja Johannsen (Un)sichtbare Handschriften Zur problematischen Funktion von Literaturhäusern in Kanonisierungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Anja Heumann Der literarische Kanon in journalistischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Imke Borchers Worin liegt das Erfolgsrezept der Reihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho? Analyse am Beispiel von Los mares del Sur von Manuel Vázquez Montalbán . . . . 209 Wolfram Göbel Die Veränderung literarischer Kanones durch Books on Demand . . . . . . . . . . . . . . 225
III. Formen der Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft David-Christopher Assmann Extrinsisch oder was? Bodo Kirchhoff und Andreas Maier auf dem Markt der Aufmerksamkeit . . . . . . . 239 Steffen Martus »Für alle meine Freundinnen« Multimediales Marketing von Bestsellern am Beispiel von Susanne Fröhlich . . . . 261 Thomas Wegmann Warentest und Selbstmanagement Literaturkritik im Web 2.0 als Teil nachbürgerlicher Wissensund Beurteilungskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Stephan Porombka Weg von der Substanz. Hin zu den Substanzen Literaturkritik 2.0ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Thomas Ernst Wer hat Angst vor Goethes PageRank? Bewertungsprozesse von Literatur und Aufmerksamkeitsökonomien im Internet . . 305
Inhaltsverzeichnis
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Fotis Jannidis Wertungen und Kanonisierungen von Computerspielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Matthias Beilein / Claudia Stockinger / Simone Winko
Einleitung Kanonbildung und Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft
Die Analyse von Wertungs- und Kanonisierungsprozessen in verschiedenen Feldern der institutionellen Vermittlung von Literatur steht im Zentrum dieses Bandes. Seine Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Frühjahr 2010 von Mitgliedern des Promotionskollegs »Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ›nachbürgerlichen‹ Wissensgesellschaft« veranstaltet wurde.1 Das Kolleg zielte darauf, drei Bereiche eng miteinander zu verknüpfen, die meist weitgehend unabhängig voneinander untersucht werden: die Wertungs-, Kanon- und Vermittlungsforschung, die akademische und wirtschaftliche Anwendung ihrer Kriterien sowie die berufsfeldbezogene Ausbildung von Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern. In allen behandelten Forschungsprojekten – etwa zur Vermittlung subsaharischer Literatur in Deutschland, zur Funktion des Lektors im Literaturbetrieb, zur Bildung eines schottischen ›Nationalkanons‹ oder zur Auswahl, Positionierung und Kanonisierung von Literatur durch den Deutschen Taschenbuchverlag 1961–2008 – standen Fragen literaturvermittelnder Praxis so weit im Vordergrund, dass die wissenschaftlichen Untersuchungen durch die konkrete Arbeit in einer Institution des Literaturbetriebs überhaupt erst angemessen reflektiert und ihre Fragestellungen dadurch genauer profiliert werden konnten. Das Kolleg ging von der Beobachtung aus, dass sich die moderne Wissensgesellschaft2 auch in ihrem Umgang mit Literatur von der ihr vorausgehenden bildungsbürgerlich geprägten Gesellschaft unterscheidet. Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen rekurrieren nur noch in begrenztem Umfang auf Wertmuster, wie sie das bürgerliche Zeitalter hervorgebracht hat.3 An die Stelle der kulturellen Vergesellschaftung tritt – zugespitzt formuliert – ihre Informatisierung und Telemediatisierung.4 Das hochspezialisierte Wissen der ›nachbürgerlichen‹ Wissensgesellschaft kann aufgrund seiner Komplexität gesamtgesellschaftlich nicht mehr angemessen kommuniziert werden, weshalb
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Das Kolleg wurde von der VolkswagenStiftung und der Universität Göttingen gefördert (Laufzeit: 2006–2010). Zu diesem vieldiskutierten Konzept vgl. z. B. Nico Stehr: Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens. Frankfurt / M. 2003; auch Lawrence Lessing: The Future of Ideas. The Fate of the Commons in a Connected World. New York 2001. Dazu etwa Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002. Vgl. Friedrich H. Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne. Opladen 1989, sowie Rainer Kuhlen: Wie viel Virtualität soll es denn sein? Zu einigen Konsequenzen der fortschreitenden Telemediatisierung und Kommodifizierung der Wissensmärkte auch für die Bereitstellung von Wissen und Information durch Bibliotheken. In: BuB – Buch und Bibliothek. Teil 1: BuB 10/11 (2002), S. 621–632, Teil 2, BuB 12 (2002), S. 719–724.
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diese sich neue Wege der Wissensregulierung und Wissensvermittlung geschaffen hat – mit Folgen auch für den Umgang mit Literatur. Denn die entstandenen Expertenkulturen stabilisieren nicht die Selbstwertungen der Gesellschaft. Mit der Offenheit der Wissensgesellschaft geht vielmehr eine grundsätzliche Unbestimmheit einher, die überkommene kulturelle Identifikationsmuster – wie eben beispielsweise den literarischen Kanon – in Frage stellt.5 Zugleich sind jedoch, z. B. in der Literaturkritik, noch immer Wertungskriterien erkennbar, die sich einer bildungsbürgerlichen autonomieästhetischen Tradition verdanken.6 Daneben behauptet sich das bildungsbürgerliche Selbstverständnis im Umgang mit ›Kanonischem‹ insofern, als gerade in jüngerer Zeit Restabilisierungsphänomene zu beobachten sind wie das verstärkte Bedürfnis nach Kanones.7 Dieses erfasst auch Bereiche, die der bildungsbürgerliche Blick ausgelassen hatte, wie etwa Comics, Kriminalliteratur oder Computerspiele. In Anlehnung an die leitenden Fragen des Kollegs stellt der vorliegende Band Modelle und Konzepte von Wertung und Kanonisierung zur Diskussion. Darüber hinaus wird deren Anwendbarkeit für die Gegenwartsdiagnose bis hin zur Literaturvermittlung im Web 2.0 erprobt. In einem ersten Teil geht es um Modelle wie auch methodische Grundfragen der Wertungs- und Kanondiskussion (1. Mechanismen der Kanonbildung) und in einem zweiten Teil um Kanonisierungsprozesse in Institutionen des Literaturbetriebs (2. Wertung und Kanon in Institutionen). Die Frage, welche Rolle Wertungshandlungen und der (meist retrospektiv angelegte) Begriff des Kanons in der gegenwärtigen Literaturvermittlung spielen, wird in einem dritten Teil behandelt (3. Formen der Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft).
1. Mechanismen der Kanonbildung – Textuelle und/oder soziale Grundlagen? Seit den 1980er Jahren ist die Frage, nach welchen Mechanismen oder bezogen auf welche Kriterien sich die Bildung von Literaturkanones vollzieht, oft gestellt worden. Verschiedene Modelle sind im Umlauf, und auch wenn diese sich zum Teil deutlich voneinander unterscheiden, führen sie doch überwiegend dieselben Faktoren an, die an Kanonisierungsprozessen beteiligt sind. Als eine weitgehend konsensuelle, wenn auch recht pauschale Formulierung kann gelten, dass Kanones meist als die historisch und kulturell variablen Ergebnisse komplexer Selektions- und Deutungsprozesse betrachtet werden, die Kanonisierungsinstanzen – z. B. Schule oder Universität – zuzuschreiben sind und in denen inner- und außerliterarische Faktoren – von Textqualitäten über literarische Normen bis zu sozialen und kulturellen Bedingungen der Entstehungs- und
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So z. B. Nico Stehr: Moderne Wissensgesellschaften. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (2001), S. 7–14. Vgl. dazu Sabine Buck: Literatur als moralfreier Raum? Zur zeitgenössischen Wertungspraxis deutschsprachiger Literaturkritik. Paderborn 2011. Beispiele reichen von Marcel Reich-Ranickis Projekt »›Der Kanon‹. Die deutsche Literatur« (2002–2006) über Leselisten in verschiedenen Institutionen bis hin zu Publikationen wie Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muß. Frankfurt / M. 1999.
Einleitung
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Rezeptionszeit – zusammenwirken.8 Zwar werden meist dieselben oder doch ähnliche Instanzen dieses Wirkungsgefüges identifiziert, jedoch herrscht keine Einigkeit über ihre angemessene Beschreibung, Gewichtung und Erklärung. Strittig ist z. B., ob bzw. in welchem Maße die Selektionsprozesse als intentional – etwa als Durchsetzung von Machtinteressen – aufzufassen sind oder ob man sie angemessener als nicht-intentionale Prozesse beschreiben sollte, deren Konvergenz sich in aller Regel der Planbarkeit entzieht. Ist es überhaupt sinnvoll, nach ›dem einen‹ Modell für die literarische Kanonisierung zu suchen, oder verspricht es nicht bessere Resultate, wenn man kleinteiliger vorgeht und die Modelle z. B. nach gesellschaftlichen Bedingungen oder historischen Zeiträumen relativiert? Erklärungsbedürftig ist zudem die Tatsache, dass auch in diversifizierten ›nachbürgerlichen‹ Gesellschaften immer noch Literaturkanones gebildet werden – der massiven und theoretisch gut begründeten Kanonkritik in den 1980er und 1990er Jahren zum Trotz. Mit der Frage nach den textuellen oder sozialen Grundlagen der Kanonbildung nimmt dieser Teil des Bandes eine fast schon ehrwürdige Kontroverse der Kanontheorie auf, die mit den gerade genannten offenen Fragen verbunden ist, und benennt pauschal die beiden Pole, zwischen denen Erklärungen von Kanonbildungsprozessen liegen: In welchem Umfang sind es soziale Mechanismen, die zur Kanonisierung literarischer Texte führen, und in welchem Maße tragen textuelle Eigenschaften dazu bei? Als widerlegt gilt die Auffassung, dass literarische Texte allein wegen ihrer ›zeitlosen‹ ästhetischen Qualitäten kanonischen Status erhalten. Dies haben Studien von Hans-Jürgen Lüsebrink und Günter Berger, Aleida und Jan Assmann, Barbara Herrnstein Smith, Jan Gorak, John Guillory und vielen anderen gezeigt.9 Gegen das schlichte Modell ›Literarische Qualität setzt sich durch‹ sprechen schon allein die Verläufe der De- und Rekanonisierung, für die es in verschiedenen Nationalliteraturen Beispiele gibt.10 Sie zeigen, dass
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Vgl. z. B. Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung. In: R. v. H. (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, S. 612–625; auch Leonhard Herrmann: Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissenschaft. In: Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren, kulturelle Funktionen, ethische Praxis. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 21–41. Hans-Jürgen Lüsebrink / Günter Berger: Kanonbildung in systematischer Sicht. In: Günter Berger (Hrsg.): Literarische Kanonbildung in der Romania. Beiträge aus dem Deutschen Romanistentag 1985. Rheinfelden 1987, S. 3–32; Aleida Assmann / Jan Assmann (Hrsg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987; Barbara Herrnstein Smith: Contingencies of Value. Alternative Perspectives for Critical Theory. Cambridge, London 1988; Jan Gorak (Hrsg.): Canon vs. Culture. Reflections on the Current Debate. New York 2001; John Guillory: Cultural Capital. The Problem of Literary Canon Formation. Chicago, London 1993. Vgl. z. B. Michael Böhler: »Cross the Border – Close the Gap!« Die Dekanonisierung der Elitekultur in der Postmoderne und die Rekanonisierung des Amerika-Mythos. Zur Kanondiskussion in den USA. In: Renate von Heydebrand (Anm. 8), S. 483–503; Hermann Korte: Aus dem Kanon, aus dem Sinn? Dekanonisierung am Beispiel prominenter ›vergessener‹ Dichter. In: Der Deutschunterricht 57/6 (2005), S. 6–21.
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es zumindest auch andere Faktoren geben muss, die kanonisierungsrelevant sind.11 Aus Sicht einer Theorie der Wertung von Literatur ist das keineswegs erstaunlich. Wenn das Werten zum einen als Handlung aufgefasst wird, in der ein Subjekt in einer konkreten Situation aufgrund eines Wertmaßstabs und bestimmter Zuordnungsvoraussetzungen einem Objekt eine Werteigenschaft zuschreibt, und wenn das Werten zum anderen als ein wichtiger Bestandteil jeder Kanonbildung gelten kann, dann kommen soziale Faktoren geradezu zwangsläufig ins Spiel.12 Andererseits ist aber gerade in jüngster Zeit die These, dass sich literarische Texte in Folge bestimmter Machtkonstellationen durchsetzten, als zu wenig differenziert kritisiert worden. Willie van Peer z. B. hat in seinem Beitrag zu dem Band The Quality of Literature (2008) dafür plädiert, der ästhetischen Qualität wieder deutlich mehr Raum zuzugestehen, wenn es um die Frage geht, warum ein bestimmtes literarisches Werk kanonischen Status erreicht hat und ein anderes nicht. Seiner Auffassung nach ist das Modell ›Kanon ist ein Machteffekt der herrschenden Gruppen‹ ebenso schlicht wie das Modell der sich durchsetzenden Qualität, gegen das es aufgestellt worden ist.13 Vorliegende, soziologisch ausgerichtete Modelle der Kanonbildung müssten demnach in ihrer Berücksichtigung der Rolle, die die Beschaffenheit literarischer Texte spielt, ›nachgebessert‹ werden. Modelle der Kanonisierung von Literatur haben sich an historischen Beispielfällen zu bewähren. Zugleich könnten genaue und breit angelegte historische Studien zumindest exemplarische Antworten auf die Frage nach den Mechanismen der Kanonbildung liefern, die Einzelfälle in den Blick nehmen und die relevanten Faktoren literarischer Kanonbildung in klar abgegrenzten Beispielen untersuchen. Solche genauen und umfassenden Studien werden bislang noch zu selten unternommen;14 wenn sie die Strukturen der jeweils behandelten Texte mit beachten, dann fragen sie meist vorsichtiger und wohl auch angemessener, ob es nicht bestimmte Eigenschaften eines Textes gibt, die eher für oder eher gegen seine Kanonisierung sprechen. Diese Frage lässt sich tendenziell beantworten, und zwar relativ zum jeweils untersuchten Kanon. Pauschal betrachtet, scheinen z. B. zwei Merkmale die Chancen eines Textes erhöht zu haben und nach wie
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Vgl. dazu auch Simone Barck / Martina Langermann / Siegfried Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin 1997. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn 1996, S. 39–48; Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004, z. B. S. 247–257. Willie van Peer: Canon formation. Ideology or aesthetic quality? In: W. v. P. (Hrsg.): The Quality of Literature: Studies in Literary Evaluation. Amsterdam 2008, S. 17–29, hier S. 18. Ausnahmen bilden z. B. die Arbeiten der Gruppe um Hermann Korte, in denen umfangreiches Textmaterial ausgewertet wird; vgl. etwa Hermann Korte / Ilonka Zimmer/ Hans-Joachim Jakob (Hrsg.): »Die Wahl der Schriftsteller ist richtig zu leiten«. Kanoninstanz Schule. Eine Quellenauswahl zum deutschen Lektürekanon in Schulprogrammen des 19. Jahrhunderts. Frankfurt / M. 2005; ebenso die Studie von Leonhard Herrmann: Klassiker jenseits der Klassik. Wilhelm Heinses Ardinghello – Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte. Berlin, New York 2010.
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vor zu erhöhen, in den akademischen Kanon in Deutschland aufgenommen zu werden: Zum einen muss er komplex genug sein, um mehrmals gelesen zu werden, zum anderen muss er für verschieden komplexe Lesarten und unterschiedliche Wertvorstellungen anschlussfähig sein.15 Alle spezielleren Kriterien können – so die heute am weitesten verbreitete Auffassung – nur mit Bezug auf die jeweilige Trägergruppe erklärt werden. Wenn zum Beispiel für viele im Bildungsbürgertum kanonisierte Texte angeführt wird, sie behandelten die wesentlichen menschlichen Probleme auf besonders repräsentative Weise, dann hängt die Einschätzung, was für wen repräsentativ ist und welche Probleme als die ›wesentlichen menschlichen‹ einzustufen sind, zweifellos von den Idealen und Normen dieser Gruppe ab.16 Dennoch ist weitgehend unstrittig, dass diese Texte ein weitgehend gleich bleibendes Set an Themen immer wieder behandeln, d. h. bestimmte thematische Strukturen lassen sich – neben den formalen – relativ neutral und mit voraussetzungsarmen Mitteln feststellen. Auch Überlegungen wie diese legen es nahe, dass von einem Mischungsverhältnis textueller und sozialer Faktoren in Prozessen der Kanonbildung und -entwicklung auszugehen ist, das genauer erforscht werden müsste. Die Beiträge dieses Teils nehmen sich dieses Fragenspektrums mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen an. Den Zusammenhang zwischen Polyvalenz als einem den Texten zugeschriebenen Merkmal, der Autonomieästhetik und dem Kanon der deutschsprachigen ›Hochliteratur‹ untersucht Benjamin Specht. Dass die Polyvalenz eines Werks als Eigenschaft gilt, die dessen Kanonisierung fördert bzw. wahrscheinlich macht, wurde in der Kanonforschung bereits vermutet;17 Specht arbeitet jedoch genauer heraus, welche textstrukturellen Faktoren unter ›Polyvalenz‹ fallen und unter welchen Bedingungen dieses Merkmal einen so prominenten Platz in wirkungsmächtigen autonomieästhetischen Konzeptionen des späten 18. Jahrhunderts einnehmen konnte. Er schafft damit eine Basis, um die Relevanz der Polyvalenz für den materialen ebenso wie für die Deutungskanones plausibel zu machen, die unter autonomieästhetischen Vorzeichen gebildet wurden. Rainer Grübel geht von dem in der Kanonisierungspraxis kaum zu trennenden Zusammenhang textueller und textexterner, z. B. sozialer Faktoren aus. In seinem Beitrag untersucht er unter anderem diesen Zusammenhang an einem besonders instruktiven Beispiel: an dem Wechsel von der monokanonisch orientierten Kultur der Sowjetunion
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Vgl. Renate von Heydebrand (Anm. 8). Vgl. dazu die berechtigten Einwände gegen die Ausschlussmechanismen der traditionellen Literaturwissenschaft, die von Seiten der feministischen Kanonkritik zuerst in den USA formuliert worden sind; z. B. Nina Baym: Melodramas of Beset Manhood: How Theories of American Fiction Exclude Women Authors. In: American Quarterly 33 (1981), S. 123–139; Annette Kolodny: A Map for Rereading: Or, Gender and the Interpretation of Literary Texts. In: New Literary History 11 (1980), S. 451–467; Paul Lauter: Caste, Class, and Canon. In: Marie Harris / Kathleen Aguero (Hrsg.): A gift of tongues: Critical challenges in contemporary American poetry. Athens 1987, S. 57–82. Z.B. Karl Eibl: Textkörper und Textbedeutung. Über die Aggregatzustände von Literatur, mit einigen Beispielen aus der Geschichte des Faust-Stoffes. In: Renate von Heydebrand (Anm. 8, S. 60–77, hier S. 69f.); vgl. auch Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002, z. B. S. 17.
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zu einer polykanonischen nachsowjetischen Kultur – ein Wechsel, der sich nach den Vorgaben der neuen politisch-sozialen Ordnung in Russland vollzogen hat und der sich in der Bildung literarischer Kanones und deren materialer Zusammensetzung deutlich nachweisen lässt. Grübel zeigt dies am Beispiel universitärer Leselisten. Neben aller Unterschiedlichkeit des sowjetischen und des postsowjetischen Kanons wird deutlich, dass in beiden enge Beziehungen angenommen werden zwischen ästhetischen Qualitäten der Texte und den kulturellen Werten, die in der jeweiligen Gesellschaftsordnung Geltung beanspruchen können. Unterschiedliche literatursoziologisch konzipierte Modelle zur Beschreibung von Kanongenese und -entwicklung schlagen Leonhard Herrmann, Dominic Berlemann und Elisabeth Kampmann vor. In seinem systemtheoretisch fundierten Modell zur Beschreibung von Kanonisierungsprozessen legt Leonhard Herrmann Wert auf eine systematische Anschlussstelle zur Berücksichtigung vor allem semantischer Merkmale literarischer Texte. Das an Niklas Luhmann orientierte Modell bestimmt die Funktionsmechanismen von Literaturkanones in Analogie zu denen autopoietischer Systeme. Kanonbildung kann in diesem Modell als Ergebnis nicht allein externer, z. B. sozialer, sondern auch kanoninterner Prozesse beschrieben werden. Zudem kann es die Beteiligung textueller Faktoren erfassen, wenn es um eine geeignete Theorie literarischer Bedeutung ergänzt wird, die der Konstruktivität von Sinnzuschreibungen Rechnung trägt, ohne zugleich die sinnkonstituierende Rolle von Textstrukturen zu leugnen. Eine solche Bedeutungstheorie sieht Herrmann in der Konstanzer Variante der Rezeptionsästhetik vorliegen: Das ›Sinnpotenzial‹ eines literarischen Texts bildet hier die Basis, auf der eine soziale Gruppe die Übereinstimmung des Texts mit den eigenen Bedürfnissen bzw. Werten identifiziert, was wiederum eine Kanonisierung nach sich ziehen kann. Ebenfalls mit Bezug auf Luhmann, aber stärker orientiert zum einen an der Theorie literarischer Kommunikation, die Gerhard Plumpe und Niels Werber entworfen haben, zum anderen an literatursoziologischen Kategorien Pierre Bourdieus entwickelt Dominic Berlemann seine Konzeption der Kanonisierungsprozesse im Sozialsystem ›Literatur‹. Einen wichtigen Stellenwert nimmt für ihn der Begriff des Systemgedächtnisses ein, in dem literarische Werke unter bestimmten Bedingungen bewahrt, d. h. kanonisiert werden können: Sie haben zwei Selektionsprozesse erfolgreich zu überstehen, die vom Zentralcode des Literatursystems ›interessant/uninteressant‹ und seinem Nebencode ›literarisch wertvoll/literarisch wertlos‹ gesteuert werden, und müssen unter anderem sowohl den Kriterien ›Dauerhaftigkeit‹ und ›Rezeptionsintensität‹ genügen als auch dem der ›Resonanzfähigkeit‹. Auf der Makroebene des Literatursystems lässt sich dessen Gedächtnis als invisible hand-Phänomen modellieren, auf der Mikroebene des Systems können die zahlreichen parallel verlaufenden individuellen Selektionen in ihrer Funktion ständiger Aktualisierung des Gedächtnisses beschrieben werden. Elisabeth Kampmanns Modell zielt auf eine differenziertere Beschreibung von Kanonisierungsprozessen, die sich unter den Bedingungen einer von Kanonvielfalt gekennzeichneten Gegenwartskultur vollziehen. Für die Gegenwart müsse, so Kampmann, der Kategorie der Aufmerksamkeit ein größeres Gewicht in der Modellbildung zukommen. Sie unterscheidet drei Statustypen, die literarische Werke oder Autoren in Kanonisierungsprozessen einnehmen können und die in den Dimensionen ›Dauer‹ und
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›Reichweite‹ voneinander abweichen: Publizität, Etabliertheit und Kanonizität. Am Beispiel der Werke Karl Mays und deren medialer Präsenz von 1960 bis heute illustriert Kampmann ihr Modell. Es stellt insofern einen vielversprechenden Vorschlag dar, als es systematische Anschlussstellen für die empirische Untersuchung sehr unterschiedlicher Rezeptionsphänomene bietet und so die Basis für genauere Analysen multifaktorieller Kanonisierungsprozesse in einer von Medienvielfalt und heterogenen Adressatengruppen geprägten gegenwärtigen Lesekultur bilden kann. Textuelle Strategien, die in einem literarischen Werk dessen Rezeption und Anschlussfähigkeit für verschiedene Kanonbildungen und vor allem Deutungskanones steuern können, stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Harro Segeberg. Am Beispiel Ernst Jünger zeigt Segeberg, wie ein Autor immer neue Werkfassungen erstellt und damit eine Vielfalt von Textvarianten erzeugt statt des einen stabilen Texts, der dem Werk zugrunde liegt. So leicht es fällt, die Anschlussfähigkeit an einen Kanon für einzelne Werkphasen zu bestimmen, so schwer fällt es, für Jüngers Gesamtwerk eine angemessene Kanonposition zu rekonstruieren. Versteht man den Autor als Institution, die unter anderem das Ziel einer ›Selbstkanonisierung‹ verfolgt, leitet dieser Beitrag bereits zu Teil 2 des vorliegenden Bandes über.
2. Wertung und Kanon in Institutionen Kanonisierungsprozesse werden maßgeblich durch literaturvermittelnde Institutionen beeinflusst. Prinzipiell lassen sich diese nach ihrer Zugehörigkeit zum literarischen Feld unterscheiden. Während die Akteure intraliterarischer Institutionen (wie Autorengruppen, literarische Vereinigungen und Zirkel etc.) ausschließlich dem literarischen Feld angehören, bewegen sich interliterarische Institutionen zwischen den Grenzen benachbarter Felder und Subfelder wie dem Feld der Ökonomie (Verlage, Agenturen), der Bildung (Schulen und Universitäten), der Publizistik (Zeitungen, Zeitschriften, Radio, Fernsehen und das Internet) oder der Macht (staatliche und kommunale Einrichtungen). Die Grenzen sind hier jedoch unscharf, da in vielen Fällen die Akteure der unterschiedlichen Felder in mehr als einem Feld agieren: Im gegenwärtigen Literaturbetrieb arbeiten Schriftsteller auch als Journalisten und sitzen in Jurys der meist aus öffentlichen Mitteln finanzierten Literaturpreise; Feuilletonredakteure schreiben auch Romane, Universitätsdozenten rezensieren in den einschlägigen Feuilletons und veröffentlichen Gedichte usw. Dieses Doppelt- oder Mehrfachagieren ist der Normalfall, der ganz und gar ›freie Schriftsteller‹ – so es ihn überhaupt gibt – die Ausnahme. In der Wissensgesellschaft haben sich freilich das Spektrum der für die Literaturvermittlung relevanten Institutionen wie diese Institutionen selbst in erheblichem Maß verändert. Während einzelne (wie etwa Autorenvereinigungen oder auch öffentliche Bibliotheken) marginalisiert wurden und andere (wie die Literarischen Salons)18 wohl endgültig verschwunden sind, wird
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Zu prüfen wäre, ob die Prognose Roberto Simanowskis aus dem Jahr 1999, wonach die Geselligkeit des Salons durch die virtuelle Gemeinschaft des Internet abgelöst werde, sich realisiert hat
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Literatur heute in teils neuen, teils erheblich modifizierten Institutionen vermittelt (man denke etwa an Literaturmuseen, Literaturhäuser, die institutionalisierten Schreibschulen oder die Print-on-Demand-Verlage). Manche haben dagegen ihren Status bewahren können: Schulen und Universitäten gehören trotz veränderter Curricula immer noch zu den wichtigsten Institutionen der Literaturvermittlung;19 andere, wie Literaturzeitschriften, sind – weil angeblich funktionslos geworden20 – vom Aussterben bedroht. Dass all diese Institutionen von entscheidender Bedeutung für jene kulturellen Selektionsprozesse sind, die – zusammengefasst unter dem Stichwort ›Kanonisierung‹ – nicht nur die sogenannte Höhenkammliteratur, sondern im Grunde alle in künstlerischen Feldern entstandenen Produkte nach dem Prinzip der Auswahl des Bewahrenswerten organisieren, ist zwar unbestritten, doch stellt der eigentliche Nachweis dieses Einflusses nach wie vor ein wichtiges Desiderat innerhalb der Kanonforschung dar.21 Wie werden in literaturvermittelnden Institutionen Kanonrevisionen argumentativ gerechtfertigt? Wie reagieren diese auf den Bedeutungsverlust des bildungsbürgerlichen Lektürekanons und welchen Anteil haben sie an der ›Eventisierung‹ der Literatur? Fragen wie diese, die in den Beiträgen dieses Bandes behandelt werden, implizieren scheinbar, dass mit dem veränderten Stellenwert der Literatur in der Gesellschaft auch Kanonisierungsprozesse irrelevant geworden sind. Ist ›Kanon‹ also ein Konzept von gestern? In Kontrast zu dieser auch auf der Tagung diskutierten Annahme stehen massenmediale Inszenierungen wie Das große Lesen (ZDF, 2004) oder immer wiederkehrende Versuche von Institutionen, Kanones zu setzen oder zu bestätigen (etwa in ›Leselisten‹ an Schulen und Universitäten oder in der Debatte um die ›deutsche Leitkultur‹, die erst jüngst aus politikstrategischen Gründen geführt wurde). Hinzu kommt die voranschreitende populäre Musealisierung von Literatur (man denke hier etwa an die erfolgreichen Museumsneugründungen in Marbach oder Lübeck), die ebenfalls ein Indiz für die Persistenz des Kanons ist. Zweifelsohne haben Klassiker heute einen anderen Stellenwert als noch vor dreißig oder vierzig Jahren. Gleichwohl
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oder ob diese Zukunftsvision nicht doch von einer ganz anderen Gegenwart des Web 2.0 überholt worden ist (vgl. Roberto Simanowski: Die virtuelle Gemeinschaft als Salon der Zukunft. In: R. S., Horst Turk, Thomas Schmidt (Hrsg.): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Göttingen 1999, S. 345–369). Gemäß der thematischen Schwerpunkte des Promotionskollegs der VolkswagenStiftung »Wertung und Kanon« wurden auf der diesem Band zugrunde liegenden Tagung Schulkanones nicht berücksichtigt. Verwiesen sei exemplarisch auf die Arbeiten Hermann Kortes und seiner MitarbeiterInnen an der Universität Siegen (zuletzt etwa: Ilonka Zimmer: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt / M. 2009). Susanne Krones: Stille Stimmen. Warum die große Zeit der Journale für Literatur vorbei ist. In: Börsenblatt, 01. 04. 2010. Mehrere der am Promotionskolleg »Wertung und Kanon« entstandenen Arbeiten leisten einen Beitrag dazu, diese Lücke zu schließen. Vgl. dazu Katrin Blumenkamp: Das »Literarische Fräuleinwunder«. Die Funktionsweise eines Etiketts im literarischen Feld der Jahrtausendwende. Berlin, Münster, Wien 2011; Markus Kessel: »Aus Negern Afrikaner machen«. Die Vermittlung subsaharisch-afrikanischer Literaturen in deutscher Übersetzung seit Ende der 1970er Jahre. Berlin 2011; Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Auswahl, Positionierung und Kanonisierung deutschsprachiger Literatur durch den dtv 1961–2008. Berlin 2011 (im Druck).
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kommt ihnen nach wie vor eine besondere Bedeutung hinsichtlich der oft reklamierten identitätsstiftenden Funktion von Literatur zu, was auch die Bildung von Kanones und die sie konstituierenden Wertungshandlungen aktuell hält. Der Wunsch des Lesepublikums nach Orientierung in der Unübersichtlichkeit der fast kontinuierlich ansteigenden Novitäten, der sich etwa im Erfolg der diversen Bibliotheken der SZ, FAZ etc. ausdrückt, zeigt darüber hinaus, dass Kanonisierungsprozesse unabhängig vom Stellenwert des literarischen Erbes in der Gesellschaft eine relevante Größe im Literatursystem der Gegenwart sind. Zu den Institutionen, deren Wertungen maßgebend dafür sind, welche Texte überhaupt den Status von Klassikern erlangen, gehören die Philologien und Literaturwissenschaften. Günter Scholdt zeigt in seinem Beitrag, dass die weitgehende Marginalisierung von Autoren bzw. Texten der sogenannten Inneren Emigration auch aus normativen Setzungen der Germanistik resultiert. Zur Analyse dieser weitreichenden Negativkanonisierung zeichnet Scholdt die an diese Texte angelegten Wertmaßstäbe ausführlich nach, um schließlich an konkreten Beispielen entschieden für die Rekanonisierung einer weitgehend verdrängten Literatur zu plädieren. Annika Rockenberger und Per Röcken widmen sich der »Macht der Philologie« und nehmen dabei den in der Forschung postulierten, bislang aber nicht näher untersuchten reziproken Prozess von Edition und Kanonisierung in Augenschein. Ausgehend von einer Diskussion unterschiedlicher Modelle der Kanonbildung lenken Rockenberger/Röcken den Blick auf das einzulösende Forschungsdesiderat der nachzuweisenden Wechselwirkung von Editionen und Kanonisierung, das sich, so ihre Schlussfolgerung, nur dann beseitigen lässt, wenn mindestens drei Bedingungen erfüllt sind: Die zentralen Termini müssen zunächst explikatorisch präzisiert werden, die etablierten Modelle der Kanonisierung müssen um eine Mesoebene ergänzt werden, mit deren Hilfe sich kanonrelevante Handlungen hierarchisieren lassen, wofür schließlich die Etablierung eines Maßstabs erforderlich sei, an dem die Relevanz dieser Handlungen gemessen werden könne. Die folgenden Beiträge erweitern das Spektrum der für die Kanonisierung relevanten literaturvermittelnden Institutionen. Zunächst steht die Wertungspraxis staatlicher bzw. staatlich oder kommunal geförderter Einrichtungen im Zentrum. Doris Moser zeichnet am Beispiel der österreichischen Kunstförderung den Zusammenhang zwischen politischen Interessen und nationalen Kanones nach und beschreibt das spannungsreiche Verhältnis eines sich als Kulturnation definierenden Staates und seiner um Wahrung ihrer Autonomie bemühten Literatur. Das ausgeklügelte Literaturförderungssystem Österreichs gewährleistet zwar eine breite Subventionierung der eigenen Literatur, wird jedoch u. a. wegen seiner opaken Bewertungskriterien sowohl von Seiten der potenziell zu Fördernden als auch von Seiten staatlicher Repräsentanten immer wieder zum Gegenstand teils erbittert geführter Debatten. Moser bringt hier ein wenig Licht ins Dunkle, indem sie die verschiedenen Handlungen, die in die staatliche Förderung eines nationalen Kanons münden, aus den unterschiedlichen Blickwinkeln aller an diesem Prozess Beteiligten beleuchtet. Dass auch die Programmgestaltung der noch relativ jungen Institution ›Literaturhaus‹ von Wertungs- und Auswahlprozessen beeinflusst wird, die sich strukturell von Kanonisierungsprozessen nur wenig unterscheiden, zeigt Anja Johannsen in ihrer Untersuchung. Was entgegnen Programmplaner dem Vorwurf, Literaturhäu-
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ser seien nicht mehr als der verlängerte Arm der Marketing- und Vertriebsabteilungen großer literarischer Verlage? Wie sichern sie ihre gestalterische Unabhängigkeit und sorgen gleichzeitig für volle Häuser? Und inwiefern nehmen sie mit ihrer Programmplanung Einfluss auf die potenzielle Kanonisierung von Texten der Gegenwart? Auch hier öffnen sich Forschungsperspektiven, die zukünftig auf der Basis breiter empirischer Untersuchungen zu bearbeiten sind. Anja Heumann fokussiert in ihrem Beitrag auf journalistische Schreibpraktiken. Im publizistischen Feld erweist sich der Kernkanon der deutschsprachigen Literatur als eine relevante Bezugsgröße: Er stellt einen Textspeicher dar, auf den gerade in kommentierenden Textsorten immer wieder Bezug genommen wird. Die Funktionalisierung des Kanons als ein abrufbares Reservoir für Zitate und Allusionen belegt, so Heumann, die andauernde gesellschaftliche Relevanz kanonisierter literarischer Texte. Dass nicht nur ›hochliterarische‹ Texte Kanonisierungsprozessen unterliegen, zeigt Imke Borchers am Beispiel der Krimireihe um Pepe Carvalho des Katalanen Manuel Vázquez Montalbán. Auch Genreliteratur wird durch ein kalkuliertes Zusammenspiel von Schreib- und Publikationsstrategien kanonisiert. In dieser exemplarischen Fallstudie aus der spanischen Gegenwartsliteratur stehen besonders die aufmerksamkeitsökonomisch relevanten Steuerungsprozesse von Verlagen und Literaturpreisen im Vordergrund, die, wie Borchers zeigt, im wohlkalkulierten Zusammenspiel von produktions- und rezeptionsbeeinflussenden Faktoren Kanonisierungsprozesse wesentlich bestimmen können. Der Beitrag Wolfram Göbels, der sich der technischen Innovation der Books on demand widmet, verbindet schließlich die Fragestellungen dieses Teils mit den folgenden über Formen der Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft (Teil 3 des vorliegenden Bandes). Göbel zeigt, dass durch die gravierenden Veränderungen auf der Produktionsseite des literarischen Feldes die ›klassische‹ Aufgabenteilung zwischen Verlagen und Autoren in Frage gestellt wird. Die Folgen dieser neueren Entwicklung, die jeden Autor in die Lage versetzt, auch Verleger seiner selbst zu werden, sind noch nicht absehbar. Dass sich Digitaldruck und der körperlose Transport schriftlicher Texte auch erheblich auf die Konstitution literarischer Kanones auswirken werden, ist für Göbel erwiesen – welche weiteren Folgen diese Innovationen nach sich ziehen, wird sich in naher Zukunft zeigen.
3. Formen der Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft In der sogenannten ›nachbürgerlichen Wissensgesellschaft‹ finden die Wertung von Literatur und Kanonisierungsprozesse unter veränderten Marktbedingungen statt. Es liegt deshalb nahe, auch die Wertungsroutinen im gegenwärtigen Literaturbetrieb unter den neuen medien-, ökonomie- und sozialgeschichtlichen Faktoren zu betrachten, die auf den Prozess der Aufmerksamkeitsverteilung für Literatur einwirken. Zwar handelt es sich dabei um längerfristige Vorgänge; diese aber kumulieren in den letzten Jahren und verstärken sich wechselseitig, so dass eine solche historische Rubrizierung zumindest aus heuristischen Gründen brauchbar erscheint. Die Veränderungen beruhen auf der zunehmenden Ablösung bildungskultureller Werte und gehen mit der Pluralisierung der
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Milieus sowie mit einem gewandelten Produktions-, Rezeptions- und Distributionsverhalten einher. Zu den Hauptmerkmalen der ›bürgerlichen Kultur‹ gehört nach Nipperdey in erster Linie die Selbstvergewisserung über die Beschäftigung mit der Kunst.22 Seit dem 19. Jahrhundert wird das Interesse für Malerei, Musik und Literatur sowie die entsprechende Kompetenz in diesen Bereichen zu einem konstitutiven Bestandteil des bürgerlichen Habitus. ›Der Bürger‹ vermehrt und stärkt damit das eigene Prestige innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie: Er häuft kulturelles Kapital an, indem er etwa – vermittelt in diesem Fall über den Heiratsmarkt für die Stabilisierung der eigenen Position – die Institution ›klavierspielende höhere Tochter‹ pflegt. Genau diese Einstellung zu Kunst und Literatur aber hat sich, verkürzt gesagt, in den letzten Jahrzehnten gründlich geändert.23 Heute beziehen sich gesellschaftliche Selbstbeschreibungen nur noch im begrenzten Umfang auf Wertmuster, wie sie das bürgerliche Zeitalter hervorgebracht hat. Dazu einige Hinweise: (1) Der Literaturbetrieb beschäftigt sich bevorzugt mit sich selbst (etwa mit seinen permanenten ›Krisen‹) sowie mit der Rolle des Marketings und der Kommerzialisierung im eigenen Lager. Seit der viel beredeten Krise des Buchmarkts ist derzeit klarer denn je, dass Literatur unter Marktbedingungen stattfindet, dass Autorennamen Marken darstellen und dass Autoren von ihrer Position her, nicht als Personen zu beurteilen sind, dass also im Verbund vielfältiger Vermittlungsinstanzen Images kreiert werden müssen. Die Prominenz und der Erfolg von Büchern verdanken sich keinem bildungsbürgerlichen Kulturwert mehr, sondern einem Kultwert, der charakteristisch ist für eine auf die Steigerung von Erlebnisqualitäten abonnierte Gesellschaft. Unter den vielen Labels für eine ›nachbürgerliche Wissensgesellschaft‹ leuchtet daher für den Bereich von ›Kanon und Wertung‹ nach wie vor das Konzept der Erlebnisgesellschaft in besonderem Maß ein,24 auch wenn sich die hochgesteckten Erwartungen an dieses Modell der ausgehenden 1980er Jahre zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur zum Teil erfüllt haben.25 Literatur muss ihren Wert nicht zuletzt unter Konkurrenz einer Medienwelt erarbeiten, die auf den ›Event‹ setzt. Sie hat sich also gegen Fernsehen, Kino und Internet zu behaupten, und die Akteure des Betriebs sind sich dessen durchaus bewusst – mit dem Ergebnis: »Offener als je zuvor wird Literatur heute als Ware gehandelt, inszeniert und reflektiert«.26 Infolgedessen etablieren sich neue Vermittlungsformen auf dem Markt. Ein für den Wandel im Betrieb seit Ende der 1990er Jahre richtungweisendes Beispiel ist
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Thomas Nipperdey: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Berlin 1988. Wobei schon das Beispiel ›klavierspielende höhere Tochter‹ darauf hinweist, dass hier weniger von einem Nacheinander der beiden unterschiedlichen ›Betriebsformen‹ bzw. Relevanzen auszugehen ist als von deren Gleichzeitigkeit. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt / M., New York 1992.
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Zu den Veränderungen des Buchmarkts unter den Bedingungen globaler ökonomischer Krisen etc. vgl. Erhard Schütz u. a. (Hrsg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 118.
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Erhard Schütz / Thomas Wegmann: Einleitung. In: E. S. / T. W. (Hrsg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 5–9, hier S. 9.
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etwa das ›Event‹-Phänomen ›Benjamin von Stuckrad-Barre‹. Stuckrad-Barres Lesereisen-Performance mit anschließender Ausstrahlung auf MTV zieht ein großes Publikum an; das Buch selbst aber wird von »kein[em] Dutzend der Anwesenden« mehr gekauft.27 (2) Die bürgerlichen Interessen der Beschäftigung mit Literatur sind nicht völlig aufgegeben, sie rücken aber zunehmend an den Rand – gemeint sind Interessen wie ›Literatur möge zu Erkenntnissen führen‹ oder ›sie möge bilden‹; sie veredle sich darin, Sprach- und Erinnerungspflege zu treiben, oder sie sei darauf ausgerichtet, Horizonte zu erweitern etc. Damit wird das Einverständnis, Kunst sei autonom, diene also »nicht mehr anderen Zwecken«, sondern sei »an sich selbst wesentlich«,28 neu akzentuiert. Nach Jost Schneider lässt sich diese Entwicklung v. a. an den Lesegewohnheiten des sog. hedonistischen Milieus sehen, zu dem insbesondere »Nicht-Etablierte bzw. Noch-Nicht-Etablierte (Schüler, Studenten, Auszubildende, Ausbildungsabbrecher etc.)« gehören. Der Literaturkonsum dieses Milieus steht »im Zeichen des Nonkonformismus, der Flexibilität, der individuellen Freiheit und der Intensivierung«; heterogene Büchersammlungen, in denen sich »Moses Mendelssohn neben Micky Maus und die Geschichte der O neben der Marquise von O…« finden, sind keine Seltenheit. Im Blick auf Literatur handelt es sich um ein Medienverhalten, das sich nicht für den Wert des Buchs ›an sich‹ interessiert, sondern das diesen Wert am Potential des Buchs für die Reflexion der eigenen Persönlichkeit misst: Gelesen wird dann, wenn Literatur »in einem gegebenen Moment starke Reize intellektueller, seelischer oder körperlicher Art« hervorzubringen und damit »ein intensives Lebensgefühl« zu erzeugen verspricht, so Schneider.29 Die aktuellen Formen der medialen Multioptionalität deuten demnach auf pluralisierte Nutzungskontexte und diversifizierte Adressatengruppen hin, die je eigene Erlebnisformen ausgebildet haben. Bei allen ökonomischen Schwierigkeiten zeichnet sich die gegenwärtige soziale Lage durch eine breite Mittelschicht aus, die unterschiedliche Lebensstile ausprägt bzw. akzeptiert und dabei – zumindest vordergründig – bloß ökonomische Kriterien zurückstellt. Das ›hedonistische Milieu‹ aber expandiert; die dort beobachtbaren Wertungs- und Kanonverfahren konvergieren mit größeren Trends der Lesekultur. Dazu zählen u. a. Faktoren wie die Konvention der Unkonventionalität, die auf die Suggestion von Wertungseigentümlichkeit zielt (die ›bildungsbürgerliche‹ Gesellschaft setzt, zugespitzt formuliert, auf Normerfüllung, die ›nachbürgerliche‹ auf Abweichung – die als solche zu einer neuen Norm wird); der hohe Wert der Forderung nach ›Selbstverwirklichung‹; und die verbreitete Nutzung von Kulturformen mit hohem ›Erlebnisgehalt‹.
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Erhard Schütz: Das gute Buch der Bücher. Perspektiven des Buchs – vom Markt her beobachtet. In: E. S. / T. W. (Anm. 26), S. 58–80; hier S. 66. – Zu Stuckrad-Barre als Symptom (für eine Lesergeneration, für eine Literaturrichtung und für eine spezifische Pop-Ästhetik) vgl. Stephan Porombka: Kritiken schreiben. Ein Trainingsbuch. Konstanz 2006, S. 130ff. Thomas Nipperdey (Anm. 22), S. 11. Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin, New York 2004, S. 328, 330. – Mit der Aufteilung in ›Milieus‹ operiert seit den 1990er Jahren auch das Kulturmarketing, vgl. Erhard Schütz u. a. 2005 (Anm. 25), S. 117.
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(3) Korrespondierend dazu erfolgt auch der Literaturkonsum im Zeichen individueller Freiheit, die das Buch als Medium für die Reflexion der eigenen Persönlichkeit schätzt, und zwar jenseits der Frage nach dessen etwaigem (hoch-)kulturellen Wert, der dem Buch als Kulturgegenstand zugeschrieben werden müsste. Beachtliche Energie wird in die Lektüre von Büchern gesteckt, die diese Funktion erfüllen. Ebenso ist die Bereitschaft gestiegen, bei Eindrücken wie ›Langeweile‹ und beim Erleben von ›Unlust‹ die Lektüre abzubrechen. Dieses Wertungsverhalten entspricht dem generellen Trend der Lesekultur, den eine Studie der Stiftung Lesen für 2008 beschreibt.30 Zwar hat das verbreitete Lesen am Bildschirm die Lesekultur selbst nicht, wie in früheren Studien befürchtet, gefährdet, im Gegenteil: Diese Form des Lesens ist »vielmehr im Alltag angekommen«;31 »hohes Leseverständnis bei Printmedien« führt zugleich »zu einem hohen Textverständnis bei Hypertexten«.32 Allerdings nimmt der Trend zum selektiven, überfliegenden und auf Ausschnitte bezogenen Lesen gerade bei den jüngeren Lesern (unter 30) immer weiter zu,33 und zwar sowohl bei der Buch- als auch bei der Bildschirmlektüre.34 Insgesamt wird also nicht weniger gelesen als vor einigen Jahren, aber die einzelnen Lektüreakte sind als ›oberflächlicher‹ zu beschreiben, und die Hemmung, die eigene Befindlichkeit über den kulturellen Wert eines Buchs zu stellen, ist generell gesunken.35 Die Frage nach Wertungs- und Kanonisierungsprozessen in der ›nachbürgerlichen Wissensgesellschaft‹ muss mit einem Produktions- und Rezeptionsverhalten rechnen, das anstelle der Verteidigung und Konsekrierung ›äußerer‹, scheinbar vorgängiger, ›an sich‹ existierender kultureller Werte ein Interesse an Wertungen profiliert, das das je eigene Innenerlebnis über den Konsum u. a. von Büchern befördern will. Kurz, die Veränderungen im ›Betrieb‹ betreffen die Verlage, die Autoren und die verschiedenen Instanzen der Rezeption; sie betreffen das Lektüreverhalten in der ›Erlebnisgesellschaft‹ (deren Bedürfnis nach persönlichen Leseerlebnissen durch das kollektive Erleben stimuliert wird bzw. stimuliert werden möchte); und sie betreffen die Profilierung von Autorpositionen und poetischen Darstellungstechniken unter den derzeitigen Bedingungen.36 Die ›nachbürgerliche‹ Wissensgesellschaft nutzt andere Mechanismen der Wissensregulierung als die ›bürgerliche‹; sie bevorzugt andere Medien und kom-
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Lesen in Deutschland 2008. Eine Studie der Stiftung Lesen. Bernkastel-Kues 2009.
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Ebd., S. 12. Ebd., S. 16f., vgl. auch S. 69, 77f. Ebd., S. 31, 57–59. Ebd., S. 36.
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Allerdings ist zu bedenken: »Ob dieser Befund darauf hindeutet, dass die Generation Multimedia nur mit Büchern oder auch mit anderen Printmedien selektiver umgeht, ob dies nur das Lesen betrifft oder auch den Umgang mit anderen Medien, ist aus der Umfrage nicht klar zu erkennen. […] Zudem ist noch nicht ausgemacht, ob die heute unter 30-Jährigen ihren selektiveren Lesestil in Zukunft beibehalten oder ob sich ihr Nutzungsstil, wenn sie älter werden, dem der heute Älteren angleicht« (ebd., S. 71).
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Vgl. dazu etwa Florian Hartling: Der digitale Autor. Autorschaft im Zeitalter des Internets. Bielefeld 2009, der von einer nach wie vor stabilen, aber diversifizierten Autorschaft im Netz ausgeht (S. 10); ebenso Renate Giacomuzzi: Zur Veränderung der Autorrolle im Zeichen des Internet. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), S. 7–30.
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muniziert ihr Wissen anders – mit einschneidenden Folgen: Die Rollen von Autoren und Lesern werden jeweils neu definiert,37 und das Konsumverhalten der so entstehenden Produkte wandelt sich ebenso wie die Kommunikation darüber, zumal im Web 2.0. Dass für die neuen Wege der Literaturvermittlung den Paratexten eines literarischen Textes eine herausgehobene Bedeutung zukommt, verdeutlicht David-Christopher Assmanns Beitrag am Beispiel von Bodo Kirchhoffs Erinnerungen an meinen Porsche und Andreas Maiers Sanssouci. Die Paratexte haben nicht nur kommunikative Funktionen, insofern sie aufmerksamkeitslenkend eingesetzt werden und dazu beitragen, dass das Buch als Ereignis wahrgenommen wird; sie kommunizieren auch mit dem Text und machen dessen Vertriebs- und Vermittlungsbedingungen zu einem Teil der literarischen Darstellung. Bemerkenswert ist, dass der seit der Weimarer Republik bekannte Typus des Autors als eines Medienjongleurs (Arnolt Bronnen, Bertolt Brecht, Erich Kästner u. a.) seit den 1990er Jahren in neuer Gestalt auftaucht:38 Die Mehrfachverwertung des Buchs als Filmvorlage, als Hörbuch, als Video- oder als Computerspiel gehört zu einem gezielt marktgängigen Verfahren, demgegenüber traditionelle bildungsbürgerliche Wertungsverfahren (wie die Trennung von Ökonomie und Kultur oder die Orientierung an überzeitlichen Werten) unangemessen erscheinen. Steffen Martus behandelt diesen Zusammenhang in seinem Beitrag als Form einer offensiv auf ökonomischen Erfolg zugeschnittenen Form der Literatur, die (wie Susanne Fröhlichs Moppel-Ich) generisch hybrid und multimedial anschlussfähig ist. Genauer geht es dabei um den symptomatischen Wert, den das von ›Bestsellerautorinnen‹ wie Fröhlich vertretene Autorschaftsund Werkkonzept für den Literaturbetrieb und die Frage nach ›Kanon und Wertung‹ hat. Die Ökonomisierung der Kultur betrifft insbesondere etwaige kulturpolitische Anspruchshaltungen von Seiten der Produzenten, die in immer größerem Maß zugunsten einer Nachfrageorientierung aufgegeben werden – bezogen etwa auf Verfahren der Werbung (z. B. die Gestaltung von Buchcovers betreffend) oder der Reklame,39 bezogen etwa auch auf die Wertungskriterien von Agenturen oder auf die Maßstäbe der Literaturkritik, die sich mehr denn je dem ›Dienst am Leser‹ verschrieben hat.40 Zugleich sind z. B. in der Literaturkritik noch immer Wertungskriterien erkennbar, die sich einer bildungsbürgerlichen autonomieästhetischen Tradition verdanken. Das daraus resultie-
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Vgl. Michel Chaouli: Kommunikation und Fiktion. Über das Schreiben und Lesen von Literatur im Internet. In: Weimarer Beiträge 49 (2003), H. 1, S. 5–16. Zum Begriff vgl. Frank Fischer: Der Autor als Medienjongleur. Die Inszenierung literarischer Modernität im Internet. In: Christiane Künzel / Jörg Schönert (Hrsg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 271–280. Vgl. dazu Thomas Wegmann: Dichtung und Warenzeichen: Reklame im literarischen Feld 1850– 2000. Göttingen 2011. Zur Literaturkritik vgl. die von Uwe Wittstock 1997 angeregte Debatte über die ›78er-Generation‹, in deren Verlauf die Forderung nach einer unterhaltenden, an den Bedürfnissen des Lesers orientierten Literatur zwischen ›U‹ und ›E‹ zentrale Merkmale der überkommenen PostmoderneDiskussion wieder ›salonfähig‹, d. h. marktrelevant machte. Dass dies nach der Jahrtausendwende nicht mehr gilt, zeigt z. B. Steinfelds Kommentar zur Frankfurter Buchmesse in: Süddeutsche Zeitung, 18. 10. 2005, S. 4.
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rende Spannungsverhältnis ist Gegenstand des Beitrags von Thomas Wegmann, der die Literaturkritik im Web 2.0 (bezogen v. a. auf das Verhältnis der traditionellen zu den neuen Formen der Amazon-Rezensionen) als Bestandteil der ›nachbürgerlichen‹ Wissens- und Beurteilungskulturen untersucht. Werden literarische Texte als Konsumgüter (und nicht als Kunstwerke) gesehen, spielt die Auseinandersetzung mit ästhetischen und poetologischen Fragen oder mit der ›Logik des Produziertseins‹ (Adorno) von Texten keine nennenswerte Rolle mehr; stattdessen schiebt sich der Rezensent mit seinen Bedürfnissen als Konsument in den Vordergrund. Stephan Porombkas korrespondierender Beitrag dazu arbeitet die netzwerkspezifischen Formen der Literaturkritik im Web 2.0 heraus (›Fraktalisierung‹, ›Relaisierung‹). Das literaturwissenschaftliche Wertungsverhalten wird diesen Formen nur dann angemessen begegnen, wenn es sie nicht länger mit einem traditionellen Begriff von Literaturkritik konfrontiert.41 Auch Thomas Ernst geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie das Internet literarische Texte verändert und welche Auswirkungen auf die literarische Netzöffentlichkeit sowie die dort entstehenden Wertungsroutinen sich dabei beobachten lassen. Am Beispiel der Plagiatsdebatte um die Romane Axolotl Roadkill (2010) von Helene Hegemann und Strobo (2009) des Bloggers Airen kann er zeigen, dass die neuen Internet-Öffentlichkeiten die bislang zentrale Position der printmedialen Literaturkritik für Kanonisierungsprozesse zunehmend in Frage stellen. Daneben behauptet sich das bildungsbürgerliche Selbstverständnis im Umgang mit Kanon insofern, als gerade in jüngster Zeit Restabilisierungsphänomene zu beobachten sind wie das verstärkte Bedürfnis nach Kanones. (Dies wurde vielfach in den Beiträgen zu Teil 1 des vorliegenden Bandes gezeigt.) Die Restabilisierung von Kanones bzw. das Interesse daran erfassen auch Bereiche, die der bildungsbürgerliche Blick ausgelassen hatte. Zu nennen sind etwa die ›Klassiker der Comic-Literatur‹ von FAZ und BILD oder Kanones der Popmusik und des Films wie die ›Cinemathek‹ der Süddeutschen Zeitung. Inwiefern im populären Bereich der Computerspiele von Kanonbildung gesprochen werden kann, untersucht der Beitrag von Fotis Jannidis. Er analysiert einige typische explizite und implizite Wertungshandlungen, die durch drei Faktoren spezifisch geformt sind: erstens durch die dem Computerspiel eigene Medialität; zweitens durch den Simulationscharakter von Spielen als regulative Idee; und drittens durch den populärkulturellen Charakter der meisten Computerspiele, der ein eigenes Wertesystem aufruft. Der Beitrag kann zeigen, dass Kanonisierungen durch diese computerspieltypischen Faktoren der Wertung zwar bestimmt, dass sie aber keineswegs vollständig davon determiniert werden. Unser Dank gilt der VolkswagenStiftung, die mit der freundlichen Förderung des Promotionskollegs auch diesen Band in großzügiger Weise finanziell unterstützt hat, namentlich danken wir Frau Dr. Vera Szöllösi-Brenig sehr herzlich. Göttingen, im Januar 2011
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Die Herausgeber
Vgl. dazu auch Stephan Porombka: Gemengelagen lesen. Plädoyer für einen kulturwissenschaftlichen Umgang mit Literaturkritik. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 15 (2005), S. 109–121.
I.
Mechanismen der Kanonbildung: textuelle und/oder soziale Faktoren?
Benjamin Specht
Polyvalenz – Autonomieästhetik – Kanon Überlegungen zum Zusammenhang von Textstruktur und historischer Ästhetik bei der Herausbildung des deutschsprachigen Literaturkanons
Am 27. September 1815 sendet Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) einen hintersinnigen Brief an Rosine Städel (1782–1845), inkognito aber deren Stiefmutter und Goethes Liebe Marianne von Willemer (1784–1860), und legt seinem Schreiben zwei getrocknete Pflanzenblätter sowie ein loses, auf den 15. September datiertes Blatt Papier bei. Auf diesem findet sich handgeschrieben eines der bekanntesten Gedichte Goethes, Gingo biloba, das er vier Jahre später auch in den Suleika-Zyklus des West-östlichen Divan (1819) integrieren wird: Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Gibt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut. Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als eines kennt? Solche Fragen zu erwidern, Fand ich wohl den rechten Sinn; Fühlst du nicht an meinen Liedern, Daß ich eins und doppelt bin?1
Wie wohl um kaum einen anderen Text Goethes ranken sich um diese zwölf Zeilen gleichermaßen Kult und Kommerz, aber auch besondere wissenschaftliche und literarische Pflege.2 Mit diesem Gedicht liegt somit der literarhistorisch keineswegs zwingende Fall
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Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. von Erich Trunz. München 1998, S. 66. So gibt es mehrere Ginkgo-Lesebücher und Sammelbände (z. B. Maria Schmid / Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hrsg.): Ginkgo. Ur-Baum und Arznei-Pflanze – Mythos, Dichtung, Kunst. Stuttgart 1994; Siegfried Unseld: Goethe und der Ginkgo. Frankfurt / M. 2003; Ginkgo. Der Baum des Lebens. Ein Lesebuch. Frankfurt / M. 2003 [ohne Hrsg.]), eine Ginkgo-Allee, ein Ginkgo-Museum und einen Laden in Weimar, der sich allein auf den Absatz von Ginkgo-Nippes spezialisiert hat. Außerdem hat man große Rechercheanstrengungen unternommen und gleich mehrere Ginkgo-Bäume identifiziert, die Goethe im Laufe seines Lebens gesehen haben könnte, einschließlich eines Exemplars im Heidelberger Schlossgarten, von dem auch die Blätter stammen sollen. Vgl. Erasmus Hultzsch: Goethe und die Ginkgo-Bäume seiner Zeit. In: Maria Schmid / Helga Schmoll (s.o.), S. 49–54.
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Benjamin Specht
vor, dass Popularität und Kanonerfolg Hand in Hand gehen.3 Dies belegt nicht nur die hohe Präsenz des Textes in diversen Gedicht-Anthologien, sondern besonders auch eine Reihe von Ginkgo-Dichtungen bis in die Gegenwart, in denen die Goethe’sche Vorlage ganz im etymologischen Sinne zum ›Kanon‹ – d. h. ›Muster‹ und ›Maßstab‹ – künstlerischer Arbeit wird.4 Trotz des eindeutig bestimmten Zentralsymbols und des klar gegliederten gedanklichen und formalen Aufbaus herrscht kein Mangel an Interpretationen zu den drei auf den ersten Blick so schlichten Volksliedstrophen. Im Wesentlichen sind es vier keinesfalls überschneidungsfreie Deutungsstränge, die sich in der Goethe-Forschung bis heute vorfinden. Erstens wird der Text nicht selten gelesen als Gedicht über die Liebe, nicht nur, weil der Goethe-Biograph Herman Grimm (1828–1901) im Jahr 1869 die Autorschaft der Suleika-Strophen des Divan Marianne von Willemer zuschreiben und damit eine sehr konkrete biographische Verankerung ausmachen konnte. Für diese Deutung spricht v. a. die intertextuelle Verortung im poetischen Dialog der exemplarischen Liebenden Hatem und Suleika, die mögliche Assoziation von Platons Idee der Kugelmenschen in der zweiten Strophe und auch die Allusion auf die suggestive Herzform, wie sie Ginkgo-Blättern in bestimmten Lebensphasen zu eigen ist. Zweitens lässt das Gedicht sich mit seinem botanischen Zentralmotiv auch im Kontext von Goethes naturwissenschaftlichen und -philosophischen Studien verorten, behandelt es doch die produktive ›Aufhebungsbewegung‹ von Polarität und Steigerung, die er in den unterschiedlichsten Bereichen der Natur und Kultur als allgemeine Figuration ausmachen will.5 Drittens hat man es wegen der ambigen Wort- und Bildfelder (›Blatt‹, ›Sinn‹, ›erlesen‹), eines nahezu zeitgleichen Gesprächs mit dem Mythenforscher Friedrich Creuzer (1771–1858) anlässlich der Besichtigung eines Ginkgo-Baums sowie wegen der explizit thematisierten Esoterik der Kommunikationssituation (›geheimer Sinn‹) auch als poetologisches und symboltheoretisches Bekenntnis gelesen,6 ja zuweilen gar als Allegorie des Divan selbst, der ja ebenfalls von Osten, nämlich aus der Lyrik des Hafis, dem weiter westlich gele-
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Es ist für den kanonischen Status eines Textes weniger von Bedeutung, ob er tatsächlich gelesen wird, sondern ob er gelesen werden soll. Es reicht folglich, wenn er von den ›richtigen‹ Lesern rezipiert und promoviert wird, nämlich solchen, die größeren Einfluss auf Kanonisierungsprozesse haben, also z. B. Feuilletonisten, Verlagsleuten und v. a. auch Autoren. J. A. Schmoll gen. Eisenwerth: Ginkgo biloba in Dichtung und bildender Kunst der Moderne. In: Maria Schmid / Helga Schmoll (Anm. 2), S. 123f., identifiziert eine Reihe von durch Goethe inspirierten Ginkgo-Texten, etwa von Peter Härtling, Otto Crusius und Günter Eich. Zur erwähnten Etymologie des Kanonbegriffs siehe Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2000, S. 103–114. Vgl. so z. B. Karl Richter: Lyrik und Naturwissenschaft in Goethes West-östlichem Divan. In: Etudes Germaniques 38 (1982), S. 84–101, hier S. 91. Vgl. z. B. Michael Böhler: Gingo biloba. In: Goethe Handbuch. Bd. 1. Hrsg. von Regine Otto und Bernd Witte. Stuttgart 1996, S. 404–412, hier S. 408; so auch Detlef Kremer: Ein allegorisches Lesezeichen des West-östlichen Divan. In: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Hrsg. von Bernd Witte. Stuttgart 1998, S. 217–230, hier S. 218. Die letzte Zeile des Gedichts fiel fast wortwörtlich im Gespräch mit Creuzer.
Polyvalenz – Autonomieästhetik – Kanon
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genen Garten von Goethes Dichtung ›anvertraut‹ wurde.7 Hieraus ergibt sich schließlich viertens eine Lesart, wonach im Ginkgo-Gedicht ein Konzept von symmetrischem interkulturellem Austausch zwischen Ost und West chiffriert werde, wie es für den Divan generell charakteristisch ist.8 Für die meisten fachkundigen Leser wird wohl gerade im vagen Zusammenspiel dieser diversen Optionen – Liebe, Natur, Poesie, Interkulturalität – die eigentliche Pointe des Gedichtes zu suchen sein. Allerdings gibt der Text nur sehr dunkle Informationen über die genaue Relation der unterschiedlichen Lesarten aus, von denen sogar nur die Naturthematik sich ausgreifender auf der Textoberfläche manifestiert. Das Gedicht suggeriert zwar zaghaft mögliche Anschlüsse, Analogien und Relationen zwischen den Themenkreisen, die sich aber ohne eine höherstufige Interpretation nicht in einem übergreifenden Konzept integrieren lassen. Bei diesem Gedicht handelt es sich somit um einen Text, dem wohl unstrittig das Attribut ›polyvalent‹ zugeschrieben werden kann. Ja, die berühmte letzte Zeile – »Daß ich eins und doppelt bin« – macht überdies deutlich, dass das Phänomen der Polyvalenz nicht nur eine Eigenschaft des Textes, sondern auch selbst verhandeltes Thema ist. In beiderlei Hinsicht – seiner Polyvalenz und seinem Kanonerfolg – kann Gingo biloba als repräsentativ für eine Gruppe von Texten aus der mittleren Goethezeit gelten, die man in der Literaturgeschichtsschreibung unter dem Etikett der ›Autonomie-Ästhetik‹ rubriziert hat, d. h. der Poetologie und Dichtung der postaufklärerischen Avantgarden in Weimar und Jena um 1800. Die markante epochale Liaison von historischer Ästhetik und Polyvalenz ist in der jüngeren literaturwissenschaftlichen Forschung nicht unbemerkt geblieben.9 Zugleich besteht breiter Konsens darüber, dass im Falle des deutschen literarischen Kanons der Epoche um 1800 besondere Bedeutung zukomme. Führt man beide Prämissen zueinander, so liegt die Vermutung nahe, dass der besondere Erfolg und die hohe Stabilität von Texten aus der sogenannten ›Kunstperiode‹ im deutschsprachigen literarischen Kanon auch auf die Literatur und Ästhetik der 1790er Jahre zurückzuführen sein dürfte. Diesen ›deutschsprachigen literarischen Kanon‹ möchte ich dabei sehr weit auffassen und darunter den Kanon in deutscher Sprache verfasster literarischer Texte verstehen, wie er sich zwar erst nach der Goethezeit, aber auf deren Basis, in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts formiert10 und auch noch
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Vgl. Heide Eilert: »Daß ich eins und doppelt bin« – Über Goethes Gedicht »Gingo biloba«. In: Maria Schmid / Helga Schmoll (Anm. 2), S. 55–64, hier S. 58. Vgl. Karl Richter (Anm. 5), S. 91. Vgl. z. B. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u. a. 1996, S. 116. In diesem Sinne hat man in den 1990er Jahren eingehend untersucht, welch dominante Rolle die »Idee der Nationwerdung der Deutschen in ihrer Poesie« (Jürgen Fohrmann: Geschichte der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Kaiserreich. In: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Fohrmann und Wilhelm Voßkamp. Stuttgart, Weimar 1994, S. 576–604, hier S. 593) bei der Erhebung der Autonomieästhetik zum Kernstück des deutschsprachigen literarischen Kanons spielte. Der literarische Kanon, und darin v. a. die ›Blütezeit‹ um 1800, wird zum privilegierten Ausdruck des Volksorganismus, ja zu dessen kardinalem Verfassungsstatut und zum Mittel seiner internen und externen Profilie-
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heute kulturelle Verbindlichkeit nicht nur für einzelne Gruppen, sondern für die Breite der bildungsnahen Schichten beansprucht. Dieser Kanon hat sich natürlich in den etwa 150 Jahren seines Bestehens an den Rändern erheblich verändert und erweitert, bleibt im Kern aber bemerkenswert konstant, und zu diesem Kern gehören u. a. auch zahlreiche Texte aus dem Kontext der Autonomieästhetik.11 Dieser viel vermutete Zusammenhang von Polyvalenz, Autonomieästhetik und Kanonbildung wurde bisher allerdings kaum en détail aufgearbeitet, so dass die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten soll, eine geläufige Intuition der Kanon-Diskussion differenzierter zu begründen. Zunächst soll hierfür eine möglichst tragfähige Bestimmung des selbst in hohem Maße polyvalenten Begriffsfeldes der Polyvalenz (Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit, Ambiguität, Polysemie, Deutungsoffenheit) versucht werden. Anschließend korreliere ich diesen systematischen Befund mit der Ästhetik um 1800 und erörtere die kanonische Signifikanz der Konstellation von Autonomie-Ästhetik und Vieldeutigkeit. Dabei kann und möchte ich auf dem limitierten Raum dieses Beitrags keine ausgreifende Studie zu Kanonisierungsprozessen in ihrer vollen historischen Komplexität verfassen, auch nicht anhand eines exemplarischen Falls wie des GinkgoGedichts (das lediglich der Illustration einiger meiner Thesen und als literarhistorischer ›Anker‹ dienen soll), sondern vielmehr ein abstrakteres systematisches Verlaufsprofil entwickeln, dessen empirische Tragfähigkeit sich jedoch erst durch rezeptionsgeschichtliche Folgestudien letztgültig erweisen ließe.
1. Polyvalenz Entgegen einer weit verbreiteten synonymen Verwendung möchte ich zu diesem Zweck zunächst unterscheiden zwischen den Begriffen ›Polysemie‹ und ›Polyvalenz‹. Während die erste lediglich semantische und syntaktische Phänomene der Mehrdeutigkeit12 klas-
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rung, v. a. gegenüber dem Nachbarn Frankreich. Auf diesem Wege erfährt der vormals primär anthropologisch motivierte Holismus, wie er in der Autonomieästhetik zum Ausdruck kam, eine nationale Wendung: Die Autonomie des Kunstbetrachters wird nun zu der Freiheit des Volkes bzw. der Nation (vgl. hierzu Gisela Brinker-Gabler: Vom nationalen Kanon zur postnationalen Konstellation. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 78–96, hier S. 81). Besonders gut ablesbar wird dies an den Leselisten an Schulen, die ja dezidiert in der Absicht erstellt werden, die kulturell besonders relevanten Texte zu benennen und damit in die Literatur einzuführen, ›die man als gebildeter Deutscher gelesen haben muss‹. Besondere Konstanten auf diesen Listen quer durch die Jahrzehnte und föderalen Bildungssysteme sind immer auch Texte von Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist und den Romantikern. ›Mehrdeutigkeit‹ soll hier – in loser Anlehnung an Kurz’ nicht ausreichend scharfe Abgrenzung von rein ›semantischer Polysemie‹ (= Mehrdeutigkeit) und ›prinzipieller Unausdeutbarkeit‹ (= Vieldeutigkeit) (Gerhard Kurz: Vieldeutigkeit. Überlegungen zu einem literaturwissenschaftlichen Paradigma. In: Lutz Danneberg u. a. (Hrsg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der ›Theoriedebatte‹. Stuttgart 1992, S. 315–333, hier S. 324ff.) – als Oberbegriff von ›Polyvalenz‹ und ›Polysemie‹ fungieren. Sie bezeichnet
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sifizieren soll, fällt die zweite in die pragmatische Dimension des semiotischen Prozesses und bezeichnet die textuelle Kodierung einer spezifischen Rezeptionshaltung bei komplexen Zeichen, d.i. bei Texten. Polysemie findet sich somit oft bereits im Lexikon und speist sich aus der Tatsache, dass es in den natürlichen Sprachen eine ganze Reihe mehrfach denotierender Lexeme gibt (Homonymie). Sie kann überdies auch grammatisch durch unklare Syntagmen und Sätze entstehen, häufig etwa über uneindeutige Genitive, Konjunktionen und Relativpronomen. Stets speist sie sich jedoch aus bereits im Sprachsystem angelegten Quellen. Somit bezeichnet Polysemie hier die Art von Mehrdeutigkeit, die ausschließlich Wörtern und Sätzen zukommt. Demgegenüber möchte ich Polyvalenz in der Dimension des Sprachgebrauchs verorten und damit als eine Eigenschaft von sprachlichen Äußerungen im Kommunikationszusammenhang betrachten. So wird man sie auch nicht allein mit Hilfe einer Strukturoder Sem-Analyse dingfest machen können. Polyvalenz bezeichnet die Art und Weise, mit der in Texten eine multidimensionale Verarbeitung pragmatisch kodiert wird, wie also durch den Ein- bzw. auch Entzug von Textsignalen eine solche Rezeption kommunikativ bereits im Text latent ist und dann vom Rezipienten aktualisiert wird. Gehäufte Polysemie wird zwar oft als Indiz fungieren, einen Text auch als polyvalent zu klassifizieren, sie stellt aber für sich allein weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung dafür dar. Auch bei (idealerweise) nicht polyvalenten Textsorten wie Zeitungsberichten oder Protokollen wird man, wenn man nur beharrlich genug sucht, auf der Ebene des Sprachsystems eine Fülle von polysemen Elementen entdecken, die aber dennoch nicht zum Tragen kommen, weil der Leser diese grammatischen und lexikalischen Komplikationen durch eingespielte Rezeptionsroutinen und Kontextinferenzen disambiguiert – und dies in der weit überwiegenden Zahl der Fälle, ohne es überhaupt zu bemerken. Als polyvalent wird man nach meiner Begriffsbestimmung folglich einen Text erst dann bezeichnen dürfen, wenn die in ihm enthaltenen Polysemien (oder sonstige Polyvalenzindikatoren) es im Abgleich mit kulturell verankerten Rezeptionskonventionen als angemessen oder gar zwingend erscheinen lassen, nicht mehr nur routiniert nach einer einzigen und möglichst ökonomischen Möglichkeit der Kohärenzbildung zu fahnden, sondern die Koexistenz gleich mehrerer möglicher in Rechnung zu stellen. Dabei sind Faktoren wie paratextuelle Hinweise (etwa zum Genre), Eigenheiten und Unklarheiten der Deixis, das spezifische intertextuelle Umfeld oder auch oft gerade das Fehlen von expliziter Lesersteuerung oft um ein Vielfaches entscheidender als Polysemie.13
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eine Betrachtungsweise, die das Zustandekommen von mehreren Deutungen vom Text selbst her erklären will. Diese wäre zu unterscheiden von dem, was Kurz ›Vieldeutigkeit‹ nennt, nämlich ein komplementärer Zugriff, der die Existenz mehrerer Deutungen aus der Kontextgebundenheit des verstehenden Subjekts und seines wandelbaren Horizonts erklären. So wären ›Vieldeutigkeit‹ und auch ›Deutungsoffenheit‹ hermeneutische Begriffe – und damit auch nicht Gegenstand dieses Beitrags –, während ›Mehrdeutigkeit‹ ein textlinguistisch-strukturaler bleibt. Auch wenn sie folglich nicht zwingend auf der Textoberfläche ersichtlich werden muss, ist die Diagnose von Polyvalenz im Gegenzug auch nicht der reinen Willkür anheimgestellt. Sie bedeutet immer nur ›Vieldeutigkeit in Grenzen‹ (vgl. Gerhard Kurz: Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit. Göttingen 1999, S. 85), die der Kommunikationszusammenhang im Zusammenspiel mit dem Textbefund definiert. So wird man wohl keinem der drei von Fotis
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Daraus ergibt sich die logische, wenn wohl auch nicht zeitliche14 Abfolge von zwei Schritten bei der Rezeption eines polyvalenten Textes. Zunächst muss das Vorhandensein eines Überschusses an Deutungssignalen, oder auch deren Fehlen, verhindern, dass Kohärenz zwischen den einzelnen semantischen Vorgaben lediglich auf eine mit den Routinen der Alltagskommunikation konforme, usuell-ökonomische Weise hergestellt wird, bei der die verschiedenen Dimensionen des Bedeutungsprozesses einander definieren und vereindeutigen, bis am Ende eine adäquate Option übrigbleibt (Kotext, Kontext, Situation, konzeptuelles Wissen).15 Damit hieraus aber wirklich der Eindruck von Polyvalenz und nicht von Nonsens entsteht, muss die Irritation überdies die Aufmerksamkeit des Lesers auf die möglicherweise zusätzlich relevanten Textsignale zugleich verstärken und so in der Folge den Wechsel von einer einsinnigen zur einer multiplen Leseerwartung initiieren. Der Leser wird mit Hilfe des Textes zwar fast immer etliche Deutungshypothesen ausschließen können, es wird im Falle von Polyvalenz aber nur ein negatives Ausschlussverfahren und keine positive Bestimmung einer privilegierten Lesart geben können. Am Ende dieser negativen Selektion werden mehrere Optionen übrig bleiben,16 zwischen denen nur noch durch bestimmte wertbehaftete Setzungen entschieden werden kann (etwa Interpretationsstile und -schulen, Wertpräferenzen, etc.), nicht mehr anhand des Textbefunds. Sie alle sind gleichermaßen geeignet, Stimmigkeit
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Jannidis herausgearbeiteten und kritisierten Reduktionismen zustimmen können: Weder ist Polyvalenz nur Resultat einer konkreten Kommunikationssituation ohne jeglichen textuellen Einfluss (Fish), noch eine unabhängig vom konkreten Textbefund einnehmbare Rezeptionshaltung (S. J. Schmidt), noch ausschließlich ein Merkmal poetischer – oder gar literarischer – Kommunikation ohne Ansehung des Handlungskontextes (Jakobson). Vgl. hierzu eingehend Fotis Jannidis: Polyvalenz – Konvention – Autonomie. In: F. J. u. a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin, New York 2003, S. 305–328, hier S. 310–323. Dass Polyvalenz dennoch, etwa im Kontext der Dekonstruktion, zuweilen als Eigenschaft jedweder sprachlicher Äußerung gedacht wird, liegt zumeist daran, dass die jeweiligen Autoren ein lediglich zweiseitiges Kommunikations- und Zeichenmodell zugrunde legen (Signifikant und Signifikat) statt eines dreiwertigen unter Einbeziehung des pragmatischen Kontextes, durch den im System noch mehrdeutige Ausdrücke im Gebrauch disambiguiert werden. Vgl. Thomas Eder: Zur kognitiven Theorie der Metapher in der Literaturwissenschaft. Eine kritische Bestandsaufnahme. In: Franz Josef Czernin (Hrsg.): Zur Metapher. Die Metapher in Philosophie, Wissenschaft und Literatur. München 2007, S. 167–195, hier S. 192. Vgl. zu den am semiotischen Prozess beteiligten Ebenen, am Beispiel der Metapher, Rüdiger Zymner: Uneigentliche Bedeutung. In: Fotis Jannidis u. a. (Anm. 13), S. 128–168, hier S. 139f. Dadurch, dass die verschiedenen Deutungen einander im Falle der Polyvalenz somit nicht ausschließen müssen, sondern koexistieren können, ergibt sich ein Abgrenzungskriterium zu dem nicht selten synonym verwendeten Begriff der Ambiguität (etwa bei Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität. Zu Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988, S. 2). Entgegen dieser sehr weiten Begriffsverwendung vertreten Frauke Berndt und Stephan Kammer – zum Teil allerdings mit recht polemischem Nachdruck – eine enge Definition von Ambiguität als »antagonistisch-gleichzeitige Zweiwertigkeit« (Frauke Berndt / Stephan Kammer (Hrsg.): Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Würzburg 2009, S. 10). Auch Shlomith Rimmon-Kenan vertritt in ihrer mittlerweile klassischen Studie zum Thema einen engen und primär logischen zweiwertigen Begriff von Ambiguität, vgl. Shlomith Rimmon-Kenan: The concept of ambiguity. The example of James. London, Chicago 1977, S. 9.
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zwischen relevanten semantischen Signalen herzustellen, konvergieren aber dennoch nicht zu einer übergreifenden Synthese. Zwar müssen sie sich nicht zwingend gegenseitig ausschließen, und sie können vielleicht auch in einer höherstufigen Interpretation in Beziehung gesetzt werden; es lässt sich aber dennoch nicht prinzipiell bestimmen, welche von ihnen die meisten Daten am einfachsten koordiniert, so dass der Maßstab der interpretatorischen Ökonomie ins Leere läuft. Polyvalenz kann, wie gezeigt, auf vielfache Weise textuell realisiert sein. Diese Möglichkeiten lassen sich jedoch in zwei größere Gruppen klassifizieren: Es gibt eine Art von Polyvalenz, die aus Mehrfachcodierung und Überkomplexität resultiert, und eine, die gerade aus der interpretatorischen Indefinitheit, der Verweigerung von interpretationsleitenden Signalen entsteht. Ein Beispiel für den ersten Fall wäre etwa Novalis’ Klingsohr-Märchen aus dem Heinrich von Ofterdingen (1799/1800), in dem durch die fortwährende Kombination und Metamorphose des allegorischen Personals sich ein solcher Überschuss an deutungsrelevanten Informationen einstellt, dass sich der Text schließlich nur dadurch noch als sinnvoll betrachten lässt, dass man von einer gleich mehrfachen Kodierung aller Textelemente ausgeht. Zugleich gibt es aber auch den umgekehrten Fall, nämlich dass Texte allzu sparsam und vage mit der Streuung von expliziten Interpretationshinweisen verfahren und gerade durch diese Unterbestimmtheit besondere Deutungsanstrengung herausfordern, etwa einige ›Parabeln‹ von Kafka. Im Ginkgo-Gedicht liegt dabei der wohl besonders häufige Fall vor, dass beide Varianten zusammentreffen, legt es doch einerseits vielfache Fährten aus, lässt deren Zusammenhang aber andererseits undefiniert. Für den zweiten Fall von Polyvalenz muss dabei gelten, dass die Unbestimmtheit eine sprechende ist. Schließlich wird in so gut wie allen Sätzen vieles zwangsläufig indefinit bleiben, und erst, wenn uns durch die erwähnten Indizien diese Unbestimmtheit vielsagend erscheint, werden wir den Text für polyvalent halten und ihm demensprechend noch größere Verstehensanstrengungen angedeihen lassen. Man wird vermuten dürfen, dass diese Form der Polyvalenz durch Unbestimmtheit die bei der Leserschaft erfolgreichere sein dürfte, da sie den schnellen Leser nicht durch zu hohe Komplexität über-, den professionellen aber auch nicht unterfordert. So sieht etwa Christian Berthold in seiner Studie Fiktion und Vieldeutigkeit (1993) bereits für die Goethezeit Textbeschaffenheit und Publikumserfolg auf eine Weise korreliert, dass sich die Texte in Ermangelung einer definitiven Deutungsvorgabe (etwa durch Zurücknahme und Funktionswandel des aufklärerischen Erzählerkommentars), aber auch von offenkundiger Überkomplexität, »weder gegen ein naives noch gegen ein reflexives, quasi nur vorläufiges Sich-Einlassen auf die Fabel […] sperren.«17
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Vgl. Christian Berthold: Fiktion und Vieldeutigkeit. Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 295f.
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2. Polyvalenz + Autonomieästhetik Polyvalenz ist allerdings keinesfalls eine Erfindung der Goethezeit, sondern darf wohl als kulturelle Universalie gelten. Natürliche Sprachen und zwischenmenschliche Kommunikation scheinen allgemein so eingerichtet zu sein, dass sie Polyvalenz prinzipiell zulassen. Auch wird Polyvalenz in der Goethezeit mitnichten erstmals eingehender theoretisiert, sondern ist auch schon zuvor Gegenstand theologischer, philosophischer und poetologischer Debatten (z. B. vierfacher Schriftsinn, ubertas bzw. copia signi, obscuritas). Der Mehrdeutigkeitsdiskurs um 1800 hat somit zahlreiche jüngere und ältere, teils uralte Vorfahren in der neuzeitlichen und antiken Ideengeschichte und Sprachphilosophie, denen hier nicht näher nachgegangen werden kann, die aber auch bereits breit in der Forschung aufgearbeitet wurden.18 Zu seinen jüngsten Ahnen gehören, wie Bernd Brunemeier materialreich demonstriert hat, v. a. der Leibniz’sche Perspektivismus und, daran anschließend, Alexander Baumgarten mit der Theorie der sinnlichen Erkenntnis (cognitio sensitiva), die zwar nicht den Distinktheitsgrad der Deutlichkeit erreicht, dafür aber mehr sinnliche Fülle und Bedeutungsreichtum gewinnt (ubertas aesthetica) und einen ästhetischen und epistemischen Eigenwert behauptet.19 Hinzu kommt der organizistische Naturbegriff der frühen Goethezeit, der im Zeichen der Genieästhetik auch in die Sphäre der Kunst expandiert, so dass das künstlerische Artefakt damit eine Art ›Welt im Kleinen‹ bildet, die die Totalität des Makrokosmos im Beziehungsgeflecht der Einzelteile symbolisch repräsentiert.20 Trotz dieser langen Vorgeschichte gewinnt Polyvalenz (freilich avant la lettre)21 in den 1790er Jahren in Poetik wie literarischer Praxis dennoch eine andere und neue
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Ausführlich bei Bernd Brunemeier: Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit. Die semantische Qualität und Kommunikativitätsfunktion des Kunstwerks in der Poetik und Ästhetik der Goethezeit. Amsterdam 1983, v. a. S. 115–151. Vgl. Alexander Baumgarten: Ästhetik. Lateinisch-deutsch. Übers. und hrsg. von Dagmar Mirbach. Bd. 1. Hamburg 2007, § 17 und v. a. §§ 115–118. Vgl. pars pro toto noch Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: K. P. M.: Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 2: Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie. Frankfurt / M. 1997, S. 958–991, hier S. 974: »Was gibt es noch für einen Vergleichspunkt für das echte Schöne als mit dem Inbegriff aller harmonischen Verhältnisse des großen Ganzen der Natur […]?« Ein Wort für ›Polyvalenz‹ im genannten Sinne gibt es noch nicht in der Goethezeit, und die Phänomene, die ich hier als ›polyvalent‹ bzw. ›polysem‹ bezeichne, werden beide noch gemeinsam in etwa durch die Adjektive ›vieldeutig‹, ›vielbedeutend‹, ›vielsagend‹ und ›vielsinnig‹ wiedergegeben. Im Grimm’schen Wörterbuch gibt es zwar bereits ein kleines Lemma ›mehrdeutig‹, weit ausgedehnter sind aber die Einträge zu den erwähnten Stichwörtern, die fast synonym bestimmt werden (z. B. Bd. 26, Sp. 179ff.). Ein Blick ins Deutsche Wörterbuch zeigt zudem, dass diese Wörter ein semantisches Feld formieren mit den angrenzenden Adjektiven ›geheimnisvoll‹, ›unergründlich‹, ›doppelsinnig‹, ›schillernd‹, ›verstandreich‹, ›unbestimmt‹, etc. Sie sagen aber alle eben auch mehr und anderes als der Terminus ›polyvalent‹, und so weicht man in der Semantik der Goethezeit noch sehr häufig in Periphrasen aus, wenn es darum geht, das Phänomen genauer zu bestimmen, etwa wenn Herder der Dichtung attestiert, sie sei »mit so hohen poetischen Begriffen gleichsam verknüpft« (Johann G. Herder: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von
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Qualität.22 Die Überlegungen der Aufklärung erfahren in der mittleren Goethezeit eine durchaus epochentypische ›Transzendentalisierung‹: Gilt Polyvalenz im 18. Jahrhundert noch als zwar durchaus didaktisch nutzbarer, allerdings bei mangelnder Kontrolle keinesfalls unproblematischer Mangel an Klarheit und Deutlichkeit, muss also immer noch rational auflösbar sein und mit einer mehr oder weniger mimetischen Poetik kompatibel bleiben, 23 wird sie nun zur Bedingung der Möglichkeit von Dichtung überhaupt erklärt, von einer ästhetischen Eigenschaft unter vielen zu einer kardinalen ästhetischen Norm erhoben. Gleichzeitig wird das erwähnte Junktim von Naturphilosophie und Kunstreflexion immer weniger objektästhetisch fundiert, sondern zunehmend ins kunstbetrachtende Subjekt verlegt. Zu einem vorläufigen Abschluss kommt diese Tendenz bei Schiller und v. a. Kant, für den Polyvalenz überhaupt keine manifeste Eigenschaft des ästhetischen Artefakts mehr darstellt, sondern nur noch in einer bestimmten Rezeptionsweise besteht. Doch nicht nur in der Ästhetik und Poetologie, auch in der poetischen Praxis wird Polyvalenz nun nicht mehr unter skeptische Kontrolle gestellt, sondern mit Nachdruck forciert und in Texten wie Novalis‹ Klingsohr-Märchen oder Goethes Märchen geradezu ins Extrem getrieben (wobei diese beiden Texte freilich die äußerste Grenze markieren und in dieser Radikalität keinesfalls als repräsentativ gelten können). Dies zeigt sich sowohl in einer quantitativen Häufung der erwähnten Polyvalenzindikatoren in den literarischen Texten der Epoche, aber v. a. auch in einer qualitativen Intensivierung der Polyvalenz, die nun häufig auch in höherstufigen Deutungen immer schwerer oder auch gar nicht mehr aufzulösen ist.24 Polyvalenz gilt somit bei den literarischen Avantgarden um 1800 als Signum des Poetischen, als dessen höchsteigenes Terrain und als zentraler Gestus der neu gewonnenen Autonomie der Literatur gegenüber regelpoetischen, aber auch allgemeinen moralischen
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Martin Bollacher u. a. Bd. 1. Frankfurt / M. 1985, S. 432f.) und weise folglich einen besonderen »Reichtum von Ideen, der sie begleitet« (ebd., S. 434), auf. So auch Bernd Brunemeier (Anm. 18), S. 252. Besonders harsch ist das Verdikt gegen Mehrdeutigkeit bei Christian Wolff (Deutsche Metaphysik, Halle 1751, §§ 242–246) – bei ihm überhaupt nur thematisiert als Mangel an »Bemerckung des Unterscheides«, wobei dadurch die Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde und vom ausgeschlossenen Widerspruch, auf denen die poetische Mimesis basieren muss, in Frage gestellt wird. Andere Denker sind offener, allen voran Baumgarten, aber natürlich auch etwa Meier: »Die Fruchtbarkeit des Zeichens (copia, foecunditas signi) ist diejenige Vollkommenheit desselben, vermöge welcher es geschickt ist, die Wirklichkeit vieler Dinge daraus zu erkennen […]. Insofern also ein Zeichen entweder viele einander zugeordnete oder untergeordnete Bedeutungen bezeichnet oder viele Bestimmungen einer Bedeutung, insofern ist es ein fruchtbares Zeichen.« (Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Hamburg 1996, § 41) Für Meier sind die ›natürlichen Zeichen‹, d. h. die Phänomene der Erfahrungswelt, die fruchtbarsten, weil in der ›besten möglichen Welt‹ die beste Balance von Einheit und Vielheit (= ›Vollkommenheit‹) erreicht ist; aber auch die Welten, die die Künstler entwerfen, können fruchtbar sein, solange sie nur eben ›mögliche Welten‹ sind. Die in diesem Absatz lediglich angerissenen komplizierten Entwicklungen lege ich näher im Wezel-Jahrbuch 12/13 (2009/2010) (Rainer Godel / Matthias Löwe (Hrsg.): Erzählen im Umbruch: Narration 1770–1810. Texte, Formen, Kontexte) in einem Aufsatz zum »Funktions- und Statuswandel poetischer Mehrdeutigkeit zwischen Aufklärung und Goethezeit« dar.
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und intellektuellen Rücksichten. Diese Karriere ist dabei aufs Engste korreliert mit der Herausbildung der ›Autonomieästhetik‹, wie ich im Folgenden kursorisch demonstrieren will.25 Hierfür werde ich vier zusammenhängende Konstituenten der autonomieästhetischen Poetologie herausgreifen und jeweils erörtern, inwiefern sie Polyvalenz indizieren können: (1) das Primat der Form, (2) die gesteigerte Selbstreferenz, (3) die dezidierte Unbegrifflichkeit und (4) die Aufwertung der Fiktionalität.26 Zu (1): Dem Kunstwerk kommt in autonomieästhetischen Entwürfen die Funktion zu, einen Gedankenraum zu kreieren, in dem kunstexterne Zwecke und Interessen im dreifachen Sinne der Goethezeit ›auf-gehoben‹ sind – negiert, bewahrt, gesteigert. Dies leistet es v. a. auch durch ein Primat der Form, wobei diese von Schiller in den Kallias-
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Freilich gibt es nicht ›die‹ Autonomieästhetik um 1800, sondern diese setzt sich aus einer Reihe von theoretischen und literarischen Modellen und Texten zusammen, die Überschneidungen aufweisen, aber deshalb nicht völlig homogen sind. Allgemein bedeutet Autonomie um 1800 – darüber dürfte wohl kaum mehr Dissens bestehen – nicht gesellschaftliche Abstinenz des Kunstwerks, sie ist nicht die Freiheit der Literatur von ihrer gesellschaftlichen Umwelt oder gar A-Kommunikativität, sondern gerade zu deren auto-nomer, ›selbst-gesetzlicher‹ Verarbeitung. Der juristisch-politische Ursprung des Begriffs ist in den einschlägigen Ästhetiken des späten 18. Jahrhunderts noch sehr präsent (vgl. z. B. Dieter Borchmeyer: Ästhetische und politische Autonomie: Schillers ›Ästhetische Briefe’ im Gegenlicht der Französischen Revolution. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Tübingen 1990, S. 277–290, hier S. 277f.). Gerade in der wohl prominentesten Programmschrift, nämlich in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, wird deutlich, welch eminent soziale Konnotation die Begriffe ›Autonomie‹ und ›Freiheit‹ mit sich führen und wie auch die neue Ästhetik an dieser Aura partizipieren soll. Autonomieästhetik ist sehr wörtlich eine Ästhetik der ›Selbstgesetzgebung‹, und zwar in gestaffelter Hinsicht: einer anthropologischen, politischen und nicht zuletzt geschichtsphilosophischen. Allein bei Schiller findet sich der Autonomie-Gedanke bekanntlich in einer wahren Fülle von Kontexten: Politisch ist die Freiheit bei Schiller Freiheit zur Selbstbestimmung des mündigen Bürgers, anthropologisch vom sinnlichen Trieb wie vom Formtrieb, geschichtsphilosophisch von den Spaltungen der Moderne, ästhetisch von moralischem und ökonomischem Nutzenkalkül, erkenntnistheoretisch von der Zufälligkeit der empirischen Erfahrung, moraltheoretisch von der blinden Kausalität der Natur. Genügen soll eine systematisch keinesfalls erschöpfende Aufstellung einiger wichtiger, mutmaßlich auch konsensfähiger und auf die Frage nach der Polyvalenz zugespitzter Kriterien, ohne damit natürlich behaupten zu wollen, sie seien ein exklusiver ›Besitzstand‹ dieses besonderen poetologischen Kontextes. Die aus dem historischen Diskurs gewonnenen theoretischen Impulse sollen im Folgenden nicht schlicht reaktiviert, allerdings doch durchaus ernstgenommen und – soweit möglich – in literaturwissenschaftlicher Terminologie reformuliert werden, damit sie sich auf das Konzept von Polyvalenz beziehen lassen, wie es in den vorangegangenen Ausführungen dargelegt wurde. Eine solche Verschränkung von historischen und systematischen Zugängen und Sprachen mag methodisch nicht gefahrenlos sein (weil sich die Grenzen der historischen und modernen Begriffe selbst da nicht deckungsgleich verhalten, wo sie deutliche Schnittmengen aufweisen), ist in einer Untersuchung wie der vorliegenden, in der eine systematische Frage in ihrer historischen Dimension dargelegt werden soll, aber wohl unvermeidlich. Ein weiteres Problem, auf das hier nur hingewiesen werden kann, besteht darin, ob die Kriterien der autonomieästhetischen Poetologie auch wirklich in die literarische Praxis der Epoche hineinwirken. Dies anzunehmen scheint mir jedoch hinreichend intuitiv, um mit dieser Annahme weiterzuarbeiten.
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Briefen (1793) bestimmt wird als »eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt und gegeben ist.«27 In den Briefen Über die ästhetische Erziehung (1795) heißt es: In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sei, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form, ist wahre ästhetische Freiheit zu erwarten.28
Dadurch dass die Inhalte des Kunstwerks somit den Bedingungen, Regeln und Anforderungen des ästhetischen Präsentationsformats gemäß verknüpft werden und es nach seiner eigenen Wertlogik auf seine diversen Kontexte Bezug nimmt, scheinen in ihm externe Geltungsansprüche temporär außer Kraft gesetzt. Indem so die Form den Inhalt bestimmt, und nicht umgekehrt, kann das fragmentierte Gemüt des modernen Menschen bei der ästhetischen Erfahrung am Kunstwerk in einen Zustand eintreten, in dem es sich kontrafaktisch als frei von determinierenden Sachlogiken, als ganz und harmonisch erfährt29 – nicht indem äußere Bezüge unterdrückt oder gekappt, sondern indem sie in ein freies ›Spiel‹ versetzt und dadurch ›zum Schein‹ neutralisiert werden. Aus historischer und systematischer Distanz lässt sich dieses wirkungsästhetische Modell in Bezug auf die Polyvalenz so rekapitulieren, dass gerade die große Formemphase indirekt Mehrdeutigkeit der beiden genannten Formen begünstigen soll – sowohl nach Art der Mehrfachcodierung als auch der Unterbestimmtheit.30 Schließlich werden im autonomen Kunstwerk externe Zweckabsichten einerseits dadurch zurückgewiesen, dass steuernde Lesedirektiven, die eine bestimmte und kunstexterne Art der Kohärenzbildung favorisieren würden, zugunsten formal-eigengesetzlicher Verweisungen weitgehend unterbleiben. Wo fremde Wertesysteme andererseits aber dennoch thematisch sind, werden sie in einen formbedingten Verweisungszusammenhang versetzt, nach dessen Maßgabe strukturiert und vermittelt und so mit besonderer und zuweilen auch neuer Bedeutung aufgeladen. So lassen sich, um nur ein Beispiel anzuführen, z. B. auch in Goethes Gedicht verschiedene klanglich, rhythmisch und strophisch induzierte Isotopien ausmachen (z. B. aufgrund der regelmäßig alternierenden männlichen und weiblichen Kadenzen, der strophische Segmentierung des Gedankengangs oder Alliterationen wie ›Baums Blatt‹ und ›Wie’s den Wissenden‹), die dabei aber gerade nicht nur eine der eingangs erwähnten Optionen zur Kohärenzbildung stützen, sondern viel-
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Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit. In: F. S.: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 2. München, Wien 1966, S. 416. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller (Anm. 27), S. 498. Vgl. ebd.: »Das Gemüt des Zuschauers und Zuhörers muß völlig frei und unverletzt bleiben, es muß aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen wie aus den Händen des Schöpfers gehen. Der frivolste Gegenstand muß so behandelt werden, daß wir aufgelegt bleiben, unmittelbar von demselben zu dem strengsten Ernste überzugehen. Der ernsteste Stoff muß so behandelt werden, daß wir die Fähigkeit behalten, ihn unmittelbar mit dem leichtesten Spiele zu vertauschen.« Polyvalenz erscheint somit als textuelles Korrelat der Autonomisierung des Rezipienten, auf die Schiller zielt.
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mehr vage Überblendungen der Leitthemen suggerieren, die genaue Verbindung aber unausgesprochen lassen.31 Zu (2): In Karl Philipp Moritz’ (1756–1793) italienischer Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) wird die Mehrdeutigkeit des Kunstwerks aus seinem Status als sinnliches Analogon des allumfassenden Weltorganismus der Natur abgeleitet und damit im ästhetischen Objekt selbst verortet, wobei hier merklich noch die überkommene Verbindung von Naturphilosophie und Ästhetik nachhallt.32 Das autonome Kunstwerk zeichnet sich dadurch aus, »daß gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen der Natur im Großen, hier im Kleinen«33 nebeneinander stehen und also immanent aufeinander verweisen. Wie der Allorganismus der Natur resultiert somit auch die Autonomie eines Kunstwerks daraus, dass sich Einzelnes und Ganzes darin wechselseitig Mittel und Zweck sind und folglich durch keinen äußerlichen Regelzusammenhang determiniert werden. Indem das künstlerische Artefakt aber ein Äquivalent zur Gesamtnatur bildet, wiederholt es auch im Kleinen potenziell das unendlich komplexe Beziehungsgeflecht des Kosmos. Aus exakt dieser Vielzahl an internen Verweisungen und Relationen speist sich auch die Mehrdeutigkeit des autonomen Kunstwerks, die nach Moritz eine notwendige strukturelle Eigenschaft des schönen Objekts darstellt. Wenn nämlich jedes Teil mit allen anderen in Beziehung steht, dann ist es schon im Wortsinne nicht mehr als ›ein-deutig‹ zu denken, weil es immer auch auf alle anderen Elemente des geschlossenen Ganzen verweist. Durch diese Tendenz zu gesteigerter ›Selbstreferenz‹34 bezieht das autonomieästhetische Kunstwerk seinen Wert und seine Bedeutung nicht primär aus seinem äußeren
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Umberto Eco beschreibt das Zustandekommen solch formal induzierter Polyvalenz wie folgt: »Der ästhetische Reiz erscheint als dergestalt strukturiert, daß der Empfänger ihm gegenüber nicht die einfache Operation vollbringen kann, die ihm jede Mitteilung zu rein referentiellen Zwecken gestattet: die Trennung der Komponenten des Satzes, um für jede die Bedeutung festzustellen.« Deshalb wird eine zweite Rezeption notwendig: »Der Empfänger, der seine Aufmerksamkeit erneut dem Komplex der Reize zuwendet, wird jetzt Reize in den Vordergrund stellen, die er vorher nur beiläufig aufnahm, und umgekehrt. In dem transaktiven Akt, bei dem das Arsenal der begleitenden Erinnerungen sich mit dem System der Signifikate verbindet, das bei der zweiten Phase zugleich mit dem in der ersten Phase aufgetauchten […] System aufsteigt, gewinnt ein Signifikat Form, das reicher ist als das des ursprünglichen Ausdrucks.« (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Übersetzt von Günter Memmert. Frankfurt / M. 1977, S. 80f.) Dennoch beginnt sich auch hier bei Moritz bereits die erwähnte ›Transzendentalisierung‹ ontologischer Ansätze deutlich abzuzeichnen. So kann und soll das Kunstwerk auch bei ihm die Totalität der Natur nicht mehr vollständig einholen und repräsentieren. Die Natur ist vielmehr das für das Kunstwerk, was Kant in anderem Zusammenhang eine ›regulative Idee‹ nennt. So ist jedes manifeste künstlerische Artefakt als Produkt stets nur relativ, aber nicht absolut autonom. Vgl. Karl Philipp Moritz (Anm. 20), S. 972. Dieser Begriff wird in der Literaturwissenschaft notorisch mehrdeutig verwendet – mal bezeichnet er etwas wie Jakobsons ›poetische Funktion der Sprache‹ (also die Herstellung von syntagmatischer Kontiguität durch klangliche und syntaktische Äquivalenzbeziehungen), mal eine explizite Selbstthematisierung des Darstellens im Dargestellten (etwa bei Erzählerkommentaren), mal rückt sie gar in die Nähe von Fiktionalität generell. Hier wird der Terminus möglichst allgemein verwendet, um das Phänomen zu benennen, dass in künstlerischen Texten die Referenz im Kotext und textuellen Kontext Vorrang vor der auf den situativen Kontext hat.
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Wirklichkeitsbezug, sondern aus seinem inneren Verweisungsreichtum. Im GinkgoGedicht wäre dies etwa durch das einleitende Demonstrativpronomen markiert, das sowohl die Goethes Brief tatsächlich beigefügten Blätter bezeichnen, aber ebenso auf den Titel des Gedichts oder gar auf das beschriebene Blatt selbst verweisen kann. Um es in eine aktuellere Begriffssprache zu bringen: Indem eine Fülle textinterner Bedeutungsrelationen hergestellt werden kann (und auch die textexterne Verweisung freilich nicht ausgeschlossen, sondern lediglich ins zweite Glied gerückt wird), wird eine verstärkte Mehrfachcodierung der Zeichen möglich, so dass es auch zu gehäufter Polyvalenz kommen kann. Zu (3): In Kants Kritik der Urteilskraft (1790) dagegen haftet die Polyvalenz nicht mehr strukturell am ästhetischen Objekt selbst, sondern gründet darin, dass es geeignet ist, im Subjekt einen bestimmten Zustand der Gemütsvermögen auszulösen, den Kant den ›ästhetischen‹ nennt. Zum zentralen Schlagwort wird dabei die negative Formel vom ›interesselosen Wohlgefallen‹.35 Ins Positive gewendet bedeutet sie, dass die gegenläufigen Erkenntniskräfte von Einbildungskraft und Verstand so aufeinander bezogen sind, dass sie nicht in einem hierarchischen Gefälle stehen und dass die spezifisch ästhetische Erfahrung folglich auch nicht zu einer manifesten Erkenntnis gerinnt. Wäre dies nämlich der Fall, wäre sie bereits intellektuell und nicht mehr ästhetisch.36 Das Spiel der Gemütsvermögen wird von Kant genauer dadurch bestimmt, dass jedem eindeutigen Begriff, auf den der Verstand das Erfahrene bringen will, von der Einbildungskraft eine ›ästhetische Idee‹ beigeordnet wird, die dieses Bestreben sabotiert. Eine ›ästhetische Idee‹ zeichnet sich dadurch aus, dass sie »viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann«.37 Sie ist also vom Verstand gedanklich nicht einholbar, aber zugleich auch kein Produkt der Vernunft (wie die Ideen Gottes, der Freiheit und Unsterblichkeit). Statt dessen wird sie von der Einbildungskraft generiert, die fortlaufend sogenannte ›ästhetische Attribute‹ evoziert »mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen […], daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann«.38 Die Polyvalenz, wie man die Rede vom ›Anlass, viel zu denken‹ wohl pointieren kann, ist bei Kant folglich kein bloßes Beiwerk der ästhetischen Erfahrung. In ihr kommt überhaupt erst deren Besonderheit und Autonomie zum Ausdruck, die wiederum darin besteht, dass sie nicht auf einen begrifflichen und abstrakten Nenner gebracht werden kann. Dieser Effekt wird wiederum in Goethes Gedicht in bemerkenswerter Parallele thematisiert, in dem der ›geheime Sinn‹ hier ebenfalls nicht ›benannt‹ werden kann, sondern dezidiert ›erfahren‹ werden muss. Erst die Verweigerung von begrifflicher Eindeutigkeit ist es für Kant und Goethe, die die ästhetische Erfahrung zu einer ganz eigenen und besonderen Klasse macht. Sie sorgt für intensionale und zuweilen auch extensionale Offenheit des Zeichens im Gegensatz zu begrifflicher Definitheit und damit für hohe
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KdU, S. 17. KdU, S. 28f. KdU, S. 192f. KdU, S. 197.
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Suggestivität (›Mannigfaltigkeit von Theilvorstellungen‹). Reinigt man Kants Ausführungen vom zeitbedingten vermögenspsychologischen Kolorit, so kann man resümieren, dass die Polyvalenz des autonomieästhetischen Kunstwerks sich auch darin realisiert, dass es aus dem prinzipiellen Mangel einer adäquaten begriffliche Paraphrase gedanklich für mehrfache und gleichberechtigte Bedeutungsoptionen offen bleibt. Zu (4): Wird bei Moritz somit der Zusammenhang von Autonomie und Polyvalenz durch Selbstreferenz und bei Kant durch die irreduzible Anschaulichkeit markiert, so tritt neben dem bereits erwähnten Formakzent wiederum bei Schiller noch ein wichtiges viertes Signal hinzu: die Fiktionalität. Freilich sind Polyvalenz und Fiktionalität in systematischer Hinsicht durchaus Phänomene, die unterschieden werden können und müssen.39 Faktisch gehen sie im 18. Jahrhundert jedoch ein enges historisches Junktim ein, so dass sie fortan oft nicht mehr gesondert aktualisiert werden. Während noch in den allegorischen Poetiken der Aufklärung die fiktional vermittelte Informationsvergabe eines Textes nicht per se die Lizenz oder Aufforderungen zur polyvalenten Deutung induzieren musste, wird der kompetente Leser des 19. Jahrhunderts und bis heute in der weit überwiegenden Zahl der Fälle aus der Fiktionalität eines Textes schließen, dass er ihm zugleich auch nur mit einer mehrdeutigen Lektüre gerecht wird. Fiktionale Mittelbarkeit – wie sie bei Goethe allein schon durch die Einführung und ›Benamsung‹ der beiden Sprecher-Rollen von Hatem und Suleika zu Beginn des Buchs ›Suleika‹ markiert ist – wandelt sich historisch somit selbst zu einem Indikator für Polyvalenz, auch wenn sie es systematisch keinesfalls notwendigerweise sein muss. Dass ein solches Rezeptionsverhalten als eine höchst langfristige und nachhaltige Folge der Autonomieästhetik gelten kann, ist etwa Schillers 26. Brief aus Über die ästhetische Erziehung zu entnehmen, wo er auf den Unterschied von logischem und ästhetischem ›Schein‹ zu sprechen kommt. Während ersterer letztlich als Lüge und Betrug zu entlarven ist, geht in den zweiten immer schon ein Bewusstsein ein, dass kein verifizierbarer Wahrheitsanspruch erhoben und auch keine direkte »Anhänglichkeit an das Wirkliche«40 postuliert wird. Dabei artikuliert sich in der Fähigkeit des kultivierteren Menschen, ›schönen Schein‹ als solchen zu erkennen (d. h. ›Fiktionalitätsbewusstsein auszubilden‹),41 bereits seine relative Autonomie von unmittelbaren Zweck- und Handlungszusammenhängen, und sein Fokus wird von einer Fixierung auf das Wirkliche befreit hin zu einem offenen Blick auf die vielseitige Welt des Möglichen. Eine Konsequenz aus der Einsicht in diesen fiktional-vermittelten Wirklichkeitsbezug künstlerischer Texte kann dabei sein, dass die poetischen Zeichen, wenn sie schon nicht ›reale‹ Referenten bezeichnen, so doch anderes und mehr bedeuten, dass sie also eine Rezeptionshaltung einfordern, die wir heute als ›polyvalent‹ etikettieren würden.
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Vgl. hierzu Rüdiger Zymner (Anm. 15), S. 149f. Friedrich Schiller (Anm. 27), S. 511. Die Entstehung eines Fiktionalitätsbewusstseins markiert für Schiller auch eine wichtige Etappe im Prozess der Vervollkommnung der Gattung; siehe ebd.: »Insofern also das Bedürfnis der Realität und die Anhänglichkeit an das Wirkliche bloße Folgen des Mangels sind, ist die Gleichgültigkeit gegen Realität und das Interesse am Schein eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur.«
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3. Polyvalenz + Autonomieästhetik + Kanon Wenn man sich nun die Frage stellt, warum der autonomieästhetischen Literatur bei der Herausbildung des deutschsprachigen Kanons besonderer Erfolg beschieden war, so hat man hierfür sowohl historische als auch poetologische Motive identifiziert. Viele Vertreter von kanonisierenden Institutionen (Schule, Feuilleton, Verlagswesen, Buchhandel), werden dies erfahrungsgemäß v. a. mit dem besonderen ästhetischen Niveau dieser Texte begründen, die sich gegen eine minderwertigere, weil kontextgebundene, Literatur durchgesetzt haben. Autonome Kunst könne aufgrund ihrer immanenten ästhetischen Qualität eine überzeitliche Geltung beanspruchen, während heteronome ihren Charme verliere, sobald das sie fundierende kulturelle Relevanz- und Wertesystem obsolet werde. Auch unter Literaturwissenschaftlern wird man diese Meinung in der einen oder anderen Spielart vernehmen können, doch hat gerade die universitäre Forschung ganz im Gegensatz zu den textzentrierten Kanonmotiven, die außerhalb der wissenschaftlichen Diskussion wohl nach wie vor am plausibelsten scheinen, in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder herausgearbeitet, welche soziokulturelle Interessenlage, mitunter sogar welche konkrete Ideologie oder Trägergruppe, welchen Kanon zur Durchsetzung ihrer Ziele etablierte.42 Die textuelle Beschaffenheit selbst schien dabei zuweilen nur von sekundärer Bedeutung, wenn es um ihren kanonischen Erfolg ging. Allerdings hat die jüngere Kanonforschung immer wieder auch Einwände erhoben, wenn literarhistorische Diagnosen allzu exklusiv durch den Verweis auf den ›macht‹-geprägten Kontext fundiert wurden.43 Als fruchtbar erweist sich bei der Vermittlung dieser beiden Positionen v. a. die verbreitete Unterscheidung von materialem Kanon und dem Deutungskanon.44 Während
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Vgl. Anm. 10. Kanones sind schließlich sehr langlebige, nur relativ langsam veränderliche und epochenübergreifende Wertformationen, die zwar immer wieder an ihren Rändern, nicht aber im Kern mit dem je aktuellen Kultursystem variieren, also auch nicht monokausal von ihm abhängig sein können. Nicht nur die Anschließbarkeit eines Textes an akute Machtinteressen, sondern auch das Korpus der bereits etablierten Texte entscheidet über seine Inklusion oder Exklusion. Überdies hat man in der jüngeren Kanonforschung beobachtet, dass Rückschlüsse von Kanones auf ihre Trägergruppen sowie bestimmte Machtinteressen unter literarhistorischer Perspektive häufig weit weniger linear und eindeutig ausfallen, als die Theorie es zuweilen nahelegte (vgl. z. B. Nicholas Saul / Ricarda Schmidt: Vorrede. In: N. S. / R. S. (Hrsg.): Literarische Wertung und Kanonbildung. Würzburg 2007, S. 11). Die Untersuchung soziokultureller Motive mit der von Textstrukturen zu verbinden, fordert Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 9–24. Anhand einer breiten Fallstudie so auch Leonhard Herrmann: Klassiker jenseits der Klassik. Wilhelm Heinses »Ardinghello« – Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte, Berlin, New York 2010. Dieses Begriffspaar wurde eingeführt von Renate von Heydebrand: Probleme des ›Kanons‹ – Probleme einer Kultur- und Bildungspolitik. In: Johannes Janota (Hrsg.): Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Bd. 4. Tübingen 1993, S. 3–22, hier S. 5f. Später noch einmal bekräftigt in: Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur – Versuch einer Zusammenfassung. In: R. v. H. (Anm. 10), S. 613–619, hier S. 613. Vgl. zum Begriff Deutungskanon auch Hermann
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der erste den schieren Textbestand bezeichnet, benennt der zweite das Set von Kriterien und Methoden, mit deren Hilfe die (möglichst) verbindliche Deutung eines kanonischen Korpus erstellt, fixiert und stabilisiert wird. Der ›Deutungskanon‹ ist eine historisch variable, standardisierte und für größere Trägergruppen verbindliche ›Kanondeutung‹, die auf zweierlei Weise in den Kanonprozess eingreift: einerseits im wertenden und interpretativen Umgang mit dem überlieferten Kanon, andererseits auch mit der In- und Exklusion neuer Texte. So konkretisieren sich in ihm die Normen und Interessen, die durch den textuellen Kanon verbindlich gemacht werden sollen, und er ist die Instanz, in der sich die fragliche Brücke zwischen Text und Wertkontext schlagen lassen müsste. Text- und Deutungskanon stehen dabei jedoch nicht unverbunden nebeneinander, sondern in einem interdependenten Verhältnis. Wie jede Wertungshandlung darin besteht, dass einem Phänomen in Bezug auf einen Wertmaßstab eine ›positive‹ oder ›negative‹ Eigenschaft zugesprochen wird, sondiert auch der Deutungskanon einen neuen Kanonkandidaten darauf hin, ob er mit ihm akkordiert oder nicht.45 Doch steht der Deutungskanon als ›Schauplatz‹ solcher Wertungshandlungen aber nicht ein für alle Mal fest, sondern ist selbst ein höchst flexibles und begründungspflichtiges Gebilde, ist vom materialen Kanon und gleichzeitig auch vom allgemeinen kulturellen Wertesystem her zu legitimieren, will er seiner medialen Funktion zwischen beiden gerecht werden können. So ist er nicht einfach in den kanonischen Texten oder im Kultursystem vorfi ndlich, sondern muss erst aus dem Zusammenspiel textexterner Werte und Interessen und bereits im Korpus latenter Deutungsoptionen synthetisiert werden. Gelingt dies nicht reibungslos – und dies ist aus noch zu erläuternden Gründen prinzipiell der Fall –, dann muss notfalls durch ›Text- und Sinnpflege‹46 entweder das Korpus so verändert werden, dass es den an sie herangetragenen Deutungsintentionen besser kongruiert – was angesichts der relativen Inertheit des Kanons allerdings nur à la longue möglich ist –, oder aber es muss die Interpretation dem Textbestand angepasst werden, was im Rahmen eines fixen Deutungskanons freilich nicht in beliebigem Maße möglich ist, will er sich nicht selbst untergraben. Damit stehen soziokulturelle Werte und Interessen, Text- und Deutungskanon gewissermaßen en abîme. Eine Letztbegründung, sei sie vom Text her oder vom Kultursystem, ist nicht möglich, sondern nur – um einen Begriff John Rawls’ zu zweckentfremden – eine Art ›Reflexionsgleichgewicht‹,47 bei dem es immer nur eine
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Korte: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Heinz Ludwig Arnold / H. K. (Anm. 43), S. 25–38, hier S. 26. Zum Komplex Kanon und Wertung siehe die instruktive Studie von Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Anm. 10), S. 9–29. Zu diesem Begriffspaar siehe schon Jan Assmann (Anm. 4), S. 88. Vgl. zu diesem Konzept – allerdings freilich in einem sozialphilosophischen Kontext – John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt / M. 1979, S. 38: »Es ist ein Gleichgewicht, weil schließlich unsere Grundsätze und unsere Urteile übereinstimmen; und es ist ein Gleichgewicht der Überlegung, weil wir wissen, welchen Grundsätzen unsere Urteile entsprechen, und aus welchen Voraussetzungen diese abgeleitet sind. […] Doch das Gleichgewicht ist nicht notwendig stabil. Neue Erwägungen bezüglich der Bedingungen für die Vertragssituation können es umstürzen, ebenso Einzelfälle, die uns zur Änderung unserer Urteile veranlassen.«
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dynamische, keine statische Balance zwischen den Faktoren – Textpotenzial, Deutungskanon, Wertehorizont – geben kann. Die Ableitung eines definitiven Wertmaßstabes aus dem materialen Kanon ist dabei v. a. aus zwei komplementären Gründen unmöglich – einmal vom Textbefund und einmal von den Deutungen ausgehend. Einerseits weisen die im Kanon enthaltenen Texte zwar größere qualitative Schnittmengen auf, sind aber niemals völlig homogen und kohärent, so dass jeder für sich einen Merkmalsüberschuss in den Textkanon hineinträgt und folglich auch unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Anschlüsse zulässt. Hinzu kommt, dass jeder neu zum materialen Kanon gerechnete Text auch wiederum neue und andere Eigenschaften in den Pool einbringt, dass sich mit dem Textkorpus also auch das in ihm kodierte potenzielle Wertesystem verschiebt. In umgekehrter Richtung sind andererseits aber auch die Deutungen, die an das Korpus herangetragen werden, schon aus Gründen der hermeneutischen Differenz, nie in völlige Kongruenz mit den latenten Bedeutungspotenzialen der Texte zu bringen – und dies, obwohl jedem Deutungskanon per se der Anspruch inhärent ist, sein eigenes Wertesystem als besonders stabil im Text verankert erscheinen zu lassen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich nun die zuvor konstatierten Zusammenhänge von Kanonbildung und Autonomieästhetik neu in den Blick nehmen. Wie bereits anhand von Schiller, Moritz und Kant demonstriert, legen autonomieästhetische Texte es dezidiert darauf an, externe Wertesysteme nur möglichst ›schwach manifest‹48 werden zu lassen, etwa durch die genannten vier Strategien (Formprimat, Selbstreferenz, Unbegrifflichkeit und Fiktionalität). Daher ist bei diesen Texten, im Gegensatz zu solchen aus anderen poetologischen Zusammenhängen,49 zwischen dem im Deutungskanon an den materialen Kanon herangetragenen Werte- und Relevanzensystem und dem Bedeutungspotenzial des Korpus tendenziell leichter eine gewisse Kohärenz herzustellen bzw. zumindest zu prätendieren. Autonomieästhetische Texte bieten mehr Anschlussfläche für variierende Kontexte, weil sie weniger definite Deutungs- und Gebrauchsvorgaben formulieren. So ist es gerade ihre Polyvalenz, die ihnen – sind sie einmal in den Kanon vorgerückt – darin besondere Stabilität und Dauer versprechen kann. Dabei ist davon auszugehen, dass besonders die Polyvalenz-Variante, die durch gezielten Entzug von Deutungssignalen entsteht, Erfolg verspricht, denn sie erleichtert es noch einmal zusätzlich, die Möglichkeit alternativer Lesarten auszublenden, weil diese ja nur sehr indirekt im Text manifest werden.50
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Dieses Prinzip der schwachen Manifestierung ist für Fotis Jannidis der Schlüssel zum Phänomen der Polyvalenz, das damit als Zusammenspiel von Text und Rezeption gedacht werden kann; vgl. Fotis Jannidis (Anm. 13), S. 326: »Die zahlreichen durch sprachliche Strukturierungen aller Art bedingten poetischen Effekte erzeugen eine besondere Häufung schwach manifester Informationen, und der besondere Verarbeitungsmodus literarischer Texte lenkt wiederum darauf ganz besonders die Aufmerksamkeit.« Der (vermutlich auch seltenere Fall) der Polyvalenz durch Übercodierung ist damit allerdings noch nicht abgedeckt. Interessant ist, dass dies auch für Texte gelten kann, die selbst mitnichten im Kontext eines autonomen Literaturbegriffs entstanden sind, aber ex post so rezipiert werden können, etwa das Nibelungenlied oder auch noch Lessings Dramen. Vgl. Karl Eibl: Textkörper und Textbedeutung. Über die Aggregatzustände von Literatur, mit
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Die Polyvalenz autonomieästhetischer Texte ist für den Deutungskanon jedoch ein zweischneidiges Schwert: Sie bietet ihm zwar einerseits vielfältige Ansatzmöglichkeiten, muss von ihm andererseits aber auch gerade kaschiert werden, soll sie seine Autorität und Exklusivität nicht untergraben. Schließlich ist dem Kanon als kulturelle Wert- und Wissensformationen ein gewisser ausschließlicher Anspruch unaufgebbar. Polyvalenz stört und entschematisiert unsere Sprach- und Interpretationsroutinen, während der Deutungskanon umgekehrt eine bestimmte Lesart gerade standardisieren und andere desavouieren will. Durch das Herantragen hierarchisierenden Wertekontextes stellt sich der Deutungskanon somit als ein Versuch der Vereindeutigung von Mehrdeutigkeiten dar. Er ist gewissermaßen eine mit besonderem normativem Anspruch operierende Routine der Polyvalenzreduktion. Doch lässt sich Polyvalenz nicht ein für alle Mal ausschalten, allein schon, weil menschliche Kommunikation eben nicht in logisch-eindeutigem Kalkül aufgeht. Auf längere Sicht boykottiert Polyvalenz somit die Festschreibung einer einzigen verbindlichen Lesart bzw. eines völlig stabilen Textkorpus unweigerlich, die sie kurzfristig gerade begünstigt. Das Zusammenspiel von Polyvalenz und Kanonbildung lässt sich demnach durch zwei widersprüchliche Tendenzen charakterisieren: Einerseits behauptet jeder (Deutungs-)Kanon, auch der literarische, eine gewisse Exklusivität, so dass er Polyvalenz auf möglichst breiter Front reduzieren muss. Andererseits hilft ihm aber gerade die Eigenschaft der Polyvalenz, an den materialen Kanon anzudocken. Exakt dieses Paradox ist dabei ein herausragender Motor von Kanonwandelprozessen. Wenn man nun auch diese Ergebnisse auf das Beispiel des Ginkgo-Gedichtes anwendet – was, wie eingangs erwähnt, im Rahmen dieses Beitrags in extenso nicht möglich ist –, dann müsste sich hier wohl zeigen lassen, dass und wie gerade die autonomieästhetisch induzierte Mehrdeutigkeit dieses kleinen Textes ihn im Gang der Geschichte für zahlreiche verschiedene Deutungskanones anschließbar machte. Und in der Tat sprechen Studien zur Rezeptionsgeschichte des Textes sehr dafür, dass diese Diagnose zutrifft.51 So konnte man etwa im biographisch-positivistisch geprägten Goethekult des späten 19. Jahrhunderts besonders auf die literarische Inszenierung des ›Marianne-Erlebnisses‹ in Gingo biloba abheben, im Lebenspathos des Fin de Siècle – in dem es eine regelrechte Ginkgo-Mode gab –52 auf die angedeutete Liaison von Naturkraft, Liebe und Dichtung. Für die literarischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts wäre wohl besonders die paradoxe Symboltheorie anschlussfähig, etc.
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einigen Beispielen aus der Geschichte des Faust-Stoffes. In: Renate von Heydebrand (Anm. 10), S. 60–77, hier S. 69: »Die Textkörper müssen, um als allgemeinverbindliche Referenz-Topiken dienen und gesellschaftliche Einheit in einem formalen Sinn symbolisieren zu können, möglichst stabil bleiben. […] zugleich aber gilt: Je deutungsoffener ein kanonisches ›Werk‹, vielleicht sogar ein bißchen inkonsistent, desto besser. Denn Auslegungsmöglichkeiten sollten elastisch sein bis zur Beliebigkeit.« Vgl. J.A. Schmoll (Anm. 4). Vgl. Helga Schmoll gen. Eisenwerth: Ginkgo biloba im Kunsthandwerk Ostasiens und Europas. In: Maria Schmid / H. S. (Anm. 2), S. 97–122.
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4. Polyvalenz + Autonomieästhetik + Kanon + Pluralisierung Mit den obigen Überlegungen habe ich das Zusammenspiel von Polyvalenz und Kanonisierung bisher für den Fall erläutert, dass ein Kanon allmählich im Prozess einer langfristigen Entwicklung seinen Vorgänger ablöst, d. h. für den Kasus einer sukzessiven Kanonrevision. Damit ist jedoch noch nicht der Prozess beschrieben, in dem wir uns gegenwärtig befinden, nämlich dass die kulturelle Organisationsform des Kanons selbst allmählich obsolet zu werden scheint. Historisch lässt sich dieser Vorgang spätestens seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Wechsel von einem religiösen zu einem literarischen Kanon ansetzen. Damit einhergehend werden auch die Lizenzen für Polyvalenz im 18. Jahrhundert weitaus großzügiger, wie bereits im Zusammenhang der Autonomieästhetik demonstriert, und dies stellt eine durchaus markante und interpretationsbedürftige Koinzidenz dar. So lange sie sich nicht widersprechen oder einen allzu exklusiven Anspruch erheben, können nun mehrere verschiedene Deutungskanones koexistieren.53 Damit gewinnt der literarische Kanon gegenüber seinem religiösen Vorgänger an Belastbarkeit, verliert jedoch an Exklusivität und Bindungskraft. Wie im religiösen soll zwar auch im literarischen Kanon noch immer ein Brückenschlag zwischen Gruppen- und Individualidentitäten geleistet werden.54 In der zunehmend pluralen Diskurssituation in und nach der Goethezeit, in der sich das Normensystem flexibilisiert und differenziert,55 könnte ein allzu starrer und kompakter Kanon, wie der religiöse, jedoch nicht mehr auf angemessene Art und Weise kulturelle Kohäsion stiften, sondern käme in zunehmenden Maße nur noch als Gruppenkanon von Modernisierungsverlierern und -verweigerern in Frage. Um diese Pluralisierung des Wertesystems aber zu reflektieren, ohne das Prinzip ›Kanon‹ ganz aufzugeben, kann er sich nicht einfach immerfort quantitativ erweitern, denn Kanones sind schließlich per definitionem begrenzte Textkorpora, die nicht überdehnt werden können, sondern einigermaßen überschaubar bleiben müssen, um ihre kulturellen Bindungskräfte entfalten zu können. Folglich sind es v. a. qualitative Veränderungen, mit denen sich der literarische Kanon um 1800 den sozialen Veränderungen adaptiert und sich vom religiösen unterscheidet. Dies zeigt sich v. a. darin, dass nicht primär der Textbestand erweitert wird (das allerdings sicher auch), sondern der Spielraum seiner möglichen Deutungen. Der literarische Kanon vollzieht – so ließe sich das Szenario der Goethezeit interpretieren – eine Art strategischen Rückzugs:
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Eine solche Vielfalt der Deutungen gab es faktisch freilich auch schon im Falle des religiösen Kanons, doch erscheint sie aus der wertgebundenen Perspektive heraus als unerwünscht und skandalös, da religiösen Kanones sehr häufig ein ausschließlicher Anspruch zueigen ist. Zur Problematik von Kanon und nationaler Identität z. B. in Bezug auf den angelsächsischen Kontext Herbert Grabes / Margit Sichert: Literaturgeschichte, Kanon und nationale Identität. In: Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York 2005, S. 297–314, hier besonders S. 306–310. Hinlänglich beschrieben und auf die literarische Produktion bezogen bei Karl Eibl: Entstehung der Poesie. Frankfurt / M. 1995.
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Auf der Seite des Deutungskanons sind weitereichende Konzessionen an die zunehmend pluralistische soziale Wirklichkeit möglich, auf der des Textkorpus bleibt dafür das Kanonregime noch relativ rigide. Die Aufwertung, die die Polyvalenz im Rahmen der neuen Ästhetik um 1800 erfährt, erscheint somit aus einer Weitwinkel-Perspektive als Komplement der funktionalen Ausdifferenzierung des Wertesystems in der Goethezeit.56 Durch die Lizenz zur Mehrdeutigkeit ist der literarische Kanon in dieser kulturhistorischen Situation gegenüber dem religiösen im Vorteil, da er flexibler und integrativer ist, wenn freilich damit auch weniger verbindlich. Er kann ein gemeinsames Kommunikat schaffen, ohne damit eine allzu definitive Botschaft zu kodieren, die nicht mehr breit vermittelbar wäre, da eben ein definierbares Wertzentrum verloren geht. Er verkörpert so einen Kompromiss zwischen der gesellschaftlichen Notwendigkeit der gesellschaftlichen Konsensbildung und den gestiegenen Individualitätsbedürfnissen und -anforderungen.57 Für die Polyvalenz bedeutet dies einen gewissen Funktionswandel: Sie stellt eine Möglichkeit dar, den Geltungs- und Exklusivitätsverlust des Kanons zwar nicht zu verhindern, aber zu kompensieren. Während sie im historischen Szenario der Kanonrevision, wie es oben demonstriert wurde, als Motor fungiert, übernimmt sie im Prozess des Kanonabbaus nun vielmehr eine retardierende Funktion. Mit ihrer Hilfe lassen sich die divergierenden Anforderungen an den Kanon im Szenario einer sich differenzierenden Gesellschaft – nämlich einerseits weiterhin ein begrenztes Korpus an Texten bereitzustellen, aber dennoch zunehmend verschiedene Wertsysteme zuzulassen – noch einmal zusammenbringen. Dass hierbei wiederum solche Texte besondere Vorzüge aufweisen, die man der Autonomieästhetik zurechnen kann, liegt nahe: Gedanklich und gestalterisch elaborierte Texte, die ihrem konkreten historischen Umfeld nicht allzu erkennbar verhaftet sind und aufgrund ihrer Machart sowohl oberflächlichere als auch eingehendere Lektüren zulassen, scheinen besonders geeignet, wenn es darum geht, kanonische Kohäsion immer stärker primär über das Ensemble der Texte und nur noch sekundär über die Kohärenz der Deutungen herzustellen. Weil autonomieästhetische Texte aufgrund ihrer Polyvalenz keine direkten Rückschlüsse auf bestimmte Deutungsmuster oder Trägergruppen zulassen, lässt sich mit ihnen die Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft auf eine verhältnismäßig zwanglose Weise gestalten. Der autonomieästhetische Kanon ist damit besonders geeignet, einerseits eine gewisse diskursive Einheit herzustellen, andererseits
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Vgl. z. B. Manfred Engel: Kanon – pragmatisch. Mit einem Exkurs zur Literaturwissenschaft als moralischer Anstalt. In: Nicholas Saul / Ricarda Schmidt (Anm. 43), S. 23–33, hier S. 30f.: »Die Autonomie der Literatur ist eines von vielen Produkten des Ausdifferenzierungsprozesses, der die Struktur modernen Gesellschaften geprägt hat: Überall entstehen eigenen Bereiche – wenn man so will: Systeme – mit einer eigenen, nicht mehr an einen gemeinsamen Zentralwert rückgekoppelten Wertlogik.« Vgl. auch Karl Eibl (Anm. 50), S. 70: »Die nur lockere Verknüpfung von Signifikant und Signifikat speziell beim literarischen Kanon – die ›Polyvalenz‹ der Texte, ihre ›Unausdeutbarkeit‹ und ›Unerschöpflichkeit‹ usw. – macht diesen besonders geeignet für Gesellschaften mit unfesten Identitätskonzepten, weil sie auf der Signifikantenseite Konsens und Stabilität symbolisch verbürgt, auf der Signifikatsseite jedoch Beweglichkeit […] ermöglicht.«
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aber auch eine besondere Fülle an individuellen Spielräumen zuzulassen. So hält er die Mitte zwischen allzu restriktiver Verbindlichkeit und loser Beliebigkeit, auf die es im Projekt der Moderne ankommt.58 Wenn aber zutrifft, dass der Kanonerfolg der Autonomieästhetik selbst schon eine Reaktion darstellt auf die in der Goethezeit bereits vielfach manifeste Differenzierung der sozialen Wirklichkeit und der Wertsysteme, könnte dies eventuell erklären, warum der anhand der Autonomieästhetik gebildete literarische Kanon auch in unserer Gegenwart – in der sich die erwähnten sozialen Prozesse quantitativ verschärft, aber nicht unbedingt qualitativ verändert haben – noch immer nicht ganz obsolet geworden ist? Erwartet man von ihm insgeheim also trotz seiner erheblich geschwächten Verbindlichkeit vielleicht noch immer, dass er die moderne Spannung von Einzelnem und Ganzem, Konsens und Dissens, Identität und Individualität moderieren könne? Und wäre das vielleicht ein Grund, warum viele sich auch heute noch immer von der Literatur um 1800 – etwa Goethes kleinem Gedicht über den Ginkgo – angesprochen fühlen?
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Wie ließe sich vor dem Hintergrund dieses großen historischen Panoramas aber die jüngste Kanongeschichte interpretieren? Ist es so, wie zum Beispiel Karl Eibl vermutet, dass in der Gegenwart nicht mehr überwiegend nur die Deutung, sondern zunehmend auch der Kanon selbst durch wildere und flexiblere Formen der kulturellen Organisation ersetzt wird? (Karl Eibl [Anm. 50], S. 76) Eine solche Entwicklungstendenz scheint durchaus wahrscheinlich. Dennoch meine ich, dass dieser Punkt noch nicht erreicht ist und dass wir trotz Web 2.0 noch immer in einer überwiegend kanonisch organisierten Kultur leben. Dies zeigt sich etwa daran, dass noch immer ein starkes Bedürfnis nach kultureller Kohäsion existiert, wie die jüngste Konjunktur von ›Kanones‹ – sei es im Lehrplan der Schulen und Universitäten, den Verlagsprogrammen oder der wissenschaftlichen Diskussion – deutlich macht.
Rainer Grübel
Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis Bruch, Wandel und Stetigkeit in Kanones der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts zwischen 1984 und 2009
1. Die Relevanz der Kanon-Frage am Beispiel von Beobachtungen zur russischen Literatur des 20. Jahrhunderts aus den letzten zwei Jahrzehnten Die Frage, was Literaturwissenschaftler lockt, literarische Kanonbildung zu untersuchen, beantworten drei Beobachtungen im Feld der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts aus den letzten beiden Jahrzehnten. Im Jahr 1990 verblüfften auf einer Reise nach Novosibirsk beim Eintritt in die größte Buchhandlung der Millionenstadt nicht allein die Auslagen gegenüber den Eingangstüren, die statt der beim letzten Besuch dort feilgebotenen Ausgaben zu Theorie und Geschichte des Marxismus-Leninismus sowie der neuesten Direktiven der Kommunistischen Partei der Sowjetunion plötzlich Bücher über russischen Eros, Esoterik und orthodoxen Glauben zur Schau stellten, sondern auch die Büchertische der Literaturabteilung. Sie boten nun Ausgaben der zu Sowjetzeiten verfemten russischen Schriftsteller Daniil Charms, Marina Cvetaeva und Vasilij Rozanov feil, mit dessen zuvor kaum erreichbarem Opus ich mich seit einem Jahrzehnt befasste, sowie Werke des Emigranten Vladimir Nabokov, dessen Werke vorher auf dem sowjetischen Index standen. Wie kam es und was bedeutete es für die russische Kultur, dass nun zuhauf Texte zugänglich waren, die sechs Jahrzehnte lang in keiner Buchhandlung, keiner öffentlichen Bibliothek und kaum einem sowjetischen Bücherschrank standen? Eine ähnliche Überraschung bereitete vor acht Jahren der Blick in die Bibliographie des Ästhetik-Lehrbuchs für russische Universitäten von 2002, in das der Philosoph Jurij Borev, anders als in seiner von 1969 bis 1988 in vier Auflagen erschienenen Ästhetik, die zuvor ungenannten Autoren Innokentij Annenskij, Andrej Belyj, Iosif Brodskij, Vjaþeslav Ivanov, Osip Mandel’štam, Vladimir Nabokov, Boris Pasternak sowie Dmitrij Prigov, Vasilij Rozanov und Marina Cvetaeva mit Buchtiteln aufgenommen hat. Werke, die vormals irrelevant schienen für die Frage, was Ästhetik ist, hatten nunmehr unverhofft dafür Bedeutung gewonnen. Im Winter 2009 erstaunte die Mitteilung einer russischen Studentin, ihrem Vater, einem Gymnasiallehrer in der russischen Provinz, seien die Werke von Daniil Charms völlig unbekannt (sie schrieb eine Hausarbeit über ihn). Künftige russische Lehrer gewinnen demnach gegenwärtig ein ganz anderes Bild von der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts als ihre Eltern. Anders als bei sowjetischen Generationen ist ein Gespräch über Bücher zwischen den vor und nach 1980 Geborenen kaum möglich, weil in mehr als der Hälfte der Fälle die Textkenntnis nicht mehr kongruiert.1
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Vgl. zum russischen Kanon der 1980er Jahre und seinen Brüchen: Arnold McMillin (Hrsg.): Reconstructing the Canon: Russian Writing in the 1980s. Amsterdam 2000.
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Der Beitrag erörtert drei aus diesen Wahrnehmungen erwachsende Fragen: (1) Was sind die Ursachen für diese Kanon-Stürze und das Einsetzens neuer Kanones – Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seit Gorbaþevs »Glasnost’« und »Perestrojka« und/oder Eigenschaften der abgesetzten respektive neuerdings als kanonisch inthronisierten Texte? (2) Wie verhalten sich alte und neue russische Kanones zur russischen Literatur des 20. Jahrhunderts mit Blick auf die Prägung von Kultur zueinander? (3) Welche Unterschiede lassen sich im Verhältnis der Kanones zu kultureller Vergangenheit und kultureller Gegenwart beobachten? Wir beginnen mit der Frage nach Kanon, Vergangenheit und Gegenwart.
2. Profilierung des Begriffs Kanon im kulturellen Kontext 2.1 Kanon und kulturelles Gedächtnis, Kanon und kulturelles Bewusstsein Kanones sind kulturelle Institutionen, die eine begrenzte Anzahl von Texten aus einem umfassenderen Inventar mit dem Ziel auswählen, deren Kenntnis in einer Kultur für mehr oder weniger verbindlich zu erklären. Ein Kanon wird somit vor allem durch exkludierende Akte konstituiert. Er erklärt die Kenntnis der n ic h t im Kanon enthaltenen Werke für weniger verbindlich, für überflüssig oder gar für schädlich. Kanones zielen als kulturelle Konstrukte auf Verhaltenssteuerung, die entweder intendiert, gelenkt und kontrolliert wird, durch Vorbildwirkung entsteht oder sich mehr oder weniger spontan einstellt. Literarische Kanones stehen in den Kulturen neben anderen künstlerischen, die Werke aus Musik, Malerei, Architektur usw. auflisten sowie neben Wissens-Kanones, die Felder wie Geschichte, Politik, Geographie, Biologie usw. abdecken. Alle diese Kanones vereint, dass sie als Aufzählungen – in unserem Fall: von Autoren und/oder Werktiteln – in der Kultur durch ihre paradigmatische Diagramm-Struktur den syntgagmatisch konstruierten kulturellen Erzählungen gegenüberstehen. Wie alle Topoi gründen Kanones in Raummodellen, Erzählungen dagegen auf Zeitstrukturen. Kulturgeschichte zeigt daher die Konkurrenz zwischen Kultur erschließenden Narrationen und Werktitel- und/oder Urheber-Registern der Kanones. Die Generation der 1968er hat den Kanono-Klasmus ausgetragen zugunsten der Erzählung vom unaufhaltbaren Fortschritt. Gegenläufig spekulierte Jean-Francois Lyotard ebenso radikal auf einen die Grande narration ersetzenden globalen Wissens-Kanon. Dieser Gegensatz prägte auch die Debatte um Harold Blooms Western Canon. Literaturgeschichten verbinden die Paradigmatik des Kanons mit der Syntagmatik der Erzählung zu einem Chronotop. Realisierte literarische Kanones, sie scheinen u. a. auf in Verlagsprojekten und Akten der Wissens-Überprüfung wie Examina, tragen bei zur Bildung des historischen Gedächtnisses. Sie umfassen in aller Regel überwiegend Texte der Vergangenheit. Die in ihnen versammelten Texte können dann mit geringerem Risiko Gegenstände intertextueller Referenzen bilden als nichtkanonische Texte. Literarische Kanones wirken aber auch im Verein mit anderen sprachlichen Kanones (z. B. Lexikon, Kanon der Redens-
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arten usw.) sowie Bild- und Musik-Kanones wie auch Kanones des politischen, historischen, philosophischen, religiösen usw. Wissens mit an der Ausbildung kollektiver kultureller Bewusstseine,2 in denen sich gegenwärtige Ereignisse kraft des Gedächtnisses als bezogen oder beziehbar erweisen auf Vergangenheit. Insofern sind sie a u c h an der Prägung des kulturellen Gedächtnisses beteiligt. Hierbei ist das Verhältnis der Kanones von Regional-, National- und Weltliteratur signifikant für das national(istisch)e kulturelle Selbstbewusstsein.3 Kulturen charakterisieren sich im Übrigen in nicht geringem Maße selbst gerade dadurch, dass sie (negative und positive) Kanones diskutieren oder dekretieren, explizit machen oder geheim halten. Die Differenz zwischen kulturellem Gedächtnis und kulturellem Bewusstsein pointierte der spätere Nobelpreisträger Iosif Brodskij, als er im Juni 1972 anlässlich seiner Expatriierung an den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion schrieb: Sehr geehrter Leonid Il’iþ, da ich Russland nicht aus eigenem Willen verlasse [...] entschließe ich mich, mich an Sie mit einer Bitte zu wenden, zu der mir das feste Bewusstsein das Recht gibt, alles, was ich in fünfzehn Jahren an literarischer Arbeit verrichtet habe, diene nur der russischen Kultur und werde nur ihr und nichts anderem dienen. Ich möchte Sie bitten, mir die Möglichkeit zu bieten, meine Gegenwart im literarischen Prozess aufrechtzuerhalten, und sei es wenigstens als Übersetzer […] ɍɜɚɠɚɟɦɵɣ Ʌɟɨɧɢɞ ɂɥɶɢɱ, ɩɨɤɢɞɚɹ Ɋɨɫɫɢɸ ɧɟ ɩɨ ɫɨɛɫɬɜɟɧɧɨɣ ɜɨɥɟ […] ɹ ɪɟɲɚɸɫɶ ɨɛɪɚɬɢɬɶɫɹ ɤ ȼɚɦ ɫ ɩɪɨɫɶɛɨɣ, ɩɪɚɜɨ ɧɚ ɤɨɬɨɪɭɸ ɦɧɟ ɞɚɟɬ ɬɜɟɪɞɨɟ ɫɨɡɧɚɧɢɟ ɬɨɝɨ, ɱɬɨ ɜɫɺ, ɱɬɨ ɫɞɟɥɚɧɨ ɦɧɨɸ ɡɚ 15 ɥɟɬ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɧɨɣ ɪɚɛɨɬɵ, ɫɥɭɠɢɬ ɢ ɟɳɟ ɩɨɫɥɭɠɢɬ ɬɨɥɶɤɨ ɤ ɫɥɚɜɟ ɪɭɫɫɤɨɣ ɤɭɥɶɬɭɪɵ, ɧɢɱɟɦɭ ɞɪɭɝɨɦɭ. ə ɯɨɱɭ ɩɪɨɫɢɬɶ ȼɚɫ ɞɚɬɶ ɜɨɡɦɨɠɧɨɫɬɶ ɫɨɯɪɚɧɢɬɶ ɦɨɟ ɩɪɢɫɭɬɫɬɜɢɟ ɜ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɧɨɦ ɩɪɨɰɟɫɫɟ, ɯɨɬɹ ɛɵ ɜ ɤɚɱɟɫɬɜɟ ɩɟɪɟɜɨɞɱɢɤɚ […].4
Brodskij unterstellte, dass sein lyrisches Werk (anders als die Prosa des Adressaten Brežnev) Teil des künftigen russischen kulturellen Gedächtnisses sein werde, legte aber ausdrücklich Wert darauf, auch im kulturellen Bewusstsein der Gegenwart wirksam zu bleiben. Dass der Vorsitzende des Politbüros der KPdSU dieser Bitte des Schriftstellers nicht entsprach, bezeugt: Auch er wirkte mit an der Herstellung eines einzigen, der Doktrin des sozialistischen Realismus entsprechenden Kanons russischer Literatur des 20. Jahrhunderts.
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Vgl. zur Entstehung eines solchen Bewusstseins an Hand der Rekonstruktion der »Ausbildung eines sowjetischen Dramen-Kanons« in den 1920er Jahren Violetta Gaudkova: Roždenie sovetskich sjužetov: Tipologija oteþestvennoj dramy 1920-ch-naþala 1930-godov. Moskau 2008, S. 27. Der Rezensent dieser Monographie, V. Mil’don (Paraliþ triumfa ili nam net pregrad. In: Toronto Slavic Quarterly, Nr. 30 (http://www.utoronto.ca/tsq/30/mildon30.shtml, 30. 1. 2010), prägt mit Blick auf dieses Buch den Terminus »Bewusstseins-Kanon« (»kanon soznanija«). Vgl. auch: Doris Bachmann-Medick: Multikultur oder kulturelle Differenzen? Neue Konzepte von Weltliteratur und Übersetzung in postkolonialer Perspektive. In: D. B.-M. (Hrsg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel 2004, S. 262–296. Feliks Gimel’farb: »Pozornoe kladbišþe« na »Ostrove mertvych«. K 20-letiju prisuždenija Nobelevkoj premii Iosifa Brodskomj. In: Evrejskaja gazeta, 1. 1. 2008.
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2.2 Kanones in monokanonisch und polykanonisch entworfenen Kulturen Kulturen lassen sich mit Blick auf ihre Kanon-Praxis unterscheiden in solche, die sich im Grunde mono- und andere, die sich polykanonisch definieren. Jene suchen in einem bestimmten Gebiet einen einzigen Kanon durchzusetzen – wie in der Sowjetunion im Bereich der Philosophie die kanonischen Autoren Marx, Engels, Lenin und eine Zeit lang Stalin –, die anderen lassen von vornherein eine Mehrzahl miteinander konkurrierender Kanones zu.5 Polykanonik hat Pierre Bourdieu für Frankreich als das Nebeneinander von Elite- und Massen-Kanon beschrieben. Monokanonische Kulturen neigen nicht selten auch zu einem Zitate-Kanon: Sogar in nichtphilosophischen Feldern konnte ein sowjetischer Text seine Kanon-Treue beweisen, indem er (zumal an Beginn und Ende) Zitate der genannten Kanon-Autoren anführte. Allerdings provozieren sich monokanonisch gebärdende Kulturen in aller Regel Gegen-Kanones, die von den Wächtern des offiziellen Kanons als subversiv bekämpft werden. Das Ringen zwischen Polykanonik und Monokanonik trat 2009 auf der Frankfurter Buchmesse im Verhalten von Staatsmacht und Dissidenten zur chinesischen Literatur hervor, und es ist gegenwärtig im Streit zwischen Google und der chinesischen Obrigkeit. Realisierte Kanones prägen nicht nur das im kulturellen Gedächtnis sedimentierte Bild von der Vergangenheit, sondern wirken über das auch auf Gegenwart und Zukunft bezogene kulturelle Bewusstsein zusätzlich ein auf gegenwärtiges und künftiges Verhalten. So wurde Gor’kijs Roman Die Mutter (Mat’) in der Sowjetkultur für viele Jahrgänge russischer Leser zum positiven Beispiel der Literatur des sozialistischen Realismus und für Generationen eher erfolgloser Autoren zum Muster ihres eigenen Schreibens.6 Kraft der in kanonisch wirkenden Texten vermittelten Bilder der Welt prägen Kanones die gegenwärtige und künftige Weltsicht ihrer Rezipienten. Kanon-Wächter unterschätzen indes pertinent, dass diese Wirkung auch in die entgegengesetzte Richtung geht: Mono-Kanones erzeugen stets Dissidenten… In der folgenden Untersuchung betrachte ich das Verhältnis von sozialen, politischen sowie ökonomischen Faktoren auf der einen Seite und textqualitativen Momenten auf der anderen bei Kanon-Bildung, Kanon-Tradition und Kanon-Überwindung als prinzipiell variabel. Die Wahl zwischen der Alternative einer Einstellung auf Mono-Kanon oder Kanon-Konkurrenz scheint im ersten Fall eher das Praktizieren von Kanon-Strategien zur Durchsetzung des Konstrukts der Gesellschaft (z. B. der sozialistischen) nahezulegen und im Fall der Kanon-Konkurrenz die Orientierung an vermeintlich respektive tatsächlich beobachtbaren Texteigenschaften der zum Kanon aufaddierten Werke. Nähere
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Lenins berüchtigte »Philosophenschiffe« von 1922, die Expatriierung nicht dem Marxismus angehörender Philosophen und anderer führender Geisteswissenschaftler aus der Sowjetunion, waren in diesem Sinne auch Kanon generierende Akte. Vgl. Lesley Chamberlain: Lenin’s Private War: The Voyage of the Philosophy Steamer and the Exile of the Intelligentsia. New York 2007. Vgl. zum Kanon des Sozialistischen Realismus: Chans Gjunter / Evgenij Dobrenko (Hrsg.): Socrealistiþeskij kanon. Sankt Petersburg 2000. In seiner Einleitung (»Totalitarnoe gosudarstvo kak sintez iskussvt«, ebd., S. 6–15) nennt Hans Günther Hyperrealismus, Monumentalismus, Klassizismus und Heroismus als Komponenten des als Gesamtkunstwerk entworfenen totalitären sowjetischen Staates.
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Betrachtung erweist freilich, dass solche Trennung zwischen textinternen qualitativen und textexternen, etwa sozialen Faktoren in hohem Maße künstlich ist und den textinternen Qualitäten nicht selten soziale, oder, wie wir zu sagen vorziehen, kulturelle Werte und Funktionen zukommen. Dennoch ist dem Umstand Aufmerksamkeit zu zollen, dass Kanones mit Blick auf das kulturelle Feld ihrem Selbstverständnis und ihrer Wirkungsweise nach entweder eher monokanonisch (d. h. monologisch) oder eher polykanonisch (d. h. dialogisch) eingestellt sind. Auch Kanon-Bruch, Kanon-Wandel sowie Kanon-Kontinuität implizieren solche Orientierung auf Kanon-Konkurrenz oder das Streben nach Ein-Kanon-Dominanz. Beispiele für Poly-Kanonizität bieten auch die Vertreter dezidierter subkultureller Kanones. 2.3 Kanon-Analyse und Kulturmodell Die Methoden der Kanon-Analyse und Kanon-Deutung korrelieren in gewissem Maße mit den von ihnen in aller Regel stillschweigend vorausgesetzten Kultur- und in diesen implizierten Literatur-Modellen. Harold Blooms Western Canon7 hängt ursächlich zusammen mit seinen Konzepten von Einflussangst, Fehllektüre und agonaler Kultur. In der Figur der quaternio terminorum hat er »canonical strangeness« zum Hauptkriterium für die Kanonzugehörigkeit erhoben. Dabei setzt er die ästhetische Qualität als kanonstiftenden Differenzwert absolut. Für Terry Eagleton dagegen konstituiert in Criticism & Ideology8 die soziale Potenz eines Werks, die jeweilige Ideologie sichtbar zu machen, seine Kanonwürde. Damit sind die sozialen Implikate eines Textes die entscheidenden Wert-Fundamente seiner Kanon-Tauglichkeit. Von einer zwischen Ästhetizismus und Soziologismus vermittelnden Warte her entwirft John Guillory den Kanon.9 Aus seiner Sicht reproduziert die Institution der literarischen Erziehung durch Kanon-Vermittlung den Klassenunterschied und restringiert so den Zugang zum »Kulturkapital« im Sinne Bourdieus. Dabei geht es weniger um den Kanon im engeren Sinne als um dieses capital culturel, das Bourdieu zufolge eben nicht nur durch die Reihe der Werke als objektivierte Form konstituiert wird, sondern auch durch inkorporierte und institutionalisierte Formen, durch kulturelle Habitus und Institutionen. Die Betrachtungsweise, der gemäß Kanones primär sozial (oder anders: z. B. ethisch oder religiös) definiert sind, geht oft einher mit einem Verständnis von Literatur, das sie als Mittel zu einem sozialen (oder anderem: z. B. ethischen oder religiösen) Zweck definiert, während die Anschauung, literarische Kanones seien hauptsächlich an Texteigenschaften orientiert oder doch wenigstens zu orientieren, in der Regel ein Autonomie-Modell der Literatur präferiert. Bei der folgenden Analyse von Kontinuität und Diskontinuität im russischen Autor-Kanon der Literatur des 20. Jahrhunderts gilt der
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Harold Bloom: The Western Canon. The Books and School of the Ages. New York 1994. Terry Eagleton: Criticism and Ideology. A Study in Marxist Literary Theory. London 1976. John Guillory: Cultural Capital. The Problem of Literary Canon Formation. Chicago 1993.
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Möglichkeit einer Interdependenz infratextueller und extratextueller Faktoren besondere Aufmerksamkeit.
3. Spezifika der Kanonbildung und -tradition in der sowjetischen und postsowjetischen Kultur Im Realen Sozialismus der Sowjetunion konstituierte aus offizieller Sicht im Rahmen der Doktrin des Sozialistischen Realismus das obligatorische Moment der ›Parteilichkeit‹ (partijnost’) von Literatur ein spezifisches Verhältnis zwischen der Semantik der Texte sowie der Schlichtheit ihrer Konstruktion und der Beurteilung ihrer Eignung nicht nur für die Repräsentation des sozialen Konstrukts, sondern auch für ihre Aufnahme in den Literatur-Kanon.10 Für den Inhaltsfaktor steht das Prinzip des ›positiven Helden‹, für den Formfaktor das Prinzip der ›Volkstümlichkeit‹, das Brecht in der Sottise aufgespießt hat, »Das Volk / Ist nicht tümlich«.11 So entstand in Russland ein Rückkoppelungsmodell, das Gor’kijs Roman Die Mutter (Mat’, 1906) in den Kanon einspeiste und durch diesen Modelltext die Zukunft Kanon-prägend zu gestalten suchte. Zugleich wurde kraft kulturpolitischer Entscheidung der Epochenstil des ›SozReal‹ für verbindlich erklärt und somit eine zugleich sozio-politische und ästhetische Wertbasis für die Kanon-Bildung geschaffen.12 Obzwar Kanones in aller Regel eine positive und eine negative Seite haben, sie als positive Liste an das Leseverhalten appellieren, um gewisse Texte als lesenswert oder gar obligatorisch nahezulegen, andere Texte implizit oder explizit kraft des komplementären negativen Kanons auszuschließen, war im Fall der Sowjetunion nicht zu übersehen, dass ihre negativen Kanones gegen die Intention ihrer Urheber den ›verbotenen Früchten‹ einen eigenen Lektüre-Reiz verliehen. Um dem Negativ-Kanon die Sogkraft eines Gegenkanons zu nehmen, war man stets bemüht, nicht nur die missliebigen Texte selbst, sondern auch die Liste, in der sie aufgeführt waren, unter Verschluss zu halten.13
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Vgl. zur Verankerung des Sozialistischen Realismus in einer kanonischen Ideologie: »Im Rahmen dieses Kanons bildete sich eine feste Hierarchie von Werten heraus: der Kult des Kollektivismus, die Verachtung untätiger Betrachtung, der Kult des Leidens für die Wahrheit, die Vorstellung von der höchsten Gerechtigkeit, die mit keinerlei persönlichen ›Rechtsnichtigkeiten‹ [ɩɪɚɜɞɺɲɤɚɦɢ] (ein Begriff von Valentin Rasputin) kompatibel ist, schließlich die tiefe Überzeugung von der Nichtigkeit des einzelnen Menschen gegenüber solchen abstrakten Kategorien wie ›Russland‹, ›Volk‹, ›Staat‹«. Gasan Gasejnov: Riparografija. Belletristika 90-ch godov v poiskach novogo. In: Postskriptum: Literaturnyj žurnal. Bd. 1 (1997), 6, S. 143–167. Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Berlin u. a. 2003, Bd. 9: Stücke 9, S. 625. Boris Groys (Boris Grojs: Socrealizm meždu modernizmom i post modernizmom. In: Chans Gjunter / Evgenij Dobrenko [Anm. 6], S. 109–117) bestimmt die Position des ›SozReal‹ als Zwischenphase zwischen Modernismus und Postmoderne. Vgl. den beispielhaften Streit von 1979 um die Herausgabe des Sammelbandes Metropol’ durch V. Aksenov, V. Erofeev, E. Popov, F. Iskander und A. Bitov. Dazu: Viktor Erofeev: Literaturnyj al’manach »Metropol« 1979 (http://art-sluza.ru/2009/02/26/metr/, 29. 1. 2010).
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Die Veränderungen des politischen, ökonomischen und sozialen Gefüges der Sowjetunion und Russlands zwischen 1980 und 2010 gingen mit Wandel und Brüchen in der Begründung, Durchsetzung und Ablösung kultureller Werte einher. Ausdruck und zugleich Instrument dieses kulturellen Wertestandes bzw. Wertewandels waren Literaturkanones des 20. Jahrhunderts, da sie zugleich die Legitimität oder Illegitimität der Machtverhältnisse sowie der etablierten bzw. angestrebten Hierarchien kultureller Werte zum Ausdruck brachten. Mit Blick auf die Situation in der Sowjetunion ist (wie ähnlich in allen Ländern des realen Sozialismus) zunächst die Differenz zwischen je einem offiziellen, von der Parteibürokratie für Schule und Hochschule durchgesetzten, und mehreren inoffiziellen, von Dissidenten und Emigranten resp. Expatriierten und ihnen nahestehenden Kreisen praktizierten Kanones signifikant. Mit dem e i n e n , schriftlich ex officio kodifizierten, durch Lehrpläne und Lehrbücher sowie Verlagsprogramme etablierten und kraft Zensur garantierten, hatten alle Schüler und Studenten im Lande zu tun; die anderen, ganz überwiegend in mündlicher Kommunikation kursierenden, oft auf Unterlaufen der Zensur gerichteten, erreichten jeweils nur Bruchteile der Bevölkerung. War der eine eher systemisch auf die Ausübung und den Erhalt der (kulturellen) Macht gerichtet, kristallisierten die anderen sich mehr im Einzelfall heraus und praktizierten gemeinsam die Subversion des offiziellen Kanons und damit implizit auch das In-Frage-Stellen des Machtmonopols der Kommunistischen Partei und ihrer Bürokratie. Dissidenten- und Emigranten-Kanones definierten sich (auch) durch Negation des offiziellen sowjetischen Kanons. Dabei hatten offizieller und inoffizieller Kanon ungleichen Status, verschiedenen Charakter und unterschiedliche Funktionen: Suchten die Verantwortlichen für den offiziellen Kanon unmittelbar in Lese- und Nicht-Leseverhalten einzugreifen, konnte es den Befürwortern alternativer Kanones nur darum gehen, diesen Anspruch auf kontrollierte Verhaltenssteuerung zu unterlaufen und Orientierung für mögliche Verhaltens-Alternativen zu geben. Evidente Scheidemarken des offiziellen gegenüber den inoffiziellen Kanones bildeten die Literaturen von Sam-Izdat (im Untergrund vervielfältigte Texte) und Tam-Izdat (außerhalb der UdSSR publizierte). Diese Literaturen und die mit ihnen korrespondierenden Kanones waren teils komplementär, teils deckungsgleich. Auf dem Nebeneinander des offiziellen und inoffizieller Kanones gründet die Annahme, dass in der Sowjetunion dieser Zeit zwei grundverschiedene kollektive kulturelle Bewusstseine am Werk waren, die auch durch gegensätzliche Literatur-Kanones an zwei andersartigen kulturellen Gedächtnissen partizipierten, sie (um)prägten und so zu ihrer Wirkung beitrugen. Exemplarisch war 1979 der Kampf um den verbotenen Sammelband Metropole (Metropol), mit dem junge Autoren erfolglos versuchten, den offiziellen Literatur-Kanon zu durchbrechen. Die Anthologie wurde verboten, und die Verantwortlichen wurden gemaßregelt. Die Situation nach der von Gorbaþev unter den Leitmotiven »Glasnost’« (Transparenz) und »Perestrojka« (Umbau) herbeigeführten Wende ist auch durch neue Kanones geprägt. Diese bieten ein stärker zerklüftetes Panorama als zuvor.14 Da es keine Instanz
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Vgl. zum Problem des Wechselverhältnis von russischer Literatur der Gegenwart und sowje-
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mehr gibt, die ex officio ›den‹ Literaturkanon dekretiert und durch Zensur garantiert, treten mehr als zwei (im Sinne der bisherigen Opposition offiziell vs. inoffiziell) miteinander konkurrierende Literatur-Kanones in Erscheinung. Das Fortwirken des sowjetischen Kanons ist beschränkt auf Personen und Gruppen mit kommunistischer oder kommunistisch gefärbter Weltanschauung.15 Daneben bestehen von Literarhistorikern, Schulen und Universitätsinstituten lancierte Literaturlisten, die unterschiedliche Verbindlichkeiten von Lese-Kanones erzeugen. Diese Gegenwarts-Kanones gilt es einerseits in ihrem Wechselverhältnis zueinander zu betrachten, andererseits in ihrer Relation zum einst offiziellen und obligatorischen sowjetischen Kanon sowie zu (weniger gut objektivierbaren, da in aller Regel nicht kodifizierten) Alterativkanones. Dabei sind zunächst die Repräsentation der einst inoffiziellen Literatur (Sam- und Tam-Izdat, z. B. Aleksandr Solženicyn, Vladimir Nabokov) sowie die spezifische Auswahl der Texte von Autoren zu bewerten, die auch im sowjetischen Kanon repräsentiert waren (wie Aleksandr Blok und Sergej Esenin). Es ist allerdings zu erwarten, dass kraft der Opposition gegen den offiziellen Kanon vormals im inoffiziellen
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tischer Literatur der Vergangenheit und zum Gewicht der Kanon-Frage den Bericht über die Moskauer RGGU-Konferenz Ende 2008: »Postsowjetische Literatur: Das Trauma des Zerfalls«. (ɉɨɫɬɫɨɜɟɬɫɤɚɹ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɚ: ɬɪɚɜɦɚ ɪɚɫɩɚɞɚ), auf der Michail Kotomin die Grundrichtung des Gesprächs formulierte: »Der zeitgenössische Schriftsteller als Repräsentant der postsowjetischen Generation, die postsowjetische Wirklichkeit als Objekt künstlerischer Darstellung und postsowjetischer Ästhetik. Zachar Prilepin sprach über die Kategorie des ›Sowjetischen‹ in der Gegenwartsliteratur und hob hervor, dass die sowjetische Literatur heutzutage noch gar nicht zu Ende gelesen und erkannt sei. Die revolutionäre Epoche reimt sich seinen Worten nach in gewisser Weise mit der Epoche der 90er Jahre, der Unterschied liege jedoch in der Art und Weise der Darstellung der Wirklichkeit. In den 1990er Jahren habe sich die Wirklichkeit als so ungewöhnlich und so komplex für den Zugang erwiesen, dass es fast unmöglich sei, sie mit den Mitteln des realistischen sozialen Romans zu beschreiben, womit auch die Geburt der Ästhetik des russischen Postmodernismus zusammenhänge. Diese Lage sei zu einer Herausforderung für die Schriftsteller geworden: Könne man denn aufgrund des Materials dieser Wirklichkeit einen klassischen realistischen Roman schreiben? Seine Schreibpraxis betrachtet Prilepin als mögliche Antwort auf diese Herausforderung. Sergej Šargunov, in dessen Werk die Orientierung auf die Erfahrung der russischen Prosa der 1920er Jahre stärker bemerkbar ist, bekräftigte, dass in den 1990er Jahren ein ›Hunger‹ auf den Realismus spürbar geworden sei, was es ihm schon damals erlaubt habe, das Erscheinen von neorealistischen Autoren vorherzusagen, zu denen Prilepin gehöre. Danach ging die Diskussion über das Sowjetische und Postsowjetische in der Literatur über auf die Ebene breiter literarhistorischer Verallgemeinerungen, in deren Mittelpunkt das Problem der Schaffung eines einheitlichen Kanons der russischen Literatur im 20. Jahrhundert stand.« (http://www.rsuh.ru/print.html?id=245191, 5. 12. 2010). Vgl. aber auch: »Der sowjetische kulturelle Kanon war eines der Mittel zur Formierung der russischen ethnischen und kulturellen Identität, und er bleibt als solcher einstweilen für die Bürger der Russischen Föderation bestehen (von mir aus füge ich hinzu: auch im gesamten übrigen postsowjetischen Raum und gleichfalls an allen übrigen Orten, wo ehemalige sowjetische Menschen leben…).« (http://panasenko-art.livejournal.com/16928.html, 30. 1. 2010). »Der sowjetische kulturelle Kanon ist die Synthese alles Besten und Progressiven in der russischen und weltweiten Kultur, solange die sozialistischen Traditionen und kommunistischen Ideale nicht zerstört werden.« (http://xz.gif.ru/numbers/64/salnikov/, 30. 1. 2010). ȼɥɚɞɢɦɢɪ ɋɚɥɶɧɢɤɨɜ, ɂɫɤɭɫɫɬɜɨ ɢ ɬɨɬɚɥɶɧɚɹ ɦɨɛɢɥɢɡɚɰɢɹ. In: Chudožestvennyj žurnal. 64, 2007, Februar.
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Kanon vertretene Texte wie Andrej Amalriks Erlebt die Sowjetunion das Jahr 1984? (Doživet li Sovetskij Sojuz do 1984 goda?, Amsterdam 1969) Kanon-Wert verlieren, wenn die Anerkennung ihrer provokativen Semantik nicht mehr mit der Überzeugung von ihrer ästhetischen Qualität einhergeht.
4. Amtliche Kanones der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts für Aufnahmeprüfungen in russischen Universitäten von 1984 und 2010 Um nicht zu spekulieren, sondern mit einer intersubjektiv überprüfbaren Untersuchungsbasis zu arbeiten, werden als empirisches Material Literaturlisten betrachtet, die sich 1984 und 2010 an russische Abiturienten richteten (vgl. die Synopse am Ende dieses Beitrags).16 Sie listen bei der obligatorischen Aufnahmeprüfung in geisteswissenschaftliche Studiengänge als bekannt vorausgesetzte Werke russischer Literatur des 20. Jahrhunderts auf und kongruieren in hohem Maße mit jenem Literatur-Kanon, der in den Gymnasien als Lektüre verbindlich gemacht wurde und wird.17 Der Vergleich der beiden Syllabi erweist zunächst beträchtlich höhere Zahlen an Autoren und Texten in der Fassung von 2010: Die Menge der Autoren hat sich von 12 auf 21 fast verdoppelt, die der Texte von 46 auf 101 deutlich mehr als verzweifacht. Da nicht längere Texte durch kürzere ersetzt worden sind, sondern auch Romane hinzutraten, geht das jetzt zu gewinnende deutlich komplexere Bild auch mit einem beträchtlich größeren vorausgesetzten Lesepensum einher. Keiner und keine der neu aufgenommenen Autoren sind so jung, dass er oder sie nicht bereits in der Version von 1984 hätten erfasst werden können. Insgesamt ist dem 20. Jahrhundert im Vergleich mit dem 19. nun sehr viel mehr Gewicht beigemessen. Ins Auge sticht ein Unterschied in der Einfuhr jüngster Literatur. Die Urheber des Sowjet-Kanons geben für die Gegenwartsliteratur ohne Begründung weder Namen noch Titel an. Die zu Examinierendenen sollen aus ihr selber »zwei bis drei Texte auswählen«. Da die jüngsten mit Kanon-Würde bedachten 1984 (Šolochov *1905) respektive 1971 (Tvardovskij *1910) verstorben sind, ist zu vermuten, dass die Kanon-Verfasser dem Streit mit den vielen Tausenden lebenden Mitgliedern des Schriftstellerverbandes der UdSSR aus dem Weg gingen, als sie keinen einzigen auswählten.18 Dagegen sind im Kanon von 2010 mit Zabolockij (1903–1958), Solženicyn (1918–2008), Astaf’ev (1924–
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Bei dem Kanon von 1984 handelt es sich um die landesweit verbindliche Leseliste für die Aufnahmeprüfung in philologische Fakultäten der UdSSR. Der Kanon von 2010 bildet die aktuelle Leseliste der Journalistischen Fakultät der Moskauer Lomonosov-Staatsuniversität (mit dem Systemwechsel ist auch die landesweite Verbindlichkeit des Lesekanons entfallen). Für das Zugänglich-Machen beider Kanones danke ich Professor Dr. Vladimir Ivanoviþ Novikov von dieser Fakultät. Ein weiterer aktueller Lese-Kanon versammelt die Autoren Majakovskij, Esenin, Zamjatin, Zošþenko, Babel’, Fadeev, Platonov, Gor’kij, A. Tolstoj, Achmatova, Šolochov, Bulgakov, Pasternak, Il’f/Petrov, Mandel’štam, Zabolockij und Tvardovskij. Er findet sich unter der Adresse: http://www.philolog.ru/program/sia/germ1.html, 30. 1. 2010. Am 1. März 1976 zählte der Schriftstellerverband der UdSSR 7833 (1934: 2500) Mitglieder.
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2001), Trifonov (1925–1981) und Šukšin (1929–1974) Autoren der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist mit Valentin Rasputin (*1937) sogar ein lebender Schriftsteller berücksichtigt.19 Der Mut, sich erwartbarer Kritik auszusetzen, hat evident zugenommen. Die auffälligsten Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Kanones bieten zweifellos die getilgten und hinzufügten Autoren. Der jüngere Kanon verzichtet völlig auf Ⱥleksandr Fadeev, der mit dem Bürgerkriegs-Roman Die Neunzehn (Razgrom) und dem Zweite-Weltkriegs-Roman Die junge Garde (Molodaja gvardija) vertreten gewesen war. Er verfügte 1938 bis 1944 und 1946 bis 1954 als ›Sekretär‹ des Schriftstellerverbandes und Hüter des Sozialistischen Realismus über Druckgenehmigungen durch Papierzuweisungen, über Wohnungen und Wohnhäuser, Auslandsreisen, Ferien- und Sanatoriums-Aufenthalte seiner Kolleginnen und Kollegen. Und er sorgte für die Bestrafung der Unbotmäßigen durch den Entzug von Privilegien.20 Seine eigene, wegen Unterbelichtung der führenden Rolle der Partei und der entscheidenden Bedeutung der Roten Armee zunächst kritisierte Junge Garde hat er alsbald folgsam gemäß den Monita der Kulturbürokraten überarbeitet. Die zweite Lücke bildet Nikolaj Ostrovskij (1904–1936), dessen Revolutions- und Bürgerkriegsroman Wie der Stahl gehärtet wurde (Kak zakaljalas’ stal’, 1932) zum sozialistisch-realistischen Parade-Beispiel des Ich-Erzählers als eines positiven Helden diente. 200 Auflagen in der UdSSR und etwa eine Million Exemplare der deutschen Übersetzung in der DDR bezeugen seine Verbreitung. Kortschagins Lebensphilosophie stieg in der UdSSR und in der DDR auf zum kanonischen Zitat: Das Kostbarste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und leben soll er so, dass nicht sinnlos vertane Jahre ihn schmerzen, dass nicht die Scham um eine schäbige und kleinliche Vergangenheit ihn brennt und dass er im Sterben sagen kann: Mein ganzes Leben und all meine Kräfte habe ich hingegeben für das Schönste der Welt – den Kampf um die Befreiung der Menschheit.21
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Quelle: Lemma »Sojuz pisatelej SSSR«. In: Bol’šaja sovetskaja ơnciklopedija. Bd. 25, Moskau 1976. Da im Kanon von 1984 bei den »zwei bis drei Texten aus der sowjetischen Gegenwartsliteratur« auch die Gattung offen gelassen wird, dürften nicht wenige Schüler aus Gründen der Leseökonomie Kurztexte gewählt haben. V.I. Chomjakov: Kul’tura i vlast’. Koncepcija sotvorenija mira v russkoj literature sovetskogo perioda 1920–1930 godach. In: Omskij nauþnyj žurnal (2006), 1, S. 200–204. Hier in der ursprünglichen deutschen Fassung (Nikolai Ostrowski: Wie der Stahl gehärtet wurde. Übersetzer anonym. Berlin: Neues Leben 1947, erneut Leipzig 2004) zitiert. In der ›kanonischen‹ DDR-Übersetzung, die in den Schulen Pflichtlektüre war, (Nikolai Ostrowski: Wie der Stahl gehärtet wurde. Übersetzung aus dem Russischen, neu bearbeitet von E. Dornhof. Leipzig: Reclam 1969, S. 312) heißt es statt wie im Original: »hingegeben« abgemildert: »geweiht«. Dieses Motto geht zurück auf folgende Passagen am Schluss von ýechovs bekannter Erzählung von einem unbekannten Menschen (Rasskaz neizvestnogo þeloveka, in: Anton Pavloviþ ýechov: Polnoe sobranie soþinenij v 30-ti tomach. Bd. 8, Moskva 1968, S. 139–213, hier 213): »Das Leben wird ein einziges Mal gegeben, und man trachtet, es heiter, sinnvoll und schön zu durchleben.« (ɀɢɡɧɶ ɞɚɟɬɫɹ ɨɞɢɧ ɪɚɡ, ɢ ɯɨɱɟɬɫɹ ɩɪɨɠɢɬɶ ɟɟ ɛɨɞɪɨ, ɨɫɦɵɫɥɟɧɧɨ, ɤɪɚɫɢɜɨ.)
Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis
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ɋɚɦɨɟ ɞɨɪɨɝɨɟ ɭ ɱɟɥɨɜɟɤɚ – ɷɬɨ ɠɢɡɧɶ. Ɉɧɚ ɞɚɟɬɫɹ ɟɦɭ ɨɞɢɧ ɪɚɡ, ɢ ɩɪɨɠɢɬɶ ɟɟ ɧɚɞɨ ɬɚɤ, ɱɬɨɛɵ ɧɟ ɛɵɥɚ ɦɭɱɢɬɟɥɶɧɨ ɛɨɥɶɧɨ ɡɚ ɛɟɫɰɟɥɶɧɨ ɩɪɨɠɢɬɵɟ ɝɨɞɵ, ɱɬɨɛɵ ɧɟ ɠɟɝ ɩɨɡɨɪ ɡɚ ɩɨɞɥɟɧɶɤɨɟ ɢ ɦɟɥɨɱɧɨɟ ɩɪɨɲɥɨɟ, ɱɬɨɛɵ, ɭɦɢɪɚɹ, ɫɦɨɝ ɫɤɚɡɚɬɶ: ɜɫɹ ɠɢɡɧɶ ɢ ɜɫɟ ɫɢɥɵ ɛɵɥɢ ɨɬɞɚɧɵ ɫɚɦɨɦɭ ɩɪɟɤɪɚɫɧɨɦɭ ɜ ɦɢɪɟ – ɛɨɪɶɛɟ ɡɚ ɨɫɜɨɛɨɠɞɟɧɢɟ ɱɟɥɨɜɟɱɟɫɬɜɚ.22
Der Roman war, was man zur Stützung des positiven sozialistischen Menschenbildes konsequent verschwieg, ein Kollektivwerk, an dem mehr als ein Dutzend Autoren, Redakteure und Lektoren mitgewirkt hatten.23 Die dritte Streichung trifft Ⱥleksej Tolstoj (1882/1883–1945), der im Volksmund ›roter Graf‹ genannt wurde. Als er 1923 nach vierjähriger Emigration nach Russland zurückgekehrt war, hatte er sich mit der Erzählung Brot, die durch Geschichtsklitterung Stalin als Verteidiger der Stadt Zarizyn verherrlichte, das Wohlwollen des Führers der Werktätigen verdient: 1936 wurde er Vorsitzender des Schriftstellerverbandes. Seinen aus dem Kanon getilgten Roman Peter der Große (Petr Pervyj, 1929–1945), dessen spätrealistischer Erzählduktus durch Leichtverständlichkeit dem Prinzip der Volkstümlichkeit des ›SozReal‹ huldigte, brachte er nie zum Abschluss. Der Roman verbrämt die Grausamkeit des Zaren als Staatsraison und legitimierte so auch Stalins Brutalität. Das von Gor’kij als »erster echter historischer Roman der russischen Literatur« gefeierte Werk hat Tolstoj 1933 bis 1936 zum Jugendbuch umgeschrieben, 1938 zum Drama und Filmskript, das Vorwurf eines 1937–1939 von Petrov verfilmten Zweiteilers war.24 Für die Verbannung der genannten Werke dieser drei Autoren sind sowohl politische als auch ästhetische Gründe geltend zu machen. Über die schon von ýechov überwundenen Erzähltraditionen des russischen Realismus war keines von ihnen hinausgelangt, und zugleich irritierte die affirmative Haltung gegenüber der despotischen Herrschaft Lenins und Stalins. Bezeichnend ist, dass unter den Werken jener Autoren, die zwar im Kanon verblieben, doch nun mit anderen Texten vertreten sind, zwei der getilgten Texte den Titel Lenin führen. Beide, Majakovskijs Versepos und Gor’kijs Erinnerungsprosa, sind im Todesjahr des Politikers entstanden. Gor’kijs zumal auf Stalin gemünzte Hyperbel in der Schlussapotheose »Vladimir Lenin ist tot. Die Erben von Verstand und Willen sind am Leben. Sie sind am Leben und arbeiten so erfolgreich, wie niemand jemals auf der Welt gearbeitet hat«25 macht begreiflich, dass dieser Text, in dem Gor’kij zudem
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Nikolaj Ostrovskij: Kak zakaljalas’ stal’. Moskau 1947, S. 220. Andreas Guski: N. Ostrovskijs »Kak zakaljalas´ stal´« – biographisches Dokument oder sozialistisch-realistisches Romanepos. In: Zeitschrift für slavische Philologie. Bd. 42, 1981, S. 116– 145. »Der Roman A.N. Tolstojs ist zweifellos der Leader der Popularität: von 1947 bis 1990 ist der Roman 93 Mal ediert worden.« E.G. Sokolov / S.G. Tvewrdochleboiv, Massovaja kul’tura sovetskogo perioda (http://www.ibci.ru/konferencia/page/statya_k06.htm, 29. 1. 2010). »ȼɥɚɞɢɦɢɪ Ʌɟɧɢɧ ɭɦɟɪ. ɇɚɫɥɟɞɧɢɤɢ ɪɚɡɭɦɚ ɢ ɜɨɥɢ ɟɝɨ – ɠɢɜɵ. ɀɢɜɵ ɢ ɪɚɛɨɬɚɸɬ ɬɚɤ ɭɫɩɟɲɧɨ, ɤɚɤ ɧɢɤɬɨ, ɧɢɤɨɝɞɚ, ɧɢɝɞɟ ɜ ɦɢɪɟ ɧɟ ɪɚɛɨɬɚɥ.« Maksim Gor’kij V.I. Lenin, in: M. G.: Sobranie soþinenij v vos’mi tomach. Bd. 8, Moskau 1988, S. 269–305, hier S. 305. Es handelt sich dabei um die 1930 überarbeitete Fassung. Sie wurde 1931 als Monographie gedruckt. In der Urfassung des Textes von 1931 fehlte der zweite Satz des obigen Zitats. Maksim Gor’kij: B.I. Lenin. Moskau, Leningrad 1924. »ȼɥɚɞɢɦɢɪ Ʌɟɧɢɧ – ɩɟɪɜɵɣ ɢ ɫɚɦɵɣ ɛɟɡɭɦɧɵɣ. « Vgl. V.I Lenin i A.M. Gor’kij: Pis’ma, vospominanija, dokumenty. Moskau 1958.
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Rainer Grübel
seinen Roman Die Mutter von Lenin selbst sanktionieren ließ, nicht mehr als PflichtLektüre zu halten war. Die Erweiterung des kanonischen ýechov von zwei auf neun Texte ist zunächst auf ästhetische Erwägungen zurückzuführen. Seine Rolle als Überwinder jenes Realismus, der unter der Spitzmarke des ›Sozialistischen‹ zum unübertrefflichen Stil kanonisiert worden war – Gor’kij hatte ihm im Januar 1900 geschrieben »Wissen Sie, was sie tun? Sie erschlagen den Realismus.« –,26 hat wohl die Vermehrung seiner Kanon-Texte von zwei auf neun motiviert. Aber auch hier geht mit dem ästhetischen ein kulturpolitisches Moment einher – eben die ýechovsche Destruktion des zu Sowjetzeiten für sakrosankt erklärten Realismus! Der sowjetische Kanon verzeichnet – übrigens auch für die früheren Jahrhunderte – keine einzige Autorin, während der postsowjetische wenigstens eine Verfasserin mit zehn Texten würdigt: Anna Achmatova, die 1966 starb und daher temporal auch in den Kanon von 1984 gepasst hätte. Mit Zinaida Gippius und Marina Cvetaeva hätte es durchaus weitere reputable Anwärterinnen auf einen Kanon-Platz gegeben. Die Aufnahme Achmatovas in den neuen Kanon bildet den wohl stärksten Eingriff überhaupt. Mit dem von ihr vertretenen Akmeismus wurde einer quer zum ›SozReal‹. stehenden, der modernistischen Avantgarde nahestehenden literarischen Strömung Kanon-Wert zugesprochen, die kulturelles Gedächtnis und Ausgriff auf die Weltkultur auf ihre Fahnen geschrieben hatte.27 Analog waren dem Futuristen Boris Pasternak und dem Leningrader Absurdisten Zabolockij der Weg in den Sowjetkanon versperrt, die jetzt mit elf respektive neun Texten vertreten sind. Am bemerkenswertesten ist die Aufnahme mehrerer Gedichte Achmatovas: Abends (»Ich hörte eine Stimme«) (Veþerom. »Mne golos byl«) vom Herbst 1917, in dem das lyrische Ich die Anmutung, das Land zu verlassen, zurückweist; »Nicht mit denen bin ich, die das Land hingeworfen haben« (»Ne s temi ja, kto brosil zemlju«) von 1922, die das Verbleiben in Russland erneut rechtfertigt; des poetologischen Gedichts Schaffen (Tvorþestvo) von 1936; des Kriegsgedichts Mut (Mužestvo) von 1942, das auch die Bewahrung des »russischen Wortes« besingt; und insbesondere des Zyklus Requiem (1935–1940), der die tapfere, für die Verfasserin lebensgefährliche Klage gegen Stalins Terror-Regime artikuliert. Auch bei der Berücksichtigung Zamjatins, Bulgakovs und Platonovs sind ästhetische Werte nicht vom politischen Moment zu trennen. Der Roman Wir (1920) bildet die früheste Anti-Utopie; sie ließ den russischen Leser in die Zukunft der totalitären Kultur blicken. Die Epopöe Der Meister und Margarita bietet avantgardistische Prosa, die einen ironischen Blick auf die Kultur Moskaus Anfang der 30er Jahre wirft, und die Baugrube stellt eine erzählerisch innovative Satire auf das unvollendbare Projekt des Weltbauwerks Kommunismus dar. Mit Solženicyn und Šalamov finden Autoren Wertschätzung, die sowjetische Konzentrationslager zum Thema ihrer Erzähltexte gemacht haben, mit Trifonov ein Ro-
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»Ɂɧɚɟɬɟ, ɱɬɨ ȼɵ ɞɟɥɚɟɬɟ? ɍɛɢɜɚɟɬɟ ɪɟɚɥɢɡɦ.« Maksim Gor’kij: Polnoe sobranie soþinenij v 30 tomach. Moskva 1949–1956, Bd. 28: Pis’ma, telegrammy, nadpisi. Moskau 1954, S. 113. Zu diesem Kanon-Wechsel stimmt der Umstand, dass 1991 ein Lehrerhandbuch zu ihrem Leben und Werk erschien: A.I. Pavlovskij: Anna Achmatova. Žizn’ i tvorþestvo. Kniga dlja uþitelja. Moskau 1991.
Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis
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mancier, der zur klassischen Sowjetzeit verbotene Themen wie Alkoholismus und Prostitution aufgriff, und mit Rasputin ein Verfasser von Texten gegen die sowjetische Umweltzerstörung. Bei der Kanonisierung dieser drei Autoren überwiegen indes politische Motivationen die ästhetischen bei weitem.
5. Die Reflexion über Kanon-Bruch, Kanon-Wandel und Kanon-Kontinuität in russischen Diskursen Am Schluss steht die Frage, ob und auf welche Weise in der russischen Kultur der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit Kanon-Bruch, Kanon-Wandel und Kanon-Kontinuität in literarischen, literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Diskursen zu Momenten von kulturellem (Meta-)Bewusstsein und kulturellem (Meta-)Gedächtnis werden. Obwohl in ihr der Terminus ›Kanon‹ nicht begegnet,28 ist Jurij Lotmans Schrift »Kultur und Explosion« von 1992 in diesem Sinn als kultursemiotisches Plädoyer für den KanonBruch zu lesen. Sein Votum für eine ternäre Kultur, welche die Binarität der bündigen Opposition von ›guter‹ und ›schlechter‹ Kultur und damit die Axiologie der Heterovalenz29 durchbricht, impliziert zugleich das Befürworten einer Vielfalt von Kanones. Michail Jampol’skijs Aufsatz »Literarischer Kanon und die Theorie des starken Autors«30 macht 1998 zum ersten Mal das Problem des Kanons in der nachsowjetischen Zeit zum Thema. Seine aus der Kritik an Blooms Western Canon erwachsene Ablehnung der auf ›starken Autoren‹ gründenden Kanon-Theorie mündet in die These, literarische Kanones würden nicht von starken Autoren, sondern von starken Interpreten gemacht. Diese postmodern getönte Entmachtung der Autoren und Zuweisung der Kanon-Macht an Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler mag in deren Kreisen durchaus sympathisch klingen, sie eröffnet freilich bereits ein ganz anderes Thema.
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Lotman weist allerdings die Bemühung um »kanonische Texte« zurück: »Wir erinnern an den vor gar nicht langer Zeit in der Literaturwissenschaft unseres Landes entzündeten heißen, doch ganz fruchtlosen Streit um sogenannte ›kanonische Texte‹. Es ist charakteristisch, dass die Verfechter dieser lebendigen Inhalts baren Idee jene Moskauer Literaturwissenschaftler waren, die mehr Erfolge in administrativen als wissenschaftlichen Sphären erzielten.« (»ɇɚɩɨɦɧɢɦ ɧɟ ɬɚɤ ɞɚɜɧɨ ɜɫɩɵɯɧɭɜɲɢɣ ɜ ɨɬɟɱɟɫɬɜɟɧɧɨɦ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɨɜɟɞɟɧɢɢ ɝɨɪɹɱɢɣ, ɧɨ ɫɨɜɟɪɲɟɧɧɨ ɧɟɩɥɨɞɨɬɜɨɪɧɵɣ ɫɩɨɪ ɨ ɬɚɤ ɧɚɡɵɜɚɟɦɵɯ ›ɤɚɧɨɧɢɱɟɫɤɢɯ‹ ɪɟɞɚɤɰɢɹɯ ɬɟɤɫɬɨɜ. ɏɚɪɚɤɬɟɪɧɨ, ɱɬɨ ɫɬɨɪɨɧɧɢɤɚɦɢ ɷɬɨɣ ɜɵɯɨɥɨɳɟɧɧɨɣ ɢɞɟɢ ɛɵɥɢ ɬɟ ɦɨɫɤɨɜɫɤɢɟ ɥɢɬɟɪɚɬɭɪɨɜɟɞɵ, ɤɨɬɨɪɵɟ ɛɨɥɟɟ ɩɪɟɭɫɩɟɜɚɥɢ ɜ ɚɞɦɢɧɢɫɬɪɚɬɢɜɧɵɯ, ɱɟɦ ɜ ɧɚɭɱɧɵɯ ɫɮɟɪɚɯ.«) Er beruft sich dabei seinerseits aber auf einen »kanonischen« Literaturwissenschaftler, auf Boris Tomaševskij: »Eine negative Haltung rief sie bei einem erfahrenen Textologen und Gelehrten hervor, der sich immer an gesunde Anschauungen gehalten hat, B.V. Tomaševskij.« (»Ɉɬɪɢɰɚɬɟɥɶɧɨɟ ɠɟ ɨɬɧɨɲɟɧɢɟ ɨɧɚ ɜɵɡɜɚɥɚ ɭ ɨɩɵɬɧɨɝɨ ɬɟɤɫɬɨɥɨɝɚ ɢ ɭɱɟɧɨɝɨ, ɜɫɟɝɞɚ ɩɪɢɞɟɪɠɢɜɚɜɲɟɝɨɫɹ ɡɞɪɚɜɵɯ ɜɨɡɡɪɟɧɢɣ, Ȼ. ȼ. Ɍɨɦɚɲɟɜɫɤɨɝɨ.«) Jurij Lotman: Logika vzryva. In: J. L.: Kul’tura i vzryv. Moskau 1992, S. 176–189, hier S. 179. Mit ›Heterovalenz‹ wird eine Wertordnung bezeichnet, in der sich positive und negative Werte exklusiv gegenüberstehen. Vgl. Rainer Grübel: Literaturaxiologie. Wiesbaden 2001, S. 35–86. Michail Jampol’skij: Literaturnyj kanon i teorija »sil’nogo avtora«. In: Inostrannaja literatura (1998), 12, S. 214–221.
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Rainer Grübel
KANON 1984 A.P. ýechov
Ionyþ
KANON 2009 A.P. ýechov
Višnevyj sad
Ionyþ Višnevyj sad
+7
+Smert’ þinovnika +Chameleon +Student +Dom s mezoninom +ýelovek v futljare +Kryžovnik +O ljubvi +Dušeþka
A.M. Gor’kij
–2
Starucha Izergil’
Ⱥ.Ɇ. Gor’kij
Starucha Izergil’
Na dne
Na dne
–Pesnja o Sokole
+Byvšie ljudi
–Pesnja o Burevestnike
+Ledochod
–Mat’
+I.Ⱥ. Bunin
–V.I. Lenin
Antonovskie jabloki Gospodin iz SanFrancisko Solneþnyj udar Temnye allei ýistyj ponedel’nik
A.A. Blok
+Ⱥ.I. Kuprin
Granatovyj brasslet
Dvenadcat’
Ⱥ.Ⱥ. Blok
Dvenadcat’
Neznakomka
+9
Neznakomka
–O, vesna bez konca i bez kraju…
+My vstrekalis’ s toboj na zakate...
–Rossija
+Devuška pela v cerkovnom chore...
–Odoblestjach, o podvigach, so slave
+O, vesna bez konca i bez kraju...
–Na žeþeznoj daroge
+Noþ’, ulica, fonar’ apteka...
–Fabrika
+Rossija Ɋɨɫɫɢɹ +Ja prigvožden k traktirnoj stojke... +O doblestjach, o podvigach, so slave...
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Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis
KANON 1984
KANON 2009 +V restaurane +Chudožnik + O, ja choþu bezumno žit’... + Zemnoe serdce stynet vnov’... +Cikl »Na pole Kulikovom« +Cikl »Karmen« +Na železnom daroge
S.A. Esenin
Rus’ sovetskaja
S.Ⱥ. Esenin
Rus’ sovetskaja
Pis’mo materi
+5
Pis’mo materi
Neujutnaja židkaja lunnost’...
Neujutnaja židkaja lunnost’...
Spit kolybel’
Spit kolybel’
Otgovorila rošþa zolotaja...
Otgovorila rošþa zolotaja...
Sobake Kaþalova
Sobake Kaþalova
–Každyj trud, blagoslovim udaþa!...
+Goj ty, Rus’ moja rodnaja...
–Ravnina dorogaja...
+Ne brodit’ ne mjat’ v kustach bagrjanych...
–Ja idu dolinoj
+Zapeli tesanye dorogi...
–Na zatylke kepi...
+Ja poslednij poơt derevni...
–Ne žaleju, ne zovu, ne plaþu...
+Ne želaju, ne zovu, ne plaþu... +My teper’ uchodim ponemnogu» +Pis’mo k ženšþine +Šaganơ ty moja, Šaganơ... +Cvety mne govorjat – prošþaj... +Anna Snegina
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Rainer Grübel
KANON 1984 V.V. Majakovskij -2
Vo ves’ golos (pervpe vstuplenie v poơmu)
KANON 2009 V.V. Majakovskij
Vo ves’ golos
Neobyþajnoe prikljuþenie...
Neobyþajnoe prikljuþenie...
O drjani
O drjani
Prozasedavšiesja
Prozasedavšiesja
Pis’mo tovarišþu Kostrovu iz Pariža o sušþþnosti ljubvi
Pis’mo tovarišþu Kostrovu iz Pariža o sušþþnosti ljubvi
Razgovor s fininspektorom o poơzii
Razgovor s fininspektorom o poơzii
–Vladimir Il’iþ Lenin
+Poslušajte!..
–Chrorošo!
+Chorošee otnošenie k lošadjam
–Levyj marš
+Pis’mo Tat’jane Jakovlevoj
–Blek ơnd uajt
+Oblako v stanach
–Tovarišþu Nette: parochodu i þeloveku
+Ljublju
–Stichi o sovetskom pasparte
+Ⱥ.Ⱥ. Ⱥchmatovɚ
Smuglyj otrok brodil po allejam...
–Rasskaz o Kuznecstroe i ljudach Kuzneca
Sžala ruki pod temnoj vual’ju...
Razgrom
Veþerom (Mne golos’ byl...)
Molodaja gvardija
Ne s temi ja, kto brosil zemlju...
–N.Ⱥ. Ostrovskij
Kak zakaljalas’ stal’
Nebyvalaja osen’ postroila kupol vysokij...
–Ⱥ.N. Tolstoj
Petr Pervyj
Tvorþestvo (Byvaet tak: kakaja-to istoma...)
–Ⱥ.Ⱥ. Fadeev
Mužestvo Primorskij sonet Rodnaja zemlja Rekviem
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Kanon, kulturelles Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis
KANON 1984
KANON 2009 +B.L. Pasternak
Fevral’. Dostat’ þernil i plakat! Ty v vetre, vetkoj probujušþem... Gamlet Zimnaja noþ’ (Melo, melo po vsej zemle...) Rassvet Avgust Vo vsem mne choþetsja dojti... Byt’ znamenitym nekrasivo... Kogda razguljaetsja Noþ’ Edinstvennye dni
+E.I. Zamjatin
My
+Ⱥ.P. Platonov
Kotlovan
+Ɇ.Ⱥ. Bulgakov
Sobaþ’e serdce Dni Turbinych Master i Margarita
Ɇ.Ⱥ. Šolochov
Sud’ba þeloveka
Ɇ.Ⱥ. Šolochov
-Podnjataja celina
Sud’ba þeloveka +Tichij Don
+V.Ɍ. Šalamov
Poslednij boj majora Pugaþeva Galstuk Prokurator Iudei
Ⱥ.Ɍ. Ɍvardovskij
Vasilij Terkin
Ⱥ.Ɍ. Ɍvardovskij
Vasilij Terkin
(glavy: Pereprava, O nagrade, Garmon’,
+3
Vsja sut’ v odnomedinstvennom...
Dva soldata, Kto streljal?)
Pamjati materi Ja znaju, nikakoj moej viny...
2–3 proizvedenija sovremennoj sovetskoj literatury
+N.Ⱥ. Zabolockij
Ja ne išþu garmonii v prirode Zavešþanie
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Rainer Grübel
KANON 1984
KANON 2009
(po vyboru ơkzamenujušþegosja)
Portret Nekrasivaja devoþka Gde-to v pole vozle Magadana... Poslednjajaj ljubov’ (Zadrožala mašina i stala...) Sentjabr’ Veþer na Oke Ne pozvoljaj lenit’sja... +Ⱥ.I. Solženicyn
Odin den’ Ivana Denisoviþa Matrenin dvor
+ȼ.P. Ⱥstaf’ev
Pastuch i pastuška
+JuV. Trifonov
Starik
+V.G. Rasputin
Prošþanie s Materoj
+V.Ɇ. Šukšin
Srezal ýudnik Mil’ pardon, madam!
10 (-3) AUTOREN
21 (+14) AUTOREN
Leonhard Herrmann
System? Kanon? Epoche? Perspektiven und Grenzen eines systemtheoretischen Kanonmodells
Die seit Mitte der 1990er Jahre mit kontinuierlicher Intensität geführten Kanon-Debatten weisen im Vergleich zu früheren Diskussionen um dieses Phänomen einen signifi kanten Perspektivwechsel auf: Konzentrierten sich die Diskussionen der 1970er Jahre überwiegend auf das Infragestellen und Korrigieren des überlieferten, in der akademischen wie schulischen Lehr- bzw. Forschungspraxis etablierten Kanons, der den aktuellen Bedürfnissen von Leserinnen und Lesern, aber auch den literaturgeschichtlichen Gegebenheiten nicht zu entsprechen schien, so hat sich in jüngerer Zeit eine Haltung etabliert, die den Kanon nicht in seiner Substanz verändern, sondern diese erfassen und in ihrer spezifischen Struktur erklären möchte.1 Kanon ist auf diese Weise von einem Objekt polemischer Auseinandersetzung zu einem Gegenstand literaturwissenschaftlicher, konkret: literaturgeschichtlicher Forschung geworden.2 ›Kanon‹ ist längst kein ›Problem‹ der Literaturgeschichtsschreibung mehr, sondern Teil ihres Gegenstandsbereichs,3 wie Renate von Heydebrand feststellt.4
1
2 3
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Vgl. dazu folgende Publikationen in der chronologischer Reihenfolge ihres Erscheinens: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Kanon und Theorie. Heidelberg 1997; Renate von Heyebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998; Gerhard Kaiser / Stefan Matuschek (Hrsg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Heidelberg 2001; Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002; Peter Wiesinger (Hrsg.): Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Bd. 8: Kanon und Kanonisierung als Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, Bern u. a. 2003; Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis. Köln, Weimar, Wien 2007; Nicholas Saul / Ricarda Schmidt (Hrsg.): Literarische Wertung und Kanonbildung, Würzburg 2007; Jürgen Struger (Hrsg.): Der Kanon – Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Wien 2008. Aleida Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Renate von Heydebrand (Anm. 1), S. 47–59, v. a. S. 49. Vgl. dazu Renate von Heydebrand: Kanon und Kanonisierung als ›Probleme‹ der Literaturgeschichtsschreibung. In: Peter Wiesinger (Anm. 1), S. 15–20, hier S. 20; zur Betrachtung von Kanon als historisches Phänomen vgl. ferner Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte und zur Lage der Literaturwissenschaft. In: Gerhard Kaiser / Stefan Matuschek (Anm. 1), S. 217–268, hier S. 224–227. Zur Unterscheidung einer normativen und einer deskriptiven Kanon-Debatte vgl. auch Thomas Anz: Einführung. In: Renate von Heydebrand (Anm. 1), S. 3–8, hier S. 8; Martin Vöhler: Der Kanon als hermeneutische Provokation. In: Peter Wiesinger (Anm. 1), S. 39–44, hier S. 43.
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Leonhard Herrmann
Maßgeblich für diesen Perspektivwechsel ist der Sammelband Kanon – Macht – Kultur, den von Heydebrand herausgegeben hat und der schon in seinem wortspielerischen Titel deutlich macht, dass Kanon nicht allein als Instrument der Beeinflussung, Machtausübung und (gar ideologisch intendierten) Lesersteuerung zu betrachten ist, sondern zugleich eine notwendige Basis darstellt für jede Form von – nicht nur literarischer – Kultur. Nur eine Auswahl aus der prinzipiell unendlichen Menge literarischer Texte (bzw. kultureller Kommunikate) ermöglicht es, dass sich Leserinnen und Leser über Texte austauschen können, da nur so ein bestimmtes Maß an gemeinsamem kulturellen Wissen entstehen kann. Mit ihrem Versuch einer Zusammenfassung hat von Heydebrand ein begriffliches Instrumentarium für literaturwissenschaftliche Kanon-Analysen im oben skizzierten Sinne geschaffen. Zentral dabei ist die Unterscheidung von materialem Kanon und Deutungskanon: Jene Beurteilungskriterien, die zum Zustandekommen eines Kanons führen, bezeichnet sie als »Deutungskanon«, »der die impliziten Kriterien und Wertvorstellungen des Kanons, das Programm, das er vertritt, ggf. in Form einer Narration, und/oder in Form maßgeblicher Interpretationen enthält«.5 Dieser Deutungskanon, der selbst einem historischen Wandel unterliegt, ist konstitutiv für den Wandel des materiellen Kanons oder Textkanons. Ihn beschreibt Heydebrand in Anlehnung an Friederike Worthmann6 als eine »Menge von Werken und Autoren, denen unabhängig von ihrer tatsächlichen Bekanntschaft und Beliebtheit innerhalb einer Gemeinschaft (Nation, Gruppe Institution) ›Wert‹ unterstellt wird«.7 Mit der Unterscheidung von materialem und Deutungskanon geht die Annahme eines kontinuierlichen Kanon-Wandels einher: Verändern sich die sozialen Werte, Normen und Bedürfnisstrukturen, die zum Zustandekommen eines Kanons führen, dann wandelt sich auch der entsprechende Kanon. Unter einer kulturgeschichtlichen Perspektivierung resultiert daraus die Annahme einer Kanon-Pluralität: Unterschiedliche Gruppen haben zu unterschiedlichen Zeiten je unterschiedliche Kanones geschaffen, die sie nach je unterschiedlichen Wertvorstellungen und sozialen Bedürfnissen konstituieren. Heydebrand verlangt daher, den Begriff Kanon »nie ohne qualifizierende Attribute und Angabe seines Geltungsbereichs«8 zu verwenden, und unterscheidet Kanones nach ihrem Gegenstandsbereich, dem Grad ihrer Normativität und der Kanonpflege, ihrer sozialen und temporalen Reichweite und dem Grad ihrer Durchsetzung. Zu jedem herrschenden Kanon existiert einerseits ein Gegenkanon, anderseits ein Negativkanon.9 Der Gegenkanon stellt einen alternativen Kanon auf, der Negativkanon stützt kanonisierte Werke
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Renate von Heydebrand: Kanon Macht Kultur. Versuch einer Zusammenfassung. In: R. v. H. (Anm. 1), S. 612–626, hier S. 616. Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Anm. 1), S. 9–29. Renate von Heydebrand (Anm. 5), S. 613. Ebd., S. 612. Vgl. Simone Winko: Negativkanonisierung. August v. Kotzebue in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. In: Renate von Heydebrand (Anm. 1), S. 341–363.
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und Deutungen ex negativo, indem er Werke und Autoren enthält, die dem Kanon nicht entsprechen. Auf Basis dieser Begrifflichkeit und unter der eingangs beschriebenen Neuperspektivierung lässt sich das Zustandekommen literarischer Kanones als Konsequenz sozialer Sinnstiftungs- und Identitätsstiftungsprozesse beschreiben, im Rahmen derer sämtliche Instanzen des »Sozialsystems Literatur« – Autor und Verleger, Literaturkritiker und Leser, Medien, der Buchhandel und viele weitere – auf der Basis individueller wie überindividueller Werte, Bedürfnisse und Absichten einen Kanon schaffen, der zwar als solcher nicht als ein Ergebnis intentionaler Handlung gilt, aber dennoch die intentionale Wertungshandlung vieler Einzelner zur Basis hat. In diesem Sinne erklärt Simone Winko den Kanon als ein Phänomen der »invisible hand«.10 Ein Faktor in diesem Bedingungsgefüge bleibt dabei weitgehend unberücksichtigt: der Text selbst. Dass bestimmte textuelle Faktoren grundsätzlich – neben sozialen, institutionellen oder ideellen Einflüssen – bei jeder Form von Kanon-Bildung eine Rolle spielen, scheint zwar einerseits unstrittig, ist jedoch eine implizite Annahme und trägt als solche einen hypothetischen Charakter: Weder kann sie im Rahmen von empirischen Studien11 belegt werden, noch wird sie in theoretischen Beschreibungsversuchen des Phänomens Kanon berücksichtigt. In der Praxis, so moniert Simone Winko, würde den Eigenschaften eines Textes implizit immer ein Einfluss auf ihre Kanonisierung zugestanden; in theoretischen Modellen dagegen würden vor allem gesellschaftliche Identitäts- und Stabilisierungsbedürfnisse als maßgebliche Kanon-Faktoren benannt und textuelle Faktoren kaum berücksichtigt.12 Dass dem so ist, liegt – neben der pragmatischen Schwierigkeit, dass eine ›empirische‹ Analyse spezifischer Merkmale von Texten eines spezifischen Kanons eine schier endlose Materialmenge zu untersuchen hätte – im umstrittenen Status der ›Objektivität‹ jener Textmerkmale, deren Einfluss untersucht werden soll: Geht man von dabei von formalen Eigenschaften aus, mag es noch möglich sein, diese konkret zu erfassen und ihren möglichen Einfluss auf Kanonisierungsprozesse zu messen. Doch sobald Elemente der Semantik eines Textes zu diesen ›textuellen Faktoren‹ von Kanonbildung hinzugezählt werden, muss unterstellt werden, dass diese ›semantischen‹ Eigenschaften nicht nur durch den je eigenen interpretatorischen Zugriff auf einen Text, sondern auch durch jeden anderen – sowohl historischen als auch zukünftig möglichen – aufzuzeigen sind. Dies verweist auf den umstrittenen Status von ›Textbedeutung‹ oder ›Sinn‹ zwischen essentialistisch konzipierter ›Eigenschaft‹ eines Textes und konstruktivistisch konzipier-
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Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 1), S. 9–24, hier S. 11. Ausnahmen hiervon bilden Detailstudien wie jene Benjamin Spechts, der anhand der Rezeptionsgeschichte von Novalis’ Europa-Rede nachweisen kann, wie die spezifische Struktur eines Textes sich auf dessen Rezeption auswirken kann; vgl. Benjamin Specht: Textpotential und Deutungskanon. Zum Verhältnis von Textstrategie und Kanonisierung am Beispiel der Rezeptionsgeschichte von Novalis’ Europa-Rede. In: Lothar Ehrlich / Judith Schildt / B. S. (Anm. 1), S. 75–102. Simone Winko (Anm. 10), S. 10.
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tem Kommunikat, das in der Begegnung zwischen Text und Leser immer wieder neu entsteht. Angesichts des oben beschriebenen Desiderats bisheriger Kanontheorien, Texteigenschaften bisher keinen Platz im Prozess der Kanonbildung zuzuweisen, soll es Ziel der folgenden Ausführungen sein, ein Modell zur Beschreibung von Kanonisierungsprozessen zu entwickeln, das den Einfluss textueller Merkmale berücksichtigen kann, diese Merkmale jedoch nicht explizit macht, sondern ihnen lediglich eine Systemstelle im – rein modellhaft zu beschreibenden – Kanonisierungsprozess zuweist. Der Versuch, ein solches, von konkreten Kanones abstrahierendes Modell zu entwickeln, basiert auf den Annahmen Renate von Heydebrands, Kanon zeige sich in der retrospektiven Betrachtung immer als plurales Phänomen,13 das einer kontinuierlichen historischen Dynamik unterliegt: Die Werte und Bedürfnisse (wb1), die in einer sozialen Gruppe (g1) zu einem Zeitpunkt (t1) zum Zustandekommen eines innerhalb dieser Gruppe akzeptierten Kanons (k1) führen, sind andere als in einer anderen sozialen Gruppe (g2) zum identischen Zeitpunkt (t1) oder in derselben Gruppe (g1) zu einem anderen Zeitpunkt (t2). In beiden Fällen sind unterschiedlich strukturierte Kanones die Folge, die im ersten Fall zu einem identischen Zeitpunkt (t1), im zweiten Fall in historischer Abfolge [(t2)-(t1)] bestehen und die sich aufgrund der Varianz der sie konstituierenden Wertvorstellungen unterscheiden. Im Rahmen dieser Theorie werden das Vorhandensein und die Kanonisierungsrelevanz von Texteigenschaften implizit vorausgesetzt – indem davon ausgegangen wird, dass genau jene Texte (Tn), die den Kanon (k1) zu einem Zeitpunkt (t1) konstituieren, auf genau jenen Bestand an gemeinsamen Werten und Bedürfnissen (wb1) reagieren, der innerhalb einer Gruppe (g1) zum Zeitpunkt (t1) besteht. Diese Entsprechung muss sich zumindest auch auf semantische Merkmale beziehen, denn allein formale Merkmale reichen, so wird es für das Folgende angenommen, nicht aus, um die Fähigkeit eines Textes erklären zu können, auf soziale Identifikationsbedürfnisse zu antworten. Hier ist im Rahmen der Modellierung von Kanonbildung eine Theorie zum Zustandekommen der Bedeutung literarischer Texte zu integrieren, die entsprechende Erklärungsmöglichkeiten bietet. Eine zweite Lücke in Bezug auf die genannten semantischen Textmerkmale ist die Frage der Integrierbarkeit ›neuer‹ Texte in einen vorhandenen Kanon: Im Rahmen der Annahme von Kanondynamik wird davon ausgegangen, dass aufgrund von historisch oder sozial variierenden Werten und Bedürfnissen je andere Texte kanonisch sind. Diese Theorie hält einer empirischen Überprüfung stand, doch wird sie ergänzt werden müssen durch die Beobachtung, dass es trotz dieser permanenten Dynamik Texte gibt, die auch unter variierenden sozialen wie historischen Bedingungen in allen – oder zumindest den meisten – Kanones vertreten sind, etwa im Sinne eines von (g1) bereits vorgefundenen Kanons (k0), auf dessen Basis durch den Einschluss neuer und den Ausschluss
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Vgl. dazu auch Manfred Engel: Kanon – pragmatisch. Mit einem Exkurs zur Literaturwissenschaft als moralischer Anstalt. In: Nicholas Saul / Ricarda Schmidt (Anm. 1), S. 23–33, hier S. 24, der von Kanon als einem notwendig pluralen Phänomen ausgeht.
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vorhandener Texte Aktualisierungen und Revisionen des bereits vorhandenen Kanons erfolgen, aus dem dann ein spezifisch ›eigener‹ wird. Angesichts dieses Umstandes wird es nicht ausreichen, die Mechanismen des Einoder Ausschlusses von Texten in einen variierenden Kanon allein durch deren Fähigkeit zu erklären, auf bestimmte soziale Bedürfnisse zu reagieren. Kanonstabilität wäre in diesem Fall nur dadurch erklärbar, dass angenommen wird, es gäbe Texte, die auf eine Vielzahl sozialer Bedürfnisse im Rahmen der unterschiedlichsten historischen Situationen reagieren können. Dies mag in einigen Fällen die Dauerpräsenz eines Textes in variierenden Kanones erklären können, ist jedoch für eine übergreifende Kanontheorie nicht ausreichend. Vielmehr ist zu fragen, ob nicht die Annahme und modellhafte Abbildung bestimmter kanoninterner Strukturen, die die Texte eines Kanons untereinander eingehen, hilfreich sein kann, das Verhältnis von Dynamik und Stabilität eines Kanons plastischer hervortreten zu lassen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Theorie des »autopoietischen Systems« Niklas Luhmanns als ein Modell für Kanonisierungsprozesse nutzbar zu machen, das – so die Hypothese – Kanones nicht nur als Ergebnis sozialer Prozesse darstellt, sondern auch textuelle und kanoninterne Faktoren darstellen kann.14 Dies geschieht unter Rückgriff auf und in Auseinandersetzung mit bestehenden Kanonmodellen, wobei zuvor die heuristische Funktion von (Kanon)Modellen im Allgemeinen expliziert wird. In einem weiteren Schritt wird das entwickelte Modell auf seine praktische Relevanz für die Beschreibung und Deutung von Kanonisierungsprozessen überprüft. Dies geschieht anhand der Rezeptionsgeschichte des Romans Ardinghello und die glückseligen Inseln (1787) von Wilhelm Heinse, dessen wechselhafte Inbezugsetzung zum Kanon der ›Deutschen‹ bzw. der ›Weimarer Klassik‹ genutzt wird, um Ein- und Ausschlussmechanismen bei Kanonisierungsprozessen exemplarisch vor Augen zu führen. In einem dritten Schritt wird hinterfragt, inwieweit das entwickelte Modell zur Beschreibung einer solchen Kanonisierungsgeschichte hilfreich sein kann und inwieweit eine Übertragung auf andere Kanones und Kanonisierungsgeschichten möglich ist.
1. Kanon als System 1.1 Zur heuristischen Funktion von (Kanon-)Modellen Im Sinne seiner theoretischen Funktionsbeschreibung gilt ein Modell »nicht als Widerspiegelung der Realität«, sondern als »heuristische Hypothese einer Strukturähnlichkeit«.15
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Vgl. dazu bereits Leonhard Herrmann: Kanon als System. Kanon-Debatte und Kanonmodelle in der Literaturwissenschaft. In: Lothar Ehrlich / Judith Schild / Benjamin Specht (Anm. 1), S. 21–42, sowie Leonhard Herrmann: Klassiker jenseits der Klassik. Wilhelm Heinses Ardinghello – Individualitätskonzeption und Rezeptionsgeschichte. Berlin, New York 2010. Zum Versuch, System- und Kanontheorie zu verbinden vgl. auch Achim Hölter: Kanon als Text. In: Maria Moog-Grünewald (Anm. 1), S. 21–40, hier S. 33–34. Gereon Wolters: Modell. In: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie der Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 2. Mannheim 1984, S. 911–913, hier S. 912.
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Zwischen einem Modell und dem mit ihm zur Anschauung gebrachten Phänomen besteht keine Beziehung der absoluten oder relativen Identität, sondern die einer strukturellen Analogie:16 Modelle nutzen konventionalisierte Vorstellungen eines als bekannt vorausgesetzten Begriffes, um anhand dieser »anschaulich nicht zugängliche Phänomene«17 darstellbar machen zu können. In diesem Sinne wird im Folgenden nicht die These vertreten, Kanones ›seien‹ autopoietische Systeme im Sinne Niklas Luhmanns – dies widerspräche dem Usus Luhmanns, den Systembegriff auf die Beschreibung sozialer Funktionseinheiten zu beschränken und auf systemische Erklärungsmodelle semantischer Phänomene explizit zu verzichten, um nicht-soziologische Begrifflichkeiten wie »Interpretation« oder »Deutung«18 in die eigene Theorie integrieren zu müssen. Vielmehr wird zu zeigen versucht, dass Kanones Funktionsmechanismen aufweisen, die mit denen autopoietischer Systeme in einem Maße vergleichbar sind, dass sich die Theorie des autopoetischen Systems nutzen lässt, um ansonsten nicht darstellbare Prozesse von Kanonbildung systematisch beschreibbar zu machen. Als in seiner Gänze nicht fassbarer Bestandteil der Realität jeder literarischen Kultur ist jede Rede vom Kanon ihrerseits nur eine hypothetische Behauptung seiner Existenz und referiert nicht auf die Erfassung seiner vollständigen Gestalt, sondern auf seine immer nur exemplarisch nachweisbare Wirksamkeit – hinsichtlich der literatur- und kulturgeschichtlichen Frage, ob und zu welchen Zeiten ein Text zu einem spezifischen Kanon gehörte, oder hinsichtlich der Arbeit am je eigenen Kanon, die in einzelnen Projekten von Kanonrevision oder -innovation besteht. Die modellhafte Übertragung von Strukturmerkmalen des autopoietischen Systems dient in diesem Sinne der Sicht- und Begreifbarmachung eines ansonsten nicht oder nur kaum fassbaren Phänomens – und darüber hinaus der Darstellung von Funktionsweisen, die mit anderen Kanon-Modellen nicht oder nur unzureichend erfasst werden können. Dabei stellt die entsprechende Übertragung ihrerseits zunächst eine Hypothese dar: Dass die strukturellen Analogien zwischen autopoietischem System und Kanon in dem Maße bestehen, dass im Sinne der Modelltheorie von ersterem als von einem Modell für den letzteren gesprochen werden kann, ist eine Annahme, die es zu belegen gilt,19 was zunächst systematisch, späterhin exemplarisch geschehen soll. Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass Modellbildung nicht – oder zumindest nicht zwingend – auf die Totalität der zu beschreibenden Phänomene oder Prozesse abzielt, sondern auf die Spezifik einiger ihrer Bestandteile.20 In diesem Sinne wird davon ausgegangen, dass mithilfe des systemtheoretischen Modells gerade die Darstellung von text- und kanoninternen Faktoren als kanonisierungsrelevante Größen gelingen kann. Kanonmodelle, die dies nicht vermögen, sind daher nicht grundsätzlich abzulehnen,
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Vgl. Max Black: Models and Metaphors. Studies in Language and Philosophy. Ithaca 1962, S. 222. Gereon Wolters (Anm. 15), S. 912. Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt / M. 1993, S. 9–71, hier S. 17. Vgl. Peter Rolf Lutzeier: Modelltheorie für Linguisten. Tübingen 1973, S. 1. Vgl. Gereon Wolters (Anm. 15), S. 912.
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sondern nur in Bezug auf die Abbildung der genannten Effekte als weniger präzise zu betrachten als das hier zu entwickelnde. 1.2 Zum Status von Textbedeutung Die Frage nach der Darstellbarkeit von text- wie von kanoninternen Strukturen als kanonisierungsrelevante Größen zielt nicht nur ab auf die Suche nach einem adäquaten Modell, mit dessen Hilfe die entsprechenden Strukturen dargestellt werden können, sondern zunächst auf das Problem, wie die Konstitution von ›Bedeutung‹ oder ›Sinn‹ eines Textes beschrieben werden kann, um auf diese Weise darstellen zu können, wie eine soziale Gruppe auf der Basis eines spezifischen Bedürfnisses einen bestimmten Text zum Gegenstand von Identifikation macht. Dieses Problem rührt an den Kern der Literaturtheorie, die zwischen Konstruktivismus und Essentialismus, zwischen klassischer Hermeneutik und Poststrukturalismus oszilliert und dem lesenden Subjekt eine mal größere, mal kleinere Rolle bei der – je nach Standpunkt – Re-, De- oder einfach nur: Konstruktion von Sinn zugesteht. Im Folgenden soll die rezeptionsästhetisch reflektierte Hermeneutik der Konstanzer Schule als Ansatz beschrieben werden, der in Bezug auf die Modellierung von Kanonbildung eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Zustandekommen von Sinn liefern kann, indem dieser als Konstrukt zweier Faktoren betrachtet wird: des Werkes selbst und der Bedürfnisstruktur seiner Leserschaft. Deutlich wird hier, dass ein bestimmtes literarisches Werk im Rezeptionsprozess eben nicht vollkommen beliebig ge- oder umgedeutet werden kann, sondern vielmehr durch seine spezifische Beschaffenheit selbst Einfluss auf seine eigene Rezeptionsweise (und damit auch auf seine Kanonisierung) ausübt. In unterschiedlichen Graden und Differenzierungen wird in allen maßgeblichen Rezeptionstheorien der 1970er Jahre bestimmten Textstrukturen – vor allem formaler, aber auch semantischer Art – eine Funktion im Rezeptionsprozess beigemessen, sei es als »Signalgefüge« (Harald Weinrich), als »Appellstruktur« (Wolfgang Iser) oder »Rezeptionsvorgabe« (Michael Naumann u. a.).21 Hans Robert Jauß geht in diesem Sinne von einem je spezifischen »Sinnpotenzial«22 aus, das jedem literarischen Text inhärent ist. Jeder Leser wendet sich diesem »Sinnpotenzial« vor dem Hintergrund eines je eigenen »Erwartungshorizonts«23 zu und realisiert dieses Potenzial als Einzelner – geprägt von der je eigenen Gegenwart – immer nur partiell. Doch im Laufe seiner (unendlichen) Rezeptionsgeschichte, indem also viele verschiedene Leser aus vielen unterschiedlichen Erwartungs- und Erfahrungshorizonten heraus diesem Text begegnen, entfaltet sich dieses Potenzial immer weiter und immer präziser. In diesem Sinne kann die Erforschung der Rezeptionsgeschichte eines Textes die Brücke schlagen zwischen der individuellen, aktuellen und den vielen, historischen Bedeutungen eines Werkes. Der Erwartungshorizont des gegenwärtigen Lesers verschmilzt auf
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Zitiert nach: Gunter E. Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie. München 1977. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt / M. 1970, S. 5, vgl. auch ebd., S. 186. Ebd., S. 175.
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diese Weise mit dem des historischen Lesers. Gleichsam in der gemeinsamen Lektüre mit den vielen, historischen Lesern ist der gegenwärtige Leser der ›Wahrheit‹ eines Textes wesentlich präziser auf der Spur als allein.24 Der Begriff »Sinnpotenzial« bei Jauß liefert für das eingangs beschriebene Problem bei der Kanonforschung eine Hilfestellung, indem er genau jene Grenze zwischen essentialistisch und konstruktivistisch gedachtem ›Sinn‹ beschreibt,25 die zu beschreiben nötig wird, wenn man ›semantischen Eigenschaften‹ eines Textes auf der Spur ist, denen man einen Einfluss auf den Status dieses Textes innerhalb oder außerhalb des Kanons beimessen will: Je individuelle ›Bedeutungen‹ eines Werkes sind auf diese Weise keine völlig beliebigen Zuschreibungen von ›Sinn‹, sondern Realisationen eines im Werk selbst angelegten Potenzials von Bedeutungen.26 Die – wenngleich immer nur partielle – Realisation dieses Potenzials wird sich einerseits an bestimmten Strukturen des Werkes selbst orientieren müssen, andererseits an dessen bisherigen Deutungen durch vorherige Leser, um sich in dessen Rezeptions- und Kanonisierungsgeschichte einschreiben zu können – um diese wiederum mitbestimmen zu können. 1.3 Kanonmodelle Ausgangspunkt für den Versuch einer systemtheoretischen Modellierung des KanonPhänomens sind Kanon-Modelle der ausgehenden 1990er Jahre, die einerseits das eingangs genannte Defizit aufweisen, jedoch zugleich Ausgangspunkte für weitergehende Überlegungen darstellen: Joachim Küpper27 beschreibt 1997 Kanon als eine Form der Historiografie, die – wie jede Geschichtsschreibung und jede Narration – abhängig ist von den Bedürfnissen und Erwartungen desjenigen, der diese ›Erzählung‹ zusammenstellt und ›seiner‹ Geschichte auf diese Weise einen ›Sinn‹ verleiht, der ihr nicht ursprünglich zu eigen ist. Welche Werke nun zum Kanon im Sinne einer »identitätsgründende[n] Narration« 28 zählen und welche nicht, ist nicht das Ergebnis schieren Zufalls, sondern hängt ab von den Bedürfnissen nach Identitäts- und Sinnstiftung, die die Basis bilden für Kanonbildung, die jedoch ihrerseits das Ergebnis eines historischen Prozesses sind. Die Kontingenz des Kanons ist für Küpper die Konsequenz der Kontingenz der Geschichte selbst, die ein Bedürfnis nach genau jenen Klassikern geschaffen hat, die wir zu Klassikern gemacht haben. Ganz ähnlich ist für Achim Hölter29 Kanon ein Text, der von seinen
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Ebd., S. 186. Bei Jauß konzeptualisiert als Brückenschlag zwischen der »marxistischen und der formalistischen Methode […] der Literaturgeschichte«, ebd., S. 168. In diesem Sinne begreift Jauß Literaturgeschichte als einen »Prozeß ästhetischer Kommunikation«, »an dem die drei Instanzen von Autor, Werk und Empfänger [...] gleichermaßen beteiligt sind« (Hans Robert Jauß: Die Theorie der Rezeption. Rückschau auf ihre unerkannte Vorgeschichte. Konstanz 1987, S. 5). Vgl. Joachim Küpper: Kanon als Historiographie – Überlegungen im Anschluß an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück. In: Maria Moog-Grünewald (Anm. 1), S. 41–64. Joachim Küpper (Anm. 27), S. 64. Achim Hölter: Der Dichterkatalog als Kanontext. In: Peter Wiesinger (Anm. 1), S. 65–70, sowie Achim Hölter: Kanon als Text. In: Maria Moog-Grünewald (Anm. 1), S. 21–40.
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Autoren kontinuierlich und in Abhängigkeit von seinen je spezifischen Bedürfnissen fortgeschrieben wird. Beide Modelle machen deutlich, dass eine spezifische soziale Bedürfnisstruktur Motor von Kanonbildung ist: Kanon ist ein identitätsstiftendes oder diese sicherndes Konstrukt, ist Teil einer kollektiven Erinnerung, die Werte stützen und Kohärenz schaffen soll, ist ein Medium der Traditionsbildung und als solches eines der Kontingenzkompensation. Doch zwei wesentliche Aspekte von Kanonbildung können diese Modelle nicht recht fassen: zum einen die Frage, wie es dazu kommen kann, dass ein bestimmter und gerade dieser bestimmte Text auf ein bestimmtes Benennungs- oder Erinnerungsbedürfnis antwortet – in welchem Verhältnis also Leserbedürfnisse und spezifische semantische Texteigenschaften bei der Konstruktion einer spezifischen Textbedeutung stehen; zum anderen die Frage nach der Kanonintegration: Wie wird aus einem Kanon, der notwendig aus den unterschiedlichsten Elementen/Texten besteht, eine kohärente Kanon-Erzählung? ›Passt‹ jedes Element in diese Erzählung, oder vielleicht das eine mehr, das andere dagegen weniger? Und wie wären dann die entsprechenden Ein- oder Ausschlussmechanismen darzustellen? Gerade das Modell vom Kanon als Text erlaubt es zwar potenziell, entsprechende Strukturen innerhalb eines Kanons zu beschreiben, indem für die Modellbildung nicht nur die Eigenschaft eines Textes zu nutzen wäre, eine Erzählung darzustellen, die aus unterschiedlichen Bedeutungselementen intentional zusammengesetzt ist, sondern auch die, durch syntagmatische wie paradigmatische Beziehungen zwischen diesen Elementen gekennzeichnet zu sein. In diesem Sinne kann der Autor eines Textes ebenso wenig beliebig mit den seinen Text konstituierenden Elementen verfahren wie es die Urheber eines Kanons vermögen, jeden Text, der ihren Identifikations- und Sinnstiftungsbedürfnissen entspricht, an jeder beliebigen Stelle in den Kanon zu integrieren. Wie jeder Text, hat – so die hypothetische Vermutung – auch der Kanon eine ihm eigene ›Grammatik‹ und eine ihm eigene ›Semantik‹, die es bei der Eingliederung neuer Elemente zu berücksichtigen gilt. Doch darüber, wie die entsprechenden kanon- und textinternen Mechanismen darzustellen sind, gibt das Modell »Kanon als Text« zumindest explizit keinen Aufschluss. Aleida Assmann, die mit ihrem Aufsatztitel Kanonforschung als Provokation in der Literaturwissenschaft30 auf Jauß verweist, stellt sich explizit in die Tradition der »Konstanzer Schule«, indem sie – unter dem Eindruck jener Kanon-Debatten, wie sie seit Mitte der 1990er Jahre entstehen – Kanon als einen Teil des »kulturellen Funktionsgedächtnisses«31 beschreibt. Im Unterschied zu den oben vorgestellten Ka-
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Aleida Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Renate von Heyebrand (Anm. 1), S. 47–59. Aleida Assmann: Speichern oder Erinnern? Das kulturelle Gedächtnis zwischen Archiv und Kanon. In: Moritz Csàky / Peter Stachel (Hrsg.): Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive. Teil 2: Die Erfindung des Ursprungs, die Systematisierung der Zeit. Wien 2001, S. 15–30, hier S. 22; dabei ist jedoch der hier zu Grunde gelegte Kanon-Begriff von früheren Konzepten Aleida und Jan Assmanns zu unterscheiden, die primär die Stabilität von Kanon betonen, vgl. dazu Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Iden-
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non-Modellen berücksichtigt Aleida Assmann durchaus gewisse kanoninterne Strukturen, die den Ein- oder Ausschluss von Texten mitbestimmen können. Das »Gedächtnis« einer Gesellschaft unterscheidet sie vom rein quantitativ konzipierten »Speicher« oder »Archiv« dadurch, dass es eine Selektion von Elementen der Vergangenheit repräsentiert, mit der Identitäts- und Stabilitätsangebote unterbreitet würden. Der Kanon als geordneter Speicher korreliert dabei mit dem Archiv als unstrukturiertem Arsenal potenziell kanonischer Texte. Kanon-Dynamik wäre in diesem Sinne als permanenter Austauschprozess zwischen Archiv und Kanon zu begreifen. Im Unterschied zum Archiv hat Kanon einen Standpunkt, eine Perspektive, ist bewertet und hierarchisch geordnet, ist »kein schützender Behälter, sondern eine immanente Kraft, eine Energie mit einer gewissen Eigendynamik«.32 Als Teil des »kulturellen Funktionsgedächtnisses« kann Kanon zwar die Tilgung bestimmter Elemente verhindern, ist jedoch gegenüber der bewusstseins- und funktionsgeleiteten Integration neuer Elemente weitgehend machtlos. Die entscheidende Größe für die Migration von Texten zwischen Kanon und Archiv bleibt der »Wille[n] zum Bewußtsein«, der das Funktionsgedächtnis »ausleuchtet«33 und neue Elemente in den Kanon integriert. Elena Esposito34 und Mirjam Kerstin Holl35 versuchen, die Gedächtnistheorie Aleida Assmanns zu verbinden mit Luhmanns wissenssoziologischer Unterscheidung von ›Gesellschaftsstruktur‹ und der diese überlagernden ›Semantik‹.36 Zur differenzierteren Beschreibung der »Ideenevolution«37 innerhalb der Semantik, die nach Luhmann über die Mechanismen Variation, Selektion und Stabilisierung von Ideengut erfolgt (letztere anhand der Kriterien »Plausibilität« und »Evidenz«38), werden Formen, Strukturen und Entwicklungsmechanismen des Gedächtniskonzepts auf das Semantik-Konzept Luhmanns übertragen und explizit auf Kanonierungsprozesse bezogen. Esposito fordert, »Semantik« nicht als reinen Speicher zu begreifen, sondern als eine »eng an Systemoperationen gekoppelte, dynamische Funktion«, die mit den Mechanismen »Erinnern« und
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tität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 103–129, sowie Jan Assmann / Aleida Assmann: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1987, S. 16. Aleida Assmann (Anm. 31), S. 16. Aleida Assmann: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik (EWE) 13 (2002), S. 183–190, hier S. 190. Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt / M. 2002. Mirjam-Kerstin Holl: Semantik und soziales Gedächtnis. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächtnistheorie von Aleida und Jan Assmann. Würzburg 2003; vgl. Mirjam-Kerstin Holl: Systemtheorie, Gedächtnis und Literatur. In: Astrid Erll / Ansgar Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York 2005, S. 97–122. Vgl. dazu allg. Niklas Luhmann (Anm. 18), S. 9–71. Niklas Luhmann (Anm. 18), S. 51; vgl. dazu auch Hans-Edwin Friedrich / Fotis Jannidis / Marianne Willems: Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert [Einleitung]. In: H.-E. F. / F. J. / M. W. (Hrsg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. IX-XL. Niklas Luhmann (Anm. 18), S. 48.
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»Vergessen« Funktionen der In- oder Exklusion ausübt. 39 Nach Holl hat die Semantik die Aufgabe »der Inklusion von Rollen und Kommunikationsbeiträgen« sowie »der Wissensorganisation im Wechselspiel zwischen Strukturbildung und Wandel«.40 Von diesen Annahmen ausgehend lassen sich Kanones als Systeme modellieren, die durch einen Code (dem »Deutungskanon« im Sinne Renate von Heydebrands) von ihrer Umwelt differenziert werden; Texte, die diesem ›Kanoncode‹ entsprechen, sind Teil des jeweiligen Kanons, Texte, die diesem nicht entsprechen, sind Teil der ›Umwelt‹. Anstelle der Begriffe ›System‹ und ›Umwelt‹ ließe sich hier die von Aleida Assmann eingeführte Unterscheidung von Kanon und Archiv integrieren: Der Kanon enthält jene nach einem bestimmten ›Code‹ für wertvoll gehaltenen Texte, das Archiv dagegen Texte, die zwar tradiert und weiter verfügbar gehalten werden, die jedoch keinen ›besonderen‹ Wert besitzen. Soll ein Text vom Archiv in den Kanon migrieren, dann ist dazu ein bestimmtes soziales Bedürfnis die notwendige, die Übereinstimmung seiner textlichen Merkmale, seines spezifischen »Sinnpotenzials« mit den im Deutungskanon fixierten Normen und Werten jedoch die hinreichende Bedingung. Zunächst gelten für dieses Modell dieselben Einwände wie für die oben genannten: Die Abbildung von sozialen Bedürfnisstrukturen als Parameter der Kanonbildung gelingt. Doch warum aufgrund einer bestimmten Bedürfnisstruktur ein bestimmter Text – und zwar nur dieser – in den Kanon integriert wird, kann ebenso wenig dargestellt werden wie die Integration dieses Textes in den bestehenden Kanon. Hilfreich für die Abbildung von text- und kanoninternen Faktoren dagegen ist – so die Hypothese – die Übertragung des von Luhmann proklamierten Paradigmenwechsels hin zum »autopoietischen System«41 auf das Modell ›Kanon als System‹: ›Code‹ und ›System‹ (»Deutungskanon« und »materialer Kanon« im Sinne R. v. Heydebrands) lassen sich dann auf das Engste aufeinander beziehen und in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit als Motor von Kanondynamik beschreiben: Mit der Annahme autopoietischer Systeme besteht die Differenz System/Umwelt nicht mehr per se; Stifter der Differenz ist das System selbst. Aus der Differenz System – Umwelt wird die Differenz Identität – Nichtidentität mit dem System. Einheitlichkeit im Inneren entsteht nach einem Kriterium, das das System selbst stiftet; indem es seine Differenz nach außen selbst schafft, erzeugt und reproduziert es sich selbst. Damit liefert ein autopoietisches System selbst die Kategorien zu seiner eigenen Konstruktion; es wird selbstorganisierend, selbsterhaltend und bildet interne Strukturen aus, indem es seine Elemente selbst zueinander in Beziehung setzt. Die Nutzung dieses Konzepts als Modell für das Phänomen Kanon kann deutlich machen, dass nicht mehr die Übereinstimmung mit einem vom Kanon losgelösten Code über Inklusion oder Exklusion eines Textes entscheidet, sondern die interne Anschlussfähigkeit an die bereits kanonisierten Texte. Bei der Migration aus dem »Archiv« in den
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Elena Esposito (Anm. 34), S. 22. Mirjam-Kerstin Holl (Anm. 35), S. 110. Vgl. dazu Niklas Luhmann: Paradigmawechsel in der Systemtheorie. Ein Paradigma für Fortschritt? In: Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 305–322.
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»Kanon«, wie er durch ein bestimmtes soziales Identitäts- oder Stabilisierungsbedürfnis induziert ist, erhalten nur jene Texte einen Zugang zum Kanon, die anschlussfähig sind zu jenen, die bereits im Kanon versammelt sind. Der Begriff der »Anschlussfähigkeit« bezeichnet dabei die Möglichkeit der Herstellung semantischer Bezüge zwischen einem neu zu kanonisierenden Text und jenen Texten, die bereits im Kanon vertreten sind. »Semantische Bezüge« wiederum werden begriffen als Relationen zwischen den Bedeutungsebenen verschiedener Texte, die sich – im Sinne des Rezeptionsmodells von Jauß – herstellen lassen auf der Basis von Realisationen der in den Texten angelegten »Sinnpotenziale«. Im Rahmen dieses Modells werden Kanonisierungsprozesse als Ergebnisse eines dreifachen Bedingungsgefüges darstellbar: erstens einer bestimmten sozialen Bedürfnisstruktur, die in einer spezifischen historischen Situation ein spezifisches Bedürfnis nach Identitätsfindung und Stabilisierung artikuliert; zweitens der Fähigkeit eines bestimmten eines Textes, im Rahmen seines spezifischen Sinn- oder Rezeptionspotenzials auf dieses Bedürfnis zu antworten, und drittens der Anschlussfähigkeit dieses Textes an die internen Strukturen des vorhandenen Kanons. Auf diese Weise sind die historischen Varianzen von Kanon und Deutungskanon im Sinne einer ›Koevolution‹ als einander bedingende Prozesse beschreibbar: Indem nicht ein externer Deutungskanon, sondern der »Code« des Kanons selbst über An- oder Ausschluss von Texten mitentscheidet, variieren die entsprechenden Kriterien und Normen mit jedem neuen Ein- oder Ausschluss. Sobald ein Text Zugang zum Kanon erhält, definiert er dessen Struktur mit und bestimmt wiederum neue Anschlussfähigkeiten oder Ausschlussmerkmale. Kanon wie Deutungskanon sind dynamisch und in dieser Dynamik normativ und historisch zugleich. Kanon als autopoietisches System zu beschreiben, bedeutet damit weder, diesen als hermetisch abgeschlossene Welt zu betrachten, noch Kanonveränderungen grundsätzlich auszuschließen. Vielmehr liegt es im Kern des Konzepts autopoietischer Systeme, historische Varianz entlang einer Grenzlinie von endogenen und exogenen Faktoren zu beschreiben. Autopoietische Systeme sind zwar selbstorganisierend und selbsterhaltend, existieren jedoch nicht isoliert von ihrer Umwelt, sie sind zwar operativ geschlossen, aber kognitiv offen.42 Mit dem Paradigmenwechsel hin zum autopoietischen System wandle sich das Interesse an Kontrolle, Planung und Produktion hin zu Fragen nach Autonomie und Umweltsensibilität, nach Evolution und Reproduktion.43 Diese Eigenschaften für ein Verständnis von Kanon zu nutzen, bedeutet, dass jede Veränderung von Kanon nicht nur auf ein von außen induziertes Bedürfnis für diese Veränderung zurückgeführt werden kann, sondern auch text- wie kanoninterne Faktoren berücksichtigen muss. In Weiterführung des oben beschriebenen Modells bedeutet dies: Ein Text (T1) wird zu einem Zeitpunkt (t1) von einer sozialen Gruppe (g1) auf der Basis seines spezifischen Sinnpotenzials (sp1) als übereinstimmend mit den Werten
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Vgl. dazu Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart 1996, S. 161. Niklas Luhmann (Anm. 41), S. 318.
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und Bedürfnissen (wb1) dieser Gruppe identifiziert. Um in den überlieferten Kanon (k0) integriert zu werden, muss zwischen (sp1) und (k0) eine Anschlussfähigkeit A gegeben sein. Ist dies der Fall, dann entsteht durch die Integration von (T1) der Gruppenkanon (k1) – mit einer durch (sp1) veränderten Anschlussfähigkeit A. Auf diese Weise wird (k1) wiederum offen für neue Texte (Tn) mit (spn), identifiziert durch (gn) auf der Basis von (wbn). Selbst (k0) ist in diesem Zusammenhang keine vollkommen statische Größe – je nach zeitlicher Dauer der von (sp1) innovierten A kann (k0) = (k1) gelten. Im Falle von -A kann (T1) nicht in (k1) integriert werden. (k0) bleibt stabil, wird jedoch durch einen »Gegenkanon« -(k0) = (k1) ergänzt.
2. Kanon-Modell im Praxistest Im Folgenden wird das Modell des Kanons als autopoietisches System genutzt, um die Rezeptions- und Kanonisierungsgeschichte eines Romans der Goethezeit zu erklären – Wilhelm Heinses Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln von 1787. Unter heutigen Kategorien passt dieser Roman kaum in das Bild, das die Literaturgeschichte zur Beschreibung dieser Epoche ausgeprägt und mit der Chiffre ›Weimarer Klassik‹ versehen hat: Der Roman entfaltet das Bild eines leidenschaftlichen Renaissance-Menschen, der ausschließlich den Gesetzen seines eigenen Selbst folgt. Nach einem pikaresken Handlungsverlauf im Italien zur Zeit der Medici gründet die Hauptfigur Ardinghello einen utopischen Inselstaat, der eine radikal individualistische, sensualistische Philosophie zur Grundlage eines ganzen Gemeinwesens macht. Diese Philosophie wird in einem langen metaphysischen Gespräch44 entwickelt und geht von der absoluten Freiheit des empirischen, sinnlichen Individuums aus. Im Rahmen der heute gemeinhin akzeptierten Epochentrias aus ›Sturm und Drang‹, ›Klassik‹ und ›Romantik‹ ist der Roman nicht mehr zu verorten: Für eine Zuordnung zum ›Sturm und Drang‹ erscheint er etwa ein Jahrzehnt zu spät.45 Die Zuordnung zur ›Klassik‹ verbietet sich aufgrund erheblicher formaler wie konzeptueller Differenzen, jene zur ›Romantik‹ aufgrund der Tatsache, dass Heinse deren zentrale philosophische Grundannahmen nicht teilt.46 Doch anhand der Rezeptionsgeschichte des Romans kann gezeigt werden, dass diese Ferne zum ›Klassiker‹-Kanon nicht immer bestanden hat. Vielmehr lassen sich das gesamte 19. Jahrhundert hindurch immer wieder Versu-
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Vgl. Wilhelm Heinse: Ardinghello und die glückseligen Inseln. Kritische Studienausgabe. Mit 32 Bildtafeln, Textvarianten, Dokumenten zur Wirkungsgeschichte, Anmerkungen und einem Nachwort herausgegeben von Max L. Baeumer, bibliographisch ergänzte Ausg. Stuttgart 1998, S. 269ff. Vgl. dazu etwa Matthias Luserke: Sturm und Drang. Autoren – Texte – Themen. Stuttgart 1997, S. 41–42 Zur Auseinandersetzung Heinses mit Idealismus und Transzendentalphilosophie vgl. etwa dessen Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft sowie der Metaphysik der Sitten in: Wilhelm Heinse: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass. Hrsg. von Markus Bernauer u. a. 5 Bde. München 2003–2005, hier Bd. 2, S. 560–564 sowie S. 577.
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che beobachten, wie der Text nicht nur positiv rezipiert, sondern auch in die Nähe des ›Klassiker‹-Kanons gerückt worden ist. Bereits zur Zeit seines Erscheinens war er ein weit verbreitetes, intensiv gelesenes Buch.47 Die spätaufklärerische Literaturkritik kann dem Roman viel abgewinnen und steht ihm auf der Basis eines mimetischen Romankonzepts große Freiheiten gegenüber den herrschenden Moralvorstellungen seiner Zeit zu.48 Zu seinen Lesern gehören Körner und Schiller, der junge Goethe, Anna Amalia und der Kreis um Ludwig Gleim, dem Heinse entstammt. Heinses Dienstherr, der Mainzer Kurfürst, Erzbischof und Erzkanzler des Heiligen Römischen Reiches Friedrich Karl Joseph von Erthal, lässt sich persönlich daraus vorlesen, wie Wilhelm von Humboldt – sichtlich amüsiert über die katholischen Sinnenfreuden – berichtet.49 Doch als um 1800 erste literarhistorische Ansätze von einem Höhepunkt der deutschsprachigen Literatur der eigenen Zeit ausgehen und diese mit dem Prädikat »klassisch« versehen werden, wie eine Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen durch Klaus Weimar zeigt,50 ist Heinse bereits aus dem Kanon verwiesen; entsprechend ablehnend verfährt die frühe Literaturgeschichtsschreibung mit Heinses Werk. Die klassizistische Poetologie, wie sie Schiller in Ueber naive und sentimentalische Dichtung51 entfaltet, lässt keinen Platz für einen Roman, der sich jedem Formparadigma entzieht und weder klassizistische Formideale noch den heute als zentrale philosophische Basis der Zeit wahrgenommenen Idealismus teilt. Doch der Ausschluss des Ardinghello aus dem gerade sich etablierenden KlassikerKanon ist noch lange nicht endgültig. Im ›Jungen Deutschland‹ wird Heinse in den Klassiker-Kanon zu integrieren versucht – etwa durch eine erste, von Heinrich Laube herausgegebene Werkausgabe Heinses –, um dem Kanon eine dem eigenen sensualistischen Programm entsprechende Tendenz zu verleihen.52 Gerade diese Versuche machen deutlich, dass für eine erfolgreiche Klassiker-Integration Anschlussstellen zwischen Text und Kanon erforderlich sind. Diese entstehen, indem etwa auch die Werke des jungen Goethe zu den ›Klassikern‹ gezählt werden, der kantianische Schiller dagegen in seiner Bedeutung relativiert wird. Ähnliche Verfahren zeigen die Literaturgeschichten im Umfeld der Revolution von 1848, die im utopischen Inselstaat Ardinghellos ein Vor-
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Vgl. dazu Leonhard Herrmann (Anm. 14), S. 176f. Vgl. etwa F. L. W. Meyers Ardinghello-Rezension in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 125. Stück, den 6. August 1787, S. 1252f. Vgl. Albert Leitzmann: Wilhelm Heinse in Zeugnissen seiner Zeitgenossen. Jena 1938, S. 33. Vgl. Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. München 1989, S. 164f.; etwa zeitgleich wird der Begriff ›klassisch‹ bereits auf die Werke des jungen Goethe bezogen, vgl. Erduin Julius Koch: Grundriß einer Geschichte der Sprache und Literatur. Berlin 1795, S. 264. Vgl. darin die Kritik Schillers an Heinses Werk: Schillers Werke. Philosophische Schriften 1. Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar 1962, S. 464. Vgl. dazu: Heinrich Laube: Vorwort. In: Wilhelm Heinse: Sämmtliche Schriften. Herausgegeben von Heinrich Laube, 10 in 5 Bdn. Leipzig 1837–1838, Bd. 1, S. LXXIV u.ö.
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bild für die eigenen politischen Ziele sehen. 53 Bei Heinrich Heine dagegen wird Wilhelm Heinse gezielt zum Vorreiter des eigenen Projekts einer nicht nur literarischen, sinnlichen Revolte stilisiert – Heinse wird hier zu einem gegenkanonischen Autor. 54 Vor allem Heinses wechselvolle biografischen Bezüge zu Goethe werden für beide Verfahren genutzt: Der junge Goethe äußert sich mehrfach positiv zu Heinse und trifft diesen auch persönlich.55 Mit der Rückkehr aus Italien dagegen beteiligt sich Goethe selbst aktiv an der Kanon-Verbannung Heinses.56 Werden bereits die Werke des jungen Goethe zu ›Klassikern‹ erhoben, dann kann ihnen Heinses Ardinghello durchaus folgen. Erfolgt jedoch – und dies erweist sich ab etwa 1860 als stabil – eine Konzentration auf die nachitalienischen Texte, dann muss Heinse dem Kanon verwiesen werden.57 Dies gilt auch dann, wenn eine grundsätzliche Sympathie für Heinses Werke besteht. Die ab etwa 1880 einsetzende akademische Heinse-Forschung, die angesichts einer rigiden Moral unter erheblichem Rechtfertigungsdruck steht, bemüht sich vor allem durch eine relativistische Textlektüre um eine Kanonintegration. Mit der Edition von Heinses Briefen können dessen biografische Bezüge zu zentralen literarischen Kreisen und sein kontinuierliches Werben um dortige Integration deutlich gemacht werden, wobei – wie etwa im Falle des Verhältnisses zu Wieland – problematische Partien ausgeblendet werden. Zugleich werden moralisch allzu anrüchige Szenen semantisch entschärft.58 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stabilisiert sich der Klassiker-Kanon jedoch in einer Weise, die keine Anschlussmöglichkeiten nicht mehr bietet. Indem Goethes nachitalienische Werke und jene des kantianischen Schiller den Kern des Klassiker-Kanons ausmachen, kann Heinses Werk, das sich sowohl formal als auch in Bezug auf seine philosophischen Grundlagen erheblich von diesen unterscheidet, nicht mehr integriert werden. Zugleich scheitern die philologischen Strategien einer Kanon-Integration, da neben Heinses Briefen auch die persönlichen Aufzeichnungen ediert werden.59 Hier zeigen sich die philosophisch-weltanschaulichen Differenzen zu den kanonisch gewordenen Klassikern in aller Deutlichkeit. Dennoch entsteht um 1900 ein großes Bedürfnis nach der Kanonisierung eines Autors wie Heinse. Zusammen mit Autoren wie Stendhal, Nietzsche oder Burckhardt soll Heinses Individualitätskonzept ein Welt- und Menschenbild identifikatorisch absichern, das der Zeit als spezifisch ›modern‹ gilt und sich von dem des 19. Jahrhunderts bewusst
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Vgl. etwa C. G. F. Brederlow: Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 1844, S. 130. Brief Heines an Johann Hermann Detmold vom 15. 2. 1828. In: Heinrich Heine: Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe. Bd. 20. Berlin 1975, S. 319. Vgl. dazu: Leonhard Herrmann (Anm. 14), S. 122–129. Vgl. dazu Johann Wolfgang Goethe: Erste Begegnung mit Schiller. In: J. W. G.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Hendrik Birus u. a. Bd. 24. Frankfurt / M. 1987, S. 434f. Am nachhaltigsten dabei verfährt G. G. Gervinus: Geschichte der poetischen National-Literatur. Bd. 5. Leipzig 1844, S. 5ff. Vgl. dazu Leonhard Herrmann (Anm. 14), S. 178–184. Vgl. Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Carl Schüddekopf. Bd. 8,1–3. Hrsg. von Albert Leitzmann, 10 in 13 Bdn. Leipzig 1902–1925.
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abgrenzen möchte. Dieser neuen Zeit soll ein neuer literarischer Kanon entsprechen, der die eigene Idee von der vollkommenen Freiheit des sinnlichen Individuums ideengeschichtlich absichern soll. Für ein solches Kanon-Projekt bietet Heinses Ardinghello ein optimales semantisches Potenzial. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende, zunehmend hermetische Klassiker-Kanon dagegen war weder in der Lage, selbst dieses Bedürfnis zu befriedigen, noch erlaubte er die Integration eines entsprechenden Autors. Heinse wird also nicht mehr kanonintegrierend, sondern exkludierend und zugleich identifikatorisch gelesen.60 Als zwischen 1902 und 1924 die bis heute einzige Heinse-Werkausgabe erscheint, stößt sie in diesem Sinne auf eine begeisterte Resonanz und wird so schließlich zu einem Klassiker jenseits der Klassik.
3. Kanon und Epoche Das systemische Kanon-Modell kann die Rezeptions- und Kanonisierungsgeschichte von Heinses Ardinghello als Ergebnis eines dreifachen Bedingungsgefüges veranschaulichen: Unter bestimmten historischen Umständen artikuliert sich ein bestimmtes Bedürfnis nach Sinnstiftung und Sinnabsicherung, das ein bestimmtes Werk aufgrund des in ihm angelegten Sinnpotenzials befriedigen kann. Für eine erfolgreiche Integration in den Kanon jedoch müssen dazu auf Seiten des Textes wie auf Seiten des Kanons Anschlussfähigkeiten bestehen, was einerseits die Unhintergehbarkeit bestimmter Merkmale eines Textes bei dessen Deutung und Kanon-Integration, andererseits die exklusorische Kraft des Kanons verdeutlicht, der sich weigert, einen Text aufzunehmen, der seinen übrigen formal wie semantisch nicht entspricht. Für den hier vorliegenden Einzelfall darf das Modell »Kanon als System« als funktional gelten und kommt als Möglichkeit in Betracht, die Mechanismen von Klassiker-Kanonisierungen darzustellen. Fraglich dagegen ist die Übertragbarkeit dieses Modells auf andere als den ›Klassiker‹-Kanon – und zwar insbesondere deshalb, weil dieser besonders starke interne semantische Strukturen aufweist: Zu keinem Zeitpunkt ihrer Rezeptionsgeschichte61 war ›Klassik‹ einfach nur ›Kanon‹, sondern zugleich immer auch eine literaturgeschichtliche Epoche, die – je nach definitorischem Zugriff – einige wenige Jahre umfasste und bereits dadurch starke semantische Bezüge zwischen den in ihr entstandenen Werken aufweist.62 In diesem Sinne muss die Frage, inwieweit sich die systemischen Eigenschaften der ›Klassik‹ tatsächlich auf deren Eigenart als ›Kanon‹ oder als ›Epoche‹ beziehen, letztlich offen bleiben. Denn gerade die sich unter dem Vorzeichen des Historismus
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Dies zeigen v. a. die zahllosen Rezensionen zu der von Carl Schüddekopf herausgegebenen Werkausgabe Heinses, vgl. Leonhard Herrmann (Anm. 14), S. 272–284. Vgl. dazu Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. 2 Bde. München 1980–1989. Vgl. dazu Wilhelm Voßkamp: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik. In: Reinhart Herzog / Reinhart Koselleck (Anm. 41), S. 493–514, sowie Wilhelm Voßkamp: Einleitung. In: W. V. (Hrsg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken. Stuttgart, Weimar 1993, S. 1–5.
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professionalisierende Literaturgeschichtsschreibung begreift ›Klassik‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert weniger als einen nach ästhetischen Normen konstituierten Kanon, sondern zunehmend als eine nach literaturgeschichtlichen (folglich primär textuellen) Kriterien konstruierten Epoche. Deutlich wird dies auch an der theoretischen Beschreibung des Epochenbegriffs, wie sie Michael Titzmann unternimmt: 63 Ist der Bestand gemeinsamer Merkmale innerhalb einer Gruppe von Texten größer als außerhalb dieser Gruppe, dann werden diese zu einer ›Epoche‹ zusammengefasst – eine differenztheoretische Parallele zur System-Umwelt-Grenze bei Luhmann. Unter Rückgriff auf das Autopoiesis-Konzept geht Titzmann von der Notwendigkeit aus, diese Epochen »nur aufgrund von systemeigenen Merkmalen« der jeweiligen Teilgeschichte zu gewinnen und weist Epochen damit eine »relative Autonomie«64 zu. Epochen entstehen, indem auf der Basis eines repräsentativen Textkorpus’ »Regularitäten, die für die bzw. in der Literatur eines Zeitraums gelten«, abstrahiert werden und dann für die kategorisierende Einordnung weiterer Texte genutzt werden. Dies verweist auf einen zentralen Unterschied zwischen ›Kanon‹ und ›Epoche‹, die anhand der ihnen jeweils zu Grunde liegende Wertungshandlung zu unterscheiden sind: Sind Epochen – zumindest ihrer Theorie nach – Gegenstände eines analytischen Urteils in Bezug auf ein Kriterienraster, das allein aus dem Gegenstand selbst herzuleiten ist,65 so basieren Kanones immer auch auf Axiomen, die von außen an einen Text herangetragen werden – soziale Bedürfnisse nach Identitätsstiftung stehen dabei im Hintergrund und manifestieren sich zum Beispiel in Form von religiösen oder moralischen Deutungsmustern, aber auch in politischen vor allem in Bezug auf den Klassiker-Kanon essentiell: nationalpolitischen Vorstellungen. Beide Wertungshandlungen lassen sich in Bezug auf das Phänomen Klassik, das immer Kanon und Epoche zugleich ist, wohl nicht in der Praxis, wohl aber rein systematisch voneinander unterscheiden: Gilt eine Epoche im Sinne Titzmanns als Zeitraum der Dominanz eines durch eine je spezifische Poetik konstituierten Literatursystems, so kann der Klassiker-Kanon als sozial induzierte, kommunikativ erfolgreiche Wertungshandlung in Bezug auf ein solches Literatursystem betrachtet werden. Nicht ein bestimmter Text, sondern eine bestimmte Epoche wird auf diese Weise aufgrund einer bestimmten Bedürfnisstruktur und aufgrund semantischer Merkmale, die dieser Bedürfnisstruktur entsprechen, zu einer ›klassischen‹ und bestimmt unser Bild von ›guter‹ oder ›schlechter‹, von ›wertvoller‹ oder ›weniger wertvoller‹ Literatur mit.
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Vgl. Michael Titzmann: Epoche. In: Klaus Weimar (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 476–480; vgl. Michael Titzmann: Probleme des Epochenbegriffs in der Literaturgeschichtsschreibung. In: Karl Richter / Jörg Schönert (Hrsg.): Klassik und Moderne. Stuttgart 1983, S. 98–131. Michael Titzmann (Anm. 63), S. 477; die folgenden Zitate ebd. Kritisch wäre hier gewiss anzumerken, dass die Annahme eines ausschließlich aus dem Gegenstand selbst hergeleiteten Kriterienrasters eine rein theoretische ist, die die subjektiven Aspekte, wie sie jeder Deutungspraxis zugrunde liegen, nur künstlich ausblenden kann.
Dominic Berlemann
Das soziale Gedächtnis und der Nebencode des Literatursystems am Beispiel von Gert Ledigs Luftkriegsroman Vergeltung
In ihrem Beitrag zum Handbuch der Literaturwissenschaft aus dem Jahr 2007 resümiert Simone Winko, dass zwar »mehrere theoretische Konzeptionen und diverse Studien« hinsichtlich literarischer Kanonisierungsprozesse vorlägen, bemängelt aber auch, der »Gesamtprozess der Kanonbildung« bedürfe »noch immer überzeugender theoretischer Modellierungen«.1 Ich werde im ersten Teil meines Beitrags ein systemtheoretisches Modell literarischer Kommunikation vorstellen, das auf der immanenten Ebene der Codierung des Literatursystems ansetzt und die daraus erwachsenden Implikationen für die Operationsweise des Systemgedächtnisses einbezieht – womit genau der Schlüsselbegriff genannt wäre, bei dem eine systemsoziologische Analyse literarischer Kanonisierungsprozesse beginnen muss.2 Im zweiten Teil soll dann kurz die Erklärungskraft dieses Modells, das bei den sozio-evolutionären Grundlagen der Kanongenese ansetzt und sich eine Integration der verstreut liegenden Erkenntnisse der Kanonforschung zum Ziel setzt, am Beispiel des Luftkriegsromans Vergeltung von Gert Ledig ausgelotet werden.
I. Das gesellschaftsweite Dauerproblem, vor dessen Hintergrund sich die Ausdifferenzierung eines autonomen Sozialsystems Literatur mit der Funktion der Unterhaltung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzieht, sehen Gerhard Plumpe und Niels Werber in ihrem hier zugrunde gelegten Bochumer Modell literarischer Kommunikation in der deutlichen Zunahme freier Zeit.3 Vertreiben kann man sich diese Zeit mit dem Lesen sprachkünstlerischer Werke, die in der Literatur als symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien fungieren. Wie jedes andere Sozialsystem muss auch das Literatursystem dabei einen ultrastabilen Zentralcode etablieren, der geeignet ist, dem gesamten Spektrum literarischer Kommunikation eine unverwechselbare Textur zu geben. Plumpe
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Simone Winko: Textbewertung. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2. Stuttgart 2007, S. 257. Die folgenden Überlegungen greifen zentrale Ergebnisse meiner Dissertation auf. Vgl. Dominic Berlemann: Wertvolle Werke. Reputation im Literatursystem. Bielefeld 2011. Vgl. Gerhard Plumpe / Niels Werber: Literatur ist codierbar. In: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Opladen 1993, S. 9–43; Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 48–58; Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992, S. 61–101.
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und Werber bestimmen in diesem Sinne das Dual interessant/langweilig als Zentralcode moderner Literatur, der insofern asymmetrisch ist, als im ganzen Literatursystem ungeachtet individueller Vorlieben etwa für romantische, realistische, ästhetizistische, avantgardistische oder welche Literaturauffassung auch immer stets die positive Seite dieses Codes als Präferenzwert angestrebt wird. Literarische Werke müssen gezielt Interesse wecken, um erfolgreich unterhalten zu können, während Langeweile unter allen Umständen vermieden werden muss. Zwischentöne sind nicht erlaubt; vielmehr handelt es sich um einen Digitalcode, der nur zwei Wahlmöglichkeiten im Sinne eines strikten Entweder-oder zulässt. Das mag sich beim ersten Lesen als schwere Einschränkung anhören. Tatsächlich eröffnet die Etablierung genau dieses Zentralcodes der Literatur aber erst die Möglichkeit der Ausdifferenzierung durch eine Befreiung von heteronomen Ansprüchen, die noch für die Klassik typisch sind und etwa darauf abzielen, Literatur müsse gleichzeitig glaubhaft, formvollendet und moralisch instruktiv sein, um der Erbauung des Lesers dienen oder seiner Erziehung nützen zu können. Schließlich können auch an sich abstoßende Sujets wie Verbrechen, Armut oder Krieg, aber auch Merkwürdigkeiten wie Außerirdische, Untote oder gläserne Bienen künstlerisch interessant sein, d. h. der Zentralcode verfügt über eine enorme thematische Reichweite, die bis dato verschmähte Stoffe auch jenseits der engen Bezirke des gleichzeitig Schönen, Wahren und Guten endlich literaturfähig werden lässt und sich obendrein gut mit einem breiten Literaturbegriff verträgt. Seine große thematische Reichweite ist indessen nicht der einzige Vorteil dieses Zentralcodes. Eine Studie des Linguisten Wolfgang Sucharowski aus dem Jahr 1979 belegt, dass der Positivwert dieser Leitdifferenz von der Mehrheit der Sprecher in sozialen Situationen gebraucht wird, »in denen man ›irgendwie überrascht‹ sei.«4 Systemtheoretisch gewendet bedeutet dies, dass der Präferenzwert nur dann aktualisiert wird, wenn ein Mindestmaß an Abweichung von bisherigen Ausdrucksmustern und eingeschliffenen Wahrnehmungsweisen zu verzeichnen ist. Damit erweist sich die Unterscheidung interessant/langweilig zugleich als Triebfeder der literarischen Evolution, setzt sie doch die Autoren unter einen gewissen Innovationsdruck, der immer wieder auch zu neuen Formexperimenten und Traditionsbrüchen führt. Gleichzeitig trägt der Zentralcode dazu bei, dass die für eine vollständige Lektüre literarischer Kompaktkommunikationen unabdingbare Dauerfaszination der Leserpsychen auch wirklich herbeigeführt werden kann. Dieser Gedanke spiegelt sich nicht zuletzt im ästhetischen Diskurs wider. Schopenhauer etwa erachtet die »Beimischung des Interessanten« als für die Rezeption von Kunstwerken »notwendig«, denn sie diene während des Prozesses der Dekodierung durch die Leser als »Bindemittel der Aufmerksamkeit« und mache »das Gemüth lenksam«, sodass es »dem Dichter zu allen Theilen seiner Darstellung zu folgen« bereit ist und eine assoziative »Verbindung der Bilder« bewerkstelligt, »durch welche der Dichter uns die Idee zur Erkenntniß bringen will« – mit dem Ergebnis, dass diese Vorstellungs-
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Wolfgang Sucharowski: Interessant. Beschreibungsversuche zum Gebrauch. In: Sprachwissenschaft 4 (1979), S. 370–410, hier S. 370.
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inhalte im Bewusstsein erscheinen »wie eine Schnur, auf welche Perlen gereiht sind«.5 Der Präferenzwert ›interessant‹ trägt somit dafür Sorge, dass das Literatursystem mit einer »gegenüber anderen sozialen Systemen größeren Offenheit für die Komplexität psychischer Systeme«6 ausgestattet ist, die für eine Fortsetzung seiner Autopoiesis nicht zuletzt auch deshalb Vorbedingung ist, weil wir es mit einem äußerst asymmetrischen Kommunikationstypen zu tun haben, bei dem eine Handvoll Autoren einer Unzahl von Lesern gegenübersteht. Allerdings bereitet der Präferenzwert ›interessant‹ auch Probleme. In der vorkantischen Ästhetik wird der »Trieb des Interesses« schon bei Friedrich Justus Riedel als etwas zwar Unverzichtbares, vom »an sich unintereßirte[n] Wohlgefallen«,7 das der Empfindung des Schönen und damit künstlerisch Wertvollen zugrunde liegt, aber zu Trennendes reflektiert, das »unser Herz von der Seite der Sympathie, der Neugierde, des moralischen Gefühls und der Eigenliebe anzugreifen und zu rühren fähig ist«,8 seine Wurzel also eher im Affektiv-Lustvollen findet. Auch Marcus Herz spricht davon, dass die Kunstrezeption nicht zuletzt von einem »gewisse[n] eigennützige[n] Verlangen« gekennzeichnet sei, »dessen Befriedigung« nur dann für möglich gehalten wird, sofern es dem Künstler gelingt, etwas darzustellen, »das durch den näheren Einfluß auf unser Inneres ein Interesse für uns hat.«9 Fast alle bedeutenden Ästhetiken der Frühmoderne akzentuieren die hier anklingende Unentbehrlichkeit des Interessanten für einen erfolgreichen Kunstkonsum und rücken diesen Begriff ebenfalls in den Bereich des Libidinösen, weshalb man der Sexualität den Rang eines symbiotischen Mechanismus für die literarische Kommunikation zuweisen könnte.10 Allerdings verbinden die genannten Theoretiker diesen Gedanken auch stets mit der kulturpessimistischen Befürchtung einer qualitativen Verflachung der literarischen Produktion durch ein Übermaß an Interessantheit, das zu Lasten der Schönheit geht, die aus Sicht der Ästhetik jedoch den absoluten Nullpunkt literarischer Wertschöpfung darstellt. Schiller beispielsweise strebt daher in seiner Dramentheorie einen tragfähigen Kompromiss zwischen Formschönheit und »dem affectionirten Interesse des Stoffs«11 an, dessen Anteil an der Gesamtkomposition er, bei aller Unverzichtbarkeit, so gering wie möglich halten möchte. Auch Schopenhauer mahnt: »Vereinbar mit dem Schönen ist also das Interessante allerdings [...] jedoch möchte wohl der schwächere Grad der Beimischung des Interessanten dem Schönen am dienlichsten befunden werden, und das Schöne ist ja und bleibt der Zweck der
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Arthur Schopenhauer: Ueber das Interessante [1821]. In: A. S.: Der handschriftliche Nachlaß. 3. Bd. Hrsg. von Arthur Hübscher. Frankfurt / M. 1970, S. 61–68, hier S. 67. Christoph Reinfandt: Der Sinn der fiktionalen Wirklichkeiten. Heidelberg 1997, S. 37. Friedrich Justus Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften. Jena 1767, S. 34f. Vgl. Friedrich Justus Riedel (Anm. 7), S. 328. Marcus Herz: Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit [1776]. Berlin 1790, S. 86f. Vgl. Andreas Seidler: Der Reiz der Lektüre. Wielands Don Sylvio und die Autonomisierung der Literatur. Heidelberg 2008, S. 176f. Friedrich Schiller: An Körner [5. 10. 1801]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 31. Bd. Hrsg. von Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 61f., hier S. 61.
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Kunst.«12 Friedrich Schlegel schließlich bricht diesen um 1800 zur Orthodoxie erstarrten Nexus zwischen Schönem und Interessanten zugunsten einer historisierenden Sichtweise auf. Den Unterschied zwischen schöner und interessanter Literatur setzt er dabei konsequent mit der diachronen Differenz zwischen antiker und moderner Dichtung gleich. Allerdings stuft Schlegel diese Entwicklung als evolutionären Rückschritt ein, denn während die vorbildliche Literatur der Antike zielgerichtet nach einem »Maximum von objektiver ästhetischer Vollkommenheit« strebe, das er im Ideal des »höchste[n] Schöne[n]«13 erblickt, müsse die moderne Literatur damit leben, dass es ein »höchste[s] Interessante[s]«14 als ähnlich verbindliche Richtschnur mit eingebauter Qualitätsgarantie nicht gebe. Als Konsequenz ende daher die zeitgenössische interessante Literatur in einer »chaotische[n] Anarchie«,15 die von ständiger Überbietung miteinander im Clinch liegender Konkurrenten geprägt sei und sie auf den Status eines »ästhetischen Kramladens«16 habe herabsinken lassen, dessen Hauptzweck in der Stillung des »unersättlichen Durst[es]«17 des Lesepublikums bestehe. Dieses greife ohnehin lediglich aus Furcht »vor dem Nichts in [seinem] Innern«, also nur noch zum bloßen »Zeitvertreib«18 zum Buche, den es sich vor allem vom »Pikanten«, »Frappanten« und »Choquante[n]«19 verspreche, wobei das Letztgenannte, »sei es abenteuerlich, ekelhaft oder grässlich, die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks«20 verkörpere. Nimmt man diese aus der Ästhetik stammenden Betrachtungen ernst, führt also kein Weg am Zentralcode interessant/langweilig vorbei. Allerdings verhält es sich keineswegs so, dass der als Attraktor dienende Präferenzwert automatisch auch einen hohen künstlerischen Wert verbürgt – eher im Gegenteil, gilt er doch in seiner Empfänglichkeit für das Affektive und etwas Anrüchige als beträchtliches evolutionäres Risiko. Ein weiterer Blick in Sucharowskis Studie macht indessen deutlich, dass dieser Zentralcode ohnehin kaum dazu geeignet ist, über Werte mit Kriterien seines richtigen Aufrufs versorgt zu werden. Sucharowskis Analyse von zwölf Wörterbüchern der Jahre 1840 bis 1977 beweist nämlich, dass mit Begriffen wie ›fesselnd‹, ›anziehend‹ und ›anregend‹ vornehmlich Synonyme für das Lemma ›interessant‹ angegeben werden, die tatsächlich, ganz im Sinne Schopenhauers, primär die intentionale Gerichtetheit psychischer Systeme im Auge haben, während eindeutig wertende Synonyme wie ›bedeutend‹, ›wichtig‹ und
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Vgl. Arthur Schopenhauer (Anm. 5), S. 67. Friedrich Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie [1795/96]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 1. Eingel. und hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien 1979, S. 217–367, hier S. 253. Vgl. ebd., S. 253. Ebd., S. 270. Ebd., S. 222. Ebd., S. 222. Friedrich Schlegel: Briefe zur Beförderung der Humanität [1796]. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Bd. 2. Hrsg. und eingel. von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien 1967, S. 47–54, hier S. 50. Vgl. Friedrich Schlegel (Anm. 13), S. 254. Ebd., S. 254.
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›beachtenswert‹ nur als Randerscheinung firmieren.21 Diese weitgehende Wertungsabstinenz des Codewertes ›interessant‹, die auch von der Kanon- und Wertungsforschung bestätigt wird,22 stellt indessen einen Luxus dar, den sich das Literatursystem angesichts ständig zunehmender Informationsvolumina auf hauseigenem Territorium nicht wirklich leisten kann. Der enorme thematische Spielraum des Zentralcodes, das weitgehende Fehlen zugangsbeschränkender Organisationssysteme sowie die Ausbreitung der Lesefähigkeit vor dem Hintergrund ständig optimierter Reproduktionstechnologien führen nämlich ab ca. 1750 zu einem Bedingungsfeld, das die Produktion und Konsumption literarischer Werke im großen Stil überhaupt erst ermöglicht. Die so entstandene Lage, die in ähnlicher Ausprägung auch im Wissenschaftssystem zu verzeichnen ist, das allerdings mit der Universität zumindest über eine die Inklusion/Exklusion von Personen regelnde und Bildungstitel verleihende Institution verfügt, zieht eine massive Überforderung einzelner Leser nach sich, die jetzt »nur noch einen Bruchteil der neu erscheinenden Literatur erfassen und verarbeiten«23 können. Diese Vorgänge sind den zeitgenössischen Beobachtern des Literaturbetriebs natürlich nicht entgangen. So gibt es zahlreiche Belege für eine intensive Auseinandersetzung mit den nunmehr permanent anfallenden Sinnüberschüssen, in deren Rahmen häufig eine auf das Paradigma der Naturkatastrophe rekurrierende Kollektivsymbolik aktiviert wird – etwa wenn Friedrich Nicolai sich in der Allgemeinen deutschen Bibliothek beklagt, dass »bald wieder eine Fluth von neuen Büchern drohet«24 oder wenn F. Schlegel darauf aufmerksam macht, dass der moderne Leser »seit Erfindung der Buchdruckerei [...] durch eine ungeheure Masse ganz schlechter, und schlechthin untauglicher Schriften [...] verschwemmt, erdrückt, verwirrt und missleitet«25 werde. Um mit den riesigen Datenmengen fertig werden zu können, benötigt das Literatursystem also einen zusätzlichen Mechanismus, der schärfer als der Zentralcode selektiert und dem System gestattet, nach Maßgabe primär innerliterarischer Kriterien relevante von irrelevanten Informationen zu trennen, um auf diesem Wege die verlorengegangene Orientierung wiederherzustellen und einen information overflow zu verhindern. Diese Aufgabe fällt der hochselektiven Unterscheidung (literarisch) wertvoll/wertlos zu, die dem Zentralcode nachgeschaltet ist und gewissermaßen den Wertungsaspekt des obsolet gewordenen Begriffs der Schönheit in die funktionale Moderne hinüberrettet, ohne jedoch dessen Neigung zur Übercodierung durch literaturfremde Medien wie etwa Wahrheit und Moral als alteuropäische Hypothek mitzuschleppen. Auf diesem Wege werden mit höchsten
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Vgl. Wolfgang Sucharowski (Anm. 4), S. 388. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn 1996, S. 20. Niklas Luhmann: Die Selbststeuerung der Wissenschaft [1968]. In: N. L.: Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme. Wiesbaden 2005, S. 291–316, hier S. 296. Friedrich Nicolai: Vorrede zu dem zweyten Stük des Achten Bandes [1767]. In: F. N.: Sämtliche Werke – Briefe – Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. 4. Bd. Hrsg. von P. M. Mitchell u. a. Schöneiche bei Berlin 1991, S. 424–436, hier S. 424. Friedrich Schlegel: Lessings Gedanken und Meinungen [1804]. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Bd. 3. Hrsg. und eingel. von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien 1975, S. 46– 102, hier S. 53.
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Freiheitsgraden ausgestattete Wertungsakte ins literarische Procedere eingeführt, mit deren Hilfe dann bestimmt werden kann, welche Werke Beachtung finden sollen – und welche nicht. Hierbei bleibt das Literatursystem allerdings auf eine Programmierung durch entsprechende Wertungskriterien inhaltlicher, formalästhetischer, wirkungsästhetischer oder auch relationaler Art angewiesen, da der Nebencode selbst an diesem Punkt ebenfalls keine inhaltlichen Vorgaben macht, die über eine Dominantsetzung genuin literarischer Maßstäbe hinausgehen. Wird gegen diese Auflage verstoßen, haben wir es nicht mehr mit literarischer Kommunikation zu tun, sondern z. B. mit pädagogischen oder wissenschaftlichen Lektüren, die nicht unmittelbar auf die Formierung des sozialen Gedächtnisses der Literatur durchschlagen, wohl aber an der Bildung des ›bildungsbürgerlichen‹ bzw. ›akademischen‹ Kanons partizipieren. Inwiefern die Zweitcodierung an der Genese des Systemgedächtnisses beteiligt ist und dabei Reputation als Sekundärmedium literarischer Kommunikation hervorzubringen hilft, lässt sich am besten nachvollziehen, indem man das Zusammenspiel beider Codes als Zirkelstruktur modelliert, die vom Literatursystem im Rahmen des Selbstvollzugs immer wieder aufs Neue operativ in Anspruch genommen werden kann. Als Ausgangspunkt dieser mit Rückkopplungseffekt ausgestatteten Kreisstruktur wählen wir das neu veröffentlichte Werk eines unbekannten Autoren, das gleich mehrere Hürden überwinden muss, wenn es dauerhaft erfolgreich sein und nicht als Eintagsfliege enden will. Zunächst einmal muss diese Neuveröffentlichung, die evolutionär als Variation in Erscheinung tritt, die Leser spontan einnehmen, um sie überhaupt zu psychischem Dabeibleiben und vollständiger Lektüre animieren zu können. Dabei kommen die verschiedenartigsten Mittel zum Einsatz – man denke z. B. an die Wahl spannender Sujets, exotischer Schauplätze oder außergewöhnlicher Figuren. Wird schon die eher heuristisch geprägte Erstrezeption jedoch als langweilig empfunden, beginnt das Leserbewusstsein abzuschweifen und es kommt früher oder später zum Abbruch der gerade erst eingeleiteten Kommunikationssequenz. Auch wenn eine gewisser Teil des binnensystemischen Informationsberges schon an dieser Stelle abgetragen wird, bleibt das Ausgangsproblem der Informationsüberflutung hiervon weitgehend unberührt, denn mit Interesse gelesen oder gar lesewütig verschlungen werden erfahrungsgemäß zahlreiche Publikationen unterschiedlichster Provenienz – Krimis und Science-Fiction ebenso wie Thomas Mann oder James Joyce. Für nachhaltigen Erfolg jenseits des bloß Populären reicht es aber nicht, wenn ein Werk mit seinen spezifischen Form-Selektionen für eine Weile die Aufmerksamkeit vieler Leser zu fesseln weiß. Eine solche Streuung in die Breite bei relativer zeitlicher Nähe zur Erstveröffentlichung bedeutet nämlich lediglich, dass das Werk vorrübergehend im nicht-reflexiven, evolutionär weitgehend folgenlosen Kurzzeitgedächtnis residiert und stellt noch keineswegs eine Aufnahme in den Traditionsbestand der zu beachtenden Werke dar. An dieser Stelle tritt nun der Nebencode als zweite Selektionsbarriere auf den Plan, um mittels konkreter Wertungsakte unter Verwendung zentraler axiologischer Differenzierungen wie etwa originell/epigonal, geschmackvoll/geschmacklos, stimmig/unstimmig etc. begehbare Schneisen in den wüst wuchernden Bücherdschungel zu schlagen. Am intensivsten genutzt wird der Nebencode von der Literaturkritik, aber auch Literaturpreise, die Aufnahme in Anthologien oder in die meist theorielosen Literaturgeschichten
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sowie die wertende Interaktion am Stammtisch greifen auf ihn zurück und gehören damit allesamt zur literarischen Kommunikation. Nicht jedes den Codewert ›interessant‹ auslösende Werk gerät jedoch als bereits erfolgreich angelaufene Operation automatisch in den Sucher der Literaturkritik. Die große Mehrheit wird vielmehr gar nicht weiter von den Rezensenten beachtet, sodass der Nebencode meist überhaupt nicht zum Einsatz kommt. Auch solchermaßen behandelte Werke, die immerhin die Unterhaltungsfunktion erfüllen und sich auch jenseits der Systemgrenze ökonomisch gut verwerten lassen, geraten bald in Vergessenheit, da keinerlei Aufmerksamkeit auf sie gelenkt wird und daher auch kaum jemand von ihnen mehr wirklich Notiz nimmt, sobald die erste Rezeptionswelle abgeflaut ist. Einer der großen Vorteile dieser »weichen«,26 wenig konfliktträchtigen Form von Exklusion besteht darin, dass sie hochwirksam ist, ohne durch zusätzliche Informationen nennenswert das Ausgangsproblem weiter zu verschärfen. Nichtsdestotrotz genügt das Übergehen einer Vielzahl von Werken alleine ebenso wenig, um den literaturinternen Selektionsdruck zu bewältigen. Diese Art der Weiterverarbeitung von Sinnüberschüssen kann schließlich nur durch Verschweigen verdammen und ist damit zwar durchaus bis zu einem gewissen Grad interpretierbar – z. B. als unabsichtliches Übersehen oder bewusstes Auslassen – sich über ein neues Werk auszuschweigen bleibt jedoch insgesamt viel zu undifferenziert, um der Selbstreflexion des Literatursystems ernsthafte Impulse geben zu können. Deshalb wird diese klammheimliche Spielart der Exklusion durch eine explizite Wertung im Rahmen retroaktiver Lektüre ergänzt, die als Kontrollinstanz einen Teil der mit Erfolg begonnenen Operationen auf ihre Konsistenz hin überprüft, indem sie die schon als interessant markierten Kommunikationsofferten mit bereits bewährten Werken vergleicht, um über die Zweitcodierung eventuell Widerstand gegen Neues, allzu Irritierendes leisten zu können. Damit Wertungsakte routiniert ablaufen können, bildet das Literatursystem im Laufe der Zeit eine eigene literaturkritische Semantik aus, die das unter Qualitätsgesichtspunkten gewonnene fragmentarische Wissen der Literatur um sich selbst konserviert und redundante Schemata bereit hält, die unter Verwendung der ihnen eingeschriebenen Bifurkation »konform/abweichend«27 die Möglichkeit eröffnen, »Varietät registrieren und bearbeiten«28 zu können. Dabei dienen diese von vielen Widersprüchen gekennzeichneten Schemata, deren Mehrwert vor allem in ihrer Wiederverwendbarkeit in unterschiedlichsten Wertungssituationen liegt, als Rohstoff für den Aufbau sozialer Erwartungsstrukturen normativer oder kognitiver Art, die dann miteinander um die ›richtige‹ Programmierung der Zweitcodierung konkurrieren. Gelingt es einem Werk nicht, eine größere Anzahl zustimmender Besprechungen auf sich zu ziehen, was vor allem vom gerade praktizierten Erwartungsstil, d. h. von der momentanen, wo auch immer herrührenden Präferenz für Konformität oder Abweichung abhängt, ist allerdings auch hier
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Rudolf Stichweh: Zum Verhältnis von Differenzierungstheorie und Ungleichheitsforschung: Am Beispiel der Systemtheorie der Exklusion. In: Thomas Schwinn (Hrsg.): Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung. Frankfurt / M. 2004, S. 353– 370, hier S. 355. Niklas Luhmann: Zeit und Gedächtnis. In: Soziale Systeme 2/2 (1996), S. 307–331, hier S. 312. Vgl. Niklas Luhmann (Anm. 27), S. 312.
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damit zu rechnen, dass das Werk bald vergessen wird. Wird dagegen mehrheitlich der positive Präferenzwert des Nebencodes aufgerufen, regt das tendenziell weitere Leser zur Reimprägnation des betreffenden Werkes an. Damit erreicht der Zirkel wieder seinen Ausgangspunkt, von dem aus er erneut durchlaufen werden kann. Kommt es im Folgenden nun immer wieder dazu, dass ein Werk beide Selektionsinstanzen des Literatursystems, also den Haupt- wie den Nebencode überwindet, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass – allmählich oder auch plötzlich – eine relativ beständige, sich selbst verstärkende Kreisstruktur in Gestalt einer nach oben weisenden Spirale entstehen kann, in deren fortlaufendem Vollzug der Autor des Werkes schrittweise personal zurechenbare Reputation aufbauen kann, die dann eine »Vereinfachung der Orientierung, insbesondere in der Selektion dessen, was man zur Kenntnis nehmen muss«,29 ermöglicht. Man weiß nun, welchen Autoren man, wie Luhmann es in einer stark an Bourdieus Kapitaltheorie erinnernden Diktion ausdrückt, einen »Kredit gewähren«30 bzw. einen Vertrauensvorschuss entgegenbringen kann und von welchen Autoren mit großer Sicherheit werkförmige Kompaktkommunikationen zu erwarten sind, die niveauvolle Unterhaltung versprechen und sich aller Voraussicht nach nicht als Fehlinvestition kostbarer Freizeitkontingente entpuppen. Mit der Herausbildung eines positive Wertungsakte bündelnden Trends erreicht die einstige Neuveröffentlichung evolutionstheoretisch das Stadium der Stabilisierung. Gleichzeitig erweist sich der Nebencode damit als Analogcode, der im Gegensatz zur digitalen Leitdifferenz Zwischenabstufungen zulässt und eine Akkumulationslogik aufweist, die jederzeit eine graduelle Zu- bzw. Abnahme des Mediums der Reputation sowie den Aufbau von »Vertrauen in eine erheblich verkürzte Kommunikation«31 gestattet und als schnell erkennbares Symptom für die Leistungsfähigkeit eines Autoren erheblichen Einfluss auf die Annahmewahrscheinlichkeit literarischer Kommunikationsofferten ausübt. Solange dieser von den Steuerungsabsichten individueller Akteure weitgehend unabhängige Kreislauf erhalten bleibt, kann das betreffende Werk für sich dann auch einen Platz im Gedächtnis des Literatursystems reklamieren, mit dem Ergebnis der Kanonisierung des Werkes. Zwar verfügt ein einmal in Gang gesetzter Kreislauf über ein gewisses Trägheitsmoment, prinzipiell kann er aber jederzeit wieder durchbrochen werden, einmal brachliegend aber auch wiederbelebt werden, indem Modifizierungen an der Programmierung des Haupt- oder Nebencodes vollzogen werden, die das Werk mit zunächst gescheiterten, dann aber weithin akzeptierten, oder aber völlig neuen ästhetischen Normen und Wertungsmustern konfrontieren. Da solche Modifi kationen stets den Umbau von Erwartungserwartungen voraussetzen, lässt sich sowohl das Umkippen als auch das Wiedererstarken von Kreisstrukturen als Lernprozess auffassen, der entweder in eine De- oder eine Rekanonisierung mündet. Auf der Makroebene konstituiert sich das Systemgedächtnis der Literatur als Phänomen der invisible hand also selbst stets aufs Neue im rekursiven Netzwerk unzähliger parallellaufender Einzelselektionen, die auf
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Vgl. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt / M. 1990, S. 249. Vgl. Niklas Luhmann (Anm. 29), S. 245. Ebd., S. 354.
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der Mikroebene vollzogen werden und im Konzert ein »laufende[s] Reaktualisieren«32 der Gedächtnisinhalte besorgen. Das Systemgedächtnis fällt sozusagen »als Nebenprodukt [...] jeder Operation des Systems« an und basiert auf einer »nicht intendierbare[n] Zweitauswertung dessen, was ohnehin als Operation durchgeführt wird.«33 Sein Inhalt lässt sich dabei mit der Anzahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade im Stadium der Stabilität befindlichen Werk-Kreisläufe gleichsetzen, die sich in puncto Lebensdauer sowie in der Anzahl der pro Zeiteinheit absolvierten Selbstvollzüge, die dem systeminternen Verbreitungsgrad des Werkes entsprechen, natürlich erheblich voneinander unterscheiden können. Als Faustformel lässt sich daraus ableiten, dass der Grad der Kanonizität eines Werkes um so höher ist, je länger die zugrunde liegende Kreisstruktur schon besteht (Kriterium der Dauerhaftigkeit) und je häufiger sie bereits durchlaufen wurde (Kriterium der Rezeptionsintensität, die sich etwa an der Anzahl literaturkritischer Besprechungen ablesen lässt). Neben diese immanenten Kanon-Kriterien tritt noch das polykontexturale Kriterium systemübergreifender Resonanzfähigkeit. Gemeint ist damit der kommunikative Widerhall, den ein Werk in den sozialsystemischen Umwelten der Literatur gegebenenfalls auslöst. Zwar gilt das grundsätzlich für alle Funktionssysteme der Gesellschaft, besondere Bedeutung für die Gedächtnisbildung der Literatur darf man jedoch den Systemen der Wissenschaft, der Erziehung sowie dem Wirtschaftssystem attestieren. Letzteres ist insofern unverzichtbar, als es die technische Infrastruktur zur Herstellung und zum Vertrieb von Büchern oder anderen Trägermedien bereitstellt und insofern die materielle Grundlage für sämtliche Lektüren liefert, die ohne eine Präsenz der Werke am Buchmarkt nicht möglich wären (Kriterium der Publizität). Wissenschaftliche und pädagogische Resonanzen auf ein Werk sind insofern bedeutsam, als sie das betreffende Werk im Gespräch halten und eventuell in genuin literarische Lektüren umschlagen – etwa wenn ein Schüler den von den Zentralabiturvorgaben diktierten Text plötzlich nicht mehr nur als langweiligen Unterrichtsgegenstand, sondern auch als interessantes literarisches Werk begreift. Was in den Kanon-Debatten als ›bildungsbürgerlicher‹, ›akademischer‹ oder auch ›kommerzieller Kanon‹ ausgeflaggt wird, gehört aber nicht direkt in unser Modell rein literarischer Gedächtnisbildung, sondern in die Bildungsforschung, Wissenschaftssoziologie bzw. Buchmarktforschung – Disziplinen, die mit anderen Systemreferenzen arbeiten und klären müssten, aus welchen Gründen bestimmte Texte es schaffen, sich dauerhaft in den jeweiligen Systemgedächtnissen einzunisten, auch wenn sie vielleicht längst aus dem literarischen Gedächtnis herausgefallen sind. Die in anderen Systemkontexten unter ganz anderen Vorzeichen regelmäßig wiederverwendeten Texte können aber zumindest von außen her bereits bestehende Kreisläufe nach dem Prinzip der Überdeterminiertheit stützen, neue Kreisstrukturen mitinitiieren oder schon existierende durchbrechen helfen. Während die immanenten Kriterien der Bestimmung von Kanonizität daher als unumstößliche Notwendigkeitsbedingungen aufzufassen sind, besitzt das intersystemische Kriterium der Resonanzfähigkeit, vom Sonderfall des Krite-
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Vgl. Niklas Luhmann (Anm. 27), S. 312. Ebd., S. 312.
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riums der Buchmarktpräsenz einmal abgesehen, einen lediglich fakultativen Charakter und kann mal als beschleunigender Faktor (Akzelerator), mal als abbremsender Faktor (Dezelerator) oder auch als Gleichgewichtsfaktor (Stabilisator) auf die innerliterarische Dynamik abfärben. Die Gesamtkapazität des Systemgedächtnisses steht dabei unter den verbreitungsmedialen Bedingungen der Moderne in einem proportionalen Verhältnis zur Anzahl der Lesefähigen, weitet sich also im Zuge erfolgreicher Alphabetisierungskampagnen beträchtlich aus. Der vorgefundene Gedächtnisinhalt, sprich die Gesamtsumme der gerade erinnerten Werke, dient dabei Autoren wie Lesern als gemeinsamer, Epochen übergreifender Bezugspunkt jenseits persönlicher Steckenpferde. Man könnte auch sagen, dass sich das Systemgedächtnis aus Sicht der Gegenwart als Raum bereits realisierter, durch regelmäßiges Aufrufen der Positivwerte beider Codes kommunikativ bewährter und noch aktueller Möglichkeiten darstellt, von dem aus die Zukunft gestaltet werden kann – etwa indem die Autoren den Traditionsbestand als Abhebungskontext oder als Vorlage zur Nachahmung bzw. Verfeinerung verwenden, was weitgehend Bourdieus Klassifizierung literarischer Produzenten in ›Orthodoxe‹ und ›Häretiker‹ entspricht. Der vorgegebene Gedächtnisinhalt sorgt mithin für eine »Bestimmung des Variationsrahmens der Zukunft«34 und instruiert als sich allmählich wandelnde Projektionsfläche den Fortgang der literarischen Evolution. Aber auch die retroaktiven Leser, deren Leistungen für das vorliegende Modell von entscheidender Bedeutung sind, nutzen diesen überindividuell hervorgebrachten »Kompakteindruck«,35 den sie sich als selbstverständliches Kanon-Wissen (zumindest in groben Zügen) wechselseitig unterstellen und vor dessen Hintergrund sie neue Werke als Innovation oder Imitation verbuchen können, ohne jedes Mal den tatsächlichen Wert der solchermaßen vorgetesteten Werke aufs Neue konkret aushandeln zu müssen. Intern sind die Gedächtnisinhalte entlang der Sinndimensionen differenziert. Die bereits erwähnte personale Zurechenbarkeit des Sekundärmediums der Reputation verweist auf die Sozialdimension und verdeutlicht, dass das Systemgedächtnis in hohem Maße über Autorennamen organisiert wird. Es imprägniert die instantan erinnerte Sinnmenge jedoch nicht nur mit personaler Reputation und einem zeitlichen Index, sondern es staffelt den zur Wiederverwendung gedachten Sinn auch unter thematischen Gesichtspunkten, die auf der Ebene der Selbstreferenz die genrespezifische Weise der Kopplung literarischer Elemente, auf der Ebene der Fremdreferenz die Auswahl bestimmter Stoffe umfassen, die für Formgewinne im Medium des Werks herangezogen werden. Eingeschliffene Gattungsbezeichnungen wie ›Kriminalroman‹, ›Liebesgedicht‹ oder ›Historiendrama‹ bezeugen diesen in der Sachdimension vollzogenen Vorgang, und auch sie verbessern als fester Bestandteil literarischer Semantik die Übersichtlichkeit, vor allem im Hinblick auf die gewaltige thematische Reichweite des Zentralcodes, indem sie bestimmte Gedächtnisareale auf alternative Weise zugänglich machen. Gerade im Falle eines Kommunikationstypen, der wie die Literatur »keine spezifische, nur ihr
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Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt / M. 1997, S. 588. Vgl. Niklas Luhmann (Anm. 34), S. 579.
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eigene materiale, thematische Grundlage«36 besitzt, reicht es nicht, sich nur an Namen und Epochen zu halten, da hier bezüglich der Stoffwahl generell Unsicherheit besteht. Um dem Abhilfe zu verschaffen, kann man sich entsprechend auf besonders attraktiv erscheinende Genres und Sujets kaprizieren und schauen, welche Kommunikationsofferten die Gedächtnistradition diesbezüglich zur Disposition stellt. Dabei kristallisieren sich bestimmte Themen als Dauerbrenner heraus, z. B. ›Liebe‹, ›Krieg‹ oder ›Verbrechen‹ – im Kontrast zu Modethemen wie ›Globalisierung‹, ›Umweltschutz‹ oder ›Terrorismus‹, die noch keinen Klassikerstatus erreicht haben. Bewährt sich etwa das Thema ›Umweltschutz‹ über längere Zeiträume als interessantes, wertschöpfendes Sujet, kann sich ein eigenes Gedächtnisreservat mit begrenzter Aufnahmefähigkeit formieren, dessen Existenz sich semantisch an der Durchsetzung passender Gattungsbezeichnungen wie dem der ›Ökotopie‹ ablesen ließe. Durch diese komplementäre Form der Indexierung der erinnerten Sinnmenge verhindert das Systemgedächtnis, dass die Vergrößerung der eigenen Kapazität neue, im Gedächtnis selbst entstehende Orientierungsprobleme aufwirft. Je nach Themenwahl ergeben sich dabei punktuelle Affinitäten für kommunikative Reize aus benachbarten Sozialsystemen, die auf der Programmebene dann mit den per se Priorität genießenden innerliterarischen Normen und Werten abgeglichen werden müssen. Kanon-Pluralität ergibt sich nach unserem Modell also nicht primär, wie in anderen Kanon-Modellen, aus der Vielfalt beteiligter Institutionen und Trägergruppen, deren Mitglieder das psychische Bedürfnis nach Identifikation teilen, sondern sie entsteht auf der kommunikativen Ebene aus dem Nebeneinander sozialer Funktionssysteme mit jeweils eigenen Gedächtnissen, die bei Zunahme ihrer Memorierungsfähigkeit, wie im Fall der Literatur, obendrein neue sachdimensionale Formen der Binnendifferenzierung ausprägen, um weiterhin hinreichende Übersichtlichkeit gewährleisten zu können. Dass ein Werk, das dauerhaften Erfolg haben will, gleich drei Klippen umschiffen muss –sprich Langeweile, Nichtbeachtung sowie drohende Verrisse – zeigt indessen, worin die Hauptaufgabe des sozialen Gedächtnisses der Literatur mit seiner »massenhaften Verarbeitung von Kleinstvorgängen«37 besteht: nämlich darin, »im laufenden Mitwirken an den Operationen des Systems deren Entschwinden in die Vergangenheit zu befördern, die Spuren zu löschen und die Vergangenheit zu invisibilisieren.«38 Dem Systemgedächtnis geht es also nicht ums Erinnern, sondern ums Vergessen von Informationsüberhängen, die unbehandelt zu einer führungslosen Zerfaserung der literarischen Kommunikation führen würden.
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Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983, S. 30. Vgl. Niklas Luhmann (Anm. 27), S. 307. Ebd., S. 312.
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II. Vergessen wurden auch fast alle Werke der Nachkriegszeit, die an zentraler Stelle das Sujet des Luftkriegs als Medium für Formgewinne verwenden. Der Luftkriegsroman hat sich nicht als Genre durchsetzen können, und wer kennt schon heute noch Titel wie Max Zimmerings Phosphor und Flieder oder Otto Erich Kiesels Die unverzagte Stadt? Durchgehende Präsenz im Systemgedächtnis kann man lediglich Hans Erich Nossacks 1948 publizierter Erzählung Der Untergang attestieren, während Gert Ledigs Vergeltung von 1956 zur Masse der Luftkriegstexte gehört, deren Spuren (zunächst) konsequent gelöscht wurden. Was die zeitgenössische Rezeption und damit das zeitnah zur Erstveröffentlichung intern produzierte Wissen um Ledigs Roman anbetrifft, springt zunächst die hohe Anzahl von Rezensionen ins Auge, die sich mit dem Wert dieses Werkes beschäftigen. Über ein Dutzend Besprechungen lassen sich nachweisen und diese stattliche Zahl, die von keinem anderen Luftkriegstext der Adenauerära erreicht wurde, bezeugt, dass das Werk auf breites Interesse stieß, auch wenn das Sujet des Bombenkriegs nicht übermäßig originell war, reihte es sich doch in eine ganze Serie von Veröffentlichungen ein, die das gleiche Thema behandelten. Selbst konservative Kommentatoren wie Gerhard Schüler oder Wolfgang Schwerbrock, die Ledigs Werk ansonsten wenig abgewinnen konnten, kamen nicht umhin zu konzedieren, dass Vergeltung zumindest abschnittweise »faszinierend«39 sei und auch »eine gewisse Spannung«40 hervorrufe. Die Ursache für diese Kritikerfaszination, die als klares Indiz für die Aktualisierung des Codewerts ›interessant‹ gelten kann, lag in der für Nachkriegsverhältnisse höchst unkonventionellen ästhetischen Konzeption des Werkes. Kaum einem der Rezensenten entging, dass Vergeltung »kein Roman im herkömmlichen Sinne«41 war, sondern auf vielen Gebieten gegen die üblichen Gesetze des Genres verstieß. So vermisste man etwa »jede Entwicklung der Charaktere«42 bzw. eine »Wandlung seiner Gestalten«43 und registrierte verwundert, dass im Roman »kein Handlungsfaden von Kapitel zu Kapitel gesponnen«44 werde. Stattdessen bestehe Vergeltung lediglich »aus einer Folge handlungsmäßig verschachtelter Einzelepisoden«,45 die »gleichberechtigt nebeneinander, wie Bilder in einem Album«46 stünden. Immerhin gestand man Ledig »beachtliche Fähigkeiten als literarischer Cutter und Monteur«47 zu, auch wenn sich seine an den Medien Film und Fotografie ange-
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Gerhard Schüler: Fanatisierte Wahrheit. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 27. 10. 1956. Wolfgang Schwerbrock: Im Stil von Malaparte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 9. 1956. Kurt Schümann: Vergeltung – Mahnung. In: Der Mittag vom 20. 10. 1956. Vgl. ebd. Helmut M. Braem: Stadt im Feuerregen. In: Stuttgarter Zeitung vom 24. 11. 1956. Vgl. Kurt Schümann (Anm. 41). E. H. [unbek. Rezensent]: Hölle aus Phosphor und Eisen. In: Stimme des Friedens. Wochenzeitung der Friedensanhänger Westdeutschlands. Düsseldorf 1956 (3. Septemberwoche). Vgl. Kurt Schümann (Anm. 41). E. R. Dallontano: Gruselkabinett mit Bomben. In: Rheinischer Merkur vom 7. 12. 1956.
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lehnte Erzähltechnik deutlich vom auf strikte Chronologie der Ereignisse, eingehende Figurencharakterisierung und Linearität der Handlungsstränge setzenden mainstream der frühen Luftkriegsliteratur abhob. Mit seiner prononcierten Deviationsästhetik glich Ledigs Werk damit in der literarischen Landschaft der Adenauerzeit einem »Meteor [...] von einem anderen Stern«,48 wie Lothar Müller zutreffend resümierte. Evolutionstheoretisch trat es somit als – potenziell gefährliche – Mutation in Erscheinung, die von bisherigen Mustern abwich und als provozierende Variation der im Systemgedächtnis gerade präsenten Luftkriegstexte nicht ohne Weiteres übergangen werden konnte, zumal Ledig zu diesem Zeitpunkt bereits über eine beträchtliche literarische Reputation verfügte, die noch von seinem erfolgreichen Ostfront-Roman Die Stalinorgel aus dem Vorjahr herrührte. Da Vergeltung also immerhin den Präferenzwert des Zentralcodes aufrief und auch von der Literaturkritik beachtet wurde, kann man durchaus von einer erfolgreich angelaufenen Operation sprechen. Über dieses Stadium kam das Werk allerdings nicht hinaus. Das starke Interesse der literarischen Öffentlichkeit wurde nämlich nicht nur auf Ledigs gewagte Experimentalästhetik mit ihren ständigen Schauplatzwechseln, schnellen Schnitten und ihrer Darstellung simultan ablaufender Ereignisse zurückgeführt, sondern vor allem auf den wohlkalkulierten Einsatz einer künstlerisch angeblich funktionslosen, lediglich die triviale Sensationsgier des Publikums befriedigenden Schreckensästhetik. Besonders heftig waren die Reaktionen dabei auf eine im Roman geschilderte Episode, in der eine junge Frau unter Ausnutzung der besonderen Lage während des Bombenangriffes in einem halb eingestürzten Luftschutzraum von einem deutschen Zivilisten brutal vergewaltigt wird. Das von der Erzählerstimme kommentarlos im camera eye-Stil wiedergegebene Verbrechen werde »widerwärtig minutiös« geschildert und das komme einer »abscheuliche[n] Perversität« gleich, wie E. R. Dallontano entrüstet feststellte, und gerade diese von Ledig ohne Not eingestreute Begebenheit offenbare »doch recht peinlich die Triebfeder seiner Gruselei«,49 die eben nicht auf einer mit artistischer Raffinesse vollzogenen »Mißachtung konventioneller Normen«50 fuße, die man ja in Ledigs avantgardistischer Montagetechnik durchaus hätte erblicken können, sondern vielmehr einem »nicht sehr stubenreine[n] Kitzel«,51 also einem eher schlüpfrigen Interesse am Pornographischen entspringe, das Ledig mit seinem »ohne Unterlaß beschworene[n] Grauen«52 auch noch befriedige. Damit greifen die zeitgenössischen Kritiker genau jene Bedenken auf, die auch schon die Ästhetiker um 1800 gegenüber dem Begriff des Interessanten ins Feld geführt hatten, allen voran F. Schlegels Warnung vor einem Überhandnehmen des ›Choquanten‹ in der modernen Literatur. Von dieser Warte aus war es natürlich nicht mehr schwer, Ledigs deviationsästhetischer Konzeption in ihrer Gesamtheit Wertlosigkeit zu unterstellen. Das Collage-Verfahren etwa wurde als verfehlt eingestuft, da das Werk dadurch jeglichen »erzählerische[n]
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Lothar Müller: Späte Vergeltung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. 10. 1999. Vgl. E. R. Dallontano (Anm. 47). Vgl. Wolfgang Schwerbrock (Anm. 40). Vgl. E. R. Dallontano (Anm. 47). Kay Hoff: Material des Grauens. In: Rheinische Post vom 3. 11. 1956.
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Impetus«53 einbüße, und auch die Handlung überzeugte die offensichtlich dem bürgerlichen Realismus zugeneigten Rezensenten nicht, da sie mit »penetranten Zufällen«54 gespickt und dadurch völlig unglaubwürdig sei, wobei man sich u. a. daran stieß, dass sich der aus einem brennenden US-Bomber abgesprungene Protagonist Strenehen mit dem Fallschirm ausgerechnet am Mast einer Oberleitung verfängt, die wegen eines Bombentreffers im Elektrizitätswerk der Stadt zudem keinen Strom mehr führt. Für literarisch wertlos wurde aber nicht nur Ledigs narrative Leistung erklärt, sondern auch die im Roman zu Tage tretende Wort- und Satzstilistik. Der »gekünstelte Hackstil [mit] grammatisch verkürzten Sätzen«55 beispielsweise stieß ebenso bitter auf wie der »bis auf ein wahres Existenzminimum vereinfacht[e] und verödet[e]«56 Wortschatz, den man als Symptom dafür wertete, dass es Ledig nicht gelungen war, seinem Text eine tiefere Einsicht in die Geschehnisse einzuimpfen, die über die bloße Beschreibung des äußerlich Sichtbaren hinausginge. Dazu passte auch Ledigs Rückgriff auf eine auktoriale Erzählerfigur, die sich fast völlig der Psychologisierung und Kommentierung der Ereignisse enthielt und die Leser sozusagen mit der Luftkriegsapokalypse allein ließ. Diese ein »eindeutig[es]«,57 ja »überdeutlich[es]«58 Bild des Bombenkriegs zeichnende Darstellungsweise empfand man als »realistisch überbetonte Gruselreportage«,59 die eine »dichterisch übersteigerte Wirklichkeit«60 zur Grundlage habe und es mit der »Realistik auf die Spitze« treibe, sodass der Roman nur »ein Abbild [...], aber kein Zeichen«61 der Luftkriegskatastrophe abliefere. Der namentlich unbekannte Kommentator der Badischen Zeitung ging sogar so weit zu behaupten, Ledigs Naturalismus rufe nichts weniger als das Gefühl der »Widerwärtigkeit« hervor, da »zum Kriegschaos im Buche keinerlei Gegengewichte« in Form eines irgendwie »positiv gerichteten metaphysischen Hintergrund[es] und Ausblick[s]« vorhanden seien, worauf man allerdings gerade einmal »zehn Jahre nach diesem rasenden Nihilismus der Tat«62 nicht verzichten könne, auch wenn man sich den unangenehmen Tatsachen durchaus zu stellen bereit sei. Äußerungen wie diese belegen indes, dass die literaturkritische Ablehnung von Vergeltung nicht nur ästhetisch motiviert war, sondern durch externe Impulse sogar noch gesteigert wurde, ohne dass allerdings gegen das Primat der eindeutigen Dominantsetzung innerliterarischer Wertungsmaßstäbe verstoßen und damit die Systemgrenze übertreten worden wäre. Offensichtlich erwarteten die Zeitgenossen nämlich gerade von der Luftkriegsliteratur die Fähigkeit, den immer wieder als »sinnlos«63 und »widersinnig«64 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Vgl. Peter Hornung: Zuviel des Grauens. In: Die Zeit vom 15. 11. 1956. Vgl. Helmut M. Braem (Anm. 43). Ebd. Vgl. Peter Hornung (Anm. 53). Vgl. Kurt Schümann (Anm. 41). Günther Geisler: Moderne Hölle. In: Berliner Morgenpost vom 2. 12. 1956. Volker Kühn: Bekenntnis der jungen Generation. In: Kasseler Post vom 12. 11. 1956. Flr. [unbek. Rezensent]: Frontkämpfe – Bombennächte. In: Badische Zeitung vom 16. 10. 1956. Vgl. Kay Hoff (Anm. 52). Vgl. Flr. (Anm. 60). Vgl. Gerhard Schüler (Anm. 39). Karlheinz Walraf: War die Wirklichkeit wirklich anders? In: Bücherei und Bildung 9 (1957), S. 180.
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beschriebenen Flächenbombardements einen tieferen Sinn abzutrotzen, wohl um das als infernalisch empfundene Geschehen auf diesem Weg zu integrieren und in seiner »Sinnlosigkeit«65 irgendwie beherrschbar zu machen. Dieser Vorwurf wog anscheinend um so schwerer, als der Roman nicht nur ein eigenes klares Deutungsangebot zum Luftkrieg schuldig blieb, sondern bereits bestehende außerliterarische Deutungsmuster, die sich systemtheoretisch als wiederverwertbare Formen »höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn[es]«66 fassen lassen, auch noch konterkarierte – etwa durch eine Desavouierung christlicher Symbole nebst zugehöriger Heilsvorstellungen, die sich in der Nachkriegsliteratur eigentlich einer regen Konjunktur erfreuten. Wir wollen an dieser Stelle abschließend eins dieser zum »Themenvorrat«67 der damaligen Gesellschaft gehörenden Deutungsmuster kurz herausgreifen, dessen Strahlkraft bis ins Literatursystem reichte. Gemeint ist die bis weit in die 1960er Jahre virulente »bundesrepublikanische Meistererzählung des Luftkrieges«,68 die noch eher populärwissenschaftlich fundiert war, jedoch absolute Deutungshoheit für sich in Anspruch nehmen konnte und erst in jüngster Zeit von den Historikern rekonstruiert wird. Ihre Kernelemente bestehen (1) in der Fortschreibung der von den Massenmedien des NS-Staates in die Welt gesetzten Unterscheidung zwischen ritterlicher Luftwaffe und den terroristischen angelsächsischen Air Forces, (2) in der Unterstellung einer absichtsvollen Vernichtung der deutschen Kultur mit dem Fanal Dresden sowie (3) in der Behauptung, der Bombenkrieg habe statt der geplanten Demoralisierung vor allem ein Zusammenrücken der deutschen Bevölkerung bis hin zu einer zumindest vorübergehenden Verwirklichung einer klassenlosen ›Volksgemeinschaft‹ bewirkt.69 Ledigs Werk entsprach allerdings nun gar nicht diesem äußerst populären Interpretationsmuster, das den Nachkriegsdeutschen die willkommene Einnahme einer Opferrolle gestattete. Hier wird der völlig wehrlose, am Fallschirm hängende Sergeant Strenehen von einem Messerschmitt-Jäger mit dem Maschinengewehr beharkt, die Zerstörung hochkultureller Errungenschaften bleibt weitgehend unerwähnt und auch von einer vorbehaltlose Solidarität übenden ›Volksgemeinschaft‹ ist nicht mehr viel, eigentlich gar nichts übriggeblieben. Statt dessen sieht sich der Leser beispielsweise mit einander piesackenden Bunkerinsassen, einem sozialdarwinistische Phrasen dreschenden Arzt mit sadistischen Neigungen sowie zwei Pflegerinnen konfrontiert, die aus reinem Eigennutz eine ihnen anvertraute ältere Dame mit Gehbehinderung eine Kellerflucht hinunterstürzen und so
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André Müller: Ein Aufschrei gegen den Krieg. In: Lausitzer Rundschau vom 8. 12. 1956. Niklas Luhmann: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition [1980]. In: N. L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt / M. 1998, S. 9–72; hier S. 19. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt / M. 1984, S. 224. Dietmar Süß: Erinnerungen an den Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Heft 18/19 (2005), S. 19–26; hier S. 19. Vgl. Bas von Benda-Beckmann: Eine deutsch-deutsche Katastrophe? Deutungsmuster des Bombenkriegs in der ost- und westdeutschen Geschichtswissenschaft. In: Jörg Arnold / Dietmar Süß / Malte Thießen (Hrsg.): Luftkrieg. Erinnerungen in Deutschland und Europa. Göttingen 2009, S. 297–311; hier S. 298.
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Dominic Berlemann
zum Sinnbild der »Selbstzerfleischung der Opfer«70 werden, wie ein Rezensent mit Abscheu bemerkt. Dass Ledigs Roman überdies die in jener Luftkriegs-Meistererzählung ebenfalls gerne gepflegte Mär von der heroischen, durch einen erbarmungslosen Feind nur noch enger zusammengeschweißten deutschen Wehr- und Schicksalsgemeinschaft untergrub, wurde von der Literaturkritik ebenfalls aufmerksam erfasst und im Verbund mit dem Vorwurf des nihilistischen Atheismus zur Aktualisierung des Rejektionswertes des Nebencodes verwendet. So hieß es in der Hannoverschen Allgemeinen: Der Krieg zerschlägt sinnlos das, was lebt. Die Menschen sind in dieser Hölle nur noch zitternde, von Grauen, Angst, Verzweiflung, Gier, Gemeinheit und Boshaftigkeit erfüllte Kreaturen. [...] Es gibt keine Gegenwehr, kein tragisches Trotzdem, das Leben wird liquidiert, es scheint, Gott selbst laufe hier Amok. [...] Selbst in einem solchen Inferno [aber] hat es Menschen gegeben, die ihre Angst bezwangen, sei es im Willen zum Helfen, zur Gegenwehr oder zum bloßen Durchstehen. Ledig kennt solche Menschen nicht. So bleibt sein Buch einseitig, man möchte sagen unvollständig.71
Ferner gehörte die einseitige Betonung der Inklusionsleistungen der propagandistisch imaginierten ›Volksgemeinschaft‹ bei gleichzeitiger Verdrängung ihres rassistisch-eliminatorischen Exklusionscharakters ebenfalls zu den Ritualen der frühen bundesdeutschen Luftkriegshistoriografie. Und auch dieser Gemeinplatz wird von Ledigs Roman unterlaufen, indem er etwa das Schicksal einer Gruppe hungernder osteuropäischer Zwangsarbeiter thematisiert, denen man den Zutritt zu den Luftschutzbunkern verweigert hat, sodass sie den Bombenteppichen zum Opfer fallen. Damit lieferte Ledig also nicht nur eine von gängigen ästhetischen Konventionen abweichende Anti-Erzählung, sondern auch eine Dekonstruktion des damals dominierenden Luftkriegs-Narrativs. Selbstverständlich konnte sich unter diesen Umständen keine stabile Kreisstruktur im oben beschriebenen Sinne entfalten, da es Vergeltung nicht gelang, die zusätzlich zum Zentralcode errichtete Selektionsbarriere mit ihrer ständig mitlaufenden Zweitauswertung interessanter Werke zu passieren. Ledigs Deviationsästhetik und seine inhaltlichen Zumutungen prallten auf ein Literatursystem, das hinsichtlich der Sachdimension des Luftkriegs einen für die deutsche Nachkriegsliteratur typischen, stark normativen Erwartungsstil pflegte, der auf eine gewohnte Muster tradierende Ästhetik setzte und auch inhaltlich jeglichen Ansatz zur Subversion abwehrte – mit dem Ergebnis einer Lernblockade, die das System für eine künstlerische Innovation wie die Ledigs erst einmal blind machte. Entsprechend schnell wurde das Werk einstweilen vergessen, ohne in den übrigen Funktionssystemen nennenswerte Resonanz etwa als probates Mittel zur Friedenserziehung ausgelöst zu haben. Man kann sich allerdings kaum des Eindruckes erwehren, dass der Literaturkritik in diesem Kontext nicht nur die Rolle der Qualitätskontrolle, sondern auch die einer Diskurspolizei zukam, die eitel und mit teils schrillen Tönen über die Einhaltung der ehernen Regeln eines die literarische Rede verknappenden Luftkriegs-Dispositivs wachte, jedoch auch an die Möglichkeit der Verknüpfung des hier vorgestellten Modells mit diskursanalytischen Theoremen denken lässt.
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Vgl. Gunter Geisler (Anm. 58). Vgl. Gerhard Schüler (Anm. 39).
Elisabeth Kampmann
Der Kanonisierungsprozess in den Dimensionen Dauer und Reichweite Ein Beschreibungsmodell mit einem Beispiel aus dem Wilden Westen Ich möchte in meinem Beitrag ein Modell zur Beschreibung von Kanonisierungsprozessen vorstellen. Das Modell lässt sich auf die letzten Jahrzehnte beziehen, in denen in Kanonisierungsprozessen die Aufmerksamkeitssteuerung wichtiger wird und der Ausschluss von Informationen oder gar Zensur weniger bedeutsam werden. Dazu werde ich zunächst die Begrifflichkeiten, den Aufbau und die Reichweite meines Modells vorstellen. Anhand eines Beispiels möchte ich dann verdeutlichen, wie Phänomene der literarischen Kanonisierung mit den Kategorien des Modells beschrieben werden können. Die Ausführungen stellen einen ersten Versuch dar, Begrifflichkeiten, die bei der Beschreibung konkreter Kanonisierungsprozesse entwickelt wurden, so zu fassen, dass sich unterschiedliche Phänomene damit beschreiben lassen. Bei der Wahl des Beispiels, der Kanonisierung Karl Mays, habe ich den Schwerpunkt darauf gelegt, ein breites Spektrum der Möglichkeiten des Modells zu zeigen. Gerade diejenigen Kanonisierungsfaktoren wurden berücksichtigt, die bislang eher nicht für die Beschreibung von Kanonisierungsprozessen herangezogen wurden. Ich habe in Kauf genommen, dass nicht alle wünschenswerten Daten eruierbar waren, so dass die vorgelegten Zahlen durchaus Entwicklungen verdeutlichen können, aber nicht für sich gesehen absolute Aussagen zulassen.
1. Verortung des Modells Bislang sind in der Kanonforschung zwei Arten von Modellen bzw. von Ansätzen vorgestellt worden, die durch Thesen oder Begriffsanordnungen die Voraussetzungen zu einem Modell schaffen, selbst aber kein Modell ausformulieren. Zum einen sind dies Erklärungen, wie es zu Kanonbildung und Kanonisierung kommt, zum anderen Beschreibungen von Kanonbildung und Kanonisierung, die durch die Anordnung von Kanonbegrifflichkeiten als Modell gesehen werden können. Zum ersten Typ der Erklärungen gehören die invisible-hand-These von Simone Winko oder das systemtheoretische Modell von Leonhard Herrmann.1 Zum zweiten Typ der Beschreibungen gehören die Begriffe, die aus der Notwendigkeit entstanden sind, Kanonphänomene in Einzelstudien
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Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible-hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 9–24; Leonhard Herrmann: Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissenschaft. In: Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Köln, Weimar, Wien 2007, S. 21–41.
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adäquat benennen und bewerten zu können. Sie sind u. a. versammelt in Hermann Kortes Kanonglossar in 25 Stichworten.2 Auch wenn Begriffe wie »Gegenkanon« und »Negativkanon« oder »Kernkanon« und »Randkanon« nicht im Kontext eines abgeschlossenen Modells entstanden sind, so weist ihre Beziehung zueinander doch Modellcharakter auf, insofern die Begriffe idealtypisch voneinander abgegrenzt werden können und in einem spezifischen Verhältnis zueinander stehen. Mein Modell dient der Beschreibung von Kanonisierungsprozessen. Anders als etwa die Begriffe »Gegenkanon« und »Negativkanon«, die in Kontrast zu einem legitimen »Kanon« gesetzt werden, beziehen sich die Begriffe des hier vorgestellten Modells auf die letzten Jahrzehnte, d. h., wenn man so will, auf die Postmoderne. Im Blick auf Kanonisierungsprozesse mache ich als Merkmal dieses Untersuchungszeitraums aus, dass eben keine repräsentative, wie Bourdieu es nennt »legitime Kultur« die Kanones prägt, sondern dass die unterschiedlichen, milieu-, generations-, geschlechts- und medienspezifischen Kanones nebeneinander bestehen. Es gibt Literatur für Kinder, Literatur für Frauen, unterschiedliche Genres von Literatur und schließlich die Literatur ohne nähere Spezifizierung, die jedoch in der Verlagspraxis auch für recht geschlossene Zielgruppen positioniert wird. Diese Parzellierung von Kanones hat wiederum zur Folge, dass die Prozesse der Exklusion und Selektion an Bedeutung verlieren und es zu einer zunehmenden Diversifizierung des Kulturangebots kommt: Was in Zeiten der Repräsentativität eines bildungsbürgerlichen Kanons von den programmbestimmenden Kulturträgern in Buchverlag, Theater, Radio oder Fernsehen abgelehnt worden wäre, mag heute seine Zielgruppe im Spartenprogramm – oder, in jüngster Zeit, im Internet – erreichen. Diese Öffnung findet wohlgemerkt nicht nur in Richtung der so genannten Unterhaltungskultur statt. Beispielsweise können über print on demand heute auch Texte veröffentlicht werden, die nur einen kleinen Kreis von Experten interessieren. Wenn jedoch, wie hier behauptet, der Ausschluss des Nicht-Erwählten als vermeintliches Wesensmerkmal der Kanonbildung an Bedeutung verliert, wie lassen sich dann kanonisierte von nicht kanonisierten Texten oder Autoren unterscheiden in den literarischen Kanones der Gegenwart? Angesichts der Öffnung und Diversifizierung des Kulturangebots gewinnt die Aufmerksamkeitssteuerung an Bedeutung: Texte und Autoren, ja Kanones in Listenform selbst, müssen Aufmerksamkeit erhalten und diese länger binden. Diese Aufmerksamkeit muss von Medien erzeugt, registriert oder verstärkt werden, um in der Öffentlichkeit wahrnehmbar zu werden. Die Bedeutung von Aufmerksamkeit als »Währung« im kulturellen Feld wurde zwar verstärkt diskutiert, nachdem sie Georg Franck in seinen Essays Ökonomie der Aufmerksamkeit (1998) und Mentaler Kapitalismus (2005) beschrieben hat.3 Doch Phänomene der Aufmerksamkeitssteuerung sind schon beschrieben worden, weit bevor der Begriff der Aufmerksamkeit selbst Hochkonjunktur in den Feuilletons
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Hermann Korte: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichworten. In: Heinz Ludwig Arnold / H. K. (Anm. 1), S. 25–38. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München 1998; Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005.
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und kulturwissenschaftlichen Studien hatte. Neben der bekannten Differenzierung unterschiedlicher Kapitalien nach Bourdieu, die in der Kategorie des symbolischen Kapitals das Renommee berücksichtigt, möchte ich auf eine Studie von Stephen Hilgartner und Charles L. Bosk aus dem Jahr 1988 hinweisen, die die Aufmerksamkeitskarrieren sozialer Probleme in den »Public Arenas« empirisch untersucht und modellhaft darstellt.4 Interessant ist die in diesem Beitrag eingenommene Perspektive auf Kanones insofern, als – für soziale Probleme – die unterschiedlichen Einflussfaktoren benannt werden, die zu einer Erhöhung der Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit führen. Es geht den Autoren demnach nicht darum, in einem ausgewählten gesellschaftlichen Subfeld Wahrnehmungs- oder Wertungshandlungen zu rekonstruieren, sondern um den Versuch, die Resonanz in der Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen. Der Begriff der Öffentlichkeit ist dort wie auch in meinem Ansatz zunächst nur abstrakt zu umschreiben. Mit ›Öffentlichkeit‹ meine ich hier den erwartbaren Resonanzraum, also eine abstrahierte Kategorie des empirisch messbaren Publikums und damit die Seite der passiven Rezeption. Ich meine damit aber auch deren Reflexion und Repräsentationen, das heißt, in Habermas’ Worten, ein »Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen«.5 Öffentlichkeit ist hier somit ein symbolischer Ort der, idealiter, durch voraussetzungslose Teilnahme gekennzeichnet ist: Er geht über die kommunikative Reichweite von Subkulturen hinaus.6 Anders als in Kanonbegriffen, die die Zensur als unabdingbare Kehrseite der Kanonisierung begreifen, ist in dieser Vorstellung dasjenige, was von Kanonisierungsprozessen ausgeschlossen wird, das schlichtweg nicht Beachtete. Im Folgenden werde ich den Begriff der Öffentlichkeit für eine beispielhafte Fragestellung über die ausgewählten Registrationsmedien spezifizieren. Dies sind Medien, die die diskursive Präsenz literarischer Texte und Autoren in der Öffentlichkeit herstellen, konstatieren oder reflektieren.
2. Beschreibung des Modells Mein Beitrag stellt ein Beschreibungsmodell vor, das Kanonisierungsprozesse auf eine Ebene projiziert, die von den zwei Dimensionen ›Dauer‹ und ›Reichweite‹ bestimmt wird (Abb.1).
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Stephen Hilgartner / Charles L. Bosk: The Rise and Fall of Social Problems: A Public Arena Model. In: American Journal of Sociology 94 (1988), Nr. 1, S. 53–78. »Die Öffentlichkeit lässt sich am ehesten als ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen, also von Meinungen beschreiben; dabei werden die Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert, dass sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten.« (Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt / M. 1992, S. 436.) Zum Problem der Teilhabe an Öffentlichkeit vgl. auch: Alois Hahn: Aufmerksamkeit. In: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hrsg.): Aufmerksamkeiten. München 2001, S. 25–56, hier S. 54.
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Abb. 1: Kanonisierung als Prozess in den Dimensionen Dauer und Reichweite (P: Publizität, E: Etabliertheit, K: Kanonizität)
Dabei sind drei Status Gegenstand der kanonwissenschaftlichen Betrachtung, die sich hinsichtlich der Dauer und Reichweite medialer Aufmerksamkeit unterscheiden: Publizität, Etabliertheit und Kanonizität. Für die Herstellung der Publizität eines Textes oder Autors ist die Dimension der Reichweite entscheidend. Ich spreche von der Publizität eines Textes oder Autors, wenn dieser in vielen Medien besprochen wird und eine breite Öffentlichkeit erreicht. Ein Beispiel ist der Erfolg der Harry Potter-Bände. Die Bücher, Hörbücher und Filme waren für mehrere Jahre in unterschiedlichen Milieus und Generationen sehr beliebt, inzwischen ist jedoch die erste Welle der Begeisterung abgeebbt. Für die Etabliertheit eines Textes oder Autors ist die Dimension der Dauer entscheidend. Texte, die über einen langen Zeitraum tradiert werden und als Bezugpunkte für die Beschreibung oder Bewertung anderer Texte gelten, sind etabliert. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Texte in einem großen oder repräsentativen Leserkreis als wertvoll gelten. Um von der Etabliertheit eines Textes sprechen zu können, muss diese allerdings zu erkennen sein: Texte etwa, die als historisch-kritische Ausgabe ediert oder als »Kultbücher« dauerhaft verehrt und zitiert werden, gelten in diesem Sinne als etabliert. Finden Texte oder Autoren über einen langen Zeitraum in der allgemeinen Öffentlichkeit Beachtung, lässt sich von ihrer Kanonizität sprechen. Dabei ist zu bedenken, dass oft die Texte nicht aufgrund einer Lektüreerfahrung bekannt sind, sondern die Aufmerksamkeit, die sie seit längerem erhalten, erneut Aufmerksamkeit hervorruft. Es ist in der Kanonforschung bereits beschrieben worden, dass selten ein ganzes Werk in der Öffentlichkeit bekannt ist, sondern sein Titel, einzelne Motive oder einzelne Sentenzen oder auch Details aus dem Leben des Autors. Alle drei hier vorgestellten Kategorien lassen sich als Status der Kanonisierung verstehen und unter kanonwissenschaftlicher Perspektive untersuchen, stehen aber nicht in einem linearen Abhängigkeitsverhältnis zueinander: Texte können etabliert sein, ohne je Publizität genossen zu haben, und können darüber kanonisch werden. Breitenwirksame Publikumserfolge können, sofern sie entsprechend rezipiert werden, kanonisch werden,
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ohne dass sie, als etablierte Texte, längere Zeit nur von einer Gruppe wertgeschätzt worden wären. Etablierte Texte wiederum können viele Jahrzehnte etabliert sein, ohne je kanonisiert zu werden. Anders als manche andere kanonwissenschaftliche Untersuchung möchte ich die Kanonizität nicht im Gegensatz zur Publizität sehen und damit diese aus der Betrachtung von Kanonisierungsprozessen ausschließen. Auch will ich Kanonizität nicht mit der Etabliertheit eines Textes gleichsetzen. Das würde meines Erachtens die Gegenwartsphänomene nicht gut beschreiben: Es ist eben nicht mehr so, dass der Geschmack und die Tradition einer Minderheit oder die Urteile der literaturwissenschaftlich geschulten Experten in der Öffentlichkeit als maßgebend angesehen werden. Insofern wäre etwa das Werk von Gellert oder auch George zurzeit als etabliert, aber nicht als kanonisch zu beschreiben. Dahingegen kann z. B. Thomas Mann derzeit als ein kanonischer Autor gesehen werden: Er ist über die biografischen oder jüngeren literarischen Verfilmungen einer großen Öffentlichkeit bekannt geworden. In diesem Sinn ist Kanonizität einerseits immer mit der Popularisierung von Literatur zusammen zu denken. Kanonizität ist andererseits aber auch auf die Tradierung der Literatur angewiesen. Vor dem Durchbruch des Internet geschah dies vor allen Dingen im institutionellen oder professionellen Rahmen, so dass die etablierte und kanonische Literatur weite Überschneidungen mit den Lektürekanones und Expertenkanones aufweist. Wie lässt sich dieses Modell nun in der Praxis fruchtbar machen? Auf der Modellebene sind die Status ›Publizität‹, ›Etabliertheit‹ und ›Kanonizität‹ nur relational bestimmbar. Konkrete Angaben, ab wann ein Text kanonisch ist und nicht nur etabliert, müssen immer mit Rücksicht auf die spezifischen Konstellationen des Untersuchungszeitraums und -gegenstands gemacht werden. Damit bleiben die Status nur dann miteinander vergleichbar, wenn die gleichen Kriterien für sie Geltung haben. Das Modell muss sozusagen kalibriert werden: Um den Popularisierungseffekt von zeitgleich erscheinenden Hörbuchfassungen oder Taschenbuchausgaben eines Textes zu bestimmen, reicht ein Zeitraum von einigen Monaten. Will man die Kanonisierung langfristiger untersuchen, würde man mehrere Jahrzehnte in den Blick nehmen. Schwieriger ist die empirische Festlegung der Reichweite. Je nach Fragestellung kann man sich hier an die medienspezifische Reichweite halten, die der Text über die Buchausgabe oder über die epitextuellen Bezugnahmen in publizistischen Medien erfährt. Die Marktforschung hat hier z. B. die Einheit ›Leser pro Ausgabe‹ etabliert; ein Schlüssel, der sich auf den Bereich der Periodika bezieht, nicht aber die Reichweite von einzelnen Textausgaben empirisch ermittelt. Hier muss man, je nach Datenlage, Absatz oder Auflage eines Titels als Näherungswert verwenden. Um die unterschiedlichen Status ›Publizität‹, ›Etabliertheit‹ und ›Kanonizität‹ in konkreten Fragestellungen bestimmen zu können, muss man also für den Untersuchungszeitraum und -gegenstand spezifische Registrationsmedien auswählen. Das können publizistische Medien sein wie Lexika oder Fachzeitschriften, aber auch Dokumente der Präsenz von Texten wie Theaterspielpläne, Bestsellerlisten, Verlagsprogramme. Ebenso können Multiplikatoren wie einzelne Literaturkritiker oder auch Amazon-Rankings und Literaturpreise als Registrationsmedien herangezogen werden.
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Aus verschiedenen Gründen ist es in den letzten Jahrzehnten unwahrscheinlicher geworden, dass Literatur den Status der Kanonizität im vormaligen Sinne erreicht. Für das literarische Feld gilt bis in die 1960er Jahre, dass Literatur, die in den Massenmedien diskutiert wird, eine enorme öffentliche Aufmerksamkeit erfährt. Angesichts der in den letzten Jahrzehnten eintretenden Geschmacks- und Programmpluralisierung erreichen jedoch auch Informationen aus den Massenmedien nicht mehr zwangsläufig die Massen. So wird für die literarisch interessierte Öffentlichkeit zunehmend die Frage bedeutsam, ob ein Registrationsmedium den eigenen Geschmack abzubilden vermag. Die Urteile der vormals ›maßgeblichen‹ Literaturkritiker werden heute gegebenenfalls in ihrer Berechtigung nicht angezweifelt, aber dennoch von vielen Lesern nicht als Spiegel oder Vorbild für den eigenen literarischen Geschmack akzeptiert. Schließlich kann ein Lob der FAZ auch verschrecken, eine Empfehlung von Elke Heidenreich misstrauisch machen. Im Internet bildet sich eine Kommentar- und Empfehlungskultur heraus, im Zuge derer literarische Wertungen abseits der etablierten Feuilletons veröffentlicht werden. Dazu kommt, dass gerade in der Jugend, in der in vorigen Generationen die Begeisterung für Literatur hervorgerufen wurde, heute häufig eine ›altersgemäße‹ Literatur zur Verfügung steht. Auch die Entwicklung, dass Literatur in der Alltagskommunikation oft nur dann einen Bezugspunkt darstellt, wenn sie Publizität genießt, macht es immer unwahrscheinlicher, dass literarische Neuerscheinungen den Status der Kanonizität erreichen. »Das Kunstwerk«, so heißt es in dem Artikel Öffentlichkeit / Publikum in den Ästhetischen Grundbegriffen, wird durch die Populärkultur im allgemeinen ersetzt, die nun zum Mittelpunkt der kritischen Aufmerksamkeit avanciert, während zugleich Öffentlichkeit selbst nicht länger als homogen und einheitlich, sondern als Vielzahl von Mikroöffentlichkeiten verstanden wird, von denen eine jede die Rezeption des Kunstwerks den eigenen Bedürfnissen anpaßt.7
Ich möchte nun anhand eines Beispiels aufzeigen, wie die Begrifflichkeit, die ich vorgestellt habe, ergänzend zu bisherigen Kategorien der Kanonforschung genutzt werden kann.
3. Das Beispiel Karl May Das literarische Phänomen Karl May kann man zunächst mit den Kategorien des Negativkanons und des Gegenkanons beschreiben. Mays Abenteuerromane waren Bestseller, wurden aber von den meinungsführenden bürgerlichen Medien entweder nicht ernst genommen oder sogar explizit abgelehnt. May war demzufolge lange Zeit ein Autor des Negativkanons.
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Karen J. Kenkel / Russell A. Berman / Arthur Strum: Art. Öffentlichkeit / Publikum. In: Karlheinz Barck u. a. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart, Weimar 2002, S. 583–637, hier S. 637.
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In den 1960er Jahren jedoch erfährt das Werk und Phänomen Karl May einen Boom und wird Teil einer sich von der Hochkultur nun selbstbewusst abgrenzenden Jugendkultur: Zu den erfolgreichen Verfilmungen seit 1962 tritt im Laufe der 1960er Jahre die Vermarktung der Karl-May-Figuren hinzu: Winnetou ziert Strandlaken, Schokoladenverpackungen und, als Bravo-Starschnitt, Jugendzimmer. Die Karl May-Euphorie der 1960er Jahre lässt sich jedoch nur teilweise als Gegenkanon der Jugend beschreiben. Bereits im Jahr 1963 erhält Karl May Beachtung von Seiten eines Autors, der selbst als avantgardistisch galt: Arno Schmidt initiierte mit seiner psychoanalytisch angelegten Studie Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk und Wirkung Karl Mays eine Diskussion über Mays Homosexualität, die das Interesse der Intellektuellen für den »Unterhaltungsschriftsteller« aufleben ließ.8 Auch Anderes steht eher für eine Etablierung und Institutionalisierung des Autors: die Gründung der Karl-MayGesellschaft im Jahr 1969, die Herausgabe einer historisch-kritischen Werkausgabe, die Karl-May-Jahrbücher:9 Für die Literaturwissenschaft ist der Autor nicht länger ein unwürdiger Untersuchungsgegenstand. Inzwischen sind sogar Entwürfe für den Unterrichtseinsatz von Winnetou I im Internet herunterzuladen.10 Kurz: Das Phänomen ist in den bisherigen Kategorien nur unzureichend beschrieben. Die Kanonisierung von Karl May findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Diese Ebenen möchte ich exemplarisch aufzeigen und miteinander in Beziehung setzen. Dabei geht es mir nicht um eine vollständige und sozusagen maßstabgetreue Abbildung der Kanonisierungsgeschichte Mays, sondern um eine Skizze, die das hier vorgestellte Modell in Anwendung zeigen soll. Ich betrachte die folgenden drei Registrationsmedien: Die filmischen Inszenierungen nach Karl May, die Merchandising-Produkte und die Entwicklung der Gesamtauflage. Ich wähle diese drei Registrationsmedien aus, da sie exemplarisch für unterschiedliche Rezeptionsweisen stehen können. Es geht nicht nur um den Zugang zum Text (Entwicklung der Gesamtauflage), sondern auch um eine Einbindung der Figurenwelt Karl Mays in die Alltags- und Jugendkultur (Merchandising-Artikel). Die Verfilmungen, die selbst eine hohe Popularität erlangten, sollen auf diese beiden Registrationsmedien und die darin dokumentierten Rezeptionsweisen bezogen werden: Haben die Filme zu der Zeit, in der sie im Kino gezeigt werden, und zur Zeit der TV-Ausstrahlungen einen Einfluss auf die Produktion der Karl-May-bezogenen Konsumprodukte? Haben sie einen Einfluss auf die Auflageentwicklung der Werke Karl Mays? Ich habe bewusst den Schwerpunkt auf diese Registrationsmedien gelegt und z. B. die Resonanz der Werke Mays in literaturwissenschaftlichen Fachzeitschriften außer Acht gelassen. Die ausgewählten Registrationsmedien sollen eben nicht die Etabliertheit des Autors in Expertenkreisen dokumentieren, sondern die jeweiligen Publizitätsschübe nachvollziehbar machen, die das Werk Karl Mays und einzelne Elemente aus diesem Werk in der öffentlichen Wahrnehmung er-
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Vgl. Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Zürich 1993. Diese erschienen bereits in den Jahren 1918–1934 und dann erneut ab 1970. Material zu Karl Mays ›Winnetou I‹ im Schulunterricht, http://www.karl-may-gesellschaft.de/ kmg/primlit/reise/gr07/material/index.htm, 15. 09. 2010.
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fahren haben. Die Auswahl der Registrationsmedien ist damit natürlich auch konstitutiv für die Ergebnisse und beansprucht nicht, die Kanonisierung Karl Mays in den letzten Jahrzehnten vollständig abbilden zu können. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fand im Falle Mays die Popularisierung über die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg, Elspe und weiteren Orten, seit den frühen 1960er Jahren vor allem über die Verfilmungen durch Harald Reinl statt: Die Kassenschlager verschafften über ihre Publizität auch den Texten erneute Aufmerksamkeit.11 Diese Übertragung von Aufmerksamkeit lässt sich beobachten, wenn man zusätzlich ein Registrationsmedium in den Blick nimmt, das in den letzten Jahrzehnten vor allen Dingen auf dem Kinder- und Jugendbuchsektor beobachtbar wird: die Merchandising-Produkte. Bereits seit den 1930er Jahren entdeckte die Konsumgüterindustrie den Wert der allseits bekannten Romanfiguren Karl Mays und bebilderte mit ihnen Margarine-, Schokoladen-, Kakao-, Kaffee- oder Zigarettenpackungen – also durchaus Produkte, die nicht oder nicht nur von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden. Kunststoff- oder Zinnfiguren nach Mays Werken fanden besonders nach den Verfilmungen der 1960er Jahre begeisterte Abnehmer. Interessanterweise orientiert sich etwa die Gestaltung mancher Kunststoff-Figuren eher an den Beschreibungen der Romanhelden als am Aussehen der Filmschauspieler.12 Dies lässt sich im obigen Sinne deuten, dass die Aufmerksamkeit, die durch die Filme ausgelöst und verstärkt wurde, auf die literarischen Vorlagen rückwirkt. Die Tatsache, dass von den 1930er Jahren bis heute Lebensmittelverpackungen, Unterwäsche oder Tapeten mit Karl-May-Motiven produziert und abgesetzt werden, verdeutlicht den ikonografischen Status der Figurenwelt Karl Mays. Wolfgang Willmann hat das Material zum Karl-May-Merchandising gesammelt, katalogisiert und beschrieben. Auf der Basis seiner Studie lassen sich die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aufmerksamkeitsanlässe und Publizitätsschübe plausibel machen.13 Die Publizitätsschübe der Karl-May-Filme der 1960er Jahre korrelieren deutlich mit der Produktion von Merchandising-Artikeln (Abb. 2). 67 unterschiedliche Produkte werden in diesem Jahrzehnt neu auf den Markt gebracht. Noch in den 1970er Jahren hält die Begeisterung an, obgleich nun deutlich weniger Produkte neu eingeführt werden. In dieses Jahrzehnt fällt allerdings die Erstausstrahlung der Reinl-Filme im Fernsehen. 1970 startete das ZDF die Ausstrahlung der Reinl-Filme mit Old Shatterhand von 1964 und brachte 1973 Das Vermächtnis des Inka.14 Danach folgten zunächst TV-Premieren
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Mit Der Schatz im Silbersee startete die Serie 1962. Die Filme nehmen Motive der Romane Karl Mays auf, halten sich aber unterschiedlich stark an die Romanvorlagen. Vgl. Lars Lust: Merchandising-Stars aus den Karl-May-Filmen. In: Welt online vom 12. 2. 2009 (http://www.welt.de/deutsche-dinge/article3195112/Merchandising-Stars-aus-den-Karl-MayFilmen.html; Abbildung der Figuren: http://www.welt.de/multimedia/archive/00752/figuren_ DW_Vermisch_752791p.jpg, 15. 09. 2010). Wolfgang Willmann: Die Wirkung von Karl May auf die Marketingstrategie von Herstellern in Konsumgütermärkten. Ein Beitrag zur Analyse der Kommerzialisierung des Schriftstellers. In: Helmut Schmiedt (Hrsg.): Karl May. Werk, Rezeption, Aktualität. Würzburg 2009, S. 226–294. Diese und andere Daten zur Erstausstrahlung im Fernsehen entnehme ich dankend den Auskünften der ZDF-Zuschauerredaktion und der Aufstellung der Film-, TV- und Video-Premieren auf der Seite Karl May Filme (http://www.km-filmbilder.info/tv/tv.html, 15. 09. 2010). Wie die
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in anderen Ländern: Winnetou I wurde 1973 erstmalig von der BBC ausgestrahlt, Der Schatz im Silbersee hatte beim österreichischen Sender ORF 1 im Februar 1974 Premiere. Das Jahr 1974 ist in Hinsicht auf Karl-May-Filme das Jahr der großen Fernsehereignisse in der Bundesrepublik: Die Winnetou-Trilogie, Unter Geiern, Der Ölprinz, Old Surehand – die Filme nach Romanmotiven mit Schauplatz Nordamerika, die bis heute die populärsten sind, wurden in rascher Folge ausgestrahlt. Abgesehen vom Vermächtnis des Inka kamen hingegen die anderen Abenteuerfilme bedeutend später ins Fernsehprogramm. Der Schatz der Azteken etwa wurde 1987 von 3sat das erste Mal im deutschen Fernsehen gezeigt. In den 1980er Jahren ist die Welle schon abgeebbt, auch wenn nun die DDR ›ihren‹ Autor May rehabilitiert; auf den Produktmarkt hat das keinen sichtbaren Einfluss. Im westdeutschen Fernsehen werden zwar einzelne Filme in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren wiederholt ausgestrahlt,15 die populären Filme um Winnetou und Old Shatterhand werden, mit einer Ausnahme, den mir zugänglichen Angaben zufolge allerdings erst wieder ab den 1990er Jahren im Privatfernsehen gezeigt – dann allerdings unter den Bedingungen einer starken Programmkonkurrenz der diversifizierten Fernsehlandschaft. Insofern kann man davon ausgehen, dass die Wiederholungen der Filme im Fernsehen nicht mehr den gleichen Ereignischarakter hatten wie die Premieren im Kino und im Fernsehen. Sie erreichen Aufmerksamkeitswerte bei einzelnen Fernsehzuschauern, die durchaus mit dem Interesse an den Romanen und an den Merchandisingprodukten korrelieren, erreichen aber keine Publizität. Dass es in den 1990er Jahren mehr May-Produkte sind als in den Vorjahren, muss nicht zwangsläufig mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für Karl May verbunden sein, sondern ist auch der Tatsache geschuldet, dass der Konsumgütermarkt insgesamt diversifiziert und ausgebaut wird. Und wie erklärt sich der leichte Anstieg der neu eingeführten May-bezogenen Produkte nach 2000? Ins letzte Jahrzehnt fällt der Film Der Schuh des Manitu von 2001, der die Winnetou-Filme parodiert. Er zählt zu den erfolgreichsten deutschen Filmen und zog 2008 ein gleichnamiges Musical nach sich.
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Seite Karl May Filme, weist auch das ZDF darauf hin, dass die Angaben zu den Ausstrahlungen der 1960er und 1970er Jahre ohne Gewähr sind, da das Archiv des Senders für diesen Zeitraum keinen Anspruch auf Vollständigkeit der Daten erhebt. In den 1980er Jahren bis einschließlich 1990 kommt es zu einer häufigen Ausstrahlung der folgenden Filme: Old Shatterhand: 19. 10. 1985, 08. 08. 1987, 22. 09. 1990; Der Schut:
15. 10. 1988, 26. 01. 1990; Der Schatz der Azteken: 02. 05. 1987, 26. 09. 1988, 07. 09. 1990; Die Pyramide des Sonnengottes: 03. 10. 1988, 14. 09. 1990; Durchs wilde Kurdistan: 28. 12. 1987, 19. 04. 1987, 12. 01. 1990; Im Reiche des silbernen Löwen: 20. 04. 1987, 10. 10. 1988, 19. 01. 1990; Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten: 05. 07. 1988, 18. 04. 1987, 13. 05. 1989, 21. 09. 1990.
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Abb. 2: Zeitliche Verteilung aller May-bezogenen Marktaktivitäten nach Willmann 2009
Eine Verbindung zwischen dem Erfolg der Parodie und dem Anstieg der Karl-MayProdukte lässt sich nicht unmittelbar ablesen. Jedoch adressieren die Produkte ähnliche Zielgruppen: Die Filme, die man in der Kindheit gesehen hat, können nun, für einen nostalgisch-kultigen Abend daheim, auf DVD erworben werden. Für die Jüngeren werden Zeichentrick, Hörspiele und Computerspiele lanciert. Ein Schwerpunkt liegt also in diesem Jahrzehnt darauf, Karl Mays Welt ins digitale Zeitalter zu überführen. Doch haben diese Entwicklungen auch einen Einfluss auf die Auflage der Texte Mays im Karl-May-Verlag? Die Grafik (Abb. 3) habe ich vom Karl-May-Verlag erhalten. Sie zeigt die Entwicklung der Gesamtauflage der Werke Mays. Ich möchte mich der Reichweite der Werke Karl Mays in diesem Fall anhand der Entwicklung der Gesamtauflage nähern. Absolut gesehen ist dies insofern problematisch, als mehr Leser pro Ausgabe erwartet werden können, als Titel abgesetzt werden. Die Auflage wiederum ist erwartungsgemäß höher als der tatsächliche Absatz der Titel. Die Entwicklung der Gesamtauflage ist jedoch durchaus aussagekräftig für die Darstellung der Reichweite innerhalb des Modells: Einzelne Zeitabschnitte lassen sich miteinander in Beziehung setzen, so dass die These, die Publizitätsschübe durch die Karl-May-Filme wirkten sich auch auf die Produktion der Bücher und Merchandisingartikel aus, plausibel gemacht werden kann.
Der Kanonisierungsprozess in den Dimensionen Dauer und Reichweite
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Abb. 3: Entwicklung der Gesamtauflage der Werke Karl Mays im Karl-May-Verlag, Quelle: Karl-May-Verlag
Aus den Daten der obigen Abbildung (Abb. 3) habe ich die mittlere Neuauflage pro Jahr in Millionen Exemplaren errechnet und in der folgenden Grafi k (Abb. 4) dargestellt.
Abb. 4: Mittlere Neuauflage der Werke Karl Mays im Karl May Verlag 1955–2005 (in Millionen Exemplaren)
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Deutlich wird, dass die Publizität der Reinl-Filme in den 1960er Jahren unmittelbar auf die Auflage der Werke abstrahlt: Die mittlere Neuauflage der Karl-May-Bücher verdoppelt sich. Danach sinkt sie jedoch wieder ab. Der Erfolg des Schuh des Manitu schlägt sich nicht in der Auflage der Bücher nieder. Bei der Interpretation muss man natürlich berücksichtigen, dass in vielen Haushalten oder Elternhäusern eine Ausgabe der Abenteuerromane vorhanden sein dürfte. Dennoch liegt nahe, dass die erfolgreiche Parodie auf die Karl-May-Filme nicht zugleich das Interesse am Autor und an den Romanen angefacht hat. Die Bekanntheit der Motive, Stoffe und Figuren der Romane Karl Mays hat sich von der Kenntnis der literarischen Vorlage gelöst, so wie sich in anderen Fällen Zitate aus dem ursprünglichen literarischen Kontext lösen und als Sentenzen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingehen.
Abb. 5: Zeitliche Verteilung aller May-bezogenen Markt-Aktivitäten und Entwicklung der Neuauflage der Werke Mays
Abbildung 5 führt die drei ausgewählten Registrationsmedien in einer Grafik zusammen. In den 1960er Jahren korreliert die Publizität der Filme mit der Markteinführung von Merchandising-Artikeln und der Entwicklung der Auflage der Romane Karl Mays. Danach sinkt die jährliche Neuauflage im Karl-May-Verlag. Nach 2000 steigt die Anzahl der neuen Produkte rund um Karl May erneut an. Dies könnte durch den Filmerfolg Der Schuh des Manitu mit bedingt sein, der erneut Aufmerksamkeit auf das Phänomen Karl
Der Kanonisierungsprozess in den Dimensionen Dauer und Reichweite
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May gelenkt hat; vor allem aber zeigt sich, dass die Karl-May-Welt für eine neue Generation in digitalen Medien wiederaufleben soll. Sich der Kanonisierung Karl Mays anhand der hier analysierten Registrationsmedien zu nähern, mag zunächst befremdlich sein. Kanonisierung lässt sich nicht schlichtweg an Produktions- und Verkaufszahlen bemessen. Auch ist es in den meisten Fällen äußerst schwierig, verlässliche Daten zu erhalten, aus denen sich die Reichweite abstrahieren lässt. Betrachtet man unterschiedliche Registrationsmedien, so ist es problematisch, die Daten aus unterschiedlichen Bezugsfeldern empirisch einwandfrei miteinander in Beziehung zu setzen. Der Versuch wurde hier unternommen, weil diese Indikatoren für die Publizität, Etabliertheit und Kanonizität literarischer Werke in vielen bisherigen literaturwissenschaftlichen Studien zur Kanonisierung zu wenig berücksichtigt wurden. Will man Kanonisierungsprozesse im heutigen Literaturbetrieb beschreiben, sollten sie nicht beiseite gelassen werden. Registrationsmedien wie die hier vorgestellten Merchandising-Artikel lenken den Blick auf die lebensweltliche Verankerung literarischer Werke im Alltag und führen damit auf ein ganz anderes Feld gesellschaftlichen Umgangs mit Literatur, als es etwa die Wertschätzung eines Textes von Seiten der Literaturkritiker und anderer Autoren vermag.
4. Zusammenfassung Es geht in meinem Modell darum, der Aufmerksamkeit einen höheren Stellenwert in Kanonisierungsprozessen beizumessen, als dies mit der bisherigen Begrifflichkeit getan wird. Damit können vor allen Dingen Kanonisierungsprozesse seit den 1960er Jahren beschrieben werden. Ich unterscheide drei Status der Kanonisierung – Publizität, Etabliertheit und Kanonizität. Jeder von ihnen ist auf der Modellebene nur in Relation zu den anderen Status bestimmbar und muss für die jeweiligen Untersuchungsgegenstände konkret bestimmt werden. Durch die Publizität, die etwa eine Verfilmung oder das Jubiläum des Autors als Ereignis erhalten, kann auch den literarischen Texten erneut gebündelte Aufmerksamkeit zukommen. Die Kanonizität eines Autors und seiner Werke hängt von Dauer und Reichweite der Aufmerksamkeit ab, die ihnen zuteil wird. Sowohl ihre Tradierung als auch ihre Popularisierung spielen im Kanonisierungsprozess eine Rolle. Inwieweit sich die Publizität, die in meinem Beispiel vor allem durch die Verfilmungen erreicht wurde, auf die literarischen Vorlagen übertragen lässt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Aufmerksamkeit kann auf verschiedenen Wegen registriert werden. Hier habe ich am Beispiel der Kanonisierung der Abenteuerromane Karl Mays gezeigt, dass die Entwicklung der Gesamtauflage und die Produktion von Merchandisingartikeln mit den besonders breit rezipierten Verfilmungen korrelieren und wie sich dies in die Kategorien des Modells einbeziehen lässt. Mein Beschreibungsmodell kann mit unterschiedlichen anderen Modellen kombiniert werden, die sich auf die Kanonbildung oder die Erklärung von Kanonisierungsakten beziehen. Gerade wenn man die Begrifflichkeiten mit der Theorie Bourdieus zusammenbringt, lassen sich historische Phänomene hinsichtlich der Zusammenhänge von
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Etablierung und Kanonisierung bzw. Popularisierung und Kanonisierung für spezifische Konstellationen im literarischen Feld gut beschreiben. Das Modell legt nahe, der Popularisierung von Literatur einen höheren Stellenwert in der Untersuchung von Kanonisierungsprozessen einzuräumen. Es erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch, für alle kanonwissenschaftlichen Untersuchungen geeignet zu sein, und muss für einzelne Fragestellungen sozusagen kalibriert werden. Dann ermöglicht das Modell einen induktiven Zugang zu Kanonfragen: Einzelne Registrierungsmedien können zunächst isoliert betrachtet werden. Anschließend kann ihre Abhängigkeit voneinander untersucht und dargestellt werden. Das Modell eignet sich somit für empirisch angelegte kanonwissenschaftliche Untersuchungen und hilft, deren Fragestellungen zu operationalisieren und deren Ergebnisse zu visualisieren.
Harro Segeberg
Von Kanon zu Kanon Ernst Jünger als Jahrhundertautor
1. Welcher Kanon? Der Frontoffizier des Ersten Weltkriegs Ernst Jünger beginnt seine literarische Karriere als militärischer Fachautor, avanciert danach zum Sprachrohr nationalrevolutionärer Eliten, bevorzugt im ›Dritten Reich‹ und unmittelbaren Nachkrieg die metaphysisch tingierte splendid isolation, mutiert im bundesrepublikanischen Nachkrieg zum bildungskonservativen Abendländer und avanciert am Vorabend seines hundertsten Geburtstags definitiv zum dem ur-katastrophischen 20. Jahrhundert aktionistisch wie kontemplativ standhaltenden Autor. Das von vielen erwartete sinnstiftende Wort zur Jahrtausendwende hat er dann nicht mehr sprechen können. In dieser Perspektive bietet Ernst Jünger das in der Literatur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nicht eben häufige Fallbeispiel eines Autors, bei dem sich Kanonisierung nicht als die mehr oder weniger kontinuierliche Integration in einen Kanon, sondern als Wanderung durch mehrere Kanonbildungen ereignet. Dieser Prozess einer Kanonbildung wird entweder – so die ›Jünger-Jünger‹ – ›finalistisch‹ als platonische Entkernung einer im Widerspruch der Erscheinungen von Anfang an verborgenen ›Idee‹ verstanden oder aber – so die Jünger-Kritiker – ›opportunistisch‹ als Manifestation eines in immer neuen Entscheidungen vor jedweder verbindlichen Entscheidung zurückschreckenden ›Dezisionismus‹ gedeutet.1 Mein Beitrag möchte die Entstehung dieser beiden Kanonbildungen nicht einfach nur nachzeichnen, sondern ihnen mit einem auf den Autor des Arbeiter selbst angewandten methodischen Konzept begegnen: »die Schilderung muss« – so Jünger in den Adnoten zum Arbeiter – »zugleich drinnen und draußen sein«.2 Nur dann kann man (mit Hans Blumenberg) hoffen, in einem dem »Zeitgeist« des Jahrhunderts ebenso verfallenen wie immer wieder entkommenen Gesamtwerk auf die immer neue Kanonbildungen kreierenden »Kondensationskerne« zu stoßen.3 Von der in ihnen wirksamen Strategie einer stets parteiliche Kanonbildungen auslösenden Überparteilichkeit soll mein Beitrag handeln. Um dies zu erreichen, möchte ich im Folgenden versuchen, das zu charakterisieren, was ich nicht als die Idee, sondern als den immer neue Kanonbildungen vorantreibenden
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Zur Herkunft des Begriffs vgl. Christian Graf von Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Frankfurt / M., New York 1990 (zuerst Stuttgart 1958). Zit. nach Ernst Jünger: Maxima – Minima. Adnoten zum »Arbeiter« (1964). Stuttgart 1981, S. 6. Hans Blumenberg: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger. Hrsg. von Alexander Schmitz und Marcel Lepper. Frankfurt / M. 2007, S. 9, 10.
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Harro Segeberg
textuellen élan vital des Jüngerschen Werkes kennzeichnen möchte. Worunter zu verstehen ist, dass im Fall Jünger nicht ein mehr weniger konsistenter materialer Text-Kanon für mehr oder weniger plausible Deutungskanones bereitsteht. Jenseits eines solchen essentialistischen Textbegriffs ist bei Jünger vielmehr, so die These, davon auszugehen, dass eine nach bestimmten Produktionsregeln verfahrende generische Tiefenstruktur immer neue Werkfassungen freisetzt, auf die immer neue Deutungskanones projiziert werden können. Woraus, wenn eine gegenüber ›Jünger-Jüngern‹ wie Jünger-Kritikern akzentuierte Positionierung des eigenen Vorhabens gewünscht ist, folgt: bei Jünger gibt es nicht den Text des Werkes, sondern ein Set von Produktionsregeln, die dafür sorgen, dass sich inmitten aller Varianten ein im Grundsatz invariantes Strukturmodell behauptet. Gerade dieses nur zugunsten einer Parteinahme für eine bestimmte Werkepoche still zu stellende Ineinander aus Varianz und Invarianz macht Jüngers Gesamtwerk für eine an der Erforschung flexibler Kanonbildungen interessierte Kanonforschung derart aufschlussreich. Vor diesem Hintergrund möchte ich in einem ersten Schritt drei für die Wirksamkeit dieses Textmodells grundlegende ›generische‹ Produktionsregeln skizzieren, um dann in einem zweiten Schritt anhand von zwei Epochen der Kanonbildung genauer zu veranschaulichen, wie mit Hilfe dieser Produktionsregeln nicht der ›eine‹ Jünger-Text, sondern ein immer neue Kanonbildungen vorantreibender Textprozess ›Jünger‹ entgrenzt wird. Die daran anschließenden Überlegungen wollen nicht einen neuen Kanon, sondern zwei aktuelle Perspektiven zur Kanonbildung in Sachen Jünger vorstellen.
2. »Letzthin ist der Untergang das einzige Normale« Ernst Jünger, jugendliches Mitglied in der Jugendreformbewegung des Wandervogel und Fremdenlegionär sowie Autor des aus einem lebenslang sekretierten Kriegstagebuch 1914–19184 gespeisten Weltbestsellers In Stahlgewittern (1920); nationalrevolutionärer Publizist der Weimarer Republik, dem der Nationalsozialismus nicht radikal genug war (Die Standarte bzw. Standarte 1925/26); surrealistischer Traum-Forscher mit Vorlieben für nationalbolschewistische Stadt- und Land-Guerillas (Das Abenteuerliche Herz 1929); Prophet technologischer Herrschaft, der mit Werken wie Der Arbeiter (1932) und die Totale Mobilmachung (1931) einige besonders verhängnisvolle Stichworte des 20. Jahrhunderts aufnahm und an das Jahrhundert zurückspielte; Kritiker des Nazi-Terrors, dessen Kontakte zu nationalsozialistischen Führungseliten nie wirklich abrissen (Auf den Marmor-Klippen 1939; engl. On the Marble Cliffs 1947); im Paris der deutschen Besatzung Fürsprecher der Kulturnation Frankreich (Gärten und Straßen 1942; frz. Jardins et Routes 1942); Seismograph des Zweiten Weltkriegs (Strahlungen 1949); Science-FictionAutor (Heliopolis 1949); Kritiker von Globalisierung und Weltstaat (1953); erd- und kosmosgeschichtlicher Zeichendeuter (An der Zeitmauer 1959); Drogen und Rauschexperte (Annäherungen. Drogen und Rausch 1970) sowie Autor des immer noch unentdeckten
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Vgl. Ernst Jünger: Kriegstagebuch 1914–1918. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart 2010.
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Alterswerkes Siebzig verweht I-V (1982–1997) – dieser seine Leser mit immer neuen Wendungen überraschende Jünger hat nicht nur in seinen vielfach ausgezeichneten Subtilen Jagden (1967) die Einheit seines Werkes – wie Goethe – in den naturgeschichtlichen wie naturwissenschaftlichen Sehweisen seines Werks begründet gesehen. Es ist dieser Entomologe und Schriftsteller Jünger, der in einer Eintragung seines Tagebuchs Siebzig verweht IV5 davon berichtet, wie er auf einer Weltreise der achtziger Jahre in der »gewitterschwülen Atmosphäre von Kuala Lumpur« in ein offenkundig von fremder Hand vorbereitetes Untergangsszenario gerät, in das er sich – darin dem Soldaten und Kriegsautor in den Stahlgewittern (1920) des Ersten Weltkriegs nicht unähnlich – sogleich verwickelt. Denn erst wenn man sich angesichts der »bei Einbruch der Dunkelheit« von einer »hell erleuchteten Terrasse« in den eigenen Todesflug gelockten Insekten an den in den Tagebüchern der neunziger Jahre noch einmal bekräftigten Grundsatz »Wird die Katastrophe unvermeidlich, so ist es besser, sie zu beschleunigen«,6 erinnert und der zu erwartenden Vernichtung ihren Lauf lässt (oder sie als Sturmtruppführer des Ersten Weltkriegs mit entfesselt), kann man offenkundig bemerken, was sich inmitten solcher Untergänge als deren »Muster« abzeichnet: die Epiphanie einer Elite, deren Angehörige – darunter ein daumennagelgroßer »nußbrauner Adonis« und »ein brillantschwarzer Riese wie mein Mittelfinger lang« – nicht wie »Geckos und eine Kröte« »ihren Anteil [nehmen]«, sondern »langsam, in fast senkrechter Haltung« anfliegen und sich damit zum »Haupttreffer« aufopfern. Es sind solche experimentell hergestellten oder literarisch konstruierten Beobachtungsanordnungen, in deren Figuren und Capriccios – so die 1939 neu geschriebene Zweite Fassung des 1929 zuerst erschienenen surrealistischen Abenteuerlichen Herzens – »die Geschichte in ihre höchste Bildhaftigkeit ein[tritt]«.7 Die darin sichtbar werdenden Grundlinien einer Jahrhundert-Architektur lassen sich in drei relativ klar zu fassenden Grundregeln zusammenfassen: Erstens: Ohne Katastrophe gibt es in Jüngers Werk keine Höherentwicklung. Denn, so Jünger in den Marmor-Klippen von 1939, »die Menschen-Ordnung gleicht dem Kosmos darin, dass sie von Zeit zu Zeiten, um sich von neuem zu gebären, ins Feuer tauchen muß«.8 Oder, so der Autor des Jahres 1984 in dem für sein Autor-Verständnis zentralen Buch Autor und Autorschaft: »Letzthin ist der Untergang das einzige Normale und das Verhältnis des Autors zu ihm nur insofern besonders, als es sich im Werk profiliert«.9 Daraus folgt: Zweitens: Je totaler die Katastrophe, desto radikaler die Neuschöpfung. Woraus wiederum resultiert: Je destruktiver die Katastrophen ausfallen, desto produktiver müssen die Strahlungen eines ihnen standhaltenden Denkens ausfallen. Denn, so noch einmal
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Vom 14. April 1986. Zit. nach Ernst Jünger: Siebzig verweht IV. Stuttgart 1995, S. 37f. Vorher schon in Ernst Jünger: Zweimal Halley. Stuttgart 1987, S. 21f. Ernst Jünger: Siebzig verweht IV (Anm. 5), S. 301. Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Zweite Fassung. Figuren und Capriccios (1938). Zit. nach: E. J.: Sämtliche Werke. Bd. 9. Stuttgart 1979, S. 264. Ernst Jünger: Auf den Marmor-Klippen. Hamburg 1939, S. 62. Ernst Jünger: Autor und Autorschaft. Stuttgart 1984, S. 143.
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Autor und Autorschaft: »Überwindung der Todesfurcht ist Aufgabe des Autors; das Werk muß sie ausstrahlen«.10 Drittens: In katastrophisch verfassten Neuschöpfungen gibt es so etwas wie eine wechselseitige Dialektik von Massen-Untergang und Eliten-Epiphanie. Diese Dialektik gibt sich bereits im Ur-Kriegstagebuch 1914–1918 als Kontrast zwischen dem anonymen »Dummheitstod« des Durchschnittssoldaten und den dieses Mensch-»Material« verbrauchenden Krieger-Eliten zu erkennen (»mit solchem Material zu arbeiten, macht Spaß«, heißt es dazu etwa)11 und steigert sich im Verlauf des Frühwerks zur Vorliebe der Ersten Fassung von Das Abenteuerliche Herz (1929) für Napoleons »so ärgerliches Wort von der Consomption forte, vom starken Verzehr, […] der Schlacht«; es wird von diesem ›abenteuerlichen Herzen‹ wie folgt ausgelegt: »Das sind so Worte, die man nicht missen möchte, Fetzen von Selbstgesprächen an magischen Schmelzöfen, die glühen und zittern, während im rauchenden Blute der Geist in die Essenz eines neuen Jahrhunderts überdestilliert.«12 Erst im Spätwerk wird versucht – so Siebzig verweht III (1993) – »ein[en] Stand […] zu erreichen ist, der über den Weltuntergang hinausführt«.13 Ich fasse zusammen: Etwas geht unter, daraus aber entsteht nicht einfach nur Nichts, sondern eine neue Ordnung. Und dieser Umbruch muss sich »von Zeit zu Zeiten« dann wiederholen, wenn Übergänge nicht das einlösen, was die Untergänge von ihnen erwarten ließen. Demgegenüber »kreisen die weltgeschichtlichen Probleme an der Oberfläche«.14 Mit anderen Worten: Jünger denkt, darin ganz Oswald-Spengler-Schüler, strikt antilinear und zyklisch, will aber – darin ganz anders als Spengler – dem »Erschreckenden im Bilde des ewig dahinrollenden Rades« die »Frage nach der Achse, um die es kreist,« entgegensetzen.15 Daraus folgt aber auch: Wenn man sich im Rahmen einer derart metahistorischen Denkbewegung mit der historischen Rückprojektion einer ›Achse‹ geirrt hat, dann »besagt [das] nichts gegen die Idee«,16 sondern erfordert die Re- und Neuformulierung der Idee im Prozess einer ständigen Fort- und Überschreibung eigener Texte. Inwiefern es Jünger gerade mit dieser Konzeption gelingt, aus den Irrtümern und Fehlschlägen seiner Text-Prognosen immer neue Kanonbildungen abzuleiten, möchte ich als nächstes anhand eines kurzen Blicks auf den wohl berühmtesten und einflussreichsten Text Jünger ansprechen: das sich selbst als das Tagebuch eines Stoßtruppführers bezeichnende Kriegsbuch In Stahlgewittern.
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Ebd. Ernst Jünger (Anm. 4), S. 29, 121 und 378. Ernst Jünger: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht. Zit. nach E. J.: Sämtliche Werke (Anm. 7), S. 113. Ernst Jünger: Siebzig verweht III. Stuttgart 1993, S. 114. Ebd., S. 60. Ernst Jünger: An der Zeitmauer (1959). Zit. nach E. J.: Sämtliche Werke. Bd. 8. Stuttgart 1981, S. 524. Ernst Jünger (Anm. 13), S. 58.
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3. In Stahlgewittern. Oder: »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?« Dieses heute in 46 Auflagen und annähernd 30 Übersetzungen publizierte Buch erschien 1920 im Selbstverlag des Autors und stellt den Versuch dar, den während des Ersten Weltkriegs geschriebenen »höchst zwiespältigen und instabilen Text« eines UrKriegstagebuchs 1914–1918 (John King) in einen jetzt sinnerschließenden literarischen Text umzuwandeln.17 Wie weit dieses Ur-Kriegstagebuch dem entgegenkam und welche darüber hinaus zielenden Transformationsleistungen notwendig waren, lässt sich daran erkennen, dass uns in dem noch während der eigentlichen Kriegshandlungen geschriebenen Ur-Tagebuch ein Jünger begegnet, der wie früher in die Fremdenlegion nunmehr »in das (Weltkriegs-)Heer eintrat, um Abenteuer zu erleben« (S. 47/433); in Unterständen, die »sehr nett, wasserdicht und warm« waren (S. 46), das Live and Let Live System ritualisierter Kampfformen18 kennen und auch schätzen lernte (vgl. S. 48, 56, 65ff.); im Anblick »grauenhaft anzuse[hender]« Leichen- und Leichenteile (S. 30) die kalt registrierende Form einer empathiefreien »Sachlichkeit« ausbildete (S. 390); auf den menschenleeren Schlachtfeldern einer »neue Formen des Krieges« (S. 176) vorbereitenden Materialschlacht den »großen Moment« der »von Trichter zu Trichter« springenden »Kampfhaufen« der Sturmtrupps erwartete (S. 318/383; vgl. auch S. 378); darauf aber mit Überlegungen wie »ich fürchte, es wird zu viel vernichtet und es bleiben zu wenig um wieder aufzubauen« (S. 63), oder »wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende« (S. 258) antwortete. Für eine solche Art von »Wachtstubenphilosophie« (S. 63) ist erst in dem bis 1978 in mindestens sieben Textfassungen vorliegenden Kriegsbuch In Stahlgewittern kein Raum mehr. Denn in diesem Tagebuch eines Stoßtruppführers entscheidet sich Jünger – nach dem Prinzip »im Grundsatz erlebt jeder seinen eigenen Krieg«19 – für ein Kriegserlebnis eschatologisch überhöhter Kriegereliten, und welche Dynamik der dazu erforderliche textuelle élan vital entfaltet, das kann man daran sehen, dass von der Erstausgabe des Jahres 1920 nur 83,2 % des Textes in die Ausgabe letzter Hand aus dem Jahr 1978 eingingen und hier bis heute nicht mehr als zwei Drittel eines Textes ausmachen, in dem Textmaterialien aus allen bis 1978 publizierten Werkfassungen verarbeitet wurden. Dieser im Anreichern und/oder Herausnehmen von zum Teil sehr umfangreichen Textpartien nie wirklich still gestellte Textprozess hat dazu geführt, dass in der in die Sämtlichen Werke übernommenen aller-›letzten‹ Ausgabe des Jahres 1978 (es gab zwischen 1960 und 1965 schon eine ›letzte‹ Ausgabe) nur 64,3 % des Textes aus der Erstausgabe der Stahlgewitter stammen, ja die Schnittmenge zwischen der Gesamtmenge aller zwischen 1920 und 1978 produzierten Textteile (dem sog. Maximaltext) und dem Ersttext nicht
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Vgl. John King: »Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?«. Writing and Rewirting the First World War. Schnellroda 2003, S. 142. Jüngers Kriegstagebuch wird im Folgenden direkt im Text nach der in Anm. 4 genannten Ausgabe zitiert. In diesem Live and Let Live System wurde, so weit als möglich, entweder gar nicht oder nur nach Absprache auf gegnerische Truppen geschossen. Vgl. auch Tony Ashworth: Trench Warfare 1914–1918. The Live and Let Live System. London 1980. Ernst Jünger: Sturm (1923). Stuttgart 1979, S. 30.
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mehr als 57,9 % beträgt.20 Der den Ausgaben letzter Hand bis heute voran gestellte Vermerk »Erstausgabe 1920« gibt auf diese Differenzen nicht nur keinen Hinweis, sondern erweckt den Eindruck einer weit gehenden Übereinstimmung mit dem Erstdruck. Geht man etwas anders vor, dann kann man die zwischen Erstfassung, Maximaltext und Fassung letzter Hand identisch gebliebenen Textteile als Kerntext betrachten, diesen Kerntext aber nicht als Bestandteil eines von Anfang mehr oder weniger feststehenden ›letzten‹ Sinntextes, sondern als Annäherung an die generische Tiefenstruktur eines mehrere Textfassungen durchlaufenden Textprozesses auffassen. In diesem Sinne entstehen aus der im Kriegstagebuch 1914–1918 von »zwei Shrappnelwölkchen« begleiteten Ankunft »am Bahnhof Bazancourt« (S. 7), den fachtechnisch erläuterten »musikalischen Genüssen« (S. 77) eines »unaufhörlichen Artilleriefeuers« (S. 167) oder dem Erstaunen darüber, »wie viele Arbeit hinter dem Rücken der kämpfenden Truppe geleistet wird« (S. 108),21 in allen Werkfassungen die bis heute berühmten Anfangssätze der Stahlgewitter: Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner – der eine früher, der andere später?22
Wie wird Krieg hier zu einem der ersten Sinnbilder der für Jüngers Gesamtwerk charakteristischen katastrophischen Neuschöpfungen? Um dies zu veranschaulichen, ist Krieg – als »Walzwerk der Front« – zunächst einmal ein technisch-industrieller Vorgang, in den man mit Hilfe des technisch-industriellen Verkehrmittels der Zeit, der Eisenbahn, hinein fährt: »Der Zug hielt in Bazancourt«. Und: Man nähert sich dem industrialisierten Schlachtfeld im militärisch disziplinierten Kollektiv (»Wir stiegen aus«), dessen Mitglieder (wie der nächste Absatz ausführt) zuvor ihre »Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen« hatten und in »kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen« waren. Krieg wird also schon in diesen wenigen Sätzen als Ergebnis einer militärischen, industriellen, ideologischen und damit – so Jünger im Jahre 1930 nun auch terminologisch – Totalen Mobilmachung thematisch.23
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So die Ermittlungen von Hermann Knebel: ›Fassungen‹. Zu Überlieferungsgeschichte und Werkgenese von Ernst Jüngers In Stahlgewittern. In: Harro Segeberg (Hrsg.): Vom Wert der Arbeit. Zur literarischen Konstruktion des Wertkomplexes ›Arbeit‹ in der Literatur (1770–1920). Tübingen 1991, S. 379–407, hier S. 399. Alles zit. nach Ernst Jünger (Anm. 4). Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Stuttgart 1978 (Sämtliche Werke. Bd. 1), S. 11. Zu den minimalen Unterschieden zur Erstausgabe von 1920 vgl.: Der Zug hielt in Bazancourt [Nach mehrtägiger Bahnfahrt hielt der Zug in Bazancourt, EA 1920]; den langsamen Takten des Walzwerks [dem langsamen Takte des Walzwerkes, EA 1920]; sowie: zu unaufhörlich rollendem Donner – [zu unaufhörlich rollendem Donner? Der eine früher, der andere später? EA 1920]. Vgl. Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Hannover 1920, S. 1. Dieser Essay, der seinen Autor zumindest berüchtigt gemacht hat, erschien zuerst im Sammel-
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Aber nicht nur das: Jüngers »modernes Schlachtfeld« präsentiert sich in diesen Anfangspartien weiter als ein künstlich inszeniertes, faszinierendes audio-visuelles KriegsSchauspiel mit einer unüberhörbar musikalischen Klangwirkung. Krieg ist damit auch ein mehrere Künste zusammenführendes Gesamtkunstwerk. Denn zum »weißen Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel« korrespondiert der »langsame Takt« einer aus der Ferne herüber klingenden »Melodie«, die man mit »ungläubiger Ehrfurcht« wie ein sakrales Ereignis wahrnimmt. Mit anderen Worten: Es sind ganz wenige, aber durchaus beziehungsreich gesetzte Metaphern, die als Strukturelement dieses Kerntextes die sakrale Ästhetik einer technisch-industriellen Materialschlacht entwerfen, die wie die Ästhetik eines industriell erzeugten Natur-Erhabenen, von Stahlgewittern eben, präsentiert wird. Dass in ihnen etwas Neues und Höheres entsteht, wird schon durch die ebenso naturale wie sakrale Akzentuierung der Gewitter-Metapher angezeigt. Wirft man von hier aus einen Blick auf die Kanonbildungen der 1920er und 1930er Jahre, dann lassen sich diese so charakterisieren, dass hier in der Dekodierung eines mehrfach kodierten Kerntextes bestimmte Lesarten wertbetont privilegiert bis absolut gesetzt werden. Und zwar unter tätiger Mithilfe des solche Lesarten mit vorbereitenden Autors: (1) Der auf diese Weise von Jünger selbst angeleitete und gesteuerte Prozess einer – ersten – militärischen Kanonisierung seiner Stahlgewitter beginnt in den ersten beiden Fassungen der Jahre 1920 und 1922 mit der betont ›sachlich‹ auftretenden Akzentuierung der über die Niederlage des Jahres 1918 hinausweisenden militärischen Leistungen des deutschen Frontsoldaten. Jünger, 1918 mit dem höchsten Tapferkeitsorden ausgezeichnet und 1920 und 1921 Fachautor mehrerer Artikel im Militär-Wochenblatt, stilisiert sich hier ganz zur literarischen Inkarnation von Sturmtruppen, die als suizidal kämpfende Elite-Soldaten in den alles vernichtenden Wüsten der Materialschlacht die Epiphanie eines neuen Bewegungskrieges aufscheinen lassen, und seine den Massenschlächtereien des Weltkriegs kaum entkommenen soldatischen Leser empfanden das als keineswegs befremdlich oder gar abwegig, sondern im Gegenteil als ebenso »wahr, schlicht [wie] ergreifend«,24 weil, wie von Jünger selbst ausgeführt, im Stile der »Kreuzigungsbilder alter Meister« entworfen.25 Die ersten beiden Fassungen der Stahlgewitter wurden auf diese Weise zum Buch einer »neuen Verkündigung«26 vom »großen, heiligen Lebensopfer«27 der damit nur äußerlich geschlagenen Frontkämpfer und dienten zugleich – u. a. im Heeresverordnungsblatt des Jahres 1921 – als »Schu-
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band: Ernst Jünger (Hrsg.): Krieg und Krieger. Berlin 1930. Die erste – nur geringfügig veränderte – Separatpublikation lag 1931 vor; nach ihr wird hier zitiert. F. Immanuel: Zur Geschichte des Weltkriegs. In: Literarisches Zentralblatt 73 (1922), S. 110f. Vgl. [Anon.]: [Ohne Titel]. In: Militär-Wochenblatt 106 (1921), Sp. 369. Sowie Ernst Jünger: In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers. Berlin 1922, 4. Aufl. (II. Fassung), S. VII. A. von Frankenberg: Literarischer Wegweiser. In: Die Grenzboten 81 (1922), S. 357–360, hier S. 360. Vgl. O. Riebicke rec.: In Stahlgewittern und der Kampf als inneres Erlebnis. In: Militär-Wochenblatt 107 (1922), Sp. 1069.
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lungsmaterial für Unterführer und Einzelkämpfer«28 zur Erlernung der »Technik in der Zukunftsschlacht«.29 Dass eine solche dezidiert militärische Lesart in einer zur »Bereitschaftspolizei« demobilisierten Reichwehr der 1920er Jahre keine Zukunft hatte,30 kann nicht überraschen. Schon die Kritik militärischer Traditionalisten ließ daran eigentlich keinen Zweifel.31 (2) Der 1923 aus der Reichswehr entlassene Jünger revidiert das seinen militärischen Überlegungen zugrunde liegende Konzept einer die Katastrophe des Weltkriegs gleichsam voraussetzenden Neuschöpfung keineswegs, sondern transformiert es, einigermaßen folgerichtig, in das Konzept einer das Militärische jetzt überschreitenden politisch-ideologischen Mobilmachung. Dies führt über einen Artikel für den Völkischen Beobachter zu Aufsätzen für Zeitschriften des sog. Neuen Nationalismus, in denen Jünger die Revolution von 1848, »die tollsten Momente der Conventsherrschaft«, den Terror nationalistischer Geheimbünde32 oder Trotzkis »Kommunismus als Kampfbewegung«33 noch überbieten möchte. Zusammen mit Artikeln und Photobänden, in denen Jünger mit Hilfe von »Kino, Radiostationen und Rotationspressen«34 politische Mobilmachungen in medialen Mobilmachungen verankert, wird Jünger – so das linksliberale Tagebuch Leopold Schwarzschilds –35 damit zum »unbestrittenen geistigen Führer« eines herkömmliche politische Parteibildungen überspringenden meta-politischen Neuen Nationalismus der Frontkämpfer, eine Einschätzung, die (wie Ulrich Fröschle unlängst eindrucksvoll gezeigt hat)36 von Autoren wie Klaus Mann, Walter Benjamin, Arnolt Bronnen oder Johannes R. Becher geteilt wird. In diesem Kontext eines sich stetig neu verschärfenden ›radikalen Geistes‹ (U. Fröschle) ist es jetzt ein von den Stoßtrupps des Weltkriegs auf
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Vgl. [Anon.]: Tagebuch eines Stoßtruppführers. In: Heeresverordnungsblatt 2 (1921), Nr. 63, Zif. 695. Zu dieser Artikelserie im Militär-Wochenblatt verfasst Jünger eine Reihe von Artikeln, so in 106 (1921), Sp. 433ff. zu: Technik in der Zukunftsschlacht. Zum Nachdruck der Publizistik Jüngers vgl. Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hrsg. v. Sven Olaf Berggötz. Stuttgart 2001. Vgl. Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie. München 2007, S. 140. So etwa George Soldan: Der Mensch und die Schlacht der Zukunft. Oldenburg i.O. 1925. Für diese und weitere Belege zu diesem militärfachlichen Diskurs auch Harro Segeberg: Regressive Modernisierung. Kriegserlebnis und Moderne-Kritik in Ernst Jüngers Frühwerk. In: H. S. (Anm. 20), S. 337–378, hier S. 353f. In: Deutsches Volkstum. Monatsschrift für deutsches Geistesleben 11, Nr. 8 (1929), S. 576, 580. Vgl. auch Berggötz (Anm. 29), S. 527, 533 f. In: Die Standarte. Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens, 25. 10. 1925. Weitere Belege bei Harro Segeberg (Anm. 31), S. 360–367. Vgl. auch Berggötz (Anm. 29), S. 117. In: Die Standarte, 13. 12. 1925. Vgl. auch Berggötz (Anm. 29), S. 162. Zur Bedeutung und Reichweite der daraus entwickelten Medientheorien vgl. Brigitte Werneburg: Ernst Jünger, Walter Benjamin und die Photographie. Zur Entwicklung einer Medienästhetik in der Weimarer Republik. In: Hans Harald Müller / Harro Segeberg (Hrsg.): Ernst Jünger im 20. Jahrhundert. München 1995, S. 39–58. Vgl. die Einleitung als Herausgeber zu einem Artikel Jüngers in: Tagebuch 10, Nr. 38 (1929), S. 1554. Vgl. Ulrich Fröschle: Friedrich Georg Jünger und der ›radikale Geist‹. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit. Dresden 2008.
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die politischen Kampftrupps des Neuen Nationalismus transferierter Dynamismus, der als »Reinheit und Schärfe« einer von jeglicher Kompromissbereitschaft freizuhaltenden »Bewegung«37 die in der dritten Fassung von 1924 ebenso ausufernde wie nachhaltige – zweite – nationalistische Kanonisierung der Stahlgewitter anleitet. (3) Dies setzt sich fort in den strikt komparatistischen Perspektiven eines technologisch verfassten Arbeiter-Staates (1932), in dem der Nationalsozialismus nicht einmal mehr vorkommt. Statt dessen sind es jetzt Bolschewismus, Faschismus, Amerikanismus, die »zionistische Besetzung Palästinas«38 oder die antikolonialen »Bewegungen farbiger Völker«,39 die als Annäherung an die alles Nationale einschmelzende Supra-Nationalität einer technologisch verfassten ›Arbeiter‹-Weltordnung gelten. In ihr haben Leser Jüngers »das Antlitz Lenins« (so der Jesuit Friedrich Muckermann in der Zeitschrift Der Gral), »den geistigen Gehalt der russischen Revolution« (so der Jünger-Freund und Nationalbolschewist Ernst Niekisch) oder die »Metaphysik« einer an das Seiende verfallenen neuzeitlichen Technik (Martin Heidegger) gefunden.40 Diese – dritte – metaphysische Kanonisierung der Stahlgewitter hat sich in der vierten Fassung des Jahres 1934 »durch den Entzug riskanter und politisch brisanter Kommentare und Bekenntnisse«41 weiter verstärkt und die »Bücher über den ersten Weltkrieg« insgesamt in das – so Jünger später selbst – »Alte Testament« seines Gesamtwerks verwandelt.42 Zu dieser von JüngerJüngern weitgehend übernommenen metaphysischen Selbstkanonisierung hat der Autor selbst ebenso lapidar wie selbstbewusst geäußert:
4. »Ich widerspreche mir nicht – «43 Wie das gemeint sein könnte, möchte ich mit Hilfe einer in der Rezeptionsgeschichte Jüngers nachgerade zur skandalösen Schlüsselsequenz gewordenen Passage aus den Strahlungen, dem 1949 erschienenen Kriegstagebuch zum Zweiten Weltkrieg, kurz erläutern. Diese Passage geht zurück auf eine Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1944 und lautet (mit den mit Unterstreichungen gekennzeichneten Erweiterungen der Druckfassung von 1949 sowie einem kursiv gesetzten Zusatz des Jahres 1969) folgendermaßen: Alarme, Überfliegungen. Vom hohen Dache des Raphael sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Es handelt sich um Angriffe auf die Flussbrücken. Die Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deutet auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand.
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So Ernst Jünger in: Standarte. Wochenschrift des Neuen Nationalismus 1, H. 10 (1926), S. 225. Vgl. Berggötz (Anm. 29), S. 221. Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Hamburg 1932, S. 282. Ernst Jünger: Die totale Mobilmachung. Berlin 1931, S. 19. Zitate nach Helmuth Kiesel (Anm. 30), S. 394ff. Vgl. Hermann Knebel (Anm. 20), S. 399. Ernst Jünger: Strahlungen. Tübingen 1949, S. 166 (16. 9. 1942). Ebd., S. 402 (5. 9. 1943).
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Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.44
Ich möchte im Folgenden nicht der in der biographischen Jünger-Forschung diskutierten Frage nachgehen, welche privaten bis intimen Beziehungsprobleme des Autors sich aus diesem Text entschlüsseln lassen,45 sondern die Aufmerksamkeit darauf lenken, mit welcher Entschiedenheit Jünger in der auch hier strikt literarischen Überschreibung empirischer Faktizitäten die schöpferischen Destruktionspotentiale einer totalen Mobilmachung als für sich genommen notwendiges Zerstörungswerk noch dezidierter als früher dadurch akzeptiert, dass er die metaphysische Bedeutung dieses Zerstörungswerks über die nunmehr selbst nicht mehr sinnfähige Arbeiter-Welt hinaus neu ausrichtet. Dabei spielt, wie sehr schnell zu sehen ist, der bereits im Kerntext der Stahlgewitter hervorgehobene ästhetische Schauwert kriegerischer Destruktionsakte eine alles entscheidende Rolle: (1) Darauf deutet im angesprochenen Zitat die nachdrücklich hervorgehobene ›feine‹ Logistik eines ebenso effizient wie zielgerichtet mobilgemachten Zerstörungswerks hin, in dem herabfallende Bomben jetzt aber weit mehr als Brücken und damit Nachschubwege zerstören. Vielmehr wird das Bombardement der Kulturmetropole Paris, die in den Strahlungen an anderer Stelle als Stadt der Liebe zum »Altar der Venus« erklärt wird (1. 5. 1941), zu einer Art Zeugungsakt umgestaltet, in dem »die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln« wie eine nach »tödlicher Befruchtung« sich sehnende Geliebte präsentiert wird. Oder anders: Zwischen Paris, das in den Strahlungen immer wieder als »Inbild alter Kultur« (18. 9. 1942), als eine der »Oasen in der Vernichtungswelt« (22. 10. 1942) mit »Archiven einer von altem Leben durchwehten Substanz« (14. 3. 1943), als »alt-organischer Bestand« (6. 4. 1941) in stets »neuem, unerhörtem Glanz« (19. 2. 1943) erstrahlt,46 und den zerstörerischen Bombergeschwadern einer auch jetzt total mobilgemachten männlichen Titanenwelt (vgl. den 24. 8. 1943) soll sich offenkundig ein vom geheimen Einverständnis der Geliebten gelenkter gewaltsamer Zeugungsakt vollziehen, aus dem – so die im Umkreis des 20. Juli entstandene Denkschrift Der Friede – die »Frucht« einer in Bibel, Mythos und magischer Wort-Kunst neu verankerten Welt-Ordnung hervorgehen könnte.47 In der Perspektive einer metaphysisch neu entschlüsselten Logik der Zerstörung können die Opfer dieses Krieges – wie die in den Zeiten magischer Baukünste in den Brückenbogen eingemauerten Kinder – den »Bau der neuen Welt« vorbereiten helfen (6. 8. 1943; vgl. auch den 3. 8. 1943), und dazu
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Ebd., S. 522. Zur Tagebuchnotiz von 1944 vgl. Jochen Meyer: Dichterhandschriften. Stuttgart 1999, S. 184; zur Textfassung in der Ausgabe letzter Hand vgl. E. J.: Sämtliche Werke (1978– 1983). Bd. 3. Stuttgart 1979, S. 271. Vgl. Tobias Wimbauer: Kelche sind Körper. Der Hintergrund der »Erdbeeren in Burgunder«Szene. In: T. W. (Hrsg.): Anarch im Widerspruch. Neue Beiträge zu Werk und Leben der Gebrüder Jünger. Schnellroda 2004, S. 23–69. Alles (mit Datum) zit. nach der Erstausgabe von 1949 (vgl. Anm. 42). Vgl. Ernst Jünger: Der Friede (1945). Zit. nach E. J.: Sämtliche Werke. Bd. 7. Stuttgart 1980, S. 194–236, hier S. 207.
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kann Jünger im Vorwort seiner Strahlungen allen Ernstes schreiben, dass, wenn dieser Sinnbezug gelingt, durch »die Berührung der Feder« »dort, wo die Gedanken, die Bilder entspringen, […] Blut gespendet wird. Die Erde wird vom Geist geführt.«48 (2) Wer sich durch die in der Jünger-Sammlung des Marbacher Literatur-Archivs zusammengestellten Rezensionen zu den bereits im Jahre ihres Erscheinens das 20. Tausend überschreitenden Strahlungen hindurchgekämpft hat, der kann angesichts solcher und anderer Auslegungsangebote eigentlich nicht verwundert darüber sein, wie erfolgreich der Autor Jünger mit einem Buch, das mit der Behauptung, dass wir »die Bedeutung der politischen Figuren und der einzelnen Schachzüge [überschätzen]«,49 den Anspruch einer überparteilichen Epochen-Diagnose durchsetzen wollte, den betont parteilichen Streit um seine Person und sein Werk ein weiteres Mal sehr erfolgreich forciert hat. Vom Kriegsverbrecher Ernst Jünger (F. Bondy in Der Aufbau Nr. 23/1950), von einer Elite auf Abwegen (so Der freie Mensch Nr. 22/1949), von den Fragwürdigkeiten [einer] modernen Bekehrung (in Lübecker Nachrichten 12. 2. 1950) oder vom metaphysischen Überwinder des Nihilismus (in Neubau H. 5/1950) ist in den Überschriften der Stellungnahmen zu diesen Strahlungen aus dem Zwielicht (Neue Ruhr-Zeitung 16. 12. 1949) die Rede. Den Thomas Mann-Biographen Peter de Mendelssohn haben sie zum Versuch von Gegenstrahlungen (in Der Monat H.14/1949) angeregt.50 (3) Warum Jünger der nach 1945 von seinen Gegnern geäußerten Aufforderung »er schweige fortan« (W. Weyrauch in Tägliche Rundschau 25. 6. 1948) keineswegs zu folgen habe, erklärt Gerhard Nebel in der schon damals in der Jünger-Renaissance führend tätigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. 11. 1949 damit, dass Jünger in seinem großen Rechenschaftsbericht eines deutsch-europäischen Abendländers gerade aufgrund seiner unbestreitbaren äußerlichen Verwicklung in die Strudel eines als »Weltbürgerkrieg« gedeuteten Zweiten Weltkriegs seine geistig-moralische »Substanz« ›rein‹ erhalten konnte und daher (so Frank Schirrmacher noch in der Sylvesternummer 1994 desselben Blattes), wiewohl „vielfach verzettelt und abschweifend«, als »Begleiter und Fährtenleser« durch eine von »zwei Kriegen, zwei Reichen, zwei Republiken« gezeichnete deutsche Schicksals-Geschichte geradezu gebraucht werde. Dass die Frage, auf welcher Seite man die »zwei Kriege« des Jahrhunderts bestanden habe, erst in zweiter Linie wichtig ist, daran lässt Jünger auch nach 1945 keinen Zweifel: Entscheidend sei in erster Linie, »dass kein Winkel bleibt, der nicht durch Feuer gereinigt worden ist.«51 (4) Wer die Substanz eines derart unverändert »nach Grundsätzen«, »nach Heilsworten« suchenden meta-politischen Denkens mit real-politischen Positionen verknüpfen möchte, der muss erneut die Erfahrung machen, dass auf Jünger in dieser Frage erst recht dort kein Verlass ist, wo der Wunsch (so die Jünger-Besucherin Margret Bove-
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Ernst Jünger (Anm. 42), S. 12. Ebd., S. 7. Alles hier und im Folgenden zit. nach einer Zeitungsausschnittsammlung zum Streit um die Strahlungen in der Ernst Jünger-Sammlung im Deutschen Literatur-Archiv Marbach. Ernst Jünger: Der Friede (1944/45), hier zit. nach E. J. (Anm. 47), S. 207.
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ri), »dass Sie einmal direkte Losungen ausgeben«, auf positive Wegbescheide abzielt.52 So konnte aus der in Vorausblicken auf die Strahlungen ausgesprochenen Erwartung von Ernst Jüngers christlicher Wandlung (Christ und Welt 11. 9. 1948) oder aus der zum gleichfalls 1949 erschienenen Roman Heliopolis gestellten Frage Auf dem Wege zu einem dritten Testament? (Sonntagsblatt 4. 12. 1949) (vorerst) nicht mehr als ein christliches Zwischenspiel entstehen.53 Und sogar Anhänger der sog. ›konservativen Revolution‹ wie Gerhard Nebel oder der zeitweilige Jünger-Sekretär Armin Mohler mussten sich in einem einer Abrechnung gleichkommenden Brief sagen lassen: »Eine echte Konzeption richtet sich nicht nach Tatsachen, sondern sie schafft Tatsachen«.54 Dem Wunsch dieser und anderer Anhänger, die nationalrevoutionäre Renaissance im Essay Der Waldgänger (1951) auf Dauer zu stellen, konnte ein solcher Autor gar nicht folgen.
5. Jünger heute Daran zeigt sich noch einmal abschließend, dass kanonische Zuordnungen, die auf eine bestimmte politische oder auch weltanschauliche Verrechnung des Werks setzen, als Abrechnung wie als Zurechnung, den Autor nicht wirklich erreichen. Vielmehr wird deutlich, dass Jünger als Autor unverändert auf einen Leser abzielt, der sich mit ihm auf »Höhen denkenden Bewusstseinsfluges« bewegt, die »von einem Austausch mit den Inhalten und Bewegungen des ›Weltgeistes‹ hohe Kunde geben«.55 Das hat man gerade unlängst (und wieder einmal in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) als Aufforderung verstanden, »in den Räumen und an den Dingen«, in denen und an denen sich das ›Weltgeist‹-Werk ›Jünger‹ ereignet hat, die »Aura« einer »Wunderkammer« zu verspüren, die dieser »Schriftsteller an die Nachwelt abgetreten hat«; »jedes Ding« (wozu neben den Manuskripten und Büchern natürlich auch die Käfer zählen) spricht dann nicht (mit Hape Kerkeling) ›Ich bin dann mal weg‹, sondern »Bin gleich zurück« (so Hubert Spiegel und Wolfgang Elmes in der Wochenendbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. 11. 2009). Und in der Tat, wer das für Jüngers Autor-Konzeption zentrale Werk Autor und Autorschaft aufmerksam liest, der kann keinen Zweifel daran haben, wie intensiv sich hier in einer im Angesicht einer Hölderlin-Handschrift
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Vgl. Margret Boveri an Ernst Jünger am 20. 6. 1947. In: Margret Boveri und Ernst Jünger. Briefwechsel aus den Jahren 1946 bis 1973. Hrsg. von Roland Berbig, Tobias Bock und Walter Kühn. Berlin 2008, S. 45. Vgl. Hans Jürgen Baden: Ernst Jüngers christliches Zwischenspiel. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 3, H. 3 (1961), S. 328–343. In der finalistischen Deutung Heimo Schwilks wäre dies einzuordnen in einen »langen Prozess der Annäherung« an die im September 1996 vollzogene Konversion zur römisch-katholischen Kirche. Vgl. Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biografie. München, Zürich 2007, S. 21. Die Perspektive unseres Beitrags ist da, wie ersichtlich, eine andere. Zit. nach Tobias Wimbauer: Kritische Verehrung. Armin Mohler und Ernst Jünger. In: Armin Mohler (Hrsg.): Die Schleife. Dokumente zum Weg von Ernst Jünger. Nachdruck der Ausgabe von 1955. Bad Vilbel 2001, S. 161–176, hier S. 168. So das Zitat aus einem Brief eines ›idealen Lesers‹ in: Arnim Mohler (Anm. 54), S. 148ff.
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zelebrierten »Feierstunde zu dritt mit dem Dichter und dem Archivar«56 oder im »vollkommenen Dialog mit einem unsichtbaren, vielleicht vor tausend Jahren gestorbenen Partner«57 das normative Modell einer Lektüre-Begegnung entfaltet, die in der »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag,« genau jene Aura verspürt, für die – nach Walter Benjamin – im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks eigentlich kein Raum mehr sein sollte.58 Eine andere Möglichkeit eröffnet sich dann, wenn man den – so Peter Wapnewski –59 mitunter allzu hoch angesetzten Ton Ernst Jüngers als Resultat eines Versuches liest, im Angesicht eines Jahrhunderts, in dessen Vernichtungs-Kriegen mehr Menschen starben als in den Kriegen seit Christi Geburt zuvor, alle nur denkbaren Haltungen und Ansichten »ad absurdum [durchzuprobieren], um die transzendentale anzunehmen.«60 In einer solchen Perspektive muss man Ambivalenzen, Brüche und Abgründe nicht verleugnen, sondern kann danach fragen, ob und wenn ja wie weit der Autor Jünger bereit war, seinen Lesern Hinweise auf den gelegentlich doch recht prekären Konstruktcharakter seiner die Grenze zur Serialität nicht nur streifenden Sinnstiftungen zu geben. Aufhorchen lässt dazu eine Bemerkung zur Journalistin und Publizistin Margret Boveri, in der Jünger über die Unvermeidlichkeit seines »Doppellebens« ausführt: »Man muss es auch insofern führen, als man sich selbst objektiviert und zum Fetisch macht« – und, so könnte man hinzufügen, den gerade geltenden Fetisch rechtzeitig durch einen neuen ersetzt. »Während die anderen sich damit beschäftigen, sitzt man behaglich in seinem Interieur und tut sich was Gutes an«.61 Stellt man den Autor Jünger mit Hilfe solcher und anderer Textbeobachtungen entschlossen unter Ironieverdacht, dann lässt sich daraus die Aufforderung ableiten, der bisher auf positive oder negative Eindeutigkeiten setzenden Jünger-Kanonisierung die Ansichten einer nach Spuren von Selbstreflexion und Selbstironie suchenden JüngerRezeption entgegenzusetzen.62 Ob die hier zu machenden Befunde hinreichen, Jünger in den Kanon einer sich selbst problematisierenden, weil ebenso hoch- wie selbstreflexiven literarischen Moderne aufzunehmen oder gar, wie gerade jüngst vorgeschlagen, in einen »Postmodernen avant la lettre« zu verwandeln,63 bleibt abzuwarten.
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Ernst Jünger (Anm. 9), S. 64f. Ebd., S. 45. Der epochemachende Aufsatz Walter Benjamins wird zitiert nach: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. VII,1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / M. 1989, S. 350–384, hier S. 355. Vgl. Peter Wapnewski: Ernst Jünger oder Der allzu hoch angesetzte Ton. In: Die Zeit vom 8. 11. 1974. Hans Blumenberg (Anm. 3), S. 11. Dazu heißt es bei Blumenberg zwar, Jünger behaupte nicht, man müsse »die nihil. Alternative« »durchprobiert haben, um die transzendentale anzunehmen«, »aber zweifellos ist das sein eigener Weg« (ebd.). Jünger am 25. 11. 1957. In: Margret Boveri / Ernst Jünger (Anm. 52), S. 135. Ein Vorschlag dazu liegt vor bei Harro Segeberg: Ernst Jüngers ›Gläserne Bienen‹ als ›Frage nach der Technik‹. In: Friedrich Strack (Hrsg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter. Würzburg 2000, S. 211–224. Vgl. Daniel Haas: In Zeichenschauen. In: Frankfurter Allgemeine vom 6. 11. 2010.
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Aber wie auch immer, eine nicht länger nach der einen Wahrheit, sondern nach der Funktion der vielen Wahrheiten fragende Entmythologisierung dieses Autors ist einfach überfällig. Mit ihr könnte man mit Jüngers Arbeit am Mythos nicht danach fragen, was Mythen über alle historischen Zeiträume hinweg ein für alle mal ›wissen‹, sondern danach, was Mythen in historischen Lagen wissen wollten. Was den ›Mythos‹ Jünger selbst durchaus einschließt. Man kann nur hoffen, dass die seit einiger Zeit angedachte kritische Jünger-Ausgabe dem zuarbeitet.
II. Wertung und Kanon in Institutionen
Günter Scholdt
Innere Emigration und literarische Wertung
1. Rezeptionsästhetische Ausgangslage Meinem Aufsatz liegt ein pragmatischer Begriff von ›Innerer Emigration‹ zugrunde. Er umfasst einen (auch von Exilanten zumindest der 1930er Jahre kaum bezweifelten1) Komplex von Autoren, die weder emigriert noch in Kernfragen nazistisch infiziert waren, respektive einen nennenswerten zwischen 1933 und 1945 verfassten Textbestand, der weder Exil- noch NS-Gesinnungsliteratur darstellt. Ihn näher zu begründen bzw. den Umstand, dass ich entgegen massiver germanistischer Vorbehalte an ihm festhalte, wäre ein eigenes Thema, dem ich mich aus Raumgründen hier nicht widmen kann. Ohnehin zwingt der begrenzte Umfang dieser Ausführungen zu Klartext und Verzicht auf manche differenzierenden Subtilitäten.2 Sprechen wir also nicht über Positionen einer Minderheit, sondern über gängige Trends in Wissenschaft und Literaturkritik. Insofern schönt es den Tatbestand ein wenig, zu behaupten, viele Innere Emigranten seien zwar von einer veränderten Literaturszene in den Hintergrund gedrängt worden, aber jüngere Forschungen hätten zu einer ›Revision‹ geführt.3 Denn es gibt zwar glücklicherweise immer mal wieder solche
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Exemplarisch: Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934. Hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt / M. 1977, S. 243, 7. 11. 1933: »Las nach dem Abendessen die neue Nummer dieser Zeitschrift. Gutes über den deutschen Wahlschwindel und die innere Emigration, zu der ich im Grunde gehöre.« Ausführlicher habe ich mich in den folgenden Aufsätzen mit dem Thema beschäftigt: Günter Scholdt: ›Ein Geruch von Blut und Schande?‹ Zur Kritik an dem Begriff und an der Literatur der Emigranten im Innern. In: Wirtschaft & Wissenschaft. Hrsg. vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. 2 (1994), H. 1, S. 23–28; Günter Scholdt: Tabula rasa oder terra incognita? Kennen wir tatsächlich die im Dritten Reich geschriebene Literatur? In: Diskussionen 34 (1997). Hrsg. von der Evangelischen Akademie Baden. Karlsruhe, S. 40–53; Günter Scholdt: Kein Freispruch zweiter Klasse. Zur Bewertung nichtnazistischer Literatur im ›Dritten Reich‹. In: Zuckmayer-Jb. 5 (2002), S. 127–177; Günter Scholdt: Deutsche Literatur und ›Drittes Reich‹. Eine Problemskizze. In: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die totalitäre Erfahrung. Deutsche Literatur und Drittes Reich. Berlin 2003, S. 13–34. So der Einladungstext zu einer Marbacher Tagung, deren Aufsätze im folgenden Band enthalten sind: Michael Braun / Georg Guntermann (Hrsg.): Gerettet und zugleich von Scham verschlungen. Neue Annäherungen an die Literatur der ›Inneren Emigration‹. Frankfurt / M. 2007. Ähnliches behauptet anfangs Metzlers Literaturgeschichte (Inge Stephan: Die Literatur der ›Inneren Emigration‹. In: Wolfgang Beutin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7., erweiterte Aufl. Stuttgart, Weimar 2008, S. 442), um anschließend sprechende Beispiele für zahlreiche unverblasste Vorurteile zu liefern.
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Neubewertungen,4 meist in wissenschaftlichen Nischen, aber nur vor dem Hintergrund einer im neugermanistischen Kanon (konkret: in den einschlägigen Kompendien oder Verlagsprogrammen) inzwischen weitgehend marginalisierten Autorengruppe, deren literaturwissenschaftliche Missachtung bereits mit massiven Vorbehalten gegenüber dem Terminus ›Innere Emigration‹5 beginnt. Diese dürften auf absehbare Zeit auch künftig die Forschungsatmosphäre bestimmen. Weniger weil die jüngere Germanistengeneration die forciert gesellschaftspolitischen Normen ihrer Vorgänger teilte. Eher schon aus Informationsmangel und einem gewissen Desinteresse an jener einst heftig umkämpften Epoche, das neuerdings auch die Exilliteratur trifft und, wenn es um Grundsätzliches geht, den letzten Erkenntnisstand kaum in Frage stellt. Denn, Hand aufs Herz, wer von den heute Studierenden liest oder kennt sie noch: die Wiechert, Carossa, Andres, Bergengruen, Le Fort, Klepper, Lehmann und Loerke, Langgässer, Britting, Kasack, Reinhold Schneider oder Ricarda Huch, ganz abgesehen von Außenseitern wie Ilse Molzahn, Johannes Moy oder E.G. Winkler respektive jene Benn’schen Wanderer zwischen politischen Welten wie Martin Raschke, Ernst von Salomon, Egon Vietta oder Hans Grimm? Wichtige, kanonwürdige Texte, die die Lebendigkeit und Variationsbreite jener Literaturepoche illustrieren könnten wie etwa Vegesacks Die baltische Tragödie, Kasacks Die Stadt hinter dem Strom, Langes Auf den Hügeln vor Moskau, Hartlaubs Im Sperrkreis, Benns Weinhaus Wolf, Jahnns Das Holzschiff, Bergengruens Der Tod von Reval, Maass’ Das Testament, Helwigs Raubfischer in Hellas, Gurks Tresoreinbruch, Weisenborns Die Furie, Kluges Der Herr Kortüm oder Leips Das Muschelhorn sind dem Gedächtnis weitgehend entschwunden, wie die meisten Namen und Titel aus dem ungemein fruchtbaren Genre historischen Erzählens, von Paul Gurk, Peter Stühlen, Emil Belzner und Rudolf Brunngraber über Edzard Schaper, Arnold Ulitz und Olaf Saile bis Norbert Jacques, Fritz Reck-Malleczewen oder Marianne Langewiesche. Klassische Paradigmen des Magischen Realismus wie Horst Langes Ulanenpatrouille, Ernst Schnabels Schiffe und Meere, Ernst Jüngers Abenteuerliches Herz. 2. Fassung, Elisabeth Langgässers Der Gang durchs Ried usw. gelten mittlerweile bestenfalls noch als Geheimtipps. Kollegen, mit denen man sich, durch Lektüre substantiiert, darüber austauschen könnte, lassen sich an zwei Händen abzählen. Welches Theater spielt noch Hauptmanns Atriden-Tetralogie? Wo sind die Bibliographien, Forschungsberichte oder Literaturgeschichten, in denen man in angemessener Ausführlichkeit etwas über diese Epoche erfahren könnte, wo die Nachschlagewerke, in denen uns ohne moralistische Vorauszensur genuin literarhistorische Fragen beantwortet werden?
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Vgl. exemplarisch die Musterung neuerer Forschungsliteratur in: Günter Scholdt: Kein Freispruch (Anm. 2), S. 132ff. Vgl. dazu: Günter Scholdt: Deutsche Literatur und ›Drittes Reich‹ (Anm. 2), S. 23f.; Günter Scholdt: ›Ein Geruch von Blut und Schande?‹ (Anm. 2). Eine der jüngsten Infragestellungen der Schreib- und Lebensform ›Innere Emigration‹ stammt von Wilhelm Haefs, dem Herausgeber von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 9 (Nationalsozialismus und Exil, 1933–1945. München, Wien 2009, S. 44–50). Seine anfangs bekundete pseudoobjektive Distanz passt wenig zu späteren denunziatorischen Einlassungen.
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Übertreibe ich? Vielleicht hat der Fragebogen, den ich vor einigen Semestern in Saarbrücken vorlegte, als Stichprobe eine gewisse Aussagekraft: Von 31 Teilnehmern eines Hauptseminars konnten 30 mit Namen wie Emil Barth, René Hocke, Martin Kessel, Jochen Klepper, Horst Lange, Marianne Langewiesche, Wilhelm Lehmann, Gerhard Nebel, Ernst Penzoldt, Ernst Schnabel oder August Scholtis überhaupt nichts anfangen, 29 nichts mit Albrecht Haushofer, Hans Henny Jahnn, Friedrich Georg Jünger, Edzard Schaper, Frank Thieß, Siegfried von Vegesack, Günther Weisenborn, Wolfgang Weyrauch oder Georg von der Vring, 28 nichts mit Peter Bamm, Otto Flake, Hermann Kasack, Erik Reger oder Rudolf Alexander Schröder. Dabei ist das Ergebnis durch die Teilnahme zweier äußerst belesener Seniorenstudenten noch erheblich ins Positive verfälscht.6 Ist das erwähnens- oder erregenswert? Gilt nicht auch für andere Epochen oder Länder, dass Kulturleistungen ständig vergessen werden, um Platz für neue Eindrücke zu schaffen? Die virtuelle Literaturgeschichte der Welt gleicht schließlich einem unauslotbaren Wissensozean, bei dem allenfalls kleine Inselgruppen erforscht oder kartographiert werden können. Allerdings findet sich so leicht kein zweiter Fall, wo ein ganzer Literaturkomplex so augenscheinlich und gezielt in den Orkus des Vergessens geschleudert wurde. Er scheint heutigem Bewusstsein fast schon versunken wie einst Atlantis, nur nicht so ruhmreich und der dosierten Erinnerung Nachgeborener würdig, eher schon im Sinn einer (vom Mainstream gewünschten) kulturhygienischen Entsorgung. Um solche Problemdimension geht es im Kern beim Stichwort ›Innere Emigration und Kanon‹, um die dringliche Notwendigkeit einer Neusichtung und -einschätzung, weniger um vereinzelte tröstliche Botschaften, – dass es hier und da auch andere philologische Töne zu hören gibt, – dass etwa Andres’ El Greco oder Nossacks Untergang zuweilen noch in Schulen gelesen werden, – dass sich aktive Minderheiten-Initiativen z. B. der Förderung von Hans Henny Jahnn oder Friedo Lampe annehmen, – dass Loerke, Lehmann oder Britting zuweilen noch auf (regionales) Interesse stoßen, – und schon gar nicht um gönnerhafte Gesten wie diejenige Marcel Reich-Ranickis, der Erich Kästner zum »Exilschriftsteller honoris causa«7 erklärte, was, nebenbei gesagt, das geballte Unverständnis gegenüber der innerdeutschen Literatur exemplarisch auf den Punkt bringt. Es geht auch um das Bewusstsein von literarhistorischen Verlusten und Verheerungen, die ein rigoroser Paradigmenwechsel innerhalb der Germanistik bewirkt bzw. angerichtet hat, den wir ruhig als ›Kulturkampf‹ bezeichnen können. Er findet seinen Niederschlag in allen heute gängigen Lexika, dem Fehlen einer adäquaten forschungsmäßigen
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Damit nicht lediglich Saarbrücken als philologisches Tal der Ahnungslosen erscheinen möge, sei auf eine tendenziell ähnliche Befragung von Nadine Docktor in Sachen Bergengruen verwiesen, die auch Frankfurt mit einbezieht (Die Rezeption Werner Bergengruens nach dem Zweiten Weltkrieg. Erscheint voraussichtlich 2011 im neuen Bergengruen-Jahrbuch). Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung. Stuttgart 1980, S. 293; vgl. Dagmar Barnouw: Gespenster statt Geschichte. Kollektivschuld statt Erinnerung. In: Zuckmayer-Jb. 5 (2002), S. 110f.
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Infrastruktur und nicht zuletzt der Grundstimmung, der sich Nachwuchsgermanisten ausgesetzt sehen. Die Waffen in dieser schon lange ungleichen geistigen Auseinandersetzung sind vielfältig. Zu den schärfsten gehören die von der Mehrheit inzwischen weitgehend verinnerlichten Wertungskriterien. Sie erscheinen häufig als Ergebnis literaturwissenschaftlicher Rationalität, sind aber in Wirklichkeit eine kulturpolitische Vorentscheidung ersten Ranges. Wir müssen uns stets verdeutlichen, dass überall dort, auch wo scheinbar nur binnenliterarisch geurteilt wird, in aller Regel zugleich ein gesellschaftlich-ideologischer Stellvertreterkrieg geführt wird, bei dem es darum geht, bereits im Vorfeld die Kriterien zu besetzen, die diese Auseinandersetzung entscheiden werden. Schauen wir uns einige von ihnen einmal näher an.
2. Wertungsprämissen (1) Die folgenreichste ästhetische Vorentscheidung betrifft die dominierende Festlegung schriftstellerischer Aufgaben auf das politische Engagement, genauer: auf regimekritische Opposition. Danach gibt es zwischen 1933 und 1945 offenbar keine bedeutsame Literatur jenseits dieser Hauptprogrammatik. Alles ist einer durchgängigen Polit- bzw. Moralperspektive unterworfen, die mehr Mut als Talent fordert und Belletristik weitgehend als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln begreift. Dabei genügt es anscheinend noch nicht, dass sich ein ernstzunehmender Autor im Wesentlichen nazistischen Verlockungen widersetzt und von zentralen Ideologemen freihält, indem er sich aus dem öffentlichen Raum zurückzieht. Durchweg wird mehr verlangt als bloße ›Innerlichkeit‹, eine Haltung, die ohnehin meist nicht als – was sie zuweilen auch war – ihrerseits politische Reaktion auf staatliche Gleichschaltungstendenzen erfasst, sondern als letztlich systemstabilisierende Flucht verstanden und dem Eskapismus-Vorwurf ausgesetzt wird. Jahrzehnte nach Schonauers und Loewys polemischen Analysen8 mögen in germanistischen Abhandlungen inzwischen gewisse Schroffheiten gemildert und Details korrigiert oder differenziert worden sein. Eine wirkliche Trendwende, ablesbar an einer veränderten Grundeinstellung der Forscher und ihrer literarhistorischen Praxis, erkenne ich jedoch allenfalls ansatzweise. (2) Dieser Politzwang betrifft Haltungen, literarische Techniken, Gattungen und Stoffe. Wenn Brecht in seinem großen Exilgedicht An die Nachgeborenen über die Zeiten klagt, in denen »ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen« sei,9 so kommt eben alles auf das Wörtchen »fast« an. Nicht wenige Germanisten übersehen diese Einschränkung, erst recht, wo sie Adornos Verdikt über Lyrik angesichts von Massenmord im Kern bejahen.10 In diesem Sinne brandmarkt Ketelsen z. B. Lehmanns Gedicht Signale
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Franz Schonauer: Deutsche Literatur im Dritten Reich. Olten, Freiburg 1961; Ernst Loewy: Literatur unterm Hakenkreuz. Frankfurt / M. 1969. Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Bd. 12. Berlin, Frankfurt / M. 1988, S. 85. Vgl. Petra Kiedaisch (Hrsg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Stuttgart 1995.
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als »Zeugnis humaner Verstümmelung« respektive Ausdruck erworbener Inhumanität,11 weil dieser das Naturerlebnis therapeutisch gegen die Schrecken der Zeit ausgespielt hatte. »Kein Trost nirgendwo« lautet das rigorose Wertungsmotto. Gegenwelten dürfen nicht aufgebaut werden. Sinnsuche und Hoffnungszeichen, die aus der Deutung von säkularen Abläufen gewonnen werden, gelten als illusionäres Wegschauen. (3) Vorurteilslos betrachtet, d. h. im Bemühen, tatsächlich etwas zu finden und nicht nur Defizite zu entdecken, ist die innerdeutsche Literaturlandschaft zwischen 1933 und 1945 gar nicht so eintönig, karg oder innovationsfeindlich, wie man sie häufig gezeichnet hat. Selbst wer nur an politischer Konfrontation interessiert ist, findet eine Hundertschaft von Texten, die wenig Zweifel an ihrer kritischen Intention zulassen, indem sie NS-Essentials widersprechen. Leider verbieten Umfangsgründe ausführliche Textbelege. Sonst ließen sich selbst bei äußerst delikaten Themen wie ›Krieg‹ und ›Rassismus‹ beachtliche Unbotmäßigkeiten vorstellen.12 Auch Vorsicht und Zurückhaltung schließen übrigens Aufklärung nicht aus. Wir müssen nur die Rahmenbedingungen dieser Literatur wieder besser berücksichtigen, um zu erfassen, was den Zeitgenossen selbstverständlich war: dass nämlich selbst kleine Abweichungen von offiziell erwünschten ideologischen Botschaften für geschärfte Augen und Ohren große Bedeutung haben konnten. Zudem hat die Aufdeckung vielfältiger, z. T. äußerst raffinierter Camouflagetechniken ihren eigenen Reiz.13 Wenn das heute vielfach ignoriert wird, liegt dies nicht zuletzt daran, dass mit zunehmendem Abstand zum Dritten Reich offenbar die Ansprüche an die damaligen Texte ständig gesteigert wurden. Mit der triumphalen Rückkehr der Exilliteratur ins germanistische Bewusstsein einher ging eine immer stärkere Orientierung an deren politischen und literarischen Standards, was verdeckte oder zeitabgewandte Schreibformen abwertete. So zählen z. B. historische Romane (als literarische Leistung) nur noch dort, wo sie als aktuelle Schlüsseltexte gelesen werden konnten, am besten leicht dechiffrierbar, ja unmissverständlich, was bei den Verfassern Märtyrerhaltungen voraussetzt. Auch sonstige literarisch-publizistische Gegnerschaft hatte absolut zu sein, ohne Mimikry oder gelegentliche Kompromisse um des Ganzen willen. Falls nicht, gilt dies als Beleg für die Aporie, es gebe nun mal ›kein richtiges Leben im falschen‹ – übrigens eine als generelle Behauptung unakzeptable Simplifikation, wie viele vermeintlich große Worte.14
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Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld 1992, S. 321. Vgl. als kleine Kostprobe: Günter Scholdt: Heiße Eisen. Ostdeutsche Schriftsteller und ihr Umgang mit heiklen Themen im Dritten Reich. In: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Deutsche Autoren des Ostens als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus. Berlin 2000, S. 13–44. Exemplarisch in Rudolf Pechels satirischem Essay Bei Dr. Leete die Verwendung eines hochironischen Gedankenstrichs, der die Auflösung eines Rätsels noch um eine Sekunde verzögert, welches Land durch Pechels Schilderung einer umfassenden Terrorszenerie gemeint sein könnte (in: Rudolf Pechel: Zwischen den Zeilen. Wiesentheid 1948, S. 294). Denn natürlich wird der Leser nicht nur auf die Sowjetunion verwiesen. Zu weiteren Techniken: Heidrun Ehrke-Rotermund, Erwin Rotermund: Zwischenreiche und Gegenwelten. Vorstudien zur ›Verdeckten Schreibweise‹ im ›Dritten Reich‹. München 1999. Exemplarisch für solche Problemverkürzungen steht eine Formulierung über Oda Schaefer, in: Hans Sarkowicz / Alf Mentzer: Literatur in Nazi-Deutschland. Hamburg, Wien 2000, S. 302. Der Umstand, dass die Autorin im Dritten Reich publizistisch präsent blieb, wird zum Urteil
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(4) Verbreitete Kenntnisdefizite über zeittypische poetische Intentionen und Schreibvoraussetzungen im Dritten Reich vervollständigen das Bild. Gerade im Zusammenhang mit der Über- bzw. Unterschätzung der damaligen schriftstellerischen Spielräume hat Friedrich Denk in seiner Außenseiterstudie Die Zensur der Nachgeborenen trotz mancher Ambivalenzen ignorierender Plakativität Wesentliches gesagt.15 Jedenfalls sollte die Duldung von Autoren oder deren Veröffentlichungen durch das Regime nicht zur ideologischen Nähe vereinfacht werden, wie dies häufig geschieht. Leider begegnet man auch immer wieder Argumentationen, wonach Werke wie Auf den Marmorklippen, Der Großtyrann und das Gericht oder Das einfache Leben ja nicht gar so oppositionell gewesen sein könnten. Wären sie sonst doch wohl verboten worden.16 Statt dessen gebe es im vermeintlich widerständigen Autorenkreis sogar viele damalige Bestseller.17 Dass Texte von Andres, Bergengruen, Vring, Britting, aber z. B. auch von Hesse oder Ricarda Huch gar in NS-Organen erschienen oder dort auch einmal positiv besprochen wurden, scheint sie für oberflächliche Blicke zu diskreditieren.18 Und wo gar die Wehrmachtsbücherei für die Verbreitung sorgte, schlagen notorische Enthüller Alarm. Dies gilt etwa für Jüngers Gärten und Straßen ebenso wie die Erzählung aus den Türkenkriegen von Wolfgang Hoffmann-Zampis, der Helmut Peitsch eine interpretatorische Umwertung zuteil werden ließ, die an denunziatorischer Rabulistik ihresgleichen sucht. Aus einer engagierten Schlüsselerzählung gegen den völligen Verlust sittlicher Grundsätze im Krieg wird so unversehens ein »propagandistischer Beitrag zur Brutalisierung« des Lesers.19
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enggeführt: »[…] und unterstützte damit nolens volens den Eindruck literarischer Normalität im NS-Staat«. Friedrich Denk: Die Zensur der Nachgeborenen. Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich. Weilheim i. OB, 3. Aufl. 1996. Von atmosphärischer Symptomatik dürfte eine jüngst erlebte Seminardiskussion sein. Es ging um Kästners Münchhausen. Der Held des Films grenzt sich dabei in einer wichtigen Szene gegenüber Cagliostros Macht- und Eroberungswillen in Osteuropa mit den Worten ab: »In einem werden wir zwei uns nie verstehen: In der Hauptsache! Sie wollen herrschen; ich will leben. Abenteuer, Krieg, fremde Länder und Frauen – ich brauche das alles, Sie aber mißbrauchen es!« (Erich Kästner: Münchhausen. Ein Drehbuch. Frankfurt / M. 1960, S. 79). Als couragierte Schlüsselstelle in einem Werk des Jahres 1943 deutete sie der Referent. Doch eine Studentin widersprach heftig und fand mit ihrem Einwand, dass die Nazis ja wohl nicht so dumm gewesen sein dürften, so etwas zuzulassen, im Plenum offenbar zunächst Gehör. »Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf«, hätte Christian Morgenstern diese verbreitete Scheinlogik in Sachen ›Literatur im Dritten Reich‹ vielleicht kommentiert. Frank Westenfelder (Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel des historischen Romans zwischen 1890 und 1945. Frankfurt / M. 1988, S. 269) verweist auf Klienebergers Feststellung, alle von ihm untersuchten Inneren Emigranten seien BestsellerAutoren gewesen, was seine Ursache in ideologischen Gemeinsamkeiten mit dem Nationalsozialismus haben müsse. (Hans Rudolf Klieneberger: Christian writers of the Inner Emigration. Den Haag, Paris 1968, S. 457.) Vgl. Friedrich Denk (Anm. 15), S. 141–147; im Ton anders: S. 189–191. Entscheidend sein Hinweis auf zuweilen viel größere Freiheiten in Parteiblättern oder den Umstand, dass gegen Ende des Regimes die NSDAP 82,5% Marktanteil bei Zeitungen besaß. Helmut Peitsch: Wolfgang Hoffmann-Zampis. Erzählung aus den Türkenkriegen. In: Exilforschung 12 (1994), S. 92, vgl. S. 83.
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Auch manche zumindest teilpositive Herrscherfiguren in historischen Romanen irritieren zeitfremde Interpreten, da ihnen meist ein Sensorium für die Spezifi ka des Erzählens im Dritten Reich fehlt.20 (5) Die Offenheit vieler Texte, sonst unter dem Rubrum ›Polyvalenz‹ als Kennzeichen anspruchsvoller Literatur gepriesen, stellt für jene Epoche anscheinend kein Gütesiegel dar. Eher herrscht ein ästhetischer Zwang zur Konkretion und Eindeutigkeit mit fatalen Folgen für den Magischen Realismus, der nicht selten als defizitäre Verlegenheitslösung missverstanden wurde. Seine daraus resultierende unzulängliche literaturgeschichtliche Berücksichtigung gehört denn auch zu den bemerkenswertesten Fehlleistungen der neueren Germanistik.21 Auch schaudert es einem vor Interpreten, die mit solchem Instrumentarium Kafka oder den Zauberberg analysieren könnten. Verkannt wird meist auch, dass bei Handlungen aus anderen Zeiten und Ländern häufig nicht einfach Gegenwarts-Allegorien beabsichtigt waren, sondern, ungeachtet aktueller Bezüge, eigenständige Themenbehandlungen. Verpönt ist des Weiteren die zeit- und ortsübergreifende typologische Schreibweise, erwünscht nur Gegenwärtiges, Singuläres, Spezifisches. Was sowohl auf Hitler als auch auf Stalin oder andere Terrorkonstellationen gemünzt sein konnte, wird abgewertet. So dürfen etwa die (in neuerer Sicht meist positiv konnotierte) französische, russische oder spanische Revolution nicht zur Modellbildung herangezogen werden. Kindlers Neues Literatur Lexikon, in dem sich, insbesondere in der Ära Jens22 gerade was die Innere Emigration betrifft, der Zeitgeist zuweilen recht schrill artikuliert, beklagt z. B., dass Stefan Andres Wir sind Utopia im Spanienkrieg spielen ließ. Der Autor stimme so mit einer »offiziellen Geschichtslüge« überein und unterstütze »das faschistische Zerrbild des blutrünstigen ›Rotspanien‹ mit einer ›Realitätsschilderung‹, die nichts weniger als realitätsgetreu ist.«23 (6) Opposition wird nur dann (ganz) anerkannt, wenn sie aus politisch gebilligten, ›korrekten‹ Motiven erfolgte. Wo Regimekritik vornehmlich als ästhetisch, elitär, konservativ oder vom christlichen Reichsgedanken motiviert erscheint, unterbleiben meist
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Exemplarisch: Hans Sarkowicz / Alf Mentzer (Anm. 14), S. 89. Vgl. dazu Günter Scholdt: Kein Freispruch (Anm. 2), S. 159ff. In der soeben erschienenen Neuauflage finden sich (durch Kürzungen) deutliche Milderungen, die jedoch nicht selten einen grundsätzlichen Soupçon bewahren. Wenn ich von der ›Ära Jens‹ spreche, unterstelle ich keinen nennenswerten Einfluss des Herausgebers auf Inhalt und Wortwahl der Artikel, sondern deute nur auf den Zeitgeist, von dem sie beherrscht wurde. Walter Jens (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 1. München 1988, S. 488. Die 3. Aufl. Stuttgart 2009 formuliert zwar etwas distanzierter, hält aber den Vorwurf im Kern aufrecht: »Kontrovers diskutiert wird die Tatsache, […] dass Andres’ Version mit einer offiziellen Geschichtslüge – derjenigen vom Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs – übereinstimmt.« Nun, über den »Verlauf« des Bürgerkriegs macht die Novelle keine Angaben. Sollten aber vom Artikelschreiber antikirchliche Greuel generell in Frage gestellt werden, herrschen wohl seinerseits rotspanische Propagandaklischees vor, die selbst Hemingway oder IB-Kommissar Regler nicht geteilt hätten. Mit vergleichbarer Tendenz: Ralf Schnell (Dichtung in finsteren Zeiten. Reinbek 1998, S. 125), der einen der faszinierendsten camouflierten Widerstandstexte, Rudolf Pechels Bei Dr. Leete (1941), als prekäre »Gleichsetzung ungleicher Bewegungen wie Kommunismus und Faschismus« kritisiert.
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gute Noten. Vollgültig ist vor allem der ›progressive‹, d. h. demokratisch-republikanische oder sozialistische Widerstand. Seit der ›Wende‹ werden in germanistischen Publikationen wenigstens keine marxistischen Überzeugungen mehr verlangt. Auch vernunftgesteuert – was immer das heißen mag – sollte die Gegnerschaft sein. In Ralf Schnells noch heute unverändert verbreiteten Studie Literarische Innere Emigration 1933–1945 stehen Sätze, die man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte: Sowohl der christliche Standpunkt Bergengruens und Schneiders wie der konservative Sieburgs, Jüngers und Reck-Malleczewens werden aus einer Quelle des Irrationalismus gespeist, der dem Menschen ein geschichtsbestimmendes Handlungsvermögen versagt und die Möglichkeit seiner Verwirklichung nach den Prinzipien kritischer Vernunft ebenso negiert wie seine Fähigkeit zur Einsicht in die den geschichtlichen Prozeß bewegenden materiellen Kräfte [...]. Der von den Autoren so deutlich abgelehnte Faschismus ist in ideologischer Hinsicht nichts anderes als die Kehrseite ihres eigenen Irrationalismus. [...] Daß die Autoren […] lediglich ›unerwünscht‹ waren, nicht aber verboten wurden, ist wesentlich auf die latente Übereinstimmung ihrer geschichtsphilosophischen Theoreme mit solchen des Faschismus zurückzuführen: sie bildeten ideologisch brauchbare Reservate bürgerlicher Gegenaufklärung.24
(7) Viele Wertungen orientieren sich am Ideal einer Fundamentalopposition und völligen Immunität gegenüber dem Zeitgeist. Insofern wird vom Autor auch eine konsequente Gegenhaltung in allen Werken und Äußerungen erwartet, kein Anfangszögern, kein Zweifel, ob diese oder jene Entwicklung nicht vielleicht letztlich doch tolerabel sei, wie sie unter so manchem anderen Exilanten auch Thomas Mann kennzeichnete. Verständnis für Irrtümer, Halbheiten, notgeborene Konzessionen oder kollektive Verführungen25 sind eher die Ausnahme, wo man Schneider, Benn usw. anfangs auf Abwegen sieht. Dass viele Autoren bereits seit den 1920er Jahren einen Konfrontationskurs zur linken Literaturprogrammatik oder bestimmten Modernismen zunächst nachvollziehbar fanden, wird ihnen in fahrlässiger Rückdatierung als schuldhafte ideologische Nähe zum Nationalsozialismus ausgelegt. (8) Eine Verschärfung der Kriterien liegt darin, auch Wirksamkeit von den oppositionellen Äußerungen zu erwarten. Eberhard Lämmert replizierte vor gut einem Jahrzehnt in einer Bonner Diskussion, keiner der von mir verteidigten Texte habe die Schreckensbilanz der NS-Zeit verhindern können. Woher weiß er das? Sind diejenigen je gezählt worden, die durch solche Literatursignale in ihrem Nonkonformismus bestärkt wurden und auch nur durch eine mutige Tat oder Unterlassung in privater Stille noch Schlimmeres verhütet haben? Berücksichtigt er, dass z. B. Angehörige der Weißen Rose von der Lektüre Carossas, Reinhold Schneiders oder Ernst Jüngers (Auf den Marmorklippen) geprägt wurden, und sollte dies nicht auch für andere Autoren und Leser gelten? Aber auch dazu hatte er sich schon früher geäußert:
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Ralf Schnell: Literarische Innere Emigration 1933–1945. Stuttgart 1976, S. 153f. Kaum abgemildert in: R.S. (Anm. 23), S. 128f. Dazu Wolf Biermann (Faule Tomaten. In: Der Spiegel, Nr. 24 (1994): »Es gibt Irrtümer und Illusionen, die muß man geradezu haben – zu ihrer Zeit. Kein Mensch entgeht ganz den Borniertheiten seiner geistigen Umwelt.«
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Einzelne, und vor allem die Gebildeten unter ihnen, in ihrer Haltung zu bewahren, war dieser Literatur möglich; Vielen oder gar einem Volk den Weg zu seiner Rettung anzuzeigen, dazu konnte diese Literatur nicht taugen.26
Warum überhaupt dieses Dementi? Wann hätte es je eine Literatur gegeben, die solches leistet? Woher kommen in Sachen ›Innere Emigration‹ derart maßlose Ansprüche, durch Texte gleich ganze Völker retten zu sollen? Oder anders gefragt: Wer war nun eigentlich wirksamer: Becher und Bredel mit ihren Exil-Aufrufen oder Bergengruen mit seiner Flugblatt-Arbeit in katholischen Zirkeln? Haben Brechts Die sieben Todsünden des Kleinbürgers, die im dänischen Exil selbst den toleranten König verschreckten,27 tatsächlich mehr gegen Hitler bewirkt als Schneiders Las Casas vor Karl V.? Und selbst wenn nicht: In wie direktem Zusammenhang werden hier Literatur und Tat verknüpft? Sind tagespolitische Forderungen, die Karl Eibl im Falle Andres erhebt,28 tatsächlich Königswege zum Verständnis von Texten wie El Greco malt den Großinquisitor und Wir sind Utopia? Wird Literatur damit nicht zum Leitartikel, zum Marschplan ohne jede dialektische oder genuin belletristische Dimension? An Eibls Analyse ist vieles richtig und bedenkenswert; doch anders perspektiviert, wirkt manches banausisch verfehlt, erscheinen mir dann doch viele seiner politstrategischen Monita eher als veritable Stärken der Texte. Nicht zuletzt ihre Modellhaftigkeit, Offenheit und Zeitunabhängigkeit, die Unmöglichkeit, sie plan und platt als Handlungsanweisungen zu lesen, faszinierten mich über Jahrzehnte hinweg und haben mich immer wieder veranlasst, sie ständig von neuem zu lesen. Wären sie in der simplen Aussage aufgegangen, gegen die Bösen das Messer zu ergreifen und Widerstand zu leisten, hätte ich sie vermutlich nie mehr zur Hand genommen. (9) Noch strenger werden die Kriterien, wenn die Lebensführung der Autoren ins Spiel kommt. Der Wunsch nach durch und durch integren Repräsentanten des Geistes mündet (unter dem Vorwand von Wissenschaft) in umfangreiche Moralgutachten und verengt Literarhistorie zur Fahndung nach Helden und Schurken. Warum ausgerechnet Schriftsteller solchen retrospektiven Ansprüchen genügen sollen, bleibt dabei offen. Statt dessen herrscht die Devise, ›Man gebe mir eine Zeile Geschriebenes, und ich lasse ihn henken.‹ Unterschriften unter (mehr oder weniger erpresste) Grußadressen gelten als wichtige Beweisstücke im Gesinnungstribunal. Man registriert, wer bei NS-Feiertagen
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Eberhard Lämmert: Beherrschte Prosa. In: Rundschau 86 (1975), H. 3, S. 418. Noch in einer gemilderten späteren Einlassung (Günther Rüther (Hrsg.): Literatur in der Diktatur. Paderborn 1997, S. 26) heißt es: »Das Beispiel macht klar, daß alle unter einer Diktatur veröffentlichte Literatur in ihren Aussagemöglichkeiten so begrenzt war, daß von einem Beitrag zum politischen Widerstand, den sie zu leisten vermochte, allenfalls nur in den Grenzen zu sprechen ist, in denen das Klopfzeichen eines Mitgefangenen beim Nachbarn schon die Kraft zum Durchstehen der Haftdauer bestärken kann.« Im Anschluss findet sich dann allerdings wieder eine Relativierung: »Aber auch in diesen enggesteckten Grenzen bedeutet Schreiben unter einem totalitären Regime nicht selten ebenso viel für den Durchhaltewillen des Autors wie für sein Publikum« (S. 26f.). Marianne Kesting: Bertolt Brecht. Reinbek bei Hamburg 1959, S. 72. Karl Eibl: Selbstbewahrung im Reiche Luzifers? Zu Stefan Andres’ Novellen ›El Greco malt den Großinquisitor‹ und ›Wir sind Utopia‹. In: Wolfgang Frühwald / Heinz Hürten (Hrsg.): Christliches Exil und christlicher Widerstand. Regensburg 1987, S. 21–46.
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geflaggt oder der Winterhilfe gespendet hat. Erich Kästners Schreiben an die Reichsschrifttumskammer werden analysiert, als ob es sich um öffentliche Manifeste seiner tatsächlichen Einstellung handelte. In der Manier moralischer Kammerjäger interessieren sich Sarkowicz / Mentzer selbst für die Steuerbelege von Carossa oder Wolfgang Koeppen, und bei Ernst Klee paart sich Denunziatorik mit dilettantischer Inkompetenz,29 die auch den Fischer Verlag desavouiert. Natürlich war die Generalabsolution eines Alfred Andersch für die Dichtung im Dritten Reich, die stets zur Gegnerschaft tendiere,30 ein wenig zu blauäugig respektive (selbst-)apologetisch, um vor späterer Nachprüfung Bestand zu halten. Auch stört mich gewiss nicht, dass allzu dreiste Erinnerungstrübungen in Sachen Tapferkeit und Voraussicht von seriösen Literarhistorikern quellenmäßig hinterfragt werden. Aber die verbreitete Pose retrospektiver Selbstgerechtigkeit stößt mich eher ab. Hinzu kommt, dass viele bombastische ethische Ansprüche nur vor dem Hintergrund eklatanter politischer Doppelmoral aufrecht erhalten werden können. Denn die ›Leichen im Keller‹ im antifaschistischen Lager des Exils bleiben in solchen Zusammenhängen weitgehend ungeborgen, von der Mitverantwortung an der Erosion Weimarer Legitimität über die keineswegs blutscheuen Schönredner Moskauer ›Säuberungen‹ bis hin zu manchen ressentimentgeplagten Germanophobien, deren negative Reaktionen auf eine deutsche Umerziehung nicht ganz ausgeklammert werden sollten.31 Man gerät zwar in missliche Lagen, wenn man die einst Verfolgten und durch die Welt Getriebenen, deren Reaktionen wie Überreaktionen zu verstehen gewiss nicht schwerfällt, nun auch noch solcher Befragung aussetzt, statt sich vernünftigerweise auf Gemeinsamkeiten von Bedrängten inner- wie außerhalb Deutschlands zu konzentrieren. Aber da die meisten Studien zur innerdeutschen Literatur offen oder verdeckt den Kontrast zur Emigrantenszene betonen, nicht selten unter Bezug auf manche verbitterten Urteile und Verhaltensnormen, kommen wir um solche Vergleiche nicht herum. Liegt doch nicht wenigen heutigen Wertungen als stiller Vorwurf die Frage zugrunde: ›Warum seid ihr dageblieben?‹ Im Übrigen gilt viel grundsätzlicher: Sollte die moralische Integrität von Schriftstellern zum entscheidenden Wertungskriterium werden und wir uns selektiver Wahrnehmung enthalten, führte dies international zu einem literarhistorischen Massaker, das nur wenige Prominente überlebten. (10) Nach so viel Politik oder Moral wird es Zeit, die – falls es das gibt – genuin ästhetischen Monita zu behandeln, konkret den Vorwurf, die innerdeutsche Literatur dieser Zeit habe schlicht den Anschluss an die Moderne verpasst. So könne man einfach
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Ernst Klee: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. 2. Aufl. Frankfurt / M. 2009; vgl. Ulrich Weinzierl: Ein geistiges Armutszeugnis. In: Die Welt vom 2. 3. 2007. Alfred Andersch: Deutsche Literatur in der Entscheidung. Karlsruhe 1948, S. 7: »Das muß einmal ausgesprochen werden, daß jede Dichtung, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus ans Licht kam, Gegnerschaft gegen ihn bedeutete, sofern sie nur Dichtung war.« Vgl. Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom ›Führer‹. Bonn 1993, S. 764ff., 835ff.; Günter Scholdt: Was soll nur aus diesem Deutschland werden? Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller zwischen 1938 und 1949. In: Zuckmayer-Jb. 7 (2004) , S. 27–34, 39f.
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nicht mehr schreiben. Ich will das nicht leugnen, sofern man auch hier eine beachtliche Gruppe von Ausnahmen akzeptiert (z. B. Schnabel, Hartlaub, Lange, Brunngraber, Gurk, Borchert, E. Jünger oder Nossack) und anerkennt, dass der weithin registrierte stilistische Neuanfang der bundesrepublikanischen Nachkriegsavantgarde vielfach bereits durch Publikationen im Dritten Reich vorbereitet wurde. Aber das Problem ist falsch gestellt. Es geht nämlich nicht darum, heute oder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch so zu schreiben. Diese Stilepoche wurde zu Recht abgelöst, wie dies übrigens für so manche danach kommende ebenso gilt. Denn nicht nur die der Inneren Emigration,32 sondern alle Sprache gerät nach Ablauf ihrer Authentizitätsphase in eine Krise, in der ihre Worte häufig nicht mehr als treffend oder glaubwürdig empfunden werden. Und auch die Themen oder die spezifische Art, sie zu sehen und zu behandeln, legen für Nachgeborene Innovationen nahe. Der literarische Generationenkonflikt war also wohl zwangsläufig, aber Modernität ist ein relatives Qualitätsmerkmal. Zu teleologischer Fortschrittseuphorie, so als ob Houellebecq eine Weiter- und Höherentwicklung von Flaubert, Littell eine von Remarque darstelle, gibt es wenig Anlass. Und mit Sicherheit ist Modernität keine unbedingt sozialverträgliche Kategorie. Ihre explizite Chaos-Ästhetik wurde daher bereits in der Weimarer Republik attackiert und dies nicht ganz ohne Grund.33 Außerdem: Welche Moderne darf’s denn sein, diejenige von Marinetti, Brecht oder Hamsun? Aber die literaturgeschichtliche Forderung lautet ohnehin ganz anders. Denn bei dieser Art von Erinnerung geht es um die eigentlich selbstverständliche Repräsentanz eines nicht unbedeutenden Literaturkomplexes, der zwischen 1930 und 1960 breite Aufmerksamkeit gefunden hat. Und wenn es heute nicht mehr opportun erscheint, dieser Epoche (in bester historistischer Tradition) einen angemessenen Stellenwert zuzugestehen, liegt dies weniger an der ihr unterstellten Unfruchtbarkeit als an gegenwärtig noch wirksamen Einflussgruppen, die frühere Literatur an jetzigen gesellschaftspolitischen Überzeugungen messen und anschließend verwerfen. Literaturgeschichte verkümmert dabei zur Applikation gegenwärtiger retrospektiver Denk- bzw. Empfindungsweisen. Und in nüchterner Diagnose erklärt sich die relative Vergessenheit und scheinbare Bedeutungslosigkeit jener Autoren nicht zuletzt aus einem Mangel an Netzwerken oder Personen, die heute für sie einzutreten bereit sind. Denn sind im Sinne des jetzigen Zeitstils etwa Namen wie Hermann Broch oder Anna Seghers nicht genauso ›vergessen‹34 und haben doch ihre umfangreichen Werk-
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Exemplarisch spricht Kindlers Neues Literatur Lexikon davon, es sei Reinhold Schneider »nicht gelungen, die Krise der konservativen Sprache [...] zu bannen«, Walter Jens (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 14. München 1991, S. 1020). Dieses Schlussurteil ist in der neuesten Auflage gestrichen. Vgl. Günter Scholdt: Kein Freispruch (Anm. 2), S. 148–157. Vielleicht charakteristisch für das Empfinden jüngerer Germanisten ein Urteil von Dirk von Petersdorff: Bierseligkeit und Transzendenz. In: Saarbrücker Hefte 94 (2005), S. 57: »Wer will wirklich noch Musils Mann ohne Eigenschaften lesen? Also ich meine, gerne lesen. Ehrlich gesagt, ich bin froh, daß diese Gedanken- und Konzeptkunst, diese Dauerreflexion, Selbsteinsprüche, Fragmente, Experimente, Negation, wie das immer alles hieß, daß es einfach vorbei ist. Es ist eine Möglichkeit wieder neu anzufangen. Etwas leichter, unbelasteter, freudiger zu
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ausgaben35 im Gegensatz zu Andres, Schneider, Bergengruen, Gurk, Kasack oder Brunngraber. Auch in der Literaturgeschichte manifestiert sich ein ständiger ästhetischer Bürgerkrieg, der in unserem Fall in Folge eines nicht einmal so langen Marschs durch die Institutionen entschieden wurde. Dieser zerriss binnen kurzem die Netzwerke, die zuvor die im Lande gebliebenen Schriftsteller gegenüber den Emigrierten bevorteilt hatte. Dieser Zustand wurde nun radikal verändert zugunsten einer weitgehenden Verdrängung der ursprünglich höher Geschätzten. Das mag man begrüßen, beklagen oder mit kulturdarwinistischem Gleichmut konstatieren. Solange die forschungsstrategische Großwetterlage nicht durch massive Eingriffe von Lobbygruppen beeinflusst wird, was nicht zu erwarten ist, dürfte sich hier wenig ändern. Damit ist das grundsätzliche Dilemma, vielleicht aber zugleich für Einzelne eine künftige Aufgabe bezeichnet.
3. Dekanonisierungsprozesse der Nachkriegszeit Die Diskussion meines Vortrags ergab einen Erläuterungsbedarf vor allem hinsichtlich zweier Problemkomplexe. Gewünscht wurde eine Detaillierung der Umstände, unter denen sich die Dekanonisierung der Inneren Emigration vollzog, sowie eine exemplarische Begründung, warum ich die verteidigten Texte heute noch für lesenswert halte. Was die inzwischen erfolgte ästhetische Abwertung betrifft, liegt darin zunächst einmal wenig Spektakuläres. Stellt schließlich jede jüngere Autoren-, Kritiker- oder Philologengeneration frühere Kunstüberzeugungen allein schon aus Gründen der Selbstprofilierung und Neuetablierung auf den Medienmärkten in Frage, und so mancher Leser begrüßt dies.36
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beginnen.« Noch drastischer der ›Denkmalsturz‹ zahlreicher moderner Klassiker durch zehn Nachwuchsautoren unter 35 Jahren, in: Die Zeit vom 20. 5. 2010, S. 54f. Dazu Hans Dieter Zimmermann: Reinhold Schneider – Ein Dichter der inneren Emigration? In: Colloquia Germanica Stetinensia N. 18 (2010): »In der Bibliothek unseres Instituts für Literaturwissenschaft an der TU Berlin finde ich zwei Ausgaben der Werke von Anna Seghers, keine Ausgabe der Werke von Elisabeth Langgässer. […] Die Werkausgabe von Reinhold Schneider ist nicht vorhanden. Von Johannes R. Becher gibt es zwei Regale Primär- und Sekundärliteratur. Liegt es an der Qualität der Autoren? Ist Anna Seghers eine bessere Schriftstellerin als Elisabeth Langgässer? Liegt es daran, dass die eine emigrierte, die andere nicht? Liegt es daran, dass die eine Kommunistin war und die andere katholisch? […] Anna Seghers, die Therese von Konnersreuth, wie sie Hans Sahl einmal nannte, glaubte an den Kommunismus; das ist verzeihlich. Elisabeth Langgässer glaubte an Jesus Christus; das liefert sie dem Gespött der Kenner aus, die sie nicht kennen?« (S. 216, 219). Auch vom eigenen schulisch vermittelten Lektüreerlebnis in den 1950er und 1960er Jahren her erinnere ich mich an den Überdruss an zahlreichen Texten mit angeblich ewigen Weisheiten, die von der Überlegenheit ländlicher Existenz gegenüber großstädtischer Hektik und Verkommenheit kündeten oder davon, dass ›politisch Lied garstig Lied‹ sein müsse. Wir empfanden die Aktualitäts- häufig als Lebensferne und viele der Lehren als betulich-quietistisch, wogegen uns Borcherts ›Kahlschlag‹-Ton fast wie eine literarische Frischzellenkur erschien. Ohnehin lockten oder betrafen uns Sartre, Camus, Hemingway, Steinbeck oder Dürrenmatt in ganz anderer Weise als viele der damals kanonisierten Zeitgenossen. Doch mit dem Abstand von Jahrzehnten und vor allem dem Blick des Literarhistorikers sehe ich die Dinge etwas anders. Berechtigt erscheint mir nach wie vor manche Neuerung, insofern sie eine kritische Rückschau auf die
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Zudem tendierte die internationale Literaturentwicklung vielfach zu realistischeren, sachlicheren, disharmonischeren und stärker zeitbezogenen Schreibweisen. Für die Autoren der sogenannten Flakhelfergeneration kam hinzu, dass ihre Erlebnisse im Weltkrieg und Dritten Reich es nahe legten, den Bruch mit der überlieferten Wertewelt und ihrer Ästhetik schneller und rigoroser zu vollziehen. Katastrophen fördern Respektlosigkeit im Umgang mit früheren scheinbaren oder wirklichen kulturellen Verdiensten. Wenn hier also von vielen Jüngeren drastischer, illusionslos oder vorwiegend anklagend geschrieben bzw. geurteilt wurde, so war diese Entwicklung ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg schlechterdings erwartbar. Es standen sich schon bald zwei ästhetische Grundauffassungen gegenüber, die nachfolgend einmal, ungeachtet z. T. extremer individueller Abweichungen, als Idealtypen skizziert werden sollen. Das progressive Literaturmodell setzte auf sozialkritisches Engagement der Schriftsteller, deren Bedeutung sich vor allem in ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit erweise. Literatur galt als reformatorisches oder revolutionäres Mittel zur Durchsetzung der politischen Vernunft. Die Autoren verstanden sich als Oppositionelle, gemäß Günter Eichs Diktum in seiner Büchnerpreisrede von 1959: »Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.«37 Schonungsloser Realismus stand gegen freie Phantasie. Ja, Literatur selbst sah sich dem Rechtfertigungszwang ausgesetzt. Wolfgang Weyrauch, einem Wortführer der Trümmerliteratur, war alle Schönheit verdächtig. Er beanspruchte, literarisch nicht nur zu fotografieren, sondern um der Wahrheit willen zu »röntgen«.38 Man pries eine schmucklose Sprache und bekämpfte kalligraphische Schreibweisen als »Verhängnis eines neuen Nebels«, worin »die Geier und die Hyänen nisten«.39 Ganze Literaturgenres gerieten unter Legitimationsdruck. Man denke an Adornos Poesie-Soupçon oder Astels Epigramm Naturlyrik: Das Gedicht geht über Leichen. Es handelt von Blumen.40
Ländlicher Rückzug, christliche Erbauung, unpolitische Stoffwahl abseits der Gegenwart standen unter Generalverdacht, der notwendigen Selbstreinigung auszuweichen, desgleichen apologetische Schulddiskussionen. Heiterkeit, Humor oder andere bislang
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jüngste Geschichte samt Rehabilitation der Exilliteratur einschloss, bedenklich hingegen die flächendeckende Verdrängung traditioneller Ästhetikkonzepte. Denn hier wurde auch vieles dem Gedächtnis entzogen, was einmal zu Recht Klang und Bedeutung hatte und zumindest aus literaturgeschichtlicher Warte konserviert werden sollte. Büchner-Preis-Reden 1951–1971. Stuttgart 1981, S. 86f. Wolfgang Weyrauch: Tausend Gramm [1949]. Neuausgabe Reinbek bei Hamburg 1989, S. 181. Ebd., S. 180. Arnfrid Astel: Zwischen den Stühlen sitzt der Liberale auf seinem Sessel. Darmstadt u. a. 1974, S. 119.
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verbreitete Denk-, Schreib- und Empfindungsformen eines lebensbejahenden Trotzdem verloren in dieser kritischen Sicht ihre Unschuld oder wurden als unangemessene bzw. verhängnisvolle Sedativa diskreditiert – eine Neuwertung, die auf einen Schlag Autoren wie Kluge, Eugen Roth, Kreuder, Niebelschütz oder den mittleren Erich Kästner traf und ästhetisch herabstufte. Wie anders sahen viele ›Traditionalisten‹ ihre Aufgabe! Betrachteten sie doch Kunst vor allem als Gegengewicht zur Zeit, als »Notwehr – gegen das Leben«,41 wie Kasack schrieb: »Dichtung entsteht aus der Überhöhung der Wirklichkeit«.42 Statt Alltagssprache, Modejargon oder gar ›dirty speech‹ favorisierten sie eine gehobene Stilebene und literarische Konventionen. Anstelle unbedingter Aktualität und Originalität betonten sie das Kontinuierliche, ewig Gültige43 im Kampf zwischen Gut und Böse, nicht (scheinbar) Singuläres, sondern Überzeitliches im Vergleich von Jahrhunderten. Mehr als zu ändernde machtpolitische, wirtschaftliche, soziale oder militärische Strukturen galt ihnen der Einzelne als Hoffnungsträger. Ernst Kreuders Held der Die Gesellschaft vom Dachboden begründet die Weltmisere nicht aus Mangel an Vernunft, sondern an Phantasie. Als »Irrealist« warnt er vor dem »Aberglauben der Aufklärung« und den »chininbitteren Realisten« der modernen Literatur samt ihrer »Krematoriumsmusik«.44 Sein Verfasser bekämpft alle »Zweckgesinnung«45 und den eindimensionalen Realismus der Verzweiflung. Wieso »nur das Elend Wirklichkeit«46 sei, fragt auch Niebelschütz und legt nach: Wenn also die Zeit krank ist, kann es nicht Aufgabe der Kunst sein, sie noch kränker zu machen, sondern die Kunst hat immer das getan, was der Zeit und dem Menschen jeweils nötig war. Sie hat ihn bestürzt und mit Fratzen verschreckt, wenn er satt, banal und bequem war; und war er verschreckt, und hatte die Zeit ihn bestürzt, so erhob ihn die Kunst und tröstete ihn und zeigt ihm eine zwar erdichtete, aber schöne Welt.47
Stefan Andres schließlich meinte, Dichtung unterscheide sich von einem bloß rational geformten »aus Geschmack, Geschicklichkeit und moralischem, sozialem und politischem Engagement entstandenen Werk wie etwa die echten Buddhastatuen von den falschen«. Der wahre Dichter verkörpere wichtige Probleme in seinen Gestalten, verweigere sich aber der Forderung nach Lösungen und Rezepten:
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Hermann Kasack: Vincent. Potsdam 1924, S. 30. Hermann Kasack: Jahrgang 1896. In: Joachim Karsten u. a. (Hrsg.): Jahr und Jahrgang 1896. Hamburg 1966, S. 97; Hervorhebung durch G. S. Elisabeth Langgässer: »Denn die Gegenwart, sie ist gar nichts gegen den Ozean und den Abgrund der verflossenen zehntausend Jahre« (zit. nach Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1949. Stuttgart 1993, S. 94). Ernst Kreuder: Die Gesellschaft vom Dachboden [1946]. 2. Aufl. Hamburg, Stuttgart 1947, S. 27–29, 39. Vgl. S. 27–41 die Gesamttirade gegen die »Tatsachenliteratur«. Büchner-Preis-Reden (Anm. 37), S. 19. Wolf von Niebelschütz: Aufgabe und Anspruch des Buches [1950]. In: W. v. N.: Freies Spiel des Geistes. Düsseldorf u. a. 1961, S. 398. Ebd., S. 399.
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Wenn also Romangestalten das Unauflösliche und Undurchdringbare des Problems an sich erleben und daran entweder untergehen oder aber in Demut vor dem Leben verharren und stark werden zum Ertragen, hat der Romancier in Hinsicht auf das Problem genug getan. Er ist kein Herakles, und selbst wenn er dessen Taten besingt, muss er sich hüten, dass er nicht zum Lügner oder Aufschneider wird. Anleitungen zur Reinigung von Augiasställen wirken auf jeden Fall komisch.48
Mit solchen Ästhetik-Prämissen fanden die ›Traditionalisten‹ noch Mitte der 60er Jahre ihr Publikum, wie eine SPIEGEL-Umfrage von 1967 ausweist. Danach zählten Bergengruen, Hesse und Peter Bamm in Westdeutschland (nicht in Westberlin) zu den von Studenten meistgelesenen Autoren. Aber im Bereich der überregionalen Kritik, der Literaturpreise, der Medienrepräsentanz wie des internationalen Renommees waren sie längst in den Hintergrund gedrängt und verloren zunehmend ihre logistische Basis. Denn natürlich gingen dieser avantgardistischen Wachablösung massive Veränderungen der literarischen Infrastruktur voraus. Insofern wäre es eine höchst spannende kultursoziologische Studie, allein unter dem Gesichtspunkt der Personalbesetzung einflussreicher Rundfunk-, Presse- oder Verlagsressorts die Umstände zu ermitteln, die zum schnellen Triumph der neuen Ästhetik führten.49 Unstreitig scheinen vier Bereiche zu sein, in denen das progressive Lager Bündnispartner fand: – Die Reeducation-Politik bot per Lizensierungsverfahren ein Einfallstor zu Presse, Rundfunk und Verlagen. Auch Besucher von Amerikahäusern oder US-Stipendiaten vermittelten alternative Schreibweisen. – Diverse (mehr oder weniger verdeckte) Einflüsse ergaben sich durch kommunistische Sympathien. Die DDR erschien, literarisch betrachtet, als konsequenter Exilantenstaat. – Auch die demokratische Linke (SPD, Gewerkschaften mit vielfältigen InfrastrukturVerflechtungen und jüngere Vertreter der EKD) bot sich an. Exemplarische Aufmerksamkeit fand das Wahlbündnis von SPD und Gruppe 47. – Und schließlich favorisierten zahlreiche Universitätsgermanisten während der Studentenrevolte und, wo sie sich später etabliert hatten, z. B. als Reformpädagogen (Hessische Rahmenrichtlinien) neue Literaturtrends. Dies alles ergab ein beachtliches personelles Arsenal für alternative ästhetische Vorstellungen. Denn trotz spannungsreichster poetischer Differenzen auf einer Skala von hermetischer oder surrealistischer Metaphorik über konkrete Sprachexperimente bis zur schmucklosen Agitatorik ergab sich als Gemeinsamkeit eine massive Tendenz zur ›Vergangenheitsbewältigung‹ durch Literatur. Dies erklärt auch die Radikalisierung, Durch-
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Stefan Andres: Der Romanschriftsteller und seine Zeit. In: Bernd Groß: Stefan Andres, das Saarland und die Europäische Idee. Saarbrücken [2006], S. 73. Zwar finden sich (meist aus sympathisierender Warte) zahlreiche Titel zur Gruppe 47, aber noch keine umfassende Studie zum entsprechenden Kulturlobbyismus allgemein, wie sie etwa Clemens Abrecht u. a. über die politische Einflussnahme der Frankfurter Schule vorgelegt haben (Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt / M. u. a. 1999, bes. Kap. 9).
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schlagskraft und zuweilen bis heute wirksame dogmatische Strenge des vordergründig literarischen Konflikts, der vornehmlich als politisch-moralischer Diskurs ausgetragen wurde, bei dem es vor allem um die Glaubwürdigkeit bzw. Verstrickung von Personen ging. Zur Durchsetzung der neuen Literatur- und Gesellschaftsvorstellungen, die als Demokratisierung der Literatur verstanden wurde, dienten öffentliche Kontroversen oder Buchverrisse, die fast den Charakter von ›Musterprozessen‹ hatten. Kurz nach Kriegsende waren es Stellungnahmen für oder wider Thomas Mann, Frank Thieß bzw. Ernst Jünger. Später ging es um die NS-Vergangenheit damaliger Erfolgsautoren wie Gerd Gaiser (Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki, Karlheinz Deschner), Joachim Fernau (Peter Wapnewski) oder Hans Baumann, dessen mit einem zunächst preisgekrönten christlichen Drama geplante Nachkriegskarriere als Bühnendichter von Reich-Ranicki jäh gestoppt wurde. Spannungsreich verliefen auch die polemischen Beziehungen zwischen Friedrich Sieburg und Vertretern der Gruppe 47. Aber selbst ideologisch unbelastete Innere Emigranten waren Attacken ausgesetzt, die ihre politische Moralität berührten. Exemplarisch geschah dies durch Adornos Ausfall gegen Bergengruen, dessen Festhalten an einer göttlichen Ordnung sarkastisch mit dem Holocaust konfrontiert wurde: Sätze von O. F. Bollnow lauten: »Darum scheint es besonders bedeutsam, dass sich in der Dichtung […] ein neues Gefühl der Seinsbejahung abzuzeichnen beginnt. […] Bergengruens letzter Gedichtband Die heile Welt (München 1950, S. 272) schließt mit dem Bekenntnis: ›Was aus Schmerzen kam, war Vorübergang. Und mein Ohr vernahm nichts als Lobgesang‹. Es ist also ein Gefühl dankbarer Zustimmung zum Dasein. Und Bergengruen ist bestimmt kein Dichter, dem man einen billigen Optimismus nachsagen könnte [...].« Der Band von Bergengruen ist nur ein paar Jahre jünger als die Zeit, da man Juden, die man nicht gründlich genug vergast hatte, lebend ins Feuer warf, wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien. Der Dichter, dem man bestimmt keinen billigen Optimismus nachsagen könnte, und der philosophisch gestimmte Pädagoge, der ihn auswertet, vernahmen nichts als Lobgesang.50
Dass Bergengruens Gedicht weniger von politischer Naivität zeugt als von literarischer Hiob-Nachfolge, lag einem angeblich so subtilen Interpreten augenscheinlich fern. In die Mühle von Tageskritik und germanistischer Abstufung geriet bald auch Kasacks heute vergessener Roman Die Stadt hinter dem Strom, ein zunächst rundum gefeierter Bestseller, der zwar gegen Ende in panmystischer Prätention zerfällt, aber in seiner grandiosen Bildwelt eines Totenreichs Kafka würdig beerbt. Kasack wurde zum Verhängnis, dass er in einer keineswegs zentralen Passage in tröstender Absicht die mörderische Katastrophe der jüngsten Vergangenheit in einen kosmischen Zusammenhang einbettete. Was angesichts der Gesamtleistung des Werks allenfalls eine skeptische Anmerkung verdiente, wurde nun zum Anlass einer fundamentalen auch ästhetischen51 Abrechnung, die ähnlich wie im Fall Bergengruen in der Sinnsuche überhaupt den Skandal erblickte.
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Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt / M. 1964, S. 23f. Exemplarisch (mit sprechendem Titel): Werner Ross: Mehr Staub. In: Süddeutsche Zeitung vom 29.–31. 5. 1971.
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Und so galt eines der Großereignisse auf dem Nachkriegsbuchmarkt, wie der wohl beste Kasack-Kenner schrieb, seit den 1970er Jahren plötzlich »als anrüchiges Machwerk, das aufgrund einer ›zyklisch-kosmischen Faschismustheorie‹ den Nationalsozialismus rechtfertige.«52 Die germanistische Fachwissenschaft wiederum demonstrierte ihre ästhetische Neuorientierung 1966ff. durch heftige Reaktionen im Zürcher Literaturstreit. Allen Kontroversen gemein ist, dass sie häufig zu Recht oder Unrecht Literaturkarrieren zumindest im Bewusstsein der sich neu formierenden Literaturelite schlagartig beendeten, insofern Verlage, Leser oder Medien sich von ihnen abwandten oder ihnen zumindest mehrheitlich nicht mehr die frühere Zuneigung gewährten. Dass sich an dieser Abwertung nicht selten Autoren beteiligten wie Weyrauch, Andersch, Eich, Grass, Koeppen, Jens, deren Vergangenheit – um es vorsichtig zu sagen – nicht unkontaminiert verlief, gehört zu den delikaten Fußnoten der Geschichte. Welchen Beitrag zur Aufklärung boten aber nun die gescholtenen Autoren, die in Deutschland verblieben waren, ohne (im Endeffekt) Nazis geworden zu sein? Sie wurden im Lauf der 1960er Jahre überrollt von einer Welle der Verständnisverweigerung und Rechtfertigungserwartungen durch Jüngere, denen sie vieles nicht (mehr) richtig erklären konnten. Dass es jenseits von Untergrund oder Märtyrertum noch manchen Weg gab, Charakter zu zeigen und literarisches Niveau zu wahren. Dass man fürs schlichte Überleben als Schriftsteller zuweilen Kompromisse und Zweideutigkeiten in Kauf nahm, die (in einem bestimmten Rahmen) nicht zu tadeln sind. Sie waren in der Regel keine Helden gewesen, doch gerade nach solchen starken Vaterfiguren bestand aller Opposition zum Trotz ein Bedürfnis, und nur solche Idole allein hätten verhindert, dass die Daumen sich senkten. Auch deshalb retuschierten manche ein wenig ihre Lebensläufe, übertrieben zuweilen das Maß an Opposition oder Gefährdung, vereindeutigten literarische Camouflagen, vergaßen auch mal frühere Anfechtungen oder Veröffentlichungen, ergingen sich in z. T. unglaubwürdigen Apologien und erbrachten somit scheinbar selbst Belege für das nur Sogenannte ihrer nichtfaschistischen Existenz. Verdächtigte man sie zu Unrecht der NSSympathie oder Mitläuferschaft, reagierten sie ausfallend z. B. gegenüber Exilantenkritik und schlossen so in ihrem Rechtfertigungsdrang den Teufelskreis der Missverständnisse und Misshelligkeiten. Und da sie auch ästhetisch gegenüber der Moderne langsam in die Defensive gerieten, war ihr Schicksal besiegelt. Die 68er, um es schlagwortartig zu sagen, verließen als unumstrittene Sieger den kulturpolitischen Kampfplatz. Spätestens Ende der 1970er
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Heribert Besch: Dichtung zwischen Vision und Wirklichkeit. Eine Analyse des Werkes von Hermann Kasack mit Tagebuchedition (1930–1943). St. Ingbert 1992, S. 11. Darin die folgenden Belege: Nach Ehrhard Bahr liegt »historisches und literarisches Versagen« vor (S. 11). Klimasch urteilt: »Kasack machte es dem Bildungsbürger leicht, die ›schwere Zeit der Prüfung‹ als ›braunes Unwetter‹ schnellstens zu vergessen, um sich kontemplativ mit dem Leid des Menschen im Allgemeinen zu befassen.« (S. 291). Lothar Baier: »In Hermann Kasack hat ein großer Teil des deutschen Bildungsbürgertums einen genuinen Interpreten seiner Realitätsflucht und seiner Fetischisierung des ›Geistes‹ gefunden.« (S. 11). Vgl. Heinrich Vormweg. In: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Frankfurt / M.1980, S. 193–196.
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Jahre waren die letzten Kastelle ihrer konservativen Gegner geschleift, die man schlicht für überflüssig erklärte und aus einschlägigen Kompendien verbannte. Nur wen überragende stilistische oder intellektuelle Signifikanz auszeichnete, wie etwa Benn oder Jünger, oder wer schnellstens zu neuen poetischen Ufern aufgebrochen war, wie Günter Eich, vermochte literarhistorisch zu überleben. In solchem Kontext wurden jene oben geschilderten Kriterien etabliert, die auch heute noch einer verständnisvolleren Würdigung der Inneren Emigration im Wege stehen, obwohl die engagiert-veristische-punitive Literaturauffassung spätestens seit der Postmoderne selbst schon ein wenig historisch geworden ist. Sehen wir also genau hin, ob wir alle Prämissen der Kanonbildung teilen können.
4. Vegesacks Balten-Tragödie als Demonstrationsmodell Damit zum zweiten Teil meiner Ergänzung: dem exemplarischen Plädoyer für einen Vergessenen, an dem sich der (auch lexikalisch manifeste) Prozess einer (fragwürdigen) Dekanonisierung geradezu lehrbuchhaft zeigt. Es geht um Siegfried von Vegesacks 1936 als Gesamttext erschienenes opus magnum Die baltische Tragödie. 53 In der Erstausgabe von Kindlers Literatur Lexikon, würdigt Gertrud Herding 1965 den Text als literarisches »Denkmal« für die Deutschbalten, als anschaulich erzählte »Chronik ›ohne jede Ausschmückung‹« und zieht folgendes Fazit: Dieses Hauptwerk Vegesacks beleuchtet das vielschichtige baltische Problem mit einer Objektivität, die auch vor der Frage nicht haltmacht, inwieweit die Balten durch allzu starres Festhalten an sozialen Vorrechten und am Lebensstil einer vergangenen Epoche die Mitschuld an ihrem Unglück treffe. Die weitgehend autobiographisch gehaltene epische Gestaltung des Stoffes schafft mit ihrer liebevoll eingehenden Charakterisierung baltischer Originalität vor dem Hintergrund der eigentümlichen livländischen Landschaft eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis der historisch-politischen Zusammenhänge.54
Das klingt nach Klassiker, und da es der Roman seinerzeit sogar auf sechsstellige Verkaufsziffern brachte, schien sein literaturgeschichtliches Überleben gesichert. Doch bereits die redaktionelle Bearbeitung von Herdings Artikel 1992 tilgt das ursprüngliche Lob zugunsten einer deutlich distanzierteren Schlusswertung: Das Buch stellt sich im Rückblick dar als subjektives Dokument einer vergangenen feudalen Lebensform; es war zugleich, bis in die fünfziger Jahre hinein, eines der erfolgreichsten Werke des Autors, der ansonsten vor allem traditionell gehaltene Gedichte und Erzählungen […] verfaßte.55
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Vgl. Günter Scholdt: Siegfried von Vegesack. Ein Deutschbalte im Dritten Reich. In: FrankLothar Kroll (Hrsg.): Europäische Dimensionen deutschbaltischer Literatur. Berlin 2005, S. 93– 132. Kindlers Literatur Lexikon. Bd. 1. München 1965, Sp. 1303. Walter Jens (Hrsg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon. Bd. 17. München 1992, S. 32.
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Das war’s. Auch im Text zuvor haben sich die interpretatorischen Akzente durch redaktionelle Eingriffe zu Lasten Vegesacks verschoben. Dass nun nicht mehr vom »heroischen Ringen der Balten um Selbständigkeit« oder von der »Kraft der Treue zum Deutschtum« die Rede ist, war erwartbar. Von reduzierter historischer Sensibilität zeugt allerdings der ein wenig kurzschlüssige Zusatz: »Obgleich von Aversion gegen die Sowjetunion erfüllt, geht diese Chronik nicht konform mit den Ansprüchen der nationalsozialistischen Außenpolitik«. Als ob die ungeschönte Schilderung bolschewistischer Praxis, die phasenweise zu einem Deutschen-Genozid im Baltikum tendierte, in erster Linie einmal ideologiekritisch befragt werden müsse. Auch wird die ursprüngliche Formulierung über das »von Jagden und Ausritten, von Landpartien auf die Nachbargüter und von frohen Festen bestimmte Leben des baltischen Landadels im friedlichen Alt-Livland« zur pejorativen Formel vom »behäbige[n], saturierte[n] Leben des Landadels« komprimiert. Zugleich verweist man zweifach auf die »subjektive« Perspektive des Autors, die für das vorrevolutionäre »Bild des harmonisch-behüteten Lebens« ursächlich sei. Dabei hatte bereits Herding zu Recht ausgeführt,56 dass Vegesacks Erzählkunst von Anfang an gerade das Gefährdete und Doppelbödige dieser Idylle vergegenwärtigt. Wer den neu gefassten Artikel liest, mag zum Ergebnis gelangen, in Vegesacks Text werde erinnerungsselig lediglich ein antiquarisches, egozentrisches bzw. ausschließlich deutschenfixiertes Geschichtsbild vermittelt; und die weitere Propagierung bestimmter Politnostalgien sei verzichtbar. Der damals negativ konnotierte Hinweis auf traditionelle Schreibweisen tut ein Übriges. Ohnehin erlischt in jenen Jahren zunehmend das Interesse an auslandsdeutschen Schicksalen in dem Maße, wie die Erlebnisgeneration als Käufer und Kritiker ihren Einfluss verliert. Das Lektürevergnügen an Originalen, Käuzen und skurrilen Verhaltensweisen in einer fast menschenleeren, nahezu versunkenen Welt wird heute anderweitig abgedeckt. Lieber hält man sich an Literaturimporte aus Lateinamerika sowie kolonialexotistische Szenerien von Tania Blixen oder – in trivialer zeitgeistkompatibler Verdünnung – an ›Fischstäbchen‹-Produkte wie Der weiße Afrikaner. So erklärt sich wohl auch die Entscheidung der Kindler-Redaktion, Vegesack in der neuesten Ausgabe nicht mehr zu berücksichtigen, was den Dekanonisierungsprozess vollendet. Hier ist Widerspruch angezeigt. Denn die in Stimmung und Niveau an Joseph Roths Radetzkymarsch erinnernde Baltische Tragödie verdient auch nach mehr als sieben Jahrzehnten aus viererlei Gründen Aufmerksamkeit. Uns erwartet nämlich erstens eine reizvoll erzählte autobiographisch fundierte Familiensaga, zweitens eine anschauliche Chronik der Deutschen im Baltikum bis zu ihrer weitgehenden Vertreibung 1919, drittens ein Mustertext für doppelbödiges Schreiben im Dritten Reich, an dem sich so
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Kindlers Literatur Lexikon (Anm. 54), Sp. 1302: »Aber schon in der Darstellung dieser von Revolution und Krieg noch unberührten Welt werden die in den historischen Voraussetzungen selbst liegenden Momente deutlich, die zur Bedrohung des Baltentums und schließlich zu seiner Vernichtung führen sollten«.
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manche Verschlüsselungstechnik der Inneren Emigration studieren lässt, und viertens eine nach wie vor aktuelle, weltweit taugliche Fallstudie einer (literarischen) Existenz in aussichtsloser historischer Lage. Zu 1: Vegesacks plastischer Stil entwickelt sich in der Nachfolge Thomas Manns, zu dem er sich im Roman ausdrücklich bekennt. Auch er bedient sich ausgiebig der Leitmotiv-Technik und der Ironie. Wie in den Buddenbrooks präsentiert Die baltische Tragödie Lebensläufe in absteigender Linie. Erzählt wird aus der Sicht des heranwachsenden Aurel, dem sich zunehmend die Welt erschließt, zunächst über intensives Naturerlebnis in einer zuweilen magisch beschworenen Landschaft und einem lustvoll-gruseligen Eintauchen in Märchen, Gespenstergeschichten und Regionalmythen, die dem Kind vom lettischen Betreuungspersonal als heimisches Kulturerbe vermittelt werden. Weitere Bildungseinflüsse entstammen deutscher wie russischer Literatur oder religiöser Unterweisung, die durch irritierende moderne Einflüsse (Darwin, Marx, Bakunin etc.) dialektisch auf die Probe gestellt wird. Noch schärfer geschieht dies, immer weniger verdrängbar, durch Politik, Revolution und Krieg. Zu 2: Im Zentrum des Romans steht die Baltische Frage: nationale Identifikationsprobleme zwischen Deutschland und Russland sowie starke, ethnisch verschärfte soziale Klüftungen als Motive für spätere blutige Konflikte. In zahlreichen Episoden veranschaulicht Vegesack die Armut der Landbevölkerung, ihre Lasten und Einschränkungen, während die Bäuerchen vor den Besitzern großer Ländereien auf den Knien rutschen und bei geringfügiger Übertretung gepfändet werden. Er schildert die Privilegien der Elite respektive ihrer jeunesse dorée, seziert ihre weithin auf Immobilismus reduzierte Baltenideologie, zeigt Andersdenkende, die daran zerbrechen, und bornierte Apartheidvertreter, die sich in ihrer mangelnden Bereitschaft zum politischen Ausgleich durch die Revolutionsgräuel von 1905 scheinbar bestätigt sehen. Die naive Kinderperspektive eignet sich vorzüglich zur kritischen Hinterfragung von Werten und Überzeugungen der Erwachsenen. Die Zentralfigur Aurel erfährt etwa in der dunstigen Gesindestube ein sonst unbekanntes »derbes, ursprüngliches Leben«, zugleich aber auch, dass er hiervon wie durch eine »gläserne Wand« getrennt ist. Erst gegen Ende des Romans ergibt sich eine Versöhnung – allerdings nur als privatmenschliche Utopie, die im bezeich nenden Kontrast zum schaurigen realhistorischen Finale steht. Zu 3: Vegesacks Diagnose mündet in generelle Zeitkritik, die auch typische Praktiken, Denkmuster und Begriffe (z.B ›Humanitätsschwindel‹) der Hitler-Ära berührt. Zahlreiche Stellungnahmen im Text zeigen den Autor als engagierten Vertreter christlicher Humanität. Sie richten sich gegen Gewalt oder Despotie in Erziehung und politischer Führung, sind antitotalitär und tendenziell völkerversöhnend, pazifistisch oder antirassistisch. Süffisant wird auf Nietzsches »polnisches Blut« angespielt oder darauf, dass ein besonders blutstolzer Scharfmacher selbst eine lettische Urgroßmutter besitzt. Zwar endet der Roman in einem allegorischen Treuebekenntnis zum geschlagenen Deutschen Reich, aber enthält wahrlich kein propagandistisch verwertbares Deutschlandbild. Vielmehr nutzte Vegesack als Meister der verdeckten Schreibweise den Spielraum des im Dritten Reich Sagbaren weitgehend aus. Vor allem seine Technik kontroverser perspektivischer Urteile erlaubt es, ein beachtliches Quantum gegenwartsbezogener ideeller
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Konterbande einzuschmuggeln, so dass Alfred Rosenbergs Bücherkunde rügend von einem »zwiespältigen Eindruck« bei der Lektüre sprach.57 Zudem wählte Vegesack als Zentralfigur fast einen Antihelden, der entgegen den Idealen des Zeitgeistes zu den (politischen) Entscheidungen eher ein ängstliches Verhältnis besitzt. Aurel ist ein weicher Knabe ohne die natürliche Sicherheit seiner Brüder. Im Ersten Weltkrieg hindern ihn »lächerliche« Erkältungskrankheiten an militärischen Einsätzen und stempeln ihn zur geborenen »Nebenfigur«, ja fast zum »Krepierling«. Bei seinem kurzen Landeswehr-Einsatz plagen ihn »abscheuliche Angst« und Schuldgefühle wegen des Tötens. Er begreift den Bürgerkrieg nicht und kann sich nicht recht mit ihm identifizieren. Aurel ist wahrlich kein Soldat, wie ein nationalsozialistischer Rezensent vorwurfsvoll festhielt,58 eher ein Cunctator zwischen den Parteien und Ideologien vom Schlage Hans Castorps, der vieles für hörens- oder bedenkenswert hält und seinen Weg erst finden muss. Zu 4: In dieser Zwischenstellung wird er zum Repräsentanten einer absterbenden Kultur und Gesellschaft und der Roman zum Verhaltens- und Schreibmodell in historisch verlorener Lage. Denn Vegesack war schließlich nicht nur (literarischer) Augenzeuge, sondern als Angehöriger der in ihren Privilegien heftig bekämpften deutschbaltischen Minderheit Partei. Man kann sich insofern die Schilderung natürlich auch aus anderer, z. B. lettischer Warte vorstellen. Entscheidend für den belletristischen wie historiographischen Wert eines Werkes ist nun aber nicht der selbstkasteiende Verzicht auf jedwede milieugeprägte Sehweise, sondern lediglich der redliche Versuch, auch anderes Denken und Empfinden zur Geltung kommen zu lassen. Dies darf man Vegesack gewiss attestieren, und in diesem Sinn wirkt der Roman bei aller (selbstkritisch reflektierten) Subjektivität durchaus authentisch, zumal oder gerade weil er sich einer verbreiteten schriftstellerischen Unsitte enthält, die jeweiligen Helden mit retrospektiven (moralischen) Einsichten zu überfrachten. Denn ein glaubwürdiger Text vermittelt uns eindringliche Vorstellungen von jenen Inkonsequenzen, Zwischenstellungen und Leiden an einer Epoche, die zwar zu Recht durch eine neue abgelöst wurde, in der man sich aber dennoch heimisch fühlte. Solche Zerrissenheiten kennzeichnen zahllose vorrevolutionäre Gesellschaften in aller Welt: vom Ancien Régime in Frankreich über die zaristische, von der britischen Kolonial- bis zur südafrikanischen Apartheid-Gesellschaft. Und wenn wir in den blutigen Abläufen nicht nur einen notwendigen Fortschritt, sondern zugleich eine menschliche Tragödie sehen, so gilt dies in erster Linie für die Einzelnen guten Willens, die im Bewusstsein von historischer Schuld und Zwangsläufigkeit, aber ohne Gewissheit und Trost auf künftige Sozialparadiese, den Prinzipienkämpfen ihrer Zeit ausgesetzt sind und in den Mühlsteinen der Geschichte zerrieben werden.
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Dieser Textambivalenz war Boris Röhrl in seiner schlechterdings ärgerlichen Studie (Die revidierte Moderne. Siegfried von Vegesack – das gescheiterte Experiment einer »neuen Heimatliteratur« im Dritten Reich: In: Frank-Lothar Kroll (Hrsg.): Die totalitäre Erfahrung (Anm. 2), S. 75–99) zu keiner Zeit interpretatorisch gewachsen. Manfred Jasser: Siegfried von Vegesack. In: Kritische Gänge. Jg. 7, Nr. 12, Beilage der Berliner Börsenzeitung vom 20. 3. 1938.
Annika Rockenberger / Per Röcken
Ist Edition ein Kanonisierungsfaktor? Unvorgreifliche Überlegungen zur Präzisierung der Fragestellung
Unsere erste Intuition war, die im Titel dieses Beitrags genannte Frage mit einem ›Nein‹ zu beantworten;1 doch ein Blick in die einschlägige Forschungsliteratur brachte diese introspektiv gewonnene Einschätzung rasch ins Wanken. So zählt etwa Rien T. Segers 1993 die »Herausgabe von Texten« ausdrücklich zu den »Aktivitäten, die speziell dem Prozeß der Kanonisierung dienen«.2 Weitergehend vertritt Joseph Grigely 1995 die Auffassung, dass wissenschaftliche Editorik (»Scholarly editing«) als »institutionally supported canonization« beschrieben werden könne.3 In ihrer richtungweisenden Einführung in die Wertung von Literatur von 1996 geben Renate von Heydebrand und Simone Winko bei der Explikation des Ausdrucks ›literarischer Kanon‹ als definitorisch relevantes Merkmal an, dass die Bestandteile des Kanons u. a. durch die »Aufnahme in Klassikerreihen« und »Gesamtausgabe(n); insbesondere Kritische Ausgaben« tradiert werden; etwas später findet sich die (empirische) These: »Publikation an sichtbarer und qualifizierter Stelle, möglichst in gut gegliederten Gesamtausgaben, ist eine Wertungshandlung, die den Weg zum Erfolg eröffnet und ein Stück weit präjudiziert.«4 In einem Handbuch-Artikel von 2007 exponiert Winko das Vorhandensein von Editionen unterschiedlichen Typs immerhin noch als Indikator für die Kanonizität des Editionsgegenstands: Um den akademischen Kanon zu rekonstruieren ist zu fragen, für welche Autoren Werkausgaben, vor allem kritische Ausgaben erstellt worden sind. […] Soll der ›bildungsbürgerliche Kanon‹ profiliert werden, sind andere Fragen zu stellen. Es ist zu prüfen, ob Leseausgaben eines Autors kontinuierlich erhältlich sind.5
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Der folgende Beitrag ist die geringfügig überarbeitete und mit bibliographischen Nachweisen versehene Version des von uns auf der Göttinger Tagung im Februar 2010 gehaltenen Vortrags; der Vortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten. Rien T. Segers: Durchbruch und Kanonisierung. Eine neue Provokation für die Literaturgeschichtsschreibung? Oder: Wie konnte Virginia Woolf so berühmt werden? In: SPIEL 12 (1993), S. 1–22, hier S. 4. Joseph Grigely: Textualterity. Art, Theory, and Textual Criticism. Ann Arbor 1995, S. 31. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn 1996, S. 222 und S. 226f. Simone Winko: Textbewertung. In: Thomas Anz (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 2: Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007, S. 233–266, hier S. 258; vgl. ähnlich Winfried Woesler: Der Editor und ›sein‹ Autor. In: editio 17 (2003), S. 50–66, hier S. 51. – Der gleiche Gedanke liegt auch folgender Fallstudie zugrunde: Dieter Martin: Barock um 1800. Frankfurt / M. 2000, S. 62–124 (»Editionsformen und Kanonisierungsprozesse«).
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Im Diskurs der neugermanistischen Editionswissenschaft finden sich noch weiter reichende Aussagen. Im bislang einzigen (halbwegs) systematischen (aber leider: stark wertenden, voreingenommenen, wissenschaftspolitisch ambitionierten) Beitrag zum Thema kommt Stephan Kammer im Jahr 2000 zu der Einschätzung, dass »Editionen kanonisierende Effekte haben können«6 und »Editionsprojekte unterschiedlichen Typs wiederholt die Kanonisierung von Autoren resp. Texten initiiert haben, ohne auf eine generelle kulturelle Verbindlichkeit ihres Gegenstands zurückgreifen zu können«.7 2003 schreibt Winfried Woesler mit Verweis auf seine monumentale empirische Studie zur Rezeptionsgeschichte der Droste: »Bei den Kanonisierungsprozessen in der Literatur und auch bei der Hierarchisierung innerhalb des Kanons spielen Ausgaben eine zentrale Rolle.«8 Doch auch einzelnen Editionsbestandteilen wird eine kanonbildende Funktion zugestanden; so spricht etwa Hans Ulrich Gumbrecht in Die Macht der Philologie (2003) von einer »Kanonisierung durch Kommentare«.9 In einem den derzeitigen Diskussionsstand zusammenfassenden Überblicksartikel von 2008 weist schließlich Rüdiger Nutt-Kofoth der Edition die Funktion zu, den »Kanon von Literatur mit[zusteuern]«: »Allein durch die Klassifizierung eines Autors und seiner Werke mit dem Qualitätssiegel ›würdig für eine historisch-kritische Gesamtausgabe‹ wird der bestehende Kanon ›bedeutender‹ Autoren oder ›bedeutender‹ Werke bekräftigt oder auch verändert.«10 Will man die zum angeblichen Konnex von Edition und Kanonisierung bzw. Kanonbildung vorgebrachten Thesen übersichtlicher darstellen, so lassen sich wenigstens folgende Aspekte differenzieren:
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Stephan Kammer: Interferenzen und Korrektive. Die Problematik des Kanons in textkritischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive. In: Rüdiger Nutt-Kofoth u. a. (Hrsg.): Text und Edition. Probleme und Perspektiven. Berlin 2000, S. 303–321, hier S. 316. Stephan Kammer: [Art.] Kanon. In: Anne Bohnenkamp-Renken, Hans Walter Gabler (Hrsg.): Kompendium der Editionswissenschaft [2001]; http://www.edkomp.uni-muenchen.de/CD1/C/ Kanon-C-SK.html, 11. 10. 2010. – Nur beiläufig sei darauf hingewiesen, dass derlei Behauptungen oft in kontrafaktischer Form vorgetragen werden; vgl. etwa ebd.: »Nietzsches, Hölderlins oder Kafkas Werke etwa hätten ohne die (in ihren editorischen Verfahren dabei äußerst heterogenen) Vermittlungsleistungen […] ihren kanonischen Rang in der deutschen Literaturgeschichte weder beanspruchen noch behaupten können.« oder Stephan Kammer (Anm. 6), S. 318: »Die Kanonisierung von Autoren wie Hölderlin oder Nietzsche und die Verschiebung ihres Verbindlichkeitsanspruchs innerhalb eines historisch reformulierten Kanons wären ohne die spezifischen editorischen Leistungen kaum denkbar.« Winfried Woesler (Anm. 5), S. 50; vgl. bereits Winfried Woesler: Der Kanon als Identifikationsangebot. Überlegungen zur Rezeptionstheorie. In: W. W. (Hrsg.): Modellfall der Rezeptionsforschung. Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Bd. 2. Frankfurt / M. 1980, S. 1213–1227, bes. S. 1221–1224. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Frankfurt / M. 2003, S. 78; vgl. ähnlich Bodo Plachta: Philologie als Brückenbau. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3. 1 (2009), S. 17–32, hier S. 17 und S. 21. Rüdiger Nutt-Kofoth: Philologie, Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft. In: Sophie Bertho, Bodo Plachta (Hrsg.): Die Herkulesarbeiten der Philologie. Göttingen 2008, S. 25–44, hier S. 43.
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Editionen (Nachlassedition, Werkkonstitution bei fragmentarischer Überlieferung, Publikation vergriffener Titel) schaffen und / oder verbreitern die materielle Basis für kanonrelevante Anschlusskommunikationen (einschließlich weiterer Editionen). Editionen lenken die Aufmerksamkeit einzelner Akteure auf den Editionsgegenstand oder weitere, mit diesem zusammenhängende Gegenstände (z. B. weitere Werke desselben Autors) und begünstigen so einen für deren Kanonisierung grundlegenden Selektionsprozess. Editionen sind materialiter exponierte (sinnfällige) Resultate zumindest motivationaler Wertungshandlungen und bieten als solche – je nach fachlicher Autorität, Feldposition und kulturellem Kapital der beteiligten Normsender – eine Legitimationsbasis für sich anschließende Kommunikationshandlungen anderer Akteure und entlasten diese bezüglich der argumentativen Rechtfertigung ihrer eigenen Wertungen. Editionen können durch (paratextuelle, typographische usw.) Verfahren der Präsentation des Gegenstands bestimmte Inferenzprozeduren (und entsprechende Anschlusskommunikationen) auslösen; zu denken wäre an Analogieschlüsse von der ›wertigen‹ Buchgestaltung11 oder von der bei der Erarbeitung der Edition aufgewandten Zeit und Mühe auf den Wert des Editionsgegenstands oder wenigstens auf den normativen Anspruch eines Wertpostulats. Editionen reduzieren die Hindernisse für potentielle Anschlusskommunikationen, sofern sie (a) die dauerhafte öffentliche Zugänglichkeit des Gegenstands (und der mit der Edition vollzogenen Wertungshandlungen) gewährleisten und (b) rezeptionsrelevante Informationen vermitteln.
Die Sache scheint ausgemacht: Editionen sind ein wirkmächtiger Kanonisierungsfaktor, das Fragezeichen im Aufsatztitel wäre demnach zu tilgen. Mit der prima-facie-Evidenz dieser optimistischen Einschätzung scheint uns indes folgender Hinweis Nutt-Kofoths nicht recht zusammenzupassen: Die Mechanismen des Kanonbezugs, nach denen Editionen veranstaltet werden, oder Wirkungen der Editionen auf den Kanon sind bisher nicht systematisch untersucht, wie auch die Einflüsse solcher editorischer Entscheidungen auf die Wahrnehmung von Literaturgeschichte bisher relativ unbekannt sind.12
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Vgl. nur H.T.M. van Vliet: Editoren und Verleger. In: Hans-Gert Roloff (Hrsg.): Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Berlin 1998. S. 343–368, bes. S. 350–353; Martin Peschken: Sudelblätter in Halbleinen – oder wie ästhetisch ist eine wissenschaftliche Edition? In: Rainer Falk / Gert Mattenklott (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung und Edition. Tübingen 2007, S. 213–231, und Thomas Rahn: Werkschriften. Gestalten des Textes in der Edition. In: ebd., S. 233–258, der etwa von der »typographische[n] Kanonisierung deutscher Literatur« (S. 246), vom »kanonisierenden Effekt der klassischen Antiqua-Form« (S. 249) oder »prachttypographische[r] Autorkanonisierung« (S. 253) spricht. Rüdiger Nutt-Kofoth (Anm. 10), S. 43.
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Ungeachtet der hohen Anfangsplausibilität der zur Kanonrelevanz von Editionen vorgebrachten Thesen fehlt zu ihrer Bestätigung bislang das empirische Fundament.13 Auch wir werden an dieser Stelle keine empirisch gehaltreiche systematische Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen Kanon und Edition vorlegen können. Statt dessen wollen wir uns auf einige grundlegendere Überlegungen beschränken. Namentlich versuchen wir, (1.) die im Aufsatztitel genannte – aus unserer Sicht literatursoziologisch-kulturgeschichtliche14 – Frage heuristisch im Rahmen verschiedener Erklärungsansätze15 zu verorten, um hiervon ausgehend (2.) zu einer hoffentlich reflektierteren, präziseren und empirischer Prüfung zugänglicheren Reformulierung derselben zu gelangen. Wir stellen die Frage dabei primär in systematisch-theoretischer Absicht und was uns zuallererst interessiert, ist ein besseres Verständnis der Frage selbst. Zwar werden die Antworten, die sich auf diesem Weg vielleicht erschließen lassen, eher genereller als konkreter und eher formaler als inhaltlicher Art sein, möglicherweise aber wird die hierbei angestrebte terminologische und sachliche Klärung einige Anhaltspunkte auch für künftige empirische Arbeit bieten.
1. Zwei Erklärungsansätze In welcher Weise gehören Editionen16 (genauer: die im Rahmen von Editionsprojekten eines bestimmten Typs vollzogenen Handlungen und deren Resultate) bei der Erklä-
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Vgl. aber die verstreuten Hinweise bei Winfried Woesler (Anm. 5), Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 4), S. 222–250, Hermann Korte: Taugenichts-Lektüren. Eichendorff im literarischen Kanon. In: IASL 24. 2 (1999), S. 17–70, Dieter Martin (Anm. 5) sowie Ilonka Zimmer: Uhland im Kanon. Studien zur Praxis literarischer Kanonisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt / M. 2009. Es handelt sich um eine literatursoziologische Frage, weil ein Literaturkanon (hierin dürfte Einigkeit bestehen) ein durch das sozial situierte, interrelationale Handeln mehrerer Akteure hervorgebrachtes soziales Phänomen ist, ein Phänomen des Sozialsystems Literatur zumal. Und mit ›kulturgeschichtlich‹ meinen wir, dass die Frage (a) mit einem der kulturellen Sphäre zuzuordnenden Gegenstand befasst ist und (b) historisch-diachronische Perspektivierungen nicht nur gestattet sondern möglicherweise sogar erfordert. Vgl. zu einer sinnvollen – von uns im Folgenden übernommenen – Unterscheidung verschiedener Erklärungstypen Dagfinn Føllesdal / Lars Walløe / Jon Elster: Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie. Berlin, New York 1988, S. 144–181. – Nach wie vor hilfreich sind auch die Darstellungen bei Wolfgang Stegmüller: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1: Erklärung, Begründung, Kausalität. 2., verb. Aufl. Berlin u. a. 1983, S. 110–190, S. 389–481 u.ö. sowie Peter Achinstein: The Nature of Explanation. Oxford 1983; vgl. neuerdings auch Holger Klärner: Der Schluß auf die beste Erklärung. Berlin, New York 2003, S. 25–211, und Christian Jakob: Wissenschaftstheoretische Grundlagen sozial- und geschichtswissenschaftlicher Erklärungen. Bern 2008. Es ist nicht ganz einfach, eine lexikalische Definition des Ausdrucks ›Edition‹ (zumal in Abgrenzung zu dem der ›Publikation‹) anzugeben; wir orientieren uns im Folgenden grob an folgender Explikation: Klaus Grubmüller / Klaus Weimar: [Art.] Edition. In: Harald Fricke (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin, New York 1997, S. 414–418, hier S. 414.
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rung der Genese, der Existenz oder des Fortbestehens eines Literatur-Kanons17 zum Explanans? Haben Editionen hier eine kausale Wirkung (einen ›Einfluss‹), gehören sie also zu den Faktoren, die einen literarischen Kanon generieren, konstituieren oder bewahren? Imaginieren wir for argument’s sake zunächst einmal eine modellhafte Gesellschaft folgenden Zuschnitts: Einer relativ kleinen, homogenen und konsensfähigen Gruppe ›gebildeter‹ Akteure steht eine relativ große homogene Gruppe ›ungebildeter‹ Akteure gegenüber, wobei die Minderheit über die Macht verfügt, gegen die Interessenlage und die Werthaltung der Mehrheit zu definieren, was jeweils als legitime, allgemein verbindliche, wertvolle Bildung zu gelten habe. Insbesondere hat sie durch die Kontrolle der Bildungsinstitutionen die Möglichkeit zu postulieren, hinsichtlich welcher kulturellen Sachverhalte und Traditionsgüter alle Mitglieder der Gesellschaft Wissen besitzen und (durch entsprechende sprachliche oder nicht-sprachliche Handlungen)18 ihre positive Wertschätzung zum Ausdruck bringen sollen. Die Minderheit begründet dieses Postulat sich selbst und anderen gegenüber mit dem Hinweis auf die Interessen der Gesellschaft bzw. mit den Funktionen, die die somit zum Kanon erhobenen Gegenstände – zumal in Krisenzeiten und anderen Bedarfssituationen – für die Gesellschaft erfüllen:19 Die Sicherung der kulturellen Kontinuität mit den Identifikationsfiguren und Geistesgrößen der Vergangenheit, die Bewahrung der zu gemeinsamen erklärten Traditionsbestände soll offiziell der Selbstdarstellung und Identitätsstiftung der gesamten Gesellschaft, der integrativ und homogenisierend wirkenden Distinktion anderen, fremden Gruppen gegenüber sowie der praktischen Handlungsorientierung dienen. Faktisch dient das kanonische Bildungsgut innerhalb des sozialen Gefüges überdies der Legitimation individueller und kollektiver Wertvorstellungen und Machtansprüche, der Distinktion gegenüber inferioren Gesellschaftsschichten sowie der soziokulturellen Allokation. Einige Repräsentanten der Hochkultur, zuweilen auch Vertreter der niederen Populärkultur, die sich einen gesellschaftlichen Aufstieg ersehnen, fühlen sich sodann dazu berufen, ihren Kanon durch bewusste Selektions- und Deutungsakte weiter zu perfektionieren, gezielt aufrechtzuerhalten und abweichenden Ansprüchen gegenüber durchzu-
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Da die Explikation des Ausdrucks – so nötig sie wäre – nicht Gegenstand unserer Ausführungen ist, gebrauchen wir ›Literaturkanon‹ vorläufig ungefähr so: Eine (geordnete) Menge als literarisch geltender Gegenstände (textuell variabel gefasste Werke), die im Handeln der Mitglieder einer sozialen Trägergruppe in einem bestimmten situativen Kontext und über einen bestimmten Zeitraum hinweg Gegenstand frequenter positiver Wertzuschreibungen, gegenstandsbezogener Normpostulate und anderer literarischer Anschlusskommunikationen ist. Vgl. Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004, Kap. 6, und Simone Winko (wie Anm. 5), S. 238–242. Vgl. auch Renate von Heydebrand / Simone Winko: Geschlechterdifferenz und literarischer Kanon. Historische Beobachtungen und systematische Überlegungen. In: IASL 19. 2 (1994), S. 96–172, hier S. 131, und Siegfried J. Schmidt / Peter Vorderer: Kanonisierung in Mediengesellschaften. In: Andreas Poltermann (Hrsg.): Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin 1995, S. 144–159, hier S. 153.
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setzen. Nennen wir diese Leute ›Philologen‹. Darüber hinaus werden von der Kultur-Elite ausdrücklich gebilligte Institutionen geschaffen: damit beauftragt, für die Dauer und Stabilität genau dieser Kanon-Konstellation zu sorgen und die Nutz- und Verwertbarkeit der somit als für alle wertvoll ausgewiesenen Gegenstände auch unter veränderten soziokulturellen Bedingungen sicherzustellen. Um den Geltungsbereich der auf den Kanon bezogenen Wissens- und Wertungsnorm auch auf die ›ungebildeten‹ Kreise der Gesellschaft auszudehnen, werden für diese wohlfeile und leicht verständliche Darstellungsformen – sogenannte Leseausgaben – entwickelt, während mit zunehmender Institutionalisierung der Traditionspflege zunehmend komplexere, für das Gros der Bevölkerung kaum mehr verständliche Verfahren der Aufarbeitung kanonisierter Gegenstände entwickelt werden. Selbst wenn einige hinter vorgehaltender Hand diese monströsen Dokumentationen mit dem Vorwurf des elitären Spezialistentums und der Benutzerfeindlichkeit konfrontieren und sie wahlweise20 als »Ehrengrab« und »Sarkophag« bezeichnen oder als »Edition für Editoren«, »dazu bestimmt in Universitätsbibliotheken eingesargt zu werden« – der zuweilen bei der Traditionspflege betriebene Aufwand gilt nicht etwa als übertrieben und unangemessen, sondern erscheint vielmehr mit Hinweis auf den Wert der bearbeiteten Gegenstände gerechtfertigt. Gerade die aufwändige Gestaltung dieser Ausgaben soll dazu dienen, den Wert der präsentierten Gegenstände sinnfällig zu machen. Diese modellhaft überzeichnete narrative (Re-)Konstruktion einer Kanon-Genese bedient sich ersichtlich eines intentionalen Erklärungsansatzes, der allerdings funktionale Elemente beinhaltet. Kanon ist in dieser Perspektive das auf Dauer gestellte Ergebnis planvollen-intentionalen Handelns einer als holistischer Mega-Akteur konzipierten Personengruppe21 bzw. von dieser beauftragter und in deren Namen handelnder Funktionsträger. Dabei bleibt vorerst ein wenig diffus, was denn eigentlich damit gemeint sein soll, dass eine Gesellschaft, eine Kulturgemeinschaft oder wenigstens eine Trägergruppe in toto ein Interesse an der bzw. die Absicht zur Tradierung und Dokumentation bestimmter Gegenstände hat, die für sie bestimmte Funktionen erfüllen. In dieser
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Vgl. zu diesen Formulierungen Ulrich Ott: Dichterwerkstatt oder Ehrengrab? Zum Problem der historisch-kritischen Ausgaben. Eine Diskussion. In: JDSG 33 (1989), S. 3–6; Hans Zeller: Historisch-kritische Ausgabe – Eisbrecher oder Sarkophag? In: JDSG 34 (1990), S. 424–428; Gunter Martens: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Hans Gerhard Senger (Hrsg.): Philosophische Editionen. Erwartungen an sie – Wirkungen durch sie. Tübingen 1994, S. 71–82, hier S. 76, sowie Richard Alewyn; zit. nach Ulrich Ott, S. 4. Vgl. hierzu erhellend Andreas Balog: Soziale Phänomene. Identität, Aufbau und Erklärung. Wiesbaden 2006, S. 134–143. Wir wollen offen lassen, wie weit der Holismus hier tatsächlich reicht. Dessen Implikation jedenfalls, ein Kanon werde die ihm zugeschriebenen Funktionen für tendenziell alle (und nicht nur wenige oder einzelne) Mitglieder einer Gesellschaft erfüllen, scheint uns sowohl theoretisch wie empirisch fragwürdig. – Mit besagter Vorstellung ist übrigens oft ein u.E. irreführender Gebrauch der Gedächtnis- oder Erinnerungs-Metapher verbunden (was dann ungefähr so klingt: ›Der Kanon ist ein Bestandteil eines kollektiven Gedächtnisses‹), deren Pointe gerade darin besteht, einer Kultur oder Gesellschaft in toto (tatsächlich also mehreren Personen) etwas zuzuschreiben, das faktisch nur einzelne Personen ›besitzen‹ können.
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ebenso elliptischen wie metaphorischen Formulierung scheint so etwas wie kollektive Intentionalität22 vorausgesetzt. Vielleicht hilft folgende Überlegung weiter: Die dem Kanon oder seinen Elementen zugeschriebenen Funktionen23 sind zwar primär sozialer Art, fungieren aber zugleich – qua ins eigene Überzeugungssystem übernommene Präferenzen – als rechtfertigende, motivierende Gründe für das intentionale Handeln einzelner Akteure in sozialen Kontexten. Hierin besteht demnach eine explanatorische Rückkoppelung.24 Insofern trägt der Hinweis auf Funktionen des Kanons mittelbar etwas zur Erklärung seiner Genese und Fortdauer bei – allerdings nur formal, denn die geteilte Akzeptanz der Notwendigkeit, dass eine bestimmte Funktion erfüllt wird, erklärt noch nicht, wodurch genau und warum eigentlich durch genau diese Gegenstände die fragliche Funktion erfüllt wird. Wir machen kursorisch auf weitere Nachteile dieses Erklärungsansatzes aufmerksam: Erstens geht er von einer unzulässigen Gleichsetzung des postulierten bzw. gepflegten und des faktisch geltenden Kanons25 aus und bleibt damit letztlich bei plausiblen Hypothesen stehen, ohne deren empirische Überprüfung anzugehen. Denn selbst wenn die gesellschaftliche Aufgabe der Philologen darin bestehen sollte, mittels Traditionspflege diejenigen Werke zu bewahren und zugänglich zu machen, an der ›die Gesellschaft ein Interesse‹ hat, so folgt hieraus natürlich nicht, dass sie bei der Erfüllung dieser Aufgabe auch den gewünschten Erfolg haben. Es drängt sich zweitens sogleich der Einwand auf, hier werde der Einfluss des operativen Personals überbewertet: Denn natürlich hängt der Erfolg maßgeblich davon ab, ob sich die Akzeptanz der Kanonpostulate in gleichgerichtete Anschlusskommunikationen der anderen Gesellschaftsmitglieder niederschlägt. Dies wird ohne überzeugende empirische Belege einfach vorausgesetzt. Immerhin deutet sich drittens eine – etwa für das deutsche Literatursystem des 19. Jahrhunderts – historisch tatsächlich nachweisbare26 Korrelation an zwischen der
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Vgl. hierzu grundlegend John R. Searle: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Reinbek bei Hamburg 1997, S. 34–37 u.ö. – Einen Überblick zur neueren Debatte gibt Hans Bernhard Schmid: Wir-Intentionalität. Kritik des ontologischen Individualismus und Rekonstruktion der Gemeinschaft. Freiburg im Breisgau 2005; vgl. auch die Beiträge in Hans Bernhard Schmid / David P. Schweikard (Hrsg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen. Frankfurt / M. 2009. Vgl. auch den Überblick bei Elisabeth Stuck: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen zum Umgang mit Lektüre-Empfehlungen. Paderborn 2004, S. 47–67. Vgl. Dagfinn Føllesdal / Lars Walløe / Jon Elster (Anm. 15), S. 157f. und S. 175. Vgl. zu dieser Unterscheidung etwa Rüdiger Zymner: Anspielung und Kanon. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, kritische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 30–46. Vgl. erhellend Bodo Plachta / H.T.M. van Vliet: Überlieferung, Philologie und Repräsentation. Zum Verhältnis von Editionen und Institutionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth u. a. (Hrsg.): Text und Edition (Anm. 6), S. 11–35, bes. S. 15–22, Hans-Joachim Simm: Zur sozialgeschichtlichen und editionsphilologischen Stellung sogenannter Lese- und Studienausgaben deutscher Klassiker. In: Georg Stötzel (Hrsg.): Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984. Bd. 2. Berlin, New York 1985, S. 369–384, sowie Birgit Sippell-Amon:
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Entstehung kodifizierter Kanones, dem funktional begründeten Interesse an ihrer Bewahrung und der Entwicklung der i.w.S. der Traditionspflege dienenden Institutionen. Entsprechend scheint die Attraktivität des intentional-funktionalistischen Erklärungsansatzes teilweise gerade darin zu bestehen, dass er auch gegenwärtigen Editoren eine Rechtfertigung für ihre eigene – vermeintlich im Auftrag der Gesellschaft geleistete – Arbeit liefert.27 Natürlich wird unsere simplifizierende Imagination selbst als erste Annäherung der Komplexität und Multidimensionalität der Kanonbildung in einer pluralistischen Gesellschaft nicht gerecht. Spätestens seit den Arbeiten Gottlieb Gaisers28 ist der Gedanke vertraut, dass es den Kanon überhaupt nicht gibt: einmal weil immer mehrere Kanones koexistieren, und zum anderen weil sich auch einzelne Kanones permanent verändern und selbst in synchronischen Schnitten verschwommene Ränder haben. Abgesehen davon: Macht und Einfluss einzelner Kanonsender dürfen nicht derart naiv überschätzt werden: monokausale Erklärungsansätze sind bekanntlich völlig unzureichend. In der Tat: die editionsphilologische Debatte ist hier nicht auf dem neuesten Stand. Und selbst wenn wir einige lobenswerte Differenzierungen unterschlagen haben, so lassen sich doch Annahmen, wie wir sie eben zu einer Narration verdichtet haben, bis hinein in die jüngste Kanon-Debatte nachweisen. Alle uns bekannten editionsphilologischen Beiträge zum Konnex zwischen Kanon und Edition jedenfalls beziehen sich primär auf einen reduktionistischen, intentional-funktionalistischen Erklärungsansatz. Bevorzugter Bezugspunkt sind hierbei theoretische Postulate Aleida und Jan Assmanns zu Prozeduren und Mechanismen der Kanonbildung. Im 1987 publizierten Sammelband Kanon und Zensur finden sich unter der Überschrift »Wächter der Tradition« folgende Überlegungen: Erst wenn wir uns freimachen vom Gedanken an selbsttätige Stabilisatoren der Überlieferung, wird das Moment der ›unwahrscheinlichen‹ Zeitresistenz als Ergebnis einer bewußten und mühevollen Anstrengung sichtbar. Permanenz stellt sich nicht von selbst her, aber es gibt gesellschaftliche Institutionen, die mit ihrer Herstellung befaßt sind. Sie stützen und regulieren, verfestigen und stellen still, was naturgemäß äußerst variabel ist. Solche Institutionen wirken als ›Wächter der Überlieferung‹, zu ihnen gehören: – die Institution der Zensur – die Institution der Textpflege – die Institution der Sinnpflege.29
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Die Auswirkung der Beendigung des sogenannten ewigen Verlagsrechts am 9. 11. 1867 auf die Editionen deutscher »Klassiker«. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 14 (1974), Sp. 349– 416. Vgl. etwa Winfried Woesler: Funktion und Planung historisch-kritischer Ausgaben. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5.19/20 (1975), S. 13–25, bes. S. 14–17. Gottlieb Gaiser: Zur Empirisierung des Kanonbegriffs. In: SPIEL 2 (1983), S. 123–135, sowie Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Zu einer Pragmatik der Literatur. Meitingen 1993. Aleida Assmann / Jan Assmann: Kanon und Zensur. In: A.A., J.A. (Hrsg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987, S. 7–27, bes. S. 11–15, hier S. 11.
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Da es hier nicht etwa um den Hinweis auf die schiere Publikation bislang unzugänglicher Werke geht – die ja trivialerweise als notwendige Voraussetzung jedweder kommunikativen Anschlusshandlung zu gelten hat –, sondern um die monokausale Erklärung der Kanonbildung durch die »bewusste und mühevolle Anstrengung« gesellschaftlicher Institutionen, ist auch hier die Bedeutung der sogenannten Wächter der Überlieferung unserer Ansicht nach überbewertet. Zwar ist die Differenzierung zwischen »Text- und Sinnpflege« für die grobe Typologisierung potentiell kanonrelevanter Handlungsbereiche editorischer Praxis teilweise anschlussfähig;30 ob aber Editionen in diesen Bereichen tatsächlich einen maßgeblichen Beitrag zu Prozessen der Kanonisierung und Kanonbildung leisten, ist dabei weniger bewiesen als vielmehr vorausgesetzt. Die Zirkularität dieser Konstruktion besteht offenbar darin, dass der Einfluss einer Akteursgruppe mit dem Hinweis auf einen Kanonprozess ›nachgewiesen‹ wird, der per definitionem primär auf das Handeln besagter Akteursgruppe zurückzuführen ist. Die Suggestion, etwas derart Funktionales und zweckmäßig Strukturiertes wie ein Literaturkanon, müsse nicht nur Ergebnis menschlichen Handelns, sondern auch des
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Anders als Stephan Kammer (Anm. 7) sind wir nicht der Ansicht, dass »die analytische Unterscheidung von Kanonisierungsprozessen in je komplementäre Prozeduren der ›Textpflege‹, ›Sinnpflege‹ und ›Zensur‹ ein Perspektivenraster [bietet], mit dessen Hilfe verfahrensspezifische ›Kanonisierungsstile‹ wie die der Editionswissenschaft differenzierter in den Blick genommen werden können.« – Abgesehen davon, dass wir nicht wissen, wie eine »analytische Unterscheidung« ›von Prozessen in Prozeduren‹ aussehen sollte, scheint uns die Rede von ›Kanonisierungsstilen‹ problematisch, die sich Kammer von Alois Hahn (Kanonisierungsstile. In: Aleida Assmann / Jan Assmann (Anm. 29), S. 28–37) leiht. Namentlich ist uns nicht ganz klar, was genau mit diesem Ausdruck eigentlich gemeint sein soll und inwiefern Edition sinnvoll als ›Kanonisierungsstil‹ zu bezeichnen wäre. Die Rede vom ›Stil‹ scheint (a) einen für einzelne Personen charakteristischen Handlungsmodus oder (b) einen mehr oder weniger verbindlich reglementierten Handlungstyp zu bezeichnen. Sinnvoll wäre die Rede vom ›Kanonisierungsstil‹ nur, wenn man unterstellte, dass ein (Makro-)Akteur zumindest einen Gegenstand bewusst und absichtsvoll auf bestimmte Weise handelnd kanonisiert. Das Ziel seiner Handlung(en) wäre das Kanonisiertsein (die Kanonizität) des Gegenstands, wobei er sich z. B. der Edition als Mittel zu diesem Zweck bediente; oder anders: Die Tatsache, dass er sich der Edition als Instrument bediente, wäre ein charakteristischer Bestandteil seiner Handlung. Dennoch bliebe zwischen dem Modus einer Handlung und einem Hilfsmittel derselben zu unterscheiden. Überdies: Kanonisierung ist nach unserem Verständnis (vgl. dagegen Siegfried J. Schmidt / Peter Vorderer (Anm. 19), S. 144, und Ilonka Zimmer: Überlegungen zu empirischen Verfahren in der historischen Kanonforschung. Notizen zu einem Werkstattbericht (Uhland im Kanon). In: Christian Dawidowski / Hermann Korte (Hrsg.): Literaturdidaktik empirisch. Aktuelle und historische Aspekte. Frankfurt / M. 2009, S. 194 und 203, die sowohl Kanon wie Kanonisierung als »kulturelle Praxis« bezeichnet) keine (komplexe) Handlung, die in einem bestimmten Stil vollzogen werden könnte, sondern ein durch ein Konglomerat mehrerer Einzelhandlungen konstituierter diachronisch zerdehnnter und zuweilen diskontinuierlicher Prozess. – Stephan Kammers Aussage »Edition ist ein Kanonisierungsstil« (Anm. 6, S. 316) scheint uns nach dem Gesagten weder theoretisch hilfreich (als ›Scheinwerfer‹ geeignet) noch empirisch angemessen; gleiches gilt u.E. generell für das von Kammer angepriesene »Erkenntnisraster von Kanonanalysen kulturwissenschaftlicher Provenienz« (Anm. 7).
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absichtsvollen Planes eines einzelnen und sei’s eines holistischen Makro-Akteurs sein, versucht Simone Winko mit ihrem zuletzt 2007 wiederholten Vorschlag zu vermeiden. Kanones werden hier als Ergebnis eines invisible hand-Prozesses rekonstruiert. Es wird hier ausreichen, dieses genetische31 – genauer: mechanismische32 – Erklärungsmodell in seinen Grundzügen in Erinnerung zu rufen. Die Fragen: »Wie wird ein literarischer Kanon gebildet? Welche Mechanismen spielen welche Rolle in dem komplexen Prozess, der zu einem literarischen Kanon führt?« beantwortet Winko folgendermaßen: Mir scheint es sinnvoll, einen Kanon als Phänomen der invisible hand zu modellieren: Niemand hat ihn absichtlich so und nicht anders zusammengesetzt, dennoch haben viele ›intentional‹ an ihm mitgewirkt. Invisible hand-Erklärungen werden für soziale und kulturelle Phänomene herangezogen, denen sich kein einzelner Verursacher zuschreiben lässt, die vielmehr in einem Prozess entstanden sind, an dem zahlreiche Menschen mitgewirkt haben, ohne dies als Handlungsziel vor Augen gehabt zu haben. Entsprechend kann man sich einen Kanon als solches Zwei-Ebenen-Phänomen vorstellen, das kontingent, aber nicht willkürlich entstanden ist. Es resultiert aus zahlreichen einzelnen Handlungen (Mikroebene), die jede für sich einen anderen Zweck haben als den, einen Kanon zu bilden, und die unter Ausnutzung allgemeiner Prämissen einen Prozess in Gang gesetzt haben, der ihn (auf der Makroebene) dennoch entstehen lässt.33
Ein Literaturkanon ist demnach die (vorübergehende) kausale Konsequenz der komplexen prozessualen Akkumulation einer Vielzahl unkoordinierter individueller intentionaler Deutungshandlungen, motivationaler und sprachlicher Wertungs- sowie Selektionshandlungen, die an geteilten Prämissen orientiert sind und mindestens partiell ähnliche Intentionen verwirklichen, wobei die Akteure in großer Mehrzahl nicht auf die Herbeiführung des Kanons abzielen und a fortiori nichts von den Effekten ihres Handelns bemerken. Ein Kanon ist also auch nicht das Produkt expliziter Vereinbarung und Entscheidung. Winko weist nun ausdrücklich darauf hin, dass es »auch Instanzen gibt, die der ›Pflege‹ von Kanones dienen, dass also Kanones nicht allein aus kontingenten Handlungen entstanden sind, sondern auch mit gezielten Maßnahmen gestärkt und gefördert
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Vgl. zur Struktur genetischer Erklärungen immer noch Carl G. Hempel: Aspekte wissenschaftlicher Erklärung. Berlin, New York 1977, S. 170–177, sowie Wolfgang Stegmüller (Anm. 15), S. 155–158 und S. 406–414; grundlegend zur invisible hand-Erklärung: Robert Nozick: Anarchy, State, and Utopia. Oxford 1974, S. 18–22 u.ö., Edna Ullman-Margalit: Invisible-Hand Explanations. In: Synthese 39 (1978), S. 263–291, sowie (für den deutschen Sprachraum) Rudi Keller: Sprachwandel. Von der unsichtbaren Hand in der Sprache. 2. Aufl. Tübingen 1994, S. 91–105 und S. 121–127. Vgl. – neben den grundlegenden Arbeiten von Jon Elster – neuerdings Andreas Balog / Eva Cyba: Erklärung sozialer Sachverhalte durch Mechanismen. In: Manfred Gabriel (Hrsg.): Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie. Wiesbaden 2004, S. 21–41, sowie Michael Schmid: Die Logik mechanismischer Erklärungen und die Einheit der Sozialwissenschaften. In: Andreas Balog (Hrsg.): Soziologie, eine multiparadigmatische Wissenschaft. Erkenntnisnotwendigkeit oder Übergangsstadium? Wiesbaden 2008, S. 227–262. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 9–24, hier S. 11; vgl. Simone Winko (Anm. 5), S. 259.
Ist Edition ein Kanonisierungsfaktor?
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werden«.34 Allerdings wird besagten Funktionsträgern des Literatursystems attestiert, dass ihre Handlungen quantitativ und qualitativ kaum von Bedeutung seien. Zwar seien durchaus »Unterschiede im Gewicht der einzelnen Urteile zu veranschlagen«, aber »auch unter diesem qualitativen Aspekt« solle »die Macht einzelner Akteure nicht überschätzt werden«. Entscheidend sei vielmehr die »breitere Tendenz«, die »Masse« gleichgerichteter Wertungshandlungen.35 In diesem Erklärungsmodell ist der Ort der editorischen Praxis die Mikroebene intentionaler Handlungen. Editionsunternehmen ließen sich charakterisieren als komplexe Struktur aufeinander bezogener Einzelhandlungen, die vornehmlich den Handlungsrollen Vermittlung und Verarbeitung (bei fragmentarischer Überlieferung möglicherweise. auch der Produktion) zuzuordnen sind.36 Die medienspezifisch publizierten Resultate dieser kooperativen Praxis stellen – hierin besteht deren Rückbindung an das Literatursystem – je nach Ausgabentyp in verschiedenen Geltungsbereichen, sozialen Segmenten und Domänen für jeweils begrenzte Benutzergruppen und einen begrenzten Zeitraum die Basis unterschiedlicher kanonrelevanter Anschlusskommunikationen dar. Editorische Einzelhandlungen, die explizit oder implizit wertende Komponenten aufweisen, ließen sich weiter nach Handlungstypen differenzieren: Zu erwähnen ist u. a. die von axiologischen Werten geleitete Auswahl und argumentative Legitimation eines Editionsgegenstands, dessen kritische oder modernisierende Konstitution, Präsentation und paratextuelle Ausstattung, die Anordnung und interne Hierarchisierung von Informationen, welche teilweise – z. B. als Kommentar oder Quellendokumentation – der Überbrückung von Hindernissen für sich anschließende Rezeptions-, Vermittlungs- und Verarbeitungshandlungen dienen. Die einzelnen editorischen Handlungen sind hierbei sowohl auf individueller wie auf kollektiv-institutioneller Ebene eingebunden in ein komplexes Voraussetzungssystem. Beurteilt und ausgewählt werden ja in der Regel Gegenstände, die bereits eine je spezifische Rezeptions-, Deutungs-, Distributions- und Kanonisierungsgeschichte besitzen; überdies steht editorisches Handeln stets in Zusammenhang mit der eigentlichen Edition
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Ebd., S. 259. Ebd., S. 262. Vgl. grundlegend zu dieser nicht-trennscharfen Differenzierung Siegfried J. Schmidt: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft [1980/1982]. Frankfurt / M. 1991, Kap. 5.; vgl. weiterführend Achim Barsch: Handlungsebenen des Literatursystems. In: SPIEL 11.1 (1992), S. 1–23; Achim Barsch: Kommunikation mit und über Literatur. Zu Strukturierungsfragen des Literatursystems. In: SPIEL 12.1 (1993), S. 34–61; Motoki Natori: Das Sozialsystem Literatur und die Handlungsrolle ›Verarbeitung‹. Skizze des Problems und einige theoretische Überlegungen. In: Achim Barsch u. a. (Hrsg.): Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion. Frankfurt / M. 1994, S. 123–137; Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 4), S. 33–37 und S. 94–105 sowie Friederike Worthmann (Anm. 18), Kap. 3. – Wir teilen, was die Orientierung an der ETL angeht, die Einschätzung Worthmanns (ebd., S. 77), dass »auf die systemtheoretischen Elemente des Modells« zugunsten der »handlungstheoretischen« zu verzichten ist. In diesem Sinne plädieren wir auch für eine akteurszentrierte Perspektive: Wenn jemand etwas tut, dann sind das nicht komplexe (oder gar abstrakte) Gegenstände (wie Texte oder ›Systeme‹) sondern Menschen.
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vorgelagerten Vorgängen und Filtermechanismen und ist eingebunden in institutionelle und kulturspezifische Praktiken der Traditionssicherung und Dokumentation. Schließlich ist editorische Praxis stets beeinflusst von den in einer Gruppe anerkannten ästhetischen und literaturtheoretischen Normen sowie – dies ließe sich etwa an den Hölderlin- und Kafka-Editionen des Stroemfeld-Verlags aufzeigen – vom jeweils präferierten ›Deutungskanon‹. Zweifellos ist Winkos Ansatz der Prozessualität, Multikausalität und Multidimensionalität der Kanonbildung angemessener als das intentional-funktionalistische Erklärungsmodell. Zu begrüßen ist ebenfalls die Wahl eines deskriptiv-statistischen KanonKonzepts. Dennoch hat der Vorschlag einige Nachteile: Zunächst einmal scheint er primär auf das heterogene Literatursystem pluralistischer Gesellschaften zugeschnitten zu sein, für die unterstellt wird, dass der Einfluss einzelner Akteure und Institutionen von vornherein begrenzt ist. Für bestimmte soziokulturelle Kontexte und Geltungsbereiche aber wird dieser Erklärungsansatz möglicherweise fehlgehen oder nur die Fortdauer eines Kanons, nicht aber dessen Entstehung zutreffend erklären können. Daraus, dass Winko vom idealtypischen, geradezu empirie-resistenten Modell eines invisible-handProzesses ausgeht, ergibt sich überdies zweitens die Tendenz, qualitative Unterschiede zwischen einzelnen als Kanonisierungsfaktor wirksamen Handlungen auszublenden und ihr jeweiliges kausales ›Gewicht‹ auf ihren Beitrag zu einem Akkumulationseffekt hin zu nivellieren. Auch finden sich keine Aussagen über die relative Chronologie und absolute Chronik, über Interdependenzen, Relationen und mögliche Hierarchisierungen einzelner oder mehrerer Individualhandlungen. Es wird nicht klar, wie das Zusammenspiel zwischen Editionen und anderen Instanzen und Faktoren des Kanonisierungsprozesses auf einer explanatorischen Mesoebene zu konzeptualisieren wäre. Etwas überspitzt formuliert: Wird im intentional-funktionalistischen Erklärungsansatz die kanonstiftende und kanonbewahrende Macht der »Wächter der Tradition« überbewertet, so ist ihre Spezifik im invisible hand-Modell einfach nicht von Belang. Eine Wirkung haben Editionen hier per definitonem (nämlich wenn kanonisierter Gegenstand und Editionsgegenstand übereinstimmen) und nur insofern, als sie Bestandteile der gleichgerichteten Tendenz einer Vielzahl gebündelter Einzelhandlungen sind. Metaphorisch gesprochen: Editionen sind hier kaum mehr als einzelne, zur schleichenden Aushöhlung des Steins beitragende Tropfen, wobei deren jeweilige Zusammensetzung und das Volumen letztlich irrelevant sind. Während das eindimensionale Erklärungsmodell der faktischen Komplexität von Kanonisierungsprozessen nicht gerecht wird und allenfalls einen Beitrag zur Erklärung des Handelns exponierter Funktionsträger des Literatursystem leistet, bleibt das invisible-hand-Modell unbefriedigend, weil nicht recht klar wird, ob und wie die Frage nach der spezifischen Kanonrelevanz und der Wirkmächtigkeit editorischer Praxis in diesem explanatorischen Rahmen überhaupt zu beantworten wäre. Unklar bleibt vor allem, an welchem Maßstab die Wirkmächtigkeit editorischer Praxis zu messen wäre, an welchem empirischen Befund sich deren spezifische Kanonrelevanz erweisen könnte.
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2. Versuch einer Reformulierung der Fragestellung Ist Edition (welcher Art auch immer) ein Kanonisierungsfaktor? Unserer Ansicht nach wäre für eine empirisch gehaltreiche Beantwortung dieser Frage dreierlei erforderlich: (1.) sollte die Formulierung der Fragestellung durch Explikation der Ausdrücke ›Edition‹ und ›Kanon‹ hinreichend präzise sein, damit klar wird, worüber genau man etwas wissen möchte. Vor allem sind (a) die distinkten Eigenschaften und der Geltungsbereich des untersuchten Kanons präzise anzugeben. Weiterhin wäre (b) eine Typologie kanonrelevanter Handlungen zu erarbeiten, um auf diesem Wege eine präzise und hinreichend differenzierte analytische und terminologische Basis zur Bezeichnung der auf der Mikroebene zu verortenden Handlungen zu ermöglichen. (2.) wäre in vorliegende Erklärungsansätze (a) eine Mesoebene zu integrieren,37 die Aussagen zu Chronologie, Relation und Hierarchie einzelner Handlungen und Handlungskomplexe gestatten würde.38 Die Modifikation des Erklärungsansatzes müsste überdies (b) – dieser Gedanke findet sich bereits bei Robert Nozick39 – eine Berücksichtigung der je nach Geltungsbereich eines Kanons in graduellen Abstufungen beteiligten planvoll-intentionalen Handlungskomplexe eines prinzipiell als invisible hand-Prozess zu konzipierenden Kanonisierungsvorgangs gestatten. Schließlich wären (3.) ein – quantitativer und / oder qualitativer40 – Maßstab und ggf. spezifische Kriterien anzugeben, anhand derer das ›Gewicht‹, die ›Wirkung‹, die ›Macht‹, der ›Einfluss‹, die ›Durchsetzungskraft‹, die ›Stärke‹, die ›Intensität‹ usw. einzelner kanonrelevanter Handlungen präziser zu bestimmen wäre. Weit davon entfernt eine gut begründete Antwort auf die im Titel aufgeworfene Frage präsentieren zu können, wollen wir wenigstens deren Präzisierung vorschlagen, die ungefähr so aussehen könnte: (Quae1) – Welche direkten oder mittelbaren Relationen lassen sich zwischen der im Rahmen konkreter editorischer Praxen des Typs E41 vollzogenen kommunikativen
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Bei der Rekonstruktion einer solchen Mesoebene stellen sich u. a. Fragen wie diese: Inwieweit wirken Handlungen und deren Resultate in raumzeitlich begrenzten (teilweise institutionalisierten) Bedingungskonstellationen handlungsfundierend? Welche konkreten Relationen und Interdependenzen lassen sich zwischen verschiedenen Handlungen nachweisen? In eine ähnliche Richtung scheint uns der Vorschlag bei Ilonka Zimmer (Anm. 30, S. 204) zu weisen, von einer »Beschreibung« kanonrelevanter »Handlungsweisen« auszugehen und diese stärker »als soziale, kommunikative Praktiken im literarisch-kulturellen Feld, welche in der Praxis literarischer Kanonisierung aufgehoben sind«, zu rekonstruieren. Robert Nozick (Anm. 31), S. 352, Anm. 7. Unser erster Gedanke hierzu war, dass als quantitatives Maß der Wirkung eines Kanonisierungsfaktors die Menge der unmittelbaren und mittelbaren kommunikativen Anschlusshandlungen fungieren könnte; übersehen ist dabei jedoch der qualitative Aspekt der – z. B. aufgrund der dem Normsender zugeschriebenen soziokulturellen Position – schwankenden Verbindlichkeit und Intensität affirmativer Anschlusshandlungen (deren ›Stärke‹ oder ›Nachdruck‹). Denn (um es ›differentialistisch‹ auszudrücken) die Edition gibt es ebenso wenig wie den Kanon; vgl. nur Dirk Göttsche: Ausgabentypen und Ausgabenbenutzer. In: Rüdiger Nutt-Kofoth
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Handlungen H (einschließlich der summarisch als ›Edition‹ eines bestimmten Typs bezeichneten Handlungsresultate) und den Anschlusskommunikationen A anderer Akteure nachweisen, die relevant wären hinsichtlich (i) der Kanonisierung eines bestimmten Gegenstands G in einem bestimmten (weiter zu differenzierenden) Kontext K zu einem bestimmten Zeitpunkt t sowie (ii) hinsichtlich der (de- oder präskriptiven) Zusammenstellung42 einer Menge kanonisierter Gegenstände MG zu einem in einem bestimmten (weiter zu differenzierenden) Kontext K und zu einem bestimmten Zeitpunkt t geltenden Kanon? (Quae2) – Worin genau und auf welcher Ebene besteht (qualitativ wie quantitativ) der ›Einfluss‹ editorischer Handlungen und Handlungsresultate? Gibt es – in bestimmten Phasen eines Kanonisierungsprozesses – Relationen zwischen bestimmten Formen editorischer Praxis und den Anschlusshandlungen bestimmter Handlungsbereiche des Literatursystems? (Quae3) – Wie ›stark‹, ›einflussreich‹, ›wirkmächtig‹ usw. sind diese ggf. nachweisbaren Wirkungen und Effekte editorischer Praxis (a) gemessen an welchem Maßstab und (b) verglichen mit weiteren ebenfalls an den genannten Prozessen beteiligten Instanzen und Faktoren?
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u. a. (Anm. 6), S. 37–63, sowie demnächst Annika Rockenberger: Sebastian Brants »Narrenschiff«. Kritische Würdigung vorliegender Editionen und prinzipielle Überlegungen zu einer Neu-Edition. In: editio 25 (2011), bes. § 3. Die Zusammenstellung einzelner kanonisierter Werke zu einem als ›Kanon‹ bezeichneten Korpus ließe sich als »Kanonbildung« bezeichnen; vgl. zu diesem terminologischen Vorschlag nur Hermann Korte: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Heinz Ludwig Arnold / H. K. (Anm. 33), S. 25–38, hier S. 28, und Ilonka Zimmer (Anm. 30), S. 199. Zu bedenken bleibt allerdings die Mehrdeutigkeit des Wortbestandteils ›-bildung‹, mit der (a) eine nicht (notwendigerweise) intendierte Genese eines Kanons infolge sozialer Praxis und (b) dessen aktive Konstituierung durch operatives Personal bezeichnet werden kann. Ob mit (a) überhaupt ein von der Kanonisierung einzelner Gegenstände – bzw. deren kumulativer Zusammenschau ex post – zu unterscheidender Vorgang erfasst werden kann, wäre zu überlegen.
Doris Moser
Kanon, Koffer, Kunstbericht Staatliche Literaturförderung und nationale Kanonisierungstendenzen in Österreich
Vorspiel auf dem Theater: die Sache mit dem guten Land Es ist ein gutes Land, wohl wert, daß sich ein Fürst sein unterwinde! Wo habt Ihr dessengleichen schon gesehn? Schaut rings umher, wohin der Blick sich wendet, Lachts wie dem Bräutigam die Braut entgegen! […] O gutes Land! O Vaterland! Inmitten dem Kinde Italien und dem Manne Deutschland liegst du, der wangenrote Jüngling, da; erhalte Gott dir deinen Jugendsinn, und mache gut, was andere verdarben!
Die Lobrede Ottokars von Horneck auf Österreich aus Franz Grillparzers König Ottokars Glück und Ende hatten österreichische Schulkinder bis in die späten 1970er Jahre auswendig zu lernen wie Goethes Erlkönig und Schillers Bürgschaft. Als 1955, im Jahr der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags, das Wiener Burgtheater im Haus am Ring wieder eröffnet wurde, hatten Schiller und Goethe das Nachsehen, als Eröffnungsstück gab man Grillparzers Königsdrama, mit nationalem Pathos angereichert und in den Hauptrollen die Ikonen des Wiener Schauspiels: Attila Hörbiger als Rudolf, Ewald Balser als König Ottokar und der alte Raoul Aslan als einfacher Dienstmann Ottokar von Horneck. Diese Besetzungsliste liegt wie ein Paralleltext über dem Drama: Aslan, der erklärte Gegner der Nationalsozialisten, sprach den Österreich-Monolog, der einem Bittgebet so nahe steht wie einer Lobpreisung, jedenfalls aber eine Zukunft aus längst vergangener Zeit und aus der Tradition beschwört. Der Habsburger Rudolf, eine Figur, die als opferbereiter, nahezu mythisch-verklärter guter Ur-Österreicher gedeutet wird, war mit Attila Hörbiger besetzt, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied. Ottokar schließlich, der an seiner Hybris zugrunde gehende Böhmenkönig, wurde von Ewald Balser verkörpert, einem Schauspieler, der mit seiner Rolle als Marquis Posa in Don Carlos zwiespältig in Erinnerung geblieben ist: 1937 in Berlin eindeutig gegen den im Theater anwesenden Goebbels »Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!« wetternd, ein Jahr später in Wien linientreu und ohne Tumult in einer sich der nationalsozialistischen Ideologie andienenden Inszenierung. Habsburger Mythos und Opfermythos, die verdrängte Nazi-Vergangenheit also, stehen enigmatisch am Beginn der Zweiten Republik. Und es sind keine politischen Kategorien, sondern Elemente eines Diskurses, in dem es um die Konstruktion einer gefälligen nationalen Identität geht. Dieser Diskurs war wesentlich kulturell konnotiert, getragen von einem weltanschaulich bedingten, selektiven Plün-
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Doris Moser
dern ›kanonischer‹ Basisbestände aus Literatur, Theater und bildender Kunst, aus Musik und Religion mit dem Ziel, das gute Land Grillparzers als das Eigene, das Eigenständige zu beschwören und festzuschreiben als eine Kulturnation.1 Dabei rekurriert der Begriff weit weniger auf eine im ethnisch-politischen Sinne nationbildende gemeinsame Kultur als auf die Gleichsetzung von Kultur mit Kunst und die entsprechenden marketingtechnischen Möglichkeiten: Das Label ›Österreich‹ wird ausgestattet mit einer USP (unique selling proposition) als ›kleiner Staat mit großer Kultur‹. Die Konstruiertheit, das Reduktionistische, angesichts der herrschenden Verhältnisse Verlogene dieser Vorstellung hat die nachfolgende Generation literarisch entblättert und, naturgemäß müsste man wohl sagen, kritisiert. Die Literatur Thomas Bernhards, Elfriede Jelineks, Peter Turrinis – die Liste ließe sich fortsetzen – ist auf der Folie dieses ebenso hilflosen wie schamlosen Österreichlobs der ersten Jahrzehnte der Zweiten Republik zu lesen. Bis in die 1990er Jahre hinein sollte die Auseinandersetzung mit diesem Basisnarrativ der Zweiten Republik den literarisch-intellektuellen Diskurs bestimmen. Neben der kulturell-ästhetischen Komponente hat die Kulturnationsbeschwörung auch eine politisch-strukturelle Seite. Das Wechselspiel zwischen Staat und Kunst, mal mit offenen, mal mit verdeckten Karten gespielt, wurde nicht zuletzt im Schnittfeld von Literatur und Politik ausgetragen – mit den entsprechenden Regulierungskonflikten. Die Versuche der durch Delegation und Repräsentation legitimierten Akteure des politischen Feldes im Feld der Literatur kulturelles Kapital abzuschöpfen und als symbolisches Kapital für sich arbeiten zu lassen, sind nicht nur Fußnoten der Literaturgeschichte, sondern Bestandteil der österreichischen Zeitgeschichte.2 Die Mechanismen, die dem politisch legitimierten Zugriff auf den symbolischen Wert kulturellen Kapitals zugrunde liegen, sollen im Folgenden zunächst am Beispiel zweier Ereignisse gezeigt werden, die das Wechselspiel zwischen dem literarischen und dem politischen Feld sichtbar werden lassen: der Österreich-Schwerpunkt der 47. Frankfurter Buchmesse (1995)3 und die Anthologie österreichischer Literatur Landvermessung (2005, vormals als Austrokoffer betitelt). Beide fußen auf dem kulturpolitischen Engagement des Staates und auf profilbildenden Maßnahmen der jeweiligen Regierungen bzw. der politisch verantwortlichen Parteien. Zwischen dem Auftritt Österreichs in Frankfurt und dem Prestigeprojekt einer Nationalanthologie österreichischer Dichtung seit 1945 liegen exakt zehn Jahre und ein sukzessiv vollzogener Gesinnungswandel, der, wie der Historiker Oliver Rathkolb feststellt, als »Rückzug auf nationale und häufig auch auf regionale Identitätscluster«4 identifiziert werden kann und letztlich einen Schritt zurück in frühmoderne Zeiten bedeutet. Dass es auch anders geht, soll abschließend ein Blick auf die wenig spektakuläre Literaturförderung des österreichischen Staates zeigen. In ihrer Vielschichtigkeit ermöglicht
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Vgl. dazu den Abschnitt »Zwischenspiel: Nationalliteratur ungelöst« dieses Aufsatzes. Vgl. Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005. Wien 2005. Vgl. Ernst Fischer: »Geglückte Imagekorrektur? Eine Bilanz des Schwerpunktthemas Österreich«. In: Stephan Füssel (Hrsg.): 50 Jahre Frankfurter Buchmesse. Frankfurt / M. 1999, S. 150–162; Elfriede Scheipl: Die Medienresonanz zum Österreich Schwerpunkt bei der Frankfurter Buchmesse 1995. Univ. Wien, Dipl.-Arb. 1998. Oliver Rathkolb (Anm. 2), S. 59.
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sie die Erhaltung eines heterogenen literarischen Feldes und enthält das Potential zur Schaffung eines Voraussetzungssystems für die Entstehung und Wirkung von kulturellen Kanones, ohne sich dabei institutionenspezifischer Inszenierungspraktiken bedienen zu müssen. Ob die Förderung der Vielfalt eher der Konfliktscheu – der demokratischen Form von Obrigkeitshörigkeit, jener österreichischen Grundhaltung, die Karl Kraus in den Kanzleiräten Hinsichtl und Rücksichtl verewigt hat – geschuldet ist, oder doch politischer Um- und Weitsicht, sei dahingestellt.
Erster Akt: ein Pavillon in Frankfurt Der Österreich-Pavillon auf der Frankfurter Buchmesse 1995 war ein Rundbau aus Stahl und Glas, durchsichtig, offen, die Wände mit den Namen nahezu aller halbwegs bekannten österreichischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern versehen, eine gläserne Metapher für Offenheit und Moderne, die einen Imagewandel Österreichs signalisieren sollte. Die Ausstellung im Inneren des Pavillons trug den Titel Der sechste Sinn, oder die Spur der Dinge, zu sehen waren nicht Erstausgaben, Dichterbüsten oder Biopics, sondern was vom Schreiben übrig blieb: Reste und Abfälle kreativer Prozesse, »die letzten Spuren des Schreibens als Handwerk und Lebensform.«5 Die Ausstellungsgestalter Cathrin Pichler und Johannes Schlebrügge verkündeten im Begleittext: »Der Dichter als Repräsentant (des Geistes, der Nation, der Menschheit, des Fortschritts etc.) ist tot, sein Andenken museal.« Die »Zufallsspur der Dinge« zeige eine »Literaturgeschichte in Gegenständen«, die »in die Geschichte Österreichs und in die Biographien seiner Schriftsteller« führe und als »Photoalbum des 20. Jahrhunderts, […] den Blick für die Dinge der Literatur schärft«.6 Das mehrdimensional ausgerichtete Konzept der Ausstellung erinnert an ein Modell, das Gisela Brinker-Gabler7 vorgeschlagen hat, um nationale Kanones in postnationale Konstellationen überzuführen: die Assemblage. Die aus der bildenden Kunst übernommene Form der Assemblage transponiert das zweidimensionale (Tafel)Bild in die Dreidimensionalität des Raumes und ermöglicht dadurch den Betrachtern nicht nur einen Perspektivenwechsel, sondern die Wahrnehmung des Raumes. Ein Wechsel in der Beschreibung von Kanonisierung könne, so Brinker-Gabler, Ähnliches leisten. Geht es nämlich nicht mehr um die Schaffung des einen narrative of the nation,8 das durch
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Cathrin Pichler / Johannes Schlebrügge (Hrsg.): Der sechste Sinn oder Die Spur der Dinge. Eine Anthologie der österreichischen Literatur. Wien 1996, S. 7. Ebd., Klappentext. Gisela Brinker-Gabler: Vom nationalen Kanon zur postnationalen Konstellation. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, S. 78–96. Brinker-Gablers Räumlichkeitsvorstellung lässt sich durchaus mit Homi Bhabhas Konzept der Hybridität in Verbindung bringen. Bhabha stellt dem fertigen Text (»narrative of the nation« / »national narrative«) die prinzipielle Offenheit und Prozesshaftigkeit kultureller Produktion, nicht zuletzt der Textproduktion (»nation as narration«), gegenüber so wie Brinker-Gabler
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einen singulären Kanonisierungsprozess zusammengehalten wird, sondern um eine Assemblage von Objekten unterschiedlicher Herkunft, die untereinander in Beziehung stehen und die Beziehung auch offen zeigen, dann ergäbe sich die Möglichkeit, die kulturelle Komplexität heutiger Gesellschaften nicht reduzierend bzw. reduktionistisch im Sinne einer Einheitskultur zu sehen, sondern den Komplexitätsgrad sichtbar bleiben zu lassen, ohne zugleich in Beliebigkeit zu versinken. Diese hehre Absicht schien auch Cathrin Pichler als Gestalterin der Frankfurter Ausstellung zu verfolgen. Ihre Überlegung war, so berichtet Rüdiger Wischenbart, daß eine in sich geschlossene, historisierende Darstellung eines Jahrhunderts Literatur- und Geistesgeschichte weder möglich noch sinnvoll sei. Stattdessen entschloß sie sich, mit dem auratischen Reiz von authentischen (Stellvertreter-) Objekten zu arbeiten. Dies brach die anders kaum vermeidbare Tendenz zur Konstruktion einer scheinbar homogenen Nationalliteratur, indem eine grundsätzlich unvollständige, offene Struktur dem Betrachter offeriert wurde.9
Die relative Heterogenität der Auswahl und das Verweigern der Einpassung in den dominanten Österreich-Diskurs dieser Jahre sollte den Rezipientinnen und Rezipienten die Geschlossenheit eines nationalen Narrativs verweigern. Das Metonymische, das pars pro toto, das jeder Auswahl innewohnt, machte die Ausstellung sub auspiciis nationalis aber trotzdem zum Resultat eines singulären Kanonbildungsprozesses. Über der Liste der ausgestellten Gegenstände lag die Namensliste ihrer Besitzer mit den dazugehörigen Bedeutungen und Bedeutsamkeiten: Die Hälfte der Zeitgenossen unter den Autoren hatte zumindest einen der Literaturpreise erhalten, die der österreichische Staat auslobt. Rechnet man die Stipendien hinzu, bleiben nur zwei Autoren übrig, die keine Anerkennung durch eine staatliche Auszeichnung erfahren hatten. War die temporäre Gemeinschaft der Ausgestellten also doch ein ›Kanon‹ der österreichischen Literatur? Der Kontext der Ausstellung, der Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse, veranlasste Ausstellungsbesucher jedenfalls durch eine Österreich-Brille auf die Literatur und ihre Gegenstände zu blicken und zugleich mit einer Literatur-Brille auf Österreich.10 Der Auftritt Österreichs in Deutschland beschränkte sich aber keineswegs auf das sichtbarste Zeichen, die Ausstellung im Glas-Ring des Architekten Adolf Krischanitz am Frankfurter Messegelände. Eine Vielzahl von Aktivitäten und Veranstaltungen, die einigermaßen geschickt die Anspruchsgruppen aus dem österreichischen Literaturbetrieb sowie diejenigen von Geldgeber- und von Gastgeberseite zu integrieren vermochten, ergänzten die Literaturausstellung. Rüdiger Wischenbart, der von Kunstminister Rudolf Scholten und dem Hauptverband des Österreichischen Buchhandels eingesetzte
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dem linearen Kanontext die Assemblage aus vielen, verbundenen Kanontexten bzw. Kanones. Dazu: Homi K. Bhabha (Hrsg.): Nation and Narration. London, New York 1990, Introduction. Rüdiger Wischenbart: Projekt »Österreich Schwerpunkt«: Die Kommunikationsstrategie. In: Relation 2 (1995), Nr. 2, S. 9–19, hier S. 14. Friederike Worthmanns Beschreibung von Kanon als ›Lesebrille einer Kultur‹ lässt sich wohl auch umkehren: mit dem literarischen Kanon auf die Kultur bzw. in diesem Kontext auf die nationale Kultur blickend und mit der Kulturbrille auf die literarischen Texte. Vgl. Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Anm. 7), S. 9–29.
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Koordinator, konnte sich weitgehende programmatische Freiheiten erlauben, weil er bei seinen Auftraggebern auf eine »ideologische Leerstelle, wenn es um die Festlegung eines kulturell-intellektuellen Selbstverständnisses in Österreich geht,« traf.11 Identitätsprobleme hatte das offizielle Österreich, also die Bundesregierung (ÖVP / SPÖ-Koalition) im Jahr 1995, als der EU-Beitrittsvertrag unterzeichnet wurde, nicht mehr, wohl aber – dank Waldheim und Haider – ein gehöriges Imageproblem, das es zu lösen galt. Minister Scholten, ein kunstsinniger Sozialdemokrat und ehedem Manager eines staatsnahen Unternehmens, dachte gar nicht daran, sich inhaltlich einzumischen, solange am Ende ein modernes, weltoffenes, europataugliches und wirtschaftsförderliches Österreich-Image herauskam. Die Imagefrage löste schon hier die Identitätsfrage ab und, aus heutiger Sicht erlaube ich mir das zu konstatieren, sie löste sie als intellektuelle Diskurseinheit mit einiger Tragweite auf. Die Frage nach dem Österreichischen ist inzwischen eine politische (Integrationsgesetze) und eine parteipolitische Frage (Wahlkampf), die im Boulevard und von den rechten Parteien als »Ausländer raus«-Slogan plakatiert werden kann. Eine Frage der Literatur ist ›das Österreichische‹ längst nicht mehr. Wischenbart verfolgte ursprünglich die Idee, den Auftritt in Frankfurt unter das Motto »Österreich in Europa« zu stellen und strich »die Bedeutung eines Image-Ereignisses für die Präsentation Österreichs im Rahmen der Europäischen Integration«12 hervor – nicht zuletzt war diese Botschaft ans Finanzministerium gerichtet, das den Buchmessen-Auftritt in der angestrebten Dimension mit einer Sonderdotation erst ermöglichen musste. Den Akteuren am politischen Feld leuchtete diese Argumentation ein, denjenigen am literarischen Feld nicht. Wischenbart musste von der deutlichen EUOrientierung Abstand nehmen, nachdem klar war, dass er dieses Programm nicht mit, sondern gegen die EU-skeptische Autorenschaft hätte durchsetzen müssen. Den Zielkonflikt, der daraus entstanden war, entschärfte er durch eine geschickte Anpassung der Kommunikationsstrategie in zwei zentralen Punkten: 1. Die Verstärkung der Zusammenarbeit mit dem literarischen Feld, um Frankfurt als Partizipationsmöglichkeit allen Akteuren zu öffnen, v. a. Autoren und Verlegern. Daraus entstand u. a. eine interaktive Literaturdatenbank des 20. Jahrhunderts, verantwortet von der IG Autorinnen Autoren, in der rund 10.000 literarische Autor/innen und Übersetzer/innen mit Bio- und Bibliographie verzeichnet waren, 60.000 Werktitel und 800 deutschsprachige Verlage, die österreichische Autorinnen verlegen. Benutzbar war die Datenbank während der Messe an sogenannten Literaturbankomaten. 2. Die Entwicklung »einer inhaltlich eigenständige[n], von bestehenden gesellschaftspolitischen Leitbildern zumindest in einigen Punkten abweichende[n] Programmatik«, damit etwas Neues geboten werden konnte, das für die Imagekorrektur nutzbar war.13
Als Chefkorrektor, wenn man so will, wurde Robert Menasse eingesetzt, der mit seiner Eröffnungsrede jenen Paradigmenwechsel vollzog, der sich längst vorbereitet hatte. Nach dem ›Österreichlob‹ der Nachkriegszeit und der ›Österreichbeschimpfung‹ als
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Rüdiger Wischenbart (Anm. 9), S. 16. Ebd., S. 12. Ebd.
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Gegenbewegung, die knapp über Thomas Bernhards Tod hinaus bis in die 1990er Jahre diskursmächtig blieb, wollte Wischenbart in Frankfurt kommunizieren, dass man es in Österreich inzwischen auch anders kann: Kultur und Literatur wurden in einen Diskussionszusammenhang gestellt, der sich nicht auf das Streitverhältnis zwischen Literaten und Staat reduzieren ließ, und dies galt umso mehr, als die Buchmesse als Marktplatz das genaue Gegenstück zur staatsnahen Kulturtradition österreichischer Prägung ist; die gesamte ›Corporate Identity‹ des Projekts war auf genau diese ›Normalität‹ eingestellt.14
Woran hier ordentlich gerüttelt wurde, ist nichts weniger als eines der dominanten »sinnkonstitutiven Frames«15 für die literarische Wahrnehmung von Österreich. Problematisiert wurde eine deutungskanonische Erkenntnisbedingung, nämlich die Art, wie Österreich zu beschreiben, mithin zu verstehen, zu lesen sei: »Ein anständiger Autor liebt Österreich, indem er es heruntermacht«,16 wird Günther Nenning knapp 10 Jahre später wieder ins Gedächtnis rufen. Die ›Österreichbeschimpfung‹, die zu einer eigenständigen literarischen Textsorte geworden war, was wohl per se als Indiz für Kanonisierung zu werten ist, verlor sukzessive ihre Deutungsmacht, wurde historisch, literarhistorisch, und öffnete den Raum für eine Kritik der Österreichkritik, ja eine Kritik der Kritik der Österreichkritik.17 Dieser Prozess innerhalb des österreichischen literarischen Feldes wurde mit dem entsprechenden medialen Getöse, dessen es bedurfte, um überhaupt Aufmerksamkeit generieren zu können, in Frankfurt öffentlich gemacht.
Zwischenspiel: Kanonisierung als Selbstvergewisserung einer Gesellschaft Achim Hölter hat den literarischen Kanon als eine »Schreibweise mit dem Zweck der Selbstvergewisserung des Textsystems Literatur«18 beschrieben. Er geht davon aus, dass sich Kanones innerhalb des Literatursystems bilden und dieses erhalten, aber durchaus auch fremdmotiviert entstehen können, in ihren und auf ihre Umwelten wirken. Ein Kanon bleibt aber immer als ein spezifischer Kanontext lesbar (Dichterkatalog, Literaturliste, Literaturgeschichte, Anthologie, Bestenliste usw., nicht zu verwechseln mit Texten, die in einen Kanon eingehen) und damit literarisch – unabhängig von seinem
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Ebd., S. 17. Siegfried J. Schmidt: Abschied vom Kanon? Thesen zur Situation der gegenwärtigen Kunst. In: Aleida Assmann / Jan Assmann (Hrsg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur literarischen Archäologie II. München 1987, S. 336–347, hier S. 344. Vgl. Ronald Pohl: Das große Umpacken. Der literarische ›Austrokoffer‹ kommt – er wird bloß leichter. In: Der Standard vom 7.9.2004. Matthias Beilein hat das am Beispiel Robert Menasses, einem zentralen Akteur in der sogenannten Normalisierungsdebatte, aufgearbeitet. Vgl. Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008. Achim Hölter: Kanon als Text. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Kanon und Theorie. Heidelberg 1997, S. 21–39, hier S. 21.
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Wirkungsradius.19 Hölter fokussiert auf das Literatursystem und beschreibt einen Kanontext als das lesbare Resultat einer nach literaturimmanenten Kriterien getroffenen Auswahl. Dieses systemtheoretisch grundierte Modell bietet für eine Analyse der Bildung nationaler Kanones, die notwendigerweise als Resultat von (Literatur)System(Politik)Umwelt-Beziehungen anzusehen sind, keine hinreichende Grundlage, was wohl auch an der Systemtheorie selbst liegen mag.20 Fokussiert man auf die Austauschbeziehungen zwischen Literatur, Politik, Medien, Ökonomie usw., so wäre ein funktional differenziertes Modell dienlich, das die Fragen von Macht und Autonomie berücksichtigt. Zumindest in diesem Punkt scheint mir ein Rückgriff auf die Kulturtheorie Pierre Bourdieus angebracht, in der die Akteure als zentrale Träger der Verhältnisse (Macht, Habitus, Distinktion) beschrieben sind und gesellschaftliche Felder (inkl. deren Subfelder) als Aktionsräume, die sich durch feldspezifisch gültige Regeln voneinander unterscheiden.21 Diese Regeln ordnen u. a. den Gültigkeitsbereich und den Fluss der verschiedenen Kapitalsorten (kulturelles, soziales, ökonomisches, physisches) sowie ihren Wert (symbolisches Kapital). In Schnittfeldern – etwa jenem aus Literatur und Ökonomie, oder auch jenem aus den literarischen Subfeldern der autonomen Produktion und der heteronomen Produktion – führen die Regelunterschiede zwischen den Feldern zu Wertekonflikten im Austauschprozess, der wiederum auf die einzelnen Felder rückwirkt und das feldinterne Wechselspiel zwischen Doxa und Häresie beeinflusst. Bourdieu hat in diesem Zusammenhang von einem Möglichkeitsraum gesprochen, der wie eine Sprache oder ein Musikinstrument funktioniere, in dem unendlich viele Kombinationen in einem »endlichen System von Zwängen als Potentialitäten eingeschlossen sind«.22 Dieser Möglichkeitsraum, der, wenn er genutzt wird, zum Aktionsraum wird, existiert innerhalb eines jeden Feldes, das durch die feldspezifischen Regeln von den Feldspielern auch als ein System von Zwängen erlebt wird. Zugleich sieht Bourdieu den »Raum des Möglichen« auch als feldübergreifendes Phänomen, i.e. als ein System (sozialer) Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien […], gesellschaftlicher Bedingungen der Möglichkeit und Legitimität, das (wie Gattungen, Schulen, Techniken, Formen) das Universum des Denkbaren wie des Undenkbaren definiert und begrenzt, das heißt das endliche
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Vgl. Achim Hölter: Der Dichterkatalog als Kanontext. In: Lothar Blum / Achim Hölter (Hrsg.): »daß gepfleget werde der feste Buchstab«. Festschrift für Heinz Rölleke zum 65. Geburtstag. Trier 2001, S. 496–505. Auf das grundsätzliche Problem, die These ›Kanon als Text‹ vornehmlich systemtheoretisch zu stützen, hat Leonhard Herrmann hingewiesen. Vgl. dazu: Leonhard Herrmann: Kanon als System. Kanondebatte und Kanonmodelle in der Literaturwissenschaft. In: Lothar Ehrlich / Judith Schildt / Benjamin Specht (Hrsg.): Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis. Köln, Wien, Weimar 2007, S. 21–41. Vgl. insbesondere folgende Werke von Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und Klassen. Frankfurt / M. 1985; Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992; Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt / M. 1999. Pierre Bourdieu 1999 (Anm. 21), S. 166.
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Universum der zum gegebenen Zeitpunkt denk- und durchführbaren Möglichkeiten – Freiheit –, und zugleich das System der Zwänge, innerhalb deren sich entscheidet, was zu tun und zu denken ist – Notwendigkeit.23
In diesen Schnittfeldern findet die Aushandlung eines Kanons als ein gesellschaftlich erkanntes und anerkanntes, mithin also wirksames, Verfahren für die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft statt. Entstehung und Wirkung (Radius, Intensität, Dauer) eines solchen Kanons beschränken sich nicht auf ein singuläres Feld wie etwa Literatur, Kunst, Musik, Wissenschaft usw., wenngleich der Input in Form von feldspezifischen Subkanones, beispielsweise einem spezifischen literarischen ›Kanon‹, aus den einzelnen Feldern kommt. Gemäß der Autonomiekonvention der Felder wird das Angebot innerhalb des literarischen Feldes (i.e. konkret wohl innerhalb des jeweiligen Subfeldes bis hin zu literarischen Schulen, Gruppen, Bewegungen usw.) den internen Spielregeln entsprechend erstellt. Sichtbar wird es beispielsweise im Bereich der eingeschränkten Produktion (Avantgarden, l’art pour l’art) vor allem in intertextuellen Strategien, ästhetischen Verfahren, die angewandt, weiter entwickelt, verworfen werden, in Zitaten und Verweisen usw. Die Wirksamkeit der Texte bleibt zunächst auf den Aktionsraum, aus dem sie stammen, beschränkt: Autoren kanonisieren Autoren. Erst die zunehmende Intensität in der literarischen Bezugnahme bewirkt eine Intensivierung der Aufmerksamkeit, die eine (sub-)feldübergreifende Wirkung auslöst (ein Beleg für Anerkennung). Damit ästhetische Trends und literarische Moden kanonbildend werden, bedarf es einer nachhaltigen Aufmerksamkeit, der Basis für Traditionsbildung. Die Streuung der Aufmerksamkeit hängt von Anzahl und Herkunft der Aufmerksamen ab: je gefestigter die Position eines Akteurs innerhalb des Stammfeldes, desto größer die Wahrscheinlichkeit, auch außerhalb des Stammfeldes als maßgeblich (und damit distinktionsförderlich) anerkannt und als Teil des (kulturellen) Kanons akzeptiert, das heißt wirksam, zu werden.24 Mit dem Eintritt in neue Beziehungsgefüge verändern sich die alten, die Veränderung der alten (feldinternen) Machtbeziehungen wirkt auf die ehemals neuen usw. Die Bausteine für den Kanon, den sich eine Gesellschaft errichtet, stammen aus den diversen Feldern und deren Subfeldern, sie haben die Gestalt von Texten (im weitesten kulturwissenschaftlichen Sinn – wie sonst ließen sich die Inhalte vermitteln und überliefern) und sie erfahren, sobald sie in neue Beziehungsgefüge eintreten, eine Funktionsänderung und damit Transformation. Sie werden, um im Bild zu bleiben, an einer bestimmten Stelle zu einem bestimmten Zweck in das (bestehende) Bauwerk eingesetzt. Die Mitgliederliste einer literarischen Gruppe, das Inhaltsverzeichnis einer literarischen Zeitschrift, die Beiträgerliste einer ästhetischen Debatte, die an einer Ausstellung über Literatur aus Österreich Vertretenen usw. erscheinen (in Anlehnung an Hölter) als verschiedene
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Ebd., S. 373. Wer kennt nicht Autoren, die ihnen und / oder ihren Texten zugeschriebene Bedeutung (und behält sie in Erinnerung!), ohne je eine Zeile ihres Werkes gelesen zu haben? Vgl. dazu etwa Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. München 2007. Bayards Essay handelt von der Wirkung literarischer Texte und von ihrer Deutungskraft für Leserinnen und Nichtleser und für die Gesellschaft, der sie angehören.
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›Kanontexte‹. Sie dienen als Auskunftsdateien über das Feld, das im Sinne Bourdieus keinen abgeschlossenen Raum, sondern ein Gefüge von Beziehungen, ein Netzwerk darstellt: Man erfährt etwas über die herrschenden Kräfte, die ästhetischen Konventionen und als gültig anerkannten Regulative, die ein Feld zwischen Tradition und Erneuerung aufrecht erhalten, über die Akteure, ihre Distinktion. Ist also von ›Kanontexten‹ die Rede, so sind damit die wahrnehmbaren, i.e. vermittelten (lesbaren usw.), Ergebnisse von Auswahlprozessen (Subkanones) innerhalb eines spezifischen Feldes gemeint. Ein Kanon ist ein Schnittfeldphänomen und entsteht erst durch die Verbindung (Überschneidung, Verstärkung, Ergänzung) mehrerer Subkanones, die in sich selbst erhalten bleiben, aber sich im Regelfall nicht als Ganzes im Schnittfeld finden. Das Verbindende entsteht durch das stete Aushandeln von Beziehungen und Beziehungsregulativen zwischen den Akteuren.25 Dieses Verständnis von Kanonisierungsprozessen setzt eine funktional differenzierte Gesellschaft voraus. Mit der Moderne hat ein allgemeinverbindlicher und überzeitlich wirksamer Kanon seine Funktion verloren, er konnte »einem enormen inneren (ästhetischen) wie äußeren (ökonomischen) Zwang zur ständigen Selbsterneuerung, die darin wohl der Wechselhaftigkeit von menschlichem Besitz und Begehren folgt«,26 nicht genügen, wie Clemens Ruthner festgestellt hat. Wenn leichthin und gewohnheitsmäßig trotzdem von einem literarischen Kanon die Rede ist, der etwa an Universitäten oder Schulen gelehrt wird, so handelt es sich dabei in nachmodernen Zeiten nicht mehr um das Ergebnis feldinterner Auswahlprozesse, sondern um die aus dem Angebot an feldintern erstellten Kanontexten feldextern getroffene Auswahl, die etwa Lehrerinnen nach didaktischen Überlegungen vornehmen, Universitätslehrer nach Forschungs- oder Karriereinteressen und die Gestalter einer Ausstellung zur Literatur aus Österreich nach der angenommenen außerliterarischen Wirksamkeit hinsichtlich kulturpolitischer Parameter (Imagekorrektur), dem Vorhandensein attraktiver Gegenstände und der entsprechenden Gestaltbarkeit nach künstlerischen Gesichtspunkten. Ist von Kanon die Rede, so ist damit ein Konstrukt bezeichnet, das – »stets Prozeß und Resultat zugleich«27 – feldübergreifend funktioniert, auf mehr als einen Kanontext rekurriert und als Teil des Habitus der beteiligten Akteure auch für diejenigen aus den anderen beteiligten Feldern anschlussfähig erscheint.28 Damit aus den Subkanones, die
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Ich plädiere grundsätzlich für einen eng gefassten Kanonbegriff, der den kaum mehr zu durchforstenden Wald an Kanon-Komposita entgegen steht. Erst den auf möglichst breiter sozialer Basis (Schnittfelder) ruhenden kulturellen Kanon bezeichne ich auch als Kanon. Ruthner geht davon aus, dass eine »Dichotomisierung des Marktes wie der Ästhetik« als Kennzeichen der modernen / postmodernen Gesellschaften anzusehen und die Grenze (Kanon) und ihre permanente Überschreitung (Hinzufügen neuer Elemente, Entfernen bestehender und Rebzw. Dekontextualisierung) konstitutiv sei. Clemens Ruthner: »Das Neue ist nicht zu vermeiden«. Der Literaturkanon zwischen Ästhetik und Kulturökonomie – eine Theorieskizze. In: Jürgen Struger (Hrsg.): Der Kanon. Perspektiven, Erweiterungen und Revisionen. Wien 2008, S. 31–60, hier S. 57f. Alexander Honold: Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung. In: Renate von Heydebrand (Anm.7), S. 560–580, hier S. 572. Henning Wrage hat mit Blick auf die ökonomischen Aspekte von Kanonbildung »Kanon als Objekt eines distinktionssoziologisch zu beschreibenden Diskurses« betrachtet und sieht Ka-
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in den einzelnen Segmenten gebildet werden und dort für eine bestimmte Zeit gültig sind, ein gesamtgesellschaftlich wirksamer, wenn schon nicht verbindlicher Kanon entsteht, müssen diese anschlussfähig sein, d. h. intersubjektiv, feldübergreifend und historisch. Je größer die Anschlussfähigkeit eines feldspezifischen Subkanons für Ansprüche und Bedürfnisse anderer gesellschaftlicher Felder, desto besser die Chance, in Teilen oder sogar als Gesamtes in den Kanon aufgenommen zu werden. Damit diese Transformation erfolgen kann, bedarf es der Materialisierung eines Subkanons als Kanontext. Nicht der eine Kanontext, sondern erst mehrere Kanontexte haben in pluralistischen westlichen Gesellschaften der Gegenwart das Potential, einen Kanon zu bilden, der auch gelebt, d. h. im Sinne Bourdieus inkorporiert, werden kann, um überhaupt als Kanon zu wirken. Kanon bezeichnet also das in umfassendem Wortsinn Selbstverständliche einer Gesellschaft und zugleich die Art und Weise, wie der Prozess der Selbstverständigung vor sich geht: Er wirkt sinnkonstitutiv. Die Grenzen des Kanons markieren mithin die kulturellen Grenzen der jeweiligen Gesellschaft. Der Frage ›Wer darf rein, wer muss raus?‹ stellt man sich innerhalb eines territorial abgrenzbaren Gesellschaftsraumes (Staates) nicht nur auf kultureller Basis, sondern auch auf politischer, staatlicher, religiöser Grundlage und in Zeiten der globalisierten Kommunikation wohl auch aufgrund medialer Vorstellungen und Gegebenheiten. Ästhetische Prozesse der Selbstverständigung (etwa durch Literatur) lassen sich als gesellschaftliches Handeln verstehen, das Auswirkungen hat und zugleich Einwirkungen unterliegt.29 Betrachten wir den Österreich-Schwerpunkt der 47. Frankfurter Buchmesse anhand dieses Modells, so sehen wir Folgendes: Die breiteste Ebene des (literarischen) Geschehens bildet die unüberschaubare, unredigierte, aber zählbare Liste der 10.000 Literaten, ein Katalog, in den sich jede und jeder eingeschrieben fand, der den simpelsten feldinternen Anforderungen entsprach: er / sie hatte sich als Autor deklariert, sei es durch Mitgliedschaft in einem Autorenverband oder durch Publikationen. Diese vorkanonische Ursuppe ist als Äquivalent zu Bourdieus Möglichkeitsraum zu sehen. Er enthält alle nur denkbaren Subkanones, aus denen nach (fremd)bestimmten (ästhetischen, territorialen usw.) Kriterien eine geordnete Auswahl getroffen wird, die dann als Kanontext (etwa ›Ausstellungsteilnehmer‹) manifest wird und vermittelt, was im Wechselspiel von feldinternen und feldexternen Interessen ausgehandelt wurde (neues Image Österreichs, neuer Blick der Autoren auf Österreich). Da der Begriff Kanontext auch auf die textuellen Ergebnisse von Deutungs- und Produktionsprozessen30 anzuwenden ist,
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nonisierung als kulturellen und ökonomischen Prozess. Vgl. Henning Wrage: Vom Maßstab zur Marke. Kanonbildung in der Marketinggesellschaft. In: Erhard Schütz / Thomas Wegmann (Hrsg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 107–120. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler u. a. (Hrsg.): Die einen raus – die anderen rein. Kanon und Literatur – Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs. Berlin 1994. In Analogie zur Deutungsebene könnte man durchaus auch die Produktionsebene von Texten, also ästhetisch legitime bzw. als legitim anerkannte Schreibarten, in den Blick nehmen. Der Unterschied zu ergebnisorientierten materiellen Kanontexten liegt in der Fokussierung auf die Produktionshandlung und die (informellen) Vorschriften für literarisch legitimes Schreibhandeln, das sich etwa im Bezug auf Vorbilder äußert oder im Zusammenschluss zu literarischen Gruppen (vgl. Wiener Gruppe o.ä.).
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bilden die textlichen Manifestationen eines bestimmten Österreich-Diskurses inklusive seiner Vorgeschichte(n) auch einen Kanontext: Menasses Eröffnungsrede, die Vorträge des Symposiums, das der Buchmesse vorausgegangen ist, die in deutschen Zeitungen erschienenen Österreich-Polemiken und Repliken auf Menasse, etwa von Michael Scharang und Gerhard Roth.31 Weitere Kanontexte ergeben Listen der Autoren, die als Programme (Lesungen, Buchpräsentationen) öffentlich geworden sind und sich nicht vordergründig auf das Thema Österreich beziehen (lassen). Während des ganzen Jahres und über Deutschland verstreut haben Autorinnen und Autoren unter der Dachmarke ›Österreich-Schwerpunkt‹ aus ihren Werken gelesen, sodass ›Literatur aus Österreich‹ wiederholt in unterschiedlichen Zusammenhängen und im engeren Sinne des Wortes auftrat. Wie schon für die Ausstellung bildet auch für die Auswahl der Lesenden der Katalog der 10.000 die Basis. Vergleicht man die Namensliste aus der Ausstellung mit der Namensliste der Veranstaltungsreihe, so ergibt sich eine Schnittmenge, keineswegs eine identische Menge.32 Durch die inhaltliche, räumliche und zeitliche Ausdehnung, die eine Vielzahl und Vielfalt an Kanontexten (Programmvorschauen, Plakate usw.) ergibt, wird die Komplexität des Ereignisses soweit erhöht, dass das inhärent Reduktionistische aufgehoben wird. Am Ende steht nicht der eine Kanon aus Namen und Bedeutungen – ›Österreichische Literatur‹ –, sondern eine Reihe von divergierenden Kanontexten, die erst gemeinsam das Ganze ergeben: die Momentaufnahme eines Prozesses, der weder in Frankfurt begonnen noch dort aufgehört hat.33
Zweiter Akt: Ein Koffer in Wien Zum volkstümlichen Preis von 50€ für 5.000 Seiten ein ›Best of‹ der österreichischen Literatur nach 1945 hätte es werden sollen, was am 17. August 2004 in der Kronenzeitung, dem österreichischen Pendant der Bild, erstmals dem lesenden Volk verkündet wurde, attribuiert als ein »Mammut-Projekt« mit dem im Jubiläumsjahr 2005 »Österreich 60
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Die Debatte kann als ein Beispiel für die Erneuerungsprozesse im literarisch-politischen Schnittfeld gelesen werden: Vertreter einer häretischen Position (Menasse, Rabinovici) und Vertreter der Doxa (Scharang, Roth) kämpfen um die Herrschaft, i.e. die vorherrschende Lesart des österreichischen Staates und der Gesellschaft. Zu Gerhard Roth als staatskritischen Intellektuellen vgl. Ulrike Tanzer: »Hysterischer Hausarzt von Österreich«. Österreichkritik in den publizistischen Schriften Gerhard Roths. In: Janusz Golec (Hrsg.): Der Schriftsteller und der Staat. Apologie und Kritik in der österreichischen Literatur. Lublin 1999, S. 225–240. Statistisch verlässliche Aussagen über die tatsächliche Größe der Schnittmenge sind leider aufgrund unvollständiger Angaben über die Begleitveranstaltungen nicht möglich. Damit überhaupt eine grobe Einschätzung vorgenommen werden konnte, wurden nur die in der Ausstellung vertretenen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren zum Vergleich herangezogen. In einem anderen theoretischen Rahmen ist von »Stillstellung« die Rede, vgl. Ralf Zschachlitz: Kanon als »Kanonische Stillstellung«, »Symbolisches Kapital«, »Dialektik im Stillstand« – Zur Kanontheorie bei Jan Assmann, Pierre Bourdieu und Walter Benjamin. In: Christof Hamann / Michael Hofmann (Hrsg.): Kanon heute. Literaturwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven. Baltmannsweiler 2009, S. 13–27.
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Jahre Republik, 50 Jahre Staatsvertrag sowie 10 Jahre EU-Beitritt – und seine wichtigsten Schriftsteller« feiert. Als Herausgeber, so die Krone, agiere mit Günther Nenning ein »Kenner und ›Krone‹-Kolumnist«, die grafische Gestaltung übernehme ein »bekannter Künstler«, vertreten seien 130 der »wichtigsten Autorinnen und Autoren«, wobei man die Allerwichtigsten, nämlich diejenigen, gegen die in der Kronenzeitung zu jedem sich bietenden Anlass polemisiert worden war, gleich beim Namen nannte: Bernhard, Jelinek, Turrini. Als Geldgeber, so war der zeitgleich freigeschalteten Homepage austrokoffer.at zu entnehmen, betätige sich die Bundesregierung im Rahmen der Republikfeiern. Als Ideengeber der literarischen Anthologie wurden unter anderem Bundeskanzler Wolfgang Schüssel und Kunststaatssekretär Franz Morak genannt, beide der konservativen österreichischen Volkspartei zuzurechnen und Mitglieder jener ÖVP / FPÖ-Regierung, von der sich die Mehrzahl der österreichischen Autorinnen und Autoren wiederholt öffentlich distanziert hatten. Die Programmatik, die dem Austrokoffer zugrunde lag, war denkbar einfach: »Das kleine Österreich«, schrieb Herausgeber Nenning auf austrokoffer.at »ist eine kulturelle Großmacht. Der Koffer ist eine patriotische Parallelaktion: Zur Politik läuft parallel die Literatur – da sind wir unübertroffen.«34 Unübertroffen scheint eher die Fehleinschätzung der Mechanismen des literarischen Feldes gewesen zu sein: Die Autoren waren weder über ihre Präsenz in der Anthologie, noch über die politischen und finanziellen Hintergründe des Projekts informiert worden. Anfang August war Nenning an die Öffentlichkeit gegangen, Mitte September war die Liste derjenigen, die sich weigerten, in den ›Koffer‹ gepackt zu werden, lang und las sich wie das ›Who’s Who‹ der österreichischen Gegenwartsliteratur, es war, wenn man so will, ein anderer Kanontext mit dem Titel ›Gegnerkanon als Gegenkanon‹ im Entstehen.35 Das Projekt stand vor dem Scheitern, als sich auch noch der Ueberreuter-Verlag zurückzog. Nach allerlei Streit und Häme36 erschien die Anthologie – unter neuer Herausgeberschaft, in Landvermessung umbenannt und mit einem Jahr Verspätung – als ein überdimensioniertes Lesebuch, in das etliche der Abtrünnigen wieder zurückgekehrt waren: 139 Autorinnen und Autoren, 8.000 Seiten Literatur in 21 Bänden oder 12 Kilogramm, ein nicht nur grafisch bunter Koffer aus dem Residenz-Verlag. 1995 in Frankfurt demonstrierte das offizielle Österreich nicht das literarische Backup für eine österreichische kulturelle Identität, sondern versuchte ein Österreich-Bild zu zeichnen, das als Ergebnis einen positiven Imagewert (welcher Art auch immer) bringen sollte – und, so die kommunikationswissenschaftlichen Wirkungsanalysen der Presse-
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Günther Nenning auf http://www.Austrokoffer.at, zit. nach Ronald Pohl: Ein Dichtungskoffer voller patriotischer Rätsel. In: Der Standard vom 26. 8. 2004. Die ›Kofferverweigerer‹: Ilse Aichinger, Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann, Barbara Frischmuth, Arno Geiger, Elfriede Gerstl, Norbert Gstrein, Josef Haslinger, André Heller, Alois Hotschnig, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Michael Köhlmeier, Daniel Kehlmann, Robert Menasse, Andreas Okopenko, Doron Rabinovici, Peter Rosei, Gerhard Roth, Kathrin Röggla, Evelyn Schlag, Marlene Streeruwitz, Peter Turrini. Vgl. Doris Moser: Landvermessung. Issue-Management am Beispiel des Austrokoffers. In: Stefan Neuhaus / Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 695–706.
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berichte, als Korrektur des vorherrschenden Images (Minderwertigkeitskomplex, Selbstbezüglichkeit, politisch unzuverlässig, teures Urlaubsland) auch brachte.37 Identitätsdiskurse im Sinne einer nationalen Selbstvergewisserung blieben aus, die Neubearbeitung des Themas Österreich auf das literarische Feld beschränkt und auf der alten Matrix38 angesiedelt: die These (Österreichlob) und Antithese (Österreichbeschimpfung) wurden synthetisiert (Österreichnormalisierung). Im Austrokoffer ging die Reise wieder zurück nach Österreich, zur Literatur aus Österreich als von den Repräsentanten des Staates approbiertes narrative of the nation. Aber 2005, in einer modernen und einigermaßen selbstbewussten Demokratie, ließ sich ein literarischer Kanon nicht mehr postulieren, schon gar nicht als ein singulärer Akt politisch motivierter Erinnerungskultur. Kanonsender sind per se fragwürdig geworden, ihre Legitimation reicht bestenfalls für die Erstellung eines Kanontexts, wobei sich selbst distinguierte Kanonisierer nicht außerhalb der legitimen Subkanones bedienen dürfen. An Austrokoffer / Landvermessung lässt sich demonstrieren, was geschieht, wenn feldspezifische Akteure und Prozesse der Selbstvergewisserung ignoriert werden, und die Akteure des politischen Feldes sich der Literatur ›vergewissern‹ – unter Umgehung eines Aushandlungsprozesses. Nennings anlassbezogener Kanonbildungsversuch kann mit einigem Recht und in mehrfacher Hinsicht als fremdmotiviert bezeichnet werden. Zum einen waren der Ausgangs- und Endpunkt eindeutig politisch verankert: die damalige Bundesregierung und die Jubelfeiern der Republik. Desweiteren war der Journalist und Polit-Aktivist Günther Nenning dem literarischen Feld soweit entfernt, dass er kaum mehr als dazugehörig wahrgenommen wurde.39 Nicht nur fehlte dem ehemaligen Herausgeber der Zeitschrift Neues Forum für ein glaubwürdiges Agieren die Distinktion des literarischen Feldes, seine Tätigkeit als Kolumnist des rechtspopulistischen Boulevardblattes Krone war eine nicht zu tilgende Hypothek, symbolisches Minuskapital sozusagen. Anstatt, wie zehn Jahre zuvor Rüdiger Wischenbart, fehlendes symbolisches Kapital und das nötige feldinterne Knowhow mittels Kooperationen zu akquirieren, überzog Nenning das Konto. Er trat als singulärer Schöpfer eines Kanons (Anthologie österreichischer Literatur) an, der keine Legitimation für den Zugriff auf die entsprechende Grundlage vorweisen konnte, mithin war die Voraussetzung für einen Austauschprozess zwischen literarischem und politischem Feld nicht gegeben. Nenning hatte es verabsäumt, sich einen legitimierten Verhandlungspartner zu suchen und er ignorierte die im literarischen Feld wirksamen Subkanones (etwa die Bedeutung der Wiener Gruppe). Der Entstehungs- und Wirkungskontext der Anthologie blieb auf die literarisch unerhebliche national-repräsentative Funktion reduziert, was seine Beschaffenheit maßgeblich beeinflusste. Wie so oft in Schnittfeldern offenbart sich hier
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Vgl. Ernestine Bennersdorfer: Das Österreich-Image: Ist und Soll. In: Relation 3 (1996), Nr. 1, S. 14–28. Zum Konzept des Kanons als Matrix für Texte vgl. Achim Hölter (Anm. 19), S. 22. Günther Nennings langjährige und durchaus verdienstvolle Tätigkeit für die linksliberale Kulturzeitschrift Neues Forum (von 1958–1986, ab 1966 als alleiniger Herausgeber) endete 1986, seither war Nenning, der maßgeblich am Zustandekommen des Schriftstellerkongresses von 1981 beteiligt war, dem literarischen Feld zunehmend entfremdet.
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das komplexe Kräftespiel zwischen den beteiligten Stammfeldern, das in diesem Fall ein Spiel um die Macht der Benennung war. Erst das Aushandeln von Regeln, die in einem bestimmten Schnittfeld als gültig akzeptiert werden, ermöglicht überhaupt einen wechselseitigen Austauschprozess und kann zu erfolgreichem Agieren führen. Im Falle von Austrokoffer / Landvermessung war ein Schnittstellenkonflikt unter diesen Voraussetzungen vorprogrammiert, zumal sich die Komplexität des Kanonisierungsprozesses auf die alten Machtfragen und alten Positionen reduziert: Wer darf hinein, wer muss draußen bleiben – und wer hat die legitime Macht darüber zu entscheiden? Die Antwort darauf konnte nicht mehr ein Akteur geben, der sich in der Rolle eines sakrosankten Kanonsenders wähnte. Sein Handlungsspielraum, der nur bedingt ins literarische Feld reichte, reduzierte sich auf das Vorschlagsrecht. Das Machtwort sprachen diejenigen, die üblicherweise ›Kanon‹-Entscheidungen, sofern sie die eigene Beteiligung und Wirkung betreffen, machtlos gegenüber stehen: die ausgewählten Autorinnen und Autoren bzw. deren Rechtsnachfolger, weshalb u. a. Bachmann, Jelinek und Turrini in diesem ›Kanon‹ der österreichischen Literatur nach 1945 genauso fehlen wie Ilse Aichinger, Thomas Bernhard, Michael Scharang oder Gerhard Roth. Nachdem der Alleinherausgeber Günther Nenning im ersten Versuch scheiterte und die Anthologie nach seinen Vorstellungen nur für kurze Zeit als Autorenliste im Internet präsent war, sind neben Nenning als die Herausgeber des zweiten Versuches (Ersteller eines Kanontexts namens Landvermessung) folgende Autorinnen und Autoren zu nennen: Robert Schindel, Marie Thérèse Kerschbaumer, Julian Schutting, Milo Dor, Anna Mitgutsch. Schindel e.a. haben ihr aus dem literarischen Feld stammendes symbolisches Kapital eingesetzt, um vom Unternehmen zu retten, was noch zu retten war. Was Landvermessung also trotz der mehr oder minder erfolgreichen Reparaturarbeiten bleibt, ist zwar nur ein Kanontext unter vielen, aber gerade hinsichtlich seiner politisch motivierten Entstehungsgeschichte einer mit aufschlussreicher Vorgeschichte.
Zwischenspiel: Nationalliteratur ungelöst Spätestens mit den Arbeiten der Wiener kritischen Linguistik ist auch empirisch hinlänglich belegt, dass nationale Identitäten nicht im Singular zu haben sind, sondern in unterschiedlichen Kontexten von unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich konstruiert werden, von der nationalen Identität also nicht die Rede sein kann.40 Zu den Ergebnissen der diskursanalytischen Untersuchungen gehört die Erkenntnis, dass »die strikte Dichotomie von Staatsnation einerseits und Kulturnation andererseits nationale Identifikationsprozesse nicht adäquat erfassen«.41 Wodak e.a. haben vier Strategien identifiziert, die an der diskursiven Konstruktion von nationalen Identitäten / Nation be-
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Vgl. Ruth Wodak u. a.: Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt / M. 1998. Wodak u. a. gehen von einem Begriff der Nation als »mentale[s] Konstrukt« mit »gefühlsmäßige[m] Bannkreis« und »soziale[r] Bindekraft«, das sich in öffentlichen Diskursen niederschlägt und nachweisen lässt, aus (S. 481). Ebd., S. 483.
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teiligt sind und die konstruktiv, destruktiv / demontierend, bewahrend / rechtfertigend und transformatorisch wirken. Diese Makrostrategien ließen sich wohl auch hinter Kanonbildungsprozessen freilegen, zumal, wenn es um die Bildung eines ›nationalen literarischen Kanons‹ geht. Die Betonung »nationale[r] Einzigartigkeit und innernationale[r] Gleichheit«,42 das Negieren innernationaler Unterschiede und das Sich-Absetzen von Nationen mit sehr ähnlichen Identitäten kennzeichnen nicht nur die diskursive Konstruktion nationaler Identitäten, sondern eben auch diejenige der als national deklarierten Subkanones. Für Österreich zeigt sich dies etwa in einer Vielzahl von Initiativen zur Stärkung einer österreichischen Identität in den 1950er und 1960er Jahren, »um mittels weltbekannter und ästhetisch hochwertiger Literatur das durch die Naziherrschaft angeschlagene Nationalbewußtsein der Österreicher zu restaurieren«.43 Wie die eingangs erwähnte Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters mit Grillparzer, dessen Konterfei übrigens seit 1954 den 100-Schilling-Schein zierte, sind auch die Buchreihe Das österreichische Wort,44 die Zeitschrift Wort in der Zeit und das Lehrerjahrbuch Die Barke Teile einer vom Staat subventionierten und von einflussreichen Vertretern eines patriotismuskompatiblen literarischen Geschmacks durchgeführten diskursiven Aufrüstung Österreichs zuzurechnen. Besonders patriotisch wurde man in den Jubiläumsausgaben der Buchreihe, die als Anthologien konzipiert ein ›Best of Austria‹ über ›Austria‹ bieten sollten. Stefan KaszyĔski hat in seiner Analyse gezeigt, dass zumindest die beiden ersten von drei Anthologie-Bänden eine konservative Auswahl und Deutung der österreichischen Literatur verfolgten, gleichsam als Beleg für »kulturelle Autonomie, geschichtliche Restauration und die umstrittene geistige und stilistisch Eigenart der gesamten österreichischen Literatur«.45 Allein die Titel der Anthologien offenbaren das anschwellende Selbstbewusstsein: Hat man einmal Das österreichische Wort (1959, Aphorismen) gefunden und führt es als Das große Erbe (1962, Essays) fort, so ist Das zeitlose Wort (1964, Lyrik) der konsequente nächste Schritt, einen Kanon nicht nur der österreichischen Literatur, sondern auch der Ansichten über Österreich zu formen. Geblieben ist nicht mehr als ein, was zumindest den Aphorismen-Band betrifft, philologisch schlampiger und ideologisch durchschaubarer Kanontext. Insgesamt wirken die Anthologien wie ein Kippbild, das nach Bedarf die Nation oder die Literatur zeigen konnte und das zugleich als Einheit galt, nützlich »für den psychologischen Innenbedarf und den außenpolitischen Propaganda-zweck[!] zugleich«.46 Das österreichische Wort ist längst eingestellt, was überdauert hat, ist die frappierende Kontinuität in einer auf nationale Identitätsbildung fokussierten konservativen Litera-
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Ebd., S. 482. Stefan H. KaszyĔski: Die Anthologie ›Das österreichische Wort‹ als Instrument der staatlichen Kulturpolitik. In: Janusz Golec (Anm. 31), S. 175–184, hier S. 176. Die äußerst erfolgreiche Buchreihe erschien von 1956 bis 1964 im Grazer Stiasny Verlag und hat in Anlehnung an Hofmannsthals Österreichische Bibliothek Bücher österreichischer Autoren zu wohlfeilen Preisen und mit einer von namhaften [!] Schriftstellern oder Kritikern besorgten Einleitung auf den Markt gebracht. Stefan H. KaszyĔski (Anm. 43), S. 178. Ebd., S. 184.
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turpolitik zwischen 1959 und 2005. Freilich, die Sublimation politischer Unterlegenheit mittels proklamierter kultureller Größe (bis hin zur kulturellen Überlegenheitsrhetorik) ist keine österreichische Erfindung, vielmehr ein im 19. Jahrhundert erprobtes Verfahren zur kulturellen Konstruktion von nationaler Zusammengehörigkeit mittels Ab-, Ein- und Ausgrenzung.47 Mancherorts scheinen diese Konzepte nur nachhaltiger zu wirken. Im Fußball wie in der Literatur basieren österreichische Identitätskonstruktionen implizit oder explizit auf Abgrenzungsversuchen zu Deutschland, was nicht allein auf den gemeinsamen Sprachraum zurückzuführen ist. Sprache konstituiert und verrät zugleich nationale Identitäten, so Thomas Macho, und »was uns als einzigartig definiert (etwa in phantasmatischer Zugehörigkeit zu einer Nation), ist nichts anderes als der Stoff, aus dem auch alle anderen Einzigartigkeiten gebildet werden.«48 Nationen, so Macho, seien Trugbilder des Raumes und der Zeiten und der dazugehörigen Mythen und Helden. Aus einiger Entfernung betrachtet sehen die Imperatoren, die Räume und Zeiten, die Helden des Widerstands und der nationalen Erhebung ziemlich ähnlich aus; Hermann verschmilzt mit Tell oder Che Guevara. Just als nationale Helden verschwinden sie in der Weltliteratur. Offenkundig sind die Phantome der Nation gerade nicht, was sie seit dem 19. Jahrhundert sein sollten: unverwechselbar und originell.49
Aber, so David Damrosch, es ist der nationale Rahmen, innerhalb dessen der Leser und die Leserin als Lesende sozialisiert werden und innerhalb dessen ein Buch seinen Markteintritt hat. Damrosch sieht die Nation folglich auch als »crucial setting within which most writers work and most books are read. World literature exists in a dialectical relation to the national culture within which any given reader is situated – both extending the possibility of what one knows from one’s home tradition and yet also profoundly shaped by it as well.«50 Nichtsdestotrotz ist der nationale Rahmen in Damroschs Konzept des mehrdimensionalen Literaturraums nur einer von fünf (global, regional, national, individuell und zeitlich), die sich – dem Stabilität suggerierenden Rahmen-Begriff entgegengesetzt – ständig verändern. Dieser Ansatz scheint mir durchaus kompatibel mit Gisela Brinker-Gablers Assemblage-Vorstellung, die für die »Entwicklung eines postnationalen Kanons als Komposition von kultureller Komplexität« plädiert.51 Auch wenn Damrosch
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Vgl. dazu u. a. Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989; Klaus Amann / Karl Wagner (Hrsg.): Literatur und Nation. Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 in der deutschsprachigen Literatur. Wien, Köln, Weimar 1996; Peter Goßens: »Bildung der Nation«. Zum Projekt einer ›Weltliteratur in deutscher Sprache‹. In: Wirkendes Wort 3 (2009), S. 423–442. Thomas Macho: Phantome der Nation. Gibt es eine nationale Literatur? In: Corina Caduff / Reto Sorg (Hrsg.): Nationale Literaturen heute – ein Phantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem. München 2004, S. 47–56, hier: S. 49. Ebd., S. 56. David Damrosch: Frames for World Literature. In: Simone Winko u. a. (Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New York 2009, S. 496–515, hier: 509f. Gisela Brinker-Gabler (Anm. 7), S. 93.
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das Frame-Konzept aus der Perspektive der Weltliteratur entwickelt, ist es m.E. aufgrund seiner Komplexität auf alle Literaturprozesse und alle daran beteiligten Akteure anwendbar. Sowohl Damrosch als auch Brinker-Gabler betrachten Kanonisierungsprozesse nicht als Spezialistendiskurse, sondern – wenn sie denn funktionieren – als Teil sozialen Handelns. Das aber bedarf der dazugehörigen Handlungsräume.
Dritter Akt: ein Schreibtisch im Ministerium Künstlern soll man die Türen, durch die sie gehen wollen, absolut versperren und zumachen. Man soll ihnen gar nichts geben, sondern [sie] bei der Tür hinausschmeißen. Das wird nicht gemacht, und drum ist hier eine schlechte Kunst und eine schlechte Literatur. Sie kriechen irgendwo in eine Zeitung hinein, in irgendein Ministerium, treten als Genie an und landen auf Zimmer 463 mit Aktentragen, weil sie versorgt sind bis zum Lebensende. Na, da kann man ja kein gut’s Buch mehr schreiben.52
709 Autorinnen und Autoren haben zwischen 1970 und 2005 mindestens einen der vom Staat Österreich ausgelobten und von weisungsfreien Beiräten und Jurien vergebenen Preise bzw. eines der hochdotierten Bundesstipendien (Projekt-, Musil-, Werkstipendium, Dramatikerstipendium) oder eine Buchprämie erhalten. Mit dem Inkrafttreten des Kunstförderungsgesetzes (1988) wurden die Förderung ausgeweitet und die Vergabemodalitäten transparent gemacht. Der seit 1970 dem Parlament vorgelegte Kunstbericht, ursprünglich als Rechenschaftsbericht mit kulturpolitischem Vorwort des Ministers konzipiert, ist innerhalb von 25 Jahren von 50 Seiten (1970) auf 365 Seiten (1995) angewachsen. Sämtliche Förderungen und Geförderte, Preise und Preisträger, Jurymitglieder und Beiräte werden darin aufgelistet.53 Neben Preisen und Auszeichnungen für bereits Geleistetes gibt es seit der Förderungsreform von 1988 eine Reihe von Stipendien, die österreichischen oder in Österreich lebenden Autor/innen offen stehen.54 Allein das dadurch veränderte Verhältnis zwischen Förderungen und Auszeichnungen spricht Bände: 2006 wurde zwölfmal mehr Geld für projektbezogene ad Personam-Stipendien mit Fördercharakter ausgegeben als für Literaturpreise.55 Noch mehr Mittel als in die Direktförderung von Autor/innen flossen in die Förderung von Literaturvermittlung: in die Verlagsförderung (2,7 Mio. Euro) und in die Förderung von Vereinen, Projekten und Veranstaltungen (4,1 Mio. Euro).56
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Thomas Bernhard 1984 im Fernseh-Interview mit Krista Fleischmann anlässlich des Erscheinens von Holzfällen, zit. nach: Peter Landerl: Der Kampf um die Literatur. Literarisches Leben in Österreich seit 1980. Innsbruck 2005, S. 166. Seit Herbst 2009 sind alle Kunstberichte auch im Internet zugänglich und warten darauf, eingehend analysiert zu werden. http://www.bmukk.gv.at/kunst/bm/kunstberichte.xml, 02. 11. 2010. Vom Robert-Musil-Stipendium, das für ein literarisches Großprojekt vergeben wird (Dotation: 50.400€ / p. P.) und über drei Jahre läuft, über Staats- und Projektstipendien (13.000€, p. A. / p. P.) bis hin zu Arbeitsstipendien (Einmalzahlung von 1.100€). Inkl. Kinder- und Jugendliteratur, Übersetzungsbereich. Das Fördervolumen für Preise und Stipendien betrug insgesamt rund 1,8 Mio. €. Vgl. Kunstbericht 2006 (Anm. 53).
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Doris Moser
Diese Förderstruktur ist politischen Veränderungen geschuldet: In den 1950er und 1960er Jahren, zu Zeiten der ÖVP-Alleinregierung, zielte Kunstförderung auf die konservativ-restaurierenden Tendenzen; in den 1970er und frühen 1980er Jahren setzte die Kulturpolitik des Sozialisten Bruno Kreisky auf die zuvor verschmähte Avantgarde (Stichwort: Umarmungstaktik); Kreisky hat in seiner Regierungserklärung von 1970 Intellektuelle und Künstler mit deutlichen Worten eingeladen, ein Stück des Weges mit ihm zu gehen. Derlei politische Hintergründe mochte Thomas Bernhard wohl vor Augen gehabt haben, als er gegen Literaturförderung wetterte. Dem Fördermodell von 1988 liegt eine Strategie zugrunde, die nicht allein auf Mechanismen des politischen Feldes rekurriert, sondern auch solche des literarischen Feldes (Preisvergabemodalitäten) sowie die von einflussreichen Akteuren und Akteursgruppen akzeptierten bzw. adaptierten Handlungsregulative zu integrieren wusste.57 Mit dem Kunstförderungsgesetz 1988, verantwortet von einer neuen Generation sozialdemokratischer Minister innerhalb einer SPÖ / ÖVP-Koalition, konnte sich das enge Verhältnis zwischen politischer Macht und einer ihr angemessen, daher förderungswürdig erscheinenden ästhetischen Kommunikation lösen,58 nicht zuletzt, weil die politische Macht einzelner Parteien, resp. politischer Lager, im Schwinden begriffen war und neue Kommunikationsweisen, die nicht primär kulturell-ästhetisch, sondern ökonomisch kodiert waren, den politischen Diskurs prägten. Kulturpolitik hat nicht die Aufgabe, das Dekor für Wirtschaft und Macht bereitzustellen, sondern Entwicklungen zu ermöglichen, der Produktion, Distribution und Rezeption symbolischer Güter und Dienstleistungen einen gesellschaftlich vernünftigen Rahmen zu geben.59 Der gesellschaftlich vernünftige Rahmen ist selbst allerdings bereits Resultat der Prozesse, die er fördert und befördert. Die breite Streuung der Förderung und die Involvierung verschiedener Interessensgruppen aus allen Bereichen des Literaturbetriebs hat in Österreich das Gedeihen eines heterogenen, unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen Platz bietenden literarischen Raumes begünstigt, in dem weder qualitativ noch quantitativ alles über einen Kamm geschoren werden kann oder muss.60 Die 709 Autorinnen und Autoren, deren Gemeinsamkeit ein Platz auf der Liste der Förderungsnehmer ist, bilden keineswegs einen Kanon im Sinne eines homogenen sinnkonstitutiven Frames, aber sie sind Teil eines Kanontexts, der das jährlich ermittelte Zwischenresultat eines nicht abgeschlossenen Auswahlprozesses darstellt. Damit lassen sich weitere Kanontexte schreiben, aus denen solche Frames sich zusammensetzen. Wenn es für die Bildung eines Kanons mehrerer Kanontexte bedarf, braucht es auch die öffentlichen Diskurse, in denen ihre Konstruktion und ihre Konstruierung ausgehan-
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Dazu zählen die Ergebnisse des Schriftstellerkongresses von 1981 (vgl. Gerhard Ruiss / Johannes A. Vyoral (Hrsg.): Die Freiheit, zu sehen, wo man bleibt. Wien 1982) und eine Studie zur sozialen Lage der Schriftsteller, erstellt von der IG Autorinnen Autoren, vgl. Gerhard Ruiss u. a. (Hrsg.): Problemkatalog: Bedingungen der Literaturproduktion in Österreich. Wien 1981. Vgl. Konrad Paul Liessmann, zit. in: Peter Landerl (Anm. 52), S. 169. Vgl. Marion Knapp: Österreichische Kulturpolitik und das Bild der Kulturnation. Kontinuität und Diskontinuität in der Kulturpolitik des Bundes seit 1945. Frankfurt / M. 2005, S. 73f. Vgl. dazu im Detail: Doris Moser: Erbarmungswürdig hervorragend. Literarisches Leben zwischen Kulturnation und Künstlersozialversicherung. In: Heinz Ludwig Arnold / Matthias Beilein (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3. Auflage. Neufassung. München 2009, S. 375–409.
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delt werden. Der Katalog der 10.000 ist als ein Angebot an die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft zu verstehen, aus den darin enthaltenen Bausteinen Sinneinheiten zu bilden. In einer funktional differenzierten Gesellschaft fällt dabei Vermittlungsinstanzen eine wichtige Aufgabe zu: Sie bieten Kommunikationsräume, in denen sich eine Gesellschaft über Sinn und Unsinn, auch in literarischer Hinsicht, austauschen, sich selbst vergewissern kann, mithin also an Kanontexten (keineswegs nur literarischer Art) und am Kanon arbeitet. Eine angemessene Förderung kann dafür sorgen, dass diese Räume geöffnet bleiben und benutzbar sind. Sie hat – zumindest in demokratischen, pluralistischen Gesellschaften – keinen Einfluss auf die Nutzung selbst, also ob und von wem sie genutzt werden. Dass es Leute gibt, die in der Lage sind, literarische Räume überhaupt zu nutzen (Stichwort: literarische Bildung), ist zugleich Voraussetzung und Resultat von Kanonbildungsprozessen. Teil dieser Prozesse ist auch der Komplex der Literaturförderung, was die Sache keineswegs erleichtert. Dasselbe gilt wohl auch für den Markt der Bücher, der zumindest in der derzeit praktizierten Form vorwiegend durch Verlage organisiert wird, die Entscheidungen für oder gegen ein ästhetisches Produkt zunehmend aufgrund ökonomischer Kriterien zu treffen haben. (Literarischer) Sinn und Unsinn sind bekanntlich keine ökonomischen Kategorien, weshalb eine Verlagsförderung, für die nicht Gewinnmaximierung der Maßstab ist, durchaus Sinn macht. Das hat nichts mit Wettbewerbsverzerrung zu tun, es sei denn, auf ästhetischer Ebene, schließlich sind auch Verlagskataloge als Kanontexte zu lesen. Literaturförderung kann keinen Kanon bewerkstelligen oder Kanontexte vorgeben. Sie schafft, durchaus im Sinne der erweiterten Möglichkeitsräume Bourdieus, Voraussetzungen für Subkanones und Kanones, für Kanontexte und ihre Herausbildung. Im Idealfall ist das Ergebnis so komplex, dynamisch und steuerungsresistent wie eine Assemblage, multiperspektivisch wahrzunehmen, offen für Anschlussverfahren in Raum, Zeit und Ästhetik. Ein vielschichtiges Literaturförderungsmodell, das literarische Bildung ebenso integriert wie Autorenförderung bis hin zur Arbeit an wissenschaftlichen Editionen, das die Auswahl der Auswählenden nicht fixiert, sondern im Fluss hält, hat das Potential eine solide Basis zu schaffen für die Entstehung von Kanontexten, die als literarische Anteile in einen kulturellen Kanon eingehen – oder auch nicht. Ein kulturökonomischer Ansatz61 berücksichtigt die Entstehungsprozesse im Stammfeld und die Austauschprozesse mit anderen Feldern und lässt diejenigen nicht aus dem Blick geraten, ohne die zwar hochspezialisierte Kanontexte bis hin zum sogenannten ›Privatkanon‹ funktionieren mögen, nicht aber der Kanon: die Rezipientinnen und Rezipienten. Sie nehmen Kanon wie Tradition auf und perpetuieren beides in ihrem individuellen wie gesellschaftlichen Handeln, das kein literarisches sein muss, innerhalb einer Gemeinschaft aber immer auch ein politisches ist. Wenn keiner mehr da ist, der Literatur für relevant hält (oder dazu überhaupt noch in der Lage wäre), könnte es durchaus sein, dass sich auch die Selbstvergewisserung des literarischen Feldes erübrigt.
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Hier stimme ich Clemens Ruthner zu, der »ein besseres Gesamtverständnis von Kultur als einem diskreten Ineinander von Ästhetik und Ökonomie« und damit »die Verpflichtung zu einer durchdachten Kulturförderungspolitik« einfordert. Ruthner (Anm. 26), S. 59.
Anja Johannsen
(Un)sichtbare Handschriften Zur problematischen Funktion von Literaturhäusern in Kanonisierungsprozessen
Die Joyce-Biografie von Richard Ellmann erzählt von einer Szene in Zürich, in der Joyce von einem jungen Mann gefragt wird, ob er die Hand küssen dürfe, die den Ulysses schrieb. Joyce soll entschieden verneint haben mit der Begründung, »it did lots of other things too«.1 Die Einrichtung eines Literaturhauses gründet u. a. auf dem Bedürfnis der Leser, die Autoren der für sie wichtigen Bücher selbst in Augenschein zu nehmen, sie auf Podien reden zu hören und – eventuell kurz während der Signierstunde im Anschluss an eine Lesung – mit ihnen selbst zu sprechen. Die Ursprungsidee der Literaturhäuser, so der Leiter des Stuttgarter Literaturhauses, Florian Höllerer,2 ist die, dass auch Literatur, wie die visuelle Kunst und die Musik, ebenfalls Orte braucht, dass Literatur aufführbar ist und dass es kein nur folkloristisches Ansinnen, sondern ein legitimes Bedürfnis ist, Autoren live erleben zu wollen. Literaturhäuser führen aber nicht nur Autoren und Leser zusammen, sondern auch Leser und Leser. Sie wollen Orte für alle Literaturinteressierten sein, an denen ein öffentliches Gespräch über Literatur eingebettet wird in größere kulturelle, soziale und politische Zusammenhänge – Orte, an denen auch dem Bedürfnis nach Austausch, nach Anregungen zum Nachdenken begegnet wird.
Institutionalisierungs- und Kanonisierungsprozesse Die Institutionentheorie geht davon aus, jede Institution werde aus Bedürfnissen geboren: »Alle Institutionen«, schreibt Arnold Gehlen 1956, »haben heute so wie stets einen
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Ellmann schreibt: »When a young man came up to him in Zurich and said, ›May I kiss the hand that wrote Ulysses?‹ Joyce replied, somewhat like King Lear, ›No, it did lots of other things too‹.« (Richard Ellmann: James Joyce, New and Revised Edition. Oxford 1982, S. 110). In der dazugehörigen Fußnote gibt Ellmann an, von der Episode in einem Gespräch mit Carola Giedion-Welcker 1956 erfahren zu haben. In meinen Text eingegangen sind Passagen aus drei Interviews, die ich im Dezember 2009 und Januar 2010 mit den Leitern dreier Literaturhäuser geführt habe, namentlich Florian Höllerer (Literaturhaus Stuttgart), Rainer Moritz (Literaturhaus Hamburg) und Beatrice Stoll (Literaturhaus Zürich). Ich danke den dreien an dieser Stelle herzlich für ihre Gesprächsbereitschaft. – Kurz nach der Tagung, für die dieser Text in seiner ursprünglichen Vortragsform entstand, habe ich selbst die beobachtende Distanz aufgegeben und bin jetzt Leiterin des Literarischen Zentrums Göttingen (nachdem ich zuvor zwar auch als Projektleiterin für das Literaturhaus Zürich, vornehmlich aber wissenschaftlich gearbeitet hatte). Das hat den Text während der Überarbeitungsphase zwar nicht maßgeblich verändert, soll aber nicht unerwähnt bleiben, um meine ›Befangenheit‹ nicht zu kaschieren.
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direkten Erfüllungswert für menschliche Primärbedürfnisse, aber sie verselbstständigen sich gegenüber dem Menschen und man handelt von ihnen her, im Sinne ihrer Erhaltung, ihrer Eigenforderungen, ihrer Gesetze«.3 Die Selbsterhaltung werde zur sekundären Zielsetzung. Unfreiwillig entstehe so, während die jeweilige Institution sich stabilisiert und ihren Geltungsbereich ausdehnt, ein gewisser Konformitätsdruck; die Handlungsrichtung gewinne somit eine notwendig konservative Tendenz. Gottlieb Gaiser, dessen Analyse der literaturvermittelnden Einrichtungen ihren Ausgang u. a. von Gehlens Institutionsbegriff nimmt, hält nun für die Erforschung von Kanonisierungsprozessen diejenige von Institutionalisierungsprozessen für konstitutiv: Mit Rückgriff auf Peter Bürger weist Gaiser darauf hin, dass die Vorstellungen davon, was qualitativ hochwertige Literatur sei, und deren institutionelle Verankerung immer aneinander geknüpft, voneinander abhängig seien. Entsprechend müsse die Ergründung von Wertungs- und Kanonisierungsprozessen bei der Analyse derjenigen Institutionen einsetzen, innerhalb derer diese Vorstellungen generiert und/oder perpetuiert werden.4 Autorenlesungen – z. B. in Buchhandlungen – hat es freilich schon lange vor Gründung des ersten Literaturhauses gegeben, erst mit dieser aber begann die endgültige Institutionalisierung der öffentlichen Lesung, d. h. erst mit der Einrichtung eigens hierfür geschaffener Häuser lässt sich jener Prozess beobachten, von dem Gehlen behauptet, er baue zwangsläufig einen gewissen Konformitätsdruck auf und führe letztlich zu einer Form von Strukturkonservativismus. Um zu prüfen, inwiefern Gehlens und Gaisers Thesen im Bezug auf die Literaturhäuser greifen, will ich im Folgenden vorerst die Genese des Institutionstyps ›Literaturhaus‹ beschreiben und dann von dort ausgehend über zweierlei nachdenken: Zum einen will ich fragen, von welcher Art die Mitwirkung der Literaturhäuser an der Arbeit am Kanon tatsächlich ist. Wie konnten die Literaturhäuser so rasch an Einfluss gewinnen und sich als kanonrelevante Instanzen etablieren? Meine Verwendung des Kanonbegriffs folgt dem Vorschlag Friederike Worthmanns, dem hohen Grad an Ausdifferenzierung der sozialen Systeme gemäß von keinem Kernkanon mehr zu sprechen, sondern den Kanonbegriff konsequent pluralisiert zu gebrauchen.5 Entsprechend arbeite ich mit einem akuten und sozialen Kanonbegriff; der Gruppenkanon, der mich hier interessiert, ist der des deutschsprachigen Literaturbetriebs der Gegenwart. Zum anderen will ich beschreiben, unter welchen Bedingungen der von Gehlen geschilderte Verlauf tatsächlich einzutreten droht, aber eben auch, wie diese Gefahr zu dämmen sein kann.
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Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn 1956, S. 18. Vgl. Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Zu einer Pragmatik der Literatur. Meitingen 1993, v. a. 143–179. Vgl. Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, 9–29, hier: 14. Vgl. auch Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004.
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Genese und Funktion des Institutionstyps ›Literaturhaus‹ Der Zeitpunkt, um den Institutionalisierungsprozess der Literaturhäuser zu untersuchen, scheint mir momentan ideal, weil dieser Institutionstyp zwar noch relativ jung, aber bereits völlig etabliert ist und momentan erneut zu boomen scheint. Die Einrichtung ›Literaturhaus‹ ist gut zwanzig Jahre alt; das bereits 1963 von Walter Höllerer gegründete lcb, das Literarische Colloquium Berlin, kann zwar gewissermaßen als die Urmutter aller Literaturhäuser gelten, ist aber keines im engeren Sinn, weil es außer dem Veranstaltungsbetrieb zugleich ein Stipendiatenhaus für Autoren und – mittlerweile auch – Übersetzer unter seinem Dach birgt. Das erste Literaturhaus im strengen Sinn dagegen, mit dem auch die Bezeichnung geboren war, wurde 1986 in Berlin-Charlottenburg eröffnet; im Jahr darauf zog Hamburg nach, in den 1990ern folgten Wien, Frankfurt am Main, Rostock, Salzburg, Leipzig, München, Köln und Zürich, 2001 Stuttgart, 2003 Graz, und gegenwärtig sind in diversen anderen Städten mittlerer Größe weitere im Aufbau begriffen, u. a. in den neuen Bundesländern. Die von Stephan Porombka und Kai Splittgerber im Auftrag des Netzwerks der Literaturhäuser erarbeitete Studie zum literarischen Leben in den fünf neuen Bundesländern zu Beginn des 21. Jahrhunderts gibt hierüber Auskunft.6 Das bislang nur im deutschsprachigen Raum verbreitete Modell Literaturhaus findet außerdem mittlerweile Nachahmer im Ausland, vor allem in den skandinavischen Ländern und den Beneluxstaaten; Florian Höllerer spricht vom »Exportschlager Literaturhaus«. Zum Beispiel ist 2005 in Kopenhagen das erste dänische Literaturhaus entstanden, dessen Gründer sich in der Planungsphase von einigen deutschen Kollegen haben beraten lassen; im Jahr zuvor war in Brüssel ein Internationales Literaturhaus unter dem Namen Passa Porta entstanden, und das größte Literaturhaus Europas, finanziert von einer politischen Stiftung, ist 2007 in Oslo eröffnet worden; in London steht die Gründung eines Hauses bevor. Was nun tun diese Häuser? Welche Aufgaben verfolgen, welche Funktionen erfüllen sie? Sieht man sich die Begrüßungsseiten der jeweiligen Netzauftritte an, ist meistens zuallererst davon die Rede, dass die Literaturhäuser Orientierung im unüberschaubar gewordenen Wust an Neuerscheinungen böten, als Vorkoster und Vermittler präsentieren sie sich. Die Selektionsfunktion scheint also die entscheidende zu sein: Diese Institutionen lenken die Aufmerksamkeit des Publikums auf einige wenige der – viel beschworenen – jährlichen 10.000 belletristischen Neuerscheinungen. 100 Abende veranstaltet ein großes Literaturhaus im Durchschnitt pro Jahr, darunter sind immer auch ein paar Podiumsdiskussionen und andere Formate, aber den Löwenanteil der Veranstaltungen machen überall die Autorenlesungen aus. Grob geschätzt wird entsprechend an ca. 80 von 100 Abenden einem Autor, einer Autorin Gelegenheit gegeben, für sein bzw. ihr neues Buch zu werben. Die Auswahl dieser 80 aus 10.000 nehmen die Programmleiter der Literaturhäuser vor – ich komme in Kürze im Zusammenhang mit der ›Handschrift‹ darauf zurück.
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Nachzulesen unter: http://www.literaturhaus.net/projekte/projekt.htm?p=229, 05. 10. 2010.
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Die Rolle dieser jungen Institutionen innerhalb von Kanonisierungsprozessen ist bislang kaum beforscht worden. Ein Großteil der wenigen Veröffentlichungen über Literaturhäuser ist von den Leitern derselben verfasst; niemand sonst freilich kann über die Arbeitsprozesse – im Besonderen über die fraglos interessanteste Frage nach den Motiven bei der Programmauswahl – ohne größeren Aufwand ausgiebig berichten. Zum Beispiel stammt der Text über die Literaturhäuser in der von Heinz-Ludwig Arnold und Matthias Beilein herausgegebenen Neuauflage des Literaturbetriebs in Deutschland7 von Rainer Moritz, dem Hamburger Literaturhausleiter. Interessant sind diese Texte vornehmlich als Dokumentationen des institutionellen Selbstverständnisses. Den tatsächlichen Stellenwert der Einrichtung und deren Reichweite dokumentieren sie aber nur bedingt, da von den Institutionsleitern sicher nur eine beschränkt kritische Distanz zum eigenen Tun zu erwarten ist. Es fehlt also an empirischen Studien, die die Arbeit der Literaturhäuser kritisch begleiten und dokumentieren – eine Forschungslücke, die es zu schließen gilt. Da ich selbst nun ebenfalls zu jener Spezies von Institutionsleitern gehöre, muss ich mich im Folgenden darauf beschränken, aufbauend auf den eigenen Erfahrungen einen zwangsläufig subjektiven Gesamteindruck von der Entwicklungsgeschichte des Institutionstyps ›Literaturhaus‹ und meine Überlegungen hierzu wiederzugeben. Vielerlei Themenstränge laufen hier zusammen, und eigentlich gebührte jedem einzelnen gesonderte Aufmerksamkeit: Sei es die Frage nach dem sich hinter diesem Institutionstyp verbergenden Literaturbegriff, seien es die kulturpolitischen, -ökonomischen und medientheoretischen Fragen oder die stärker an der konkreten Praxis orientierten Fragen nach den Strukturen innerhalb dieser Institutionen. Entsprechend kann im Folgenden vieles nur angeschnitten werden, das an anderer Stelle auszuführen wäre.
Der zurückgekehrte Autor In welche Richtung hat die Etablierung von Literaturhäusern den Literaturbetrieb und das Rezeptionsverhalten des Lesepublikums verändert? Anders als in der Buchkultur der Vergangenheit, schreibt Andreas Poltermann, lassen sich Kanonisierungen heute nicht mehr allein mit Bezug auf »Texte als Ereignisse, die im Prinzip auch unabhängig von der Kommunikation über sie existieren«, denken. Vielmehr spiele, fährt er fort, in der gegenwärtigen Medienkultur »die Kanonisierung durch Mediatisierung eine wichtige Rolle: Medienereignisse wie Dichterfeiern und den Starkult gibt es überhaupt nur wegen der zu erwartenden Kommunikation.«8 Natürlich ist die Arbeit von Literaturhäusern in genau diesem Zusammenhang zu sehen: im Zusammenhang der die gesamte Buch-
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Vgl. z. B. Rainer Moritz: Ein Forum für die Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold / Matthias Beilein (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Aufl. Neufassung. München 2009, 123–129; vgl. auch: Thomas Böhm: Auf kurze Distanz. Die Autorenlesung: O-Töne, Geschichte, Ideen. Köln 2003; Florian Höllerer: Ein (Literatur)Haus für Europa. http://www.ifa.de/ fileadmin/content/publikationen/kulturreport/literatur_hoellerer.pdf, 16. 01. 2010. Andreas Poltermann (Hrsg.): Literaturkanon – Medienerzeugnis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Berlin 1995, S. 27.
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branche verändernden Medienkultur, in der das Gesicht des Autors / der Autorin, die öffentliche Präsentation der Figuren hinter den Büchern und das öffentliche Reden über diese Figuren eine entscheidende Rolle spielen. Die Leseveranstaltung bringt den Autor auf die Bühne, inszeniert ihn und sein Buch und verhilft ihm zu einem Zuwachs an Aufmerksamkeit und an über ihn kursierender Kommunikation. Detlev Schöttker ergänzt in einem Aufsatz mit dem Untertitel »Autorpräsenz als Voraussetzung von Kanonpräsenz«, es sei irreleitend, dass im Mittelpunkt der Kanonforschung einerseits kanonbildende und -pflegende Institutionen, andererseits Texte, weniger aber Autoren stünden. Anreize zur Lektüre würden u. a. mittels diverser Erzählungen über den jeweiligen Autor geschaffen. »Dauerhafte Kanonisierung setzt die imaginäre Präsenz des Autors im Bewusstsein der Leser voraus«.9 Und selbige wird natürlich massiv befördert, wenn sein Foto in den Programmheften der Literaturhäuser zu sehen und seine Stimme am Abend auf dem Podium zu hören ist. Indem Literaturveranstalter maßgeblich daran mitwirken, diese Präsenz des Autors zu verstärken, setzen sie sich über die in der Literaturtheorie seit Barthes, Kristeva und Foucault dominierende Vorsicht im Umgang mit dem Autorbegriff und dem in der wissenschaftlichen Praxis damit einhergehenden Gebot zum Desinteresse an der Person des Schreibenden schlicht hinweg und somit fraglos dem Generalverdacht enormer theoretischer Naivität aus. Während im akademischen Kontext lange Jahre – und im deutschsprachigen Raum vor allem in den 1980ern und 1990ern, also interessanterweise ausgerechnet in jenen Jahren, in denen Literaturhäuser sich zu etablieren begannen – nichts so verpönt war wie die Frage nach der Autorintention und kaum etwas so gefürchtet wie der Biographismusverdacht, saßen – und sitzen noch – Abend für Abend Autoren auf den Literaturhausbühnen, geben Auskunft über sich und ihre Bücher, werden also bedenkenlos als privilegierte Interpretatoren ihrer eigenen Texte herangezogen und lassen sich nach den biografischen Anteilen ihrer Texte befragen. Einzig mit der Differenz zwischen akademischem Betrieb und Literaturbetrieb lässt sich diese Diskrepanz nicht erklären, sind die – allein schon personellen – Überschneidungen doch zahlreich: Vielfach werden die ortsansässigen Mitarbeiter der literaturwissenschaftlichen Institute als Veranstaltungsmoderatoren engagiert, im Publikum sitzt immer die eine oder andere (ehemalige) Germanistikstudentin, und auch die Mitarbeiter in den Literaturhäusern selbst sind für gewöhnlich Absolventen eines literaturwissenschaftlichen Studiums. Eine scharfe Trennung zwischen dem scheinbar naiven Diskurs auf den Literaturhausbühnen und dem komplexeren in den Seminarräumen ist insofern nicht möglich. Vielmehr scheint mir hier eine Art von Aufgabenteilung vorzuliegen: So gut begründet die vom (Post-)Strukturalismus induzierte, in der Folge von den Literaturwissenschaften stets gepflegte Skepsis dem Autorbegriff gegenüber war und ist, geht mit ihr die mittlerweile vielfach beschriebene Gefahr einher, die – kulturhistorisch maßgeblichen – sinnlichen und sozialen Dimensionen von Literatur schwer zu vernachlässigen.
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Detlev Schöttker: Der literarische Souverän. Autorpräsenz als Voraussetzung von Kanonpräsenz. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 277–290, hier: S. 278.
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Diese Dimensionen dagegen stellt der Literaturveranstaltungsbetrieb in den Mittelpunkt. Der theoretische Gedanke, den Autor zugunsten einer größeren Autonomie der Texte aus der Rezeption lieber zu verbannen, ist ja immer aufs engste mit der Rezeptionsform des zurückgezogenen privaten Lesens verknüpft gewesen. Dagegen greift der in Literaturhäusern zelebrierte öffentliche Auftritt Schreibender gewissermaßen zurück auf kulturhistorische Formen der Textrezeption, die älter sind als die stille Lektüre, wie z. B. Heinz Schlaffer in seiner »genetischen Literaturtheorie« erläutert.10 Artaud schon hatte geklagt, es sei ein Verbrechen an der Literatur gewesen, sie mit dem Verschwinden des Rhapsodenstreits und der Prozessionslieder in die stille Kammer zu verbannen. Literatur müsse wieder sinnlich erfahrbar, müsse wieder ›Theater werden‹, verlangte er. Zumindest in Ansätzen lösen die Literaturhäuser diese Forderung ein, indem sie den Glauben an einen Mehrwert der lauten Lektüre, der öffentlichen Diskussion und Begegnung mit dem Autor im Verhältnis zur stillen Lektüre hochhalten. Dass damit nicht zwangsläufig die befürchtete theoretische Naivität einhergehen muss, klärt sich wiederum mit einem Blick auf die jüngere literaturwissenschaftliche Diskussion um den Autorbegriff, die zu Anfang dieses Jahrhunderts eingesetzt hat: Die Herausgeber der Bände Rückkehr des Autors11 und Texte zur Theorie der Autorschaft12 betonen, Textlektüren setzten schließlich immer schon »bestimmte Auffassungen über den Autor voraus, die maßgeblich darüber bestimmen, auf welche Weise der Text interpretiert wird«; man verfalle nicht zwangsläufig einem »naiven Biographismus«, wenn man sich auf den Autor bezieht. Die literaturwissenschaftliche Diskussion um die Brauchbarkeit des Autorbegriffs sei somit keineswegs beendet, sondern beginne »jetzt eigentlich erst mit dem Bemühen, die vielfältigen historischen und systematischen Formen und Funktionen des Autors angemessen zu erfassen«.13 Zu behaupten, die Etablierung der Institution Literaturhaus habe die literaturtheoretische Diskussion hier nennenswert beeinflusst, wäre sicher nicht haltbar. Durchaus scheinen mir aber die veränderte Stoßrichtung innerhalb der Literaturwissenschaften, d. h. die wachsende Skepsis dem ›Tod des Autors‹ gegenüber und der Erfolg der neuen Institutionen innerhalb ein und desselben Zusammenhangs zu stehen – eines Zusammenhangs, der sich grob gefasst vielleicht als ein Wiedererstarken der Sehnsucht nach den sozialen und sinnlich erfahrbaren Dimensionen von Literatur bezeichnen ließe.
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Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen. Frankfurt / M. 1990. Vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez, Simone Winko: Einleitung. Autor und Interpretation. In: F.J. u. a. (Anm. 12), S. 7–29, hier: S. 24f.
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Intendantenmodell Artauds Rede von dem Theater, zu welchem die Literatur wieder werden müsse, bringt mich zurück zu den Aufgaben der Leitung in Literaturhäusern. Denn in den vergangenen Jahren hat sich zur Bezeichnung des Leitungsmodells – in Anlehnung ans Theater – der Begriff des Intendantenmodells durchgesetzt; das bedeutet zuerst einmal nur, dass eine Person sowohl Programm- als auch Geschäftsleitung übernimmt. Zu Beginn des Institutionalisierungsprozesses war dies in vielen Häusern anders, man trennte Programm- und Geschäftsleitung gezielt, um ökonomische Fragen keinen direkten Einfluss auf die Programmgestaltung nehmen zu lassen, mittlerweile ist diese Trennung aber in den meisten der Häuser aufgehoben worden. Die Rede vom Intendantenmodell besagt aber mehr als nur dies, erzählt sie doch viel über das Selbstverständnis von Literaturhausleitern. Der Begriff der Intendanz meint ja immer das Zugleich von Managementaufgaben und künstlerisch-inhaltlichen Aufgaben. Theater- und Opernintendanten führen gewöhnlich auch selbst Regie und prägen, aufgrund ihrer Auswahl von Stücken und Regisseuren, das Profil der von ihnen geführten Häuser ganz maßgeblich. Die Frage ist, ob nun die Leitung eines Literaturhauses tatsächlich in vergleichbarem Maße mit der Ausprägung einer eigenen künstlerischen Handschrift zu tun hat. Wie groß ist der konzeptionelle Spielraum von Literaturhausleitern? Und wie groß ist der Einfluss, den sie damit auf laufende Kanonbildungsprozesse nehmen? Die Annahme, von der diese Überlegungen ihren Ausgang nehmen, ist die, dass Literaturhausleiter aufgrund ihrer Entscheidungsgewalt bezüglich der Programmgestaltung zu jenen Akteuren gehören, deren mehr oder weniger unsichtbare Hände, um Simone Winko zu zitieren, gegenwärtige Kanonbildungsprozesse steuern. Kanonbildungen, so Winkos These, sind zu verstehen als Effekte von vielerlei sozialen Handlungen, die keineswegs zwingend in der Absicht, eben jenen Text zu kanonisieren, erfolgen, sondern aus diversen anderen Gründen,14 beispielsweise um als Leiterin eines Literaturhauses den Veranstaltungssaal zu füllen oder das Profil der eigenen Institution auszubilden und zu schärfen. Die Frage, inwieweit Kanonisierungsprozesse gesteuert und inwieweit ungesteuert vonstatten gehen, ist in gegenwärtigen Debatten im Bereich der Kanontheorien zentral. Am Beispiel von Literaturhäusern zeigt sich m.E. sehr deutlich, wie eng in literaturvermittelnden Institutionen gesteuerte und ungesteuerte Handlungen verwoben sind, die hier dennoch zu Analysezwecken vorerst scharf zu unterscheiden sind: einerseits die ungesteuerten Handlungen, die ›Mitarbeit am Kanon‹ als ›invisible hand‹, andererseits – im selteneren Fall, wie ich meine – die gezielte Steuerung. Ich will das im Folgenden ausführen, indem ich die Motive bei der Auswahl der Autoren, denen die Literaturhäuser ein Auftrittsforum bieten, unter die Lupe nehme.
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Vgl. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 9), S. 9–24.
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Handschrift oder ›invisible hand‹ Im Interview beschreibt Florian Höllerer die Programmgestaltung als einen permanenten Balanceakt. Die prinzipielle Frage sei die, wem man dienen wolle – den Autoren oder dem breiten Publikum –, und eben diese Frage dürfe man niemals eindeutig beantworten wollen. Insofern sei die Programmierung immer von einer Doppelstrategie getragen und entsprechend schwer lasse sich der Erfolg eines Literaturhauses messen; die Zuschauerzahlen seien eben nur ein Kriterium von vielen. Entscheidend sei, so Höllerer weiter, gerade wenn man beides in Personalunion zu verantworten habe, prinzipiell zwischen Programmatik und Finanzierung zu trennen: Die Entscheidung, »was man macht, sollte erstmal unabhängig fallen von Möglichkeiten der Finanzierung bzw. auch vom Angebot«. Der Gebrauch des Konjunktivs scheint hier sprechend, ist doch die bewusste Prioritätensetzung, die Höllerer anführt, je nach finanzieller Lage nicht immer leicht aufrecht zu erhalten. Alle drei der Literaturhausleiter, die ich interviewt habe, reden ausführlich über die Bedeutung der eigenen »Handschrift« in der Programmgestaltung. Das individuelle Programm binde das Publikum längerfristig, das Vertrauen der potentiellen Gäste in eine Person, in deren unabhängig getroffene Auswahl, sei für das Funktionieren dieses Institutionstyps entscheidend, meint Höllerer. Rainer Moritz spricht von eigenen Werturteilen und Geschmacksvorlieben, die sich niederschlügen, und die Leiterin des Literaturhauses Zürich, Beatrice Stoll, betont, wie subjektiv die Auswahl zwangsläufig immer sei. Ganz anders aber als in einem Theater- oder Opernhaus ist die selbstgestellte Kernaufgabe eines Literaturhauses, wie erwähnt, die, dem Publikum Orientierung im Meer an Neuerscheinungen zu bieten. Gerade diese Funktion als Vorkoster bedingt, dass der Spielraum in der Profilgebung und Programmgestaltung doch geringer bemessen ist als in anderen Kulturinstitutionen. Denn anders als einem Theaterintendanten steht dem Literaturhausleiter ja nicht das gesamte Repertoire der Literaturgeschichte zur Verfügung, sondern – zumindest für das Kerngeschäft, d. h. die Planung von Autorenlesungen aus ihren neuen Büchern – schlicht das jeweilige Herbst- oder Frühjahrsprogramm der Verlage. Und während das, was Theater- und Opernintendanten ihrem Publikum anbieten, für sich allein steht, d. h. die Inszenierung selbst das zu verkaufende Produkt darstellt, verweist die Literaturveranstaltung ja immer auf ein anderes Produkt – das käuflich zu erwerbende Buch. Entsprechend eng ist das Zusammenspiel der Literaturveranstalter mit anderen Akteuren, zuallererst jenen, die diese Produkte erstellen – nach den Autoren also die Verlage –, aber auch anderen Vermittlungsinstanzen, vor allem der Literaturkritik und dem Literaturfördersystem. Blättert man durch die Programme verschiedener Literaturhäuser, ist der erste Eindruck ein anderer als der, den Rainer Moritz beschwört, wenn er von »klaffenden Unterschieden« zwischen den Häusern spricht. Oftmals scheinen sich die Programme doch deutlich zu ähneln. Und kennt man den Büroalltag eines Literaturhausbetriebs, verwundert das nicht unbedingt. Meine Interviewpartner verneinen zwar entschieden die Frage, ob sie in der Programmgestaltung von Verlagsseite unter Druck gesetzt würden; bei dem Verhältnis von Verlagen und Literaturhäusern handelt es sich mit Gewissheit nicht um
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eines der Machtausübung. Aber fraglos sind es die Verlage, die aus ihren eigenen Programmen die maßgebliche Vorauswahl treffen. Den Vorschauen, die die Verlagshäuser an die Literaturhäuser schicken, ist meistens ein Schreiben der für Lesereisen zuständigen Mitarbeiterin beigelegt, in dem gesondert auf diejenigen Autoren hingewiesen wird, die für Lesungen zur Verfügung stehen. Auch die Organisation der Lesung selbst wird oftmals in Arbeitsteilung zwischen Veranstalter und Verlag vorgenommen: Der Kontakt zum Autor läuft meistens über den Verlag, und gelegentlich werden auch die Kosten geteilt; der Veranstalter übernimmt immer das Honorar, bei Autoren auf größeren Lesereisen der Verlag manchmal die Reisekosten. Natürlich liegt die Entscheidung, wer nun tatsächlich eingeladen wird, letztlich beim Literaturhaus, aber da den Literaturhausmitarbeitern häufig gar nicht die Zeit zur Verfügung steht, mehr als ein paar ausgewählte Titel pro Verlag zu lesen, liegt es auf der Hand, dass man oft auf diejenigen Autoren, die die Verlage als ihre Zugpferde auserkoren haben, die von der Literaturkritik positiv besprochen und mit Preisen bedacht werden, zurückgreift. Demgemäß sagt Rainer Moritz, die »Marschroute«, der seine Programmgestaltung folge, sei es, widerspiegeln zu wollen, was sich im literarischen Gespräch abspiele; wenn er »das Gefühl habe, jemand, bestimmt den Diskurs der Gegenwartsliteratur mit«, dann wolle er den Leuten die Gelegenheit geben, diesen Autor kennenzulernen. Er möchte dem Publikum nicht seinen Geschmack aufzwängen, er sei da »nicht so der Oberlehrer«. Und ähnlich formuliert Beatrice Stoll, ihr Ziel sei es, ihrem Publikum die Bandbreite des belletristischen Schaffens zu zeigen. Dagegen ist selbstverständlich nichts einzuwenden, doch wird die Rede von der je eigenen Handschrift hierdurch doch deutlich relativiert.
Abspielstätten der Verlage? Sind die Literaturhäuser also kaum mehr als der verlängerte Arm der Marketingabteilungen der Verlage? Gegenwärtig ist dies die am meisten diskutierte Frage im Bezug auf die Literaturhäuser innerhalb des Literaturbetriebs. Das war zu Beginn anders: In den ersten Jahren des Institutionalisierungsprozesses galt als die vorrangige Sorge vielmehr die, der in der Sphäre der ›Hochkultur‹ generell hohen »Vergruftungsgefahr« zu erliegen.15 Sonja Vandenrath, die meines Wissens einzige Literaturwissenschaftlerin, die sich ausgiebig mit der Institution Literaturhaus beschäftigt und entsprechend publiziert hat,16 schrieb entsprechend noch vor wenigen Jahren, die größte Gefahr, die den Literaturhäusern drohe, sei die, zu »Refugien innovationsresistenter Minderheitenprogramme
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Vgl. zum Begriff: G.R. Koch: Vergruftungsgefahr. Im etablierten Kulturbetrieb dominieren immer mehr die Alten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 10. 2002. Zitiert nach: Armin Klein: Der exzellente Kulturbetrieb [2007]. 2. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 21. Sonja Vandenrath, Zwischen LitClubbing und Roundtable. Strategien von Literaturhäusern. In: Erhard Schütz / Thomas Wegmann (Hrsg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 172–188; Sonja Vandenrath: Die bundesdeutschen Literaturhäuser. In: S.V., Private Förderung zeitgenössischer Literatur. Eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2006, S. 169–200.
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zu werden: Orte der guten alten Autorenlesung für das lokale Bildungsbürgertum«.17 Mittlerweile ist das lokale, oftmals verrentete Bildungsbürgertum zwar nicht aus den Literaturhaussälen gewichen, aber die Tendenz, diese Klientel mit einem eher elitären Programm bedienen zu wollen, ist gegenwärtig nicht mehr stark. Vielmehr gilt heute, so Rainer Moritz im Gespräch, die »zunehmende Popularität« der Häuser und das damit abnehmende eigene intellektuelle Profil der Einrichtungen als das neue Problem. Die »Kassandra der Kulturindustrie«18 Sigrid Löffler warnt entsprechend, Institutionen dieser Art müssten aufpassen, nicht bloß Abspielstätten der Verlage zu sein. Wären sie allein dies, könnte von einer Teilnahme an gesteuerten Kanonisierungsprozessen durch diese Institutionen nicht die Rede sein; als ein paar ›invisible hands‹ unter vielen anderen würden sie zwar teilhaben an der Arbeit am Kanon – wie gesagt, ist der Kanon, von dem hier die Rede ist, immer der Gruppenkanon des deutschsprachigen Literaturbetriebs der Gegenwart –, nicht aber eigene Impulse setzen. Sie würden einzig als eine Art Katalysator dasjenige noch befördern, das ohnehin, von anderen unsichtbaren Händen angeschoben, auf dem Weg nach oben ist. Aber es gibt zahlreiche Gegenbeispiele – Beispiele für sehr gezielte Handlungen von Literaturhausleitern, die durchaus von einem Steuerungswillen zeugen. Dieser Wille manifestiert sich grundsätzlich überall dort, wo die Entscheidung, »was man macht«, wie Höllerer formuliert hatte, tatsächlich »erstmal unabhängig [...] von Möglichkeiten der Finanzierung bzw. auch vom Angebot« fällt. Kurt Wolff unterschied bekanntlich zwei Arten von Verlegern: diejenigen, die das machen, wovon Sie meinen, dass die Leute es lesen wollen, und jene, die Bücher machen, von denen sie meinen, dass die Leser sie lesen sollen. Das lässt sich durchaus auf Literaturhausleiter übertragen, wenngleich auch hier die strenge Zweiteilung natürlich nicht funktioniert, sondern die beiden Typen vielmehr die Extreme definieren, zwischen denen sich alle bewegen. Beatrice Stoll vom Literaturhaus Zürich nennt als Beispiel für einen Autor, von dem sie meint, die Leser sollen ihn lesen, Dieter Zwicky, ein Schweizer Postangestellter, dessen experimentelle Prosa meistens eigensinnig, schräg und verspielt genannt wird. Ende 2006 hatte Stoll Zwicky, zusammen mit zwei anderen Autoren aus seinem Zürcher Nischenverlag, zu einer Veranstaltung im darauffolgenden Januar ins Literaturhaus eingeladen, bei der Zwicky auch unter den überraschten, nicht sehr zahlreichen Gästen als das Highlight des Abends galt. Kurz darauf schlug der Schweizer Klagenfurt-Juror André Heiz Zwicky für die Bachmanntage vor. 2008 lud Stoll Zwicky wiederum ins Literaturhaus ein, diesmal alleine, zur Vernissage des neuen Buches, aus dem er in Klagenfurt bereits gelesen hatte. Solche Beispiele gezielter Förderung nahezu unbekannter Autoren gibt es vielfach und diese Fälle sind es, in denen Profil und Handschrift zu erkennen sind. Aber auch der Entschluss, Daniel Kehlmann oder Jonathan Franzen einzuladen auf die eigene Literaturhausbühne, muss keineswegs zwingend von ökonomischen Interessen
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Ebd., S. 173. Bernd Blaschke: Die Kunst der Kritik. Bericht von einer Diskussionsveranstaltung im Literarischen Colloquium Berlin. In: Norbert Miller / Dieter Stolz (Hrsg.): Positionen der Literaturkritik. Sonderheft Sprache im technischen Zeitalter 40. Köln 2002, S. 204–206, hier S. 205.
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allein getragen sein. Auch viel verkaufte Titel können ja durchaus zu denen gehören, an deren weiterer Verbreitung ein Literaturhausleiter aus Überzeugung beteiligt sein will. Hier zeigt sich deutlich, wie selten man auf gesteuerte bzw. ungesteuerte Kanonisierungsprozesse in Reinform treffen wird. Es zeigt sich aber auch – und das führt zurück zu Gehlens Thesen –, inwiefern die Handlungen, die von einer Institution dieses Typs ausgehen, nicht nur auf die primäre Zielsetzung, der Vermittlung guter Literatur an ein kulturinteressiertes Publikum, sondern eben auch auf die sekundäre Zielsetzung, der Aufrechterhaltung und Stabilisierung der eigenen Institution, zurückzuführen sind. Ein Literaturhausleiter, der selbstredend immer am Erhalt der Reputation und an der Steigerung des Bekanntheitsgrades seiner Einrichtung interessiert ist, wird sich kaum die Chance, bietet sie sich denn, entgehen lassen, dem Publikum Kehlmann oder Franzen zu präsentieren. Der ökonomische und der Popularitätsgewinn durch einen solchen Abend eröffnet wiederum die Möglichkeit, an anderen Abenden Dieter Zwicky & Consorten vor zwanzig Gästen lesen zu lassen.
Mischkalkulierte Spielräume In welchem Verhältnis nun primäre und sekundäre Zielsetzung im Arbeitsalltag der Literaturhäuser stehen, ob tatsächlich die sekundäre mit zunehmender Institutionalisierung und Stabilisierung die primäre übersteigt, wie Gehlen annimmt, scheint mir nun nicht pauschal zu beantworten sein. In den Gesprächen mit meinen Interviewpartnern spielten beide Aspekte eine zentrale Rolle; auffällig ist allerdings, wie schon erwähnt, welche Vorrangstellung bei allen dreien in der Beschreibung des eigenen Tuns die Spezifik ihrer Häuser einnimmt, d. h. welch hoher Stellenwert der konzeptionellen Arbeit, dem Setzen eigener Impulse zukommt. Auch in der Selbstwahrnehmung der Institutionen besetzt die sekundäre Zielsetzung offensichtlich den weitaus unpopuläreren Part. Entscheidend bei der Beobachtung der Entwicklung der Literaturhäuser scheinen mir nun die Bedingungen zu sein, unter denen diese tatsächlich in der Lage sind und bleiben, eigene Impulse zu setzen – und demgemäß steuernd in Kanonisierungsprozesse einzugreifen. Wie groß ist also der Spielraum für konzeptionelle Arbeit, wie bemisst er sich? Welche Faktoren sind hier bestimmend? Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Vandenraths Darstellung der Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Modellen der Mischfinanzierung und der jeweiligen Programmierung der Literaturhäuser. Mischkalkulationen gehören, bestätigt Höllerer, zu den Grundprinzipien des Literaturhauskonzepts, aber das Verhältnis, in dem sich der Gesamtetat aus öffentlichen und privaten Mitteln zusammensetzt, variiert gewaltig. Die Häuser sind meistens als Verein, seltener als Stiftungen aufgestellt; in fast allen Fällen wurde die Gründung durch die Bereitstellung der Immobilie von der öffentlichen Hand unterstützt, wenngleich die Initiative mehrheitlich im privaten Bereich, bei Verlegern, Mäzenen und Medienunternehmen lag. In den meisten Häusern gibt es einen gastronomischen Betrieb und eine Buchhandlung, die Einnahmen aus der Verpachtung des Restaurants und des Buchladens fließen jeweils direkt ins Hausbudget. Außerdem werden oftmals auch die Veranstaltungsräume selbst an externe Veranstalter
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vermietet. In vielen Fällen bilden somit die Pacht- und Mieteinnahmen die wichtigste Säule der Finanzierung, die anderen Säulen sind – in je unterschiedlicher Reihenfolge – einmal Stiftungszuschüsse, Spenden und Sponsoring, dann die Jahresbeiträge der Mitglieder, außerdem natürlich die Eintrittsgelder und, nicht zu unterschätzen, die öffentlichen Quellen, d. h. vor allem der feste städtische Jahreszuschuss. Die beiden äußeren Pole des Spektrums an unterschiedlichen Mischkalkulationsmodellen bilden das Charlottenburger Literaturhaus auf der einen und das in München auf der anderen Seite: Das Haus in Berlin, dessen Gründung auch vom Berliner Senat initiiert worden ist, wird mit 80% durch öffentliche Gelder finanziert und ist bekannt für sein eher weniger breitenwirksames, von manchen für zu elitär befundenes Programm, wobei das mit dem Leitungswechsel dort im Jahr 2003 auch nachgelassen hat. Der städtische Zuschuss zum Budget des Literaturhauses München dagegen macht nur etwa ein Viertel des Gesamtbudgets aus. D.h. in München ist man in sehr hohem Maße auf Publikumswirksamkeit angewiesen. Entsprechend gilt der Münchner Kollege Wittmann unter den Literaturhausleitern als derjenige mit dem breitesten Programm, was aber vermutlich weniger eine Frage der Handschrift als der ökonomischen Struktur des Hauses ist. Originelle Handschriften lassen sich meines Erachtens vor allem dort ausmachen, wo der finanzielle Spielraum dafür ausreicht, auch weniger Marktgängiges anzubieten. Entsprechend sagt Beatrice Stoll, deren Zürcher Haus zu mehr als 50% städtisch fi nanziert ist und – wie in der Schweiz üblich – als starken Sponsor eine Bank im Rücken hat, gerade als Empfängerin öffentlicher Subventionen halte sie es für ihre privilegierte Aufgabe, dem Publikum auch dasjenige zu zeigen, was nicht ohnehin schon gelesen wird. Seit einem Jahrzehnt geht der Trend nun aber zumindest in der deutschen Kulturpolitik dahin, die Grundfinanzierung von Kultureinrichtungen zurückzufahren zugunsten von Projektfinanzierungen. Der Vorteil dessen, schreibt Florian Höllerer in einem für das Institut für Auslandsbeziehungen verfassten Text, seien »mehr Flexibilität, mehr Handlungsspielräume. Gewohnheitsrechte werden aufgebrochen, durch Dauerförderungen blockierte Haushalte dynamisiert.«19 Das würde Armin Klein, der Verfasser des Buchs Der exzellente Kulturbetrieb, der den Bürokratismus deutscher Kulturinstitutionen als deren größten Feind beschreibt, ohne Einschränkung bestätigen.20 Die Nachteile dieser Entwicklung seien, so Höllerer weiter, die Gefährdung der Nachhaltigkeit und der Kontinuität der Arbeit. Dabei sei es gerade im Bereich der Literatur so entscheidend, »Neues nicht nur an[zu]stoßen, sondern auch fort[zu]entwickeln, Themen und Debatten über längere Zeit aus wechselnden Blickwinkeln [zu] betrachten, mit Autoren im Gespräch [zu] bleiben und ihre Entwicklung über Jahre [zu] verfolgen«,21 kurz: eigene nachhaltig wirksame Impulse zu setzen.
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Florian Höllerer (Anm. 7). Armin Klein (Anm. 15), v. a. S. 31ff. Florian Höllerer (Anm. 7).
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Exkurs: Das »Netzwerk der Literaturhäuser« Wo die Kürzungen der öffentlichen Kulturförderung diese Kontinuitäten gefährden, gilt es, neue Möglichkeiten auch der finanziellen Absicherung zu schaffen, um weiterhin nachhaltig arbeiten zu können. Die Gründung des »Netzwerks der Literaturhäuser« ist eine solche Maßnahme. Das Netzwerk hat sich entwickelt aus einem anfangs losen Zusammenschluss von befreundeten Literaturhausleitern, die in den Neunzigern eine GbR gründeten, um gemeinsam Projektgelder beantragen zu können. Diese GbR wurde 2008, als die Häuser Graz, Rostock und Zürich hinzukamen und der Kreis somit elf Häuser einschloss, in einen eingetragenen Verein umgewandelt. Dem Verein steht ein dreiköpfiger Vorstand vor: Rainer Moritz hat den Vorsitz inne, Birgit Peter aus Leipzig ist seine Stellvertreterin, Beatrice Stoll die Schatzmeisterin. Das Netzwerk unterhält eine Geschäftstelle mit Sitz in Hamburg, die über die jährlichen Mitgliedsbeiträge der Häuser von je 5400 Euro finanziert wird und für die Akquirierung von Projektgeldern zuständig ist. Auf meine Frage an die interviewten Leiter nach den Vorteilen der Mitgliedschaft im Netzwerk für ihre Häuser nennen alle drei neben den Synergieeffekten die »plumpen finanziellen Vorteile«, wie Moritz formuliert, im Besonderen durch die Medienpartnerschaft mit arte. Die – rein strategische – Zusammenarbeit mit einem Medienpartner in dieser Größenordnung wäre für ein einzelnes Literaturhaus niemals denkbar gewesen. Ähnliches trifft auf den wichtigsten Förderer von Netzwerk-Projekten, die RobertBosch-Stiftung, zu, die die Plakataktion »Poesie in die Stadt!« mit jährlich 150.000 Euro unterstützt, und das gilt ebenso für die Goethe-Institute als Kooperationspartner für das ebenfalls jährliche Stadtschreiber-Projekt, einem Schriftstelleraustausch mit dem jeweiligen Gastland der Frankfurter Buchmesse. Weil das Netzwerk einen Ansprechpartner für Stiftungen und öffentliche Geldgeber, auch auf europäischer Ebene, bietet, erleichtert es den Geldfluss an die Literaturhäuser beachtlich. Höllerer betont, das Großartige am Netzwerk sei, dass es die Möglichkeit eröffne, mit überregionalen Geldern lokal zu wirken. Auf welche Weise gewirkt wird, ist nicht immer zentral gesteuert: Im Rahmen des Projekts transnationale beispielsweise, das Literaturen, die Sprachgrenzen überschreiten, förderte, nutzte jedes beteiligte Haus die eingeworbenen Bundesgelder für andere Formate; allein die inhaltliche Klammer hielt die Einzelprojekte zusammen. Auf internationaler Ebene hat sich das Netzwerk als Geburtshelfer literarischer Übersetzungen aus dem Finnischen betätigt. Finnland hatte – mancher wird sich erinnern – ursprünglich 2010 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein sollen, war aber nach der Massenentlassung im Bochumer Nokia-Werk wieder ausgeladen worden. Aus Protest gegen die von der Bundesregierung forcierte Entscheidung knüpfte das Netzwerk daraufhin Kontakt zu FiLi (Finnish Literature Exchange), arrangierte ein Treffen zwischen deutschen Verlegern und finnischen Autoren, aus dem besagte Übersetzungsprojekte hervorgingen, und organisierte für das Jahr 2010 Lesereisen der neu übersetzten Autoren in den deutschsprachigen Ländern. Außerdem hat das Netzwerk entscheidend daran mitgewirkt, dass Finnland nun 2014 doch noch Gastland der Buchmesse sein wird. Die bislang sichtbarste, deutlich gesteuerte Kanonisierungshandlung des Netzwerks war die Einführung des Preises der Literaturhäuser im Jahr 2002. Anfangs noch weni-
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ger beachtet, hat dieser Preis mittlerweile deutlich an Bedeutung gewonnen, wird von den Verlagen wahrgenommen und als Vermarktungsinstrument genutzt, was sich z. B. an den entsprechenden Banderolen um die Bücher der ausgezeichneten Autoren zeigt. Die Idee hinter diesem Preis war die, nicht einfach einen weiteren Literaturpreis zu stiften, sondern etwas auszuzeichnen, was, wie Höllerer sagt, »wir tatsächlich beurteilen können, nämlich die Qualität von Literaturveranstaltungen«. Und zum Gelingen von Literaturveranstaltungen gehörten, so Höllerer weiter, neben der Qualität des Textes die Art des Vortrags und die Weise, über eigene Texte zu reden. Explizit will der Preis aber nicht als Performance-Preis verstanden wissen, was beispielsweise die Prämierung von Ulrike Draesner 2002 oder Ilija Trojanow im Jahr 2009 beweist, denn beide sind keine auffälligen Performer, dafür ausnehmend engagiert im Gespräch mit dem Publikum.
Profil und Kanonrelevanz Die Vernetzung der Literaturhäuser untereinander ist sicherlich eine taugliche Maßnahme, um die Relevanz dieser Institutionen vor allem auch in ökonomisch brisanter werdenden Zeiten zu stärken. Projekte wie die Zusammenarbeit mit FiLi zeigen, inwiefern der Zusammenschluss der Häuser und deren finanzielle Stärkung dadurch Projekte ermöglichen, hinter denen ein tragender kulturpolitischer Gedanke steht und die von langer Hand geplant und mit der entsprechenden Konsequenz durchgeführt werden müssen. Aber nicht allein die Vernetzung untereinander ist ein probates Mittel zur Ausweitung der konzeptionellen Spielräume; auch die verstärkte Kooperation mit anderen, gerade auch akademischen Institutionen scheint mir wichtig. Denn die Auswahl der richtigen Kooperationspartner, die Zusammenführung nicht nur finanzieller, sondern eben auch intellektueller Ressourcen, eröffnet Spielräume, die einem Literaturhaus nicht ohnehin zur Verfügung stehen – die Personaldecke ist schließlich stets dünn und die finanziellen Möglichkeiten sind begrenzt. Gerade wenn die – vielleicht ohnehin etwas irreleitende – Rede von der »Handschrift« mehr benennen soll als den Einfluss privater Vorlieben auf ein Veranstaltungsprogramm, wo also konzeptionell gearbeitet, Veranstaltungsreihen oder Workshops entwickelt und ein eigenes Profil ausgebildet und gepflegt werden sollen, müssen sich die Literaturhäuser Handlungsräume schaffen, die über die gewohnte Zusammenarbeit mit den Verlagen hinausgehen. Denn bei einem Institutionstyp wie diesem, der, wie dargelegt, so eng verflochten ist mit anderen Akteuren, die ihre eigenen, vor allem ökonomischen Interessen verfolgen, entsteht der Konformitätsdruck, von dem Gehlen spricht, weniger von innen als von außen. Um ihm standzuhalten, um nicht allein ein kleines Rädchen im Getriebe des Literaturbetriebs zu sein, sondern um selbst steuernd in dieses Getriebe eingreifen zu können, bedarf es der konzentrierten Bündelung von Kräften, die nicht allein innerhalb der Mauern der Literaturhäuser zu finden sind.
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Der literarische Kanon in journalistischen Texten
Im Rahmen von Kanondebatten, die in Wissenschaft und Feuilleton geführt werden, wird immer wieder konstatiert, dass der literarische Kanon im öffentlichen Leben keinen Stellenwert mehr habe, sondern nur noch in »obskuren Pflegeinstitutionen«1 seinen Platz finde. Dem alten Kanon am nächsten scheinen noch einige sogenannte geisteswissenschaftliche Hochschulzirkel zu stehen, die, zusammen mit einigen Feuilletons, das Erbe des Bildungsbürgertums angetreten haben oder Bildungsbürgertum simulieren. […] [E]s wird wieder ausgelegt wie zu Diltheys Zeiten, wenn auch mit anderen Prämissen, obwohl ›draußen‹ niemand mehr zuhört. […] Außerhalb dieses seltsamen Berufsmilieus aber hat der literarische Kanon ausgespielt.2
Der wohl häufigste Vorwurf wider den Kanon lautet, dass dieser nicht mehr zeitgemäß sei, denn »die Statik eines Kanons und die Dynamik der fortschreitenden funktionalen Differenzierung (die Allgemeinverbindlichkeit eines Kanons und die fortschreitende Individualisierung der Lebensentwürfe) – das kann ja eigentlich nicht zusammengehen.«3 Die Zeitungslektüre widerspricht den vorangegangenen Aussagen insofern, als gerade jenseits des Feuilletons, nämlich im aktuellen Diskurs über gesellschaftspolitische Zusammenhänge der literarische Kanon eine unerwartete Rolle spielt: Vorrangig in journalistischen Meinungstexten innerhalb der Ressorts Politik, Wirtschaft und aktuelles Tagesgeschehen trifft man auf zahlreiche Beispiele von Anspielungen auf literarische Texte und Figuren. Geht man davon aus, dass es sich bei diesen Anspielungen nicht um reine Stilfiguren journalistischen Schreibens handelt, so wird folgende Ambivalenz deutlich: Neben dem oft im gleichen Medium totgesagten Kanon existiert gleichzeitig der Anspruch der Autoren, dass eingeflochtene literarische Anspielungen von der Leserschaft erkannt werden. Der literarische Kanon wird dann Bestandteil eines (vorausgesetzten) Bildungskanons. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Literatur in journalistischen Texten.
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Hans Dieter Erlinger: Kanonfragen für die Medienerziehung im Deutschunterricht. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 298. Karl Eibl: Textkörper und Textbedeutung. Über die Aggregatszustände von Literatur, mit einigen Beispielen aus der Geschichte des Faust-Stoffes. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart, Weimar 1998, S. 76. Ebd., S. 61.
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Wie und mit welchen Mitteln gebrauchen Journalisten den literarischen Kanon? Mit welcher Intention und mit welcher Wirkung? Jeder Kanon ist das Ergebnis von Selektionsentscheidungen und damit verbundenen Wertungsakten. Die Kanonisierung von Texten ist damit zum einen abhängig von bestimmten Wertmaßstäben, zum anderen fungieren bereits kanonisierte Texte in wertenden Argumentationszusammenhängen, was auch journalistische Meinungstexte mit einschließt, selbst als Vergleichsmaßstäbe, mit welchen die Wertigkeit anderer Texte veranschaulicht wird.4 Welche Deutungs- bzw. Umdeutungs- und Wertungszusammenhänge von Literatur werden daher in diesem Kontext deutlich? Was sagen solche Kanon-Anspielungen über angenommene Leserkreise aus?
1. Zielsetzung und Vorgehensweise Der folgende Beitrag beleuchtet bisherige Ergebnisse meines Dissertationsprojektes »Spiel und Anspielung. Der literarische Kanon in journalistischen Texten«. Am Beispiel journalistischer Meinungstexte soll gezeigt werden, dass der literarische Kanon in der breiten Öffentlichkeit durchaus eine Rolle spielt, dass die Existenz dieses Kanons jedoch wenig bewusst ist, obwohl regelmäßig auf ihn zurückgegriffen wird. Solche Rückgriffe und Anspielungen als »Aktivierung gemeinsamen Hintergrundwissens«5 können die Existenz eines Kanons belegen. Insbesondere dort, wo ein Sender »ein disperses Publikum erreichen möchte mit seiner Anspielung auf Literatur und Literaten«6 wird auf solche Texte angespielt, deren verbreitete Kenntnis und möglicherweise auch Wertschätzung unterstellt wird. Ziel meiner Arbeit ist es daher, den Umgang mit Literatur und dem literarischen Kanon außerhalb eines intendiert literaturvermittelnden Umfeldes wie der journalistischen Meinungsdarstellung aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu bearbeiten. Der Begriff ›literarischer Kanon‹ wird hierbei verstanden als »Summe literarischer Texte (und zugehöriger Autorennamen)«,7 an deren »Überlieferung eine Gesellschaft oder Kultur interessiert ist«8 und um deren Tradierung sie sich in Form unterschiedlicher (Wertungs-)Handlungen bemüht.9 Mein Beitrag zeigt anhand ausgewählter Beispiele aus drei Medien – der Süddeutschen Zeitung, dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel und der Wochenzeitung Die Zeit – wie Anspielungen erfolgen und welche Formen existieren und arbeitet auf dieser Basis heraus, welche Funktionen sie erfüllen und mit welcher intendierten Wirkung sie ein-
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Vgl. Thomas Anz: Einführung. In: Renate von Heydebrand (Anm. 2), S. 5. Rüdiger Zymner: Anspielung und Kanon. In: Renate von Heydebrand (Anm. 2), S. 30. Ebd., S. 38. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn 1996, S. 222. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 1), S. 9. Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 7), S. 222.
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gesetzt werden. Damit soll in den Blick genommen werden, welcher Stellenwert dem literarischen Kanon in diesen Medien zukommt und welche Wertungsakte in diesem Zusammenhang zugrunde liegen. Der Begriff Wertung wird entsprechend der Definition von Simone Winko verstanden als Handlung, mit der ein Subjekt einem Objekt die Eigenschaft zuordnet, in Bezug auf einen Wertmaßstab positiv oder negativ zu sein. Ein Objekt ist demnach niemals als solches wertvoll oder wertlos, sondern erhält diese Qualität erst, wenn man es auf einen Wertmaßstab bezieht und fragt, ob und wie stark es diesem Maßstab entspricht.10
Dabei können Wertungen in sprachlicher Form oder als »nicht-sprachliche Wahlhandlungen«11 auftreten, wonach jede Auswahl bereits eine Wertung beinhaltet, was auch auf Kanon-Erwähnungen und -Anspielungen zutrifft. Dieser Zusammenhang wird später näher auszuführen sein, wenn es um die Frage geht, welche Kanones sich in den untersuchten Medien abzeichnen. Im Folgenden wird zunächst die Vorgehensweise im Rahmen der Dissertation erläutert, worauf eine ausführliche Darstellung eines Beispiels für Anspielungen auf den literarischen Kanon folgt, um zu zeigen, welche Formen der Bezugnahme auf den Kanon existieren. Hieraus kann abgeleitet werden, welche Autoren und Texte für bestimmte Wertmaßstäbe stehen, und innerhalb welcher Themen bevorzugt auf kanonische Texte und Autoren zurückgegriffen wird. Schließlich kann auf Basis der bisherigen Ergebnisse auch gezeigt werden, welche Anspruchshaltungen an bestimmte Werte entsprechend der untersuchten Medien existieren und welche Aussagen über angenommene Leserkreise getroffen werden können. Im Rahmen der Kanonforschung wurde bereits vielfältig über Fragen der Berechtigung des Kanons12 und über Kanonreformen13 diskutiert. Untersuchungen zu Prozessen der Kanonbildung, wie der von Heinz Ludwig Arnold herausgegebene Band Literarische Kanonbildung14 oder Renate von Heydebrands Dokumentation des Symposions Kanon – Macht – Kultur: theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung,15 sind Beispiele der umfassenden Beschäftigung mit der Thematik. Auch didaktische Fragen wurden vielfältig bearbeitet und diskutiert. Kanon-Wertungs-Relationen wurden in der Hinsicht differenziert, dass Kanones als Resultate, Ziele und Mittel von Wertungen untersucht wurden.16 Kaum beachtet wurde allerdings die Frage nach Kanones als Bedingungen für Wertungen, für die mit dem Wahrnehmen, Verstehen und
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Simone Winko (Anm. 8), S. 13f. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 7), S. 36. Aleida Assmann / Jan Assmann (Hrsg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II. München 1987. Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002. Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 1). Renate von Heydebrand (Anm. 2). Vgl. Friederike Worthmann: Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(isierung) und Wert(ung). In: Renate von Heydebrand (Anm. 2), S. 10.
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Erleben von Texten verbundenen Wertungen.17 Insbesondere die Relation Kanon – Wertung vor dem Hintergrund der Kanon-Rezeption in einem nicht-literaturvermittelnden Umfeld wie der journalistischen Berichterstattung war bislang nicht Gegenstand der Forschung. Für die Auswahl von zu untersuchenden Printmedien sollte sich ein relativ homogener Querschnitt an Zeitungstypen ergeben, daher wurden solche Zeitungen ausgewählt, die sich an ähnliche Zielgruppen richten, da es nicht das Ziel ist, zu zeigen, dass Zeitungen mit unterschiedlichen Zielgruppen unterschiedliche Textkenntnisse voraussetzen und sich damit die Auswahl literarischer Texte unterscheidet. Das Untersuchungsinteresse besteht vielmehr darin zu prüfen, in welchem Umfang Zeitungen, die sich an ähnliche Zielgruppen richten, überhaupt auf den literarischen Kanon zurückgreifen und auf welche Art und Weise mit diesen literarischen Anspielungen und Erwähnungen umgegangen wird. Untersucht wird auch, welcher Kanon sich aufgrund des über solche Bezüge aufgerufenen Hintergrundwissens abzeichnet und welche Aussagen aufgrund dessen über Leserkreise und Anspruchshaltungen der Medien getroffen werden können. Ausgewählt wurden daher die Wochenzeitung Die Zeit, das wöchentlich erscheinende Nachrichtenmagazin Der Spiegel sowie die weltanschaulich unterschiedlich akzentuierten Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung und Süddeutsche Zeitung. Diese Medien wurden aufgrund ihrer jeweils deutlich belegbaren Auseinandersetzung mit dem literarischen Kanon und der Kanondiskussion sowie aufgrund der guten Zugangsmöglichkeiten zu den Archiven ausgewählt. Auf eine Ausweitung auf weitere geeignete Medien wurde im Hinblick auf die Umsetzbarkeit der detaillierten Recherche verzichtet. In die Untersuchungen einbezogen wurden dabei ausschließlich Texte außerhalb des Feuilletons. Als Recherchebasis dienten die Ressorts Politik, Wirtschaft und aktuelles Tagesgeschehen, wobei insbesondere regelmäßig erscheinende Leitartikel, Kommentare und Glossen der jeweiligen Medien ausgewertet wurden, um eine systematische Recherche zu gewährleisten. Der gewählte Zeitrahmen orientiert sich an praktischen Gesichtspunkten und richtet sich daher nach den gegebenen Recherchemöglichkeiten innerhalb elektronischer Volltexte. Für die Recherche zur Verfügung stehen bei allen Medien die Ausgaben ab dem Jahr 1994. Daher wurde die Zeitspanne von 1994 bis 2008 als Grundlage gewählt, wobei bisher die Jahrgänge der 1990er Jahre ausgewertet wurden. Der genannte Zeitraum beinhaltet sowohl die Höhepunkte der Kanondebatten in den Jahren 1996 / 1997 und 2000 / 2001 als auch einzelne Jubiläumsjahre kanonischer Autoren, so dass anhand dieser Daten auch näher auf Fragen eingegangen werden kann, ob es bestimmte HochZeiten für den Rückgriff auf den literarischen Kanon geben könnte. An Autoren werden im Kanon etablierte, deutschsprachige Autoren ebenso wie nicht-deutschsprachige Autoren, die literaturgeschichtlich eine zentrale Rolle spielen, wie z. B. William Shakespeare oder Victor Hugo betrachtet. Dabei legt die Arbeit keinen festgelegten Kanon zugrunde, der Autoren namentlich ein- oder ausschließt und an wel-
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chem sich die Recherche orientiert, sondern gerade die Offenheit, Prozesshaftigkeit und Dynamik des Konstrukts ›Kanon‹, des Systems »sich gegenseitig stabilisierender, teils auch miteinander konkurrierender Selektionslisten«18 soll herausgearbeitet werden. Aus diesem Grund werden auch neuere, im Kanon noch nicht derart fest verankerte Autoren einbezogen, wie z. B. Marcel Proust oder Thomas Bernhard. Diese Vorgehensweise soll es ermöglichen, im Rahmen von Gegenüberstellungen auf unterschiedlich motivierte Rückgriffe auf literarische Texte und Figuren schließen zu können. Die methodische Vorgehensweise besteht in einer empirisch-systematischen, nichtautomatisierten Recherche in Online-Archiven und Datenbanken, wobei jeweils die gleiche Textart (Leitartikel, Glossen, Kommentare, Essays) am jeweils gleichen Erscheinungsort im Medium ausgewertet wird, um eine kontinuierliche Analyse der verwendeten Textbezüge und Autoren sowie der Form der Rückgriffe erstellen zu können.
2. Beispiel: Das Streiflicht zum Wahlkampf 1994 Mit dem folgenden Beispiel für Rückgriffe und Anspielungen auf den literarischen Kanon soll gezeigt werden, dass es nicht nur geflügelte Worte sind, mit welchen hier sprachlich gespielt wird, sondern dass im dargelegten Zusammenhang ein Kanon die Grundlage bildet, damit Darstellungen und (Be-)Wertungen innerhalb journalistischer Meinungstexte verstanden werden. Das Streiflicht aus der Süddeutschen Zeitung vom 7. März 1994 nimmt für das eigentliche Thema Wahlkampf das romantische Frühlingsthema als ›Aufhänger‹. Das Frühlingsmotiv wird über zahlreiche Anspielungen auf mehrere romantische Frühlingsgedichte ausgestaltet und dient der satirischen Bewertung des damaligen Wahlkampfes: Das Streiflicht Frühling läßt sein blaues Band / wieder flattern… Oder sein laues Band? Äh, egal, was flattert denn da übrigens? Es ists. Ein Stück Wahlplakat ist es, darauf steht, daß man in München die Junge Liste wählen muß, weil sie viel kreativer und beweglicher ist als alle alten Listen zusammen. Ui toll, da sind sie also doch, die ersten Vorboten des Lenzes, sprießen aus den Bürgersteigen, knospen aus den Litfaßsäulen, machen, daß uns so seltsam leicht ums arme Herze wird, nach einem langen Winter der Verdrossenheit. Grünt da nicht sogar ein Plakat von C. Ude, damit München in guten Händen bleibt? Nein, kein Zweifel ist erlaubt, der Wahlkampf hebt wieder an, nun muß sich alles, alles wenden. Wenden? Wenden. Ja, das ist es. Eine Ahnung zieht durchs Land, süß und wohlbekannt. Waren nicht Wahlen immer auch dazu gedacht, den frischen jungen Kräften zum Sieg zu verhelfen? Jetzt könnte es so weit sein, endlich. Mit Händen kann man greifen, daß da etwas Neues, Unverbrauchtes ans Licht will. Wer Augen hat, zu sehen, der kann sogar schon ein paar wunderhübsche Poster durchs Dickicht der Städte lugen sehen. Ein strahlendes Männergesicht ist darauf, lachende, brillenlose Augen, die Haare sympathisch verstrubbelt: Politik ohne Bart steht in großen weißen Buchstaben auf schwarzem Grund – und wir wissen, was eigentlich gemeint ist: Ein Neuer, Unverbrauchter wird kommen zu uns, wird die alten Zöpfe abschneiden und die alten
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Hermann Korte: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 1), S. 28.
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Bärte abrasieren und uns sicher in die Zukunft führen mit der unverbrauchten jungen CDU. Nun sei gegrüßt, viel tausendmal, holder, holder Frühling. Politik ohne Bart also, das ist sehr neu formuliert – und steht doch in einer Tradition. Noch von den zwanzig deutschen Kanzlern in Kaiserreich und Weimar trugen 19 einen Schnurrbart, drei zusätzlich einen am Kinn. So ganz anders hingegen gleich die ersten dynamischen jungen Staatsmänner unserer Bonner Republik, die Adenauer, Erhard, Kiesinger: Drüben im Osten der Spitzbart, von dem ja kaum ohne Grund verlangt wurde, er müsse weg; hier im freien Westen aber – kein einziger Bartträger: nicht bei den Kanzlern, nicht bei den Präsidenten. So groß war in dieser Frage der Konsens der Demokraten, daß niemand je auf die Idee gekommen wäre, eines Tages könne vielleicht doch einer mit Bart nach der Krone greifen. Und jetzt, wo das Undenkbare doch gedacht werden muß? Jetzt haben wir diese zündende Parole, hinter der sich das ganze Land versammeln kann. Und die herrlichen Porträtphotos des Photographen K. Müller haben wir. – Obwohl, der hat auch wunderhübsche Photos des Gegenkandidaten gemacht, Bilder, in denen der Mann so verträumt in der Wiese liegt, daß man ihm seinen Bart fast verzeihen könnte. Bald werden auch diese Bilder aus den Prospekten leuchten. Die Welt wird schöner mit jedem Tag, sagt Uhland, auch er ein begabter Werbetexter.19
Die Glosse ist durchzogen von zahlreichen Anspielungen, sie beginnt bereits mit der ersten Verszeile aus Eduard Mörikes Gedicht Frühling. Nach der Frage »Was flattert denn da übrigens?« folgt erneut eine Anspielung auf den eigentlichen Titel des Gedichts »Er ist’s« in Form einer Parodie »Es ist’s«, dann schließlich wird das eigentliche Thema, der Wahlkampf, eingeführt. Ein erstes Fazit der vorausgehenden Darstellung bildet die Anspielung auf Ludwig Uhlands Frühlingsglaube in Form des Zitats »nun muß sich alles, alles wenden«. Im Anschluss daran folgt erneut eine Anspielung auf Mörikes Frühlingsgedicht: »Eine Ahnung zieht durchs Land, süß und wohlbekannt«. Auf das zweite Fazit im Text, dass »ein Neuer« kommen wird, folgt in direktem Anschluss eine weitere Anspielung auf Hoffmann von Fallerslebens Frühlings Bewillkommnung: »Nun sei gegrüßt, viel tausendmal, holder, holder Frühling«. Schließlich wird erneut aus Uhlands Frühlingsglaube zitiert, und dieses Zitat wird erstmalig in diesem Text aufgelöst, indem der Autor in Form einer Wertung genannt wird: »sagt Uhland, auch er ein begabter Werbetexter«. Hier wird die Bedeutung des Erkennens solcher Anspielungen und Zitate sowie die vom Autor seinem Lesepublikum unterstellte Textkenntnis besonders deutlich, denn der Abschluss der Glosse entfaltet seine Schärfe erst, wenn Uhland dem Leser überhaupt als Autor bekannt ist, und weiterhin klar ist, dass es sich hier um einen romantischen Lyriker handelt. Durch die bloße Erwähnung Uhlands wird die vollständige Reichweite der Anspielungen nicht klar. Erst wenn die Anspielung gelingt, und ›entschlüsselt‹ wird, dass die zitierte Verszeile des romantischen Frühlingsgedichtes mit einem Werbetext parallelisiert wird, erfüllt die Anspielung ihre Funktion als satirisch-ironische Bewertung der aktuellen politischen Lage. Dieses Spiel mit dem Kanon setzt daher auf die Bekanntheit von Autoren und Texten und gelingt deshalb, weil Verfasser und Lesepublikum die damit verbundenen Wertprinzipien und Wertmaßstäbe weitgehend teilen. Anspielungen und Kanon-Erwähnungen würden in der genannten Form nicht gelingen, wenn Wissens- und Erfahrungshinter-
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Das Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 7. 3. 1994.
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grund beider Seiten nicht zum Großteil übereinstimmen würden. Daher zeichnen solche Bezüge zum einen ein Bild, wie Journalisten bzw. die Verantwortlichen des Mediums selbst, die eine spezifische Werthaltung ganz gezielt nach Außen vermitteln wollen, ihr Lesepublikum einschätzen, was Rückschlüsse auf angesprochene Leserkreise zulässt. Zum zweiten erlauben solche Anspielungen – bei einer entsprechenden Beispielfülle – Aussagen darüber, welche Autoren, welche literarischen Texte und Figuren im Rahmen der untersuchten Meinungstexte eine Rolle spielen, welche Formen verwendet werden und welche Funktionen sie erfüllen, und schließlich wie mit dem literarischen Kanon überhaupt umgegangen wird. Im Folgenden sollen daher die Formen der Bezugnahme auf den literarischen Kanon und ihre Funktionen ausführlicher dargestellt werden.
3. Formen der Bezugnahme auf den literarischen Kanon Jegliche Anspielung ist eine Form intertextueller Bezugnahme. Allerdings kann die Wirkungsintention sehr unterschiedlich sein, und auch die Wirkung auf den Rezipienten hängt vom Vermittlungsmedium ab. So besteht ein Unterschied darin, ob eine Anspielung in einem Zeitungsartikel oder in einem literarischen Werk auftaucht.20 Gegebenenfalls unterscheidet sich die Wirkung auch innerhalb der gleichen Zeitung, in beispielsweise unterschiedlichen Rubriken. Daher werden die Formen der Kanon-Bezüge im Folgenden unterschieden zwischen Anspielungen ohne Auflösung nach Werktitel und Autor, wörtlichen Zitaten mit Benennung von Autor oder Titel, Bezüge auf Autoren in außerliterarischen Kontexten und Anspielungen auf Titel literarischer Werke. Neben der Untersuchung der Kanon-Bezüge ist die Betrachtung der Funktion dieser Rückgriffe und ihrer intendierten Wirkung im eingesetzten Kontext von entscheidender Bedeutung. Denn mit der Frage, ob bzw. welche Kanones im Umfeld journalistischer Meinungstexte relevant sind, ist die Dimension der Wertung eng verbunden. In diesem Zusammenhang ist zwischen expliziter sprachlicher Wertung und impliziter Wertung, wie Wertung durch Ironie, Parallelisierung, Kontrast etc. zu unterscheiden.21 Solche Formen impliziter Wertung und ihre Funktionen werden im Folgenden anhand von Beispielen ausführlicher dargestellt. 3.1 Anspielung ohne Quellenangabe Bei Anspielungen ohne Angabe der Quelle und zum Teil auch ohne Angabe des Werktitels wird echte Textkenntnis beim Leser vorausgesetzt, d. h. als bekannt vorausgesetzte Inhalte werden zur Wiedererkennung in den Text integriert. Solch ein anspielendes Zitat erschwert jedoch die Identifikation und birgt die Gefahr, nicht zu gelingen.22 Doch diese Tatsache kann durchaus vom Verfasser beabsichtigt sein. In diesem Fall wird aus der
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Rüdiger Zymner (Anm. 5), S. 35f. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 7), S. 70ff. Rüdiger Zymner (Anm. 5), S. 32.
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Anspielung auf den Kanon ein Spiel mit dem Kanon, mit seiner Abgeschlossenheit und mit möglicherweise absichtlich nicht gelingenden Anspielungen. Da Anspielungen auf Bekanntheit setzen, finden sich in den untersuchten Texten überwiegend drei Formen: Angespielt wird auf literarische Figuren (z. B. Faust, Ibykus, König Lear), auf kanonische Werktitel (z. B. Homo Faber, Michael Kohlhaas, Draußen vor der Tür) und auf bekannte Textpassagen (z. B. »Bin weder Fräulein, weder schön«, »Mitternacht zog näher schon«), die zum Teil auch parodiert werden. Dabei sind die thematischen Bezüge sehr vielfältig, wie das folgende Beispiel zeigt. In einem Streiflicht zum Thema Digitalfotografie wird Schillers Ode An die Freude parodiert: [A]lle die kleinen und größeren Bild-Erzeugungscomputer sind, weil die Chipfabriken ihre Überproduktion irgendwie loswerden müssen, sternhagelvoll mit Programmen. Eins zum besseren Verwackeln, eins für die Nähe, je eins für die Mamma, die Silhouette, fürs Baby, den Hund, den Sonnenuntergang; denn der Mensch ist dumm. Und gut dumm zu halten. Nichts darf er alleine machen, entscheiden, einstellen… Seid entmündigt Millionen, solange noch die Batterie uns glüht.23
Im Rahmen der Untersuchungen zeigt sich, dass Schiller, insbesondere Schillers Balladen, überdurchschnittlich häufig verwendet und auch parodiert werden, was auch auf eine Wertung über die literarische Vorlage hinaus hindeutet: Auch durch Parodieren wird Negativkanonisierung betrieben. Doch wer den ›Tell‹, wer die ›Bürgschaft‹ parodierte, meinte ja nicht den Text, meinte nicht Schiller als ›Bedrohung‹, sondern den Deutungskanon und seine Träger. Gerade deshalb sind Travestien und Parodien ausgerechnet dieser Ikonen des deutschen ›Bildungskapitals‹ besonders häufig.24
Häufig wird auch auf Formeln angespielt, die über den literarischen Kontext hinaus, z. B. durch politische Bewegungen bekannt sind (»Der Schoß ist fruchtbar noch«, »Stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin«). Die Funktion dieser Anspielungen liegt meist darin, einen aktuellen Sachverhalt, der kritisch bzw. satirisch dargestellt wird, unterstützend zu bewerten. Die Anspielungen dienen dann als Hilfsmittel, um eine Schlussfolgerung zu ziehen und eine bestimmte Meinung zu verdeutlichen, teils moralisch wertend zu unterstreichen. Beispielsweise greift ein Kommentar in der Zeit zur Nachrüstung britischer Polizisten nach dem Tod eines ›Bobbys‹ Zuckmayers Hauptmann von Köpenick in der Schlussbewertung auf: »Eine ehrenwerte Tradition steht auf dem Spiel, gewiß. Aber was wiegt sie gegen das Leben eines Bobbys? Das Sprichwort sagt: Erst kommt der Mensch, dann die Menschenordnung.«25 Eine weitere Funktion liegt in der ironischen Bewertung eines Themas, die im folgenden Beispiel zum EU-Beitritt Österreichs über eine Parodie Goethes zum Ausdruck kommt: »Nach Brüssel drängt, an Brüssel hängt doch alles«.26 Heydebrand / Winko de-
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Das Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung, vom 23. 9. 1994. Miriam Springer: Kein Auge thränenleer. Schillers Bürgschaft und der Kanon. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 1), S. 120. Nachrüstung. In: Die Zeit vom 25. 2. 1994. Dieter Buhl: Die Chance nutzen. In: Die Zeit vom 17. 6. 1994.
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finieren die implizite Wertung durch Ironie als scheinbar positiven Wertausdruck, der durch einen bestimmten Kontext oder eine bestimmte Betonung das Gegenteil bedeuten kann.27 Im Zusammenhang mit der Darstellung historischer Ereignisse oder politischer Themen wird besonders häufig auf politische Literatur angespielt. So steht für politische Bewertungen regelmäßig Bertolt Brecht Pate, wie beispielsweise in einem Leitartikel in der Zeit zur Stagnation der politischen Situation im Jahr 1997: »Zwar könnte das Volk die Politiker austauschen, aber die Politiker können sich kein anderes Volk wählen.«28 Die Auswertung der bisherigen Ergebnisse zu Anspielungen innerhalb journalistischer Texte zeigt, dass bis auf wenige Ausnahmen auf als bekannt vorausgesetzte Texte und Figuren angespielt wird. Der Kreis der Autoren und Texte, auf die wiederholt angespielt wird, lässt sich eng fassen und kommt immer wieder auf Borchert, Brecht, Goethe, Heine und Schiller zurück. Mit der Form der Anspielung wird somit zwar ein Spiel mit dem Wissen über Literatur, Text und Kontext initiiert, das auf ein Gelingen angewiesen ist, dieser Bedingung trägt das Spiel aber durchaus Rechnung, was die engen Grenzen der Text- und Autorauswahl deutlich machen. 3.2 Wörtliches Zitat mit Quellenangabe Auch ein wörtliches Zitat kann die Funktion einer Anspielung haben, wenn es darum geht, es nach Herkunft und kommunikativer Aufgabe erst zu verstehen, was bei den untersuchten Beispielen zutrifft.29 Die Form des Zitats als Kanon-Erwähnung greift häufig auf Lyrik-Zitate als Einstieg oder Schlussgedanke eines Themas oder Textes zurück. Im Hinblick auf die Länge sind die Rückgriffe sehr unterschiedlich und reichen von sehr kurzen Abschnitten, die zum Teil nur zwei Wörter zitieren, bis zu mehreren Sätzen langen Textpassagen. Hierbei ist die Themenwahl sehr vielfältig und abhängig von der jeweiligen Rubrik. Das Streiflicht greift häufig ›Nischenthemen‹ auf, die entsprechend eines Stichwortes inhaltlich parallelisiert werden. Etwa wenn das Thema abgehandelt wird, ob sich Menschen den Mond zu Eigen machen können, endet die Glosse: »Menschen, Schwestern! Sofort aufhören! Sonst? Dichter Morgenstern nennt das Ende. Das Mondschaf liegt am Morgen tot. / Sein Leib ist weiß, die Sonn’ ist rot. Das Mondschaf.«30 Bei Spiegel und Zeit stehen die Rückgriffe eher im Zusammenhang mit politischen Themen. Die Form der Einbindung des Zitats liegt hierbei ebenfalls überwiegend in der Parallelisierung.31 Ein aktuelles Thema wird in diesem Fall mit einer literarischen Figur oder Geschichte zur Erläuterung eines Sachverhalts und letztlich auch zur (moralischen) Bewertung parallelisiert. Zum Teil erfolgt eine ausführliche inhaltliche Erläuterung des Textes, auf den Bezug genommen wird. Hierbei fällt auf, dass bei dieser Form der Bezugnahme tendenziell weniger Textwissen vorausgesetzt und er-
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Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 7), S. 70. Christoph Bertram: Die neue deutsche Lethargie. In: Die Zeit vom 8. 8. 1997. Vgl. Rüdiger Zymner (Anm. 5), S. 35f. Das Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. 1. 1997. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 7), S. 71.
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wartet wird, da die Zitate relativ ausführlich erläutert werden. In einem Leitartikel von Theo Sommer zum Nahostkonflikt wird beispielsweise die Geschichte des Pandaros, der Menelaos im Waffenstillstand überfiel, als Vergleich herangezogen, um einen Anschlag der Hamas-Bewegung während des Friedensprozesses im Nahen Osten zu verurteilen.32 Hier übernehmen Rückbezüge auf literarische Texte und Motive deutlich die Funktion der (moralischen) Bewertung. Daneben ist – wie vorher bereits erwähnt – die Wertung durch Ironie eine der häufigsten Funktionen literarischer Anspielungen. Ein Beispiel hierfür ist eine Glosse in der Zeit über den Besuch von Angela Merkel bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die die scharfe, ironische Bewertung des Autors erst mit dem eingesetzten Zitat entfaltet: Angela Merkel hat die FAZ besucht, wie uns das Blatt auf vier Spalten wissen lässt, und die Stimmung war, dem Foto nach zu schließen, das eine milde lächelnde Kanzlerin und drei herzhaft lachende Herausgeber zeigt, bestens. Gleich und Gleich gesinnt sich gern. Heinrich Heine hat alles vorausgesehen: »Sie saßen und tranken am Teetisch, / Und diskutierten Politisches viel. / Die Herren waren ästhetisch, / Die Dame von zartem Gefühl«.33
Mit dem Einbinden wörtlicher Zitate in journalistische Meinungstexte wird die Zuordnung zu Autor und Text im Unterschied zur Form der Anspielung eindeutig benannt. Damit erweitert sich der Kreis der ausgewählten Autoren und Texte deutlich. Zwar ist die Häufigkeit der Text-Bezüge zu kanonischen Autoren wie Brecht, Heine, Goethe oder Schiller ungebrochen, jedoch erweitert sich das Spektrum neben ebenfalls zu erwartenden Autoren wie Shakespeare, Novalis, Morgenstern zudem noch um seltener zitierte Autoren wie Freiligrath, Zola oder Martial. Mit der Einordnung der Beispiele in Formen von Kanon-Erwähnungen lässt sich somit zeigen, dass je nach Art der Verwendung literarischer Bezüge unterschiedliche Gruppen von Autoren und Texten ausgewählt werden, die jeweils in Beziehung zu einer Wirkungsabsicht und von Journalisten – wenn nicht sogar vom Medium als übergeordneter Instanz selbst – beigemessenen Werten stehen. 3.3 Bezüge auf Autoren in außerliterarischem Kontext Eine weitere Form von Kanon-Erwähnungen ist der Bezug auf Autoren mit der Nennung eines Zitats in einem außerliterarischen Kontext, beispielsweise allgemeine Äußerungen zur Biographie, zu Geschichte oder Themen, die nicht im Bezug zu einem literarischen Werk stehen. Hierbei steht die Bekanntheit des Autors im Mittelpunkt und nicht der literarische Text. Auch solche Rückgriffe werden einbezogen, da sich Wertungen von Literatur nur zum Teil tatsächlich auf Texte beziehen, sie können sich auch auf den Autor bzw. auf Zusammenhänge richten, über die der Autor bereits gewertet wurde.34 Solche Bezüge beruhen daher weniger auf der Wertschätzung bestimmter Texte. Stattdessen werden Autoren häufig dann ins Feld geführt, wenn von Themen die Rede ist, für die sie über ihr literarisches Schaffen hinaus allgemeinhin bekannt sind, was überwiegend
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Theo Sommer: Fluch dem Pandaros. In: Die Zeit vom 28. 10. 1994. Gleich und Gleich. In: Die Zeit vom 6. 11. 2008. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 7), S. 36.
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biographische Details betrifft. Ähnlich wie bei der satirischen Verwendung bestimmter Themen und Motive aus der Lyrik, die mit aktuellen Inhalten parallelisiert werden, erfolgt auch hier eine direkte Parallelisierung anhand eines passenden Stichwortes. Diese Form des Rückgriffs taucht besonders häufig im Streiflicht auf, was bereits auf eine humoristische, satirische Absicht der Verfasser hinweist. Goethe ist auch in diesem Zusammenhang ein häufig gewählter Kronzeuge, ganz gleich ob zum Thema Witwen seine Beziehung zu Christiane Vulpius35 aufgegriffen wird, beim Thema Diashows und Reise ein Hinweis auf die Italienische Reise36 nicht fehlt oder ob zur Frage des Nichtraucherschutzes seine letzten Worte in »Mehr Luft!«37 abgewandelt werden. Ähnlich strukturiert sind Bezüge zu Thomas Mann, wenn es um das Thema Homosexualität geht oder zu Erich Kästner zum Start einer neuen Kinderseite in der Zeit. Autoren fungieren hier als ›Autoritäten‹ im positiven wie im negativen Sinn, mit ihrer Erwähnung wird ein Bezugsrahmen hergestellt, über den Themen und Aussagen jeweils ausdrücklicher, entschiedener bewertet – sei es aufgewertet oder abgewertet – werden. 3.4 Nennung von Werktiteln Eine weitere Form bilden Nennungen von Titeln literarischer Werke. Hierbei wird innerhalb eines Meinungstextes häufig auf mehrere Titel Bezug genommen, beispielsweise in einem Spiegel-Essay zur Generationendebatte der 68er und 89er-Generation,38 der König Lear und Draußen vor der Tür aufgreift. Die Titel-Erwähnungen stehen dabei weniger für detaillierte Textkenntnisse als für allgemeine Haltungen und Motive. Mit dem Rückgriff auf Werktitel – sei es durch wörtliche Zitate oder durch reine Anspielungen – wird eine etablierte Deutung des Werkes aufgerufen und zum behandelten Thema in Beziehung gesetzt, was die Dimension des Deutungskanons eröffnet. »Deutungskanones sind meistens nicht das Resultat einer differenzierten Interpretationskultur, sondern die Festschreibung populärer, verbreiteter Rezeptionsweisen«,39 die als solche auch im untersuchten Kontext auftauchen. Häufig eingesetzt wird die Nennung von Werktiteln, um Vergleiche zwischen historischen und aktuellen Gegebenheiten zu ziehen oder um Personen des öffentlichen Interesses mit literarischen Figuren zu vergleichen. Beispielsweise wurde Susanne Osthoff, die erste im Irak entführte Deutsche, in einem Zeit-Portrait mit Bölls Katharina Blum verglichen.40
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Das Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 25. 1. 1994. Das Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 19. 4. 1994. Das Streiflicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 5. 1. 1994. Peter Glotz: Endzeit für Flakhelfer. In: Der Spiegel vom 26. 12. 1994. Hermann Korte (Anm. 18), S. 26. Barbara Nolte: Die verlorene Ehre der Susanne Osthoff. In: Zeit Magazin Leben vom 12. 6. 2008.
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4. Zusammenfassung Betrachtet man die Themen, innerhalb welcher – entsprechend der bisherigen Recherche – bevorzugt auf kanonische Autoren und Texte zurückgegriffen wird, so zeigt sich, dass allgemein politische Themen, darunter Parteipolitik und Wahlkampf, Kriege und Konflikte sowie insbesondere die Deutsche Geschichte Themenfelder sind, deren Bewertung häufig auch über Bezüge zu literarischen Texten und kanonischen Autoren erfolgt. Weitere Themenfelder, die eine gewisse Dichte an Anspielungen und Erwähnungen aufweisen, sind Wirtschaft, Gesellschaft und allgemeines Tagesgeschehen, wobei hier die thematischen Bezüge sehr breit gefächert sind. Wie bereits erläutert, besteht die Funktion solcher Anspielungen und Rückbezüge nicht allein in der Referenz auf einen bestimmten Kanon oder bestimmte Texte, sondern es wird der Bezug zu vorausgesetztem Wissen im allgemeineren Sinn sowie zu damit verbundenen Werten hergestellt. Mit dem Gelingen solcher Anspielungen und Erwähnungen wird damit zunächst ein breiteres Assoziationsfeld eröffnet, ein Spannungsfeld hergestellt zwischen aktuellen Geschehnissen und historischen Entwicklungen, innerhalb dessen Werthaltungen und Meinungspositionen ausgehandelt werden. Die jeweils deutlich werdende Auswahl an Autoren und Texten trägt dabei ganz bestimmten, von den Verantwortlichen angesprochenen Leserkreisen und deren symbolischem Kapital im Sinne Bourdieus Rechnung und führt – in ernstgemeinter ebenso wie in ironisch-distanzierender Absicht – als Referenz solche Autoren und Texte ins Feld, die nach wie vor für bildungsbürgerliche Wertmaßstäbe stehen. Dieses Ergebnis der Untersuchung wirft die Frage auf, ob Kanon-Erwähnungen jeweils abhängig von der Haltung und Ausrichtung eines Mediums auch unterschiedlich motiviert sein können. Wie bereits beschrieben, bilden die Recherchegrundlage der Arbeit die Süddeutsche Zeitung, Der Spiegel, Die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Allerdings finden sich in Meinungstexten der FAZ kaum bis gar keine Rückgriffe auf literarische Texte, obwohl Kanondebatten durchaus auch in der FAZ geführt werden. Auffällig ist hierbei, dass im Rahmen dieser Meinungstexte häufiger historische Vergleiche gebraucht werden bzw. Anspielungen auf historische Ereignisse eingeflochten werden, die ohne historisch-politische Kenntnisse – ähnlich wie bei Kanon-Anspielungen – nicht ohne weiteres verstanden werden. Hieraus kann eine Tendenz abgeleitet werden, dass die FAZ durchaus einen Leserkreis mit historisch-politischem Fokus anspricht, während die übrigen untersuchten Medien eher Leser ansprechen, für die bildungsbürgerliche Werte im Vordergrund zu stehen scheinen. Eine weitere Tendenz, die Aufschluss über angenommene Leserkreise gibt, zeichnet sich über die Anspielung auf Lesebiographien ab, d. h. Anspielungen entlang solcher Autoren und Werke, die ein bestimmtes, erwartetes Lesepublikum im Lauf seines Lebens tendenziell, möglicherweise auch entsprechend bestimmter Trends, rezipiert hat. Diese Beobachtung lässt sich vor allem im Rahmen des Streiflichts machen, das als täglich erscheinende, an prominenter Stelle im Medium gedruckte Glosse ein angestammtes Lesepublikum erwarten darf. Hier wird mit immer wiederkehrenden Anspielungen auf Mark Twains Tom Sawyer, Huckleberry Finn, auf Wilhelm Busch bis hin zu Waldemar Bonsels’ Biene Maja sowie bis in die Antike hinein mit Aristoteles, Hesiod und Horaz ein
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unterstellter Kanon besonders deutlich. Allerdings bedarf es für detailliertere Aussagen zu dieser These noch einer weitergehenden Recherche. Betrachtet man die Urheberseite der untersuchten Meinungstexte, so wird deutlich, dass es sich um einen bestimmten Kreis von Autoren handelt, der solche Anspielungen und Erwähnungen gebraucht, d. h. diese Form der Literatur-Rückgriffe findet durchaus in bestimmten Autorenmilieus statt. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei jedoch, dass die untersuchten Leitartikel, Essays, Kommentare und Glossen nicht unregelmäßig publiziert werden und an unterschiedlicher Stelle im Medium zu finden sind, sondern ihren festen Platz, meist auf Seite eins, haben und als feststehende Größe regelmäßig erscheinen. Damit repräsentieren solche Meinungstexte die Haltung einer gesamten Redaktion bzw. einer Zeitung, der Autorenkreis ist jeweils vom Medium ausgewählt und gewünscht, und dieser spricht damit auch bewusst in eine bestimmte Bildungselite hinein. Welche Kanones zeichnen sich folglich aus den bisherigen Recherchen in journalistischen Meinungstexten ab? Im Hinblick auf die Gattungen zeigt sich, dass überdurchschnittlich häufig Lyrik-Zitate bzw. -Anspielungen gebraucht werden, was sicherlich in der ›Handhabbarkeit‹ der literarischen Kurzform begründet liegt, die sehr einfach in einen Text eingebunden werden kann. Darüber hinaus werden häufig Dramen-Bezüge deutlich, die allerdings weniger in der Form des Zitats gebraucht werden, sondern überwiegend über Anspielungen oder Nennung der jeweiligen Titel Verwendung finden. Ähnliches gilt für die Form des Romans, der allerdings noch häufiger über Titelnennungen bzw. Bezüge zu Romanfiguren auftaucht. Was die gewählten Autoren betrifft, so bestätigt sich ein fester Kreis von kanonischen Autoren mit entsprechenden kanonischen Werken. Bereits im Rahmen der bisher untersuchten Daten wird ein immer wiederkehrender Kreis von Autoren und Werken deutlich. Die folgende Aufstellung dokumentiert erste, noch vorläufige Ergebnisse: Wolfgang Borchert: Bertolt Brecht: Johann Wolfgang von Goethe:
Heinrich Heine: Heinrich von Kleist: Friedrich Schiller: William Shakespeare:
Draußen vor der Tür Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui Dreigroschenoper Faust I + II Götz von Berlichingen Italienische Reise Lyrik (z. B. Zauberlehrling) Buch der Lieder Michael Kohlhaas Balladen König Lear Was ihr wollt
Darüber hinaus findet sich ein Kreis kanonisierter Autoren und Texte, auf die durchaus zurückgegriffen wird, allerdings in einem geringeren Umfang. Dazu gehören u. a.: Heinrich Böll: Max Frisch:
Ansichten eines Clowns Die verlorene Ehre der Katharina Blum Homo Faber Don Juan
206 Hermann Hesse: E.T.A. Hoffmann: Erich Kästner: Christian Morgenstern: Ludwig Uhland:
Anja Heumann Der Steppenwolf Der Sandmann biographische Bezüge, Kinderliteratur Galgenlieder Gedichte
Insbesondere wird jedoch deutlich, dass häufig auch auf weniger gebräuchliche Autoren und Texte zurückgegriffen wird, darunter folgende: Ferdinand Freiligrath: Hesiod: Victor Hugo: Georg Christoph Lichtenberg: Martial: Emile Zola:
Gedichte Theogonie Notre Dame de Paris Aphorismen Gedichte Germinal
Zudem wird bei genauerer Betrachtung der Bezüge zu kanonischen Autoren deutlich, dass hier häufig ebenfalls Rückgriffe auf weniger gebräuchliche Texte gewählt werden. Selbst bei Klassikern wie Goethe haben einzelne Werke einen unterschiedlichen Kanonisierungsgrad. So stehen vom 19. Jahrhundert bis heute dem Supremat des ›Faust I‹ und der ›Iphigenie auf Tauris‹ Dramen wie ›Der Groß-Kophta‹ und ›Der Bürgergeneral‹ entgegen, die kaum bekannt sind,41
aber dennoch eine Rolle im Spiel mit dem Kanon zu spielen scheinen. Beispiele für wenig kanonisierte Texte hochkanonischer Autoren sind: Johann Wolfgang von Goethe: Heinrich von Kleist: Friedrich Schiller:
Kampagne in Frankreich Reineke Fuchs Prinz Friedrich von Homburg Die Braut von Messina
Wie die dargestellten, vielfältigen Beispiele zeigen, werden kanonische Autoren und Texte häufig im Rahmen journalistischer Meinungstexte aufgerufen und bilden damit in diesem Umfeld feste Bezugsgrößen. Hierbei ist zu beachten, dass nicht nur die quantitative Präsenz in Form von Anspielungen und Rückbezügen auf literarische Texte etwas über ihren kanonischen Status aussagt, sondern auch die qualitative Dimension einbezogen werden muss. Hier zeigen Analysen, die in diesem Beitrag als Beispiele kurz dargestellt wurden, dass auf die literarischen Texte inhaltlich häufig Bezug genommen wird, um z. B. Werturteile zu begründen, um ironische Distanz zum Thema zu schaffen oder um Kontraste deutlich zu machen. Das heißt, solche Erwähnungen erfüllen, wie bereits erläutert, vielfältige Funktionen im Hinblick auf die Bewertung der jeweils behandelten Themen, aber auch – auf zweiter Ebene – im Hinblick auf die (Neu-)Bewertung der kanonischen Autoren und Texte im eingesetzten Zusammenhang. Vor diesem Hintergrund stellt Kanonwissen bzw. Wissen über Literatur allgemein eine Form kulturellen und
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Hermann Korte (Anm. 18), S. 31.
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symbolischen Kapitals im Sinne Bourdieus dar, über welches eine Wissensgemeinschaft angesprochen wird. In der gesellschaftlichen Kommunikation bilden sich Rituale heraus, in denen Kanonwissen repräsentiert wird. Dazu gehören effektvolle symbolische Selbstdarstellungstechniken wie das Zitieren markanter Stellen aus kanonisierten Werken, die gekonnte literarische Anspielung und deren souveräne Dekodierung im Gespräch. Vor diesem Hintergrund ist Kanonwissen kein profundes Textwissen, kein Ausdruck von Deutungskompetenz, sondern das nach außen hin dokumentierbare Wissen darüber, dass dieses Werk oder jener Autor zum Kanon gehört. Kanonwissen ist nicht das Wissen über den Text, sondern die Kenntnis darüber, dass der Text Kanonrang hat und man durch Mitreden über ihn an diesem Wissen partizipiert.42
Dieses ›Mitredenkönnen‹ verweist auf ein gegenseitiges Einverständnis, was das Spiel mit dem Kanon betrifft: Kanon-Anspielungen und -Erwähnungen funktionieren aus dem Grund, weil ein bewusster Kanon in der breiten Öffentlichkeit existiert. Aber durch die dargestellten Kanon-Rückgriffe wird auch erneut ein Kanonisierungsprozess im kleinen Rahmen angestoßen, da die Selektion eines Textes wiederum für eine Auseinandersetzung im gegebenen thematischen Zusammenhang sorgt. Hier stellt sich die Frage, wie stabil so ein Kanon ist bzw. sein muss. Die Auswertung der bisherigen Daten zeigt zweierlei: Zum einen existiert eine wenig überraschende Stabilität bei hochkanonischen Autoren und Werken. Zum anderen wird eine gewisse Dynamik im Hinblick auf weniger kanonisierte Autoren und Werke deutlich. Hier besteht die Notwendigkeit weiterer Recherchen, um zeigen zu können, welche Rolle solchen Autoren und Texten konkret zukommt. Ebenso wird im Verlauf der weiteren Arbeit im Rahmen des Untersuchungszeitraums ein Vergleich durchgeführt, der Aussagen darüber erlaubt, ob solche Rückgriffe zeitlichen Veränderungen oder gewissen Trends unterliegen und möglicherweise im Verlauf der Zeit auch unterschiedlich verwendet werden.
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Ebd., S. 34.
Imke Borchers
Worin liegt das Erfolgsrezept der Reihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho? Analyse am Beispiel von Los mares del Sur von Manuel Vázquez Montalbán Manuel Vázquez Montalbán (1939–2003)1 gilt als einer der produktivsten Autoren der spanischen Gegenwartsliteratur: In den aktiven Jahren seiner Schriftstellertätigkeit, die immerhin fast vier Jahrzehnte umfasst, hat er mehr als 100 Buchtitel publiziert, darunter Erzählbände, Romane, Gedichtsammlungen, Essays, Anthologien und Kochbücher.2 Hinzu kommen zahlreiche Vorworte zu Werken anderer Autoren, Herausgeberschaften, journalistische Beiträge, Vorträge und Fernsehauftritte. Die Reihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho nimmt im Rahmen seines narrativen Werkes eine zentrale Position ein. In mehr als zwanzig Bänden hat der Privatdetektiv das spanische Lesepublikum seit 1974 über dreißig Jahre hinweg begleitet und steht für viele Leser stellvertretend für das umfassende literarische Werk des Autors. Die Carvalho-Serie ist als Reflexion der Wandlungsprozesse der spanischen Gesellschaft von der Transition, dem Übergang von der Diktatur, die mit dem Tod Francos 1975 geendet hatte, zur Demokratie bis in das 21. Jahrhundert hinein zu lesen. Immer wieder wird der Detektiv mit zeitaktuellen Problemen des spanischen Alltags konfrontiert, seien es die Ausrichtung der olympischen Spiele in Barcelona oder der Bestechungsskandal um die sozialdemokratische Partei. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Genre des Kriminalromans in Spanien kaum Vertreter, da unter Franco jegliche Literatur, die sich mit den Themen Korruption, Gewalt und Verbrechen im eigenen Land befasste, in der Regel nicht publiziert werden durfte. Los mares del Sur3 ist der erste Band der Reihe, der nicht unter den Zwängen der Zensur erschien. Vázquez Montalbán war in seinem Schaffen nicht mehr von der politischen Zensur eingeschränkt und konnte sich auf dem literarischen Feld neu positionieren. Eine offene Thematisierung der Probleme des alltäglichen Lebens in Spanien in einem literarischen Werk ist daher erstmals in den Meeren des Südens möglich. Der Titel des Romans deutet bereits das Leitmotiv an: Es geht um die Suche nach den unerfüllten Wünschen und Träumen der Menschen – den Meeren des Südens.4 Der Roman ist der dritte, in dem Pepe Carvalho als Hauptfigur auftritt; er wird
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Dieser Beitrag basiert im Wesentlichen auf den Ergebnissen meiner Magisterarbeit mit dem Titel »Worin liegt das Erfolgsrezept der Reihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho? Der Versuch einer Analyse anhand des Romans Los mares del Sur (1979) von Manuel Vázquez Montalbán«, die 2009 an der Universität Hamburg eingereicht wurde. Vgl. José F. Colmeiro (Hrsg.): Manuel Vázquez Montalbán. El compromiso con la memoria. Woodbridge 2007, S. 297ff. Im Folgenden wird der deutsche Titel des Romans, Die Meere des Südens (Manuel Vázquez Montalbán: Die Meere des Südens. München 2001), verwendet. Der Autor spielt hier auf die enttäuschten Hoffnungen der spanischen Bevölkerung nach dem
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heute als zentraler Roman der Reihe bezeichnet, und hat diese sowohl national als auch international bekannt gemacht.5 Das Interesse der Literaturwissenschaft und -kritik an den Erzählungen um den Privatdetektiv kam erst in den späten 1980er Jahren auf. Dies wird u. a. auf die stark umstrittene literarische Qualität von Kriminalliteratur in Bezug auf den offiziellen Literaturbegriff Ende der 1970er Jahre zurückgeführt.6 Colmeiro begründet das zunächst geringe Forschungsinteresse wie folgt: […] se debe a que todavía se mantiene una evidente resistencia a considerar la obra literaria de Vázquez Montalbán como algo serio digno de la atención académica, por un cierto miedo al contagio de formas innobles y a un rechazo de lo prolífico, de lo ideológicamente problemático y de lo incisivo de su obra.7
Ein Kritiker fragt sich anhand der umstrittenen Bewertung der Romane, ob die Abenteuer des Detektivs nur gelesen werden, weil der Autor Vázquez Montalbán anerkannt und populär ist, oder weil sie literarisch so einzigartig sind, dass sie immer neue Leser finden.8 Vor diesem Hintergrund stellt sich der vorliegende Beitrag die Frage, wie sich der immense Erfolg der Carvalho-Reihe im Allgemeinen und des Romans Die Meere des Südens im Besonderen erklären lässt. Die naheliegende Hypothese, der Erfolg beruhe allein auf der Verleihung des Planeta-Preises an den Roman und dem damit verbundenen Verkaufs- und Übersetzungserfolg, der sich auf die ganze Reihe ausgeweitet hat, greift zu kurz. Ohne Zweifel sind die Reichweite des kommerziell ausgerichteten Verlags Planeta und das gezielte Marketing rund um die Preisverleihung fördernd für den Verkaufserfolg des Romans gewesen. Zweifelsohne ist der Erfolg auch mit der Position, die der Autor zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im literarischen Feld einnahm, verbunden. Durch
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politischen Systemwechsel an. In der hispanistischen Geschichtswissenschaft spricht man von einem »Kreislauf der Enttäuschungen«, dem »ciclo de desencanto« (J. Cagigao, J. Crispin, E. Pupo-Walker: España 1975–1980. Conflictos y logros de la democracia. Madrid 1982). Von der ersten Auflage haben sich in Spanien bereits 153.000 Exemplare verkauft, bis heute sind es weit mehr als 300.000. Die Auszeichnung mit einem französischen Krimipreis machte die Reihe auch auf internationaler Ebene bekannt, der Roman wurde u. a. ins Französische, Englische, Italienische und Deutsche übersetzt. Sowohl José F. Colmeiro (La novela policíaca española: teoría e historia crítica. Barcelona 1994, S. 21f.) als auch José R. Valles Calatrava (La novela criminal española. Granada 1991, S. 15f.) bestätigen die traditionelle Einordnung des Kriminalromans in der spanischen Literaturgeschichte als Unterhaltungs- oder Konsumliteratur in Abgrenzung zur künstlerisch anspruchsvollen Literatur. José F. Colmeiro: Crónica del desencanto: la narrativa de Manuel Vázquez Montalbán. Coral Gables 1996, S. 7: »[D]ies ist begründet in der immer noch bemerkbaren Ablehnung der Einordnung des Werkes von Vázquez Montalbán als ein der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit würdiges; diese rührt aus einer gewissen Angst vor der Verunreinigung durch gewöhnliche Formen [der Literatur] und einer Ablehnung des vielfältigen, des ideologisch problematischen und scharfen Tons seiner Werke.« (Übersetzung von I.B.) Luis F. Costa: La nueva novela negra española: el caso de Pepe Carvalho. In: Monographic Review / Revista Monográfica 3 (1987), S. 298–305, hier S. 305.
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avantgardistische Romane und vor allem zeitkritische und linksideologische Reportagen hatte Vázquez Montalbán sich bereits einen Namen im literarischen und journalistischen Feld gemacht. Trotzdem gab es zunächst durchaus ablehnende Reaktionen seitens der Kritik (siehe oben). Um die komplexen Zusammenhänge der literarischen Wertung in diesem konkreten Fall aufzudecken, bedarf es einer genaueren Analyse der Funktionen der an dem Erfolg beteiligten Institutionen und Akteure des Literaturbetriebs. In der Bourdieuschen Feldtheorie wird gefragt, unter welchen Bedingungen Autoren und ihre Werke im Hinblick auf die Multiplikatoren Verlag, Literaturkritik und Kulturjournalismus zu öffentlicher Bedeutung gelangen und bestimmte Positionen auf dem literarischen Feld einnehmen können. Die von Heydebrand / Winko eingeführte »Typologie der axiologischen Werte«9 soll helfen, diese Positionierungen zu analysieren. In Anlehnung an Bourdieu gehe ich vom Literaturbetrieb als einem Feld aus, auf dem sich Machtverhältnisse und Positionskämpfe der verschiedenen Akteure untereinander beeinflussen und sich auf literarische Wertung und Erfolg auswirken.10 Literatur wird hierbei als Handlungssystem innerhalb der Gesellschaft angesehen. Neben der Berücksichtigung von außertextuellen oder sogenannten kontextuellen Faktoren sind daher auch die innertextuellen Faktoren in die Analyse der Wertungsprozesse einzubeziehen.11 Es ist bei der Auswertung davon auszugehen, dass die untersuchten Positionierungen in zweierlei Hinsicht als ›kanonrelevant‹ einzustufen sind: sie vollziehen erstens eine Wertung und werden zweitens durch bestimmte Institutionen mit bestimmten Motivationen vorgenommen.12 Ob die ›kanonrelevanten‹ Positionierungen tatsächlich zu einer Aufnahme in den materialen Kanon der Literatur der spanischen Transition geführt haben, wird sich im Ergebnis zeigen. Der Beitrag soll Aufschluss darüber geben, inwiefern die Akteure Autor und Verlag die Wertungen der Reihe durch ihre Position auf dem literarischen Feld beeinflusst haben und ob der Erfolg tatsächlich als Resultat eines Zusammenspiels sowohl von rezeptions- als auch produktionsorientierten Faktoren angesehen werden kann. Der Beitrag versteht sich als Annäherung an die Klärung der Frage nach den Bedingungen des literarischen Erfolges im gesellschaftlichen Kontext.13
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Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn 1996, S. 114f. Vgl. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. Die drei Vorgehensweisen. In: Louis Pinto / Franz Schultheis (Hrsg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz 1997, S. 33–147, hier S. 34. Vgl. Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 9–24, hier S. 21. Vgl. ebd., S. 13. Bereits an dieser Stelle sei angemerkt, dass der Beitrag aus Mangel an geeigneten Kategorien zur Erklärung von literarischem Erfolg keine allgemeingültigen Aussagen treffen kann, sondern lediglich exemplarisch an diesem konkreten Beispiel die Funktionsweise des literarischen Feldes in Spanien aufzeigen soll.
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Der Literaturbetrieb in Spanien Einführend einige Bemerkungen zum Literaturbetrieb Spaniens der späten 1970er Jahre, die die spezifischen Bedingungen und Voraussetzungen für die zu untersuchenden Wertungsprozesse um Die Meere des Südens näher erläutern sollen. Historisch-wirtschaftlich ist das Spanien der späten 1970er Jahre gekennzeichnet von der Transition, dem Transformationsprozess von der Diktatur hin zu einer parlamentarischen Demokratie. Die Wirtschaft ist vor allem durch die Liberalisierung und Öffnung des Marktes geprägt, die auch auf dem literarischen Feld Auswirkungen zeigt. So konnte sich eine Kulturindustrie entwickeln, die nach dem Wegfall der staatlichen Zensur vornehmlich durch die Gesetze des zunehmend kommerzialisierten und globalisierten Marktes bestimmt wird. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ist hervorzuheben, dass die Erzählliteratur in Spanien unter diesen Voraussetzungen einen Aufschwung erlebt, in der Forschung wird sogar von einem »pacto narrativo«,14 einem ›Erzählpakt‹, mit dem Publikum gesprochen. Die Autoren bedienen die Forderungen des Publikums nach alltagsnahen Themen in der ›neuen‹ Literatur: nach der Abschaffung der Zensur finden Themen, die mit der unmittelbaren Vergangenheit des Landes und den Problemen des alltäglichen Lebens verbunden sind, beachtlichen Anklang bei Lesepublikum und Literaturkritik gleichermaßen. Das Genre des Kriminalromans kann sich im Zuge dieses Umwertungsprozesses der Literatur auf der iberischen Halbinsel durchsetzen und gewinnt an Anerkennung durch das literarische Feld. Neue narrative Techniken, wie die der historischen Erzählung oder des Detektivromans, finden sowohl bei Kritikern als auch beim Publikum Zustimmung.15 Diese ›Öffnung‹ des Literaturbetriebs nach Ende der Diktatur führt zu Veränderungen der Stellung der Leser einerseits und der Autoren andererseits. In weniger als einem Jahrzehnt kann sich in der spanischen Literatur ein Klima der ›absoluten Freiheit‹ entwickeln.16
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Burkhard Pohl: Bücher ohne Grenzen: Der Verlag Seix Barral und die Vermittlung lateinamerikanischer Erzählliteratur im Spanien des Franquismus. Frankfurt / M. 2003, S. 278. Roswitha Kern (Buchmarkt Spanien. München 2003, S. 24) erklärt den Bedarf der Leser an Erzählliteratur während der ersten Jahre der Transition durch die Funktion der Bücher als »Überbringer richtungsgebener Anhaltspunkte«. Vor dem ›Erzählpakt‹ veröffentlichten die spanischen Autoren vorwiegend experimentelle, avantgardistische Literatur, die für das allgemeine Lesepublikum schwer zugänglich war (vgl. Malcom Alan Compitello: De la metanovela a la novela: Manuel Vázquez Montalbán y los límites de la vanguardia española. In: Fernando Burgos (Hrsg.): Prosa hispánica de la vanguardia. Madrid 1986, S. 191–199, hier S. 194). Vgl. José Manuel López de Abiada: Caballeros de industria y de fortuna: Crónicas del mundo editorial y cultural en El premio, de Vázquez Montalbán. In: J.M.L.d.A. / Hans-Jörg Neuschäfer / Augusta Lopéz Bernasocchi (Hrsg.): Entre el ocio y el negocio. Industria editorial y literatura en la España de los 90. Madrid 2001, S 157–178, hier S. 129. Dieser Zugewinn an neuen Möglichkeiten für Literaturschaffende ist allerdings nicht nur positiv zu sehen: mit dem Ende der Diktatur ist die Opposition unbedeutend geworden und es entstand ein ›intellektuelles Vakuum‹, ein »vacío intelectual« (Ramón Buckley: La doble transición: Política y literatura en la España de los años setenta. Madrid 1996, S. XVI). Dieses vermag vielleicht auch die zugleich durch
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In Bezug auf den spanischen im Vergleich zum deutschen Literaturbetrieb allgemein und besonders Ende der 1970er Jahre ist auf einige Eigenarten aufmerksam zu machen, die für die Erklärung der Wertungsprozesse grundlegend sind. In Spanien herrscht während dieser Zeit eine »heruntergekommene Lesekultur«..17 Bezeichnend hierfür erscheint zum Beispiel, dass Mitte der 1980er Jahre ca. 60% der Spanier angeben, nie ein Buch zu lesen, und weniger als 20% bestätigen, täglich zu lesen.18 Angesichts dieser ungünstigen Ausgangssituation und der fortschreitenden Kommerzialisierung des Buchmarktes ist es nicht verwunderlich, dass Literatur im Werben um die Gunst des Publikums mehr und mehr als öffentliches Spektakel inszeniert wird. Der Kulturjournalismus und die Präsenz von Autoren in unterschiedlichen Medien – das Fernsehen war schon damals in Spanien das am meisten genutzte Informations- und Unterhaltungsmedium – spielen in diesem Zusammenhang eine erheblich größere Rolle als in Deutschland oder anderen europäischen Ländern zu diesem Zeitpunkt.19 Zudem haben auf dem spanischen Buchmarkt Vertriebskanäle wie der Buchklub und der Straßenkiosk gegenüber der klassischen Buchhandlung erstaunlich hohe Marktanteile. Der Marktanteil der Buchhandlung liegt bei 33%, der von Kiosken bei immerhin 8%.20 Die literaturvermittelnden Instanzen nehmen in Spanien durch die Vergabe von Literaturpreisen besonderen Einfluss auf die Wertungsprozesse von Literatur. Diese Preise werden nicht von einer unabhängigen Jury vergeben, sondern werden für ein bis dahin unveröffentlichtes Manuskript jeweils von einem Verlag ausgelobt. Nach der Auszeichnung erscheint das Werk in dem entsprechenden Verlag – eine ›Marketingstrategie‹, die in Deutschland bis heute nicht üblich ist. Es ist erwähnenswert, dass die Verlage, welche diese zum Teil sehr hoch dotierten Preise jährlich ausloben, im Wesentlichen alle zu den zwei großen Medienkonzernen Spaniens gehören, zu der PRISA-Gruppe oder zur Verlagsgruppe Planeta.21 Somit schaffen die Verlagspreise einen Konkurrenzkampf innerhalb derselben Unternehmensgruppe. Nichtsdestotrotz sorgt die medial wirksam inszenierte Vergabe der Preise alljährlich für eine Aufmerksamkeitsgarantie seitens der Öffentlichkeit und nicht selten für polemische Diskussionen um Gewinner und Verlierer. Ziel dieses Konzeptes ist nicht einzig die Förderung anspruchsvoller Literatur, hauptsächlich geht es um die Steigerung der Verkaufszahlen und damit um den Zugewinn an Publikum.22 Die renommierteste literarische Auszeichnung Spaniens ohne kommerzielle Ausrichtung ist der ehrenvolle Cervantes-Preis. Auffallend hierbei ist, dass dieser
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die Forderungen der Leser bedingte Hinwendung zur Genreliteratur und das Aufkommen des Bestsellers als literarisches Phänomen zu erklären. Monika Walter: Der spanische Weg in die Moderne: Entwicklungsprobleme postfranquistischer Kultur und Literatur. In: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 1221–1241, hier S. 1227. Vgl. ebd., S. 1228. Vgl. dazu auch Roswitha Kern (Anm. 15). Vgl. ebd., S. 46. Die populärsten Preise sind der Premio Nadal und der Premio Planeta. Vgl. dazu auch José Belmonte Serrano: Los premios literarios: la sombra da una duda. In: José Manuel López de Abiada / Hans-Jörg Neuschäfer / Augusta Lopéz Bernasocchi (Anm. 16), S. 43–54.
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heute mit einem Preisgeld von 125.000€ dotiert ist, wohingegen der Preis des Verlags Planeta mit 601.000€ nach dem Nobelpreis die am höchsten dotierte literarische Auszeichnung der Welt ist.23 Als literaturvermittelnde Institution an der Schnittstelle zwischen Autor und Lesepublikum hat das Verlagshaus Planeta eine bedeutende Rolle für die Wertungsprozesse um die Reihe »Pepe Carvalho« im Allgemeinen und Die Meere des Südens im Besonderen gespielt.
Die Rolle des Verlags Planeta im Wertungsprozess Die Ausgangslage für Verlage Ende der 1970er Jahre in Spanien ist nicht besonders günstig. Die schlechte wirtschaftliche Situation des Landes führt zur Zusammenlegung kleiner unabhängiger Unternehmen und zur Konzentration des Umsatzes auf die größeren kommerziell ausgerichteten Häuser. Der verlegerische Prozess beschleunigt sich zugunsten von Werken und Autoren, die eine ›Verkaufsgarantie‹ mitbringen. Das Konzept von Literatur als populäres Unterhaltungsmedium verbreitet sich rasch und äußert sich in einer Vereinfachung des Erzählstils und in der Hinwendung zur Genreliteratur. In dem Kreislauf ›Produktion-Vermittlung-Rezeption‹ wird im Zuge dieser Entwicklungen v. a. die marktwirtschaftliche Komponente gestärkt. Für die Verlage wird es zum Problem, den Herausforderungen des Marktes und gleichzeitig einem möglichst breiten Publikum gerecht zu werden. Der Verlag Planeta stellt allerdings einen Sonderfall dar. Das Verlagshaus Planeta, das die Reihe um Pepe Carvalho verlegt, wurde 1949 gegründet und hat sich bis in die 1970er Jahre vor allem durch Erfolge nationaler Bestseller etabliert. Nach 1975 verfolgt Planeta eine innovative Verlagspolitik, um der Krise Herr zu werden. Erstens startet der Verlag eine erfolgreiche Expansionskampagne, um sich Marktanteile zu sichern. Zweitens versucht er möglichst viele junge Autoren der ›neuen Erzählliteratur‹ für sein Programm zu gewinnen, die möglichst viele neue Leser ansprechen sollen. Drittens steigert er seinen Werbeetat deutlich und investiert zusätzlich in Nachschlagewerke und Enzyklopädien, die sich auch unabhängig von belletristischer Literatur verkaufen lassen. Und nicht zuletzt setzt der Verlag den hauseigenen PlanetaPreis, der seit 1952 vergeben wird, höchst wirksam ein, um junge aufstrebende Autoren und Werke zu fördern und gleichzeitig an sich zu binden. Der daraus folgende Werbe- und Verkaufserfolg soll jene Lücken füllen, welche die spanischen Bestseller der Franco-Ära hinterlassen haben.24 Dank der erfolgreichen Umsetzung der geschilderten Verlagspolitik ist Planeta Ende der 1980er Jahre alleiniger Marktführer und bis heute eines der umsatzstärksten Unternehmen im spanischen Verlagswesen.25
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Nach Informationen in der Ausschreibung des Planeta-Preises für 2010, Editorial Planeta 2010, http://www.planetadelibros.com, 12. 07. 2010. Bis heute hat die Auszeichnung dem Verlag über 27 Millionen verkaufte Exemplare der prämierten Romane eingebracht und den Wiedererkennungswert des Verlags gesichert. Zur Geschichte des Planeta-Preises siehe José Belmonte Serrano (Anm. 22) und Sergio Vila Sanjuán: Pasando página: Autores y editores en la España democrática. Barcelona 2003, S. 401–430. Ebd., S. 217.
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Mit der Verleihung des Planeta-Preises an Vázquez Montalbán und seinen Roman Die Meere des Südens im Jahr 1979 sichert sich der Verlag das ›Phänomen Carvalho‹. Die Preisauszeichnung ist eine Wertungshandlung durch den Verlag und kann als ein strategischer Schritt zur Etablierung der Reihe auf dem Markt bezeichnet werden: Seitens des Verlags wird Sorge getragen, dass der Romancier Vázquez Montalbán vom Lesepublikum mit dem Verlagshaus assoziiert wird. Angesichts der kommerziellen Ausrichtung und der glamourösen Gala anlässlich der Preisübergabe verurteilt der Kritiker Cristobál Sarrias den Planeta-Preis als Farce, die eher dem Wettbewerb einer BoulevardZeitschrift würdig sei.26 Mit der Auszeichnung von Die Meere des Südens beginnt Planeta zugleich, den Autornamen als Produktmarke zu bewerben und daraus ökonomischen Gewinn zu ziehen. Der Verlag funktionalisiert den Text für praktische Zwecke, nach Heydebrand und Winko ist die heteronom-ästhetische Wertung durch den Verlag ökonomisch motiviert.27 Planeta erhofft sich, einen ›Dominoeffekt‹ zu erzielen: Alle Faktoren, die sich mit dem Namen Vázquez Montalbán verbinden lassen, sollen sich unmittelbar positiv auf den Absatz seiner Bücher auswirken und den Verkauf von sogenannten Bei-Produkten fördern. Dies sind zum Beispiel Kochbücher mit Rezepten des Gourmets und Hobbykochs Carvalho, Theaterstücke, in denen die fiktive Hauptfigur und ihr Autor Zwiegespräche führen, oder Biografien über Pepe Carvalho, die vornehmlich zum 25-jährigen Jubiläum der Reihe 1997 erscheinen. Dank dieser Maßnahmen gelingt es dem Verlag, Die Meere des Südens erfolgreich auf dem Buchmarkt zu platzieren. Die erste Ausgabe ist schon nach wenigen Wochen ausverkauft, der Roman hält sich über mehrere Monate in den Bestseller-Listen und verkauft sich insgesamt über 500.000 Mal. Wie einleitend erwähnt, hat aber auch der Autor Vázquez Montalbán selbst durch seine Position im literarischen Feld Einfluss auf die Wertungsprozesse um Die Meere des Südens genommen.
Der Einfluss des Autors Vázquez Montalbán Typisch für die Werke Vázquez Montalbáns ist eine zugleich zynische und reflektierte Analyse des kulturellen Massenbetriebs.28 Trotz – oder gerade wegen – seiner kritischen Haltung ist er durch die vielseitigen schriftstellerischen Aktivitäten als Autor von avantgardistischen Romanen, Chroniken, Essays und journalistischen Beiträgen bereits Mitte der 1970er Jahre eine feste Größe auf dem literarischen Feld. Auch in Deutschland erscheint bereits 1977 ein erster Bericht über Vázquez Montalbán und seine »Pop-Literatur in Spanien als Replik auf den Franquismus«.29
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Cristóbal Sarrias: Los Premios. In: Razón y Fe 982 (1979), S. 337f., hier S. 338. Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 9), S. 30. An dieser Stelle ist v. a. der Carvalho-Roman El premio (1996) erwähnenswert. Carvalho wird mit der Aufklärung des Mordes am Stifter des höchstdotierten europäischen Buchpreises beauftragt. Unzählige Hinweise und Parallelen zum ›Who’s Who‹ der spanischen Literaturszene unterstreichen den ironischen bis sarkastischen Ton des satirisch anmutenden Romans. Ronald Daus: Pop-Literatur in Spanien als Replik auf den Franquismus: Manuel Vázquez
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Als der Autor Mitte der 1970er Jahre die Figur Pepe Carvalho ins Leben ruft, kann dies als Abwendung vom experimentellen Meta-Roman hin zur Populärkultur verstanden werden. Der Rückgriff auf populäre Erzählformen, in denen »gegenwärtige politische Konstellationen zu geschichtlichen Projektionen verdichtet werden«,30 erlaubt es dem Autor, sich in Form einer Gesellschaftschronik einem breiteren Lesepublikum zu öffnen. Kritiker und Kollegen haben an verschiedenen Stellen die Kombination von linksideologischen Tendenzen mit Elementen der Populärkultur im Werk Vázquez Montalbáns hervorgehoben. Wiederholt hat auch der Autor in seinen Aufsätzen die Bedeutung des kulturellen Erbes als Form des Widerstands gegen das hegemoniale Regime betont. Der Rückgriff auf die Form des detektorischen Erzählens sowie die in dem Seriencharakter begründeten Wiederholungen auf inhaltlicher Ebene führen dazu, dass die Carvalho-Romane sowohl den Erwartungshorizont eines nicht-professionellen als auch den des geübten Lesers erfüllen können. Der konventionelle Handlungsaufbau eines Kriminalromans ist meist bekannt; zudem sind inhaltliche Strukturen, Figuren und Schauplätze aus vorherigen Abenteuern des Detektivs wiederzuerkennen. »Diese doppelte Kontinuität stützt die werkinterne Kohärenz, mit der […] Vázquez Montalbán eine politische Chronik des modernen Spanien schafft.«31 Der Autor definiert mit einem Stil, der vordergründig von einer ironischen Erzählweise gekennzeichnet ist, das Genre der ›novela negra‹, des spanischen Kriminalromans in den 1970er Jahren neu: als eine parodistische Erzählung mit Betonung auf Handlung und Figuren und gleichzeitig als Basis für die Gesellschaftschronik.32 Er begründet die Wahl dieser literarischen Formen mit der Möglichkeit der Verbindung des Spielens mit literarischen Konventionen und dem Anspruch, Testimonialliteratur zu schreiben.33 Vázquez Montalbán betont in seinem Literaturverständnis die Bedeutung der sozialen Funktion der Literatur: Nur jene Literatur, die auf die sozialen Missverhältnisse in der spanischen Gesellschaft aufmerksam mache und durch den Text eine Beziehung zwischen Autor und Leser aufzubauen vermag, habe Zukunft.34 Im Zuge der Kommerzialisierung und Liberalisierung des Literaturbetriebs findet auf dem literarischen Feld eine ›Verwischung‹ der Grenzen zwischen Hoch- und Massenkultur statt. Vázquez Montalbán kombiniert in der Carvalho-Reihe traditionelle Elemente von Hoch- und Konsumliteratur, so dass die Bände weder dem einen noch dem
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Montalbán. In: Berichte zur Entwicklung in Spanien, Portugal und Lateinamerika 2 (1977), S. 2–16. Albrecht Buschmann: Die Macht und ihr Preis: Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán. Würzburg 2005, S. 22. Ebd., S. 221. Der Begriff ›novela negra‹ (›schwarzer Roman‹) hat sich als Bezeichnung für Kriminalromane, die sich durch eine sozialkritische Komponente auszeichnen, in der Hispanistik durchgesetzt (vgl. Patricia Hart: The Spanish Sleuth. Cranbury 1987, S. 14f.; José R. Valles Calatrava (Anm. 6), S. 21f.). Vgl. Manuel Vázquez Montalbán: Prólogo: Contra la pretextualidad. In: José Colmeiro (Anm. 6), S. 9–13, hier S. 12. Vgl. Manuel Vázquez Montalbán: Contra la novela policiaca. In: Ínsula 512–513 (1989), S. 9.
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anderen Format zuzuordnen sind.35 Es gelingt dem Autor, zu zeigen, dass literarische Qualität weniger vom Genre als von der intrinsischen Qualität und dem künstlerischen Ausdruck des Textes abhängig ist.36 Besonders bemerkenswert im Hinblick auf die Etablierung der Reihe im spanischen Literaturbetrieb ist, dass sich Vázquez Montalbán eindeutig von einer Kategorisierung und Genrebestimmung seines Werkes distanziert. Er veröffentlicht im Laufe der Jahre mehrere Aufsätze, in denen er ausdrücklich darlegt, warum es sich bei den CarvalhoBänden nicht um Kriminalromane handelt. So wie eine Schwalbe noch keinen Sommer mache, gäbe es auch keinen spanischen Krimi, sondern nur eine Handvoll Autoren, die mit Krimimustern spielen, so die Begründung des Autors.37 Die metakritischen Reflexionen in den Carvalho-Bänden verdeutlichen, dass er wesentliche Elemente der Handlungslogik des Kriminalromans kritisch aufgreift und für die Konstruktion der Reihe einsetzt. Die Zielvorstellung einer Aufklärung über die Wirklichkeit und der Anspruch, eine moralisch motivierte Chronik der Gesellschaft zu einem genau determinierten Zeitpunkt zu schaffen, gehen über die Beschreibung einer Poetik des Kriminalromans hinaus und zeugen von einer Ablehnung der vom literarischen Feld aufgestellten Gattungsgrenzen.38 Diese Distanzierung verschafft dem Autor Freiheiten auf dem Feld, die durch eine Akzeptanz von Genregrenzen nur eingeschränkt werden würden. Der linksintellektuelle Autor Vázquez Montalbán setzt seine Anerkennung und Erfahrung, die er auf dem literarischen Feld im Laufe der Jahre gesammelt hat, ein, um als kritischer Beobachter die Entwicklungen jenes literarischen Kanons zu beurteilen, der gleichzeitig die Grundlage für die Bewertung seines eigenen Werks bildet. So gelingt es ihm, seine eigenen Interessen auf dem literarischen Feld durchzusetzen und Wertungsprozesse seiner Werke zu beeinflussen. Wie Martin Franzbach bemerkt, führte dies allerdings nicht immer zu positiven Reaktionen: »Seine Gegner warfen ihm eine allzu alerte Selbstvermarktung im Kulturbetrieb vor.«39 Eine Betrachtung der Meere des Südens und seiner Textmerkmale, soll diese Reaktionen erläutern helfen. Um abschließende Aussagen hinsichtlich des Erfolgsrezeptes und der Wertungsprozesse um die Reihe treffen zu können, soll eine produktionsseitige und rezeptionsorientierte Zusammenfassung versucht werden. Hierbei ist die Bewertung der Meere des
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Wadda Ríos-Font (The Canon and the Archive: Configuring Literature in Modern Spain. Lewisburg 2004, S. 190) schreibt dazu: »Critics understand Vázquez Montalbán’s use of the detective formula as a structure around which to organize aesthetic or cultural constructions that go beyond the original limits of the form.” Vgl. auch Susana Bayó Belenguer: Theory, genre and memory in the Carvalho series of Manuel Vázquez Montalbán. Lewiston 2001, S. 143: »Some critics […] see the series in much the same light as the author, […] as exemplifying the belief that literary excellence depends less on the genre than on the intrinsic quality of the writing and on how successful the author is in giving artistic expression to his theme.« Manuel Vázquez Montalbán (Anm. 34). Vgl. dazu die Ausführungen in Manuel Vázquez Montalbán: No escribo novelas negras. In: El Urogallo 9–10 (1987), S. 26–27. Martin Franzbach: Geschichte der spanischen Literatur im Überblick. Stuttgart 1993, S. 395.
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Südens und der Carvalho-Reihe als Reaktion auf die Entwicklungen im literarischen Feld jener Zeit zu verstehen.
Die Wertungsprozesse um den Roman Die Meere des Südens Bourdieu betont in der Feldtheorie die Eingebundenheit des Autors in die Strukturen des literarischen Feldes bereits beim Verfassen eines Werks. Die Veröffentlichung der Carvalho-Reihe ist folglich einerseits bedingt durch die Positionen, die der Autor Vázquez Montalbán sich mit seiner Tätigkeit als Journalist und mit den Veröffentlichungen der gesellschaftskritischen Reportagen und experimentellen Romane schon vor Erscheinen der Reihe erarbeitet hatte. Andererseits kann die Veröffentlichung der Carvalho-Romane nicht unabhängig von den Positionen der Vermittler, Produzenten und Rezipienten, des Lesepublikums, betrachtet werden. So können auch die Wertungsprozesse um die Reihe nur im Hinblick auf das Zusammenspiel dieser Faktoren analysiert werden. Wie bereits einleitend erwähnt, sind neben den kontextuellen Faktoren auch die ästhetischen Merkmale eines Textes in die Analyse des Erfolgsrezeptes eines Romans einzubeziehen. Nach Simone Winko bilden Textmerkmale einen nicht zu unterschätzenden Bezugspunkt für die (intentionalen) Wertungshandlungen im Zuge der Kanonisierung eines Werkes.40 Im Folgenden soll das Konstruktionsschema der Meere des Südens im Hinblick auf die Interaktion zwischen Text und Leser untersucht werden.41 Die Aspekte ›Identifikation des Lesers mit den Personen der fiktiven Welt‹, ›Appell an das kollektive Gedächtnis des Lesers‹ und ›intertextuelle Verweisrelationen‹ nehmen dabei eine zentrale Rolle ein.42 Intertextualität kann als ein strukturierendes Element der Erzählung und auch der ganzen Reihe gewertet werden: Es lassen sich zum Einen intertextuelle Relationen zwischen den bis dato erschienenen Bänden der Reihe herstellen. Zum Anderen häufen sich autoreferenzielle oder metafiktionale Äußerungen zum Genre des Kriminalromans, die der geübte Leser leicht detektieren kann. Zudem finden sich ebenfalls ungezählte intertextuelle Bezüge zu Personen und Werken aus der Kultur- und Literaturgeschichte. Die Figur Pepe Carvalho, vielen Lesern bereits als Perspektiventräger und Protagonist aus vorherigen Romanen bekannt, ist Konstrukt »einer engen Anlehnung an Typisierungen des Krimigenres einerseits und einer ganz persönlichen, zeitgeschichtlich verankerten Individualisierung andererseits.«43 Vázquez Montalbán hatte im Laufe seiner verschiedenen Tätigkeiten und Positionen als Teil des Literatursystems eine Sensibilität für und
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Vgl. Simone Winko (Anm. 11), S. 21. Vgl. zur Kommunikation zwischen Autor und Leser auch das Konzept von Wolf Schmid: Abstrakter Autor und abstrakter Leser. Hamburg 2003 (vgl. http://www.icn.uni-hamburg.de/webfm_ send/37, 10. 07. 2010). Ich beziehe mich hier auf das Konzept des ›kollektiven Gedächtnisses‹ nach Maurice Halbwachs, womit der gesellschaftliche Prozess der Rekonstruktion der erlebten Vergangenheit durch eine bestimmte Gesellschaft oder Gruppe gemeint ist. Albrecht Buschmann (Anm. 30), S. 38.
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die Fähigkeit zur Analyse von Erwartungen und ästhetischen Vorstellungen des Lesepublikums entwickelt. Diese Erfahrungen setzt er als konkreter Autor ein, wenn er in den Meeren des Südens ein differenziertes Bild Barcelonas und seiner Einwohner zur Zeit der Transition zeichnet und am Beispiel individueller Schicksale das gemeinsame Schicksal vorführt. Handlungsaufbau und Konstruktion der Figuren sind derart, dass der Leser die Handlung in einem ihm bekannten Kontext nachvollziehen und sich mit den Figuren identifizieren kann. Mit der bewusst aktuellen Themenwahl appelliert Vázquez Montalbán an das kollektive Gedächtnis seiner Leser, so dass diese eine Verbindung zwischen ihrem Alltag und der Erzählung herstellen können. Der Kommunikationsakt zwischen Autor und Leser gelingt. Nachdem die Auszeichnung mit dem Planeta-Preis 1979 dem Roman gewissermaßen zum ›Durchbruch‹ auf dem Markt verholfen hatte, waren die ersten Reaktionen auf die Meere des Südens seitens der Literaturkritik zunächst ablehnend. Während in der späteren Rezeption auf der Ebene der formalen Werte Kriterien wie »Offenheit« beziehungsweise »Polyvalenz« und »Komplexität«, sowie die relationalen Werte »Originalität«, »Innovation« und »Zeitgemäßheit«44 besonders hervorgehoben wurden, waren es unmittelbar nach der Veröffentlichung des Romans vor allem diese Werte, die vermisst wurden.45 So verreißt der Kritiker Antonio Crespo 1979 den Roman als oberflächlich und distanziert. Er wirft dem Autor vor, dass er sich des Genres des Kriminalromans bediene, ohne dabei innovativ zu sein. Crespo kommt zu dem Schluss, es handele sich bei dem Roman lediglich um ein kommerzielles Produkt, das perfekt zum Verlagshaus Planeta passe und verdächtig gut den Bedürfnissen des Autors entspräche.46 John Cottam bezeichnet die Reihe in den 1990er Jahren hingegen als »an accurate portrayal of contemporary life for the general populace, which at the same time tries to appeal to the widest possible readership on a level which they can easily digest.”47 Die kontroverse Beurteilung der Reihe durch die Rezeption hängt zum einen mit dem Wandel des offiziellen Literaturbegriffs Ende der 1970er Jahre zusammen. Wie bereits erwähnt, zählte das Genre des Kriminalromans nicht zur Höhenkammliteratur. Der offene Umgang mit Gattungsgrenzen, der direkte Wirklichkeitsbezug und die dominante Unterhaltungsabsicht des Romans Die Meere des Südens wurden durch Wertzuschrei-
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Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 9): S. 116f. Die Unterscheidung, die von Heydebrand und Winko zwischen ›Offenheit‹ und ›Polyvalenz‹ vornehmen, wird hier nicht übernommen. Gemeint ist mit beiden Begriffen eine ›Mehrdeutigkeit‹ des Textes im Sinne von verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten (vgl. dazu auch Stefan Neuhaus: Die Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002, S. 17). Susana Bayó Belenguer (Anm. 36, S. 153) sieht den Wendepunkt in der Rezeption des Romans mit dem Erscheinen weiterer Carvalho-Romane: »And when the other novels of the Series appeared, Los mares was increasingly recognized as one of the key narratives of the period of 1975–1985 that would survive the test of time.” Vgl. Antonio Crespo: Los mares del Sur. In: Reseña de literatura, arte y espectáculos 124 (1980), S. 8–10. John Cottam: Understanding the Creation of Pepe Carvalho. In: Rob Rix (Hrsg.): Leeds Papers on Thrillers in the Transition. Novela Negra and Political Change in Spain, Leeds 1992, S. 123–133, hier S. 126.
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bungen wie »Einfachheit«, »Unterhaltung«, »kommerziell« zunächst negativ sanktioniert. Später wandelten sie sich in anerkennende Wertzuschreibungen wie »Memorabilität«, »‹Lebensbedeutsamkeit‹«, »Identifikation«, »Unterhaltung«.48 Von der Kritik werden unter anderem folgende Aspekte der Kriminalromane Vázquez Montalbáns positiv hervorgehoben: Frecuentes accesos al lirismo, el alto nivel de elaboración del lenguaje utilizado, el retrato de los ambientes y tipos barceloneses, la pintura crítica de la sociedad española de la transición a la democracia y la frecuente inclusión en sus historias de citas y referencias culturales de toda índole.49
Zum anderen ist diese ›Wende‹ in der Rezeption des Romans auch der Intention des Autors zu verdanken. Die Analyse des Konstruktionsschemas hat gezeigt, dass Vázquez Montalbán die ambivalenten Wertungen provoziert und zugleich auch in seinen Werken berücksichtigt hat. Als Akteur hatte Vázquez Montalbán in allen genannten Teilbereichen des literarischen Systems eine Rolle inne – als Autor in der Produktion, als Herausgeber von Zeitschriften in der Vermittlung und in seiner Funktion als Kritiker und Leser auch in der Rezeption und Kreation – und war mit den Strukturen des Feldes bestens vertraut. Daher hat er eine große Fähigkeit zur Selbstpositionierung entwickeln können; Andreas Dörner und Ludgera Vogt nennen dieses Gespür einen »sense of one’s place«.50 Bourdieu schreibt dem literarischen Werk einen ›Doppelcharakter‹51 zu, durch den es sich von anderen Konsumgütern unterscheidet. Einerseits wird das Werk als kulturelles Produkt bezeichnet, andererseits besitzt es einen künstlerischen Wert, der nicht auf ökonomische Werte zurückzuführen ist.52 Vázquez Montalbán berücksichtigt diese ambivalente Bewertung des literarischen Werks durch Produktion, Vermittlung und Rezeption. Er spricht ein breites Publikum an, ohne dabei den Anspruch auf Literarizität
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Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 9), S. 114f. Susana Bayó Belenguer (Anm. 36) fasst zusammen: »Some opposing critical views have arisen partly as a consequence of the incorporation of the structural devices of detective fiction and other popular genres within what the author claimed were simply literary works, and there have been those ready to argue that this incorporation resulted from a commercially geared campaign on the part of publishing houses to promote a type of ›light‹ literature«. José R. Valles Calatrava (Anm. 6), S. 234: »Häufige Rückgriffe auf lyrische Elemente, ein hohes Niveau der sprachlichen Ausarbeitung, das Nachzeichnen von Stimmungen und Charakteren, die typisch für Barcelona sind, der kritische Blick auf die spanische Gesellschaft der Transition im Übergang zur Demokratie, und die Anhäufung von kulturellen Verweisen und Zitaten jeglicher Art in seinen Geschichten.« (Übersetzung von I.B.). Andreas Dörner / Ludgera Vogt: Literatur – Literaturbetrieb – Literatur als ›System‹. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft [1996]. 6. Auflage. München 2003, S. 79–99, hier S. 97. Vgl. Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995, S. 91. Auf den zweifachen gesellschaftlichen Wert der Literatur gehen auch Renate von Heydebrand und Simone Winko (Anm. 6, S. 124) ein: auf der einen Seite der quantitativ messbare ökonomische Wert unter wirtschaftlichem Aspekt und auf der anderen Seite das symbolische Kapital unter sozialen Aspekten.
Worin liegt das Erfolgsrezept der Reihe um den Privatdetektiv Pepe Carvalho?
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zu verlieren. Der Autor etabliert sich selbst und die Gesellschaftschronik erfolgreich auf dem literarischen Feld Spaniens und gewinnt dafür soziales sowie symbolisches Kapital und Macht in Form ökonomischen Kapitals. Die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Werts der Literatur – sowohl des ökonomischen Werts als auch des symbolischen Werts – durch Vázquez Montalbán wird demnach auch von der Kritik erkannt: Intellectual and illiterate alike can appreciate Carvalho’s qualities through the mass media, in detective novel, television or cinema. Such wide recognition serves as a testament to the superbly fashioned insights that Vázquez Montalbán graphically communicates via his narrative world view.53
Der Verlag Planeta hat durch seine Position auf dem literarischen Feld Einfluss auf den Erfolg der Carvalho-Reihe. Infolge der zunehmenden Bedeutung der Vernetzung der Teilbereiche des literarischen Systems sucht der kommerziell ausgerichtete Verlag die enge Zusammenarbeit mit Kritikern, Autoren und Medien. Diese Beziehungen nutzt Planeta, um die Machtstrukturen auf dem Feld besser kontrollieren und beeinflussen zu können. Der Verlag fördert solche Autoren, von denen er glaubt, mit ihren Werken einen großen Verkaufserfolg erzielen zu können. Eine Zusammenarbeit mit Vázquez Montalbán für die Carvalho-Reihe bietet sich unter diesem Kalkül geradezu an: ein Krimiautor und Linksintellektueller, der aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit auf dem literarischen Feld weitläufig bekannt und breit vernetzt ist. Das symbolische Kapital des Autors soll das ökonomische Kapital des Verlags auf dem literarischen Feld ergänzen. Die Vergabe des Planeta-Preises für Die Meere des Südens 1979 markiert den Beginn des Jahrzehnte währenden Erfolgs der Reihe. Obwohl die Auszeichnung mit dem Preis aufgrund der zahlreichen Polemiken im Zusammenhang mit seiner Verleihung und seiner kommerziellen Ausrichtung zunächst eher negative Reaktionen für Vázquez Montalbán und Die Meere des Südens provoziert hat, konnte er dem Autor und Verlag langfristig symbolisches Kapital einbringen.54 Die wirklichkeitsnahe Darstellung der mit dem politischen Wechsel einhergehenden Probleme Spaniens in den späten 1970er Jahren zu dem gegebenen Zeitpunkt und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Auszeichnung mit dem Planeta-Preis haben Die Meere des Südens im Nachhinein zu einem der bedeutendsten Romane innerhalb der Carvalho-Reihe gemacht. Heute wird er mitunter als Schlüsselroman der spanischen Erzählliteratur der ersten demokratischen Jahre bezeichnet.55
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John Cottam (Anm. 47), S. 131. Die vernichtenden Urteile von Sarrias und Crespo wurden bereits zitiert. In aktuellen Texten wird auf den Preis zumeist im Zusammenhang mit dem Gesamterfolg des Werks von Vázquez Montalbán verwiesen (vgl. z. B. Albrecht Buschmann (Anm.30), S. 16; Hubert Pöppel: Manuel Vázquez Montalbán: Los mares del Sur. In: Ralf Junkerjürgen (Hrsg.): Spanische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzeldarstellungen. Berlin 2010, S. 213–228, S. 214). Axel Javier Navarro Ramil (Manuel Vázquez Montalbán auf Deutsch: Ein Autor und vier Übersetzer; das »Andere« in den Zieltexten. Frankfurt / M. 2000, S. 25) zählt Vázquez Montalbán zu den »‹Boom‹-Autoren« Spaniens. Hubert Pöppel (Anm. 54, S. 214) beschreibt Die Meere des Südens als »zentralen Roman der gesamten Reihe und somit auch der Tradition des spanischen Kriminalromans«. Für Albrecht Buschmann (Der spanische Kriminalroman: Gesellschaftlicher
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Der Gesamterfolg der Carvalho-Reihe ist demnach als Ergebnis der intensiven und effektiven Zusammenarbeit zwischen Autor und Verlag zu sehen. Vázquez Montalbán sowie Planeta verfügen über bemerkenswert genaue Kenntnisse der Rezeptionsmechanismen des literarischen Feldes und beeinflussen so entscheidend den literarischen Wertungsprozess der Reihe in ihrem Interesse.
Fazit Die Bourdieusche These, dass jeder Akteur auf dem literarischen Feld im Verteilungskampf um Macht eine Strategie verfolgt und sich durch gezielte Organisation der eigenen Produktion, durch Auswahl und Besetzung von Themen, durch eventuelles politisches oder soziales Engagement seine Position im literarischen Feld sichert, lässt sich beispielhaft anhand der Akteure Vázquez Montalbán und Planeta belegen.56 Die Skizzierung der Wertungsprozesse rund um den Roman Die Meere des Südens hat gezeigt, dass diese von Autor und Verlag gleichermaßen ›berechnet‹ und geplant waren. Für die Beschreibung der Wertungsprozesse hat sich die ökonomische Theorie Bourdieus als überzeugend erwiesen. Die Betonung auf die dynamischen Prozesse innerhalb des literarischen Feldes, die den Wertungsprozess hiernach determinieren, und der hohe Autonomisierungsgrad dieses Feldes in Bezug auf andere soziale Räume, lassen sich auf die Situation in Spanien Ende der 1970er Jahre übertragen. Durch den politischen Umschwung hatten mehrere Institutionen, die zuvor die Wertung und Kanonisierung von Literatur in Spanien entscheidend beeinflusst haben, ihre Funktion verloren, z. B. die Zensurbehörde oder die staatliche Verlagsanstalt. Die Dynamik, die hierdurch im Literaturbetrieb entstanden ist, wussten der Autor Vázquez Montalbán und der Verlag Planeta zu nutzen, um ihre Interessen quasi autonom durchzusetzen und die Reihe im literarischen Feld Spaniens zu etablieren. Das narrative Werk Vázquez Montalbáns, insbesondere die Carvalho-Reihe, erfüllt nach Heydebrand und Winko jene Kriterien, die eine Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kanon belegen können:57 Der Reihe werden Wertzuschreibungen wie Offenheit, Stimmigkeit und Originalität zuteil. Das Werk Vázquez Montalbáns ist dauerhaft am Markt präsent, noch heute erscheinen immer wieder Neuausgaben, vor allem auch von den Meeren des Südens. Die in den letzten Jahren zahlreich erschienene und hier zitierte Sekundärliteratur zeugt von einer Pflege des
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Wandel im Spiegel einer populären Gattung. In: Dieter Ingenschay / Hans Jörg Neuschäfer (Hrsg.): Aufbrüche. Die Literatur Spaniens nach 1975 [1991]. 2. Auflage. Berlin 1993, S. 168– 174, hier S. 173) ist Die Meere des Südens der »bisher erfolgreichste und vielleicht beste spanische Krimi.« Die Feldtheorie Bourdieus eignet sich zwar für die Analyse der strategischen Positionierung des Verlags Planeta im literarischen Feld. Sie ist jedoch nicht geeignet, um Erfolge von Verlagsstrategien zu erklären; hier muss in einer weiterführenden Analyse auf marktstrategische Erklärungsmodelle zurückgegriffen werden. Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 9), S. 222, und Stefan Neuhaus (Anm. 44), S. 18f.
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Werks in den literaturvermittelnden Institutionen. Einträge zu Vázquez Montalbán und Pepe Carvalho finden sich in fast allen Literaturgeschichten oder Lexika zur jüngeren spanischen Literatur und der Italiener Andrea Camilleri hat seinen sizilianischen Serienhelden nach dem spanischen Autor Comissario Montalbano genannt. Zusammengefasst kann der Erfolg des Romans beziehungsweise der Reihe als Resultat eines Zusammenspiels sowohl von produktions- als auch rezeptionsorientierten Faktoren angesehen werden. In gegenseitiger Abhängigkeit haben beide Faktoren nachhaltig die positive Wertung der Reihe beeinflusst. Es bleibt noch, an dieser Stelle auf einige Beschränkungen hinzuweisen, die mit der Anwendung der Bourdieuschen Feldtheorie einhergehen. Diese Theorie beruht im Wesentlichen auf der Dynamik der Prozesse und Bewegungen auf dem literarischen Feld als Ursache für eine bestimmte Positionierung eines Akteurs auf diesem Feld. Das bedeutet aber auch, dass die Analyse einer solchen Positionierung immer nur in der Logik eben jenes Feldes gelten kann; sobald sich die Machtstrukturen und Positionen verschieben, ist die Analyse nicht ohne Weiteres auf andere – oder auch dieselben Akteure – übertragbar. Daher muss die Gültigkeit der Ergebnisse dieses Beitrags insofern eingeschränkt werden, als mit den Meeren des Südens lediglich einer der 24 Bände der Reihe exemplarisch untersucht wurde. In der zusammenfassenden Analyse wird sehr deutlich, dass sie nur im Zusammenspiel genau der Akteure Vázquez Montalbán und Planeta im historischen Kontext jenes konkreten Zeitpunkts begründet sind. Es kann in diesem Fall lediglich beispielhaft festgestellt werden, dass der Einsatz von Autor und Verlag den Bedürfnissen eines liberalisierten und expandierenden Literaturbetriebs gezielt entgegen kam und somit die Etablierung der Reihe im Kanon der spanischen Literatur der Transition aktiv unterstützt hat.
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Die Veränderung literarischer Kanones durch Books on Demand
Literarische Verlage verlieren durch zunehmende Produktion von selbst verlegten Büchern bei Books on Demand-Anbietern international ihre Alleinstellung als Buchproduzenten auf dem Buchmarkt. Die klassischen Aufgaben des Verlages: Selektion nach Qualität und Verkäuflichkeit, Bearbeitung des Textes durch das Lektorat und strategisch angelegte Presse- und Marketingkonzepte werden ersetzt durch Selbstverlag und Selbstvermarktung der Autoren innerhalb der traditionellen Vertriebsschienen des Buchhandels und des Internetbuchhandels. Die bisherige Eintrittsschwelle in den Markt durch die hohen Produktionskosten sinkt bei digitaler Buchherstellung auf ein Niveau, das jedermann Buchproduktion und Vertrieb über den Buchhandel ermöglicht. Hierdurch bilden sich literarische Subkulturen. Es entstehen neue Formen der Vermittlung und Rezeption. War im 20. Jahrhundert die literarische Rezeption wesentlich durch einzelne Verlage und ihre Profile bestimmt, treten mit den selbst verlegenden Autoren neue Literaturproduzenten in den Buchmarkt ein. Buchverlage wie dtv, S. Fischer, Rowohlt oder Suhrkamp haben durch ihre Markenbildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgreich Literatur kanonisiert.1 Am eindrucksvollsten gelang dies dem Suhrkamp Verlag mit seinem erfolgreich verwendeten Marketingbegriff der »Suhrkamp Kultur«.2 Genaue Untersuchungen über den Einfluss der Literaturverlage auf das Rezeptionsverhalten des Publikums, die Wechselwirkung zwischen Rezensenten und literarischen Lektoren oder etwa den Einfluss der Taschenbuchverlage und ihrer Schulbuchkataloge auf die Lektürepläne der Schulen, stehen größtenteils noch aus, sind aber auch nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags, der sich mit der Veränderung dieser Kanonbildung durch neue Formen des Selbstverlags beschäftigt. Der Verfasser dieses Beitrages ist selbst Verleger. Er hat im Jahr 2000 das Dienstleistungsunternehmen Buch&media für Books on Demand-Produktionen gegründet und
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Eine erste umfassende Untersuchung über die Kanonisierung durch den Deutschen Taschenbuch Verlag, München wurde 2010 an der Universität Siegen vorgelegt. Elisabeth Kampmann: Kanon und Verlag. Auswahl, Positionierung und Kanonisierung deutschsprachiger Literatur durch den dtv 1961–2008. Phil. Diss. Siegen 2010. Druck in Vorbereitung. Der Literaturwissenschaftler, Philosoph und Kulturkritiker George Steiner, selbst SuhrkampAutor, prägte 1973 den Begriff der »Suhrkamp-Kultur« (suhrkamp culture) in einer Besprechung der Schriften Theodor W. Adornos. George Steiner: Adorno: Love and Cognition. In: Times Literary Supplement vom 9. 3. 1973. Der Suhrkamp-Verleger Unseld griff umgehend die Bezeichnung auf und verwendete sie dauerhaft bei der Öffentlichkeitsarbeit seines Verlages.
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zusammen mit dem Buchgrossisten Libri und der Autorenvereinigung Das Syndikat den ersten deutschen Books on Demand-Verlag, den Verlag der Criminale, ins Leben gerufen. Er versucht im Folgenden die Erfahrungen und Beobachtungen aus zehn Jahren digitaler Buchproduktion zu beschreiben und soweit möglich zu systematisieren. Ihm ist durchaus bewusst, dass ein soziokultureller Prozess wie neue Formen des Selbstverlags durch Books on Demand und im nächsten Schritt Selbstverlag mit elektronischen Büchern (eBooks) nur als Bestandsaufnahme der Gegenwart beschrieben werden kann. Alle Extrapolierungen dieses Prozesses in die Zukunft können deshalb nur einen vermutenden und keinen prognostischen Charakter haben, sie können allenfalls wahrscheinliche Trends aufzeigen.
Der Digitaldruck ist die zweite große Revolution zur Reproduktion von Texten nach Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern Seit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch Johannes Gutenberg zielten alle technischen Innovationen darauf, den Druckvorgang zu rationalisieren und zu beschleunigen, die Qualität zu verbessern, die Satzerstellung zu vereinfachen und zu verbilligen – aber das Prinzip blieb unverändert: Vor Beginn des Drucks muss eine Auflage festgelegt werden. Der Stückpreis resultiert aus dem Verhältnis der Druckvorkosten (Platten, Einrichtung usw.) und der Auflage – je höher die Auflage, desto geringer der Stückpreis. Da es keinerlei prognostische Möglichkeiten gibt, den exakten Bedarf des Lesers festzustellen, ist die Auflage im Prinzip immer zu hoch oder zu gering. Ist sie zu hoch, behilft sich der Verlag durch Ramsch oder Makulatur, ist sie zu klein, kann häufig nicht nachgedruckt werden. Das Buch ist vergriffen. Die Digitaldrucktechnik, die von Kopiermaschinenherstellern wie Xerox oder OCE in den achtziger Jahren entwickelt wurde, lässt neue, völlig veränderte Publikationsmöglichkeiten zu. Es gibt nahezu keine Vorkosten, Platten und Einrichtung fallen weg, Kleinstauflagen sind kostengünstig möglich. Diese Technik wird, ohne dass die Öffentlichkeit dies nennenswert zur Kenntnis genommen hätte, schon lange für Kleinauflagen, Dissertationsdruck, Broschüren usw. genutzt. ›Books on demand‹ oder ›Print on demand‹ hingegen haben sich etabliert als Begriffe für den stückweisen Digitaldruck von Büchern, die, elektronisch gespeichert, erst nach Anfrage gedruckt und vertrieben werden. Diese Druckmöglichkeit von Büchern auf speziellen Maschinen hat die eigentliche Revolution auf dem Buchmarkt ausgelöst, in deren Anfangsphase wir uns befinden. Waren die Books on Demand, die es seit 1998 in Deutschland gibt, am Anfang noch relativ unvollkommen, ziemlich teuer und wurden nur von wenigen Firmen angeboten, so beginnt heute der Digitaldruck in allen Sparten des Verlagswesens seinen Siegeszug als die beherrschende Technik für Bücher, deren Thematik nicht mehr mit hohen Auflagen rechnen kann. Druckexperten prophezeien, dass dem Digitaldruck gegenüber dem konventionellen Offsetdruck die Zukunft gehört.
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Die dritte Revolution nach Gutenberg ist der körperlose Transport schriftlicher Texte über Internetportale und eBook-Reader Im Jahr 2000 feierte die Gutenberg-Stadt Mainz den 600. Geburtstag ihres berühmten Sohnes und verlieh den ersten Gutenberg-Preis im dritten Millenium an den Wissenschaftler Joseph Jacobson für die Erfindung eines elektronischen Papiers, des ePapers (auch eInk genannt). Dieses ePaper soll Gutenbergs Technologie, die 600 Jahre gehalten hat, endgültig ersetzen. Es hat zwar einige Jahre gedauert, bis das ePaper als SonyReader oder Kindle produktionsreif war, aber inzwischen lassen sich Texte in ansprechender Qualität bei Tageslicht über diese Geräte wie auf Papier lesen. Die Vorläufer der Lesegeräte, wie das Rocket eBook der Firma Nuvomedia, die ebenfalls um die Jahrhundertwende zum 21. Jahrhundert auf den Markt kamen, arbeiteten noch mit hintergrundbeleuchteten Schwarzweiß-Displays und sind kläglich gescheitert. Seit Mai 2010 ist der iPad von Apple auf dem Markt, der zwar auch mit beleuchtetem Display arbeitet wie das Rocket eBook, aber dies in einer brillanten Qualität der Farbigkeit und Auflösung, die das komfortable Lesen von Büchern und Magazinen erlaubt. Neben den speziell zum Lesen von Büchern und Zeitschriften konzipierten Geräten gibt es inzwischen den Download auf PDA, Smartphone, PC oder Laptop im PDFFormat. Gelingt es, dem ePaper auch die Darstellung von farbigen Abbildungen in hoher Auflösung beizubringen, wird es in Zukunft vermutlich nur noch wenige (ästhetische und emotionale) Gründe geben, Bücher auf Papier zu drucken. Noch gibt es allerdings keinen einheitlichen eBook-Standard, die Möglichkeiten des Downloads sind an proprietäre Techniken gebunden und erst die nächsten Jahre werden zeigen, ob sich einheitliche Standards entwickeln und welche Lesegeräte sich durchsetzen. Auch die Buchverlage stehen vor der folgenreichen Entscheidung, sich dem Konditionendiktat von Apple zu beugen, sich an Amazon zu binden oder eigene Plattformen aufzubauen. Verschiedene Anbieter ermöglichen dem selbst verlegenden Autor für geringe Kosten die Konvertierung und die Distribution seines Textes über Internetforen und Internetshops, so wie dies bei Books on Demand seit gut einem Jahrzehnt geschieht. Bücher als Downloads sind unbegrenzt reproduzierbar, grenzenlos verfügbar und haben nahezu keine Produktionskosten. Die technischen Vorstufen für diese Downloads ähneln der Druckvorstufe bei Books on Demand, auf die ich mich im Folgenden beschränken werde.
Books on Demand sind das MP3-Verfahren der gedruckten Literatur Es wurde bereits ausgeführt, dass es noch vor einem Jahrzehnt Wirtschaftsunternehmen wie Verlagen vorbehalten war, Bücher zu publizieren, denn die Produktionsmittel waren teuer, kompliziert zu handhaben und überschritten die finanziellen Möglichkeiten von Privatpersonen. Heute kostet der Druck eines einzelnen Exemplars weniger als ein Mensaessen. Nicht umsonst heißt die so angebotene Publikationsmöglichkeit bei dem Marktführer BoD ›Fun‹. Ein Teil unserer Buchproduktion ist deshalb in den letzten Jah-
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ren abgewandert in den Hobbybereich, ist Freizeitbeschäftigung zum Spaß. Die Alleinstellung der Literatur produzierenden Verlage verfällt. Bei Books on Demand ist eine parallele Entwicklung zu beobachten zu der Entwicklung des Musikmarktes durch die Erfindung des MP3-Formats und die Möglichkeiten des Downloads. Auch hier ist die Produktion und Verbreitung von Musik in einem Homestudio mithilfe von Internetportalen für Laien und Hobbymusiker erschwinglich und möglich geworden. »Man darf nie die Macht einer Million Amateure unterschätzen, die den Schlüssel zur Fabrik besitzen«, schreibt Chris Anderson in seinem Buch The Long Tail. Nischenprodukte statt Massenmarkt, eine zum Bestseller gewordene Untersuchung, wie die digitale Technologie aus Massenmärkten Millionen Nischen macht und traditionelle Marktgesetze außer Kraft setzt.3
Was einmal digital gedruckt wurde, bleibt immer lieferbar Auf dem Buchmarkt hat die elektronische Vernetzung von Verlagen, Druckereien und Auslieferungen im Jahr 2010 einen Qualitätsstandard erreicht, der es nahezu fehlerfrei ermöglicht, die Buchbestellung des Händlers oder der Privatperson direkt in die Druckmaschine zu leiten und einen Druckvorgang auszulösen. Wenn ein Leser einen Band der Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag in seiner Buchhandlung bestellt, wird der Buchhändler das Buch bei einem seiner Buchgrossisten über dessen Katalog ordern. Die EDV des Barsortiments erkennt, ob das Buch sich an einem körperlichen Lagerplatz oder an einem virtuellen Lagerplatz bei der Auslieferung BrockhausCommission in Kornwestheim befindet. Im Falle der virtuellen Lagerung wird die Bestellung automatisch an die Druckmaschine in Norderstedt weitergeleitet, das Buch wird über Nacht gedruckt, mit dem Lieferschein des Verlages versehen und über die Bücherwagen des Buchgrossisten an den Buchhändler ausgeliefert. Dazwischen befindet sich kaum eine menschliche Hand. Das spart nicht nur Lagerkosten, das setzt auch den Verlag in Stand, Bücher, die betriebswirtschaftlich irrelevant sind, dauerhaft lieferbar zu halten, theoretisch bis ins Unendliche. Elektronischer Speicherplatz kostet so gut wie kein Geld mehr, also stehen der unbegrenzten Verfügbarkeit von Büchern keine wirtschaftlichen Gründe mehr entgegen. Die Zahl der lieferbaren deutschsprachigen Titel, die im Jahr 2010 bereits 1,2 Millionen Titel beträgt, wird noch weiter steigen. Hat der stationäre Buchhandel bisher durch seine Einkaufs- und Beratungspolitik einen wesentlichen Einfluss auf die Kanonbildung der Gegenwartsliteratur gehabt, wird diese Funktion künftig durch Kaufempfehlungen der Internethändler ersetzt. Verfügt der klassische Buchhändler über ein durchschnittliches Lager von etwa 5.000 bis 10.000 Titeln, kann beispielsweise Amazon auf weit über 1 Million Bücher zugreifen.
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Chris Anderson: The Long Tail. Nischenprodukte statt Nischenmarkt. Aktualisierte und erweiterte Ausgabe. München 2009. Hier vor allem der Abschnitt »Selbstverlag ohne Schande«, S. 89ff.
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Ökologisch und ökonomisch ist es Unsinn, ein auf Bestellung gedrucktes Buch von der Druckerei zum Barsortiment und von dort zum Buchhändler zu transportieren, damit der Kunde es abholen kann. Der direkte Bestellweg über einen Internetversender ist rationeller. Denn in der Tat: Da, wo sich Amazon als Versender ausweist, verbirgt sich häufig schon BoD Norderstedt oder der Buchgrossist Libri, denn der Versand erfolgt direkt von der Druckerei oder dem Barsortiment aus, auch wenn auf dem Lieferschein und der Rechnung der Internethändler erscheint. Die Beratungsfunktion des Buchhändlers wird durch die ausgeklügelte Kundenanalyse des Internethändlers ersetzt. Das Kundenprofil wird durch Algorithmen erfasst, und bei jeder neuen Bestellung mit entsprechenden Vorschlägen als weitere Kaufanregung versehen.
Traditionelle Institutionen, die zur Kanonbildung beitragen, büßen ihre Alleinstellung ein Bereits im Jahr 1999, als die ersten ebook-Reader aufkamen, hat Stephen King seinen Roman Riding the Bullet ohne Verlag als eBook veröffentlicht. Trotz einiger 100.000 Downloads scheiterte dieses Experiment an der mangelnden Akzeptanz der damaligen Lesegeräte. In der Musikindustrie gibt es zunehmend Ansätze von Popstars wie Madonna, Xavier Naidoo oder den Toten Hosen, Musik über Internetportale ohne Plattenlabel zu vermarkten, denn das körperliche notwendige Vehikel zum Vertrieb von Musik wie MC oder CD ist durch den Download ersetzt. Zunächst sind es nur die prominenten Musiker, doch andere werden folgen. Die Ladenregale bei iTunes oder Amazon werden nie knapp und jeder hat eine Chance zum Download. Im Bereich der Books on Demand beobachten wir einen explodierenden Markt von Laienautoren, die ihre Bücher selbst verlegen wollen. Es gibt inzwischen mehr als zwei Dutzend Druckdienstleister und Verlage, die sehr unterschiedliche Modelle verwirklichen: von der traditionellen Betreuung des Autors, der sein Manuskript abliefert: »Schreiben Sie, wir kümmern uns um den Rest«4 bis zum Uploadportal, das dem Autor sogar ermöglicht, aus seiner Worddatei selbst eine Druck-PDF zu fabrizieren. Der Markt der Hobbyautoren wächst seit Jahren unübersehbar rasch. Über 60.000 selbst verlegende Autoren und Institutionen sind es alleine bei BoD. Zum Vergleich: Der Verband deutscher Schriftsteller als Standesvertretung von Journalisten, Übersetzern und Schriftstellern hat rund 4.000 Mitglieder. »Neue und experimentelle Literatur hat so eine größere Chance, und auch für junge Autorinnen und Autoren bietet BoD eine Einstiegschance«, sagt Imre Török, Vorsitzender des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS).5 Zweifellos erweist sich Print on Demand auch als eine Talentschmiede und ein Sprungbrett für Autoren. Denn wo ein Autor sein Buch veröffentlicht, sagt nicht von vornherein etwas über die literarische Substanz
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Website des Münchner Verlages Literareon: http://www.literareon.de/info.php, 21. 02. 2010. http://www.buchmesse.de/de/networking/container/00347/index.html, 3. 8. 2008.
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seiner Produktion. Also nutzen auch renommierte Autoren diese neue Publikationsmöglichkeit, um ihre vergessenen, vormals höchst erfolgreichen Bücher im Selbstverlag noch einmal zu publizieren. Wurde bisher durch die Auswahl des Verlags, den selektiven Einkauf des Buchhandels und die Steuerung der Literaturkritik der Leser im Wesentlichen vor Laientexten bewahrt, entsteht nun eine alternative Literaturszene. Nach dem Krimi und den Fantasyromanen ist eine der beliebtesten Gattungen die Lyrik. Den Allitera Verlag erreichen täglich untaugliche Gedichtmanuskripte, deren Autoren dann mit einem Formbrief an BoD oder andere Dienstleister verwiesen werden. Ebenso beliebt ist die Autobiografie. Glaubt man den Pressemeldungen der Vereinigung deutschsprachiger Biografen, so haben im vergangenen Jahr über 100.000 Deutsche ihre Autobiografie geschrieben. Es gibt Biografieberater, Schreibschulen, Biografieseminare, darunter höchst seriöse Institutionen wie das Institut für angewandte Kreativitätspsychologie (IAK) des Münchner Psychologen Jürgen vom Scheidt, der biografisches Schreiben als Therapie einsetzt. Es gibt Biografienschmieden mit Profiautoren, die gegen Geld diese Bücher verfassen. Zwischen 6.000 und 40.000 € kosten solche Publikationen, die dann häufig als Book on demand erscheinen.6 Um einige Books on Demand-Anbieter haben sich Autoren-Communities gebildet. Auf den Internetseiten dieser Foren finden sich aktuelle Lesungstermine der Autoren, Aufrufe zu gemeinsamen Lesungen, literarische Events oder Einladungen zum gemütlichen Austausch mit anderen Autoren im Rahmen von Autorentreffs und -stammtischen. Der Autorenpool www.autorenpool.info von Heiner Hemken ist laut eigener Aussage »ein Forum bzw. eine Publikationsplattform für Autoren, welche ihre Bücher selbst verlegen. Diese können sich und ihr Buch vorstellen, dafür werben, über ihre Erfahrungen berichten, oder sich einfach nur mit anderen Schreibverliebten austauschen.«7 Die Mitgliedschaft ist kostenlos, die Bücher, ob bereits publiziert oder nicht, kann man auf der Website ankündigen. Blogs sind möglich. Die Texte, die Autorenporträts und die Themen zeigen eine neue Variante unseres literarischen Lebens. Es sind meist Autoren, deren Schreibzweck nicht der Lebensunterhalt ist, sondern die gesellige Gemeinschaft der Autoren untereinander, unverkennbar ist der Stolz, Autor zu sein. ›Autor‹ definiert sich hier als Mitglied kunsthandwerklicher Zirkel und lebt von der Aura, mit der unsere Gesellschaft Künstler umgibt. Was im vergangenen Jahrhundert das häusliche Musizieren war oder der Töpferkurs, diese kunsthandwerkliche Kreativität wird nun ergänzt durch die neue Komponente des Hobbyschreibens. Es gibt für jede Gattung Texte von unterschiedlichster Qualität das Imprimatur und die Publikationsentscheidung liegt alleine beim Autor. Im Sachbuchbereich können vor allem Weltverbesserer und Fanatiker mit abartigen Ideen ungehindert ihre Theorien publizieren. Unabhängig von der Auflösung sprachlicher Normen, die dabei zu beobachten ist, der Grammatik, der Orthografie und Interpunktion, lösen sich auch typografische Re-
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Irene Kleber: Mein Leben als Buch. In: Abendzeitung München vom 22. 1. 2010. http://www.autorenpool.info/profile,mode,register.html, 3. 8. 2008.
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geln auf, die weniger der Ästhetik als der Lesephysiologie geschuldet sind. Hurenkinder, fehlende Unterscheidung zwischen Gedanken- und Bindestrichen, mangelnde optische Gliederung von Überschriftenhierarchien, fehlerhafter Theater- oder Gedichtssatz, untaugliche Auswahl von Fonts usw. Die Buchproduktion der selbst verlegenden Autoren nähert sich der laienhaften Produktion von Schülerbands, die ihre selbst aufgenommenen Musikstücke ins Netz stellen. Eine Flut von Literaturentwürfen, deren Publikation bisher durch die kritische Selektion von Lektoren verhindert wurde, wird ungefiltert auf den Buchmarkt geschwemmt. Bei BoD, Norderstedt, werden regelmäßig Bestsellerlisten veröffentlicht, die sehr deutlich zeigen, dass in den letzten Jahren ein alternativer Buchmarkt entstanden ist: Hier die ersten drei Plätze der Hitlist von Januar 2010. Platz 1: Lust auf ihn Platz 2: Frauen, die nach Schinken stinken Platz 3: Nachspiel
Erotik, Kalauer und Fußball sind die Themen, die auf diesem Alternativmarkt am meisten gekauft werden.8 Hinzu kommen Bücher zu Popularthemen aus den Grenzwissenschaften, Computer und Lebenshilfe. Eines der neuesten dieser rasch wachsenden Unternehmen ist das Hamburger Literaturportal tredition. »Bei tredition können Sie Ihre Werke kostenlos als e-Book oder audio-Book sowie zu fairen Konditionen als print-Book veröffentlichen. Außerdem steht Ihnen ein großes Netzwerk von Literatur-Partnern zur Verfügung.«9 Hier kann sich jeder multimedial verwirklichen und dieses Angebot wird ganz offensichtlich angenommen. Auf der Website werden inzwischen über 800 Titel von selbst verlegenden Autoren angeboten. Vergleicht man die deutschsprachigen Neuerscheinungen der Verlage im Bereich Belletristik, so haben die selbst verlegenden Autoren mit ihren Büchern die Zahl der durch Verlage betreuten Publikationen längst weit überrundet. Da die meisten dieser Publikationen im persönlichen Umfeld des Autors bleiben, werden sie kaum von der Kritik oder der literarischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Sie sind allerdings bibliografisch erfasst und weder für den Bibliothekar noch für den Buchhändler von klassischen Verlagspublikationen unterscheidbar. Eine Urteilsbildung über dieses neue Genre fällt schwer; neben dem im Kanon fest etablierten Autor, der auf eigenes Risiko seine vergriffene Backlist neu publiziert, steht die Gymnasiastin, deren stolzer Vater ihren Romanerstling auf seine Kosten publizieren lässt.
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http://www.bod.de/bestseller.html, 20. 1. 2010. http://www.tredition.de/Home/AuthorHowItWorks.aspx, 20. 1. 2010.
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Books on Demand bieten neue Chancen, vor allem für Minderheitenund wissenschaftliche Literatur Zuerst haben die kleineren Verlage die Bedeutung der Books on Demand-Technik für Minderheitenliteratur erkannt. Nach neuen Schätzungen sind es inzwischen über 500 Verlage, die Literatur mit geringen Absatzerwartungen in dieser Form publizieren. Für wissenschaftliche Publikationen, die bisher von relativ hohen Druckkostenzuschüssen abhängig waren, bietet sich die Möglichkeit, nach Bedarf kostenfrei zu produzieren, es entstehen lediglich die Kosten für Satz, Korrektur und Design. Hiervon machen inzwischen auch große Verlage wie de Gruyter, der wissenschaftliche Springer Verlag oder Suhrkamp Gebrauch. Auch mein Verlag, der Allitera Verlag, nützt die Books on Demand-Technik, um literarische und wissenschaftliche Bücher zu produzieren, die im klassischen Buchverlag keine Chance haben. Die Leiterin des Münchner Literaturarchivs Monacensia, Elisabeth Tworek, gibt hier die edition monacensia heraus, in der in den vergangenen Jahren über 60 Bücher bayerischer Autoren erschienen sind, Begleitbücher zu Ausstellungen, Monografien und Biografien. Es gibt keine Auflagen dieser Bücher, die Absatzzahlen liegen zwischen 200 und 2000 Exemplaren, gerechnet auf einen Zeitraum von acht Jahren. Der Allitera Verlag hat Werkausgaben von Georg Queri, Franz von Pocci, Charles Sealsfield und Erstausgaben-Editionen von Oskar Maria Graf begonnen, die in konventionellen Druckverfahren nicht zu finanzieren wären. In Verbindung mit dem Bödeckerkreis, einer Fördervereinigung von Jugend- und Kinderbuchautoren, publiziert er Jugend- und Kinderbücher in Neuauflagen, die bei dem Originalverlag vergriffen, aber in den Lehrplänen der Schulen noch verankert sind, und druckt den Autoren für ihre Lesungen jeweils Klassensätze. Der Verlag gibt eine musikwissenschaftliche und eine musikpädagogische Reihe als Books on Demand heraus, eine Reihe mit Beiträgen zur Geschichtswissenschaft und eine sozialgeografische Reihe mit der Universität Erlangen-Nürnberg, die jeweils von den Universitätsinstituten bezuschusst werden. Die erforderlichen Zuschüsse sind allerdings wesentlich geringer als bei klassischen Druckverfahren, da nur die Vorkosten entstehen, die Druckkosten selbst sind durch den Verkauf gedeckt und damit aus betriebswirtschaftlicher Perspektive gesehen kein Kosten-, sondern ein Erlösfaktor. Ob Jahrbücher literarischer Vereinigungen, Hochschulschriften oder Anthologien zu Literaturwettbewerben wie dem Open Mike oder der hessisch-thüringischen Nagelprobe, die dauerhafte Lieferbarkeit ist garantiert.
Die Zitierfähigkeit gedruckter Texte gerät durch sorglose Anwendung des Digitaldrucks in Gefahr Vor genau zehn Jahren gründete der Verfasser mit dem Literaturkritiker Heinz Ludwig Arnold als Herausgeber die Gedichtreihe Lyrikedition 2000, in der u. a. ein Gedichtband des Schweizer Lyrikers Serge Ehrensperger, Sonette an den Orkus, in Anspielung an Rilkes Sonette an Orpheus erschien. Ehrensperger ist ein ebenso gewissenhafter wie
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skrupulöser Autor und so hat er kurz nach Erscheinen im April 2001 darauf bestanden, Varianten einzelner Gedichte neu zu drucken, sodass in Abständen von wenigen Monaten zwei weitere Auflagen erschienen. Es wird der Hilfe des Verlagsarchivs und philologischen Spürsinns bedürfen, diese Varianten aufzufinden und die Textabweichungen zu dokumentieren. Denn Auflagen im eigentlichen Sinne gab es natürlich nicht, es wurden jeweils nur einige wenige Dutzend Exemplare für den Autor gedruckt, die zum Teil nur vereinzelt in den Handel gelangt sind. Und Änderungen im Text und Neufassungen des Druckmasters kosten ja nur wenige Euro. Die Lyrikedition 2000 war von Heinz Ludwig Arnold von Anfang an als eine breiter angelegte Reihe gedacht, um mit der damals völlig neuen Books on Demand-Technik vergriffene Lyrik, die zum Kanon des 20. Jahrhunderts gehört, neu zu drucken und Gegenwartslyrik vorzustellen. So bahnbrechend neu die Möglichkeit ist, vergriffene Texte über das Books on Demand-Verfahren über die buchhändlerischen Kanäle wieder verfügbar zu machen, so eindeutig löst sich die durch den Druck fixierte Textgestalt und die über Jahrhunderte garantierte Sicherheit auf, einen Text unter Angabe der Quelle identifizierbar zu machen. Das so gedruckte Buch nähert sich als Quelle der flüchtigen Website. Deshalb gibt der Allitera Verlag grundsätzlich bei all seinen als Book on Demand gedruckten Büchern den Erscheinungsmonat und die Ausgabe an – analog zur datierten Website als Quelle. Bei fahrlässigem Gebrauch durch Verlage oder selbst verlegende Autoren wird der Philologe künftig in der Rolle des Mediävisten sein, der verschiedene Handschriften vor sich hat. Der Literaturwissenschaftler in Hamburg kann sich nicht sicher sein, dass das Buch, aus dem er zitiert, textidentisch ist mit der Ausgabe, die der Kollege in München sich gerade gekauft hat. Andererseits fallen Erratazettel und Supplementsbände weg. Dies kann man bei der Oskar Maria Graf-Ausgabe oder der Franz von Pocci-Werkausgabe im Allitera Verlag verfolgen. Spätere Erkenntnisse und Korrekturen lassen sich mit minimalen Kosten in einer neuen ›Auflage‹ integrieren. Da die Bücher elektronisch gelagert werden, muss bei einer korrigierten Edition keine Altauflage vernichtet werden.
Neue Formen der Vermittlung und Rezeption Konnte man Ende des 20. Jahrhunderts davon ausgehen, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen dem literarischen Kanon der Literaturwissenschaft, der Produktion von Verlagen und den Rezensenten, kurz ein definierbares Wechselspiel der einzelnen literarischen Institutionen im literarischen Leben der Zeit gab, so führen die neuen Publikationsmöglichkeiten immer mehr zu einer Verschiebung, zur publizistischen Anarchie. Wurde bisher der Kanon dessen, was im literarischen Leben der Gegenwart diskutiert und bewertet wurde, nicht unwesentlich bestimmt durch die Verfügbarkeit von Verlagsproduktionen, so könnte künftig alles verfügbar bleiben, was jemals in digitaler Form den Servern von Digitaldruckereien zugespielt wurde. Zu den 94.000 deutschsprachigen Neuerscheinungen (2008) und den über 1,2 Millionen lieferbaren deutschsprachigen Büchern könnten wir künftig eine nahezu unbe-
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Wolfram Göbel
herrschbare Flut von selbst verlegten Publikationen erhalten, deren Wirkung im Zweifelsfall sich nicht über den Bekanntenkreis der Autoren hinaus bewegt. Da es kein Imprimatur im klassischen Sinne mehr gibt, eine Freigabe des verbindlichen endgültigen Textes, der dem Leser zur Diskussion gestellt wird, sondern ständige Änderungen durch den Autor möglich sind, wird es eine Fixierung des Textes als Voraussetzung für philologische Betrachtung von Texten in diesem Bereich nur noch bedingt geben.
Der Paradigmenwechsel innerhalb der literarischen Produktion Viele der neuen Dienstleister suggerieren, dass die Produktion von Büchern ein Kinderspiel ist. Ob es Easy-Print ist oder »BoD easyBook, im Handumdrehen zum eigenen Buch«10 oder das Ruckzuckbuch des Verlagshauses Monsenstein11 oder das schon genannte BoD-Fun: Nicht nur Bücher schreiben kann jeder, gestalten und ausstatten kann sie auch jeder selbst. Je nach Anspruch darf die Produktion auch ein bisschen teurer sein, aber das Büchermachen geht auch kostenlos, wie die Webseite von tredition verspricht. Umschlaggestaltung, kein Problem, jeder sucht sich die passende Vorlage aus. Typografie auch kein Problem; wenn es nicht die eigene Worddatei sein soll, kann man sich aus mehreren Vorlagen das Passende heraussuchen. Das über Jahrhunderte gewachsene hochkomplizierte Handwerk des Buchgestaltens wird nun von Laien übernommen. Die neuen Dienstleister treten an die Stelle der Verlage. War der Verlag bisher der Mittler zwischen Autor und Leser, der die Produktion des Autos honorierte und für die maximale Verbreitung sorgte, wird nun der Autor im doppelten Sinne Literaturproduzent. Er finanziert und entscheidet auch über die möglichen Marketingmaßnahmen, um sein Buch in die Öffentlichkeit zu bringen, er kauft bei den neuen Dienstleistern wie in einem Baukastensystem alle Leistungen, die er haben möchte. Hat bisher der Leser durch den Kauf der Bücher einen Maßstab für den kommerziellen Erfolg und die Verbreitung des Autors gesetzt, entfällt dieser Maßstab nun. Falsch wäre es allerdings zu vermuten, dass die selbst verlegten Bücher per se erfolglos sind. Zwischen Büchern von Hobbyschriftstellern befinden sich Entdeckungen. Im Bereich des Fachbuchs, vor allem im Bereich der Computerliteratur, häufiger Bestseller. Neben den selbst gemachten gibt es die professionell betreuten Bücher, und der eine oder andere Autor schafft auch schon mal den Sprung vom Selbstverlag zum Publikumsverlag. Erfolgreiche Bücher bei BoD erreichen durchaus Absatzzahlen zwischen 5.000 und 15.000 Exemplaren. Das erfolgreichste Buch bei Books on Demand und zugleich erster BoD-Bestseller ist Lucy mit c von Markof H. Niemz, einem Medizintechniker und Physiker an der Universität Heidelberg, über den Grenzbereich zwischen Theologie, Phi-
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http://www.bod.de/index.html, 21. 2. 2010. http://www.ruckzuckbuch.de, 20. 1. 2010; Website des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster.
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losophie, Medizin, Naturwissenschaft und Psychologie: Von diesem Titel wurden seit 2005 über 20.000 Exemplare verkauft.12 Mit der BoD-Edition, die von Vito von Eichborn herausgegeben wird, ist sogar ein Verlagskonzept entstanden. Denn Eichborn wählt aus den selbst verlegten Büchern ihm geeignet erscheinende Titel aus, die in einer neuen Ausstattung als Buchreihe erkennbar der Presse und dem Buchhandel angeboten werden. Außer der Tatsache, dass die Autoren an der Finanzierung ihrer Bücher beteiligt sind, unterscheidet sich dieses Konzept nicht mehr von der klassischen Institution des Verlages. Waren bis Ende des 20. Jahrhunderts der Verlag, sein Profil oder die Reihe ein Auswahlkriterium für den Kauf eines Buches, erweckte der Verlag mit seinem Namen eine bestimmte Erwartungshaltung, die erfüllt wurde, verschwinden diese Orientierungspunkte auf dem Buchmarkt zunehmend durch die neuen Dienstleister. Gibt man einen Suchbegriff bei Amazon ein, so kann man allenfalls durch den Hinweis »Book on Demand« oder das versteckte Signal »gewöhnlich versandfertig in 5 bis 7 Tagen« erkennen, dass es sich um ein auf Bestellung gedrucktes Buch handelt. Eine Bewertung ist aufgrund der bibliografischen Titelaufnahme für den Leser kaum möglich. Hat sich bisher ein Kanon aufgrund von literarischen Institutionen bilden können, so entsteht eine neue Literaturproduktion außerhalb dieser Institutionen, die heute noch völlig chaotisch erscheint. Diese Publikationen werden nicht gesteuert durch Rezeption und Nachfrage, sondern durch die Autoren selbst. Welche Orientierungskriterien sich künftig bilden, ist noch völlig offen.
Durch neue Technologien entstehen neue künstlerische Formen Wie alle Technologien, die das literarische Leben beeinflussen, ist die Books on Demand-Produktion janusköpfig. Sie kann kanonisierte Texte dauerhaft verfügbar halten, sie kann in Laienhand zur Auflösung der gewachsenen Buchkultur beitragen. Aber auch neue Publikationsformen entstehen mithilfe von Books on Demand und ganz sicher auch durch die künftigen eBooks. Experimente in Schreibwerkstätten wie bei dem genannten Kreativitätstraining des Münchener Psychologen Jürgen vom Scheidt in Buchform, gedruckte Sammlungen von Blogs, gesammelte Slam Poetry zwischen Buchdeckeln, alles ist möglich und kann zur neuen Kanonbildung einer veränderten Literatur beitragen.
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Auskunft der Presseabteilung von BoD am 10. 8. 2010, s. a. http://bod-newsroom.com/2006/05/ books-on-demand-erstmals-auf-der-%E2%80%9Egong%E2%80%9C-bestsellerliste, 10. 8. 2010.
III. Formen der Literaturvermittlung in der Wissensgesellschaft
David-Christopher Assmann
Extrinsisch oder was? Bodo Kirchhoff und Andreas Maier auf dem Markt der Aufmerksamkeit
»Wie weit darf meine Unterwerfung unter die Spielregeln der Öffentlichkeit gehen, ohne jene Idee zu zerstören, die meine Kunst leitet?«1 Nach Norbert Niemann ist das einmal mehr die Frage, die sich all diejenigen Autorinnen und Autoren stellen, die sich im Literaturbetrieb um 2000 positionieren wollen. Denn im dort ausgetragenen Kampf um Aufmerksamkeit zähle immer weniger das, was man wohl grob als ›Literarizität‹2 der Literatur bezeichnet. Im Zentrum des Betriebs stünden nicht Erörterungen von ästhetischen Fragen oder Auseinandersetzungen mit der spezifischen Qualität von literarischen Texten. Die Spielregeln der Öffentlichkeit forderten und beförderten vielmehr all jene Formen der institutionell und massenmedial ausgerichteten Vermittlung von Literatur, die auf »immer penetranter werdenden Werbekampagnen vieler Verlage [...] [und; D. A.] abstoßend eitlen Selbstinszenierungen mancher Autoren«3 basierten. Bereits mit ihrem Erscheinen setzten sich Bücher immer auch der Gefahr aus, sofort wieder im Rauschen der medialen Reizflut zu verschwinden. Könnten sich Autoren diesem »Lärm der Beachtungsindustrie«4 mithin notgedrungen nicht entziehen, bleibe dies nicht ohne Folgen: für die Autoren selbst, die, um als Schriftsteller Anerkennung zu finden, ihr »Unglück als Menschen [...] besiegeln« müssten,5 sowie für die literarischen Texte, deren »Substanz«6 angegriffen werde. Mit der Beobachtung, dass »heute strategische Überlegungen, wie man Büchern Aufmerksamkeit verschafft, immer mehr Platz im Denken eines Autors«7 einnähmen, dass die besondere Kunst also gerade darin liege, überhaupt irgendwie, gleichsam um jeden Preis, Aufmerksamkeit zu erregen, knüpft Niemann an ein Gerücht an, das nicht nur, aber auch im Hinblick auf deutschsprachige Literatur der Jahrtausendwende in Betrieb und Literatur geradezu wuchert. Unterliegt das literarische Feld seit den 1990er Jahren einem grundlegenden Wandel von Wertungsroutinen durch sozial-, ökonomieund medienstrukturelle Größen, für den etwa der gestiegene Stellenwert des Marketings,
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Norbert Niemann: Strategien der Aufmerksamkeit. In: Neue Rundschau 113, H. 1 (2002), S. 156–165, hier S. 157f. Siehe zum Begriff der ›Literarizität‹ die Darstellung der literaturtheoretischen Debatte bei Simone Winko: Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion. In: S. W. u. a. (Hrsg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin, New York 2009, S. 374–396. Norbert Niemann (Anm. 1), S. 156. Ebd., S. 157. Ebd. Ebd., S. 159. Ebd., S. 157.
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die beschleunigte Titelproduktion oder die steigenden Profitvorgaben der mittlerweile oftmals als Großkonzerne zusammengeschlossenen Verlage stehen,8 seien es genau diese veränderten Vermittlungsbedingungen von Literatur, die dafür verantwortlich zeichneten, dass deutschsprachige Literatur seit den 1990er offenbar nicht mehr das sein darf, was sie sein möchte: nämlich ästhetisch geformte Kunst. So abgeklärt das Gerücht vom ›Verderben‹ der Literatur im Literaturbetrieb9 nun aber auch daher kommen mag, stellt sich doch die Frage, ob man das vermeintlich oder tatsächlich ›verdorbene‹ Resultat solcher Strategien der Aufmerksamkeit, wie sie Norbert Niemann als Unterwerfungsgeste unter die Spielregeln des Betriebs versteht, nicht auch auf das literarische Programm zurückführen könnte, das ein Autor, ein Text für sich entwirft. Im Folgenden soll, nach grundsätzlichen Überlegungen zum Status von Paratexten im Literaturbetrieb, anhand von Bodo Kirchhoffs Erinnerungen an meinen Porsche und Andreas Maiers Sanssouci eine Antwort auf diese Frage erprobt werden. Mit den beiden Romanen liegen nämlich zwei literarische Texte vor, die, so die These, auf je unterschiedliche Weise den eigentlichen Text und die eigentlich bloß sekundären Paratexte in ein spezifisches Verhältnis zueinander setzen, um so die aufmerksamkeitsorientierte Form ihrer Vermittlungsbedingungen gleichermaßen mitzuvollziehen wie mitzureflektieren. Dass Kirchhoff und Maier durch das Beiwerk, das ihre Romane rahmt und vermittelt, Aufmerksamkeit zukommt, sie also das Medienspiel immer auch mitspielen, steht dabei außer Frage. Beobachtet man die entsprechenden Paratexte jenseits ihrer kommunikativen Funktion indes im Hinblick auf den eigentlichen Text, kann man sie auch anders – als Umsetzung eines Schreibverfahrens – lesen.
1. Paratexte als Literaturvermittler Die Strategien der Aufmerksamkeit, wie sie Norbert Niemann für eine Ausgabe der Neuen Rundschau in der Terminologie Georg Francks10 beschreibt, verweisen auf Prozesse der Literaturvermittlung. Diese wiederum leben v. a. von jenem Beiwerk, durch das Gérard Genette zufolge »ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt«.11 Paratexte verlängern, begrenzen und
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Siehe dazu allgemein Heinz Ludwig Arnold / Matthias Beilein (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Aufl. Neufassung. München 2009. Siehe zur Metapher des ›Verderbens‹ der Literatur in diesem Zusammenhang Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? Vorbemerkung zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14. Der Begriff ›Literaturbetrieb‹ ist dabei letztlich unterbestimmt und beschreibt das eher »diffuse[] Phänomen« von Akteuren und Organisationen, die an Literaturvermittlungsstrukturen und -prozessen beteiligt sind (Bodo Plachta: Literaturbetrieb. Paderborn 2008, S. 9). Siehe daneben allgemein auch: Erhard Schütz u. a. (Hrsg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005. Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. 3. Aufl. München, Wien 2002. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 3. Aufl. Frankfurt / M. 2008, S. 10.
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markieren als ›zusätzliche‹ Texte den ›eigentlichen‹ Text, stehen in diesem Sinne sowohl ›bei‹ als auch ›jenseits‹ dessen. Sie fungieren als Organisatoren des Literaturbetriebs, indem sie, jeweils die Schnittstelle zwischen Text und Kommunikation angebend, Texte mit einer Adresse versehen und somit im literarischen Feld anschlussfähig machen.12 In dieser Hinsicht ist jede literarische Neuerscheinung, jeder literarische Text auf peri- und epitextuelle Rahmung angewiesen, weil durch diese nicht nur dem Leser eine bestimmte Rezeptionshaltung und -erwartung nahegelegt wird, sondern der kommunikative Gebrauch des Textes, seine Sichtbarkeit – zum Beispiel als Neuerscheinung – überhaupt erst ermöglicht wird. Texte suchen gleichsam mittels ihrer Paratexte kommunikativen Anschluss im Literaturbetrieb. Versteht man die ›nachbürgerliche Wissensgesellschaft‹ nun als wesentlich durch ihr »Finanzwesen der Beachtlichkeit«13 geprägt, ist unmittelbar einsichtig, dass die erfolgreiche Suche eines Textes nach kommunikativen Anschlüssen v. a. davon abhängt, ob ein Buch von den Massenmedien als Ereignis beobachtet wird. Die professionelle Inszenierung von Paratexten hat genau deshalb stark an Bedeutung gewonnen. So lassen sich etwa Schemata unterscheiden, die in der Literaturvermittlung gezielt so eingesetzt werden, die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen literarischen Text zu lenken, also kommunikative Anschlussfähigkeit in den Massenmedien wahrscheinlicher zu machen. Paratextuelle Vermittlungsmuster, für die Schlagworte wie Skandalisierung, Personalisierung, Visualisierung oder Etikettierung stehen, sind demzufolge »schon lange nicht mehr nur Beiwerk, geschweige denn bloßer Zufall«,14 sondern für die öffentliche Sichtbarkeit eines Buches ganz entscheidend. Die Notwendigkeit – und dann auch der Erfolg – solcher Inszenierungsschemata ergibt sich demnach daraus, dass die literarischen Akteure sich dem ›Inszenierungsdruck‹ des Literaturbetriebs mehr oder weniger notgedrungen fügen müssen, um in Konkurrenz zur Medienwelt überhaupt gesehen und gehört zu werden. Und genau deshalb setzten sie weniger das Werk, als vielmehr das Beiwerk in Szene, inszenierten also etwa den Autor als Person, arbeiteten mit vereinfachenden, marktgängigen Etikettierungen oder betonten das tatsächlich oder vermeintlich medientauglichere Visuelle gegenüber der Literalität (und Literarizität) eines literarischen Ereignisses. Wenn Buchcover visuell besonders ungewöhnlich gestaltet sind, Klappentexte skandalöse Einblicke ›hinter die Kulissen‹ versprechen oder literaturjournalistische Formate auf authentische oder voyeuristische Homestories über das wirklich wahre Leben setzen, so geschieht dies demzufolge »immer öfter als gezielte Konfektion einer Vermittlung und Vermarktung von Literatur«.15
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Vgl. allgemein Georg Stanitzek: Texte, Paratexte, Medien: Einleitung. In:. Klaus Kreimeier / Georg Stanitzek (Hrsg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin 2004, S. 3–19, hier S. 11–12. Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien 2005, S. 163. Marc Reichwein: Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Stefan Neuhaus / Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 89–99, hier S. 97. Ebd.
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Die Beobachtung, dass Paratexte im Literaturbetrieb der Jahrtausendwende gemäß ihrer Funktion als Kommunikationsorganisatoren mehr denn je der Erzeugung von Aufmerksamkeit und Werbewirksamkeit dienen, dass ihre Form sich dementsprechend an massenmedialen Anforderungen ausrichtet und dass Literaturvermittlung damit insgesamt »in ihrer inszenatorischen Praxis der allgemeinen Professionalisierung der Kulturvermittlung folgt«,16 könne indes nicht, so die dabei unterstellte Annahme, ohne Folgen für die eigentlichen Texte bleiben. So würden etwa Labels wie das des ›literarischen Fräuleinwunders‹ den Autorinnen keineswegs gerecht, weil dieses Marketingformat den Lesern eine, folgt man Antje Rávic Strubel, dem eigentlichen Text ›unangemessene‹ Rezeptionshaltung nahelege – denn: »Die Farbe, der Klappentext, das Motiv auf dem Cover weichen unweigerlich auf die Texte durch.«17 Die ›verdorbenen‹ Paratexte der Aufmerksamkeitsökonomie stehen also gerade nicht »im Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre«,18 sondern verhindern diese geradezu. Knüpft Rávic Strubel mit dem Bild des ›Durchweichens‹ an die bereits bei Genette angelegte Metapher der ›durchlässigen Membran‹19 an, um ihrem Ärger über die unangebrachte paratextuelle »Mädchenschablone«20 mit aller wünschenswerten Bildlichkeit Ausdruck zu verleihen, geht der ungarische Essayist László Földényi in derselben Ausgabe des Kursbuchs noch einen Schritt weiter. Er beobachtet, wie die Aufmerksamkeitsorientierung der Vermittlung von Literatur gleichsam immer auch in die eigentlichen Texte »einprogrammiert«21 werde. So seien es nämlich die über den paratextuellen Rahmen vermittelten, letztlich nur an »Mittelmäßigkeit«22 interessierten Betriebsbedingungen um 2000, die Umfang, Ton oder Thematik der literarischen Texte bestimmten und diese damit als »Bestandteile eines riesigen, gut geölten Apparats«23 auswiesen. Schreiben sich die sozialstrukturellen Betriebsbedingungen also gleichsam in die eigentlichen Texte ein, ist es, so lässt sich schließen, die ›Durchlässigkeit‹ der paratextuellen Membran, an der sich die mitunter fatale Abhängigkeit des eigentlichen Textes von kommunikativen Anschlüssen zeigt. Von paratextuellem »Begleitschutz«,24 wie ihn Genette sich vorstellt, kann im Literaturbetrieb um 2000 demnach keine Rede mehr sein – ganz im Gegenteil. So plausibel diese Selbstbeschreibungen literarischer Akteure indes auch scheinen, einer literaturtheoretischen Annahme zum grundsätzlichen Status von Paratexten stehen sie zumindest teilweise entgegen: Paratexte sind nämlich keinesfalls fest umrissene
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Ebd. Antje Rávic Strubel: Mädchen in Betriebnahme. Ein Abgesang in drei Aufzügen. In: Kursbuch 153 (2003), S. 9–19, hier S. 15. Gérard Genette (Anm. 11), S. 10. Genette zitiert in diesem Zusammenhang J. Hillis Miller, dem es um die Bestimmung der Vorsilbe ›para‹ geht. Siehe ebd., S. 9, Fn. 2. Antje Rávic Strubel (Anm. 17), S. 15. László F. Földényi: Der Autor als Anführungszeichen. Überschattete Liebe zur deutschen Literatur. In: Kursbuch 153 (2003), S. 134–142, hier S. 137. Ebd. Ebd. Gérard Genette (Anm. 11), S. 9.
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Konstrukte, die einen Text eindeutig markieren und sich von diesem ebenso eindeutig abgrenzen. Bereits Genette selbst bemerkt, dass der Paratext ein »unbestimmte[r] Randbereich«25 ist, der einen Bereich »zwischen Text und Außer-Text«26 aufmacht. Geradezu konstitutiv für die Beobachtung von Paratexten scheint mithin immer auch die Frage zu sein, ob ein paratextuelles, ›zusätzliches‹ Element tatsächlich lediglich ›hinzu kommt‹ oder nicht eigentlich noch zum Text gehört, den es »weiterführt, verzweigt und moduliert«.27 Das Beiwerk eines Textes ist in diesem Sinne eher eine unbestimmte »Zwischenzone«28 oder vermittelnde »Übergangszone«29 zwischen Text und Nicht-Text, zwischen fiktiver und realer Welt. Weil die Unterscheidung von eigentlichem Text und zusätzlichem Paratext selten trennscharf und oftmals nur pragmatisch getroffen werden kann, zeichnen sich Paratexte folglich durch ein Ablöseproblem aus. Als literaturvermittelnde ›Schwellen‹30 gehören sie einerseits nicht zum eigentlichen Text, sondern sind lediglich vermittelndes, Aufmerksamkeit erregendes Beiwerk, das in dieser Hinsicht im Einzelfall immer auch durch funktionale Äquivalente ausgetauscht werden kann. Andererseits stellt sich die Frage, ob ein bestimmtes paratextuelles Element ohne Weiteres vom eigentlichen Text abgelöst und auf seine kommunikative Vermittlungsfunktion reduziert werden kann, ohne die Form des eigentlichen literarischen Textes zu verändern. Dieses Ablöseproblem, mit dem die literaturtheoretische Beobachtung von Paratexten grundsätzlich konfrontiert ist, lässt sich nun auch oder gerade auf den Status von Vermittlungsformen im Literaturbetrieb unter Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie applizieren. Das vermittelnde Beiwerk eines Textes ist der Raum schlechthin, in dem die Spielregeln der Öffentlichkeit und die Literarizität des eigentlichen Textes aufeinander treffen. Die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Motivation von Paratexten31 setzt hier ein und operationalisiert das Problem der Ablösung, indem sie den unbestimmten Status von Paratexten ernst nimmt und mit der Metapher des ›Durchweichens‹ koppelt. Legt man diese Unterscheidung zugrunde, zeigt sich mithin zunächst, dass das Bild von der ›durchlässigen‹ Membran, wie es etwa bei Rávic Strubel und Földényi mit Blick auf den deutschen Literaturbetrieb um 2000 zu finden ist,
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Ebd., S. 313. Ebd., S. 388. Ebd., S. 313. Rolf Parr: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Achim Geisenhanslüke / Georg Mein (Hrsg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, S. 11–63, hier S. 25. Uwe Wirth: Paratext und Text als Übergangszone. In: Wolfgang Hallet / Birgit Neumann (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 167–177, hier S. 175. Vgl. Gérard Genette (Anm. 11), S. 10. In Anlehnung an Till Dembeck: Texte rahmen. Grenzregionen literarischer Werke im 18. Jahrhundert (Gottsched, Wieland, Moritz, Jean Paul). Berlin, New York 2007, S. 34–46. Die Unterscheidung geht zurück auf Derridas Auseinandersetzung mit dem Parergon bei Kant. Siehe Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Hrsg. von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Michael Wetzel. Wien 1992, insbesondere S. 84.
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asymmetrisch verwendet wird. Die paratextuelle Übergangszone scheint nämlich in der aufmerksamkeitsorientierten Literaturvermittlung, um im Bild zu bleiben, nur in eine Richtung ›durchlässig‹ zu sein: von den veränderten sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, durch den Paratext, in den eigentlichen, schließlich ›durchgeweichten‹ und damit ›verdorbenen‹ Text. Die Suche nach kommunikativer Anschlussfähigkeit gerät gleichsam zur »Schleuse«32 für das ›Durchweichen‹ der kommunikativen Bedingungen in den eigentlichen Text. Doch mit dieser schlicht vorausgesetzten Annahme wird die Form des Paratextes verkannt, die gerade auch in dessen Unbestimmtheit liegt. Literaturtheoretisch gesehen ist die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Motivation des Paratextes nämlich symmetrisch gebaut, gibt also keine Präferenz für die eine oder andere Seite oder Richtung vor. So kann etwa die Form des Buchcovers, von Klappentexten, Interviews und Homestories, aber auch von Rezensionen einerseits im Hinblick auf Erwartungen im Literaturbetrieb beobachtet werden, mithin auf Strukturen, die eine gewisse Unabhängigkeit von den eigentlichen Textstrukturen besitzen. Dieser Fall lässt sich als extrinsische Motivation des Paratextes verstehen. Gleichzeitig ergibt sich aber andererseits immer auch (zumindest prinzipiell) die Möglichkeit, all diese vermittelnden und vermutlich (oder auch nicht) marketingstrategisch inszenierten paratextuellen Elemente auf die Strukturen des eigentlichen Textes zu beziehen. Werden Paratexte aus dem ästhetischen Programm hergeleitet, das ein Autor, ein Text für sich entwirft, lässt sich in diesem Sinne von intrinsischer Motivation von Paratexten sprechen. Wie das Verhältnis von extrinsischer und intrinsischer Motivation des Paratextes als Medium für die Formbildung ästhetischer Programme in der Literatur um 2000 genutzt werden kann, soll im Folgenden für Bodo Kirchhoff und Andreas Maier skizziert und konkretisiert werden. In beiden Fällen geht es dabei um die Frage, wie vermittelnde Paratexte der Aufmerksamkeitsökonomie in die Umsetzung des Programms eines literarischen Textes einbezogen werden und daher von ihm aus intrinsisch motiviert sind.
2. Paratexte als Legenden – Bodo Kirchhoffs Erinnerungen an meinen Porsche Im Kielwasser des Skandals um Martin Walsers Tod eines Kritikers33 ist Bodo Kirchhoff einem größeren Publikum v. a. durch seinen Schundroman34 bekannt geworden. Thematisiert Tod eines Kritikers die »Abhängigkeit des Schriftstellers vom Literaturbetrieb, von der medialen Berichterstattung und vom Urteil eines allmächtigen Großkritikers«,35 bedient sich der Text zur Charakterisierung der Figur des Literaturkritikers André EhrlKönig antisemitischer Klischees, die Teile des deutschen Feuilletons mit Blick auf das
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Gérard Genette (Anm. 11), S. 388. Martin Walser: Tod eines Kritikers. 2. Aufl. Frankfurt / M. 2002. Bodo Kirchhoff: Schundroman. Frankfurt / M. 2002. Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktionen und Dekonstruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Berlin 2010, S. 446.
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gespannte Verhältnis des Autors zu Marcel Reich-Ranicki als »Mordphantasie«36 lesen. Die dadurch erzeugte massenmediale Aufmerksamkeit versucht die Frankfurter Verlagsanstalt zu nutzen, indem sie das Erscheinen von Kirchhoffs Schundroman 2002 vorzieht, handelt doch auch Kirchhoffs Roman vom Tod eines Kritikers, der im Feuilleton ebenfalls als Reich-Ranicki erkannt wird.37 Nicht zuletzt wird kolportiert, dass nicht nur Walser sich als Opfer vernichtender Kritiken des Star-Kritikers fühlt, sondern auch Kirchhoff Reich-Ranicki insbesondere im Zusammenhang mit seinem Roman Parlando38 verunglimpfende Kritiken vorwirft.39 Die paratextuelle Vermittlung von Kirchhoffs Erinnerungen an meinen Porsche knüpft 2009 am Publikumserfolg dieser ›Satire auf den Literaturbetrieb‹40 an, wenn der Roman auf dem Buchrücken und in Werbeanzeigen als Kirchhoffs »neue[r] Schundroman« (Umschlagrücken) vorgestellt wird. Verspricht der Buchumschlag zudem einen »brandaktuell[en] – und doch zeitlos[en]« Roman, verknüpft die peritextuelle Vermittlung den ›Metaschund‹,41 für den Kirchhoff als Autor steht, mit einem Diskurs, der Anfang 2009 die Aufmerksamkeit der Massenmedien bestimmt. Umschlag und Covergestaltung nutzen das Thema der Wirtschafts- und Finanzkrise,42 um den Roman in einem medial bestellten Feld zu platzieren. Das schlicht, aber prägnant gestaltete Cover visualisiert mit dem Stabdiagramm ein Symbol der Finanzwirtschaft und spielt durch die Farbgestaltung (bunte Grafik vor weißem Hintergrund) auf das spielerische und infantile Moment der Finanzspekulation an. Die zum Erscheinen des Romans geschaltete Werbeanzeige füllt die Stäbe des Diagramms darüber hinaus mit Schlagworten wie ›Auspuffnummer‹, ›Goethe-Roman‹, ›Altkanzlerdoppelgänger‹ oder ›Schweineabtei-
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Frank Schirrmacher: Tod eines Kritikers. Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 5. 2002. Der Bezug zwischen Walser und Kirchhoff wird im Feuilleton immer wieder hergestellt. Siehe etwa Andreas Platthaus: Hätte er die Liebe nicht. Zufälle gibt’s, die gibt’s nicht: Bodo Kirchhoffs »Schundroman«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 6. 2002; Jens Jessen: »Walser TeK« gegen »Kirchhoff SR«. Neu auf dem Markt: Hassantrieb mit Kritikermord – Zwei überraschende Gruselmodelle namhafter Produzenten im Leistungsvergleich. In: Die Zeit vom 27. 6. 2002; Jeanette Stickler: Tödlicher Nasenstüber. Auch Bodo Kirchhoff lässt – wie Martin Walser – in seinem neuen »Schundroman« einen Kritiker töten, literarisch hat er aber mehr zu erzählen. In: Hamburger Abendblatt vom 9. 7. 2002. Bodo Kirchhoff: Parlando. Frankfurt / M. 2001. Folgt man Kirchhoff, lautet Reich-Ranickis stereotypes Urteil über ihn wie folgt: »›grandioser Erzähler, missratenes Buch‹: erster Lacher nach 30 Minuten Ulla-Hahn-Qual« (Letzte Schlacht vor dem Nachruhm. Bodo Kirchhoff über sein Verhältnis zu Martin Walser und eine verblüffende Parallel-Aktion. In: Der Spiegel vom 10. 6. 2002). So zumindest Christian van Treeck: Tod eines Autors. Houellebecq-Satire und Literaturbetrieb in Bodo Kirchhoffs Schundroman. In: Marcel Krings / Roman Luckscheiter (Hrsg.): Deutschfranzösische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Würzburg 2007, S. 239–256. Vgl. Oliver Jungen: Mea maxima pulpa. Bodo Kirchhoffs Schundroman. In: Gert Theile (Hrsg.): Das Schöne und das Triviale. München 2003, S. 211–232, hier S. 220. Völlig willkürlich ausgesucht und dennoch exemplarisch für das Frühjahr 2009 genannt sei hier etwa Reinhard Müller: Hat die Politik versagt oder gar der Bürger? Ursachenforschung zur Finanzkrise. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 1. 2009.
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lung‹ aus. Diese sind unter das Motto ›Zur Lage der Dinge‹ gestellt und bilden gleichsam von rechts nach links aufsteigend eine Klimax, die im Schlagwort ›Finanzkrise‹ kulminiert. Die Klimax findet sich auch im Klappentext wieder, der die Schlagworte narrativ miteinander verknüpft. Nicht zuletzt eignet sich der Titel des Romans darüber hinaus hervorragend dazu, ein vereinfachendes Etikett nicht nur zu bilden, sondern auch zu visualisieren: So zeigen etwa einige Rezensionen Bilder eines Porsches.43 Ausgehend von einer »fulminante[n] Buchpremiere«44 mit Autor und Stargast auf der Bühne der Hamburger Kammerspiele tritt Kirchhoff zudem in vier Fernsehsendungen auf,45 gibt u. a. dem Spiegel ein großes Interview und ermöglicht dem Journal Frankfurt ein relativ ausführliches Porträt. Darüber hinaus haben Hoffmann und Campe einen Buchtrailer produziert, dem der Autor seine Erzähler-Stimme leiht. Auch im eigentlichen Text sind die Medien allgegenwärtig. In der Kurklinik Waldhaus hat es der Ich-Erzähler und Investment-Banker Daniel Deserno mit allerhand »Prominentenleichen«46 zu tun, in deren Zentrum die junge Beststellerautorin Helen steht, die durch ihren »Hämorrhoidenrenner« (24) »breiteste Anerkennung« (24) erfahren hat. Der Roman zeichnet im Folgenden die Leiden des Ich-Erzählers nach, dessen ungehemmte Sex- und Geldvermehrung ein jähes Ende gefunden hat. Im Streit von seiner Freundin schwer an seinem »Porsche« (14) verletzt, findet sich der erfolgreiche Banker in der Kurklinik wieder, wo er in einer »Stunde des Grübelns« (28) über sein bisheriges Leben nicht nur nachdenkt, sondern dieses auch niederschreibt. Dabei fällt auf, dass der Ich-Erzähler immer wieder sein verschlüsselndes Erzählen unterstreicht und gewissermaßen dazu zwingt, die »einstigen Lichtgestalten« (33) als auf ›realen‹ Vorbildern basierend zu lesen. Der Text entnimmt massenmedialen Kontexten die Images von ›realen‹ öffentlichen Personen und verwendet diese für die Figurencharakterisierung der »Waldhauspatienten« (148).47 Und so lässt sich, folgt man den Feuilletons, natürlich immer irgendwie erahnen, »wen Kirchhoff [...] im Blick hat«.48 Denn auch wenn nicht alles »leicht zu dechiffrieren«49 sei, sei »[n]icht schwer zu erraten, wer die realen Vorbilder [der Prominentenleichen;
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Zum Beispiel Holger Liebs: Das Weichei und der Korkenzieher. Die Finanzkrise als Roman – eine Ejaculatio praecox: Bodo Kirchhoff schwelgt in »Erinnerungen an meinen Porsche«. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. 4. 2009. Hoffmann und Campe: Bodo Kirchhoff: Erinnerungen an meinen Porsche: Fulminante Premiere in Hamburg am Erscheinungstag (http://www.hoffmann-und-campe.de/go/bodo-kirchhoff-erinnerungen-an-meinen-porsche-fulminante-premiere-in-hamburg-am-erscheinungstag, 1. 8. 2010). Kirchhoff tritt 2009 in das blaue sofa, aspekte, Literatur im Foyer und Das philosophische Quartett auf. Bodo Kirchhoff: Erinnerungen an meinen Porsche. Roman. Hamburg 2009. Seitenzahlen daraus im Folgenden in runden Klammern im Text, hier S. 7. Siehe insbesondere die Figurencharakterisierungen auf den Seiten 56–57. Jeanette Stickler: Ohne Scham. Bodo Kirchhoff erinnert sich in »Erinnerungen an meinen Porsche« an genau diesen. In: Der Tagesspiegel vom 3. 3. 2009. Thomas Klingebiel: Tote Hose im Feuchtgebiet. Bodo Kirchhoffs unterhaltsamer Roman »Erinnerungen an meinen Porsche«. In: Neue Westfälische vom 21./22. 2. 2009.
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D. A.] sind«.50 Kirchhoffs Personal speise sich geradezu aus »hinlänglich bekannten, kaum fiktionalisierten Gestalten der bunten Seiten, VIP-Empfänge und TagesschauMeldungen«.51 Die Figur der »jungen Schwester Helen« (24) sei etwa unschwer als Verweis auf Charlotte Roche und deren Roman Feuchtgebiete52 zu erkennen. Die Deutsche Welle bestückt die erzählte fiktive Romanwelt schließlich gänzlich mit den ›realen‹ Personen der massenmedialen Öffentlichkeit Deutschlands. Demnach »treten etliche Promis in Bodo Kirchhoffs Porschebuch auf: die Literaturkritikerin Elke Heidenreich, die ehemalige Tagesthemen-Moderatorin Sabine Christiansen und ein gefeierter Autor, der einen Goetheroman geschrieben hat. Das könnte Martin Walser sein«.53 Recht betrachtet hält diese klare Referenzialisierung auf öffentliche Personen dem Text indes nur bedingt stand, denn die Unterscheidung zwischen den erzählten und den ›realen‹ Personen legt einen ›Blick hinter die Kulissen‹ frei, der sich bereits durch das Erzählen konstituiert. Der Text handelt nicht nur von den Prominenten und dem Leiden des Ich-Erzählers, sondern auch und gerade davon, wie jene in der und durch die Narration ver- und entschlüsselt werden. Das ist etwa auf der Ebene der Histoire der Fall, wenn die Mutter des Ich-Erzählers einige »Prominentenleichen erkannt und [...] schon die Namen aussprechen« (147) will. Die Warnung ihres Sohnes, bloß »keine Namen« (147) zu nennen, ist dabei auch das Prinzip des Ich-Erzählers selbst, der es nach eigener Aussage bei »Andeutungen« (20) belassen muss, um rechtlichen Auseinandersetzungen zu entgehen. So finden sich denn auch im Zusammenhang mit den prominenten Patienten häufig Varianten des Ausdrucks »wie ich ihn nenne« (zum Beispiel 20), mit denen der Ich-Erzähler markiert, dass er mit den von ihm verwendeten Charakterisierungen auf eine bekannte Person anspielt, ohne diese namentlich zu nennen. Kursivierungen dieser parodierenden Umschreibungen verweisen darüber hinaus auch im Schriftbild auf das verschlüsselnde Sprechen des Ich-Erzählers (zum Beispiel 57). Die dem Erzählen scheinbar vorgängigen ›realen‹ Personen konstituieren sich mithin in der Narration des Ich-Erzählers selbst, so dass die Unterscheidung zwischen erzählter und ›realer‹ Person gewissermaßen in die Fiktion hineingezogen wird. Der Text verwendet die für Schlüsselliteratur typische »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung«54 insofern als Medium für sein Erzählen. Genau diese Struktur inszeniert der Buchtrailer, den Hoffmann und Campe auf ihrer Verlags-Homepage und auf YouTube präsentieren, um für den Roman zu werben.55
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Michael Kluger: Noch ein »Schundroman«. Bodo Kirchhoff hat wieder einen »Schundroman« geschrieben. Diesmal heißt er »Erinnerungen an meinen Porsche«. In: Frankfurter Neue Presse vom 19. 2. 2009. Holger Liebs (Anm. 43). Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Roman. 16. Aufl. Köln 2008. Heide Soltau: Bodo Kirchhoff: Erinnerungen an meinen Porsche. In: Deutsche Welle (http:// www.dw-world.de/dw/article/0,,4061927,00.html, 1. 8. 2010). Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004, S. 7. Vgl. die Homepage von Hoffmann und Campe (http://www.hoffmann-und-campe.de/go/erinnerungen-an-meinen-porsche-–1, 1. 8. 2010). Anfang August 2010 verzeichnet der von der Gehrisch & Krack Filmproduktion produzierte Trailer auf dem YouTube-Kanal von Hoffmann und Campe
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Dabei kommen zunächst die konventionellen Mittel eines Filmtrailers zum Einsatz: Der Film fügt in einem Zusammenschnitt von etwa 90 Sekunden die vermeintlich spektakulärsten und aufwendigsten Ausschnitte des Romans zusammen und verdichtet auf diese Weise die Handlung des Romans zu einer komprimierten, vielversprechenden Narration. Die in rasanter Schnittfolge umgesetzte ›Literaturverfilmung‹ wird durch den Erzähler Bodo Kirchhoff ergänzt, der im Modus des Voice-Over das Geschehen kommentiert.56 Der Trailer setzt indes nicht, wie man vielleicht erwarten würde, die Figuren des Romans in Szene, ebenso wenig wird der Ich-Erzähler oder Bodo Kirchhoff als Autor dargestellt. Präsentiert werden vielmehr Schattenbilder von flachen Figuren, die durch dünne Stäbe von unten oder der Seite hinter einer beleuchteten Leinwand geführt werden. Der Trailer verfilmt den Roman als eine Art animiertes Schattentheater,57 das Silhouetten oder Schemen von Objekten zeigt – und gerade nicht die ›eigentlichen‹ Figuren des Romans. Dabei wird nicht nur der Blick hinter die Kulissen der Kurklinik als Kulissenspiel umgesetzt, sondern auch die Vermittlung des Romans selbst. Die letzte Sequenz inszeniert nämlich den Blick hinter die Leinwand und präsentiert dort Kirchhoffs Roman, der sich selbst als Schattenspiel, als verschlüsselndes Erzählen versteht. In diesem unbestimmten Bereich ›hinter den Kulissen‹ bewegt sich auch das Porträt des Journal Frankfurt. Unter dem Titel Trockenlegung eines Feuchtgebiets werden hier Bodo Kirchhoff, dessen Arbeit im Allgemeinen und der neueste Roman im Besonderen vorgestellt. Demzufolge sei in den Erinnerungen nicht alles ›ausgedacht‹, denn Kirchhoff habe an seinem Arbeitsplatz in Frankfurt »die Führungsetagen der Frankfurter Finanzwelt fast handgreiflich vor Augen«58 gehabt. Bodo Kirchhoff sitzt nämlich, bis auf die wenigen Stunden, die er zu Hause, bei seiner Familie, verbringt, in seiner Arbeitswohnung im neunten Stock eines kleinen Hochhauses am Sachsenhäuser Mainufer und blickt, beim Schreiben, durch die Glasfassade auf die Türme der deutschen Großbanken, die auf der anderen Seite des Mains äußerst imposant in den Himmel ragen. Der Blick ist atemberaubend.59
Das Porträt gibt gleichsam Einblicke hinter die Kulissen der Arbeit eines Autors; es weist Kirchhoff als Familienmensch und als hart arbeitenden Autor aus, und zeigt, wie und v. a. wo er schreibt: in einem geradezu ›atemberaubenden‹ Ambiente. Interessant wird es nun, wenn das Porträt feststellt, dass in »einem dieser Türme [...] einst [...] sein [Kirchhoffs; D. A.] Held, der Investmentbanker Daniel Deserno«60 gesessen habe.
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gut 1000 Aufrufe. Siehe http://www.youtube.com/watch?v=a5Mm1-Dd2aQ, 1. 8. 2010. Dort ist auch ein ›deftiger Trailer‹ zum Buch zu sehen – ein von Ole Jacobson gelesener Ausschnitt aus dem Roman (S. 105–106) –, den die Homepage des Verlags nicht zur Verfügung stellt. Siehe http://www.youtube.com/watch?v=czRpQwgW-kg&feature=related, 1. 8. 2010. Vgl. allgemein zum Filmtrailer: Art. Trailer. In: Thomas Koebner (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart 2002, S. 624. Vgl. Art. Shadow-Puppet Theatre. In: Dennis Kennedy (Hrsg.): The Oxford Encyclopedia of Theatre & Performance. Bd. 2. Oxford, New York 2003, S. 1225. Martin Lüdke: Trockenlegung eines Feuchtgebiets. In: Journal Frankfurt, H. 5 (2009). Ebd. Ebd.
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Interessant ist diese Passage nicht nur deshalb, weil durch sie Ansätze einer literarischen Produktivitäts- oder Inspirationstheorie metaphorisch vorgestellt werden: Kirchhoff bildet demnach nahezu mimetisch die Realität ab (›und blickt, beim Schreiben, durch die Glasfassade auf die Türme‹). Interessant ist sie auch deshalb, weil in diesem Bild die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion ganz erheblich irritiert wird. Denn hat der Ich-Erzähler vor kurzem noch auf der ›anderen Seite des Mains‹, »in Sichtweite des Autors«61 gesessen, tritt er im nächsten Moment Kirchhoff gleichsam gegenüber: und zwar auf vier Fotos, die das Porträt visuell unterstützen. Aufgenommen im Frankfurter Bankenviertel ist auf diesen jeweils Bodo Kirchhoff zu sehen – vor einem Kamin im Rollstuhl sitzend, durch das Bankenviertel gehend, schließlich (vermutlich) neben Ich-Erzähler und Investment-Banker Daniel Deserno und dessen Porsche stehend und einen Kaffee trinkend. Dieses Spiel mit Analogie und Differenz von Autor und IchErzähler in einem unbestimmten Bereich zwischen Realität und Fiktion fi ndet sich auch im Porträt der Sendung aspekte (18. 3. 2009). Neben der Visualisierung von Romanfiguren setzt dieses den Autor Kirchhoff ebenfalls in Szene. Bemerkenswert ist dabei, dass die Interview-Sequenzen in einem Auto (einem Porsche?) geführt werden, das durch das Frankfurter Bankenviertel fährt – mit Bodo Kirchhoff am Steuer. Auch hier dringt Autor Kirchhoff also gewissermaßen in die Fiktion der erzählten Welt ein. In dieser erzählten Welt des Romans tritt gegen Ende ein »ganz besonderer Autor« (148) auf, um in der Kurklinik aus seinem neuen, natürlich ebenfalls mit »Anspielungen« (183) durchsetzten Roman zu lesen: Sind wirkliche Frauen natürliche Frauen? Was ist natürliche Sexualität? Ja, was ist überhaupt natürlich? Und die Antworten auf diese Frage, sagte Humbert, lägen in den Figuren des Romans: der Autor habe mit Amalia eine wirkliche Frau gezeigt, natürlich und zugleich ganz Sprache [...]. (198)
Literaturkritiker Dr. Humbert stellt mit diesen Worten den Star-Autor Truchseß und dessen neuen Goethe-Roman vor. Wenn er dabei die »zentralen Fragen des Romans« (198) aufwirft, dann verweist dies indes nicht nur auf Martin Walser und dessen Roman Ein liebender Mann.62 Die Anspielung auf einen der wohl noch immer medial präsentesten Autoren des deutschen Literaturbetriebs wird auch und gerade intertextuell mit zentralen Motiven des Schreibens Bodo Kirchhoffs verschränkt: Sexualität und Sprache. Die poetologische Ebene des Textes wird immer wieder auf unterschiedliche Weise präsent gemacht: durch sprachtheoretische Reflexionen (vgl. 91–92, 222–223), durch die leitmotivisch eingesetzte Frage, was gute Literatur, gutes Erzählen (vgl. zum Beispiel 220) und literarisches Schreiben inspiriere (vgl. 50, 171), und durch intertextuelle Verweise auf literarische und philosophische Texte.63 Der Hinweis des Literaturkritikers schließlich,
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Ebd. Martin Walser: Ein liebender Mann. Reinbek bei Hamburg 2008. So tritt etwa aus dem Schundroman Vanilla Campus auf (vgl. 61). Neben Anspielungen auf Robert Spaemann (vgl. 16), Goethe (vgl. 17), Nietzsche (vgl. 177f.) und Rilke (vgl. 185) wird ein auch in Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesungen wichtiger kurzer, Sexualität thematisierender Text von Marguerite Duras immer wieder genannt (vgl. 75). Siehe Marguerite Duras: Der Mann
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der Dichter erschaffe durch seine Werke »Legenden um den eigenen überempfindlichen Körper« (198), ist dabei nur die letzte offensichtliche Markierung eben dieser poetologischen Rahmung des Erzählens. Folgt man Kirchhoffs Frankfurter Poetikvorlesungen Legenden um den eigenen Körper, ist für die schriftstellerische Identität eine Form von Selbstbeschreibung und -erschaffung konstitutiv, die sich nur auf der Grundlage von Legendenbildung (um den eigenen Körper) einstellt. Solche Legenden haben als sprachliche Konstrukte die Funktion einer selbsterschaffenden und befreienden Identität. Wichtig ist in diesem Zusammenhang indes, dass die »Veränderung des äußerlichen Scheins«64 durch Literatur den ›Enttarnungen‹ der Medien entgegensteht. So würden mediale Auftritte Kirchhoff »auf genau den Körper zurückwerfen, von dem mich meine Arbeit, das Legendenbilden um den eigenen Körper, ja entlastet.«65 Jungautorin Helen, die für den Ich-Erzähler »keine Helen, sondern eine Helene« (46), mehr noch: Wilhelm Buschs fromme Helene ist,66 teilt genau dieses Schicksal. Sie ist insofern auf ihren Körper verwiesen, als der Ich-Erzähler sich zu denjenigen zählt, die »alles über ihren Hintern wussten« (46). Analog zum Vorgänger Schundroman lässt sich somit auch für die Erinnerungen konstatieren, dass der »Suche nach Identität, Authentizität und Originalität [...] ein Medienmarkt entgegen[arbeitet], der auf einer Ästhetik der Inszenierung beruht.«67 Die medialen Vermittlungsstrategien ihres Romans haben Helen auf ihren Körper reduziert. So wie die prominenten Patienten insgesamt eine »schillernde Ansammlung, schillernd wie altes Fleisch« (21), sind, so weist sie darauf hin, dass sie aus »Fleisch und Blut« (63) sei. Infolgedessen ist die Autorin vom »Verkaufserfolg« (24) ihres skandalösen Romans so »verstört und erdrückt« (47), dass sie mit »Depressionen« (118) zu kämpfen hat.
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im Flur. Deutsch von Elmar Tophoven. Berlin 1982. Darüber hinaus trägt Literaturkritiker Dr. Humbert den Namen des Ich-Erzählers Humbert Humbert aus Vladimir Nabokovs skandalösem, weil Pädophilie thematisierenden Roman Lolita. Vgl. Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel u. a. In: V. N.: Gesammelte Werke. Bd. 8. Hrsg. von Dieter E. Zimmer. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1998. Siehe dazu Markus Gasser: Kindesmissbrauch und Plagiatsverdacht. Der doppelte Skandal um Vladimir Nabokovs »Lolita«. In: Stefan Neuhaus / Johann Holzner (Anm. 14), S. 368–377. Torsten Pätzold: Textstrukturen und narrative Welten. Narratologische Untersuchungen zur Multiperspektivität am Beispiel von Bodo Kirchhoffs Infanta und Helmut Kraussers Melodien. Frankfurt / M. u. a. 2000, S. 161. Bodo Kirchhoff: Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt / M. 1995, S. 114. Vgl. Wilhelm Busch: Die fromme Helene. Hrsg. von Friedrich Bohne. Zürich 1974. Neben dem Verweis auf die Schöne Helena der griechischen Mythologie lässt sich die Umbenennung in Helene auch wiederum als intratextueller Verweis auf die gleichnamige Figur in Kirchhoffs Schundroman lesen. Andrea Bartl: Erstochen, erschlagen, verleumdet. Über den Umgang mit Rezensenten in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – am Beispiel von Martin Walsers »Tod eines Kritikers«, Bodo Kirchhoffs »Schundroman« und Franzobels »Shooting Star«. In: Weimarer Beiträge 50 (2004), H. 4, S. 485–514, hier S. 497.
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Mit diesen Anspielungen scheint der Text nun vollends als Kommentar auf seine eigenen Vermittlungsbedingungen sichtbar zu werden. Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete, auf die Besprechungen des Romans in diesem Zusammenhang durchgehend explizit hinweisen, kann geradezu als Paradebeispiel für die aufmerksamkeitsorientierte Kombination von Vermittlungsschemata wie Personalisierung, Etikettierung und Skandalisierung gelesen werden.68 Erinnerungen an meinen Porsche bedient sich des medialen Phänomens ›Charlotte Roche‹ und unterstellt der Person hinter der medialen Figur, dass ihr die von Kritik und Medien vorgeworfene Anstößigkeit ihres Sujets keinesfalls, wie sie selbst behauptet, bewusst gewesen, sondern vielmehr unterlaufen sei.69 Der Text operiert geradezu im Medium der »Gegnerschaft zwischen dem, der die Legenden um den eigenen Körper zu bilden versucht, und dem, der letztlich nur jemanden, kläglich wie er selbst, enttarnen möchte«.70 Genau damit setzt Kirchhoff die Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Motivation der paratextuellen Vermittlung seines Romans formbringend ein. So entsteht ein Text, dessen Form sich an der Unterscheidung von eigentlichem Werk und sekundärem Beiwerk orientiert, indem er seine Vermittlungsbedingungen zugleich als ›verdorben‹ ausweist, narrativ in Anspruch nimmt und unterläuft, indem das Verfahren der Verschlüsselung vom Ich-Erzähler thematisiert und reflektiert wird. So wie die ›realen‹ Prominenten nur »Randfiguren«71 für Kirchhoffs ästhetisches Programm und das Erzählen Daniel Desernos sind, so sind die Paratexte Randzonen des Textes. Das Auftreten Kirchhoffs in den als ›verdorben‹ ausgewiesenen Vermittlungsbedingungen des Romans ist insofern intrinsisch motiviert, als es sich in das Erzählverfahren des Romans einschreibt. Und die im Medium der Aufmerksamkeitsökonomie geführten Porträts und Gespräche mit dem Autor sind gleichsam Legenden um den ›eigentlichen‹ Text, um die ›eigentliche‹ Literatur. Die Stimme hinter diesem poetologischen Kommentar in den Erinnerungen tritt schließlich in der Literatursendung Literatur im Foyer (13. 3. 2009) auf. Dort trifft Bodo Kirchhoff auf die Viva-Moderatorin Sarah Kuttner, deren Debütroman Mängelexemplar72 ebenfalls gerade erschienen ist. Dass diese Konstellation nicht zufällig ist, macht Moderatorin Felicitas von Lovenberg gleich zu Beginn deutlich, wenn sie Kuttner als ›neue Charlotte Roche‹ vorstellt, was diese natürlich von sich weist. Das erhoffte Streitgespräch zwischen Kirchhoff und Kuttner bleibt denn auch weitestgehend aus. Aber Kirchhoff bemerkt immerhin einen ›Mangel an Unterscheidungsvermögen‹, der den Literaturbetrieb bei der Bewertung (aus seiner Sicht: vermeintlich) literarischer Tex-
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Vgl. Andreas Meier: Immer sehr unmädchenhaft. Charlotte Roche und ihre Feuchtgebiete. In: Hans-Edwin Friedrich (Hrsg.): Literaturskandale. Frankfurt / M. 2009, S. 231–241. Siehe zur Frage, ob und wie peinlich Charlotte Roche und ihr Bestseller sind, auch Alexandra Pontzen: Peinlichkeit und Imagination. In: Jörg Huber u. a. (Hrsg.): Archipele des Imaginären. Zürich 2009, S. 235–250, hier S. 240. Bodo Kirchhoff (Anm. 65), S. 49. Art. »Urchristliche Ideen sind gefragt«. Der Bestsellerautor Bodo Kirchhoff (»Schundroman«) über Banker und die Bankenkrise, den Erfolg von Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete«, das Schreiben über Sexualität und seinen neuen Roman »Erinnerungen an meinen Porsche«. In: Der Spiegel, H. 8 (2009). Sarah Kuttner: Mängelexemplar. Frankfurt / M. 2009.
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te charakterisiere. Im Interview mit dem Spiegel bringt Kirchhoff diesen Aspekt ganz ähnlich auf den Punkt. Ich bin noch so aufgewachsen, dass man erst einmal etwas leistet, dass man schreibt und schreibt und schreibt – und irgendwann lädt einen dann das Fernsehen ein. Die machen es heute genau andersherum. Erst kommt die Fernsehlaufbahn und dann der Bestseller.73
Anders als Kuttner oder Roche, so ließe sich ergänzen, schreibe Kirchhoff seit 30 Jahren und »erwarte, dass diese Erfahrung in die Waagschale geworfen wird.«74 Man könnte sagen, dass Kirchhoff im Gespräch mit Kuttner gewissermaßen performativ und in Erinnerungen an meinen Porsche durch sein zwischen Verschlüsselung und Legendenbildung oszillierendes Erzählverfahren eben dieses Unterscheidungsvermögen beim Leser herausfordert.
3. Paratexte als Gerüchte – Andreas Maiers Sanssouci Auch wenn Andreas Maiers Roman Sanssouci weit weniger durch ungewöhnliche Paratexte gerahmt zu sein scheint als das bei Bodo Kirchhoff der Fall ist, lassen sich auch hier Aspekte herausstellen, die sich als professionelle Vermittlungsstrategien zu erkennen geben. Im Zentrum stehen dabei zunächst Strategien der Etikettierung sowie die Etablierung und Festigung der Marke ›Erzähler Andreas Maier‹ im Literaturbetrieb. Das fängt in den Peritexten mit dem signifikant kurzen Ein-Wort-Titel an, der die Reihe seit Maiers erfolgreichem Debüt fortsetzt; es läuft über das zu allerhand – grob zwischen Religiösem, Straßenverkehrsordnung und Sexuellem oszillierenden – Konnotationen anregende Buchcover mit Andreaskreuz; und es endet bei Text und Zitat auf dem Buchrücken, die auf Maiers Debütroman explizit hinweisen und den Autor als kritischen und ungewöhnlichen Beobachter der Gegenwart ausweisen, denn »[w]ie in ›Wäldchestag‹ seziert Andreas Maier, komisch gewagt und ironisch verheerend, die deutsche Gegenwartsgesellschaft, diesmal in einem Zentrum ostdeutscher Provinz« (Umschlagrücken). Die paratextuelle Rahmung von Sanssouci beginnt indes nicht erst mit dem Erscheinen des Romans im Frühjahr 2009. Ein erster ›früher‹ Epitext75 setzt bereits mit der Ausschreibung des damals neu installierten Stadtschreibers von Potsdam 2004 ein. Die Stadt Potsdam hatte im Sommer 2004 im Zuge ihrer Bewerbung um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2010 erstmals die Position eines Stadtschreibers ausgeschrieben: Mit dem Stipendium soll die Möglichkeit eröffnet werden, ein konkretes literarisches Vorhaben vorzubereiten und umzusetzen, das die Stellung Potsdams im Kontext der europäischen Kultur-, Kunst- und Geistesgeschichte in Vergangenheit und Gegenwart reflektiert bzw. Visionen darstellt. Damit verbunden ist die Schaffung eines für Potsdam relevanten literarischen Werkes.76
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Art. »Urchristliche Ideen sind gefragt« (Anm. 71). Ebd. Siehe die Terminologie bei Gérard Genette (Anm. 11), S. 13. Amtsblatt für die Landeshauptstadt Potsdam. Amtliche Bekanntmachungen mit Informati-
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Auf die Ausschreibung bewerben sich insgesamt 32 Autorinnen und Autoren aus ganz Deutschland. Im September gibt die Stadt Potsdam bekannt: Die Jury wird nun bis Ende September die Bewerbungen sichten und eine Entscheidung treffen. Offiziell wird das Stipendium dann im Rahmen einer Veranstaltung der Kulturhauptstadt GmbH übergeben. Das dreimonatige Literaturstipendium in Höhe von 6000 Euro beginnt am 1. November.77
Die Jury entscheidet sich schließlich für Maier, doch bevor der Autor das Stipendium antreten kann, »wehen ihm die Schlagzeilen entgegen [...]. Was die Gemüter erhitzt, ist seine künftige Unterkunft.«78 Das Kulturamt möchte Maier »nämlich in die Platte stecken: in die Waldstadt II.«79 Dieser ist damit offensichtlich nicht einverstanden – zumindest suggeriert genau das die nun folgende Berichterstattung in der regionalen und schließlich auch überregionalen Presse: »Stipendiat Maier fordert Schloss statt Platte«80 meldet die Deutsche Presseagentur und die Bild-Zeitung erklärt Maier zum »Verlierer des Tages«.81 Der Skandal ist perfekt, die Aufmerksamkeitsökonomie hat zugeschlagen. Nicht nur die literaturkritische Rezeption zu Sanssouci erinnert fast durchgehend an diesen Skandal des Potsdamer Literatur- und Kulturbetriebs von 2004,82 sondern auch der Klappentext knüpft hier an. Mit dem ›Possenhaften‹ zitiert er beinahe wörtlich den Text eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem »Maier die absurde Dynamik einer bürokratischen Posse«83 beschreibt, in die er durch das Stipendium geraten sei. Die FAZ hatte dem Autor aus Anlass der Berichterstattung nahezu die komplette erste Seite ihres Feuilletons für eine Stellungnahme mit dem Titel Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte eingeräumt. Und es scheint zunächst einmal mehr weit weniger um Literatur als um die medienwirksame Auseinandersetzung und Abrechnung eines Suhrkamp-Autors mit der Potsdamer Provinz-Bürokratie zu gehen.
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onsteil 15, Ausgabe 15 (2004), S. 13–14, hier S. 13. http://www.potsdam.de/cms/dokumente/10001583_27395/ce914fc1/abl15_04.pdf, 1. 8. 2010. Kulturhauptstadt Potsdam2010: 32 Autoren bewerben sich um Potsdamer Literaturstipendium. Pressemitteilung. http://www.potsdam2010.com/content/presse/pmitteilungen/documents/Lit. stipendium.pdf, 1. 8. 2010. Art. Stipendiat soll in die Platte. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 29. 10. 2004. Ebd. Katrin Hillgruber: Die Oststadtneurotiker. Sonderbare Abrechnung mit Potsdam: Andreas Maiers Roman »Sanssouci«. In: Der Tagesspiegel vom 12. 1. 2009. Zitiert nach Karim Saab: Laboratorium der Beliebigkeit. Andreas Maiers Potsdam Roman »Sanssouci« wird weder seinen zahlreichen Stipendiengebern noch Lesern in nah und fern imponieren. In: Märkische Allgemeine vom 10. 1. 2009. Siehe zum Beispiel Volker Weidermann: Ich will die Eskalation! Der Roman »Sanssouci« von Andreas Maier führt uns knapp am Paradies vorbei. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 1. 2009; Katrin Hillgruber (Anm. 80). So wird Maiers Beitrag auf der Titelseite angekündigt. Siehe Andreas Maier: Warum ich nicht im Plattenbau leben möchte. Chronologie eines Skandals: Potsdam schenkte mir vier Monate Platte. Die Presse behauptete, ich wolle ein Schloß. Meine Verteidigung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 11. 2004.
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Sanssouci ist der letzte Text einer Reihe von insgesamt vier Romanen, die mit Maiers Debüt Wäldchestag 2000 einsetzt.84 Der 2010 erschienene »Übergang«85 zu Maiers angekündigtem Großprojekt ›Ortsumgehung‹, Onkel J. Heimatkunde,86 hebt diese besondere Stellung der vier Romane hervor und markiert sie damit gleichzeitig als abgeschlossene Werkphase. Bereits seit seinem Auftritt in Klagenfurt, bei dem er einen Abschnitt aus dem noch unveröffentlichten Wäldchestag vorträgt87 und den Ernst-Willner-Preis gewinnt, werden Maiers Erzählverfahren immer wieder vor der Folie Thomas Bernhards gelesen,88 den »Maier als Schriftsteller intuitiv absorbiert und erfolgreich transformiert«.89 Unter Gesichtspunkten des Schreibverfahrens spielt dabei unter anderem der exzessive Gebrauch des Konjunktivs eine Rolle,90 wie er auch bei Bernhard etwa im Kalkwerk91 verwendet wird. Dort werden Gerüchte nicht nur thematisch verhandelt, sondern der Modus des ›Hörensagens‹ generiert geradezu den Text, gründet das Vorankommen des Romans doch »maßgeblich gerade auf dem Gerede, mithin der Unruhe im Außenraum des Kalkwerks«.92 Die Nähe Maiers zu diesem Erzählverfahren lässt sich zunächst auch für Sanssouci feststellen, insofern auch hier wiederum Gerüchte eine wichtige Rolle spielen. So führen im Roman eine Vielzahl von Figuren zahlreiche Gespräche, die sich alle v. a. dadurch auszeichnen, dass das, was in ihnen verhandelt wird, unklar und ungeprüft bleibt.93 Mit Blick auf die ›reale‹ Potsdamer Vorgeschichte des Romans ist insbesondere der Erzählstrang um den Tod Max Hornungs von Interesse. Der Regisseur sei nämlich weder
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Andreas Maier: Wäldchestag. Frankfurt / M. 2000; ders.: Klausen. Frankfurt / M. 2002; ders.: Kirillow. Frankfurt / M. 2005. Andreas Maier: Onkel J. Heimatkunde. Berlin 2010, Klappentext. Der erste Teil ist erschienen als Andreas Maier: Das Zimmer. Roman. Suhrkamp 2010. Andreas Maier: Diagnosestunde. In: Robert Schindel (Hrsg.): Klagenfurter Texte 2000. Die 24. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Mit den Texten der Preisträger Georg Klein – Susanne Riedel – Andreas Maier. München, Zürich 2000, S. 46–58. Siehe etwa Werner Jung: Etwas ist zu Ende gegangen. Abschiede, Abbrüche, Abgänge – eine Handvoll Romandebüts. In: neue deutsche literatur 49 (2001), H. 2, S. 177–180, hier S. 179. Jung spricht mit Blick auf Wäldchestag von einer »Endlossuada Thomas Bernhardschen Zuschnitts«. Iris Radisch verweist bereits in Klagenfurt auf die »Thomas Bernhardschen Kohlhaasen«. Elisabeth Bronfen u. a.: Diskussionen der Jury in Auszügen zu den Preisträgern Georg Klein – Susanne Riedel – Andreas Maier. In: Robert Schindel (Anm. 87), S. 161–193, hier S. 187. Uwe Wirth: Herr Maier wird Schriftsteller (und Schreiber). Oder: Die ›Literaturwissenschaft‹ der Literatur. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 27 (2007), H. 1, S. 128–138, hier S. 138. Vgl. dazu Tilmann Köppe: Der Konjunktiv in Andreas Maiers Roman Wäldchestag und die Theorie der Metafiktion. In: J. Alexander Bareis / Frank Thomas Grub (Hrsg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin 2010, S. 115–133, hier S. 126–131. Thomas Bernhard: Das Kalkwerk. In: T.B.: Werke in 22 Bänden. Hrsg. von Renate Langer. Bd. 3. Frankfurt / M. 2004. Natalie Binczek: ›Vom Hörensagen‹. Gerüchte in Thomas Bernhards Das Kalkwerk. In: Jürgen Brokoff u. a. (Hrsg.): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen 2008, S. 79–99, hier S. 96. Dass der intertextuelle Verweis auf das Kalkwerk durchaus naheliegend ist, zeigt im Übrigen auch die Metaphorik des ›Gestrüpps‹, das das Gangsystem unter dem Park umgibt und damit wie bei Bernhard allegorisch als Gerücht gelesen werden kann. Vgl. ebd., S. 87f.
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»klatschsüchtig«94 gewesen noch habe er sich für »Fernsehsendungen vom Vortag, Artikel in der Märkischen Allgemeinen oder den Potsdamer Neuesten Nachrichten« (12) interessiert. Seine Serie ›Oststadt‹ hat in der Potsdamer Stadtverwaltung nicht nur zu einigem Unmut geführt, auch der Tod des Regisseurs und dessen ungeklärte Beziehung zu einem Mädchen, die möglicherweise seine Tochter ist, werden in Gesprächen verhandelt. Was bei all dem tatsächlich passiert ist, bleibt indes ungeklärt, denn, so die Kulturdezernentin: »Wir haben ja, wie gesagt, über all das bloß Vermutungen« (265). Während sich Maiers drei erste Romane nahezu ausschließlich im Medium der Gerüchte und Vermutungen vollziehen, tritt in Sanssouci indes nicht nur der Konjunktiv deutlich zurück. Auch der Modus des Hörensagens wird an drei Stellen unterbrochen. So wird an einer Stelle ein Zeitsprung explizit markiert – »Wenn wir nun die nächste Stunde an diesem Tag überspringen« (181) – und gut fünfzig Seiten weiter auf eine Figur »aus dem letzten Kapitel« (235) verwiesen. Schließlich setzt das Kapitel Oststadt (Fortsetzung) mit einer Reflexion über die Struktur (öffentlicher) Kommunikation ein. Zum Wesen des öffentlichen Gesprächs gehört, daß es nie abreißt. Das eine oder andere Thema (die eine oder andere Person) kann zwar für eine Weile aus den Schlagzeilen verschwinden, führt aber ein Untergrundleben weiter, in diesem Raum, in jener Redaktion, in jener Wirtschaft... (256)
Der Erzähler, der hier spricht, ist offensichtlich nicht in das Gerede des Romans selbst einbezogen, sondern befindet sich als Beobachter zweiter Ordnung auf einer Ebene jenseits des ›öffentlichen Gesprächs‹. Das Wuchern des Geredes wird dadurch zwar nicht durch eine übergeordnete Instanz in seine Schranken verwiesen, aber es wird beobachtet und reflektiert. Das ›Wesen des öffentlichen Gesprächs‹ scheint dabei gegen einen Komplex gesetzt zu sein, den Maier nicht zuletzt in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen immer wieder ebenso bedeutungsschwer wie unscharf mit den Begriffen ›Wahrheit‹ und ›Ich‹ bezeichnet. Demnach orientiere sich seine Literatur an einer allgemeinen Logik von Ich, Welt und Gott, »die Wahrheit einerseits und die Menschen andererseits, das Ich in der Mitte, die Menschen drumherum, und um alles Gott.«95 Der Öffentlichkeit als einer »Form des Nichts«,96 in der alles »immer seltsam verdreht«97 werde, stünden die Wahrheit und das Ich entgegen. Als Individuum gesellschaftlich zu ›funktionieren‹, bedeutet demnach »notwendigerweise ein falsches Leben. Nur ein Ich, das sich einigermaßen dem Treiben der Gesellschaft entziehen kann, ist zu fundamental wahrer Einsicht fähig.«98 In Sanssouci mag neben der Figur des Mönchs Alexej mit dem utopischen Ort
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Andreas Maier: Sanssouci. Frankfurt / M. 2009. Seitenzahlen daraus im Folgenden in runden Klammern im Text, hier S. 12. Andreas Maier: Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt / M. 2006, S. 149. Ebd., S. 144. Ebd. Henk Harbers: »Reden könne jeder«. Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier. In: Weimarer Beiträge 56 (2010), H. 2, S. 193–212, hier S. 196.
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des Luisenbrunnens eine solche Möglichkeit angedeutet sein, denn dort »war Sprache, was sie von jeher bloß war: Sprache« (272).99 Der Umgang mit Gerüchten, Wahrheit und dem Ich im Verhältnis zur Gesellschaft spielt nun auch im Skandal um den Potsdamer Stadtschreiber eine zentrale Rolle. Maiers Artikel in der FAZ skizziert aus der Sicht eines Ich, wie es schließlich zur Ablehnung des Stipendiums von Seiten des Autors gekommen ist. Einen Schwerpunkt der Stellungnahme, die fast eine Seite umfasst, bildet die Schilderung der Telefonate, die Maier mit »Frau Rosemarie Spatz«, der Sekretärin der Kulturdezernentin von Potsdam, offenbar geführt hat. Einen Tag später erneut Anruf Frau Spatz: Es gebe eine Wohnung. Ich: Ja und? Sie: Aber es gebe auch, wie solle sie sagen, eine kleine Posse um diese Wohnung. Ich: Welche Posse denn? Sie: Ach, damit wolle sie mich gar nicht belasten. Aber es habe gestern so ein komischer Artikel hier in der Zeitung gestanden. Ich: Was denn für ein Artikel? Sie: Nun, Herr Maier, Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, daß das jetzt eine Altbauwohnung in der Innenstadt... aber wissen Sie, man ist doch auch im Plattenbau kein Mensch zweiter Klasse, man kann da auch leben. Sie, Frau Spatz, lebe da auch, schon seit Jahren.100
Der Beitrag präsentiert hier ein Ich, das unverschuldet »ins Gerede«101 gekommen ist. Dem Ich des Autors stehen dabei einerseits die Potsdamer Kulturbürokratie und andererseits die massenmediale Berichterstattung gegenüber. Beidem ist das Ich ausgeliefert, ja es stellt dieses Ausgeliefertsein geradezu aus, indem es den übrigen Beteiligten unterstellt, jeweils »mit Absicht«102 gegen den Autor zu intrigieren. Maier selbst habe sich indes nicht gegen die Unterbringung ›im Plattenbau‹ ausgesprochen, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass er bei anderen Gelegenheiten in anderen Unterkünften untergebracht worden sei. Daraus einen Vorwurf abzuleiten, sei eine Konstruktionsleistung der Medien, der Stadtbürokratie und der beteiligten Wohnungsgenossenschaften. Die beiden Wohnungsgenossenschaften behaupten, ich hätte gesagt, man lasse Stipendiaten in der Regel in einem Schloß wohnen. Dann lassen sie sich darüber aus, welche Maßstäbe für Literaturstipendiaten herrschen sollen. Da weder GEWOBA noch Karl Marx »für Schlösser verantwortlich sind, tut es ihnen leid, Herrn Maier nicht beherbergen zu können. Für Schlösser sind andere Orte in Potsdam verantwortlich ... «. Datiert vom 4. November. Noch am Nachmittag desselben Tages war die dpa-Meldung erschienen, am nächsten Tag folgte »Bild« und so weiter.103
Nach weiteren Verwicklungen und der Ausbreitung des Geschehens in den lokalen Medien hätten die Potsdamer Verantwortlichen Maier schließlich einen Kompromiss vorgeschlagen, indem sie ihm einen völlig veränderten Ausschreibungstext beziehungsweise Vertrag präsentiert hätten:
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Thematisieren Maiers Romane die Gesellschaft als ein »sinnloses schwadronierendes und konsumierendes Nichts«, inszenieren sie mithin immer auch jenseits dieses Nichts stehende Gestalten, denen es möglich ist, »kritisch zu bleiben und dennoch eine Lebensmöglichkeit innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu finden« (ebd., S. 208). Andreas Maier (Anm. 83). Andreas Maier (Anm. 95), S. 144. Andreas Maier (Anm. 83). Ebd.
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Dann blättere ich den Vertrag durch, eingedenk der ursprünglichen Ausschreibung (»Potsdams Stellung im Rahmen der europäischen Kultur-, Kunst- und Geistesgeschichte«). Plötzlich steht da in diesem Vertrag, den ich nach Willen des Kulturamts erst nach meinem Einzug in die Marx/GEWOBA-Wohnung zu sehen bekommen hätte: Das Stipendium sei eine neue Kooperation zwischen den Wohnungsunternehmen, ich solle mich mit dem Alltag der Menschen in den Randgebieten auseinandersetzen und ihre »Visionen eines ... humanen und kulturvollen Lebens künstlerisch aufgreifen«.104
Maier solle zudem die »geforderten geplanten Stadtrandsiedlungsmenschentexte über die von Marx/GEWOBA untergebrachten Nichtzweiteklassemenschen«105 nach erfolgreicher Beendigung des Stipendiums und des Aufenthalts in Potsdam der Stadt zur Verfügung stellen. Im letzten Teil des Artikels gibt sich der zuvor geschilderte »wabernde[ ] Sprachkosmos«106 indes als Erzählung zu erkennen. Liebes Potsdamer Kulturamt, ich habe doch die Auflagen schon längst erfüllt! Eine ganze Erzählung über Frau Spatz, die doch bestimmt nie das Glück geahnt hätte, mal in einer Erzählung wie dieser hier vorzukommen... einer Erzählung, die darüber hinaus auch noch die Stellung Potsdams in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte gleich mitreflektiert.107
Der Wechsel der Erzählebene ist nun in zwei Hinsichten bemerkenswert. Zum einen wird durch den Wechsel analog zum Verfahren in Sanssouci eine Erzählinstanz eingeführt, die für sich in Anspruch nimmt, als Beobachter zweiter Ordnung jenseits des Geredes zu stehen. Zum anderen wird damit das Ich des vorherigen Teils als Figur einer Erzählung markiert. Geht man davon aus, dass das Ich des letzten Absatzes mit der Autorfunktion Maier zusammenfällt, könnte man sagen, dass Maier die Handlungen (also v. a. das Ablehnen der Wohnung), die ihm im Rahmen des Skandals zugeschrieben werden, als das Handeln einer Figur in einer Erzählung ausgibt und inszeniert. Genau damit integriert Maier aber letztlich das Bild, das von ihm in den Medien vorherrscht, in das Gerede, das seine Texte ausbreiten. Vor diesem Hintergrund ist auch das stark gewandelte Äußere des Autors bei Erscheinen von Sanssouci auffallend. »Extremkurzfrisur, modisch leicht unrasiert, freundlich-kühler Blick – ein deutsches Schriftsteller-Modell.«108 So ist Andreas Maier bisher bekannt gewesen. 2009 trägt er demgegenüber Vollbart und lange Haare, kleidet sich in Wollpullover und lässt sich für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einer provinziellen Wirtschaft ablichten.109 Damit komplettiert Maier nicht nur sein Image des kauzigen, abgeschieden lebenden, naturverbundenen Autors der Wetterau. Maier inszeniert sich darüber hinaus auch und gerade als potentielle Figur seiner Romane, die verfolgt, »wie der kleine Stammtisch restverwertet[ ], was der große Stammtisch, die Medien, ihm an Material überantwortet« (237). In jener Wirtschaft, durch die die öffentliche
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Ebd. Ebd. Andreas Maier: Die Verfestigung der Eitelkeit beim Schreiben. In: A. M. / Anne Weber: Mainzer-Poetik-Dozentur 2003. Stuttgart 2004, S. 5–13, hier S. 6. Andreas Maier (Anm. 83). Volker Weidermann (Anm. 82). Siehe auch Florian Balke: Der Russe kommt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 1. 2009.
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Kommunikation läuft und die Sanssouci prägt, könnte also Andreas Maier selbst stehen und dort etwa wie die Figur Nils über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft reflektieren: »Ich glaube, daß alles, auch wenn die Menschen einzeln handeln (aus ihrer eigenen Perspektive)... daß alles dennoch nach einem bestimmten Rhythmus vonstatten geht, der überpersönlich ist. Das stützt übrigens meinen Gedanken, daß es ganz egal ist, was man tut... « (44–45). Diese Inszenierungsstrategie lässt sich als eine Geste des Zurückweisens von Verantwortung oder Autorität über das Geschilderte lesen, ein Rückzug auf die eigene Position, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit stellen kann und will. Man könnte sagen, Maier inszeniert Nicht-Kommunikation – gerade das gelingt aber nur durch Kommunikation. Der Skandal in Potsdam und dessen literarische Verarbeitung in der Stellungnahme in der FAZ wie in Sanssouci fungiert im Rahmen seines poetologischen Programms mithin nicht nur als Erzeugung von Aufmerksamkeit, sondern bildet als ›öffentliche‹ Kommunikation das ›Nichts‹ zum Text. Der Skandal als Erzählung erweist sich in dieser Hinsicht als äquivalent zu anderen Gesprächen, Gerüchten in der erzählten Welt und in Maiers ästhetischem Programm überhaupt. Sowohl bei Andreas Maier als auch bei Bodo Kirchhoff betreffen die je spezifischen Darstellungsverfahren also nicht nur die Ebene der literarischen Texte, sondern sie gehen mit dem jeweiligen Verständnis von Literatur darüber hinaus – und zwar in die Paratexte. Maier und Kirchhoff beziehen Aspekte der Vermittlungsbedingungen von Literatur, wie die Legenden von ›Prominentenleichen‹ und das ›Gerücht‹ um einen Skandal, in ihre literarische Inszenierung mit ein. Dabei geht es eben nicht (nur) um das ›Verderben‹ der Literatur im und durch den Betrieb, sondern um die Profilierung ihrer Autonomie gegenüber dem, was als mehr oder weniger ›verdorbene‹ Aufmerksamkeitsökonomie des Literaturbetriebs vorgestellt wird. Die Vermittlung der Romane über Paratexte wird so als Teil des jeweiligen literarischen Programms lesbar, ist in diesem Sinne intrinsisch motiviert. Während bei Kirchhoff die Betriebsbedingungen gleichsam in den Text verlagert werden, exportiert Maier demgegenüber seine Erzählverfahren in die Betriebsbedingungen. So plausibel also die These, Paratexte sollten Ansprüche der Aufmerksamkeitsökonomie bedienen, auf den ersten Blick sein mag, unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten ist sie doch zumindest einseitig. Sie asymmetrisiert die Unbestimmtheit des Paratextes zwischen den Ansprüchen an Literaturvermittlung und dem Programm eines Textes beziehungsweise Autors, weil sie lediglich auf die kommunikative Funktion des Paratextes schaut. Wie steht es also mit derjenigen Literatur, die Einspruch gegen die Aufmerksamkeitsökonomie erheben will? Gerade derjenige Autor, der glaubt, sich gegen die veränderten Wertungsroutinen im Literaturbetrieb um 2000 erheben zu können, ist nach Norbert Niemann »in Wahrheit nur noch Reizwörterlieferant für den Meinungssupermarkt, den er zementiert statt ihn zu durchbrechen.«110 Wie sollte das aber unter Bedingungen funktionaler Differenzierung und polykontexturaler Beobachtungsverhältnisse auch anders sein? Für die Bewertung eines Ereignisses, und sei es eines literarischen, kommt es
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Norbert Niemann (Anm. 1), S. 158.
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immer auf den sozialen Rahmen, die Systemreferenz an – und dem können sich nun einmal auch Autoren nicht entziehen. Wenn Niemann in diesem Sinne den fatalen »Zugriff des Marktes auf die literarische Ästhetik«111 beobachtet, dann ist das womöglich nur die halbe Wahrheit: Es wäre zu überlegen, ob es nicht auch einen Zugriff der Literatur auf den Markt, die Medien und den Betrieb gibt.
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Ebd., S. 160.
Steffen Martus
»Für alle meine Freundinnen« Multimediales Marketing von Bestsellern am Beispiel von Susanne Fröhlich
In den späten 1980er Jahren profilierte sich ein Segment auf dem Buchmarkt, das in der Forschung (und in den Regalen der Buchhandlungen) unter dem Label »Unterhaltungsliteratur für Frauen« firmiert und dort eine Unterrubrik zur »Frauenliteratur« bildet.1 ›Literatur von Frauen für Frauen‹ etablierte sich zunächst seit den späten 1970er Jahren in Reihen wie Neue Frau (rororo, 1977ff.), Die Frau in der Gesellschaft (Fischer Taschenbuch Verlag), Die Frau in der Literatur (Ullstein), Frauen (Piper und Bastei Lübbe) oder Jenseits von Emma. Moderne Frauenliteratur, Die Waffen der Frauen sowie Frauen heute (Goldmann), wobei sich diese Enklavierung im Verlagsprogramm überholt hat und die Reihen inzwischen eingestellt wurden. Als Initiationsroman wird in der Regel Svende Merians Der Tod des Märchenprinzen (1980, 20. Auflage 2005) 2 gehandelt. Die späteren Romane entfernen sich von diesem Vorläufer vor allem im Blick auf die darin vertretene Geschlechterpolitik. Als Protagonistin dieser zweiten Kohorte von Autorinnen gilt Eva Heller, die 1987 mit Beim nächsten Mann wird alles anders (38. Auflage 2005) einen Sensationserfolg landete und in ihrem Roman eine Art Parodie von Merians Buch lieferte – Heller habe, so die übereinstimmende Einschätzung, einen »ironischen Abgesang auf die feministische Jammerliteratur konzipiert«.3 Weitere bekannte Vertreterinnen dieses Genres sind Hera Lind (z. B. Ein Mann für jede Tonart, 1989, 30. Auflage 2006), Gaby Hauptmann (z. B. Suche impotenten Mann fürs Leben, 1995, 43. Auflage 2008) oder Ildikó von Kürthy (z. B. Mondscheintarif, 1999, 47. Auflage 2007). Im Folgenden werde ich die Reihe um ein Beispiel erweitern: um Susanne Fröhlich. Mir geht es dabei um den symptomatischen Wert, den der von Fröhlich vertretene Autorinnen- und Werktyp für den Literaturbetrieb und die Frage nach ›Kanon und Wertung‹ hat.
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Hier und zum Folgenden vgl.: Katarina Düringer: Beim nächsten Buch wird alles anders. Die neue deutsche Frauen-Unterhaltungsliteratur. Königstein / Ts. 2001, S. 7ff.; Wiltrud Oelinger: Emanzipationsziele in Unterhaltungsliteratur? Bestsellerromane von Frauen für Frauen: eine exemplarische Diskurs- und Schemaanalyse. Münster 2000, S. 7ff., 86ff., 157ff.; Melani Schröter: Die unehrlich verlogene Sauberfrau. Hera Linds Romane 1989–1999. In: Ilse Nagelschmidt u. a. (Hrsg.): Zwischen Trivialität und Postmoderne. Literatur von Frauen in den 90er Jahren. Frankfurt / M. u. a. 2002, S. 31–48, S. 31ff. Von den im Folgenden genannten Romanen gibt es oftmals Sonderausgaben oder Ausgaben bei verschiedenen Verlagen, so dass die Auflagenzahlen nur einen ersten Anhaltspunkt bieten. Vgl. Katarina Düringer (Anm. 1), S. 23ff.
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1. Bestsellerautorinnen ›unter sich‹ Die »Unterhaltungsliteratur für Frauen« wirkt auf Literaturkritik und Literaturwissenschaft in einigen Hinsichten verstörend. Sie verhält sich politisch unkorrekt und ignoriert durchaus souverän die Emanzipationsideale, die die Frauenbewegung seit den 1970er Jahren bestimmen;4 zudem verhält sie sich ästhetisch inkorrekt und überhört nicht minder gelassen die Vorwürfe künstlerischer Unzulänglichkeit.5 Irritierend ist dies für die arrivierten Wertungsroutinen, weil dieses Genre gegen stabile Konventionen verstößt und gleichwohl enorm erfolgreich ist – es handelt sich um Bücher, die in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren, teils sogar in mehrfachen Millionenauflagen verkauft werden.6 Kurz: »Unterhaltungsliteratur von Frauen für Frauen boomt seit den 80er Jahren […]«.7 Sie ist deshalb signifikant für den Ausgleich von weiblichen und männlichen Autoren auf den Bestsellerlisten, der sich seitdem feststellen lässt.8 Dies gilt auch für die 1962 geborene studierte Juristin Susanne Fröhlich. Sie startete ihre Medienkarriere 1984 als Radiomoderatorin und ist seit 1994 auch als TV-Moderatorin tätig (Sendungen: Fröhlich am Freitag, Gnadenlos Fröhlich, Allein oder Fröhlich, Fröhlich bei Nacht, Vorsicht Fröhlich). Sie wird gern zu Talkshows eingeladen9 und moderiert im MDR eine Literatursendung unter dem Titel Fröhlich lesen. Für ihr Image ist aufschlussreich, dass Fröhlich sich als Bestsellerautorin versteht. Auf ihrer Homepage notiert sie beispielsweise: 18. 10. 2004: »Moppel-Ich« – Susanne Fröhlichs neustes Buch – feiert ein kleines Jubiläum: seit 25 Wochen besetzt »Moppel-Ich« einen der vorderen Plätze – meist Platz 1 – der Bestsellerlis-
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Am Beispiel Hera Linds ausführlich dargelegt bei: Melani Schröter (Anm. 1). Auch dazu am Beispiel von Hera Lind: Melani Schröter, ebd., S. 35ff. Allerdings trifft Heller mit ihrem Erstling durchaus auf Wohlwollen; vgl. die Rezeptionszeugnisse bei: Wiltrud Oelinger (Anm. 1), S. 92f. Zwar sind ihre Romane multimedial anschlussfähig und werden mehrfach verfilmt; aber ihr Autorinnenhabitus unterscheidet sich deutlich von Fröhlich, was die mediale Präsenz betrifft: Heller entzieht sich der öffentlichen Aufmerksamkeit (ebd., S. 93). Insofern ist der Streit zwischen Heller und Lind symptomatisch. Denn Lind pflegte wie Fröhlich eine Art multimediale Omnipräsenz, trat als Romanautorin und Talkmasterin auf und wollte nicht zuletzt »lustiger«, »humorvoller«, »auf jeden Fall lockerer« und weniger »verbissen« als ihre Konkurrentin Heller sein (ebd., S. 95ff.; Oliver Sill: Von Zauberfrauen und Superweibern. Hera Linds Roman Das Superweib [1994] als Erfolgsgeschichte der neunziger Jahre. In: Georg Mein / Markus Rieger-Ladich (Hrsg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld 2004, S. 257–269, S. 258). Vgl. hier auch Lind zum Standort innerhalb der ›Frauenbewegung‹: »Alice Schwarzer war wichtig, weil sie die Vorarbeit geleistet hat, auf der wir uns heute ausruhen. Ich aber will Unterhaltungsliteratur schreiben, und mir reicht es, wenn viele Leute mich lesen« (vgl. Wiltrud Oelinger [Anm. 1], S. 96). Vgl. z. B. die Angaben bei Melani Schröter (Anm. 1), S. 31; Wiltrud Oelinger (Anm. 1), S. 5f.; hier auch zur »Bestsellerforschung«: ebd., S. 23ff. Vgl. ebd., S. 157.
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Karina Liebenstein: Bestsellerlisten 1962–2001. Eine statistische Analyse. Erlangen, Nürnberg 2005, S. 27f., 38; dies gilt nur für den Belletristikmarkt (ebd., S. 52f., 59f.).
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Vgl. dazu die Hinweise auf Fröhlichs Homepage: http://www.froehlich-susanne.de/page?p=news, 28. 1. 2010.
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ten. Damit ist »Moppel-Ich« derzeit Deutschlands beliebtestes und erfolgreichstes Buch zum Thema Abnehmen. / Herrlich. 03. 01. 2005: »Moppel-Ich« ist Jahresbestseller Sachbuch 2004! 29. 08. 2005: »Familienpackung« hat aus dem Stand Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste erstürmt! 07. 05. 2007: »Runzel-Ich«, das neue Buch vom Autorenduo Susanne Fröhlich und Constanze Kleis, hat den Direkteinstieg auf Platz 3 der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Und auch die anderen Fröhlich-Bücher erfreuen sich des Daseins auf Bestsellerlisten: »Moppel-Ich« und »Familienpackung« finden sich beide auf der Gong-Bestsellerliste für Taschenbücher.10
Das ungehemmte Lob des eigenen ökonomischen Erfolgs ist aus zwei Gründen interessant: Zum einen ist es durchaus typisch für die Wertungsmuster in der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ und für dieses Genre.11 Auf dem Klappentext einer Neuauflage von Hera Linds Superweib beispielsweise verweist der Verlag nicht nur auf die Verfilmung des Romans durch Sönke Wortmann, sondern vor allem auch auf den Markterfolg: »Das Buch stand fast ein Jahr auf Platz 1 der Bestsellerliste. Von diesem hat Hera Lind sich selbst vertrieben: durch ihren neuen Roman ›Die Zauberfrau‹ […], der im Oktober 1995 erschien und sofort Platz 1 besetzte«.12 Zum anderen versteht oder verstand sich das offensive Bekenntnis zur Bestsellerautorschaft im Literaturbetrieb nicht von selbst. Dass Verleger und Autoren sich in der Regel über hohe Verkaufszahlen freuen, liegt auf der Hand. Wie aber dieser Verkauf in die Vermarktung eingehen kann, ohne dem Autorenund Verlagsimage zu schaden, ist durchaus fragwürdig.13 Um dies nur kurz zu illustrieren: Am 7. August 1985 notiert Siegried Unseld in seine »Chronik« anlässlich der Überlegungen für eine massive Werbekampagne: »Im Verlag Planung: Martin Walsers ›Brandung‹ als Bestseller. Soweit sind wir schon, daß wir das tun müssen. Der Autor erwartet das, aber auch die Umwelt«.14 Indes: Auch wenn Walser das Anzeigenengagement seines Verlags erwartet, hätte er sein Dichterlicht unter den Scheffel des Labels »Bestsellerautor« gestellt sehen wollen?
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Ebd. Vgl. dazu auch die ungehemmte Präsentation von Stolz, Genugtuung und Selbstzufriedenheit angesichts des eigenen Erfolgs in Hera Linds Superweib bei Oliver Sill (Anm. 5), S. 263. Vgl. ebd., S. 258. – Vgl. hier auch generell: Marc Reichwein: Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Stefan Neuhaus / Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 89–99. Vgl. zum traditionellen Misstrauen des Kulturbetriebs gegen Bestsellerlisten: Ernst Fischer: Marktinformation und Lektüreimpuls. Zur Funktion von Bücher-Charts im Literatursystem. In: Heinz Ludwig Arnold / Matthias Beilein (Hrsg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Aufl. München 2009, S. 200–218, S. 200 (hier auch zur Problematik der unterschiedlichen Arten der Feststellung von ›Bestsellern‹: ebd., S. 201ff., sowie zur steigenden Bedeutung von Bestsellerverzeichnissen: ebd., S. 204, 210f., 213). Zur Bestsellerforschung und zum Problem der Definition von ›Bestsellern‹ vgl. Karina Liebenstein (Anm. 8), S. 10ff. Thomas Bernhard / Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hrsg. von Raimund Fellinger, Martin Huber und Julia Ketterer. Frankfurt / M. 2009, S. 738f.
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Fröhlichs öffentliche Freude über die Platzierung auf einer Verkaufsliste liegt im Trend einer Verlistung kultureller Güter, die Bücher wie Schotts Sammelsurium15 ironisch reflektieren. Das Ranking ist ein fester Bestandteil der Rede über Literatur, wie etwa der erfolglose Versuch zeigt, die Öffentlichkeit gegen die Listen der Buchmessenpreise zu mobilisieren.16 Entsprechend darf man als Autor stolz darauf sein, Bestseller zu schreiben. Und umgekehrt könnte dies ein Indiz dafür sein, dass gerade jene hochkulturellen Deutungsschemata in die Krise geraten sind, die das viel verkaufte Buch unter den Generalverdacht der Trivialität und Anspruchslosigkeit stellen. Als Beispiel für den Umgang mit Bestsellern, die entsprechenden Wertungs- und Umwertungsroutinen, das Medienverhalten u. a. greife ich auf Fröhlichs Buch über das Moppel-Ich von 2004 zurück. Mit diesem Buch identifiziert sich die Autorin in besonderer Weise: 2007 folgt ihre Studie über das Runzel-Ich, 2010 Und ewig grüßt das MoppelIch. Das Moppel-Ich stand in der Erstausgabe-Version 76 Wochen ununterbrochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, davon 18 Wochen auf Platz 1. Das Taschenbuch stieg am 29. September 2005 auf die Bestsellerliste ein und hielt sich dort immerhin noch bis zum 16. Mai 2007. Insgesamt also verbringt das Moppel-Ich mehr als vier Jahre auf der Bestsellerliste. Mitte 2007 ist darüber hinaus eine Sonderausgabe des Werks erschienen – man hoffte offenbar auf weitere Verkäufe im Sommer, also in der körper- und diättechnisch risikoreichsten Jahreszeit. Diesem Publikumserfolg steht das Desinteresse oder die harsche Kritik der gehobenen Literaturkritik gegenüber. Als etwa Denis Scheck 2007 anlässlich der Verleihung des Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW eine Rede hielt, entschied er sich für das Thema »Was bleibt?« Mit anderen Worten: Er fragte nach jenen Klassikern der Literatur, die durch ihre bestechende Qualität nicht im Nirwana der Bibliotheken, Ramschtische und Backlists oder gar der Papiermüllfabriken landen, sondern die von jeder Generation immer neu gelesen werden können und auch tatsächlich neu gelesen werden. Mit dem weiten Horizont des Science-Fiction-Fans beantwortet Scheck die gestellte Frage nach den ›bleibenden‹ Werken mit: »nichts«. In 7 Milliarden Jahren blähe sich die Sonne zu einem roten Riesen auf und die gesamte Erdkruste schmelze dadurch zu einem einzigen »Lava-Ozean«: […] heute in etwa 7 Milliarden Jahren wird das ganze traditore-tradutore-Geschwurbel zusammen mit dem Horazschen Denkmal dauerhafter als Erz, den Stahlskulpturen Richard Serras, Homer und Kafka und dem Maultaschenrezept meiner Großmutter, Perry Rhodan und Shakespeare, Thomas Mann und Donald Duck, ja zusammen mit überhaupt allen Büchern, Mikrofiches, CD-Roms, DVD-Roms und vermutlich allen sonstigen bis dahin entwickelten Speichermedien überhaupt untergehen. Ein Gedanke, der wahrlich Schwermut auslösen kann.
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Ben Schott: Schotts Sammelsurium [2004]. Premium-Ed., 1., vollst. überarb. Neuausg. Berlin 2009. Vgl. dazu Daniel Kehlmanns Polemik unter dem Titel Entwürdigendes Spektakel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21. 9. 2008 (http://lesesaal.faz.net/deutscherbuchpreis/ article.php?txtid=kehl, 22. 7. 2010) sowie die Debatten-Beiträge im FAZ-Forum (http://lesesaal. faz.net/deutscherbuchpreis/leser_forum.php?rid=2, 22. 7. 2010).
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Andererseits, seien wir ehrlich, ein Gedanke, der mir als Literaturkritiker auch gewissen Trost schenkt: schließlich wird auch die Bücher […] Susanne Fröhlichs […] spätestens in sieben Milliarden Jahren dieses Schicksal ereilen.17
Am 5. Dezember 2004, als das Moppel-Ich auf Platz 7 der Spiegel-Bestsellerliste steht, kommentiert Scheck: Wäre dieses Buch nur ein extrem dünn angerührtes Wassersüppchen von Banalitäten rund ums Abnehmen, man könnte sagen: nebbich. Weil es tatsächlich aber ein tückisches Programm zur Selbstverblödung durch Anpassung enthält und einen durchaus totalitären Anspruch erhebt, wird Fröhlichs Kampfschrift des Konformismus zu einem Ärgernis in Vollfettstufe.18
Worum geht es in Moppel-Ich? Welche Position nimmt dieses Buch im Gesamtwerk von Fröhlich ein? Moppel-Ich. Der Kampf mit den Pfunden ist ein Sachbuch, reüssiert also in einer traditionell männlichen Domäne.19 Es handelt vor allem vom »Kampf« mit sich selbst, genauer: vom Kampf mit den körpereigenen Fettzellen, und erzählt Geschichten und Anekdoten aus dem Leben eines »Moppels«, wie sich Susanne Fröhlich tapfer selbst bezeichnet. Fröhlich diskutiert Motivationsstrategien für Diäten, die Hemmschwellen, Verführungen und Blockaden im Diätalltag und widerlegt eine Reihe von falschen Versprechen, die Diätratgeber machen. In der Einleitung heißt es: Diät zu halten ist grauenvoll, stressig und ungefähr so spaßig wie ein Brand im Altersheim. Es ist Verzicht und der war noch nie ein Synonym für dufte Stimmung und Ekstase (außer vielleicht beim Papst und anderen Fundamental-Christen). Abzuspecken ist lästig, anstrengend und so gar nichts für Feiglinge. Denn man ist im ständigen Kampf mit einem äußerst rigorosen und wehrhaften Gegner: mit dem eigenen ›Moppel‹-Ich. Und das besitzt neben viele anderen fiesen Eigenschaften vor allem die unangenehme Angewohnheit, ständig auf einen einzureden: ›Iss doch‹, ruft es. Oder: ›Oh, wie lecker, jetzt ist es eh egal, wen kümmert es schon, die Hose gibt’s auch größer […]‹.20
Susanne Fröhlich erzählt aus ihrer Biographie zunehmender Vermoppelung; sie schreibt Briefe an ihre Problemzonen und präsentiert ihr Diättagebuch unter dem Titel »20 Kilo in 15 Wochen«; sie handelt von Kleidungsgrößen, Frauenzeitschriften, von dürren Zicken als größte Herausforderung des Alltagsmoppels; sie wettert gegen Schönheitsoperationen oder enttäuscht die Hoffnungen derjenigen, die sich auf Maria Callas’ Diätmethode einlassen wollen: Von der Operndiva heißt es, sie habe sich einen Bandwurm einpflanzen lassen und auf diese Weise 28 Kilo verloren.21 Die kalauernde Darstellung ist ersichtlich um Dauerwitzigkeit bemüht. Dem Ernst der Sache – also dem harten, entbehrungsreichen »Kampf mit den Pfunden« – steht das
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http://www.uebersetzerkollegium.com/de/uebersetzerpreis/uebersetzerpreis–2007/jurymitglieddenis-scheck/index.html, 28. 1. 2010. http://www.daserste.de/druckfrisch/thema_dyn~id,60~cm.asp, 5. 12. 2007. Vgl. Karina Liebenstein (Anm. 8), S. 52f., 59f. Zur ›Frau‹ als Trendthema der Sachbuchliteratur seit den 1980er Jahren: ebd., S. 64, 66. Susanne Fröhlich: Das Moppel-Ich. Der Kampf mit den Pfunden [2004]. 2. Aufl. Frankfurt / M. 2005, S. 11. Ebd., S. 171.
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Vergnügen gegenüber, das Fröhlichs Körperkriegsbericht bereiten soll. Den Schluss des Bandes bildet eine Reihe von Interviews, die Susanne Fröhlich mit Prominenten über deren Diätverhalten geführt hat (Barbara Schöneberger, Götz Alsmann oder Jörg Thadeusz), sowie ein Kurzbeitrag der Kabarettistin Gayle Tufts. Als konkrete Mittel für eine schlankere Linie rät Fröhlich letztlich nur zu körperlicher Bewegung sowie zu einer vage beschriebenen Nahrungsumstellung (Vermeidung von Speisen mit hohem Fett- oder Zuckergehalt oder einem hohen glykämischen Index). Genauere Hinweise will Fröhlich nicht geben, weil es in ihrem Buch »nicht um eine detaillierte Anleitung« gehe.22 Gerade einmal sieben von 268 Seiten verwendet Fröhlich auf diese Ratgeberfunktion. An wen also richtet sich das Moppel-Ich? In einem Bericht der Sendung frauTV, der am 29. August 2007 im WDR ausgestrahlt wurde und von der Rückkehr des Schönheitsideals der »Rubens-Frau« handelte, erklärte Moderatorin Angela Maas: Zwei Drittel der Männer seien übergewichtig, aber nur ein Drittel halte sich dafür; bei Frauen sei es genau umgekehrt: Nur ein Drittel sei übergewichtig, aber zwei Drittel schätzen sich als zu ›moppelig‹ ein. Fröhlich, so scheint es, reagiert auf dieses geschlechtsspezifische Wahrnehmungsmuster. Die Widmung ihres Buchs lautet: »Für alle meine Freundinnen: Esst schön …«. Susanne Fröhlich bietet also Literatur von Frauen für Frauen an, und dabei präsentiert sie sich dezidiert als Laie (»Ich bin weder Ernährungswissenschaftlerin noch Medizinerin oder Therapeutin«).23 Sie stellt sich dabei als eine Autorin dar, die sich auf Augenhöhe mit ihren Leserinnen befindet und zu diesen eine intime und solidarische Beziehung aufbaut. Und sie unterwandert offenkundig das Programm, das man von einem Diätratgeber erwarten darf. Dies ist aufschlussreich im Blick auf die irritierten Reaktionen von Leserinnen: So bemerkt die Rezension des Buchs unter abnehmtreff.de, dass das »Moppel-Ich« »in keinster Weise den üblichen sachlich belehrenden Diätratgebern entspricht«. Zwar behandelt die Rezension das Buch durchaus als sachliche Informationsquelle, betont aber vor allem die humorige Darstellung, mithin die Perspektivenverschiebung, die Fröhlich vornimmt: »Durch dieses Buch lernt der Leser, das leidige Thema Abnehmen mit einer guten Portion Humor zu betrachten, was für den Diäterfolg ja keinesfalls von Nachteil ist« – es geht demnach wesentlich um Haltungsfragen.24 Ähnlich sieht das die Kundenrezension von Jana Janeva auf dem Amazon-Portal, nur dass sich hier die Wertung deutlich ins Negative verschiebt und die Selbstinszenierung der Autorin betont wird: Nachdem ich das Buch schon nicht zu Ende lesen konnte, weil es mich durch die oberflächlichen Sprüche total genervt hat, habe ich es dann doch mit dem Hörbuch probiert, einfach weil ich wissen wollte, warum das Buch so erfolgreich ist und damit mir als Ärztin in der Diätetik nicht etwas entgeht. Doch ich wurde zweifach enttäuscht, da erstens in dem Buch keine neuen Erkenntnisse enthüllt wurden und zweitens die Stimme der Interpretin noch nerviger war, als das Buch allein.25
22 23 24 25
Ebd., S. 228. Ebd., S. 21. http://www.abnehmtreff.de/article205.html, 28. 1. 2010. http://www.amazon.de/Moppel-Ich-Kampf-mit-den-Pfunden/dp/3810506664, 28. 1. 2010.
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Tatsächlich ist das Moppel-Ich eine Art Diätbuch zweiter Ordnung. Es wendet sich an diejenigen, die schon viele Diätbücher haben und folglich keine neuen Rezepte für eine schlankere Linie benötigen. Das einleitende Kapitel trägt daher die Überschrift »Noch ein Diätbuch?« und im ersten Absatz wendet sich Fröhlich an die versierte Leserin: Sie haben schon ein halbes Billy-Regal voll mit Diätstandardwerken, doch Ihre Waage zeigt sich null beeindruckt von diesem Arsenal des Speck-Schreckens? Sie besitzen trotzdem noch kiloweise Fettreserven für Notzeiten an allen erdenklichen Körperteilen, und zwar nicht nur für sich, sondern für die ganze Familie? Vielleicht sogar für den ganzen Stadtteil? Beinahe haben Sie das Gefühl, dass Schlankheitsbücher auf Ihre Figur die gleiche Wirkung haben wie Wärme auf Hefeteig – denn nach jeder neuen Anschaffung ufern Ihre Formen etwas mehr aus, und eigentlich haben Sie sich deshalb selbst versprochen, niemals und auf gar keinen Fall noch einmal auf so ein Buch hereinzufallen. Trotzdem haben Sie sich gerade doch noch ein Werk zu diesem Thema gekauft. Meines. Pardon – jetzt natürlich Ihres.26
Fröhlich spielt mit dem Schema »Diätratgeber«. Sie wendet sich an Kennerinnen der Materie, die Erfahrungen gesammelt haben, die vergleichen können, die also zu einer Beobachtung zweiter Ordnung in der Lage sind. Fröhlich weiß um die Musterhaftigkeit von Diättipps, unterwandert deren Rhetorik, leuchtet die blinden Flecken der Schlankmacherversprechen aus – und: Sie erkennt deren Normen und Werte an. Es geht um eine ironische, auch kritische Reflexion jener vornehmlich weiblichen Rollenmuster, deren Leben sich als »Kampf mit den Pfunden« abspielt. Gleichwohl werden eben diese Rollenmuster letztlich als handlungsleitend anerkannt. Dem »Moppel« wie Du und Ich geht es demnach primär um ein schönes Äußeres als Spiegelung innerer Erlebniswelten, die auf Lebensgenuss zielen. Moralische, ethische, politische oder soziale Erwägungen spielen dabei zunächst keine Rolle. Die primäre Diätmotivation, zu der sich Susanne Fröhlich offensiv bekennt, lautet: Mut zur eigenen Profanität: […] meine Beweggründe sind profaner. Viel profaner. Ich schäme mich fast, es zuzugeben: Ich möchte schönere Klamotten. Uff, jetzt ist es raus. Allerdings befinde ich mich damit in guter Gesellschaft, denn wie jüngere Statistiken zeigen, geht es den meisten Frauen so: Ihre Hauptmotivation beim Abnehmen ist die leidige Kleiderfrage, das Problem, etwas Ansprechendes in Größe 46 zu bekommen, das nicht so aussieht, als könnte man es auch als Großraumzelt benutzen.27
Das Moppel-Ich verteidigt eine prinzipiell hedonistische und konsumistische Einstellung: genussreiches Essen und erfolgreiches Shopping sind die Primärwerte dieses Habitus. Fröhlich spielt damit, dass die von ihr genannten Beweggründe eigentlich (»fast«) peinlich sind, dass sie um die Peinlichkeit ihrer Äußerungen weiß und dass sie sich dennoch zur eigenen Trivialität und Profanität bekennt. Dieses ›dennoch‹ gehört zu den Merkmalen der Frauen-Unterhaltungsliteratur. Und entsprechend integriert ist das Moppel-Ich in das Gesamtwerk von Susanne Fröhlich, die ihre schriftstellerische Karriere nicht als Sachbuchautorin, sondern 1998 als Romanautorin mit Frisch gepresst beginnt (1998, in der 18. Auflage 2007 und in diversen Ausgaben bei Ullstein und Eichborn
26 27
Vgl. Susanne Fröhlich (Anm. 20), S. 9. Ebd., S. 17.
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im Angebot). Ihren Erstling nennt Fröhlich »Bestseller, Flaggschiff und Urheber des Genres Mütter-Roman«.28 Auf diesen ersten Erfolg folgen weitere Bücher, die Fröhlich stolz als »Dauerseller« führt,29 etwa Der Tag, an dem Vater das Baby fallen ließ (2001), Frisch gemacht (2003), Familienpackung (2005) oder Treuepunkte (2006). Neben einem Kochbuch (Aldidente italiano, 2000) und dem Moppel-Ich publiziert Fröhlich gemeinsam mit Constanze Kleis eine Serie von Sachbüchern: Jeder Fisch ist schön, wenn er an der Angel hängt (2002, »Nominierung für den Deutschen Buchpreis«), F(r) ischhalteabkommen – Länger Freude am Mann (2003), Langenscheidt Deutsch-Mann/ Mann-Deutsch (2005), Runzel-Ich (2007) und Alles über meine Mutter (2007). Die Romane und die Sachbücher wenden sich an ein weibliches Publikum. In ihren Interessenlagen und Wertungen kommen sie überein und bilden ein Verbundsystem, das an das Genre ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ anschließt. Es handelt sich um ein idealtypisches Beispiel für Bestsellermarketing, also um die Ausnutzung eines sich selbst verstärkenden Aufmerksamkeits- und Verkaufseffekts.30 Um ein alternatives Beispiel zu skizzieren und die Muster dieser Art von Genreliteratur zu verdeutlichen: Ildikó von Kürthys Roman Mondscheintarif (1999, 47. Aufl. 2007) schildert minutiös einen Abend im Leben von Cora Hübsch, den diese mit dem Nachdenken darüber zubringt, wie lange man als Frau auf den Anruf des Mannes warten sollte, mit dem man gerade eine Liebesnacht verbracht hat. Die Gedanken der Protagonistin bewegen sich im Horizont einer Gefühlsökonomie der Erwartungserwartung, die genauen Regeln folgt: Verliebtsein ist Marketing. Wenn du irgendwann geliebt wirst, dann kannst du so sein, wie du bist. Aber bis dahin mußt du bestimmte Spielregeln einhalten, um dich für die zweite Runde zu qualifizieren. Und eine dieser Spielregeln lautet ganz klar: Nach dem ersten Sex rufst du ihn nicht an. Nie. Unter keinen Umständen. Und zu dieser Regel gibt es keine Ausnahme.31
Im Verlauf des Romans modifiziert Cora Hübsch diese Regel und setzt dem Warten eine Frist. Schließlich zeigt sich um 00.01 Uhr, dass alle Befürchtungen umsonst waren. Cora Hübsch ruft Dr. Daniel Hofmann an. Dieser meldet sich mit den Worten: »… na endlich. Cora, meine Liebste«.32 Kürthys Roman dreht sich letztlich darum, wie eine Frau mit den Denk- und Handlungsmodellen zurecht kommt, die ihr Frauenzeitschriften und das daraus erwachsende Gespräch mit den besten Freundinnen für die Behandlung der zentralen weiblichen »Problemzone« an die Hand geben: »Die aller-aller-allerschlimmste weibliche Problemzone heißt: Mann«.33 Die Interessen sind überschaubar und decken sich im Wesentlichen
28 29 30 31 32 33
http://www.froehlich-susanne.de/page?p=biografie, 28. 1. 2010. Ebd. Davis Oels: Bestseller. In: Erhard Schütz u. a. (Hrsg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 47–53, S. 48. Vgl. Ildikó von Kürthy: Mondscheintarif. 44. Aufl. Frankfurt / M. 2006, S. 51. Ebd., S. 141. Ebd., S. 8.
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mit den Anliegen der Frauen, die Susanne Fröhlich vorstellt: Intensiv beschäftigt man sich mit dem Sitz der Frisur und des Push-up-BH, mit Fragen der Pediküre und Maniküre, mit der Wahl der angemessenen Unterwäsche und vor allem mit der Vermeidung von Peinlichkeiten im zwischengeschlechtlichen Verkehr, die dann aber selbstredend ausführlich geschildert werden. Fröhlichs Treuepunkte folgt letztlich genau dem Muster von Kürthys Mondscheintarif, nur dass Fröhlichs Roman die Handlung ins Milieu gefestigter Beziehungen verlegt, also in die bürgerliche Kleinfamilie, bestehend aus Mutter, Vater und zwei Kindern. Auch dieses Buch kreist um Erwartungserwartungen: Die Heldin, Andrea Schnidt fürchtet, ihr Mann habe eine Affäre mit der sexuell hoch attraktiven jungen Anwältin seiner Kanzlei. Erneut stellt sich nach allem Warten und Reflektieren, nach einem großen Aufwand beim Deuten und Missdeuten von Zeichen die ganze Affäre als Phantasma heraus. Und auch hier beschließt das Happy End die Leiden der jungen Mutter. Entscheidend ist das wechselseitige Bestätigungsverhältnis zwischen Romanen und Sachbüchern. Denn über diesen Regelkreis erscheinen die Romane als Teil eines Lebenshilfe- und Umwertungsprogramms, das eine hedonistische Anhebung der Schamund Peinlichkeitsschwellen betreibt und Mut zur Trivialität der eigenen Wünsche und Begehren macht. Das Vorbild der Heldin aus von Kürthys Mondscheintarif ist ein Typus von Frau, die erfolgreich und emanzipiert ist und zugleich traditionelle Männerträume erfüllt. Generell steht in der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ das Privatleben, mithin – sozialhistorisch gesehen – die traditionelle Domäne der Frau, im Zentrum der Lebensentwürfe, und die leitende Bezugsinstanz bleibt die Aufmerksamkeit von Männern.34 Für diese Position ist es symptomatisch, dass Kürthy im Mondscheintarif als Orientierungsfigur an einer Stelle Verona Feldbusch zitiert, »die mal gesagt hat: ›Mir ist nichts peinlich‹«.35 Denn zwei Jahre nach Erscheinen von Kürthys Roman macht ein Streit zwischen Alice Schwarzer und Verona Feldbusch, der im Juni 2001 in Johannes B. Kerners Talkshow geführt und der von einer Kampagne der Bild-Zeitung mit dem Slogan »Brain meets Body« angestachelt wurde, die Fronten deutlich: In diesem Konflikt trafen die emanzipatorischen Werte der ›neuen Frauenbewegung‹36 auf die Position der ›neuesten Frauenbewegung‹, die nicht mehr aversiv, sondern konservativ auf Männerphantasien reagiert. Alice Schwarzer sprach in diesem Zusammenhang vom »Phänomen Feldbusch«, weil für sie Verona Feldbusch einen Trend markierte. Daran schloss sich eine längere Debatte um die Folgen des Feminismus und die neue Formen der weiblichen Emanzipation an, die etwa von Eva Herrmann (Das Eva-Prinzip, 2006) – bisweilen skandalträchtig – durchinszeniert wurde. Feldbusch steht damit für eine Form der Emanzipation, die sich in den althergebrachten, voremanzipativen Handlungsmustern einrichtet. Es handelt sich tatsächlich
34
35 36
Vgl. dazu die Analyseergebnisse im Blick auf Eva Heller, Hera Lind, Gaby Hauptmann, Milena Moser und Simone Borowiak bei Katarina Düringer (Anm. 1), S. 90ff., 195ff.; dazu und vor allem zu den Selbstwidersprüchen bei Hera Lind bei Oliver Sill (Anm. 5), S. 263ff.; Melani Schröter (Anm. 1), S. 37ff. Vgl. Ildikó von Kürthy (Anm. 31), S. 39. Vgl. zur historischen Entwicklung: Katarina Düringer (Anm. 1), S. 185ff.
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um einen Trend, der auch das Moppel-Ich zum Exempel für weitere kulturelle Verschiebungen erscheinen lässt. So finden sich viele Beispiele für eine gleichsam antifeministische Emanzipation, gerade auch im kommerziell erfolgreichen Kulturbereich, etwa im TV- oder Kinofilm (z. B. Sex and the City, 1998–2004, oder Legally Blonde/ Natürlich Blond, 2001). Aber symptomatisch ist dies nicht nur für eine Entwicklung der Geschlechterstereotypen, sondern strukturell auch für andere kulturelle Bereiche: Denn die Pazifizierung von traditionellen kulturkritischen Konfliktzonen gilt in ähnlicher Weise für das Verhältnis von ›jung‹ und ›alt‹, bei dem sich traditionelle Rivalitäten aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr einstellen wollen. Der klassische adoleszente Typus des Verweigerers, Aufrührers oder Rebellen hat es als Sozialtyp schwer, seitdem sich Erwachsene in einigen Milieus in Langzeitjugendliche verwandelt haben. Diese Verweigerung von Polemik gehört im übrigen auch zu den Grundzügen jener jungen Autorengeneration, die in den 1990er Jahren reüssiert – sie steigt aus den Mechanismen der Skandalisierung aus, die ältere Autoren wie Günter Grass oder Martin Walser und noch Botho Strauß oder Peter Handke betrieben haben, und reklamieren für den anspruchsvollen Autor nicht mehr die Position des kritischen Gewissens.37 Kürthys Roman, der die Schematismen von Frauenzeitschriften reflektiert, und Fröhlichs Diätratgeber nach den Diätratgebern sind deutlich markiert Texte zweiter Ordnung. Sie spielen mit Mustern und mit Erwartungserwartungen, und dies auch im Blick auf literarische Muster, die international prägend sind. Dies lässt sich an einem der bekanntesten und erfolgreichsten Werke des Genres ›Frauen-Unterhaltungsroman‹ zeigen: an Helen Fieldings Bridget Jones’s Diary (1996): In Fieldings Bridget Jones heißt es an einer Stelle, an der die Freundinnen und der homosexuelle Freund von Bridget über den »emotionalen Flachwichser« Daniel Cleaver debattieren: Interessanterweise führt […] Jude den Begriff ›Männerzeit‹ ein – wie er auch in dem Film Clueless vorkommt: nämlich fünf Tage (›sieben‹, unterbrach ich sie), in denen die neue Beziehung nach dem ersten Sex in der Luft hängengelassen wird. Sieben Tage erscheinen der männlichen Spezies nämlich nicht als qualvolle Ewigkeit, sondern als ganz normale Abkühlungsperiode, in der man seine Gefühle sammeln kann, bevor man weitermacht.38
Man erkennt darin unschwer den Handlungskern von Kürthys Mondscheintarif. Auch das psychologische Profil von Bridget Jones lässt sich leicht als Blaupause für die Heldinnen von Kürthy oder Fröhlich identifizieren. Es handelt sich um Genreliteratur, bei der Originalität, Einzigartigkeit, intellektuelle Tiefe oder ästhetische Genialität weniger wichtig sind als die kreative, gekonnte Abweichung und die Variation von vorliegenden Mustern. Dies gilt inhaltlich und formal, und jeweils überschneiden sich dabei die Bereiche von Faction und Fiction.
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38
Iris Radisch: Die Revolution frißt ihre Gründer. Ein Epitaph auf die alte Bundesrepublik: Peter Rühmkorfs Tagebücher aus den Jahren 1989 bis 1991 [Tabu I]. In: Die Zeit vom 13. 10. 1995 (zit. nach: Franz Josef Görtz u. a. (Hrsg.): Deutsche Literatur 1995. Jahresrückblick. Stuttgart 1996, S. 262f.). Helen Fielding: Schokolade zum Frühstück: Das Tagebuch der Bridget Jones. München 2001, S. 81.
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Das Moppel-Ich verschränkt Sachbuch und Romanliteratur bereits dadurch, dass der Ratgeber verschiedene Textsorten zusammensetzt, etwa Briefe, Tagebucheinträge oder Listen (wie sie beispielsweise Bridget Jones liefert), wobei sich der Ratgebermarkt mittlerweile zum zweitwichtigsten Buchmarktsegment nach dem der Belletristik entwickelt hat.39 Es handelt sich um ein hybrides Produkt, das als Sachbuch Gattungselemente der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ aufgreift, wie diese ihrerseits Sachbuchelemente integriert. Diese Gattungselemente wiederum sind typisch für popliterarische Verfahren, die traditionell die Grenze zwischen U- und E-Literatur sowie zwischen Faction und Fiction unterwandern. Es fügt sich jedenfalls ins Bild einer genre- und grenzüberschreitenden Allianz, dass Susanne Fröhlich auf ihrer Homepage in der News-Rubrik unter dem Datum vom 1. September 2004 schreibt: Gipfel der Bestsellerköniginnen Susanne Fröhlich traf im Auftrag von Brigitte in London die englische Bestseller-Autorin Helen Fielding. Wie eine »Seelenverwandte« sei ihr Fieldings berühmte Heldin Bridget Jones immer erschienen, gestand Susanne Fröhlich. Helen Fielding bescheinigt Susanne Fröhlich, ihr Moppel-Ich habe viel von einer erwachsenen Bridget-Version, die einfach abgenommen habe statt sich über ihr Gewicht zu beklagen.40
Um kurz zu resümieren: Das Moppel-Ich ist ein Diätbuch zweiter Ordnung, das immer auch das Schema ›Diät-Ratgeber‹ reflektiert und dabei Normen wie Schönheit, Schlankheit oder Jugend als Leitwerte des Lebens durchaus kritisch reflektiert, um sie dann zu bestätigen. Der Status als Literatur zweiter Ordnung bedeutet auch, dass von Beginn an die Frage nach der Platzierung eines Buchs auf einem übersättigten Markt im Raum steht. Daher erklärt sich die gezielte Ökonomisierung der literarischen Kultur. Fröhlich unternimmt dies in einer hybriden Form, die zwischen Sachbuch und Belletristik, zwischen Roman und Ratgeber, zwischen fi ktionaler und faktualer Literatur angesiedelt ist und die es kulturell legitim und plausibel erscheinen lässt, von einem Buch Lebenshilfe zu erwarten, gleich ob es sich um einen Roman oder um einen Ratgeber handelt. Als Gattungsfolie lässt sich insgesamt das Buchmarktsegment ›Frauenliteratur‹ identifizieren, das ein ganzes intellektuelles Milieu ausstattet (dieselben Werte kursieren in Romanen, Ratgebern, Zeitschriften, Zeitungen, Filmen etc.). In diversen Bereichen werden dabei Peinlichkeitsschwellen angehoben, sei es beim ausführlichen Eigenlob oder bei der Selbstvermarktung als Bestseller. Der Begriff von ›Emanzipation‹ verändert sich in diesem Zusammenhang auf eine Weise, dass reflektiert und ironisch jene Rollen, Werte und Normen affirmiert werden, die frühere Generationen kritisiert haben. Zu fragen bleibt, welche Folgen diese breite Umwertung von kulturellen Werten für den Begriff von Literatur und die Konzeption von Kanonizität hat. Was folgt aus einem sich wechselseitig stabilisierenden Medienverbund von belletristischer Literatur, Sachbuch, TV und Kino, der Mut zur eigenen Profanität macht und damit den hochkulturellen Konsens
39 40
Vgl. Ernst Fischer (Anm. 13), S. 203. http://www.froehlich-susanne.de/page?p=news, 28. 1. 2010.
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aufweicht, demzufolge es in bestimmten Fällen peinlich ist, etwas nicht zu kennen und zu wert zu schätzen? Wird hier der Kanonwert als solcher in Frage gestellt?
2. Bestsellermarketing im Medienverbund Die ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ führt auf geradezu ideale Weise jene Vermarktungsformen vor, auf die gedruckte Literatur seit den späten 1980er Jahren kreativ und affirmativ reagiert. Dies betrifft insbesondere den offensiven Umgang mit einer multimedialen Umgebung in Form von Hörbüchern, Poetry-Clips, Literaturformaten in TV und Kino sowie in diversen Formen der digitalen Verarbeitung insbesondere im Internet. So sind beispielsweise alle eingangs genannten Titel der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ verfilmt worden. Ein fast schon idealer Fall von Crossmarketing im Medientransfer stellt wiederum Fieldings Bridget Jones dar: Das Tagebuch des neurotischen und frustrierten Singles erschien zunächst als Kolumne in der englischen Zeitung The Independent, wurde dann als Roman publiziert und mutierte schließlich zu dem bekannten Kinofilm mit Renée Zellweger in der Titelrolle. Die Komplexität der Vermarktungskreise, die in einer rekursiven Bewegung mediale Aufmerksamkeit produzieren, lässt sich im Fall Susanne Fröhlichs immerhin andeuten. Ein Blick auf den Terminkalender, den Susanne Fröhlich auf ihrer Homepage präsentiert, verschafft einen ersten Eindruck: Sie weist dort auf die Sendungen von Fröhlich lesen hin, also einer Literatursendung im MDR. Über die Sendung am 27. Juli 2007 heißt es: Sabine Weigand wird am 27. 7. 2007 um 23.30 Uhr zu Gast in der Sendung »Fröhlich lesen« (MDR) sein. Sie schreibt wie Susanne Fröhlich, jedoch nicht über die Gegenwart, sondern über die Vergangenheit: »Die Markgräfin« und »Das Perlenmedaillon« heißen zwei der erfolgreichen historischen Romane von Sabine Weigand.41
Diese Möglichkeiten zur Selbstpräsentation bieten sich Fröhlich an vielen Orten: Im Oktober 2007 etwa in der NDR-Talkshow Talk bei Tietjen. Auch hier folgt eine für das Crossmarketing von Literatur bemerkenswerte Notiz: »Aber nicht nur sie, sondern auch zwei weitere Fischer-Autoren: der berühmte Bergsteiger Reinhold Messner und Bas Kast, Autor von ›Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft‹«. Hingewiesen wird auf der Homepage auf Fröhlichs Engagement für die Charity Organisation Prominence for Charity – »auf www.prominence-for-charity.de werden signierte Exemplare von ›Treuepunkte‹ und ›Familienpackung‹ verkauft, deren Erlös dem UNICEF Hilfsprojekt ›Schulen für Afrika‹ zugute kommt«.42 Hingewiesen wird auf Auftritte in der Talkshow Beckmann oder bei Wetten, dass…?, auf Vorabdrucke ihrer Sachbücher und Romane in der BILD-Zeitung oder in der Frauenzeitschrift Für Sie.43 Fröhlichs Werk kursiert also
41 42 43
Ebd. Ebd. Ein Beispiel für den Auftritt in der BILD-Zeitung: http://www.bild.de/BTO/leute/2007/04/21/ froehlich-susanne/falten-botox.html, 28. 1. 2010.
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nicht zur zwischen den Segmenten des Buchmarkts, die sich in diesem Fall wechselseitig stabilisieren und stimulieren, sondern bewegt sich in höchstem Maß professionell und erfolgreich in einem komplexen Medienverbundsystem. Wirklich überraschend ist schließlich: Wie Romane von Heller, Lind, Hauptmann, Kürthy oder eben Fieldings Bridget Jones44 wird auch das Moppel-Ich »verfilmt«, wie es auf der Homepage von Susanne Fröhlich und in der Ankündigung des ZDF heißt: Christine Neubauer spielt die Hauptrolle in der turbulenten ZDF-Komödie »Moppel-Ich«, die ab Donnerstag, 9. März 2006, in Berlin und Hamburg gedreht wird. […] Die Radiomoderatorin Carla Hahn (Christine Neubauer) steckt in einem Dilemma: Mit ihrer Sendung bei Antenne Berlin hat die erotischste Stimme der Hauptstadt mit ihren genialen Tipps zum Abnehmen eine riesige Fangemeinde – allerdings weiß niemand, dass Carla selbst ein wenig aus den Fugen geraten ist: Sie ist ›moppelig‹. Ausgerechnet jetzt wird sie von der Stimme, dem Charme und der Intelligenz eines Hörers dermaßen angezogen, dass sie ihren ehernen Grundsatz bricht und sich mit ihm treffen will. Als sie allerdings den großen, gut gewachsenen Typ mit Waschbrettbauch sieht, wird ihr klar: Will sie ihn haben, muss sie abnehmen – koste es, was es wolle...45
Bemerkenswert ist diese ›Verfilmung‹ deswegen, weil das Buch Moppel-Ich keine Handlung hat, weil darin überhaupt keine verliebte Radiomoderatorin vorkommt und weil man auch sonst keine Anhaltspunkte dafür findet, inwiefern es sich hier um eine ›Verfilmung‹ im landläufigen Verständnis des Wortes handeln könnte. Bei diesem Verfahren der Crosspromotion genügt für die Titelübernahme (ähnlich wie bei der Koppelung von Film oder Roman an ein Videospiel) die Charakterähnlichkeit der Protagonisten sowie eine Art gemeinsames Reservoir von Themen und Motiven – hier wie dort geht es also um die Figur des weiblichen ›Moppels‹ mit seinen erotischen Sehnsüchten. Die Zirkel dieses Medienverbundsystems sind ebenso eng wie verschlungen. Im Anschluss an die kurze Liste von konkreten Ratschlägen und Tipps zum Abnehmen, die das Moppel-Ich anbietet, präsentiert Fröhlich anstelle weiterer Ausführungen, die man von einem Diätratgeber erwarten dürfte, eine kommentierte Literaturliste mit anderen Diätratgebern. Als erstes Buch wird dort der Ratgeber der Hauptdarstellerin der ›Verfilmung‹ des Moppel-Ich empfohlen: Christine Neubauer: Die Vollweib-Diät (Knaur) These/Strategie: Lustvoll essen, wenig Fett, möglichst wenig Zucker, kein weißes Mehl und regelmäßige Bewegung. Bewertung: Christine Neubauers Diätbuch wurde von allen Bewertungsstellen bis hin zur Stiftung Warentest sehr gut besprochen. Ihr Ernährungsansatz ist sinnvoll und nach neusten Erkenntnissen, die beste Methode um an Gewicht zu verlieren. Sie propagiert die dauerhafte Ernährungsumstellung und prangert auch die heutigen Schlankheitsideale an. Ihr Ernährungskonzept macht Sinn. Sie erzählt relativ viel von sich, und das Buch ist insgesamt besser, als der Titel und das Cover vermuten lassen (auf dem Cover sieht man Frau Neubauer bäuchlings,
44 45
Die Verbindung von Buch und Film über Bestsellerlisten wird erst in den 1980er Jahren zur Normalität. Vgl. Karina Liebenstein (Anm. 8), S. 41ff. http://www.froehlich-susanne.de/page?p=news, 28. 1. 2010.
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und dralle Brüste, die in ihrem schönen Leben an alles, nur nie an Diät denken würden, springen einen quasi an). Alles in allem ein schön gemachtes Buch und eine sympathische Identifikationsfigur (die genau wie Sie und ich sicher nicht in Größe 34 passt).46
Nicht zufällig erinnert diese Kurzkritik an jene Leserrezensionen, denen Amazon zusammen mit seinem Käuferverweissystem einen Großteil seines Erfolgs verdankt. Greift man über diese Internetplattform auf Neubauers Diätbuch zu, stößt man unter der Rubrik »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch« auf jene Reihe, mit der Neubauer an den Erfolg ihres Diätratgebers anknüpft (Das Vollweib-Training, VollweibBeauty u. a.). Es handelt sich um ein Verfahren der Erfolgsübertragung durch Serienbildung, das Susanne Fröhlich in ihren Andrea Schnidt-Romanen (z. B. Treuepunkte) und im Sachbuchsegment mit Weiterführung des Moppel-Ichs durch Runzel-Ich sowie Und ewig grüßt das Moppel-Ich betreibt. Wie nicht anders zu erwarten, stößt man neben der DVD Moppel-Ich zudem auf das Moppel-Ich von Susanne Fröhlich. Bei dem Buch von Marion Grillparzer über die GLYX-Diät, auf die das Kundenreferenzsystem von Amazon gleich danach verweist, handelt es sich im Übrigen um den zweiten von Susanne Fröhlich im Moppel-Ich empfohlenen Diätratgeber. Für das literarische Textumgangsverhalten scheint mir bemerkenswert zu sein, dass im Medien- und Gattungstransfer vielfach die Grenzen zwischen Faction und Fiction gekreuzt werden. Die Tagebücher von Bridget Jones etwa hielten die Leser der Zeitungsfassung im Independent für den authentischen Bericht aus dem Leben einer jungen Frau. Die Roman- und die Filmfassung wurden dann als fiktionale Artefakte rezipiert. Allerdings begann über die Hauptdarstellerin des Films Renée Zellweger (nicht über die Hauptfigur Bridget Jones) eine Diskussion. Mit Irritation, Respekt und auch Bewunderung registrierten die Zuschauer, dass sich Zellweger aufopferungsvoll und mit vollem Körpereinsatz ihre Rolle einverleibte und erheblich an Gewicht zunahm – und diese Pfunde ebenso schnell wieder verlor und ihren Körper in Modellmaße an der Grenze zum Untergewicht brachte. Eben dazu verfasst Susanne Fröhlich einen Artikel für die Berliner Morgenpost vom 5. Dezember 2004 unter dem Titel: Bridget Jones und das Moppel-Ich. Es handelt sich um ein vehementes Plädoyer fürs Normale, das am Ende auf das Moppel-Ich verweist: […] Bridget ist laut Romanvorlage nun mal eine Frau, die eine ständige Debatte mit ihrem Moppel-Ich führt und im ewigen Kampf mit ihrer Waage steht. Dinge, die Frau Zellweger augenscheinlich mehr als fremd sind. […] Also beschloß die Regisseurin, daß sich Renée Zellweger für ihre Rolle […] ein bißchen was auf die schmalen Hüftchen packen muß. […] Verkehrte Welt. Um eine normale Frau zu spielen […] mußte Renée Zellweger ähnlich wie eine Mastgans vor Weihnachten gestopft werden. Was ist da eigentlich los? Gibt’s keine Schauspielerin mit Normalgewicht? Was wird uns hier vorgelebt und gespielt? Ist das der neueste Trend: Vorher-Nachher-Shows mal umgekehrt? […] Bei aller Entspannung durch den Film – das ist und bleibt ärgerlich und irgendwie auch dumm. Grüßen Sie ihr Moppel-Ich und fallen Sie auf den Käse nicht rein.
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Vgl. Susanne Fröhlich (Anm. 20), S. 229.
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Charakteristisch für die Beobachtungshaltung, die Fröhlich privilegiert, ist folgender Passus: Das ganze Theater um die paar Kilos führt dazu, daß man den ganzen Film über eigentlich weniger auf mögliche Schauspielkunst als darauf achtet, ob Frau Zellweger wirklich ein echter Moppel ist. Trägt sie nicht einfach nur viel zu kleine Strickjäckchen in absolut grauenvollen Farben? Wer würde in fleischfarbenen Oberteilen oder goldenen Abendkleidern, die einfach eine Nummer zu klein sind, gut aussehen? Ist der Busen echt, warum sind die Beine so dünn, und weshalb sieht sie bei den Szenen im Schnee, obwohl sie in einem knallpinken Overall steckt, eigentlich gar nicht dick aus?47
Im Namen des »Moppel-Ichs« kündigt Fröhlich konsequent die Fiktionalitätskonvention auf. Was auf der Filmleinwand passiert, wird weniger als Teil einer fi ktionalen Welt hingenommen. Es wird vielmehr aufgrund dessen betrachtet, gedeutet und gewertet, was man gemeinhin als ›Realität‹ behandelt. Juli Zeh hat dieses Phänomen in der ZEIT als »Metrofiktionalität« beschrieben: »als Etikettierung eines Literaturverständnisses, bei dem die Verwechslung von Erzählung und Erlebtem nicht Lapsus ist, sondern Programm«.48 Um nicht falsch verstanden zu werden: Leser konnten den Fiktionalitätspakt schon immer als eine eher lockere Vereinbarung sehen oder den Vertrag erst gar nicht eingehen. Die Frage ist nur, welchen Stellenwert diese Praktiken einer mehr oder weniger faktualistischen Wahrnehmung fiktionaler Welten in einer Kultur haben, wie sie sich mit anderen Praktiken verbinden, sich wechselseitig verstärken oder schwächen und damit insgesamt ein bestimmtes Verhältnis zur Literatur unterstützen. Zumindest im Bereich der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ gehört die souveräne Kreuzung zwischen Faction und Fiction zum normalen Verhalten von Autorinnen und vermutlich auch von Leserinnen. Hera Lind etwa fügt auf der letzten Seiten des Romans Superweib den Nachsatz hinzu: »Alle Personen und Handlungen dieses Romans sind völlig frei erstunken und erlogen. Ehrlich«. Oliver Sill belegt das ironische Kalkül dieser Fiktionalitätsversicherung unter anderem dadurch, dass er einen Passus aus dem Klappentext von Linds Die Zauberfrau, in dem sich die Autorin an ihre Leserinnen wendet, als Zitat aus dem Superweib und der dort auftretenden Erfolgsautorin belegt.49 Juli Zeh deutet dieses Phänomen kulturkritisch als Trend: Wer sich derzeit im Literaturbetrieb bewegt, kann einen Umgang mit Texten beobachten, der eher an eine Mischung aus Voyeurismus und Indizienprozess erinnert als an literarische Rezeption. Anstatt sich mit Fragen nach der sprachlichen Machart, nach Darstellungsformen und Dramaturgie zu beschäftigen, bewerten selbst Literaturgeschichten wie Lichtjahre von Volker Weidermann die behandelten Werke anhand der Biografien ihrer Autoren.50
47 48 49 50
http://www.morgenpost.de/content/2004/12/05/biz/720484.html, 28. 1. 2010. Juli Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität! In: Die Zeit vom 21. 09. 2006 (http://www.zeit. de/2006/39/L-Literatur?page=all, 28. 1. 2010). Vgl. Oliver Sill (Anm. 5), S. 259f. Vgl. Juli Zeh (Anm. 48).
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Steffen Martus
Im Hintergrund – und das trifft zumindest auf das Verhalten der Medienjongleurin Susanne Fröhlich zu – sieht Zeh den »Echtheitswahn der Unterhaltungsindustrie« am Werk: Authentizität läuft auf allen Kanälen. Im Fernsehen bringen Reality-Shows (echt!), Doku-Soaps (echter!) und Big Brother-Formate (am echtesten!) gigantische Einschaltquoten. Das Kino verkündet in jedem zweiten Vor- oder Abspann, dass das Gezeigte auf einer »wahren Geschichte« beruhe. Die Musikbranche wirbt mit den mehr oder weniger interessanten, dafür aber unverfälschten Lebensgeschichten ihrer Galionsfiguren. An allen Ecken werden dem Publikum die Lockstoffe der »Echtheit« unter die Nase gerieben, auf dass es sich an der Illusion von empathischem Miterleben und direktem Dabeisein berauschen möge. Es scheint, als würde das Kommunikationszeitalter mit seinen unzähligen Formen der Vermittlung und Übermittlung, der Kopie und des Zitats einen starken Hunger nach Unmittelbarkeit erzeugen […].51
Zusammenfassend: Es ging mir nicht um einzelne Phänomene, sondern um das komplexe kulturelle Arrangement ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹. Einzelne Bestandteile dieses Buchmarktsegments gehören in der einen oder anderen Weise zum Normalbestand literarischer Kommunikation spätestens seit dem 18. Jahrhundert. Entscheidend ist jedoch das Zusammenwirken der unterschiedlichen Faktoren. Erst diese Konzertierung macht die Werke von Heller, Lind, Hauptmann, Kürthy oder Fröhlich zu einem aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand. Literatur spannt sich in diesem Zusammenhang in den metrofiktionalen Unterhaltungsrahmen der Massenmedien ein. Ihr gelingt der Sprung in die Kreisläufe der massenmedialen Selbstbespiegelung und Selbstanregung, und sie bedient und stimuliert erfolgreich hedonistische Kulturpraktiken. Dabei geht es nicht zuletzt darum, den Umgang mit Peinlichkeitsgefühlen zu definieren, die auch für die Relevanz eines literarischen Kanons entscheidend sind. So präsentiert sich Fröhlich als jemand, der erfolgreich eine Diät hinter sich gebracht hat, um sich zum Durchhalten zu motivieren: Dieser Satz [»Ich bin […] schlank«] ist meine Peitsche, denn er garantiert, dass ich auch noch in fünf Monaten, bei Erscheinen dieses Buches, schlank sein werde, schon um nicht wie ein komplett inkonsequenter Volldepp dazustehen. Insofern ist mein Langzeiterfolg immerhin für ein knappes halbes Jahr gesichert, und ich danke Ihnen hiermit schon mal aus vollstem Herzen für diesen Erwartungsdruck! Denn, welch eine beschämende Vorstellung: Ich sitze zum Erscheinen meines Buches in einer Talkshow; plaudere, dicker denn je, mit Herrn Kerner, wahlweise Beckmann, Frau Maischberger, Amelie Fried oder wem auch sonst und habe Angst, beim Aufstehen den Stuhl mitzunehmen, weil der Hintern festklemmt!52
Mit anderen Worten: Sowohl als produktions- wie auch als rezeptionsästhetischen Hintergrund kalkuliert Susanne Fröhlich den Auftritt in Talk-Shows ein, in jenem Format also, das seit Jahren ein Unterhaltungsbedürfnis durch die gezielte Hebung von Schamund Peinlichkeitsschwellen ebenso stillt wie die Homestories über (Halb-)Prominente und die Zudringlichkeit der Medien aufs Private. Daher hat Fröhlich auch keine Proble-
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Ebd. Vgl. Susanne Fröhlich (Anm. 20), S. 21f.
»Für alle meine Freundinnen«
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me damit, in Wetten dass …? (gemeinsam mit Christine Neubauer) nicht als ein schlanker Beweis für erfolgreiche Diäten aufzutreten, sondern als Exempel für die Macht des Jo-Jo-Effekts. Sie zeigt sich indes nicht »beschämt«, sondern demonstriert, dass ihre Scham- und Peinlichkeitsgefühle nicht so leicht erregbar sind.53 ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ spricht damit jenes seit den 1990er Jahren expandierende hedonistische Milieu an, dessen Lektüreverhalten Jost Schneider beschrieben hat:54 Literaturkonsum steht im Zeichen des Nonkonformismus, der Flexibilität, der individuellen Freiheit. Die Leser dieses Milieus erkennen den Unterschied von E- und U-Literatur nicht an. Interessant ist in diesem Umfeld, ob ein Buch für die Reflexion der eigenen Persönlichkeit von Bedeutung ist, wohingegen der gleichsam entpersonalisierte Wert eines Buchs ›an sich‹ keine Auswirkungen auf dessen Akzeptanz hat. Entsprechend zeichnet sich der hedonistische Lesertyp durch schwankende Lektüredisziplin aus, die zu besonders intensiven Lektüreleistungen führt, wenn das gewählte Buch ihm ›etwas gibt‹. Ebenso schnell wird die Lektüre jedoch auch abgebrochen mit dem Vorwurf von ›Langeweile‹ oder der Feststellung von ›Unlust‹. Übergreifende, abstrakte Kulturnormen, denen man sich verpflichtet fühlt und deren Nicht-Erfüllung Peinlichkeitsgefühle evoziert, spielen demgegenüber keine oder eine nur geringe Rolle. Die ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ bedient dieses Textumgangsverhalten, indem sie Konsumismus und Hedonismus verteidigt, einen ironisch und reflektierten Umgang mit Tabubrüchen und Peinlichkeitsschwellen betreibt, geläufig zwischen verschiedenen Medien wechselt und ihre Aufmerksamkeitsfenster an die komplexe Medienwelt anpasst. Sie fügt sich damit ins Bild der Eventkultur und eben auch -literatur, das Stephan Porombka skizziert hat:55 Sie zielt auf Gemeinschaftseffekte, sie ist episodisch angelegt, und sie eröffnet Anschlüsse an Medien, die einen hohen Eventwert haben. Die Verwechslung von Erzähltem und Erlebtem macht es dabei leichter, die eigenen Erlebniswelten an die Lektüre zu binden. Für die Entwicklung auf dem Buchmarkt finden sich daher gerade hier viele Symptome: Dazu zählt ein positives Verhältnis zur Ökonomisierung der Kultur, das sich beispielsweise im Label »Bestsellerautorin« niederschlägt – dass zur Herbstbuchmesse 2009 in der ZEIT und in der FAS mehrseitige Artikel erschienen, wie man einen Bestseller produziert, bringt das Feuilleton nur auf den Stand der Dinge.56 Ebenso
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Vgl. z. B. http://www.wetten-dass.com/sowar_dortmund.html#, 28. 1. 2010; einen Ausschnitt aus der Sendung: http://www.youtube.com/watch?v=pgDVp6SmDK0, 28. 1. 2010. Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin, New York 2004, S. 327– 338. Stephan Porombka: Slam, Pop und Posse. Literatur in der Eventkultur. In: Matthias Harder (Hrsg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg 2001, S. 27–42. Wolfgang Uchatius: Dick, doof und arm. Wie macht man einen Bestseller? Der junge Soziologe Friedrich Schorb versucht es mit einem Buch über Fettleibige […]. In: Die Zeit vom 8. 10. 2009; Sabine Wienand / Tilman Spreckelsen: Der große Wurf. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11. 10. 2009; Eckhart von Hirschhausen: Vom Glück, den richtigen Riecher zu haben. In: Dichter Dran. Literatur-Magazin. Beilage u. a. zur Frankfurter Rundschau zur Frankfurter Buchmesse 2009, S. 20f. (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/buch-
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symptomatisch sind der hybride Gattungszusammenhang von fiktionalen (Roman) und faktualen Gattungen (Ratgeber) sowie der kreative Umgang mit der multimedialen Umgebung von Literatur. Es handelt sich bei der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ um das Feld einer offensiv auf ökonomischen Erfolg zugeschnittenen, generisch hybriden und multimedial anschlussfähigen Form der Literatur. Zwar finden sich auch die Bücher, die die ›Klassiker‹ der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ wie Hauptmann, Lind oder Kürthy in den letzten Jahren veröffentlicht haben, auf den Bestsellerlisten,57 aber sie sind im Verkauf bei weitem nicht mehr so erfolgreich wie die Bestseller der 1990er Jahre und der Jahrtausendwende – die Karrierekurve der Autorinnen liegt in dem seit den 1980er Jahren beobachtbaren Trend einer eher phasenförmig beschränkten Bestsellerautorschaft.58 Aber es bleibt zu überlegen, ob nicht Charlotte Roches Bestseller Feuchtgebiete das hier behandelte Genre und die entsprechenden Vermarktungsstrategien für eine neue Generation kongenial fortsetzt (diesmal als »Megaseller«, wie die Verlagswerbung es formuliert):59 Der Roman arbeitet weiter an der Verschiebung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen. Der Erfolg des Buchs ist ein Effekt der Arbeit im Medienverbund, in dem sich Roche bekanntlich versatil bewegt – auch die Feuchtgebiete sollen verfilmt werden. Roche spielt mit der eigentümlichen Form einer emanzipationskritischen weiblichen Emanzipation.60 Sie bekennt sich zur Hybridität des Textes, wenn sie in einem Interview behauptet: »Zunächst habe ich überlegt, ein Sachbuch zu schreiben«.61 Zudem war Roche zeitweise als Talkshow-Moderatorin die Nachfolgerin von Amelie Fried, die ihrerseits den Markt der ›Frauen-Unterhaltungsliteratur‹ beliefert und als Nachfolgerin von Elke Heidenreich im ZDF eine literaturkritische Sendung moderierte (gemeinsam mit Ijoma Mangold, Feuilleton-Redakteur der ZEIT). Handelt es sich bei Charlotte Roche also womöglich um die Hera Lind des 21. Jahrhunderts?
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messe_2009/buchmessen_beilage_dichter_dran/1998148_Anmerkungen-eines-Bestseller-Autors-Vom-Glueck-den-richtigen-Riecher-zu-haben.html, 28. 1. 2010). Vgl. dazu das Bestsellerarchiv des buchreport: http://www.buchreport.de/bestseller/suche_im_ bestsellerarchiv.htm, 28. 1. 2010. Vgl. dazu Karina Liebenstein (Anm. 8), S. 26f. – als ein Begründungsszenario führt Lie-
benstein den beschleunigten Geschmackswandel an. Auf jeden Fall sinkt auch hier die (Selbst-)Verpflichtung von Lesern, Autoren die ›Treue‹ zu halten. 59 60
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So als Aufkleber auf folgender Ausgabe: Charlotte Roche: Feuchtgebiete. 8. Aufl. Köln 2009. In einem älteren Interview knüpft Roche an die Tradition der ›neuen Frauenbewegung‹ an: Alice Schwarzer im Gespräch mit Charlotte Roche und Liz Busch: Ohne dich wäre ich nicht ich. In: Emma 3 / 2001 (http://www.emma.de/2371.html, 28. 1. 2010). Im Kontext der Promotion für die Feuchtgebiete geht sie dann auf Distanz: Moritz von Uslar / Claudia Vogt: Ich bin gar nicht so frech. In: Der Spiegel 9/2008. Julia Encke im Gespräch mit Charlotte Roche: Der ganz normale Wahnsinn. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. 2. 2008.
Thomas Wegmann
Warentest und Selbstmanagement Literaturkritik im Web 2.0 als Teil nachbürgerlicher Wissens- und Beurteilungskulturen
Im Internet sei der Intellektuelle dem ›Neid der Amateure‹ ausgesetzt. Das jedenfalls beklagte der ZEIT-Redakteur Adam Soboczynski in einer grundlegenden Polemik gegen das »egalitaristisch strukturierte[] Netz« mit seiner »normierende[n] Gewalt«.1 Jedem, der wachen Auges durch das Internet streife, so Soboczynski, sei die antiintellektuelle Hetze in den Kommentaren vertraut, die sich gegen vermeintlich Sperriges richte, gegen kühne Gedanken, gegen Bildung überhaupt. Interaktivität, kollaborative Autorschaft, Weisheit der Vielen bzw. Schwarmintelligenz? Für Soboczynski sind solche Schlagworte der Netzkultur nur Decknamen einer intellektuellen Verflachung, die wiederum lediglich ein Update totalitärer Verherrlichungen des Kollektivs darstelle: »Ein Beitrag im Netz, so die Verheißung, werde in der sogenannten Wissensgesellschaft wertvoller, je mehr Autoren an ihm herumlaborieren, ihn kommentieren, entweihen, seine wohlkomponierte Geschlossenheit aufbrechen, ihn kollektivieren zur flüchtigen Gedankenkolchose. Kooperation und Austausch sind die heiter propagierten Fetische, im Netz wie in Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen, die Muße bekämpfen und intellektuelles Einzelgängertum, da sie für die Volksgemeinschaft nicht verwertbar scheinen.«2 Erschienen war Soboczynskis Text in einem jener Printprodukte, die seit geraumer Zeit gern mit dem Label ›überregionale Qualitätszeitung‹ versehen werden. Und Anlass war der Kommentar eines Lesers, der eine online gestellte Buchbesprechung Soboczynskis ebendort als »seelenlos und gefühlsarm« sowie als »akademisch anmutende[] Wortakrobatik, die in die Zeit zwischen 1850 und 1910 gehört«, abgestraft hatte.3 Soboczynskis Reaktion ist eine Kritik der Kritik der Kritik. Nun kann man, wie es jüngst aus aktuellem Anlass getan wurde, mit guten Gründen darauf verweisen, dass die Öffentlichkeit nicht erst durch das Internet »rückkanalfähig« geworden sei, sondern
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Adam Soboczynski: Das Netz als Feind. Warum der Intellektuelle im Internet mit Hass verfolgt wird. In: Die Zeit vom 20. 5. 2009 (http://www.zeit.de/2009/22/Der-Intellektuelle?page=all, 26. 10. 2010). Ebd. Vgl. Adam Soboczynski: Üben, üben, üben! In: Die Zeit vom 2. 4. 2009 (http://www.zeit. de/2009/15/S-Sloterdijk, 26. 20. 2010; mit dem erwähnten Kommentar). Im Übrigen verfügt Soboczynski durchaus über eine eigene Facebook-Seite mit Dutzenden von Freunden, während er gleichzeitig in der Zeit schreibt: »Die Anbiederung der politischen Klasse an die Netzwelt, die emsige Twitterei von Bundestagsabgeordneten, der Facebook-Auftritt der Kanzlerin zeigt willfährige Knechte des Internets, keineswegs machtvolle Protagonisten. Berühmtheiten stellen sich darin aus, um Freier buhlend, wie die Nutten auf Ausfallstraßen« (Adam Soboczynski: Höfische Gesellschaft 2.0. In: Die Zeit vom 22. 10. 2009; http://www.zeit.de/2009/44/GesellschaftSoziale-Netzwerke?page=all, 26. 10. 2010).
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die Antikritik und auch deren Kritik das Rezensionswesen seit seinen Anfängen im 17. und 18. Jahrhundert ständig begleitet habe – und das mit konfliktverschärfender Wirkung.4 Dennoch wird man der gegenwärtigen Gemengelage kaum gerecht, wenn man sie »ausnahmslos« auf »publizistische Problemlagen« reduziert, »die bereits seit dem Aufklärungsjahrhundert«5 virulent sind. Das beginnt mit der einer solchen Argumentation inhärenten Missachtung jener medialen Umgebungen, in die sich die kurrenten Formen der Kritik einschreiben und die, so die hier peu a peu zu verifizierende These, Teil des Schreibmovens und des Geschriebenen selbst sind. Wie die Großstädte um 1900 nicht nur für Georg Simmel zu einem prägenden Faktor des Geisteslebens wurden, der sich nicht auf einen beliebigen Schauplatz beschränkt, formatieren ein Jahrhundert später die digitalen Medien kritische Denk- und Kommunikationsweisen auf maßgebliche Weise. Entsprechend ist auch die eingangs erwähnte Kritik der Kritik aus verschiedenen, noch zu erläuternden Gründen symptomatisch für Kommunikationsformen in sogenannten Web-2.0-Umgebungen: Das 2004 von Tim O’Reilly und Dale Dougherty geprägte Schlagwort vom ›Web 2.0‹ indiziert dabei nicht nur neue, anwenderfreundliche Softwarelösungen im Internet, sondern auch einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung ebenso wie in den Nutzungsmustern. Es reflektiert, dass das Netz zunehmend zu einem Ort medialer Handlungen geworden ist,6 bei dem der User Generated Content (UGC) einen wachsenden Stellenwert einnimmt.7 Das wiederum impliziert, dass sich erstens professionell erstellte und Nutzer generierte Inhalte mischen, zweitens Produktion, Publikation und Rezeption annähernd synchron verlaufen können und drittens der einzelne Text zunehmend als Intertext mit Verweisfunktion sichtbar wird. Nicht selten propagieren die einschlägigen Web-2.0-Gründernarrative daher auch, dass »die neuen Vernetzungsstrukturen im Internet die konventionelle Sender-Empfänger-Struktur«, mit der bekanntlich schon Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger haderten, nun »endgültig aufheben würden.«8 An die Stelle des ›passiven‹ Surfens im dezentralisierten Web solle, so O’Reilly und Dougherty, das aktiv vernetzte Community-Web treten. Die damit verbundenen Entgrenzungen von Laien- und Expertenkulturen, Produzenten und Konsumenten, Akteuren und Zuschauern im Web 2.0 haben »Neuansätze zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Akteurtheorien befördert: das Konzept der spektatori-
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Vgl. dazu mit vielen Beispielen und Literaturhinweisen Carlos Spoerhase: Ausweitung der kritischen Kampfzone: Was die Geschichte der aufklärerischen Rezensionskultur die aktuelle Reflexion über Literaturkritik lehren könnte. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. XIX (2009), H. 1, S. 171–178. Ebd., S. 176. Vgl. zum Web 2.0 auch Thomas Kamphusmann: Performanz der Erscheinens. Zur Dramatisierung des Schreibens unter den Bedingungen des Internet. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39 (2009), H. 154, S. 30–53, hier S. 33. Exemplarisch für diese aktive Beteiligung der User, so Michael Franz und Eleonore Kalisch, sei das Wiki-Prinzip, Webseiten für Änderungen durch Nutzer zu öffnen (Michael Franz / Eleonore Kalisch: Unter den Augen Dritter. Akteur- und Zuschauerkonstellationen im Web 2.0. In: Weimarer Beiträge 56 [2010], H. 1, S. 97–124, hier S. 101). Ramón Reichert: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld 2008, S. 8.
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schen Situation, das sich auf Perspektiven- und Positionswechsel zwischen Ego-Akteuren, Alter-Akteuren und zuschauenden Dritten konzentriert, kann als eine Variante der neuen Akteurtheorien begriffen werden.«9 Exemplarisch für die konstitutive Rolle von User Generated Content im Web 2.0 ist neben dem Wiki-Prinzip auch das zunehmend verbreitete Bloggen: »Über 130 Millionen Blogs gibt es inzwischen weltweit. Im Schnitt werden innerhalb eines Tages 900 000 neue Beiträge in diesen Netzjournalen verfasst. 1,596 Milliarden Menschen waren im Mai 2009 online – 23,8 Prozent der Weltbevölkerung. Jeder zwölfte Internetbewohner bloggt also und trägt dazu bei, dass eine formidable Textflutwelle an die Bildschirme des Planeten brandet.«10 Zu den Blogs kommen noch unzählige weitere digitale Schreibgelegenheiten, etwa auf den Seiten von Social Communities wie Facebook, bei zahlreichen Elektromagazinen und diversen InternetPortalen. Nicht zuletzt bieten auch die Online-Ausgaben etablierter Printprodukte die Möglichkeit, instantan Kommentare zu gerade gelesenen Artikeln zu verfassen und »mit anderen Lesern zu diskutieren«, wie es etwa bei SPIEGEL-Online heißt. Doch nicht um die digitale »Textflutwelle« als Ganzes soll es hier gehen; vielmehr werden im Folgenden einige Beobachtungen zu einer bestimmten Textsorte angestellt, die auch und gerade im Netz über eine erstaunliche Popularität verfügt, nämlich Texte, die sich mit anderen, zumeist literarischen Texten auf eine wie auch immer geartete Weise auseinandersetzen und somit literaturkritische Genres im weitesten Sinne bedienen. Ihre Bandbreite korrespondiert der Bandbreite ihrer Publikationsplattformen, und die wiederum reicht von speziellen Rezensionsforen wie literaturkritik.de über Literaturportale wie LovelyBooks, -blogs wie Literaturwelt.Das Blog und digitale Kulturmagazine wie titel-magazin.de bis zu kommerziellen Anbietern wie amazon.de. Den dort erscheinenden Texten ist trotz ihres äußerst heterogenen Spektrums gemeinsam, dass sie nicht einen vermeintlichen Nullpunkt des Schreibens aufsuchen, sondern sich erstens explizit auf bereits Geschriebenes – meist auf literarische Texte – beziehen und so stets über einen Link oder zumindest eine Verweisfunktion verfügen, auf die dann zweitens im Web 2.0 wiederum innerhalb kürzester Zeit mit einem weiteren Text verwiesen werden kann – ad infinitum. So entstehen textuelle Verknüpfungen, die sich von ihrem Ausgangspunkt und ihrem Adressaten zunehmend entfernen, und ob dieser Effekt des Mitmachens und Mitschreibens nicht gerade das Telos solcher Textketten ist, bleibt zu fragen. Zu fragen ist auch, ob sich solche Bewertungen von Büchern, denn meist handelt es sich um Bücher und weniger um Zeitschriftenbeiträge oder Netzpublikationen, noch unter das subsumieren lassen, was traditionell mit Literaturkritik assoziiert ist, oder ob hier neue Medien- und Wertungskulturen entstehen. Bevor ich diesen Fragen nachgehe, möchte ich anhand weniger Beispiele und ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige divergierende Impressionen von und kursorische Überlegungen zu dem vermitteln, was sich im Netz unter Literaturkritik im weitesten Sinne finden lässt. Das erste Beispiel bezieht sich auf Katharina Hackers Roman Die Habenichtse und dessen Rezeption vor allem auf der Internetplattform des »Social-
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Michael Franz / Eleonore Kalisch (Anm. 7), S. 98. Peter Glaser: Die Textremisten. In: Berliner Zeitung vom 16. 6. 2009.
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Commerce-Versandhauses« (Wikipedia) Amazon.11 Der Roman ist in den Feuilletons aller großen deutschsprachigen Tageszeitungen überwiegend positiv rezensiert worden12 und erhielt 2006 den Deutschen Buchpreis, dürfte also einem etwas größeren Publikum bekannt sein. Entsprechend finden sich im Netz sowohl zahlreiche Kommentare zu den Rezensionen in den Printmedien (sofern online verfügbar) als auch sogenannte ›Kundenrezensionen‹ auf Plattformen wie amazon.de und buecher.de. So heißt es etwa auf buecher.de über Hackers Roman: »Die lakonische Sprache erinnerte mich an die Lesungen bei den Klagenfurter Literaturtagen. Es geht bei diesem Roman aber doch nicht um den Ingeborg-Bachmann-Preis, sondern ein breites Publikum möchte einen solchen Roman genießen.«13 Bei Amazon kann man nicht nur kommentierende Texte einstellen, sondern auch eine nonverbale Wertung mit Hilfe einer Skala zwischen einem Stern und fünf Sternen vornehmen. Darüber hinaus findet man die Kundenkommentare auch statistisch aufbereitet: Demnach gibt es zu Hackers Roman insgesamt 76 Rezenionen,14 von denen wiederum die meisten, nämlich 27, lediglich einen Stern und 16 nur zwei Sterne vergaben; allerdings vergaben auch jeweils 12 Rezensenten und Rezensentinnen vier oder fünf Sterne, so dass im statistischen Durchschnitt 2,55 Sterne vergeben wurden. Die Kundenrezensionen können ihrerseits ebenfalls bewertet werden, allerdings nur nach einem zweiwertigen Schema: »hilfreich« oder »nicht hilfreich«. Man weiß zwar nicht, worauf sich dieses »hilfreich« bezieht, erkennt aber sofort, dass dieser Status wiederum für das Amazon-Ranking selbst hilfreich ist: Die ›hilfreichsten‹, also von den meisten Kunden als solche klassifizierten Rezensionen sieht man nämlich auf den ersten Blick, zu allen anderen muss man sich durchklicken. Von den Rezensionen zu Katharina Hackers Habenichtsen war es eine Drei-Sterne-Rezension mit der Überschrift »Jein«,15 die als die hilfreichste bewertet wurde (»46 von 52 Kunden fanden die folgende Rezension hilfreich«). Darin heißt es resümierend: »Vielleicht würde ich das Buch Lesern empfehlen, die Romane als intellektuelle Schreibübung begreifen. Menschen, die beim Lesen gerne Spaß haben, sollten sich besser ein anderes Buch kaufen, sie werden ziemlich sicher enttäuscht sein.« Danach folgt eine Ein-Sterne-Rezension (von einem K. Jacob aus Hannover), die 36 von 42 Kunden als hilfreich bewerteten und die mit den Worten endet: »Warum ich überhaupt einen Stern vergebe? Weil ich nach tapferer Lek-
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Auf der integrierten Verkaufsplattform ›Marketplace‹, wo auch Privatpersonen sowie andere Unternehmen neue und gebrauchte Bücher verkaufen können, wird die gebundene Ausgabe bereits für 90 Cent angeboten, Zustand: »Gebraucht – sehr gut« (http://www.amazon.de/gp/offerlisting/3518417398/ref=dp_olp_used?ie=UTF8&qid=1265044188&sr=8–2&condition=used, 1. 2. 2010). Einzig Meike Fessmann formulierte in der Süddeutschen Zeitung vom 5. 4. 2006 Einwände. Hackers Roman, so Fessmann, gehe »mit den ganz großen Themen um: Tod, Liebe, Schuld«, gelange aber nicht über ein »desorientierendes Buch über die Desorientierung« hinaus. http://www.buecher.de/shop/buecher/die-habenichtse/hacker-katharina/products_products/content/prod_id/20774420/#rating, 19. 8. 2010. Dies und das Folgende auf dem Stand vom 1. 2. 2010. Sie stammt von einem nicht näher gekennzeichneten Shiraz aus Hamburg, dessen Name jedoch so verlinkt ist, dass man durch Aktivierung dieses Links zumindest mehr über seine Rezensionstätigkeiten auf amazon.de und über die Kundenreaktionen darauf erfahren kann.
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türe eine Stinkwut auf die Hauptakteure hatte.« Wer viele Kundenrezensionen verfasst, die dann wiederum von anderen Kunden als »hilfreich« bewertet werden, schafft es vielleicht irgendwann, zu den »Top 500 Rezensenten« oder gar zu den »Top 10 Rezensenten« aufzusteigen und entsprechend gelistet zu werden.16 Bei all dem zu beachten ist auch der Umfang der Rezensionen: So vergibt etwa ein Leser aus Münster, der sich als »DeutschStudent« zu erkennen gibt, fünf Sterne; seine Besprechung mit einem für Kundenrezensionen ungewöhnlichen Zuschnitt von über 10.000 Zeichen und zahlreichen Zitaten als Beleg für Hypothesen fand jedoch nur eine einzige Kundin hilfreich. Sie merkte dazu an: »Eine hervorragende Rezension! Interessante Interpretation. Vielen Dank.« Ein anderer Leser dagegen: »Das sehe ich anders. Ich möchte hier keine Hausarbeiten oder Abhnadlungen [sic!] über Bücher lesen, davon habe ich in der Uni schon genug.«17 Sollte dieses Statement symptomatisch sein, und manches spricht dafür, könnte die eingangs erwähnte Polemik von Adam Soboczynski zumindest in die richtige Richtung weisen: Offenbar geht es bei der Auseinandersetzung mit Literatur im Web 2.0 nicht selten um die bewusste Kultivierung amateur- oder laienhafter Beobachterperspektiven als Alternative zu einem tradierten und institutionalisierten, womöglich gar akademischen Umgang mit literarischen Texten, um die Konstituierung von Freiräumen gegenüber herrschenden Diskursen und ästhetischen Normen. Entsprechend groß und diffus ist das Unbehagen gegenüber jedwedem Duktus, der auch nur im Ruch des Akademischen oder Feuilletonistisch-Professionellen steht. So zog etwa die Rezension eines mexikanischen Debütromans auf ZEIT-Online im Mai 2009 zwei Kommentare nach sich. Der eine trägt die Überschrift »Überintellektualisiert!«, der andere »Ähh, da hatte ich was nicht verstanden«.18 Derartig idiosynkratische Reaktionen ließen sich zuhauf anführen. Sie richten sich nicht zuletzt gegen eine professionelle Literaturkritik in den Printmedien, die im Netz nicht selten als »Pseudokritik« bezeichnet wird, weil sie angeblich literarische Texte mit möglichst großer Publikumsferne favorisiert, wie kürzlich auf Glanz & Elend, einem Online-Magazin für Literatur und Zeitkritik, konstatiert wurde: »Einige wenige Meinungsmacher geben die […] Richtung vor […]. Mit Literatur-Literatur erhöhen sich Kritiker in den Propheten-Stand. Der auf diese Weise verstummte Leser soll mit hochrotem Kopf einfach nur noch nicken – oder schweigen.«19 Es geht also offenbar um verschiedene Formen von Professionalität und Autorität – und damit letztlich um die Zirkulation verschiedener Kapitalsorten im Sinne Pierre Bourdieus: Professionelle Kritiker erhalten das zu rezensierende Buch gratis und
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Amazon hat kürzlich das Ranglistensystem mit dem Ziel geändert, es so einzurichten, »dass Kunden, die anspruchsvolle und hilfreiche Rezensionen schreiben, erkannt werden und weniger Gewicht auf der Anzahl der veröffentlichten Rezensionen liegt […]. Das Verfassen tausender Rezensionen, die aber von den Kunden nicht als hilfreich empfunden werden, führt nicht zu einer Verbesserung des Rangs.« Näheres dazu unter http://www.amazon.de/gp/help/customer/ display.html?ie=UTF8&nodeId=1058402, 24. 8. 2010. Die durchaus anspruchsvolle Fünf-Sterne-Rezension von Anders Adebahr aus Frankfurt /M. fanden immerhin 62 von 77 Kunden hilfreich. http://community.zeit.de/article/2009/05/18/papier-ist-ungeduldig#comment–345065, 3. 2. 2010. Lothar Struck: Provinzkritiker (http://www.glanzundelend.de/Artikel/provinzkritiker.htm, 1. 2. 2010).
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für ihre Kritik ein Honorar – und obendrein das symbolische Kapital, in einer sogenannten Qualitätszeitung oder für den Rundfunk schreiben zu dürfen. Und auch wenn sich die Bedingungen professioneller Literaturkritik seit geraumer Zeit unter ökonomischem Druck verschärft haben, widersprechen sie durch die Praxis selektiver Produktion und strikter Zugangsbeschränkung der »Open-Access«-Ethik der Computerwelt. Bei den Leserrezensionen auf amazon.de verhält es sich hingegen genau umgekehrt: Die Kritiker haben für den kritisierten Gegenstand in aller Regel bezahlt, während ihre Texte im Netz gratis verbreitet werden und ihren Autoren nichts einbringen – abgesehen von dem symbolischen Kapital, so es denn eines ist, zu den »Top 10 Rezensenten« bei Amazon zu zählen. Einer von ihnen – Werner Fuchs, 2.309 Rezensionen, 26.005 hilfreiche Stimmen – hat dem Branchenmagazin buchreport diesbezüglich die folgende Auskunft gegeben: »[W]ährend der Campus Verlag sogar Sätze von mir auf Buchumschläge druckt, hält es die Presseabteilung des Suhrkamp Verlages nicht einmal für nötig, meine Anfragen zu beantworten. Andere Verlage teilten mir mit, sie würden grundsätzlich keine Rezensionsexemplare mehr an Amazon-Rezensenten versenden. Damit kann ich gut leben, kaufe ich doch die meisten der besprochenen Bücher noch immer selber.«20 Es geht also bei den sogenannten Kundenrezensionen um Nutzerwertungen in engem Zusammenhang mit Kaufentscheidungen, um Warentests, die nicht von ungefähr auf einer Plattform erscheinen, wo man mit wenigen Mausklicks das besprochene Produkt auch erwerben kann. Den Effekt dieser Praxis resümierte kürzlich der US-amerikanische Evolutionspsychologe Geoffrey Miller: »Der normale Konsument hat Zugang zu besseren Produktbewertungsdaten, als sich Marktforscher jemals erträumen konnten. Online-Nutzerbewertungen erlauben uns in fast allen Zusammenhängen, evidenzbasiert zu entscheiden. Für die meisten Güter und Dienstleistungen, ja für die meisten Lebensbereiche bieten sie dem Konsumenten eine Art informeller Meta-Analyse – eine Ansammlung von Daten über alle Analysen, die andere, gleichgesinnte Konsumenten bereits durchgeführt haben. Damit wird die Urteilsbildung von einem individuellen und anekdotischen zu einem sozial dezentralisierten und statistischen Vorgang.«21 Die Rezensionen auf Amazon sind mithin formuliert aus der Perspektive von Kunden, von Käufern eines Produkts, und das Ergebnis ist ein vielstimmiger Warentest: Begutachtet werden Güter, bei deren Konsum in der Regel Kosten anfallen. Die akademische und feuilletonistische Literaturkritik hingegen beurteilt und analysiert Kunstprodukte, bei denen Kosten traditionell ausgeblendet werden.22
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»Haben Sie mehr Macht als die FAZ, Herr Fuchs?« Interview mit dem beliebtesten AmazonBuch-Kritiker Werner Fuchs (http://www.buchreport.de/nachrichten/online/online_nachricht/ datum/2010/02/23/haben-sie-mehr-macht-als-die-faz-herr-fuchs.htm, 24. 8. 2010). Teile der Jahresfrage 2010 des renommierten amerikanischen Literaturagenten John Brockman, in deren Rahmen auch Millers Beitrag online auf Edge.org erschien, sind übersetzt und dokumentiert auf FAZ.NET, Millers Text unter http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~E170FC276333F41169B32592B87F4B699~ATpl~Ecommon ~Scontent.html, 26. 10. 2010. Der aktuelle Streit um Open Access, um einen angeblich freien Zugang zu Informationen und eine Neuformulierung des Urheberrechts, geht letztlich auf diesen Hiatus zwischen kulturindustriellen Amateuren und Profis zurück.
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Zugleich schreiben sich die Leserkommentare, die vom akademischen Wissen über Literatur wenig wissen wollen, in hochprofessionelle Umgebungen ein, die Wissen anders, nämlich medientechnologisch neu formatieren – und das durchaus mit dem jedem Wissen inhärenten Wahrheitsanspruch und einer entsprechenden Begründungsleistung. Wenn ich etwa von meinem Rechner aus die Startseite von Amazon aufrufe, werde ich nicht nur namentlich begrüßt, sondern es werden auch die Bücher aufgeführt, die ich mir angesehen habe, die mir gefallen könnten und so weiter. Amazon ›weiß‹ mehr als ich: Es weiß auf den Tag genau, wann ich das Buch von Katharina Hacker gekauft habe, es weiß, welche Titel ich mir außerdem angeschaut habe und welche Titel andere Leute, die ebenfalls die von mir angeschauten oder gekauften Titel angeschaut oder gekauft haben, außerdem angeschaut oder gekauft haben, weil offenbar die Chance besteht, dass auch ich mir diese Titel anschauen und vor allem kaufen könnte. Es weiß Bescheid über meine Vorlieben und wartet mit Empfehlungen auf, die selbstredend inspiriert seien von meinen individuellen ›Shopping-Trends‹: eine digitale und vollautomatische Version des traditionellen Fachverkäufers, mitunter allerdings genauso fehlerhaft wie die alte ›Wetware‹ Mensch. Dafür konstituiert sie auf medientechnologischer Basis eine Geschichte ungewöhnlicher Realien – wer hat was angeschaut und gekauft – mit erstaunlichen Evidenzeffekten. »Im beweglichen Feld rechnergestützter Datengewinnung und -verarbeitung nehmen sowohl Visualisierungstechniken zur Wissensproduktion und Wahrnehmungskonstitution als auch Programme zur Auswertung und Archivierung digitaler Nutzung einen zusehends größeren Raum ein (z. B. die Retrieval-Modi sorting, counting, ranking, marking).«23 Der Pionier dieser Praxis war das Online-Radio last.fm mit der Funktion, jeden Song, den man sich abspielt, im Profil zu eigenen, privaten Charts zu verrechnen.24 Nach ein paar Monaten kennt last.fm den eigenen Musikgeschmack. Das Sammelwort für solche medialen Zettelkästen ist ›Social Cataloging‹: offene Datenbanken, in denen sich Benutzer ein Profil anlegen und dann die Privatsammlung verwalten, Kritiken schreiben und Netzwerke bilden. Solche Benutzerprofile, wie man sie etwa bei Buch-Communitys wie Goodreads anlegen kann, konstituieren ein privates Archiv aus Daten und Verweisen im semi-öffentlichen Raum, das den individuellen Zugriff und Konsum, das Reden und die Vermarktung von Kultur so scharf zeichnet wie nie zuvor. Wer sein mediales Leben mit solchen Fahrtenschreibern dokumentiert, weiß zumindest über die eigene Bildungs- und Geschmackshistorie bald genauso gut Bescheid wie weiland die Turmgesellschaft über die fundamentalen Irrtümer Wilhelm Meisters. Auf der einen Seite geht es also beim Umgang mit Literatur im Netz immer weniger um ein diskursives Wie und immer häufiger um das Was des Gelesen- und Gekaufthabens, ums ›Voting‹ und ›Ranking‹, um Listen und Kataloge mit messbaren Daten. Auf der anderen Seite steht dem die meinungsfreudige Kultur der neuen Kunden, der Blogger und Kommentatoren gegenüber, die oft nicht lange räsonnieren und argumentieren,
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Ramón Reichert (Anm. 8), S. 7. Vgl. dazu und zum Folgenden Stefan Mesch: Buch-Communities: Und was liest du so? (http:// www.zeit.de/online/2009/33/buch-communities–2?page=all, 19. 8. 2010).
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sondern rigide urteilen25 und die dabei mitunter auch als sachliches Korrektiv fungieren, wenn etwa ein Beitrag in der Welt über den Schriftsteller Jörg Fauser26 mit einem falschen Todesjahr (1988 statt 1987) aufwartet, was umgehend in einem Leserkommentar online nicht nur angemerkt, sondern spektakulär inszeniert wird.27 Oder wenn eine Kundenrezension auf Amazon in Norbert Bolz’ Diskurs über die Ungleichheit (2009) argumentative Redundanzen und zahlreiche orthografische Fehler bemerkt. Doch all diese Kommentare und Kundenrezensionen bedürfen einer medialen Umgebung, die auf einer fundamentalen »Rekonfigurierung der Möglichkeiten von Speicherung, Übertragung und Prozessierung von Texten«28 basiert und ohne die diese Texte in dieser Form nicht zustande gekommen wäre. Und es sind gerade die Kontexte und Milieus, die Verweise und Umgebungen, die die alte und die neue Literaturkritik ausmachen und voneinander unterscheiden. Im Web 2.0 mit seinem medientechnologischen Potenzial, mit neuen Wissensformen und Linkstrukturen werden die publizierten Texte der User »sich gegenseitig zur Kulisse«; sie werden »primär nicht in Bezug auf die in ihnen enthaltene Wahrheit oder Schönheit, ihren kunstvollen Aufbau oder die Eleganz ihrer Argumentation bewertet«, »sondern im Hinblick auf ihren Aufmerksamkeitswert und ihre Wirksamkeit« innerhalb der Verweisstruktur. »Deren In-Szenierung ist in sehr viel stärkerem Maße mit Fragen des richtigen Augenblicks der Publikation, der eigenen und der Sichtbarkeit derjenigen Texte beschäftigt, auf die Bezug genommen wird […], und ist damit den Inszenierungen der darstellenden Künste sehr viel näher als denen der bildenden.«29 Von daher sind solche Texte nicht zuletzt unter performativen Aspekten zu analysieren, konstituieren sie doch im und mit dem Web 2.0 eine eigene Ästhetik des Erscheinens, der es um die Ent-Äußerung des Geschriebenen im Zuge seiner Publikation geht, um den technisch unterstützten Modus des Erscheinens. Entsprechend werden solche Texte häufig mit Verweis auf jene Protokolle und Daten katalogisiert, welche die technischen Grundlagen des Transfers bilden: neuester Beitrag, Anzahl der Beiträge, Anzahl der Kommentare, Zugriffszähler etc. Demgegenüber steht die traditionelle Literaturkritik in den etablierten Printmedien, den Feuilletons und Rezensionsorganen mit ihren Verweisen auf kanonisierte Texte, die vor allem bei der Besprechung neuer literarischer Texte häufig als Vergleichsgrößen herangezogen werden und die man kennen muss oder sollte,
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»Während sich Journalisten zunehmend mehr als neutrale Vermittler denn als Kontrolleure der Macht begreifen, zeichnet sich die Blogger-Szene durch Nonkonformismus, gesteigerte Meinungsfreude und oft auch durch Ablehnung langatmiger redaktioneller Prozesse aus« (Stephan Weichert und Christian Zabel: Digitaler Kulturkampf. Ein Blick auf den Alpha-Journalismus 2.0. In: Neue Zürcher Zeitung vom 14. 8. 2009; http://www.nzz.ch/nachrichten/medien/digitaler_kulturkampf_1.3338395.html, 14. 8. 2009). http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article4177641/Joerg-Fauser-Ein-Leben-auf-der-Ueberholspur.html#reqNL, 19. 8. 2010. »Peinlicher Beitrag. Jörg Fauser starb am 17. Juli 1987 zwischen Feldkirchen und MünchenRiem. Ihre Bildunterschrift: ›Man kann ihn gar nicht sitzend denken: Jörg Fauser war ein rastloser Schreiber, ein rastloser Mensch. Er starb auf der Autobahn.‹ ist ein Hammer. Glückwunsch« (Kommentar von Franz Tunda am 29. 7. 2009, ebd.). Thomas Kamphusmann (Anm. 6), S. 30. Ebd., S. 46f.
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um die Wertungslogik nachzuvollziehen. Zugespitzt formuliert: Gedruckte Literaturkritiken versuchen, sich selbst dann noch in Traditionen einzuschreiben, wenn sie mit ihnen brechen, Rezensionen im Web 2.0 dagegen in neue technologische Umgebungen mit neuen Verweisstrukturen und Ordnungskriterien; beides sind mittlerweile Wertungsroutinen, aber Wertungsroutinen, die sich wechselseitig irritieren. Tendenziell eher unterrepräsentiert sind im Web 2.0 hingegen Auseinandersetzungen mit ästhetischen Formprinzipien, mit der Poetik von literarischen Texten, ihrer Stilistik, ihren rhetorischen Mitteln. Wenn es etwa heißt, ein Buch sei in einem »schlechten Schreibstil« verfasst, ist dieses Thema damit nicht selten erledigt. Das führt häufig zu Allodoxien im Sinne Pierre Bourdieus, also zu »irrtümlichen Aha-Erlebnissen, in denen sich der Abstand zwischen Kenntnis und Anerkennung verräterisch zu erkennen gibt«,30 wenn etwa »Erzeugnisse mittlerer Kultur für Avantegardewerke [ge]halten oder die künstlerische Avantgarden […] im Namen des gesunden Menschenverstands kritisiert«31 werden. Doch Literaturkritik im Web 2.0 als User Generated Content will nicht die »Vollendung des Werkes«32 sein, wie Walter Benjamin in seiner Dissertation den emphatischen Kritikbegriff der Frühromantik und vor allem Friedrich Schlegels resümiert,33 bevor er in seinen späteren Schriften die gesellschaftspolitische Funktion des Literaturkritikers postuliert, der als »Stratege im Literaturkampf« zu wirken habe.34 Es geht ihr auch weniger um aufklärerische Geschmacksbildung,35 ästhetische Erfahrung im Sinne Kants oder ein kongeniales Verständnis von Autor und Werk, sondern darum, zurückzuschreiben und damit den Text in eine Kette von Texten einzufügen. Die so entstehenden Verweisstrukturen und Textketten aus Kritik und Antikritik aber sind auch kein digitales Update alter Gelehrtenkulturen unter strenger Missachtung gelehrter Inhalte, sondern eine Form des selbst Schreibens als Sich-Selbst-Schreiben, das konsequenterweise an literarischen Figuren und Plots, weniger aber an Aspekten von Ästhetik und Poetik interessiert ist. Und während man bei der traditionellen Literaturkritik in den Printmedien – über einen längeren Zeitraum und bezogen auf die Texte eines bestimmten Autors – einen Prozess allmählicher Konsensbildung empirisch nachgewiesen, mit der Metapher der ›Orchestrierung‹ belegt36 und auf dieser Basis konstatiert hat, dass
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Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt / M. 1987, S. 504. Pierre Bourdieu: Im Banne des Journalismus. In: P. B.: Über das Fernsehen. Frankfurt / M. 1998, S. 103–121, hier S. 115. Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt / M. 1972ff. Bd. I.1, S. 108. Die real existierende Literaturkritik im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Journale, ist dagegen vor allem ›richtende Kritik‹ mit dem Ziel, sowohl die Buchproduktion als auch den Publikumsgeschmack zu bilden. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften (Anm. 32). Bd. IV, S. 108. Kritisch und instruktiv dazu Stephan Porombka: Dem Gegenstand Gedanken zuführen. Walter Benjamin als Rezensent. In: Text + Kritik H. 31/32: Walter Benjamin. Dritte Auflage: Neufassung 2009, S. 109–119. Vgl. dazu Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart, Weimar 2001, S. 36f., 98ff. Vgl. dazu Rainer Grübel / Ralf Grüttemeier / Helmut Lethen: BA-Studium Literaturwissenschaft. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 155ff. Mit der von Pierre Bourdieu entlehnten Metapher
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der »Diskurs über das Kunstwerk kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen und Würdigen [ist], sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts«,37 zeichnen sich die Wertungspraktiken im Web 2.0 vor allem durch die »Zelebrierung von nichtelitären Kulturformen«38 aus. Diese beurteilen Literatur nicht selten danach, ob sie entweder anschlussfähig an eigene Erfahrungen ist oder umgekehrt eskapistisch aus dem eigenen Leben herausführt in andere, phantastische Welten. In beiden Fällen aber geht es um die Etablierung eines mehrheitsfähigen, dezidiert unakademischen und unprofessionellen Umgangs mit fi ktionalen Texten – und damit auch um eine Form der Orchestrierung, die aber weniger einzelne Werke und Autoren als vielmehr einen bestimmten Diskurs für alle Werke und Autoren betrifft. Dass dabei sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Komponenten gefragt sind, wie das Günter Blöcker noch 1966 für die Literaturkritik allgemein reklamierte,39 wird man wohl kaum noch behaupten wollen. Stattdessen geht es in Literatur und ihrer Kritik um Authentizität,40 um einen von professionellen Routinen und akademischen Ritualen unverstellten Umgang mit literarischen Texten, kurz: um mediale Inszenierungen des vermeintlich Unmittelbaren. Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend, lässt sich literaturkritisches Schreiben im Netz als eine Kombination von jugendlichen Verabredungskulturen und Formen des Selbstmanagements fassen, wie sie signifikant sind für das Web 2.0: Der Terminus »Verabredungskulturen« ist eine Formulierung Diedrich Diederichsens und resümiert die grundlegende Einsicht von Jugendkulturen, »dass wenn man nichts Spezifisches kann und zu sagen hat, man dieses nur verabredet tun muss«,41 um dennoch wahrgenommen zu werden und anschlussfähig zu sein. Der Punk-Rock verdankt sich dieser
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der ›Orchestrierung‹ bezeichnen die Autoren den allmählichen Prozess der Konsensbildung unter Literaturkritikern, etwa so wie ein Orchester nach der Einstimmung und Einübung allmählich einen gemeinsamen Klang produziere. Allerdings vollziehe sich die Orchestrierung der Literaturkritik ohne zentralen Dirigenten, und das Selbstbild der Literaturkritiker von ihrer Arbeit bleibe das eines höchst individuellen Schreibaktes. Dennoch habe sich bei der Analyse von Literaturkritiken zu einem noch weitgehend unbekannten Autor, der mit einem Werk debütiert, empirisch zeigen lassen, dass hier die Literaturkritiken – vorausgesetzt es gibt eine hinreichende Anzahl – bei der Bewertung in der Regel sehr viel weiter auseinander liegen als bei den folgenden Werken des Autors, in denen sich die Kategorien der Einordnung zunehmend homogenisierten, zwar vielleicht polarisiert blieben, aber doch bis in die verwendeten Begriffe hinein immer ähnlicher würden. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt / M. 2001, S. 276. Rámon Reichert (Anm. 8), S. 40. Widersprüchliche Urteile dürfen dabei auf ein und derselben Plattform unvermittelt nebeneinander stehen: Stephenie Meyers Roman Twilight etwa findet sich bei der Buch-Community Goodreads sowohl in der Liste ›Best Books Ever‹ als auch unter den ›Worst Books Ever‹ – und zwar in beiden Fällen ganz weit oben. Vgl. dazu Wolfgang Albrecht (Anm. 35), S. 10. Vgl. dazu Achim Saupe, Authentizität, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (http://docupedia.de/docupedia/index.php?title=Authentizit%C3%A4t&oldid=68568, 11. 2. 2010). Diedrich Diederichsen: Wohlklang in einem etwas anders sozialisierten Ohr. Warum die Popmusik an einem Ende angekommen ist – und was wir in Zukunft noch von ihr erwarten können. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. 8. 2009.
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Einsicht, partiell auch der Sturm und Drang, und die unvermittelt schnellen Soli des Speed- und Deathmetal gehen, Diederichsen zufolge, zurück auf Einsamkeit und Gemeinsamkeit vor sich hin skatender Großstadtkids. Unter den Bedingungen von Web 2.0 wird auch Literaturkritik zum Bestandteil solcher Verabredungskulturen und transformiert zu einem vielstimmigen Warentest sogenannter ›Prosumer‹, also produzierender Konsumenten – generiert durch eine Koproduktion von Kulturindustrie und Individualismus. Dabei ist es letztlich eine Melange aus Irritation und Einsamkeit angesichts weitreichender medialer Umbrüche, welche vor allem die ›Digital Natives‹ neue Formen von Gemeinsamkeit und Kommunikation, von Öffentlichkeit und Privatheit,42 die allesamt auf Hybridisierung zulaufen, kurz: neue Verknüpfungskulturen ausprobieren lässt. Gleichzeitig aber ist mit dem Web 2.0 »eine spezifische Medienkultur der Selbstpraktiken entstanden, die vielfach die Form […] von Buchführung und akribischem Leistungsvergleich, von experimentellem Selbstverhältnis und Selbstinszenierung als ästhetische Praxis annimmt. […] Der verzweigte Diskurs der Selbstthematisierung verlangt von jedem einzelnen die Bereitschaft, die neuen medialen Formen der Selbstdarstellung zu erlernen, zu beherrschen und weiterzuentwickeln«.43 Es geht mit anderen Worten um Techniken des Selbstmanagements auf den Aufmerksamkeitsmärkten des Internet, denen mit Fake-Identitäten nicht einfach zu entgehen ist. Vielmehr sind selbst diese der Amalgamierung von unternehmerischem Handeln und psychologischer Therapiekultur unterstellt, die konstitutiv für das gegenwärtige, auch und gerade im Web 2.0 zu beobachtende Regime des Selbst ist, welches den Einzelnen antreibt, an sich zu arbeiten und die Ergebnisse dieser Selbststeuerung permanent zu kommunizieren.44 Insofern fungieren digitale Netzwerke durchaus als normative Systeme, die ihre Mitglieder anweisen, sich am Prozess der Selbstthematisierung zu beteiligen und sich aktiv und wertend zu Lebensstilen, Kulturbetrieb und Freizeitindustrie zu äußern. Bei diesen Äußerungen geht es nicht darum, auf »unverfälschten Lebenserfahrungen zu insistieren, sondern mit Hilfe der erlernten Medienkompetenz an seiner vorteilhaften Selbstdarstellung zu ›basteln‹. Der Begriff der Kreativität hat für die Subjektkonstitution weitreichende Folgen, denn er suggeriert die Möglichkeit einer permanenten Selbsterfindung des Subjekts mittels der neuen Medien […].«45 Kreativität war ob ihrer Unkalkulierbarkeit in der Vergangenheit stets ambivalent codiert: gleichermaßen schöpferische Ressource wie bedrohliches Potenzial. Doch gerade die Innovationszwänge ökonomischer Modernisierung lassen sie zu einem stark nachgefragten Passepartout in der Zivilreligion des unternehmerischen Selbst werden,46 das sowohl den Modus der Fremd- als auch den der
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Social Networks wie Facebook, MySpace und StudiVZ lassen Öffentliches und Privates diffundieren, vereinen Bekannte und Unbekannte und konstituieren halböffentliche Existenzen. Ramón Reichert (Anm. 8), S. 7. Vgl. dazu grundlegend Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt / M. 2007, S. 61. Rámon Reichert (Anm. 8), S. 43. Vgl. dazu Ulrich Bröckling (Anm. 44), S. 152ff.
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Selbstführung tangiert und somit genau dem entspricht, was Foucault versucht hat, als »Gouvernementalität« zu bestimmen.47 Entsprechend zählt zu den signifikanten Kennzeichen nachbürgerlicher Wissenskulturen der Versuch, Innovation als ebenso kreative wie disziplinierte und kontrollierte Abweichung zu generieren, kurz: Differenz durch Disziplin zu erzeugen – im Web 2.0 genauso wie auf dem Gebiet der Hochschulpolitik oder bei TV-Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar (DSDS). Neu ist das insofern, als hier zwei bis dato eher konfligierende Imperative zusammengebracht werden sollen: »Sei anders!« und »Diszipliniere Dich!«. Für DSDS hat Diederichsen das wie folgt beschrieben: »Star ist zwar noch immer, wer auffällig, irre und besonders ist, zugleich werden aber harte Arbeit und Disziplin als Ursache dieses Erfolges ausgegeben und disziplinarische Imperative verhängt. Der exponierte Einzelne wird bei Balance aus Spott und Verehrung ins Zentrum der Attraktion gestellt, aber die Botschaft lautet: ›Seid normal, arbeitet an euch, diszipliniert euch!‹, kombiniert mit dem anderen Befehl: ›Sei authentisch! Sei, wie du wirklich bist!‹; so produziert man hochprofessionell bescheuerte, gleichwohl restunterhaltsame Trottel ohne jede Würde, die im Erfolgsfall Celebritys genannt werden und häufig öffentlich heiraten.«48 Dieser Befund lässt sich unschwer auf die akademische Exzellenzinitiative übertragen, wo – um ihre Licht- und Legitimationsmetaphorik aufzugreifen – in einem Konglomerat mehr oder weniger gleichmäßig leuchtender Straßenlaternen ein Teil in Leuchttürme und ein anderer in Stehlampen transformiert wird, während ein dritter Teil so bleiben darf, wie er ist – augenscheinlich jedenfalls. So erzeugt man ›Sichtbarkeiten‹ (und Unsichtbarkeiten) und damit Anderssein bzw. Differenzen, allerdings als Resultat von Disziplin und Gouvernementalität. Der Bedarf an Ungleichheit wird vor allem befohlen – als disziplinarisches Ge- und Verbot gleichermaßen. Für das ›unternehmerische Selbst‹ im Web 2.0 scheint dieser Befund so eklatant, dass die Band Tocotronic sich veranlasst sah, in ihrem Song Macht es nicht selbst (2010) mit eigenen Imperativen auf die eben genannten zu reagieren: »Was Du auch machst, mach es nicht selbst, auch wenn Du Dir den Weg verstellst! Was Du auch machst, sei bitte schlau, meide die Marke Eigenbau! Heim- und Netzwerkerei stehlen Dir Deine schöne Zeit.«49 Es ist der ästhetische Versuch, über eine Inflationierung von Imperativen eine reflexive Entwertung von Disziplinaradressen zu bewirken – und genau damit die ebenso gouvernementale wie flexible Kombination von unternehmerischem Selbst und testendem Kunden auf dem digitalen »Markt der Selbstoffenbarungen»50 zu unterlaufen.
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Zu den komplexen und historisch wandelbaren Künsten des Regierens zählt Foucault explizit auch das Regieren seiner selbst. Vgl. Michel Foucault: Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt / M., S. 41–67. Diedrich Diederichsen (Anm. 41). Vgl. dazu auch das Interview mit Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow in: Der Tagesspiegel vom 17. 1. 2010. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt / M. 1986, S. 24.
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Die unzähligen Schreibgelegenheiten, die dieser Markt anbietet, und das damit verbundene Wachstum auch des literaturkritischen User Generated Content stehen somit im Kontext einer zunehmenden Professionalisierung und Disziplinierung zahlreicher Lebensbereiche, vom Sport über den Kultur- und Bildungssektor bis zur Gesundheitsund Altersvorsorge. Dabei wird immer mehr dem Kalkül und immer weniger dem Zufall oder einem laienhaft-sorglosen Umgang überlassen. Die daraus zu filtrierende Botschaft besteht aus schlichten Imperativen mit weitreichenden Konsequenzen: »Arbeite an Dir! Sei kreativ! Diszipliniere Dich!« Entsprechend indiziert das Schlagwort vom Web 2.0 die Substitution des passiven Medienkonsums durch eine digitale Mitmachkultur mit professionellem Anstrich: Wir können alles, außer Nichtstun. Und das gilt auch für das eigene Lektüreverhalten, das zu einem Teil des Selbstmanagements und damit rechenschaftspflichtig wird. Web 2.0 – das ist auf dem Sektor der Literaturkritik die Professionalisierung der Amateure mit Hilfe neuer Medientechnologien und Nutzungsmuster. Die Zeit des kontemplativ-zurückgezogenen Lesens ist damit vorbei. An ihre Stelle tritt die popularisierende Imitation printmedialer Literaturkritik, die aus privaten Lektüren öffentliche Texte generiert und sich dabei zwar nicht am Stil, wohl aber an dem auf Beachtung zielenden Gestus professionellen Schreibens orientiert 51 – nunmehr als Teil der Arbeit am eigenen Selbst in der nachbürgerlichen Wissenskultur. Diese wiederum konstituiert sich nicht zuletzt durch das, was der Soziologe Ulrich Bröckling als »demokratisierte[s] Panopticon« bezeichnet hat: Sogenannte 360°-Feedbacks als System all- und wechselseitiger Beurteilungen, das sich aus den herkömmlichen Verfahren der Mitarbeiter- und Kundenbefragung, des Führungsaudits sowie der Selbsteinschätzung speist, synchronisieren Fremdbeobachtung und Selbstreflexion zu optimierten Formen der Selbststeuerung: »Jeder ist Beobachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete. […] Dem verallgemeinerten Voyeurismus entspricht deshalb ein ebenso verallgemeinerter Exhibitionismus«.52 Kombiniert Literaturkritik generell Erörterungs- mit Wertungsfunktionen,53 braucht man jene nur zu marginalisieren und diese zu akzentuieren (etwa durch Kommentar- und Kritik-der-Kritik-Möglichkeiten oder durch nonverbale Voting-Systeme), um sie zu einem prädestinierten Experimentierfeld der neuen, medientechnologisch omnipräsenten Beurteilungskulturen werden zu lassen: Jede[r] Urteilende kann ständig und innerhalb kürzester Zeit zu einer/m Beurteilten werden – und umgekehrt.
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Obligatorisch ist spätestens hier der Hinweis auf Georg Francks Überlegungen zur Ökonomie der Aufmerksamkeit und zu einem mentalen Kapitalismus, für den der Kreislauf des Acht Gebens und Beachtung Einnehmens konstitutiv ist. Vgl. etwa Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien 2005. Ulrich Bröckling (Anm. 44), S. 238. Vgl. dazu Wolfgang Albrecht (Anm. 35), S. 34.
Stephan Porombka
Weg von der Substanz. Hin zu den Substanzen Literaturkritik 2.0ff.
I. In ihrem Essay Standardsituationen der Technologiekritik, der im Dezember 2009 in der Zeitschrift Merkur erschienen ist, hat die Autorin Kathrin Passig im Hinblick auf die gegenwärtigen kulturellen Transformationsprozesse polemisch davon gesprochen, dass wir vor allem eine Fähigkeit ganz dringend erlernen müssen, wenn wir mit dem Fortschritt der medialen Entwicklung Schritt halten wollen:1 Ihre Polemik richtet sich gegen den immer gleichen Reflex der Technologiekritik, der – ob es sich nun um die Einführung der Straßenbeleuchtung, der Wegweiser, des Telefons oder des Internet handelt – Innovationen unter dem Vorbehalt ablehnt, diese destruierten die zivilisatorischen Errungenschaften. Eine solche Kritik der Technologiekritik hat natürlich selbst wiederum eine lange Geschichte, die mindestens bis zur Einführung der Straßenbeleuchtung oder der Wegweiser zurückführt. Interessant an Passigs Variante aber ist, dass sie zwei Ansätze zur Überwindung oder »Bewältigung« des technikkritischen Reflexes vorstellt. Der eine – der ›schlichte‹, wie sie sagt – zielt darauf, dass man sich angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Kultur sich derzeit verändert, mit technikkritischen Prophezeiungen zurück hält, weil das, was man zu sagen hat, im Gegensatz zu früheren Zeitaltern schon innerhalb von ein, zwei, vielleicht auch fünf Jahren als völlig daneben, als absolut peinlich, als ewiggestrig entlarvt wird. Man ist demnach von der Wirklichkeit nicht nur eingeholt, sondern sogar überholt worden.2 Der zweite Ansatz, »die mühsamere Therapie«, setzt auf das Verlernen. Dieses Verlernen sei notwendig, so Passig, weil man dauernd dazu neige, mit alten Erfahrungen neue Entwicklungen begreifen zu wollen: Der erwachsene Mensch kennt einfach viele Lösungen für nicht mehr existierende Probleme. Dazu kommt ein Hang zum Übergeneralisieren auf der Basis eigener Erfahrungen. [...] Wer darauf besteht, zeitlebens an der in jungen Jahren gebildeten Vorstellung von der Welt festzuhalten, entwickelt das geistige Äquivalent zu einer Drüberkämmer-Frisur: Was für einen selbst noch fast genau wie früher aussieht, sind für die Umstehenden drei über die Glatze gelegte Haare. So lange wir uns nicht wie im Film Men in Black blitzdingsen lassen können, müssen wir uns immer wieder der mühsamen Aufgabe des Verlernens stellen. Mit etwas Glück hat der Staat ein Hinsehen und bietet in Zukunft Erwachsenenbildungsmaßnahmen an, in denen man hinderlich
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Kathrin Passig: Internetkolumne: Standardsituationen der Technologiekritik. In: Merkur 63 (2009), H. 12, S. 1144–1150. Ebd., S. 1150.
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Stephan Porombka
gewordenes Wissen – sagen wir: über Bibliotheken, Schreibmaschinen, Verlage oder das Fernsehen – ablegen kann.3
II. Man kann diesen Aufruf zum Verlernen vielleicht besser lesen als Forderung, sich auf das, was einem in immer kürzeren Abständen, in immer schnelleren Taktungen entgegen kommt, mit einer Offenheit einzustellen, die eben nicht darauf angelegt ist, neue Erfahrungen durch den Verweis auf alte abzuwehren, sondern sich im Gegenteil aus dem speist, was Michael Rutschky in Bezug auf die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts den »Erfahrungshunger« genannt hat.4 Unter den gegenwärtigen (und wohl auch zukünftigen) Gegebenheiten ist dieser Hunger die Voraussetzung dafür, die Gegenwart zu beobachten und etwas über die Gegenwart zu sagen. Wer immer schon alles kennt, wird nicht nur wenig von dem mitbekommen, was passiert. Man wird das, was man mitbekommt, mit dem verwechseln, was man schon kennt. Und man wird sich mit all dem, was man nicht mitbekommt, abkoppeln von dem, was passiert – und muss damit dann zwangsläufig aufgeben, etwas über die Gegenwart zu sagen. Man kann dann natürlich noch behaupten, aus der Position des Abgekoppelten etwas Besonderes darüber beobachten und behaupten zu können, wovon man sich abgekoppelt hat, nur darf man dann keinen Anspruch darauf erheben, ernst genommen zu werden. Das alles gilt nicht zuletzt auch für eine Literaturwissenschaft, die sich nicht damit zufriedengibt, eine historische Wissenschaft zu sein, sondern immer auch die Gegenwart mit beobachten will. Dass sie das will, das beweist ein Blick in die Module, die derzeit landauf landab für die Bachelor- und Masterstudiengänge entworfen werden und in denen nicht nur die Literatur der Gegenwart eine immer größere, bedeutendere Rolle spielt – wobei damit nicht mehr nur die Zeit zwischen 1945 und 1989 gemeint ist, sondern tatsächlich diejenige Literatur, die gerade erscheint. Eine immer größere, bedeutendere Rolle spielt dabei zugleich die Literaturkritik als Verfahren, sich dieser Gegenwartsliteratur eben jetzt zu nähern. Es ist symptomatisch genug, dass nicht nur das Historische oder das Theoretische zur Debatte steht, sondern dass die Praxis immer wichtiger wird. Wer heute mit dem Studium der Literaturwissenschaft beginnt, wird es kaum vermeiden können, auch einmal eine Kritik schreiben zu müssen, die sich dann etwa einer Neuerscheinung aus dem letzten Herbst oder Frühjahr widmen wird. Nun passiert dies aber ausgerechnet in einer Zeit, in der, wie Thomas Wegmann in seinem Beitrag zeigt,5 die Literaturkritik geradezu epidemisch wird, weil es nicht nur möglich ist, eigene Literaturmagazine ins Netz zu stellen und zu bestücken, sondern
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Ebd. Michael Rutschky: Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre. Köln 1980. Thomas Wegmann: Warentest und Selbstmanagement. Literaturkritik im Web 2.0 als Teil nachbürgerlicher Wissens- und Beurteilungskulturen (in diesem Band).
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in der sich im so genannten Web 2.0 auch die Literaturkritik als eine Art unmittelbare reader response etabliert hat, deren Texte in die Kommentarkästen von Buchhandlungsseiten oder Literaturblogs eingefügt werden. Wir befinden uns also in einem Zeitalter, in dem jeder Literaturkritiker sein darf – warum sollten dies dann nicht auch Studierende der Literaturwissenschaft sein? Interessanterweise ist diese Zeit zugleich vom zunehmenden Verschwinden der traditionellen Formen oder Formate der Literaturkritik in den Printmedien bestimmt. Nicht nur werden in Zeitungen die Literaturseiten aufgelöst. Auch bleibt immer weniger Platz für das, was man einmal die ›große‹ Besprechung oder die ›große‹ Auseinandersetzung genannt hat. Stattdessen wird die Literaturkritik kleinteiliger, kürzer, prägnanter und wechselt dabei – so wird allgemein beklagt – von der Reflexion zur Empfehlung. Wer genauer hinschaut, erkennt, dass dieser Wechsel vielmehr mit einer Anpassung zu tun hat: nämlich mit jener der Printliteraturkritik an solcher Literaturkritik, wie sie in den Netzen derzeit epidemisch wird. Schaut man sich nun aber genauer an, was in der Literaturwissenschaft darunter verstanden wird, wenn es um Einführungen in die Geschichte, Theorie und Praxis der Literaturkritik geht, dann sieht man: Das Idealbild einer guten Literaturkritik ist nichts anderes als jene ›große‹ Besprechung und ›große‹ Auseinandersetzung, die es eigentlich im Printbereich kaum mehr und im Netz schon gar nicht gibt. Die historischen Zeiträume, an denen man sich dabei orientiert (aus denen heraus man also dieses Idealbild entwickelt), sind zum einen die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und zweitens die Jahre zwischen 1955 und 1980. Es handelt sich damit um jene Epochen, in denen man mit der Literaturkritik den Anspruch verbunden hat, den gegenwärtigen Stand der Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit den literarischen Werken als deren symptomatische, verdichtete Verkörperungen kritisch zu reflektieren. Alles, was jenseits davon passiert, erscheint aus der Perspektive der Literaturwissenschaft nur als Verfallsform, als Ausdruck des Niedergangs, als Verdinglichung, als Anbiederung an den Markt und an das beschränkte Aufnahmevermögen (oder an die Trägheit) der Rezipienten. Das aber kann man nun nicht anders als tragisch nennen. Denn damit erweist sich das, was nach einer Gegenwartsorientierung der Literaturwissenschaft aussieht, als Ausdruck des Versuchs, sich die Gegenwart mit dem zuzustellen, was man längst schon kennt, als Versuch also, ein paar übriggebliebene Haare über eine Glatze zu kämmen. Oder um es mit einer anderen Formel von Passig zu pointieren: Statt das zu verlernen, was einem im Moment nicht dabei hilft, die eigene Gegenwart zu beobachten, schreibt man es sich in die Lehrpläne: die ›große‹ Besprechung und die ›große‹ Auseinandersetzung im Moment ihres Verschwindens.6
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Vgl. Kathrin Passig (Anm. 1), S. 1150.
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III. Kurz: Die literaturwissenschaftliche Annäherung (oder Funktionalisierung) von Literaturkritik dient nicht wirklich der Gegenwartsbeobachtung. Sie dient viel eher dem, was man Gegenwartszustellung oder -verstellung, vielleicht auch Gegenwartsabwehr nennen kann. Was man sich dabei zustellt oder verstellt, möchte ich gern an einem Beispiel verdeutlichen und nähere mich dafür (wie Thomas Wegmann in seinem Beitrag) den neuen und anderen Formen der Literaturkritik im Netz an. Ich möchte dabei zeigen, dass man diese Formen nur schlecht mit einem traditionellen Begriff von Literaturkritik fassen kann. Dafür ziehe ich aber nicht die reader-response- Einrichtungen von Onlinebuchhandlungen und auch keine ausgewiesenen Literaturblogs heran, sondern möchte mich in einen für die Gegenwart absolut symptomatischen Bereich im Netz begeben: in das Facebook, eine Website, über die ein Social Network geknüpft worden ist. Gegründet wurde es 2003 in den USA als College-internes Netzwerk, erweitert dann 2006, seit Frühjahr 2008 auch auf Spanisch, Französisch und Deutsch, seit Mitte 2008 in vielen weiteren, heute insgesamt in 70 Sprachen. Laut Angaben der amerikanischen Betreiberfirma waren bei Facebook im Herbst 2009 350 Millionen, in Deutschland rund vier Millionen Nutzer angemeldet, hochgeladen werden monatlich rund eine Billiarde Bilder und zehn Millionen Videos, und zwar über eine eigene, von Facebook vorformatierte Seite. Hier publiziert (oder, wie man sagt: postet) jeder von sich ein Profil mit Bild und persönlichen Informationen, wobei freigestellt bleibt, wie authentisch das ist, was man zeigt. Dazu gibt es auf der Profilseite eine Eintragsleiste, in die laufend notiert und mit Photos oder Filmen angereichert werden kann, was man gerade macht, was man gerade gefunden hat, was man gerade denkt, an was man gerade arbeitet, welche Fragen sich gerade stellen. Dazu wird Material von anderen Seiten verlinkt: Besonders beliebt sind Filme von youtube oder vimeo, die man direkt in die eigene Seite einbetten kann; beliebt sind aber auch Links zu Artikeln, die auf anderen Seiten, vor allem aktuell auf Zeitungsseiten, im Netz erschienen sind. All diese Einträge können von sogenannten Freunden, deren Freundschaft man vorher beantragt haben oder deren Freundschaftsantrag man zugestimmt haben muss, kommentiert werden. Entweder mit einem kurzen Klick auf einen »Gefällt mir«-Button (den »Gefällt mir nicht«- Button gibt es nicht) oder durch ein Kommentarfeld. Was immer man auf seiner Seite postet, es kann von allen Freunden gesehen und gelesen werden. Und was immer man auf den Seiten anderer kommentiert (oder auch als eigenen Eintrag einstellt), kann von den Freunden gesehen und gelesen werden, mit denen derjenige verbunden ist, auf dessen Seite man schreibt. Jedem Eintrag und jedem Kommentar ist das Publikations-Datum beigegeben, sodass man zeitlich sehr genau verfolgen kann, wer wann was geschrieben oder kommentiert hat. Und da diese Kommentare unter einem Eintrag gelistet werden, kann man auch sehen, wer zu welchem Zeitpunkt nicht nur auf den jeweiligen Eintrag, sondern auch auf einen der Kommentare reagiert hat. Immer der neueste Eintrag, den man auf seine Seite stellt, wird an die oberste Stelle gesetzt; die jeweils älteren rücken dementsprechend nach unten weg, bleiben aber auf der Seite gespeichert, sodass man sich auf der eigenen Seite oder auf der Seite der so genannten Freunde immer weiter abwärts scrollen kann, um immer weiter in die Vergangenheit
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der Facebook-Postings vorzustoßen, bis man dann irgendwann an den Ursprungspunkt gelangt, der mit »XY ist Facebook beigetreten«, annonciert ist. Das allerdings geschieht in den seltensten Fällen. Hauptorientierungsseite ist die Startseite, auf der das angezeigt wird, was ›Live-Meldungen‹ genannt wird: Zusammengeführt und zeitlich wieder gelistet erscheint hier für jeden Nutzer, was die jeweiligen Freunde und man selbst gepostet hat. Jeder Eintrag, jeder Kommentar zu einem Eintrag wird hier mit nur wenigen Sekunden Zeitverzögerung angezeigt, sodass man sich ›live‹ über das informieren kann, was die anderen senden – die selbst wiederum auf ihren Startseiten über das informiert werden, was alle Freunde aus ihrem Freundeskreis posten. Auf der Startseite wird damit all das, was im Netzwerk passiert, zusammengeblendet. Die Aktivität des Netzwerks wird auf eine Zeitlinie gebracht und man selbst kann die Beiträge sehen, lesen, die Links anklicken, sie kommentieren – man kann sie in diesem Sinn wie eine Art Jetztzeitmagazin nutzen, in dem dauernd neue Beiträge erscheinen.
IV. Dies führt zu einer dynamischen Struktur: Es wird hier das erzeugt, was man Halböffentlichkeiten oder Partialöffentlichkeiten nennen kann – also Freundesnetzwerke, wobei man nicht mit einem emphatischen Freundschaftsbegriff handeln darf, sondern sich die Verbindungen eher auf der Ebene von dem denken muss, was der Soziologe Mark Granovetter »weak ties«, ›schwache‹ oder ›lockere‹ Verbindungen, genannt hat, die er zur Grundvoraussetzung für die Ideenevolution in Kulturen und damit für die Kultur überhaupt macht.7 Diese Verbindungen konstituieren so etwas wie Interessengemeinschaften, Aufmerksamkeitskonglomerate, in denen die Abmachung (durch Bestätigung der Freundschaft) darin besteht, dass man bereit ist, dem anderen neben allen anderen auch ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Hier erwartet man, dass alle anderen, mit denen man befreundet ist, etwas einspeisen, was einen selbst vielleicht interessieren könnte, so wie man selbst etwas einspeist, was vielleicht die anderen interessieren könnte. Weil das so ist, kann man das, was sich hier konstituiert, vielleicht noch viel besser als Stimulationsnetzwerke bezeichnen: Denn gepostet wird das, was einen selbst stimuliert, und man stellt es zugleich anderen zur Verfügung, damit diese sich davon bei Bedarf ebenfalls stimulieren lassen. Diese Stimulation ist stark jetztzeit- und echtzeitorientiert. Dabei wird nicht nachhaltig informiert, sondern kurzzeitig stimuliert. Nachhaltigkeit ergibt sich allenfalls dadurch, dass sich bestimmte Formen der Stimulation in einzelnen Netzwerken verstetigen, und zwar auf der Seite der einzelnen Nutzer – indem jeder Nutzer mit dem, was er postet, einen bestimmten Stil entwickelt, der in gewisser Weise antizipierbar macht, was wann als nächstes gepostet wird – sowie auf der kollek-
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Mark Granovetter: The Strength of Weak Ties. In: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360–1380.
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tiven Ebene – indem immer diejenigen Leute zu Freundschaftsnetzwerken zusammengeschlossen sind, die in etwa dasselbe Verständnis von dem haben, was man postet und wie man es postet. Auf diese Weise erzeugen diese Netzwerke durch die Jetztzeit- in Echtzeitorientierung eine bestimmte Form von Stabilität, die gleichzeitig darauf angelegt ist, sich ständig weiterzuentwickeln.
V. Will man nun darüber sprechen, welche Rolle Literatur und Literaturkritik in diesen Zusammenhängen spielen, so ist das, wie man sich vorstellen kann, gar nicht einfach – denn man hat es hier nicht mit einem Netzwerk zu tun, sondern mit ganz vielen verschiedenen kleineren und größeren Freundschaftsnetzwerken, die sich durch die Zugehörigkeit jedes Nutzers zum eigenen Netzwerk sowie zu ebenso vielen Freundschaftsnetzwerken (man hat selbst Freunde nicht ein-, zwei- oder dreidimensional, sondern hyperdimensional) begreifen lassen. Dementsprechend gibt es nicht die eine Art und Weise, mit Literatur und Literaturkritik umzugehen, sondern lediglich netzwerkspezifische Formen. Deshalb ist Vorsicht geboten, wenn man große Thesen – zum Beispiel die vom Niedergang der Literaturkritik innerhalb solcher Netzwerke – formulieren will. Man hat es hier vielmehr – um einen Begriff zu verwenden, der modisch klingen mag, der es aber am genauesten trifft – mit einer Fraktalisierung des Umgangs mit Literatur und Literaturkritik zu tun: Es gibt Netzwerke, in denen sich Beiträge zu literarischen Themen oder zu Themen der literarischen Öffentlichkeit verdichten, in denen also viel oder sogar ständig über Literatur gesprochen wird; und es gibt Netzwerke, in denen solche Themen so gut wie gar nicht vorkommen. Innerhalb bestimmter Netzwerke können Themen dieser Art plötzlich auftauchen und epidemisch werden, sie können aber auch genauso schnell wieder verschwinden. Fraktal ist das, was im Hinblick auf Literatur und Literaturkritik auf diesen Seiten erscheint, aber noch aus einem ganz anderen Grund. Denn sowohl bei der Profilseite (auf der nur die eigenen Einträge des jeweiligen Nutzers und die Kommentare anderer erscheinen) als auch bei der Startseite (auf der alle Einträge und Kommentare der Teilnehmer des Netzwerks erscheinen) handelt es sich um Seiten, in denen in kurzen Abständen immer neue Materialien aus unterschiedlichen Foren mit direkt für Facebook geschriebenen Postings zusammengeführt werden. Das aber ergibt für ungeübte Augen zu Beginn etwas ganz Unübersichtliches. In der Regel handelt es sich um nichts Einheitliches, sondern um eine Art Live- Sammelsurium von allem Möglichen – und das gilt auch für diejenigen Beiträge, die sich mit Literatur beschäftigen. Grundsätzlich kann man allerdings zwischen Seiten, die sich grundsätzlich mit Literatur beschäftigen, und Seiten, die dies nicht tun, unterscheiden. Zu ersteren gehören Seiten, die keinen individuellen Nutzer haben, sondern von Gruppen bestückt werden: Seiten von Institutionen des Literaturbetriebs wie Verlage, Literaturhäuser, Literaturbüros oder Festivals – in erster Linie werden hier Neuigkeiten als aktuelle Ankündigungen oder Hinweise aufs Programm bekannt gegeben; darüber hinaus Seiten von Literaturzeitschriften – diese weisen auf Neuerscheinungen, auf einzelne Artikel oder auf Be-
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sprechungen, Kommentare und Beiträge zur Zeitschrift hin, die im Netz erscheinen, in der Presse oder im Radio; außerdem Seiten von Netzseiten – sie verlinken direkt auf die eigenen Beiträge, die im Netz zu lesen sind; und schließlich Seiten von Blogs – Autoren von Blogs verlinken das, was sie außerhalb im eigenen Blog schreiben, auf ihrer Facebookseite. Auf all diesen Seiten erscheinen nun alle nur denkbaren Formen von Literaturkritik: von der Verlinkung auf die ›große Besprechung‹ in der FAZ bis hin zu Hinweisen auf Bestsellerlisten, Verkaufszahlen oder Besprechungen, auf die nicht verlinkt wird, sondern die selbst auf der Facebookseite eingestellt werden. Letztere wiederum können durchaus – sagen wir – 18.000 oder 20.000 Zeichen umfassen; sie können aber auch allerkürzeste, geradezu aphoristische Formate benutzen, in denen man sich kritisch zu einer neuen Veröffentlichung äußert. Von anderen Nutzern, die zu demselben Freundschaftsnetzwerk gehören, werden diese Einträge dann wiederum kommentiert (oder können kommentiert werden), und zwar nicht nur durch Zustimmung oder Ablehnung der in der Kritik geäußerten Einschätzung. Die Kommentare können sich genauso gut auf die Form der Kritik beziehen; auch können eigene aphoristische Formen der Kritik gepostet oder aber Links zu anderen Kritiken gelegt werden, in denen die Kritik ergänzt oder konterkariert wird. Oft finden sich Einträge, die sich gar nicht unmittelbar mit der Kritik beschäftigen, sondern einen Sprung aus dem Kritikformat heraus unternehmen, indem sie etwa Links auf Videos bei youtube posten. Man könnte etwa zu einer gutmütigen Kritik zu einem neuen Roman von Peter Handke in das Kommentarfeld schreiben: »Da bin ich aber anderer Meinung« – und dann auf ein Youtubevideo verlinken, in dem in einer 10 Sekunden dauernden Sequenz zu sehen ist, wie ein Spielzeugauto mithilfe von Chinaböllern in die Luft gejagt wird. Es gibt noch andere Formen, in denen Literaturkritik auf Facebookseiten erscheint. Manche Nutzer haben ihre Seite mit so genannten Applikationsprogrammen verbunden, die ausdrücklich für die Beschäftigung mit Literatur programmiert worden sind: zum Beispiel WEREAD. Es handelt sich dabei um eine Applikation, die auf der Profilseite eines Nutzers die Bücher anzeigt, die er gerade liest oder in letzter Zeit gelesen hat. Klickt man auf die dazugehörigen Icons, kommt man auf eine Seite, auf denen man die Cover der Bücher sieht und die Möglichkeit hat, das Buch mit bis zu fünf Sternen zu bewerten. Zusätzlich gibt es noch den Button: ›eine Buchbesprechung schreiben‹. Die Buchbesprechungen, die hier geschrieben werden, gleichen sich genau dem an, was Thomas Wegmann in seinem Beitrag vorgestellt hat. Es sind ich-betonte, kurze Statements, die sich mehr oder weniger an die traditionelle Buchbesprechung halten. Hier gibt es dann auch den Button, über den man mitteilen kann, ob man die Kritik hilfreich findet oder nicht. Diese Besprechungen kann man dann wiederum per Klick auf die Profilseite in Facebook posten, man kann sie aber auch in andere soziale Netzwerke einstellen, nicht zuletzt kann man sie über das Twitterprogramm verteilen. Ich denke, man könnte an dieser Stelle die gesamte Analyse aus Thomas Wegmanns Beitrag einfügen, und doch möchte ich darüber gern noch einen Schritt hinausgehen, um das, was wir bisher gehört haben, zu ergänzen. Liest man Rezensionen dieser Art, wie sie Wegmann beschrieben hat, im Kontext der Struktur von Facebook, dann sieht man:
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Erstens ist diese Art der Rezension nicht die eine Art von Rezension, sondern sie stellt eine unter vielen möglichen Formen dar, die auf Facebookseiten erscheinen und deren Kombination das Profil eines bestimmten Netzwerks oder eines bestimmten Nutzers ergibt. Zweitens kann man sie zwar als einzelne untersuchen, doch darf man den Kontext nicht außer Acht lassen, in dem sie erscheinen – bzw. man versteht ihren Status nicht angemessen, wenn man sie nicht als Kritiken versteht, die innerhalb von Netzwerken funktionieren. Drittens sind sie damit angemessener als Partialkritiken zu verstehen, die eben nicht für sich allein stehen, sondern erst durch die Übertragung in andere Texte, durch die Kombination mit anderen Formen der Kritik, vor allem aber auch mit der Anreicherung durch die Kommentare anderer ihren eigentlichen Sinn erhalten. Allein für sich scheinen sie banal und wenig interessant zu sein. Erst als dynamische Objekte, die in verschiedenen Kontexten auftauchen, zeigen sie jedoch ihre eigentliche Energie – eine Energie, die darauf ausgerichtet ist, Reaktionen hervorzurufen oder anders: Anschlusskommunikation herzustellen. Viertens geschieht dies bei Facebook in unterschiedlichen Netzwerken auf ganz unterschiedliche Weise – eben abhängig davon, wie diese Rezensionen innerhalb verschiedener Netzwerke mit anderen Formen der Kritik kombiniert und kommentiert werden. (Das alles sei sozusagen nur denjenigen als Warnung gesagt, die einzelne Formate aus dem Ganzen herausgreifen, diese isoliert betrachten und lediglich an dem zu messen versuchen, was traditionelle Literaturkritik zu leisten hat. Zugleich möchte ich dafür votieren, das, was in den sozialen Netzwerken passiert, viel genauer im Hinblick auf dessen dynamische Einbettung hin zu untersuchen.) So unterschiedlich das alles ist, so heterogen sich all das zusammensetzt, was man dann am Ende doch als eine bestimmte Form neuer Literaturkritik verstehen kann, so klar lassen sich grundsätzliche Tendenzen benennen, von denen das Ganze bestimmt wird. So kann man grundsätzlich feststellen: Alles vollzieht sich schneller. Es ist eine Form von Literaturkritik, die sich auf radikale Weise im Jetzt und für das Jetzt herstellt. Dementsprechend werden die Auseinandersetzungen kürzer und pointierter; die Geschwindigkeit und die Kürze der Aufmerksamkeitsspanne zwingt dazu, verstärkt mit kleinen und Kleinstformen zu arbeiten. Weiterhin kann man grundsätzlich feststellen, dass man es hier immer mehr mit Patchwork- oder Bricolageformen von Kritik zu tun hat, die nicht mit geschlossenen, homogenen Textformaten arbeiten, sondern nach dem Prinzip der Anreicherung immer neuer Versatzstücke verfahren. Grundsätzlich konstatieren kann man auch, dass man es dabei mit Formen von Literaturkritik zu tun hat, die nicht in sich selber ruhen, sondern vor allem so etwas wie Relaisfunktion übernehmen: Sie stehen nicht für sich, sie verweisen auch nicht auf sich selbst, sondern haben immer das andere im Blick, aus dem sie sich speisen und auf das sie zugleich verweisen. (Statt von ›Realisierung‹ der Literaturkritik kann man von ihrer ›Relaisierung‹ sprechen.) Darüber hinaus hat man es mit einer Form der Auseinandersetzung mit Literatur zu tun, die nicht mehr unbedingt der Literatur selbst, sondern der Profilierung der Nutzerseite und darüber der spezifischen Profilierung des jeweiligen Netzwerks gilt. In diesem Sinn wird die Auseinandersetzung mit Literatur in das jeweilige Profil eingepasst und dem Profil angepasst. Literatur und die Auseinandersetzung mit Literatur dient der
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Selbstanreicherung, der Selfperformance oder der Performance des jeweiligen Netzwerks. Außerdem wird bei dieser Form der Auseinandersetzung mit Literatur ein Wechsel von der Reflexion zur Stimulation vollzogen. Die Einträge dienen nämlich eben nicht allein der Profilierung. Die eigentliche Botschaft der fortlaufenden Einträge, die weit über die bloße Profilierung hinausweist, lautet: ›Das, was ich hier zeige, hat etwas mit mir gemacht, es hat etwas in mir ausgelöst. Und ich zeige es Dir, damit Du sehen kannst, ob es etwas mit Dir macht und in Dir auslöst.‹ Auch die Auseinandersetzung mit Literatur folgt damit einem Paradigma, das man ›apothekarisch‹ nennen könnte. Es geht um Wirkungen und Nebenwirkungen. Anders gesagt: Literatur wird als etwas behandelt, was man an sich ausprobiert, was man einnimmt, so wie man eine bestimmte Substanz einnimmt, mit der man durch die Einnahme bestimmte Effekte erzielt – worüber man dann wiederum andere informiert und (je nachdem) zugleich animiert, dieselbe Substanz an sich auszuprobieren oder es doch lieber sein zu lassen. Wahrscheinlich markiert das den größten Unterschied zu dem, was man traditionell als Aufgabe von Literaturkritik verstanden hat: Diese hatte sich um die Substanz des literarischen Textes zu kümmern. Sie hatte die Frage zu stellen, ob der jeweilige Text substantiell zu etwas taugt und letztlich zu jener Grundsubstanz gezählt werden kann, durch die eine Kultur eine feste Identität herausbilden kann. Literaturkritik, wie sie im Rahmen von Facebook stattfindet, versteht den Text dagegen eben als Substanz im apothekarischen Sinn, als eine Substanz also, die man einnimmt, um zu sehen, was passiert, und um anschließend in einer Art Erfahrungsbericht mitzuteilen, was einem passiert ist. Man hat es hier also zu tun mit einem Wechsel von der Orientierung an der kulturellen Substanz hin zum Experiment mit kulturellen Substanzen, mit einem Wechsel von der Vergangenheit (geleitet durch die paradigmatische Frage: ›Was hat der Autor da gemacht?‹) zur Zukunft (geleitet durch die paradigmatische Frage: ›Was macht das mit mir, wenn ich es einnehme?‹). In diesem Sinn geht es um eine Form von Auseinandersetzung mit Literatur, die nicht auf die Rezeption von etwas Vorgegebenem, sondern auf die Herstellung von etwas Neuem – und damit auf das Weiterschreiben auf der Profilseite – angelegt ist.
VI. Nun kann man das alles aus der Perspektive eines Literaturwissenschaftlers, der Literaturkritik doch nicht anders als ›große‹ Auseinandersetzung denkt, als Verfall bezeichnen. Man macht sich dann aber für das blind, was hier eigentlich passiert. Mehr noch: Indem man sich zu sehr an den alten Formaten orientiert, die einem kaum dabei helfen, das Neue zu begreifen, bringt man sich auch um die Möglichkeit, das Alte aus der Perspektive des Neuen zu beobachten, um das Alte eben neu sehen und verstehen zu können Zum einen kann die Auseinandersetzung mit solchen neuen Formen der Literaturkritik den Blick dafür schärfen, dass man literaturkritische Texte nicht allein, nicht isoliert betrachten und analysieren darf, sondern dass man sie in den spezifischen Medienkon-
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text stellen muss, in dem sie erscheinen. Germanisten neigen ja dazu, vor allem ältere Literaturkritiken als eigenständige Texte zu lesen. Das ist aber falsch. Literaturkritische Texte sind auch früher nicht als isolierte Texte, sondern auf Zeitungsseiten erschienen. In der Feuilletonforschung ist man deshalb längst dazu übergegangen, auch Literaturkritiken im Kontext der Zeitungsseite zu lesen, die Zeitungsseite wiederum im Kontext des Feuilletons, das Feuilleton wiederum im Kontext der gesamten Ausgabe einer Zeitung, um dabei herauszuarbeiten, wie intensiv die Texte einer solchen Ausgabe aufeinander verweisen und sich gegenseitig aufladen. Bei den neuen Formen der Literaturkritik im Netz liegt diese Vernetzung auf der Hand. Von ihnen kann man deshalb lernen, wie man Literaturkritik als Netzwerkfunktion liest. Wer sich analytisch mit Literaturkritik beschäftigt, muss sich mit Netzwerkanalyse beschäftigen. Zum anderen kann man von den neuen Formen lernen, sich die Fixierung auf das Alte abzugewöhnen und es neu zu beobachten. Über Netzwerke wie Facebook werden Partialöffentlichkeiten hergestellt, in denen bestimmte Formen der Auseinandersetzung mit Literatur entwickelt, stabilisiert und weiterentwickelt werden und die dabei der Profilierung des gesamten Netzwerks über die Profilierung der einzelnen Nutzer dienen. Diese Erfahrung, die man im Netz macht, gibt einem aber nun die Möglichkeit, die traditionelle Literaturkritik genau so zu beobachten. Der Germanist neigt ja überdies dazu, große, ausführliche Literaturkritiken, die etwa heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheinen oder die in den 1920er Jahren in der Frankfurter Zeitung erschienen sind, als Texte zu lesen, die irgendwie von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung sind oder waren. Fakt ist aber, dass das, was an Literaturkritiken in den Zeitungen erscheint, traditionell von einer so geringen Anzahl an Lesern zur Kenntnis genommen wird, dass die Herausgeber und Verleger von Zeitungen immer schon dazu neigen, eben jenen Teil, in dem sie erscheinen, immer weiter zusammen zu kürzen. Mit anderen Worten: Literaturkritik interessiert seit jeher nur eine Partial- oder Spezialöffentlichkeit. Seit jeher wird sie nur im Rahmen kleiner Netzwerke wahrgenommen, die allerdings so funktionieren, dass sie intern fortwährend die Überzeugung herstellen und als Fiktion aufrechterhalten, dass sie eine Zentralöffentlichkeit mit Zentralanspruch für die Reflexion der Gesellschaft sind. Wenn man die neuen Formen der Literaturkritik zur Kenntnis nimmt, kann man also lernen, die Umfänge, Strukturen und Funktionen jenes beschränkten Netzwerkes zu lesen, in dem Literaturkritik traditionell hoch gehandelt worden ist und wird. Wenn man über die Auseinandersetzung mit den neuen Formen der Literaturkritik etwas über den paradigmatischen Wechsel von der Suche nach kultureller Substanz hin zum Experiment mit kulturellen Substanzen lernen kann, dann ergibt sich zudem die Möglichkeit, auch retrospektiv genau das an der traditionellen Literaturkritik zu beobachten. Der Germanist neigt dazu, die traditionelle Literaturkritik immer so zu lesen, als ob sie sich darauf beschränkt, Anmerkungen zu etwas zu machen, das hergestellt worden, also abgeschlossen ist. Doch sollte man die Geschichte der Literaturkritik noch einmal durchgehen, um all jene Formen und all jene Autoren ausfindig zu machen, die die Lektüre von literarischen Texten als Selbstversuche verstanden haben, in denen sie neueste Substanzen an sich ausprobiert haben, um zu sehen, was diese eigentlich mit der Kultur machen, wenn sie zu wirken beginnen.
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Bei all dem handelt es sich natürlich lediglich um Vorschläge – um Vorschläge, mit den neuen Formen der Literaturkritik selbst zu experimentieren, um in Erfahrung zu bringen, wie sie wirken. Man sollte aber nicht so tun, als sei das alles nichts, als sei das billig und banal. Stattdessen sollte man den notwendigen Hunger auf neue Erfahrungen mitbringen – und dafür wiederum sollte man bereit sein, das Alte einmal für einen Moment zu vergessen und sich probeweise auf das Neue einzulassen.8
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Eine Reihe von poetologischen Texten zu Projekten, die sich auf dieses Neue einlassen, sind zu finden in: Stephan Porombka/Mathias Mertens (Hrsg.): Statusmeldungen. Schreiben in Facebook. Hannover 2010.
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1. Die Zersplitterung des literarischen Kanons: Zur Einführung Jan Assmann beschreibt in seiner Arbeit über Das kulturelle Gedächtnis die zentrale Bedeutung des Kanons für die kollektive Identität in frühen Hochkulturen. Seine Bestimmung des Kanonbegriffs bleibt dabei eng: Unser heutiges Verständnis von Kanon sei v. a. von den christlichen Kirchen im 4. Jahrhundert motiviert worden und stehe für die »Idee eines heiligen Traditionsgutes«1 ein. Der Kanon sei in dieser Traditionslinie das »Prinzip einer neuen Form kultureller Kohärenz« und repräsentiere »das Ganze einer Gesellschaft […], im Bekenntnis zu dem sich der Einzelne der Gesellschaft eingliedert«.2 Eine solche strikte Bestimmung des Kanonbegriffs kann hilfreich sein, um die Privilegierung spezifischer Texte in frühen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kulturen zu beschreiben – schließlich handelt es sich zumeist um Kulturen mit einer klar definierbaren Elite, außerhalb derer nahezu keine Alphabetisierung stattfand. In den modernen und insbesondere in den heutigen Gesellschaftsformationen stellen sich die Konstruktion einer kollektiven Identität und somit auch die Kanonisierungsund Bewertungsprozesse von Literatur komplexer und widersprüchlicher dar, weshalb der Kanon selbst heute zum Gegenstand fundamentaler Kritik geworden ist. Für die letzten Jahrhunderte zeigen verschiedene Untersuchungen, dass der Kanon »vom männlichen Blick gesteuert« wird und somit Autorinnen ausschließt;3 seine Konstrukteure erscheinen als »autoritäre Gewaltfigur[en]«, denen v. a. an der »Abwehr der Gegenwart« gelegen ist;4 zudem stützt der Kanon einen nationalkulturellen Zusammenhang.5 Gegen diese nationalistische, patriarchale, autoritäre und konservative Ausrichtung des Kanons werden nun Konzeptionen eines »Gegenkanon[s] von Autorinnen«,6 einer »Weltlitera-
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Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Aufl. München 2007, S. 118. Ebd., S. 127. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Arbeit am Kanon. Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur. In: Hadumod Bußmann / Renate Hof (Hrsg.): Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart 1995, S. 207–261, hier S. 208. Hermann Korte: ›Das muss man gelesen haben!‹ Der Kanon der Empfehlungen. In: Heinz Ludwig Arnold / H. K. (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 308–323, hier S. 314, 317. Gisela Brinker-Gabler: Vom nationalen Kanon zur postnationalen Konstellation. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, S. 78–96. Renate von Heydebrand / Simone Winko (Anm. 3), S. 242ff.
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tur« bzw. »[D]eutschsprachige[n] Literatur der Interkulturalität«,7 einer »Gegen-WeltLiteratur«8 oder einer intermedialen »Revision des literarischen Kanons«9 im Sinne eines erweiterten Literaturbegriffs bzw. gar einer umfassenden ›Dekanonisierung‹ stark gemacht. Diese Gegenentwürfe unterstützen jedoch letztlich noch immer die Logik, dass im Zentrum einer Kultur ein zentraler Kanon stehen müsse. Die postmodernen und globalisierten westlichen Gesellschaften differenzieren sich in zahlreiche Milieus, denen ein gemeinsamer Werte- und Lektürekanon – so er denn jemals mehr war als eine Fiktion des bildungsbürgerlichen Milieus – abhanden gekommen ist. Pierre Bourdieu hat schon in La distinction. Critique sociale du jugement (1979)10 herausgearbeitet, welche unterschiedlichen Funktionen Kunst in den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus zukommt. Wenn man die soziologischen Studien von Sigma und Sinus hinzunimmt,11 so lässt sich beispielsweise die deutsche Gesellschaft der Gegenwart in zehn verschiedene Milieus differenzieren, ausgehend vom sozialen Status (von Unterschicht bis Oberschicht) und der jeweiligen Wertorientierung (von traditionell bis neu orientiert). Dass man bei einem traditionellen Arbeitermilieu auf der einen Seite und einem postmodernen Milieu der Performer auf der anderen Seite kaum mehr von zwei Varianten einer homogenen Kultur sprechen kann, die zentral durch einen literarischen Kanon zusammengehalten würde, liegt auf der Hand. Klaus-Michael Bogdal hat in diesem Sinne vorgeschlagen, das Feld der Gegenwartsliteratur wie eine Klimaanlage mit verschiedenen Gängen zu denken,12 wobei die Gänge jeweils für die unterschiedlichen Leseszenen, Poetiken und Bewertungsprozesse von Literatur stehen. Wenn die Rede vom literarischen Kanon in der Gegenwart noch irgendeinen Sinn hat, so nur noch als eine von Kanones. Die Vorstellung von einem Kernkanon müsste dann ersetzt werden durch eine Beschreibung von Kanones in den unterschiedlichen medialen, literarischen, didaktischen, politischen und ökonomischen Subsystemen der Gesellschaft – und es wäre wichtig, die jeweilige geschlechtliche, ethnische, soziale, ökonomische, generationelle und mediale Positionierung ihrer Konstrukteure bei der Beschreibung zu reflektieren.
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Karl Esselborn: Autoren nichtdeutscher Muttersprache im Kanon deutscher Literatur? Zur Erweiterung des Kanons deutscher ›Nationalliteratur‹ um Texte der Interkulturalität. In: Michaela Auer / Ulrich Müller (Hrsg.): Kanon und Text in interkultureller Perspektive: ›Andere Texte anders lesen‹. Stuttgart 2001, S. 335–351, hier S. 340, 342. Vgl. Thomas Wägenbaur: ›Gegen-Welt-Literatur‹. Der Beitrag des Dekonstruktivismus zur gegenwärtigen Veränderung des komparatistischen Kanons. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Kanon und Theorie. Heidelberg 1997, S. 129–138. Vgl. Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen 2002, v. a. S. 122–160. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt / M. 1987. Vgl. http://www.sigma-online.com/de/SIGMA_Milieus/SIGMA_Milieus_in_Germany/; sowie: http://www.sinus-sociovision.de/2/2–3–1–1.htm, jeweils 10. 2. 2007. Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Andreas Erb (Hrsg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen 1998, S. 9–31.
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Kanonisierungsprozesse waren schon immer die Angelegenheit einer gesellschaftlichen Teilöffentlichkeit, allerdings handelte es sich in der Vergangenheit v. a. um die politischen, religiösen oder intellektuellen Eliten, die den jeweiligen Kanon konstruierten. Spätestens die Etablierung des Internet hat es nun auch einer jüngeren und wesentlich breiteren gesellschaftlichen Gruppe von Computernutzern ermöglicht, sich ebenfalls in die öffentliche Debatte über Literatur und ihre Bewertung einzuschalten und in überregionalen und virtuellen Communities eigene Kanones zu produzieren. Daher liegt es nahe, die Bewertungsprozesse von Literatur im relativ jungen Medium Internet zu untersuchen und insbesondere danach zu fragen, inwiefern diese eine neue Qualität entwickeln oder aber an die Verfahren der ›Gutenberg-Galaxis‹ anschließen und diese nur in ein neues Medium übertragen. Der vorliegende Forschungsbeitrag möchte v. a. zeigen, was die Etablierung des neuen Mediums Internet für die Bewertungsprozesse von sowohl in Buchform distribuierter als auch digitaler Literatur bedeutet und in welchem Maße die neuen medialen Möglichkeiten die printmedialen Literaturbewertungsprozesse tangieren und teilweise bereits ablösen.
2. Das ›Web 2.0‹ und die (Netz-)Literatur: Interaktivität und digitale Kopie als Herausforderungen der ›Gutenberg-Galaxis‹ Der aktuelle Medienwandel ist rasant: Innerhalb weniger Jahre hat sich ein ›InternetZeitalter‹ etabliert, das die ›Gutenberg-Galaxis‹ zwar bislang nicht in ihren Grundfesten erschüttert hat, jedoch auf vielen Ebenen transformiert oder ablöst.13 Die Stiftung Lesen hat seit 1992 jeweils im Abstand von acht Jahren das Leseverhalten der verschiedenen Generationen in Deutschland untersucht und dabei herausgefunden, dass sowohl das Lesen in kleineren Portionen zugenommen hat als auch die Lektüre literarischer Texte am Bildschirm. Die Gruppe jener, die als Computer- und Internetnutzer Literatur nur am Bildschirm lesen und nicht zusätzlich ausdrucken, wurde 1992 noch gar nicht erfasst, lag 2000 schon bei 25% und 2008 bei 41%.14 Insbesondere die jüngeren Generationen beziehen ihr Wissen heute primär aus dem Universalmedium Internet – mit teilweise umwälzenden Folgen für die Distribution von künstlerischen Werken, vor allem im Bereich der audio-visuellen Medien, für die Zeitungslandschaft, aber auch für die Distributions-, Produktions- und Bewertungsformen literarischer Texte. Anfangs hat sich die Germanistik dem Internet-Zeitalter nur mit großer Skepsis geöffnet, Christiane Heibach schrieb noch 2003 in ihrer Untersuchung über Literatur im
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Einzelne Anführungen zum ›Web 2.0‹, zu Weblogs und zur Figur des Netz-Selbstmanagements finden sich bereits in meinem Aufsatz: Thomas Ernst: Weblogs. Ein globales Medienformat. In: Wilhelm Amann / Georg Mein / Rolf Parr (Hrsg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg 2010, S. 281–302. Diese Anführungen sind jedoch zur Bearbeitung des vorliegenden Themas aktualisiert, modifiziert und ergänzt worden. Stiftung Lesen: Lesen in Deutschland 2008. Mainz 2008, S. 28, 36. Als PDF-Download von http://www.stiftunglesen.de/default.aspx?pg=eea4349c-bbd2–4fa3–82a1-a30d7bbaf481, 5. 12. 2008.
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elektronischen Raum, dass sich »die Literaturwissenschaften […] gemeinsam mit dem Medium Buch entwickelt und dieses als ›ihr‹ Medium definiert haben«. Durch diese Fixierung fehle es ihnen »noch weitgehend an der entsprechenden Medienkompetenz«,15 die zur differenzierten Beschäftigung mit den neuen Medien notwendig ist. In den letzten Jahren haben sich jedoch zunehmend Forschungsprojekte mit den Feldern der ›digitalen Literatur‹, wie diese von Roberto Simanowski genannt wird,16 bzw. der ›Literatur im Netz/Netzliteratur‹ beschäftigt, wie das Siegener Projekt um Peter Gendolla und Jörgen Schäfer diese neue ästhetische Form bezeichnet.17 Die digitalen Möglichkeiten des Netzes ermöglichen, so Schäfer, eine prozessuale Literatur jenseits des statischen Werk-Begriffs, die unter den »Bedingungen der permanenten Mutuabilität […] alle Handlungsrollen«18 – also jene von Autor, Text und Leser – radikal flexibilisiert. Simone Winko hat darauf hingewiesen, dass die interaktive, multimediale, nicht-lineare Qualität der digitalen Literatur, die sie auch als ›doppelten Text‹ beschreibt (sie unterscheidet den ›Bildschirm-Text‹ vom ›materialen Text‹), eine Komplizierung der literaturwissenschaftlichen Lektüremethoden und zahlreiche »Begriffsrevisionen« erfordert.19 Wenn man Winkos Aufforderung in die Tat umsetzt, muss man gegenwärtig zunächst die Spezifika des ›Web 2.0‹ beschreiben, denn mit diesem Schlagwort ist der aktuelle Entwicklungsstand des Internets seit 2005 versehen worden. Der Passepartout-Begriff wurde von Dale Dougherty, Craig Cline und Tim O’Reilly etabliert, und unter seinem Dach sollten alle Phänomene versammelt werden, die interaktive und netzwerkähnliche Funktionen des Internets stärken, wie die kollektive Nutzung sozialer Software, die Produktion von User Generated Content und MashUps sowie deren kontinuierliche Aktualisierung. Der Begriff ist zwar berechtigterweise als analytisch unscharf kritisiert worden, soll hier jedoch eingangs genannt werden, um auf zwei generelle Eigenschaften und Möglichkeiten des ›Web 2.0‹ hinzuweisen, die in dieser Form in der Gutenberg-Galaxis noch nicht im Zentrum standen und beide schwerwiegende Konsequenzen für die Distribution und die Bewertung von Literatur haben: erstens die Interaktivität des Internets und zweitens die digitale Kopie unter Bedingungen des World Wide Web. Die digitale Kopie ermöglicht die Loslösung einer Information von ihrem Trägermedium, und während Diskjockeys in den 1980er Jahren noch ganze LP-Koffer und Literaturwissenschaftler bei Auslandsaufenthalten noch ganze Bücherregale mit sich führen mussten, kann man heute – zumindest theoretisch – eine komplette Plattensammlung oder Bibliothek auf einem kleinen USB-Stick mit sich herumtragen oder per Mail in wenigen Sekunden von Göttingen nach Peking und von dort wieder zurück senden.
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Christiane Heibach: Literatur im elektronischen Raum. Frankfurt / M. 2003, S. 9. Vgl. Roberto Simanowski: Interfictions. Schreiben im Netz. Frankfurt / M. 2001. Vgl. Peter Gendolla / Jörgen Schäfer (Hrsg.): The Aesthetics of Net Literature. Writing, Reading and Playing in Programmable Media. Bielefeld 2007. Jörgen Schäfer: Text-Spiele. Anmerkungen zur Netzliteratur. In: Sprache und Literatur 35 (2004), S. 76–87, hier S. 85. Simone Winko: Hyper – Text – Literatur. Digitale Literatur als Herausforderung an die Literaturwissenschaft. In: Harro Segeberg / S. W. (Hrsg.): Digitalität und Literalität. Zur Zukunft der Literatur. München 2005, S. 137–157, hier S. 152.
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Mit seiner Interaktivität bietet das Internet als großes Netzwerk – zumeist ohne regelnde Instanzen oder modifiziert durch versteckt regelnde Instanzen – eine freie und offene Kommunikation zwischen allen interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Diese Interaktivität ermöglicht die Gründung überregionaler Interessencommunities sowie eine viel größere Partizipation der Öffentlichkeit an der Distribution und Bewertung von Wissensbeständen. Dadurch werden sowohl bestehende Autorschaftsmodelle relativiert als auch die Kontrolle der literarischen Bildung durch bestehende Institutionen in Frage gestellt. Literarische Texte werden im Medium Internet auf fünf verschiedene Weisen distribuiert:20 1. im Kontext der digitalen Literaturarchive: Bereits bestehende literarische Bücher werden digitalisiert und online zur Verfügung gestellt, was insbesondere bei bereits vergriffenen Texten sehr hilfreich sein kann. In kommerzieller und problematischer Weise bietet beispielsweise die Google Book Search einen solchen Dienst an, in weniger kommerzieller Weise kann man beim Projekt Gutenberg Texte wie Goethes Faust oder Schillers Wilhelm Tell online lesen, aber auch nicht kanonisierte Texte wie Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis.21 2. Hypertext bzw. Hyperfiction: Als die Germanistik begann, sich mit der sog. ›Netzliteratur‹ zu beschäftigen, konzentrierte sie sich zunächst auf die Hyperfiction, die mit Links und somit Verweisstrukturen arbeitet und tendenziell eine nichtlineare Struktur besitzt. Inzwischen hat sich jedoch erwiesen, dass die Differenz zwischen der intertextuellen Literatur des 20. Jahrhunderts bzw. den nichtlinearen Texten der Postmoderne sowie den frühen Experimenten der Netzliteratur gar nicht so groß war, wie ursprünglich angenommen; es handelt sich nur um die Intensivierung des Verweischarakters literarischer Texte. 3. Autorenforen und -communities: In diesen Foren, wie z. B. dem Forum der 13,22 haben sich – im Laufe der Jahre – preisgekrönte Autoren wie Ulrike Draesner, Michael Lentz oder Burkhard Spinnen sowie experimentelle Autoren wie Crauss oder Florian Neuner zusammengeschlossen, um als digitale Gruppe ihre Texte online zu veröffentlichen. Diese Zusammenschlüsse scheinen heterogener zu sein als bisherige Autorengruppen, zudem sind ihre Texte einfacher distribuierbar. 4. Kollaborationen: Als wenig erfolgreich haben sich bislang die Kollaborationen zwischen Autoren und ihren Lesern bei der Produktion literarischer Texte erwiesen, ein erstes Beispiel hierfür war das mit Hilfe der ZDF-Sendung Aspekte durch-
20
21 22
Vgl. zu dieser Differenzierung auch das Kapitel ›Die Auflösung der Autorschaft? Das Internet und die Wissensallmende‹ des folgenden Artikels: Thomas Ernst: Die Begrenzungen des Textflusses. Vom Urheberrecht der Gutenberg-Galaxis zur Wissensallmende im World Wide Web? In: Christine Bähr u. a. (Hrsg.): Überfluss und Überschreitung. Die kulturelle Praxis des Verausgabens. Bielefeld 2009, S. 223–237, hier S. 230ff. Vgl. http://books.google.de/books und http://gutenberg.spiegel.de, 5. 2. 2010. Vgl. http://www.forum-der-13.de, 5. 2. 2010.
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geführte Projekt Marietta von Matthias Politycki (1997/98).23 Inzwischen hat sich mit der Fan-Fiction ein – allerdings von den Fans nicht-kommerziell und ›untergründig‹ betriebenes – Genre etabliert, bei dem Fans von Kinofilmen, TV-Serien, Computer- oder Rollenspielen die (trivial-)literarischen Vorlagen weiter- oder umschreiben. Allein für Harry Potter gibt es bereits über 350.000 Beispiele für solche Fan-Fiction.24 5. Weblogs: Weblogs versammeln chronologisch geordnete und zumeist intermedial angelegte Kurzttexte wie Glossen, Essays, Anekdoten oder tagebuchähnliche Einträge und stellen – als ›Litblogs‹, also literarische Weblogs – das erfolgreichste und wichtigste neue Format der Netzliteratur dar. Da das Medienformat des Weblogs sich v. a. für intermediale und interaktive literarische Formen anbietet, ist diese Form der digitalen Distribution literarischer Texte das beste Beispiel für eine spezifische neue Form der Netzliteratur, wobei sie sowohl an unterschiedliche bekannte literarische Genres anschließt als auch diese modifiziert. Das Internet wird also zunehmend zum Lektüremedium, die Interaktivität des ›Web 2.0‹ zeigt sich in den Autorenforen und -communities sowie in literarischen Kollaborationen, seine Intermedialität in Hypertexten und Weblogs und die Möglichkeiten der digitalen Kopie werden v. a. von digitalen Literaturachiven genutzt. Inwiefern werden jedoch diese Beispiele der Netzliteratur selbst zum Gegenstand von Bewertungsprozessen im Internet? Auf welche Weise werden literarische Bücher im World Wide Web bewertet? Und inwiefern unterscheiden sich diese Bewertungsverfahren im Netz von der printmedialen und literaturbetrieblichen Literaturkritik?
3. Wer hat Angst vor Goethes PageRank? Die Bewertung der Literatur im Internet Im Internet hat sich eine diesem Medium eigene Aufmerksamkeitsökonomie etabliert, die Qualität über numerische Verfahren der Bewertung misst und in einer partizipativen Struktur den Internetnutzern die Teilhabe an den Bewertungsverfahren ermöglicht. Daneben hat das Internet verschiedene Verfahren aus der Buchwelt adaptiert, die es zur Selektion und positiven Sanktionierung literarischer Texte heranzieht. Am Beispiel der Plagiatsdebatte um die Romane Axolotl Roadkill (2010) von Helene Hegemann und Strobo (2009) des Bloggers Airen, die am 5. Februar 2010 durch den Blogger Deef Pirmasens ausgelöst wurde, lässt sich zeigen, dass die zentrale Position der printmedialen Literaturkritik innerhalb von Kanonisierungsprozessen angesichts der Netzliteratur und der neuen Internet-Öffentlichkeiten immer mehr in Frage steht.
23 24
Vgl. http://novel.zdf.de (das Projekt war 1997/98 unter dieser Adresse und als Teil von ZDF Aspekte online abrufbar). Vgl. http://www.fanfiction.net/book/Harry_Potter sowie http://www.fanfiktion.de, 14. 7. 2010.
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3.1. Kommentarfunktionen, PageRank und Blogcharts: Die Literatur und die Aufmerksamkeitsökonomie des Internets Im Gegensatz zum Medium Buch handelt es sich bei Computern um Rechenmaschinen, die in kürzester Zeit Informationen umwandeln können. Das Internet ermöglicht die intensive Interaktion zwischen einer unüberschaubaren Zahl an Gesprächsteilnehmern, wie sie zuvor kaum denkbar erschien. Es ist also nur logisch, dass die Bewertung von literarischen Texten in der digitalen Welt zunehmend numerische und interaktive Verfahren nutzt. Die digitalen Möglichkeiten zur Bildung von Kommunikationsnetzwerken bzw. Communities finden bei der Bewertung von Literatur ihren Niederschlag in den Kommentarfunktionen des Web 2.0: Zahlreiche Webseiten und insbesondere Weblogs ermöglichen ihren Lesern, die präsentierten Texte direkt zu bewerten oder zu kommentieren – wir müssen uns den Leser zukünftig als einen Nutzer vorstellen (falls wir das nicht ohnehin schon immer versucht haben). »Im Verhältnis von ›Autor‹, ›Werk‹ und ›Leser‹«, so Jörgen Schäfer, »vollziehen sich in rechnergestützten und vernetzten Medien gravierende Veränderungen, die über die poststrukturalistischen und rezeptionsästhetischen Relativierungen der demiurgischen Position des Autors weit hinausgehen.«25 In diesem Sinne können die Nutzer von Weblogs direkt die Texte kommentieren und diese somit in ein Kommentarumfeld einbetten; teilweise treten die Autoren sogar in eine Diskussion mit ihren Nutzern. Je kritischer und zahlreicher die Kommentare sind, desto stärker wird die ›Werkherrschaft‹ des Autors relativiert. Häufig nutzen die Autoren jedoch auch ihre Webmaster-Position, um die veröffentlichten Kommentare auszuwählen, ggf. sogar eigene unter einem Fakenamen zu platzieren und somit die Demokratisierung der Literaturbewertung, die die Kommentarfunktion suggeriert, nur zu inszenieren. Tatsächlich können die Kommentarseiten ein Eigenleben entwickeln, indem schließlich die »Kritik der Kritik der Kritik«26 diskutiert wird, wie Thomas Wegmann in seinem Beitrag für diesen Band formuliert hat. Ob es sich dabei allerdings um eine Form der ›produktiven‹, ›wilden‹ Lektüre handelt, wie Stephan Porombka nahelegt,27 müsste noch näher untersucht werden. Ramón Reichert verweist – und davon wird später noch die Rede sein – auf die äußert zielgerichtete Reproduktion von Technologien des Selbst in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter oder auf den Kommentarseiten von beispielsweise amazon.de, die kritisch gesehen werden sollte. Auf den Kommentarseiten von amazon.de zeigt sich jedenfalls eine numerische Form der Bewertung literarischer Texte.28 Bei amazon.de können angemeldete Rezensenten, die keine Experten sein müssen, eine Rezension des Buches schreiben und dieses mit 0 (schlecht) bis 5 (gut) Sternen bewerten. Wenn wir uns ein entsprechendes Buch ansehen, sehen wir die Anzahl der verfassten Rezensionen, die uns über die mögliche Relevanz des Buches informiert, und die durchschnittliche Bewertung des Buches.
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Jörgen Schäfer (Anm. 18), S. 80. Thomas Wegmann: Warentest und Selbstmanagement. Literaturkritik im Web 2.0 als Teil nachbürgerlicher Wissens- und Beurteilungskulturen (in diesem Band). Stephan Porombka: Faces & Books. Literaturkritik 2.0ff. (in diesem Band). Vgl. http://www.amazon.de, 9. 1. 2010.
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Aber nicht nur die Bücher selbst werden bewertet, sondern auch die einzelnen Rezensionen (nach dem Prinzip ›x von y Lesern fanden die folgende Rezension hilfreich‹) und sogar die Rezensenten werden bewertet; ihnen wird eine Prozentzahl für »Erhaltene ›Hilfreich‹-Stimmen für Rezensionen und Listen« zugeschrieben, aus der sich wiederum ein Rang des Rezensenten ableitet. Welche Person mit welchem Literaturverständnis sich nun genau hinter der jeweiligen Rezension verbirgt, diese Frage steht nicht mehr im Zentrum, sondern die ihr von einer weitgehend anonymen Masse zugewiesene und in Zahlen fixierte Bewertung.29 Eine ähnlich inhaltsleere und zugleich numerische Bewertung, die sich aus der spezifischen Aufmerksamkeitsökonomie des Internets ableitet, verbirgt sich hinter dem PageRank. Das unüberschaubare Wissen des World Wide Web wird für seine Nutzer vorrangig von Suchmaschinen geordnet und strukturiert. Die weltweit meistgenutzte Suchmaschine ist nach wie vor Google,30 das den patentierten und an der Stanford University entwickelten PageRank-Algorithmus nutzt, der die Relevanz von Webseiten ausgehend von ihrer Verlinkungsstruktur bestimmt. Die Wichtigkeit eines Litblogs wird hier abhängig von der Frage bestimmt, wie viele Webseiten mit welcher Relevanz auf das jeweilige Litblog verweisen. Wenn man beispielsweise bei Google auf die Suche nach dem Begriff ›Litblog‹ geht, so erscheint das bekannte Blog Die Dschungel. Anderswelt von Alban Nicolai Herbst an sechster Stelle – unter insgesamt 130.000 Resultaten. Beim Suchdienst fireball.de erscheint Herbsts Blog unter ferner liefen – ein Indiz dafür, dass Herbst sein Blog wahrscheinlich mit Programmen zur Suchmaschinenoptimierung, die auf Google abzielen, frisiert hat. Dies ist natürlich völlig legitim – zeigt jedoch die Notwendigkeit für die Gegenwartsautoren, bewusst mit der spezifischen Aufmerksamkeitsökonomie des Internets umzugehen und sich an PageRank-Algorithmen oder Bewertungen mit Sternen zu orientieren. Doch nicht nur die Aufmerksamkeit für Gegenwartsautoren, auch die digitale Rezeption bereits kanonisierter Autoren wird von den Google-Algorithmen mitbestimmt. Macht sich heute eine literaturinteressierte Vierzehnjährige auf die Suche nach einem gewissen ›Johann Wolfgang von Goethe‹, so erhält sie bei Google folgende Seiten angezeigt: 1. den Wikipedia-Eintrag zu Goethe;31 2. eine Seite des Pfarrers Hans Misdorf über das Leben Goethes, die auf die Seiten der christlich-nationalistischen Zeitschrift Der Weg führt;32 3. vier ausgewählte Texte von Goethe, die auf den Google Bookseiten zu lesen sind (darunter zweimal der Faust).33
29 30 31 32 33
Vgl. hierzu auch: Thomas Wegmann (Anm. 26). Vgl. http://www.google.com, 9. 1. 2010. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe, 10. 2. 2010. Vgl. http://derweg.org/mwberdeu/goethe.htm, 10. 2. 2010. Vgl. http://gutenberg.spiegel.de/?id=19&autor=Goethe,%20%20Johann%20Wolfgang%20 von&autor_vorname=%20Johann%20Wolfgang%20von&autor_nachname=Goethe, 10. 2. 2010.
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Insbesondere die hohe Platzierung des Pfarrers mag überraschen, wobei seine Ausführungen – wovon man sich auf den weiteren Seiten überzeugen kann – in zahlreichen anderen Blogs, Homepages, Schülerreferaten und studentischen Hausarbeiten zitiert werden, was wiederum indirekt wieder deren PageRank festigt und die digitale Vermittlung Goethes beeinflusst. Ein letztes Beispiel für die numerische Bewertung digitaler Literatur findet sich in den Blogcharts, die die deutsche Blogosphäre daraufhin untersuchen, welche Seite wie häufig pro Woche besucht wird.34 Hier führen momentan die Seiten netzpolitik.org und Spreeblick, die bereits mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurden. Dies verdeutlicht, dass in der Blogosphäre qualitative und quantitative Formen der Bewertung von Texten genutzt werden und auf einem hohen Niveau sogar übereinstimmen, weshalb man kaum davon sprechen kann, dass das Internet noch keine Mechanismen zur Selektion qualitativ hochwertiger Webseiten besitze. Es sind eben nur andere Mechanismen, die gegenüber der Welt der Bücher und Printmedien modifiziert oder neu sind und die v. a. auf numerische Verfahren zurückgreifen, wobei die Bewertungsmaßstäbe entweder unklar und subjektiv oder aber transparent und offen gehalten sind – Fotis Jannidis hat gezeigt, dass sich diese Verfahren auch bei der Online-Bewertung von Computerspielen durchgesetzt haben.35 Diese numerischen Verfahren haben jedoch nicht nur positive Effekte. Ramón Reichert positioniert sich in seiner Untersuchung Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0 äußerst kritisch zur Aufmerksamkeitsökonomie des Internets. In Anlehnung an Michel Foucaults Beschreibung einer »Technologie des Selbst«36 bezeichnet er das ›Mitmach-Web‹ als einen »Prototyp liberaler Regierungstechnologie«.37 Reichert zeigt, wie die in den 1960er Jahren noch in kulturrevolutionärem Sinne gegen die Leistungseliten gerichteten Konzepte der Autonomie, Kreativität und Authentizität inzwischen zu Merkmalen der neoliberalen Leistungseliten selbst geworden sind. Die Narrationen des Selbst sind nicht mehr auf ein inneres ›Kern-Ich‹ ausgerichtet, sondern stellen vielmehr eine veräußerte und kommerzialisierte Biografie- und Erzählarbeit auf Aufmerksamkeitsmärkten dar: »Die Ausstattung privater Homepages mit einer Bewertungssoftware wie etwa dem Counter, dem Webtraffic-Ranking und dem Social Bookmarking macht biografische Erzählformen zum Spielmaterial ökonomischer Kalkulation und Evaluation«.38 Indem sich die digitalen Bewerter literarischer Texte im Netz auf die numerischen Formen einlassen, unterwerfen sie sich zwangsläufig dieser neoliberalen Logik.
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Vgl. http://www.deutscheblogcharts.de/archiv/2010–8.html, 27. 2. 2010. Fotis Jannidis: Wertungen und Kanonisierungen von Computerspielen (in diesem Band). Vgl. Michel Foucault / Rux Martin / Luther H. Martin: Technologie des Selbst. Frankfurt / M. 1993. Ramón Reichert: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld 2008, S. 13. Vgl. ebd., S. 55, 57.
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3.2. Preise, Stipendien, Distinktionskämpfe: Transformationen von Wertungsformen des Buchmarktes im Internet Zu den zahlreichen Instrumentarien, mit deren Hilfe der medialen Öffentlichkeit die besondere Qualität eines literarischen Textes oder eines Autors bzw. einer Autorin kommuniziert wird, gehört u. a. die Verleihung von Literaturpreisen sowie von Stipendien, auf die Autorenportraits häufig rekurrieren, um die Qualität ihres Werkes zu belegen. Diese Preise oder Stipendien werden im Regelfall von einer Expertenkommission – also von staatlichen Institutionen, Literaturverbänden oder -vereinen sowie Literaturwissenschaftlern oder Kritikern – in einem nicht-öffentlichen Prozess vergeben. Den Preisoder Stipendienträgern dienen sie – neben dem meist damit verbundenen materiellen Gewinn – als symbolisches Kapitel in den Distinktionskämpfen auf dem literarischen Feld. Es ist kaum überraschend, dass diese Form der institutionalisierten, nicht-öffentlichen und von Experten geleisteten Bewertung von Literatur und Autoren auch auf die Netzliteratur appliziert wird. Peter Gendolla beispielsweise hat auf Susanne Berkenhegers mit Netzliteraturpreisen versehene Projekte Zeit für die Bombe und Hilfe! hingewiesen.39 Zudem haben sich – als digitale Form der Literaturstipendien – inzwischen bereits die Blogstipendien etabliert, die u. a. vom Niedersächsischen Literaturbüro oder von der jungen Webseite der Süddeutschen Zeitung, jetzt.de, vergeben wurden. Das Niedersächsische Literaturbüro hat in den Jahren 2005 bis 2008 unter dem Titel Netznotizen eines Zeitgenossen die bereits mit Buchveröffentlichungen und Preisen dekorierten Autoren Thomas Meinecke, Michael Kumpfmüller und Saša Stanišiü engagiert, damit diese gegen Bezahlung auf dem Litblog netznotizen.de über Orte und Ereignisse in Niedersachsen bloggen.40 Im Juni 2006 startete zudem das Blogstipendium von jetzt.de:41 Eine Jury, die aus der Redaktion von jetzt.de bestand, wählte vier Blogs aus vierhundert ›Einsendungen‹ aus, die über einen begrenzten Zeitraum 300 Euro monatlich zur Unterstützung ihres Schreibens erhielten und von der jetzt.de-Redaktion empfohlen und verlinkt wurden. Dazu gehörten beispielsweise Nilz Bokelbergs Blog Bloggen für den Weltfrieden und Walter Wachts yet another indie disco. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass jetzt.de zugleich als eine Art Talentpool für die Süddeutsche Zeitung fungiert: Ausgewählte Texte der Blogstipendiaten wurden auch in der Printversion der Zeitung auf der wöchentlichen jetzt.de-Seite veröffentlicht. Eine solche Wechselbewegung zwischen der gedruckten Buch- und der digitalen Internetwelt lässt sich auch bei den Preisträgern des Grimme Online Awards beschreiben. Während das Adolf-Grimme-Institut seit 1964 herausragende Fernsehproduktionen auszeichnet, werden seit 2001 auch besonders hochwertige Websites ausgezeichnet – wobei Litblogs oder im weitesten Sinne literarische Webseiten unter die Kategorie Grimme Online Award Kultur und Unterhaltung fallen. 2006 ging dieser Award beispielsweise
39 40 41
Vgl. Peter Gendolla: ›Hilfe!‹ Anmerkungen und Links zur Kanonbildung im Netz. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Anm. 4), S. 90–97, hier S. 94ff. Vgl. http://www.netznotizen.de/, 17. 1. 2010. Vgl. http://jetzt.sueddeutsche.de/blogstipendium, 17.1.2010.
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an die Zentrale Intelligenz Agentur und ihr Blog riesenmaschine.de,42 das in intermedialer, hyperliterarischer und kollaborativer Weise die journalistischen, medialen und literarischen Formen des Medienformats Weblog austariert. Mit Kathrin Passig, Holm Friebe und Christian Y. Schmidt schreiben auf riesenmaschine.de einige AutorInnen, die bislang weniger im offiziellen Literaturbetrieb als vielmehr im journalistischen Bereich oder in literarischen Sub- oder Alternativkulturen (wie der Neuen Frankfurter Schule im Falle Schmidts oder auf der ›Wahrheitsseite‹ der taz wie im Falle Passigs) reüssierten. Auffällig sind nun die Distinktionsbewegungen zwischen der Print- und der Netzwelt: Während es heute völlig normal ist, dass neue Popstars von den bekannten Plattenfirmen über ›Social-Web-Seiten‹ wie myspace oder youtube entdeckt und mit einem traditionellen Plattenvertrag versehen werden, scheint dies auf dem literarischen Feld bislang nur in die Gegenrichtung zu funktionieren. Wenn ein bereits durch seine Suhrkamp-Buchveröffentlichungen und zahlreiche Literaturpreise arrivierter Autor wie Rainald Goetz gleich zweimal ein Jahr lang ein Weblog betreibt (und somit den Weg von der Buch- in die Internetwelt findet) und anschließend seine Blogs aus dem Netz abmeldet und die Texte bei Suhrkamp in Buchform veröffentlicht (Abfall für alle, 1999; Klage, 2008),43 so wird dies von der Literaturkritik vorsichtig gefeiert. Anders liegt der Fall, wenn eine Bloggerin wie Kathrin Passig von der Zentralen Intelligenz Agentur den umgekehrten Weg von der Blogosphäre in den Literaturbetrieb geht und 2006 – als im traditionellen Literaturbetrieb nahezu unbeschriebene und unveröffentlichte Autorin – den Ingeborg Bachmann Preis gewinnt. Insbesondere die Bestseller-Autorin Jana Hensel streute mit einem Interview in der Zeit Salz in jene Wunde, die laut der Frankfurter Rundschau der Clash der Milieus44 aufgerissen hatte: »Passig hat hinterher erzählt, wie sie sich vor einem Jahr vor dem Fernseher, als sie den Bachmann-Preis verfolgte, dachte: ›Das kann ich auch‹ und spontan beschloss, selbst einen Text einzureichen.« Und Hensel schiebt im Kampf gegen die Erweiterung des literarischen Feldes nach: »Kathrin Passig hat keine Autorenstimme. Die macht aber einen Schriftsteller aus.«45 Die Skandalisierung des Preises für Passig durch Hensel und Teile der Literaturkritik zeigt, dass es nicht nur einen Distinktionskampf zwischen den Vertretern der Blogosphäre und der Buchwelt gibt, sondern auch einen Kampf um die Kompetenz in der Bewertung der verschiedenen Schreibformen und Literaturformate. Wenn eine Bloggerin einen renommierten Preis der Gutenberg-Galaxis gewinnt, muss die Jury eben einen schwerwiegenden Fehler gemacht haben, der allerdings ausgerechnet von einer Autorin artikuliert wird, die selbst nicht unbedingt durch die Produktion einer sprachreflexiven oder gar experimentellen Prosa aufgefallen ist.
42 43 44 45
Vgl. http://www.riesenmaschine.de, 17. 1. 2010. Vgl. Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt / M. 2003; ders.: Klage. Frankfurt / M. 2008. Vgl. Ina Hartwig: Clash der Milieus. Kathrin Passig war schon da. In: Frankfurter Rund-
schau vom 12. 7. 2006. Zit. nach Wenke Husmann: Literaturpreis. Sieger ohne Relevanz. In: Die Zeit vom 26. 6. 2006. Siehe auch Harald Steun: Und nächstes Jahr den Nobelpreis! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. 7. 2006.
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3.3. Der ›Fall Helene Hegemann‹ zwischen Autorschaftsinszenierungen und Plagiatsdebatten: Literaturkritik in Printmedien und in der Blogosphäre Das literarische Feld ist in Bewegung und die Blogosphäre gewinnt immer mehr an Relevanz – sowohl als Produzentin literarischer Texte als auch als Institution der Literaturkritik. In herausragender Weise wurde dies am 5. Februar 2010 deutlich, als nicht – wie noch bei der Auseinandersetzung zwischen Hensel und Passig – das Zeitungsfeuilleton sich aktiv gegen einen ›Eindringling‹ aus der Blogosphäre verteidigte, sondern vielmehr der Blogger Deef Pirmasens das Versagen der Zeitungsfeuilletons in der Bewertung des literarischen Debüts von Helene Hegemann aufdeckte, das gerade für den Preis der Leipziger Buchmesse 2010 im Bereich Belletristik nominiert worden war. Im Folgenden soll die Plagiatsdebatte selbst ausgeblendet werden; primär geht es um die Frage, welche ersten Lektüren der Text in den Printmedien einerseits und in der Blogosphäre andererseits gefunden hat. Hegemanns Roman Axolotl Roadkill war am 22. Januar 2010 beim Ullstein Verlag erschienen und wurde von der printmedialen Literaturkritik fast unisono hymnisch gelobt – häufig unter einer authentifizierenden Bezugnahme auf die erst 17jährige Autorin, deren Vater als Dramaturg an der Berliner Volksbühne arbeitet, weshalb sich die Autorin selbst in einem avancierten künstlerischen Milieu bewegt und somit ein großes literarisches Talent entwickelt habe. Folglich wird sie gepriesen als »›Wunderkind der Literatur‹«,46 als »Wunderkind der Boheme«47 oder auch als »blutjunge[s] Originalgenie[]«;48 einzelne Rezensionen identifizieren die Protagonistin Mifti mit der Autorin Helene Hegemann und sehen »Parallelen« zwischen Miftis Familienleben und dem »Leben der Autorin«.49 Mit diesen hier gesammelten Beispielen ließe sich die These Eckart Löhrs untermauern, dass der spätere Skandal um Hegemann »in Wahrheit ein Skandal der Literaturkritik« sei, die »noch immer dem Geniekult des Sturm und Drang und der Romantik« anhänge.50 Neben diesem Diskursstrang, der eine jugendliche und original-geniale Wunderautorin konstruiert, gibt es nur eine Minderheit von Texten, die sowohl auf die autobiografischen Züge des Textes als auch auf seine starke Konstruiertheit rekurrieren.51 Am 5. Februar 2010 meldete sich Deef Pirmasens mit einem Blogeintrag zu Wort und wies nach, dass Hegemanns Roman zahlreiche Anleihen beim gedruckten Roman des
46 47 48 49 50 51
Zit. nach [Anonym:] Wildes Wunderkind. In: Focus 5 (2010). Tobias Rapp: Das Wunderkind der Boheme. In: Der Spiegel 3 (2010). Andreas Kilb: Entspiegelung der Sinne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 2. 2010. Nina Apin: Souverän in die Fresse gefeuert. In: tageszeitung vom 27. 1. 2010; sowie: Laura Ewert: Es gibt kein Alter. In: Welt am Sonntag vom 24. 1. 2010. Eckart Löhr: Authentizität ist keine Kategorie. In: http://www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id=14102, 21. 6. 2010. Vgl. Maxim Biller: Glauben, lieben, lassen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 24. 1. 2010; Peter Michalzik: Eine Wagenladung Intensität. In: Frankfurter Rundschau vom 3. 2. 2010; Dorothea Dieckmann: Nicht gesellschaftsfähig? In: Neue Züricher Zeitung vom 4. 2. 2010.
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Bloggers Strobo nimmt, der im Berliner Kleinverlag SuKuLTuR erschienen ist.52 Es ist nicht nur bemerkenswert, dass kein einziger der printmedialen Literaturprofis die entsprechenden Stellen entdeckt hat, obwohl das Buch – laut Verlagsmitteilung – 34mal als Rezensionsexemplar verschickt worden war, u. a. an die Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Welt, der Frankfurter Rundschau, des Spiegel, der Zeit, des Tagesspiegel und der Berliner Zeitung.53 Zusätzlich fällt auf, dass für die Verbreitung dieser Nachricht und für weitere Recherchen durchgängig das Internet genutzt wurde. Einer der drei SuKuLTuR-Verleger, Marc Degens, arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Schriftsteller im armenischen Eriwan, wo Alexandra Gerstner, seine Frau, das DAAD-Informationscenter leitet. Beide notieren über den Tag der Entlarvung: »Am Morgen des 6. Februar wurden wir mit einem erstaunlichen Link geweckt: In einem BlogArtikel von Deef Pirmasens wurden Plagiatsvorwürfe gegen den Bestseller-Roman ›Axolotl Roadkill‹ von Helene Hegemann erhoben […]. Marc twitterte die Nachricht sofort weiter und korrespondierte am Morgen mit Rüdiger Dingemann, der den Medienticker des Perlentaucher herausgibt. Um 8 Uhr 50 deutscher Zeit erschien die Nachricht dann im aktualisierten Medienticker vom Vortag (10.290 Abonnenten, darunter viele Medienschaffende) […]. Den Vormittag verbrachten wir mit Surfen und Emails schreiben. Marc informierte und schrieb persönlich knapp zwei Dutzend ihm bekannte Zeitungsredakteure, Journalisten und Literaturkritiker an, Alexandra fand bei ihrem Streifzug durchs Internet den Kommentar von Tobias Bernet, der aus dasmagazin.ch auf ein weiteres nicht gekennzeichnetes Hegemann-Zitat hinwies […]. Das teilte Marc auch sogleich Deef Pirmasens mit, der den Hinweis in seinen Blog einbaute. Nach einer iChat-Konferenz mit Marcs Mitverlegern Frank und Torsten gingen wir in der Stadt beim Inder essen […].«54
Durch die Kommunikations- und Rechercheoptionen des Internets ist es nun auch einem sehr kleinen und subkulturellen Verlag möglich, innerhalb eines Tages aus dem von einem Blogger offen gelegten Plagiat einen großen Literaturskandal zu machen, der wiederum von den Printmedien vorangetrieben wird. Auffällig ist nun, dass sich Hegemanns Text bei vielen eher abseitigen Autoren und v. a. bei einem Blog, aus dem später Airens Roman entstanden ist, bedient hat, und dass die Texte offenbar außerhalb der literarischen Bereiche, in denen sich die Print-Feuilletonisten bewegen, zu finden waren. In der vierten Auflage von Axolotl Roadkill wird ein sechsseitiges Kapitel mit dem Titel Quellenverweis und Danksagung angehängt, in dem Verweise auf Airens Weblog airen.wordpress.com (20), Kathy Acker (4), David Foster Wallace (2), Jonas Weber (2), Malcolm Lowry, Rainald Goetz, Paul Arden, Valére Valère, Maurice Blanchot, Pascal Langier (jeweils 1) und die Songs She’s not there von The Zombies sowie Fuck U von Archive offengelegt werden.55 Doch auch diese Offenlegung führt nicht zu einem einheitlichen ›mea culpa‹ der feuilletonistischen Literaturkritik, vielmehr teilt sich die Kritik in drei Gruppen. Eine
52 53 54 55
Vgl. http://www.gefuehlskonserve.de/axolotl-roadkill-alles-nur-geklaut-05022010.html, 12. 2. 2010. Diese Information entnehme ich einer E-Mailauskunft von Marc Degens vom 20. 9. 2010. Marc Degens / Alexandra Gerstner: Die Ziegen der alten Dame (Hegemanns Roadkill). Unveröffentlichtes Manuskript, 2010. Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. 4. Aufl. Berlin 2010, S. 203–208.
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erste Gruppe beharrt auf ihrer vorherigen Lesart und stellt fest, dass es an Axolotl Roadkill im Wesentlichen nichts neu zu erlesen gebe. Dazu zählen so berühmte und wichtige Literaturkritiker wie Kilb, Mangold oder Weidermann.56 Eine zweite Gruppe wendet sich der Plagiatsfrage zu und greift Hegemann teilweise harsch an. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirft ihr sogar vor, dass vermutlich auch ihr Vater an dem Text mitgeschrieben habe;57 achtzehn eher ältere Autoren wie Günter Grass und Christa Wolf unterzeichnen eine Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums.58 Nur eine dritte, allerdings sehr kleine Gruppe, nutzt das offensichtliche Versagen der Literaturkritik zu einer schonungslosen Selbstkritik, die auf eine Erweiterung des eigenen Feldes um einzelne subkulturelle Verlage abzielt bzw. den eingegrenzten Blick der Literaturkritiker angreift.59 Ein Kritiker traut sich nicht einmal, die Abrechnung mit seiner Berufssparte unter dem eigenen Namen zu veröffentlichen – sie wird unter dem Pseudonym Axel Lottel publiziert.60
4. Das Medium Internet als Problem und Chance für die Literatur und ihre Bewertung: Ein Fazit Das Medium Internet unterstützt die Konstituierung neuer Subkulturen und neue Formen der Vermittlung und Bewertung von Literatur. Es muss dabei allerdings unterschieden werden zwischen der digitalen Distribution und Archivierung von literarischen Texten, die bereits in der Gutenberg-Galaxis entstanden sind und auch in dieser ästhetisch funktionieren würden, sowie neuen literarischen Formaten wie den Weblogs, die die intermedialen und interaktiven Möglichkeiten des Internets in spezifischer Weise nutzen. Auch wenn der printmediale Diskurs tendenziell zwei strikt voneinander geschiedene literarische Felder zu inszenieren versucht, bestehen zwischen der Buch- und der Internetwelt immer intensivere Austausch- und Wechselbewegungen. Dies zeigt sich u. a. darin, dass auch die Netzliteratur Instrumentarien des Buchliteraturbetriebs wie Literaturpreise oder Stipendien nutzt – es lässt sich also eine Modifikation der bereits institutionalisierten Literaturbewertung im digitalen Zeitalter konstatieren. Daneben finden sich jedoch auch zahlreiche numerische Formen der digitalen Bewertung literarischer Texte, die in dieser Form in der Welt der Bücher nicht denkbar waren. Indem nahezu jeder die Kommentarfunktionen des Web 2.0 nutzen kann, seine
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Vgl. Andreas Kilb: Entriegelung der Sinne. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 2. 2010; Ijoma Mangold: Unecht wahr. In: Die Zeit vom 11. 2. 2010; Volker Weidermann: Hegemann. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14. 2. 2010. Jürgen Kaube: Germany’s Next Autoren-Topmodel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 2. 2010. Vgl. http://vs.verdi.de/urheberrecht/aktuelles/leipziger-erklaerung, 15. 5. 2010. Felicitas von Lovenberg: Originalität gibt es nicht – nur Echtheit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 2. 2010; Peter Michalzik: Mieter im eigenen Kopf. In: Frankfurter Rundschau vom 8. 2. 2010. Axel Lottel: Das Recht auf Reinheit. In: Frankfurter Rundschau vom 13. 2. 2010.
Wer hat Angst vor Goethes PageRank?
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Reise durch die Wissensbestände des Internets mit Hilfe des Google PageRanks gestaltet und womöglich einen Blick auf die deutschen Blogcharts wirft, wird die spezifisch numerische Aufmerksamkeitsökonomie des Internets zu einer zentralen Größe bei der Bewertung literarischer Texte. Diese Aufmerksamkeitsökonomie hat einerseits produktive Folgen für ihre Beteiligten; andererseits implementiert sie disziplinierende Diskurse in die ihr unterworfenen Subjekte. Sowohl die printmedialen Diskurse als auch dieser Beitrag unterscheiden noch weitgehend zwischen Autoren der Buchwelt und solchen der Netzliteratur und legen an beide verschiedene Bewertungsmaßstäbe an. Die Veröffentlichung der intertextuellen bzw. plagiierenden Schreibstrategien Helene Hegemanns durch einen Blogger sowie Hegemanns Nutzung der literarischen Arsenale des Internets für ihre ästhetischen Zwecke verweisen exemplarisch darauf, dass die (Schein-)Grenze zwischen Buchwelt und Netzliteratur immer durchlässiger wird, sowohl für die Veröffentlichung literarischer Texte als auch für ihre Kritik. Das ›Ganze einer Gesellschaft‹ oder die Bestimmung einzelner Texte zu einem ›heiligen Traditionsgut‹ werden sich zwar nicht mehr restaurieren lassen, die literaturwissenschaftliche Forschung wird jedoch die Netzliteratur und die Bewertungsprozesse von Literatur zukünftig noch intensiver und differenzierter untersuchen müssen. Ein kleiner Beitrag dazu sei hiermit geleistet.
Fotis Jannidis
Wertungen und Kanonisierungen von Computerspielen
Computerspiele haben in den letzten 25 Jahren weite Verbreitung gefunden und stellen eines der wichtigsten populären Unterhaltungsmedien der Gegenwart dar. Ständig erscheinen neue Spiele und jedes ist eingewoben in die verschiedensten Formen vorbereitender und Nachfolge-Kommunikation. Der Beitrag gibt – wenn auch nur skizzenhaft – einen Überblick über typische explizite und implizite Wertungshandlungen im Umgang mit Computerspielen. Eine leitende These wird die Annahme sein, dass das unterschiedliche Wertungshandeln und insbesondere die Kanonisierung durch zwei Faktoren bestimmt werden: 1) durch den Umstand, dass es sich um ein populäres Medium handelt, 2) dass die technische Entwicklung die Wahrnehmung der Spiele deutlich mitbestimmt. In der Analyse der Kanonisierung folge ich weitgehend Winko.1 Sie unterscheidet zwischen intentionalen Wertungshandlungen und dem nicht-intendierten Resultat der Bildung eines Kanons und nimmt ausdrücklich intentionale Handlungen, die auf die Bildung eines Kanons abzielen, als Sonderproblem aus. Das mag für die Analyse von literarischen Kanonisierungsprozessen sinnvoll sein, im Falle eines populären Mediums kann man diese intentionalen Kanonbildungshandlungen auf die gleiche Ebene stellen wie die Wertungshandlungen, da keiner der Akteure und Institutionen die diskursive Macht hat, ›seinen Kanon‹ anderen verbindlich vorzugeben. Der Beitrag konzentriert sich auf die Situation, wie sie sich gegenwärtig im Jahre 2010 darstellt, da sich die Kommunikation über Spiele seit den Anfängen, als sie vor allem auf eigenständigen Maschinen in Spielhallen und Kneipen gespielt wurden, in ständiger Veränderung befindet. Was vor 30 Jahren Gegenstand von kaum einsehbarer Fankommunikation war, findet heute offen zugänglich im Internet statt, und die Möglichkeiten von Netzwerk-Effekten bestimmen auch zahlreiche neue Wertungshandlungen.2 Entsprechend muss auch auf den Umbau der fachjournalistischen Medien eingegangen werden, da inzwischen viele Spielezeitschriften verschwunden sind und durch neue Medienformen im Netz ersetzt wurden. Eine zweite Einschränkung betrifft die Art der Spiele: Es wird um die Wertung und Kanonisierung von populären PC-Spielen gehen,3 also nicht um Computerspiele insge-
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Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible hand-Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hrsg.): Literarische Kanonbildung. München 2002, S. 9–24. Unter der Bezeichnung ›Netzwerk-Effekte‹ versteht man die Tatsache, dass der Nutzen an Netzwerken mit der Anzahl der Nutzer für alle steigt; das klassische Beispiel ist das Telefon. Soziale Netze einschließlich der Bewertungsfunktionen von Online-Versandhäusern können mittels des Konzepts der Netzwerk-Effekte beschrieben werden. PC-Spiele werden auf einem PC mit dem Betriebssystem DOS oder Windows gespielt; ihre
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Fotis Jannidis
samt, da sich die Wertungsstrategien und damit die Kanonkonstitution in den verschiedenen Feldern mehr oder weniger deutlich unterscheiden. Konsolenspiele haben von Anfang an einen eigenen Markt dargestellt und in neuerer Zeit durch ihre geschlossenen Online-Welten auch eigene Kommunikationsformen etabliert. Aus vergleichbaren Gründen werden im Folgenden auch keine Handy- und Browserspiele behandelt. Außerdem konzentriert sich die folgende Darstellung auf den populären Spielebereich; daneben gibt es ein vergleichsweise kleines, weitgehend eigenständiges Feld der künstlerischen Spiele, das sich deutlich später als der populäre Spielmarkt entwickelt hat, über das in eigenen Medien berichtet wird und das auch mit eigenen Organisationsformen aufwarten kann.4 Die folgende Darstellung beschränkt sich außerdem auf die Analyse von Wertungen, die sich auf Spiele beziehen, die für Einzelspieler gedacht sind, bzw. auf den Einzelspielermodus, da der Mehrspielermodus zumeist ein eigenständiges Spiel darstellt. Trotz all dieser Einschränkungen kann der vorliegende Beitrag nur einen knappen Überblick über die vielfältigen Wertungshandlungen und die ihnen zugrunde liegenden Wertdimensionen bieten. Der erste Teil geht auf die Wertung in Rezensionen ein, im zweiten Abschnitt werden Wertungen von Spielern untersucht und im dritten Abschnitt Werte der Spieledesigner. In jedem dieser Abschnitte muss sehr vieles unberücksichtigt bleiben, und es müssen auch ganze Felder des Wertungshandelns in Bezug auf Spiele, z. B. das Marketing von Spielen oder die firmeninterne Kommunikation eines Publisher,5 unberücksichtigt bleiben. Das gilt auch für die Wertung von Spielen im Rahmen der Game Studies, also der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Spielen.
1. Wertungen und Wertmaßstäbe: Professionelle Kritik Der typische Ort für die professionelle Wertung von Computerspielen ist die Rezension durch Fachjournalisten in einer populären Fachzeitschrift. Der Markt für diese Zeitschriften hat sich deutlich verändert. In der Mitte der 1990er Jahre war die Hochzeit der Spielezeitschriften. Entstanden zumeist Ende der 1980er bzw. 1990er Jahre, als der PC weit genug verbreitet und aufgrund seiner technischen Standardausstattung auch geeignet war, eine Spieleplattform zu bieten, boten mindestens zehn Zeitschriften Orientierung auf dem deutschsprachigen Markt für PC-Spiele. Heute sind es gerade noch vier – die anderen wurden eingestellt.6 Und die verbliebenen Zeitschriften haben einen
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Geschichte beginnt also mit der ersten Generation von IBM-kompatiblen Rechnern ab 1981. Die Geschichte der Videospiele reicht sehr viel weiter zurück; vgl. Steven L. Kent: The Ultimate History of Video Games. Roseville, CA 2001. Z.B. das Independent Games Festival (http://www.igf.com). Diese und alle folgenden URLs wurden gesichtet am 05. 12. 2010. Die zumeist vergleichsweisen kleinen Entwickler stellen das Spiel her, während die zumeist sehr großen Publisher, von denen es auch nur wenige weltweit agierende gibt, das Spiel bewerben und vertreiben. Eingestellt wurden u. a. BOINK! (VTP Verlag Fürst), PC Joker (Joker-Verlag, 1991–2001), PC Player (Future Verlag, 1992–2001), PC Power (Markt und Technik, 1988–2000), PC PowerPlay (Verlag CyPress), PC Review (Emap German Magazines GmbH), PC Spiel, PC Xtreme (Cyber-
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großen Teil ihrer Leser verloren: Die Zeitschrift PC-Games, die 1992 gegründet wurde, hatte 1999 eine Auflage von über 363.000 Exemplaren und 2009 nur noch rd. 101.000.7 Die Informations- und Wertungsfunktion der Spielezeitschriften werden inzwischen von Zeitschriften, die über mehrere Plattformen berichten, und von Onlinemedien übernommen. Allerdings ist die Abhängigkeit der Onlinemedien, die sich zumeist vollständig über Werbung finanzieren, von den großen Publishern der Spielebranche noch größer als bei den Druckmedien, was manchmal zu nicht immer glücklichen Kompromissen führt. Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf die Bewertung des Spiels Mass Effect 2 die Wertmaßstäbe der Spielezeitschriften verdeutlichen. Das Spiel stammt von der kanadischen Firma Bioware, die sich schon seit längerer Zeit mit Spielen wie Baldur’s Gate und Knights of the Old Republic einen Namen mit hervorragend gestalteten Rollenspielen gemacht hat, deren Schwerpunkt interessante Figuren, spannend erzählte Geschichten und gelungenes Gameplay bilden.8 Mass Effect 2 ist der zweite Teil einer von Anfang an auf drei Teile angelegten Science-Fiction-Geschichte um die Bedrohung der Galaxie durch eine künstliche Lebensform und deren Bekämpfung durch ein kleines Team um Shepard, den Kapitän des Raumschiffs Normandy. Das erste Spiel dieser Reihe erhielt viel Lob für seine Figuren und Erzählweise, wurde allerdings wegen einer Reihe von technischen Schwächen gerügt. Mass Effect 2 verwendet eine überarbeitete Spielmechanik; der Rollenspielanteil wurde deutlich zugunsten von mehr Action verringert. Es gehört zu den Besonderheiten von Mass Effect 2, dass Spieler ihren letzten Spielstand aus der Vorgängerversion laden können und somit zahlreiche, vor allem moralische Entscheidungen, die der Spieler im ersten Teil getroffen hat, auch die Spielwelt im zweiten Teil beeinflussen.9 Die Rezension in der Zeitschrift Gamestar ist in vieler Hinsicht typisch: Mass Effect 2 ist der Titelaufmacher: Sowohl die Abbildungen auf dem Cover als auch die Wahl der größten Schrifttype für den Namen des Spiels machen den Rang des Spiels deutlich. Zugleich reagieren die Zeitschriftenmacher auf die Erwartungshaltung des Publikums, da schon Mass Effect ein kommerzieller Erfolg war. Auf der beiliegenden DVD wird das Spiel als ›Topspiel‹ hervorgehoben und gleich eine ganze Liste von Aspekten benannt, die in dem 25 min. Videotestbericht behandelt werden: »Das Spiel, die Vielfalt, die Spielwelt, Wertungskonferenz, Fazit«. Neben der Erwähnung im Editorial macht der
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media Verlagsgesellschaft mbH). Unberücksichtigt bleiben die Zeitschriften, die Spiele mehrerer Plattformen vorstellen. Zahlen nach der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V. (http://www.ivw.eu). Die Konkurrenzzeitschrift Gamestar weist eine ähnliche Entwicklung auf: von ca. 331.000 (1999) zu ca. 135.000 (2009). ›Gameplay‹ ist ein zentraler Begriff zur Beschreibung der Aktivität des Spielers in einem Spiel: »Gameplay is the formalized interaction that occurs when players follow the rules of a game and experience its system through play.« Katie Salen / Eric Zimmerman: Rules of Play. Game Design Fundamentals. Cambridge, Mass., London 2004, S. 303. Die Möglichkeit, Figuren aus früheren Spielen der gleichen Serie zu importieren, bieten eine ganze Reihe von Spielen, angefangen mit Wizardry aus dem Jahr 1982 (vgl. http://www. mobygames.com/game-group/games-with-importable-characters/). Innovativ ist vor allem die Kombination mit dem moralischen Entscheidungssystem.
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Umfang des Tests (8 Seiten) den besonderen Stellenwert des Spiels deutlich. Alle diese Signale besagen vor allem eins: Es handelt sich um einen ›Toptitel‹ von einem wichtigen Studio, der von vielen Spielern sehnsüchtig erwartet wird, da alle Vorinformationen ausgesprochen positiv waren. Diese Aspekte der Berichterstattung über einen ›Toptitel‹ verändern sich nicht, wenn das Spiel dann letztendlich nach Ansicht der Redaktion weit hinter den Erwartungen zurückbleibt und vergleichsweise negativ gewertet wird. In vergleichbarer Weise erfährt der ›neue Grass‹ ganz selbstverständlich eine andere Berichterstattung im Feuilleton als der Roman eines unbekannteren Autors, sollte auch Grass’ Werk letztendlich als weniger interessant dargestellt werden. Anders als bei Büchern ist bei Spielen nicht nur das Vorwissen über die herstellende Firma, den beteiligten Spieledesigner usw. relevant, sondern auch bereits die Vorinformation über das Spiel selbst. Es gehört zu den Eigenheiten der Spielebranche und des Mediums Computerspiel, dass eine Vorinformationskultur existiert mit Hinweisen zum Plot, Bildern aus dem Spiel, Trailern, vor allem aber mit Preview-Tests, die von Redakteuren durchgeführt werden – oft schon längere Zeit vor der Publikation.10 Durch diese ständige Berichterstattung wird eine Erwartungshaltung aufgebaut, und in gewissem Sinne ist der große Test im Rahmen einer Spielezeitschrift dann eine umfassende Antwort auf die Frage, ob die Voreinschätzung angemessen war. Die meisten Computerspielzeitschriften und auch die einschlägigen Websites drücken ihre Wertung numerisch aus, häufig als eine Zahl zwischen 0 und 100, wobei letzteres die Höchstwertung darstellt. Das Kalkül, mit dem sie diese Wertung erreichen, wird in den Zeitschriften und Websites zumeist ausführlich offengelegt. Häufig bezieht ein Relaunch einer Zeitschrift auch eine Neukonzeptualisierung des Wertungssystems mit ein. Gamestar bewertet bei allen Spielen die Aspekte Grafik, Sound, Balance, Atmosphäre, Bedienung, Umfang. Außerdem werden noch vier genretypische Dimensionen evaluiert; im Fall des Rollenspiels Mass Effect 2 sind das: Quests/Handlung, Charaktersystem, Kampfsystem, Items. Unter jeden Punkt werden eine Reihe für das jeweilige Spiel wichtiger Besonderheiten positiv oder negativ genannt, z. B. unter Atmosphäre: »+ komplexe, durchdachte Welt + unverbrauchtes Szenario + interessante Heldentruppe + stimmungsvolle Levels – Bugs«11 und das Ergebnis dann wiederum numerisch ausgedrückt: Jeder Aspekt kann 10 Punkte erreichen und die 10 Punkte der 10 Aspekte ergeben dann die Höchstpunktzahl.12 Der direkte Konkurrent, PC Games, versucht die Zeit – und damit auch den Umstand, dass Spiele zu verschiedenen Zeitpunkten des Spiels
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Die Berichterstattung über das Spiel Mass Effect 2, das im Januar 2010 veröffentlicht wurde, geht laut der Webseite von Gamestar bis März 2008 zurück. Erste Bilder erschienen bereits im Herbst 2008 (vgl. http://www.gamestar.de/spiele/mass-effect–2/news/44348.html). Daniel Matschijewsky: Mass Effect 2. In: Gamestar 03/2010, S. 20–27, hier S. 27 (im Folgenden abgekürzt mit ›Gamestar‹ und Seitenzahl). Die Liste der genannten Aspekte richtet sich nicht nach einem System. So werden etwa in einer Besprechung des Rollenspiels Drakensang: Am Fluss der Zeit im gleichen Heft folgende Punkte unter ›Atmosphäre‹ gelistet: »+ sympathische Spielwelt + viele interessante Charaktere + häufige Zwischensequenzen – teils lange Ladezeiten – unpersönlicher Held« (Gamestar, S. 86)
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sehr unterschiedlich sein können – in die Wertung einfließen zu lassen, indem der Spielverlauf in 10 Abschnitte geteilt wird und jedem der Abschnitte eine Note zwischen 0 und 10 zugeordnet werden kann, woraus sich wieder eine Note zwischen 0 und 100 ergibt. Wie die Note bei jedem Spielabschnitt zustande kommt, wird nicht detailliert beschrieben, vielmehr heißt es: »Mit vielen Punkten belohnen wir: Glaubwürdige Spielwelt, Abwechslung durch neue Einheiten, Schauplätze etc., liebevolle Spieldetails, ›Magische Momente‹ – Situationen, die einem Wochen und Monate im Gedächtnis bleiben«.13 Wenn auch die Systeme der anderen Zeitschriften nicht immer so durchdacht sind, so finden sich zumeist ähnliche Modelle: Mehrere Aspekte werden über eine Durchschnittsnote in eine Gesamtnote eingebracht. In die Endnote der auflagenstarken Computer Bild Spiele gehen mit 70% der Spielspaß, mit 5% die Installation/Ladezeiten, mit 16% die Einstellmöglichkeiten, mit 4% die Sprache und mit 5% der Service ein. Die Note zum Spielspaß wiederum setzt sich zusammen aus gewichteten Bewertungen zum Spieleinstieg, zur Grafik, zum Sound, zu den Texten und zur Steuerung sowie zu einem Aspekt, der sich Einzelspieler-Wertung nennt und selbst wiederum aus den Aspekten Faszination der Spielwelt, Langzeitspaß, Spielvariationsmöglichkeiten und Gegnerverhalten besteht.14 Die – wenig bekannte – Zeitschrift Games aktuell wertet Grafik, Sound, Steuerung; auch hier wird die Note deutlich von einer zusätzlichen Liste von spielspezifischen Stärken und Schwächen bestimmt.15 Kommerzielle Websites, die auf Berichterstattung über Spiele spezialisiert sind, gehen recht ähnlich vor. Aus der Fülle des Angebots greife ich zwei heraus: Gamona16 und IGN.17 Beide Websites bieten zahlreiche Informationen und Dienstleistungen um jedes Spiel: Neben der eigentlichen textbasierten Rezension gibt es häufig eine zweite Besprechung in Videoform, deren Text oft eigenständig ist. Außerdem eine redaktionelle Komplettlösung und weitere, die von Lesern stammen, sowie Cheats – also Befehle, mit denen man das Spiel manipulieren kann – und Easter Eggs – das sind versteckte intertextuelle oder realweltliche Anspielungen im Spiel. Hinzukommen Rubriken mit Neuigkeiten, Videos und Bildern sowie Dateien, z. B. Patches des Spieleherstellers, die Fehler im Spiel beseitigen. Die Menge an Kommunikation rund um ein Spiel ist für sich schon eine implizite Wertung. Mag die Kommunikation vor dem Spiel auch noch Ergebnis guten Marketings oder gelungener Vorläufer sein, so ist sie nach dem Erscheinen ein deutlicher Indikator der Beliebtheit des Spiels, und Beliebtheit ist sicherlich ein wichtiger Wertungsaspekt – dazu unten mehr.
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Felix Schütz: Mass Effect 2. In: PC Games 02/2010, S. 82–90, hier S. 73 (im Folgenden abgekürzt mit ›PC Games‹ und Seitenzahl). N.N.: Mass Effect 2. In: Computerbild Spiele 3, 3. 2. 2010, S. 62–66, hier 62 (im Folgenden abgekürzt mit ›Computerbild Spiele‹ und Seitenzahl); zur Erläuterung des Testsystems vgl. ebd., S. 96. Games aktuell 02/2010, S. 64; zur Erläuterung des Testsystems vgl. ebd., S. 57. Vgl. http://www.gamona.de. Zu Mass Effect 2 vgl. http://www.gamona.de/games/mass-effect– 2:game,620020.html. Vgl. http://www.ign.com.
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Auch einige der Websites legen ihre Maßstäbe offen und auch sie drücken ihre Wertung numerisch aus. Die deutschsprachige Spielewebsite Gamona rechtfertigt, wenn ich das richtig sehe, ihr Wertungssystem allerdings nicht und geht auch eher unsystematisch vor: Am Ende steht eine unstrukturierte Liste von Plus und Minus-Punkten und eine zweistellige Zahl; die eigentliche Begründung für die Bewertung – ohne dass der Bezug zur Zahl deutlich würde – kann man dem Artikel entnehmen. Die Begründung der Spiele-Website des Netzwerks IGN18 besteht allerdings zum größten Teil aus einer Erläuterung der Bedeutung der Note – hierbei handelt es sich wohl um einen Unterschied zwischen deutschsprachigen und angelsächsischen Gepflogenheiten.19 Die Dimensionen der Wertung sind bei IGN Presentation, Graphics, Sound, Gameplay, Lasting Appeal.20 Es zeigt sich insgesamt in der Rezensionspraxis ein deutliches Bemühen darum, die Wertungen vergleichbar zu machen, indem man sie auf Zahlen, also eine Art allgemeingültige Währung bezieht. Aus der Perspektive der kulturellen Praktiken, die sich im Umgang mit Literatur entwickelt haben, mag diese erzwungene Vergleichbarkeit barbarisch anmuten, aber die Besprechungen der Spiele erfüllen vor allem einen Zweck, aus dem sich die Berechtigung dieser Praxis ableiten lässt: Sie dienen den Lesern als Entscheidungshilfe beim Kauf von Spielen, die mit 50–70 € Anschaffungspreis beim Erscheinen des Spiels ja auch so viel kosten, dass fast alle Käufer bei weitem nicht alle interessanten Neuerscheinungen kaufen können und sich deshalb für das eine und damit gegen das andere Spiel entscheiden müssen.21 Das wird noch verstärkt durch die den meisten aufgezwungene Zeitökonomie. Einzelspieler-Kampagnen dauern zwischen 10 und 40 Stunden. Entsprechend können die meisten Spieler auch nur einige wenige Spiele ganz durchspielen.22 In den Rezensionen lässt sich m.E. eine objektivierende Tendenz der Wertung von einer subjektivierenden unterscheiden: Die objektivierende entsteht durch den Vergleich eines Spiels mit anderen unter der Perspektive der Präsentation, des Umgangs mit den Gattungsvorgaben und der individuellen Besonderheiten. Die subjektivierende Tendenz resultiert aus der Einsicht, dass die Frage, welches Gameplay Spaß macht, vor allem eine Frage des Spielertyps ist. So kann das gelungenste Strategiespiel die Ansprüche eines
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Vgl. http://uk.games.ign.com/ratings.html. Z.B. »3.0/3.5 – Awful. Bad concept, severe technical flaws, terrible design – these are just some of the characteristics of an awful game. Getting to the end just might be impossible, because the experience is just so terrible« (ebd.). Ähnlich funktioniert der Rating Guide von Videogamer. com (vgl. http://www.videogamer.com/ratingguide.html). Ähnlich bei Videogamer: Gameplay, Graphics, Sound. So heißt es etwa bei IGN: »Our goal is twofold: Offer a critical view of how a game compares to its peers and give you all the info needed to determine if a game is worth your hard-earned cash« (http://uk.games.ign.com/ratings.html). Entsprechend der bürgerlichen Herkunft der Literaturpraktiken wird im Umgang mit Literatur so gut wie niemals der finanzielle Aspekt thematisiert und nur manchmal der zeitliche. Dass Literaturrezensionen Leser auch über das Buch informieren könnten, scheint nicht allen Rezensenten immer klar zu sein.
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Spielers, der eigentlich Rollenspiele präferiert, vollkommen verfehlen. In die objektivierend gestaltete Wertung gehen vor allem drei Aspekte ein: (1) Mediale Präsentation: Computerspiele erschaffen virtuelle Welten mit eigenen Regeln und Verhaltensmöglichkeiten, die audiovisuell präsentiert werden. Das gilt nicht nur für realistisch anmutende Simulationen von frei begehbaren Welten wie z. B. Stalker, sondern auch für Textadventures und Casual Games wie Tetris. Im Schema der Wertung sind insbesondere Grafik und Sound regelmäßig beachtete Dimensionen, doch insgesamt geht es bei der Präsentation um alle Wahrnehmungsaspekte der Spielwelt. Zwei Werte bestimmen hier die Evaluation: einerseits die realistische Simulation – insbesondere bezogen auf die Präsentation –,23 andererseits das gelungene künstlerische Design, das eine eigene Handschrift verrät. In den Rezensionen zu Mass Effect 2 wird zumeist der Wert der Simulation herangezogen, der oft mehr umfasst als nur die visuelle Dimension: »Man hat in Mass Effect 2 stets das Gefühl, mit lebenden Wesen statt einer bloßen Ansammlung von Polygonen und KI-Routinen zu interagieren.«24 Oder: Es gelingt »Bioware erneut, ein glaubhaftes und einladendes Universum vor dem Spieler aufzubreiten – die tolle grafische Gestaltung der Levels trägt viel dazu bei.«25 Dieser Wert liegt auch der Einschätzung der Figuren und der Interaktion zugrunde: »Die Figuren sind so glaubhaft geschrieben und klasse umgesetzt, dass man sie sofort ins Herz schließt.«26 Die ›Umsetzung‹ bezieht sich auf das sogenannte voice acting, also die Stimmführung der Schauspieler, die die Figuren sprechen. In diesem Aspekt der Präsentation gehen, wie beim zeitgenössischen Kino, technische und andere (etwa schauspielerische) Aspekte ineinander über und bilden einen gemeinsamen Wahrnehmungshorizont. Hierzu zählen z. B. auch die Mimik der Figuren einschließlich des lippensynchronen Sprechens sowie die Künstliche Intelligenz der Figuren, die nicht vom Spieler gesteuert werden und deren unsinniges oder roboterhaftes Verhalten häufig in Rezensionen kritisiert wird. Die täuschend realistische Simulation ist ohne Zweifel für eine ganze Reihe von Spielen das Designideal und bestimmt auch die Entwicklungstendenz der Computerspielbranche insgesamt: Die visuelle Präsentation wird immer fotorealistischer oder sogar dreidimensional, die akustische hat bereits eine erstaunliche Raumwirkung erreicht, die Raumgestaltung hat sich vom Zweidimensionalen zu den heutigen dreidimensionalen Räumen entwickelt, das Leveldesign von der einfachen Sequenz zu frei erkundbaren Welt, die computergesteuerten Figuren reagieren zunehmend angemessen auf das Spielerverhalten, interagieren und simulieren teilweise eigene Lebensabläufe usw. So wichtig dieses Ideal für die Gestaltung von Computerspielen auch ist, daneben existiert gleichberechtigt ein weiteres Ideal, das einen künstlerisch geschlossenen Gesamteindruck ent-
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Tatsächlich ist es eine der wesentlichen Schwächen der bisherigen Interaktionsformen, dass sie zumeist kein ikonisches Verhältnis zur repräsentierten Aktion haben, was sich aber in den letzten Jahren zunehmend durch neue Steuerungssysteme für die Konsolen ändert, z. B. die Wii-Konsole von Nintendo oder Kinect für die XBox. Gamestar, S. 22. PC Games, S. 85. Ebd., S. 87.
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sprechend hoch wertet, auch wenn dieser sehr weit entfernt von dem einer Simulation ist und die eingesetzten Mittel vergleichsweise einfach sind. Das gilt insbesondere für die Spiele der Independent-Szene, z. B. für Spiele wie World of Goo. Die Geschichte von Spielen wird zumeist in cut scenes erzählt, also Filmsequenzen, die den interaktiven Spielteil unterbrechen, oder mittels scripted events, also vom Verhalten des Spielers ausgelösten Ereignissen in der Spielwelt, auf die der Spieler aber reagieren kann. Weist die Geschichte eines Spiels eine besondere Qualität auf – wie im Falle der Mass Effect-Serie – dann wird dies in Besprechungen besonders hervorgehoben. Dahinter steht eine Hochwertung des emotionalen Engagements, das durch interessante Figuren und eine spannende oder den Spieler auf andere Weise involvierende Handlung erreicht wird. Eben dieser Aspekt ist bei den meisten Spielen – so ein allgemeiner Konsens der Kritik – zu wenig entwickelt. Die besondere Qualität der Geschichte von Mass Effect wird daher in allen Besprechungen hervorgehoben: »einen Großteil seiner Faszination [...] zieht Mass Effect 2 aus der enorm motivierenden Erzählweise mit ihren Überraschungen in Dialogen und Handlungssträngen«,27 »Mass Effect 2 ist damit die klare Referenz in Sachen Dialoge und filmisches Erzählen.«28 (2) Genre und Gameplay: Eine der wichtigsten Wertungsdimensionen beruht auf der Art und Weise, wie ein Spiel seine Gattungsvorgaben erfüllt oder variiert. Wie üblich in populärer Kultur existiert bei Autoren und Rezipienten ein verhältnismäßig klares Gattungssystem, das in flexibler Art und Weise Erwartungen steuert.29 Im Zentrum der Gattung steht das Gameplay, doch es kommen eine Reihe von zusätzlichen Erwartungen zum Spielaufbau, der Rolle von Figuren und Handlung und anderes mehr hinzu. Bei Rollenspielen erwartet man etwa ein Kampf- und Interaktionssystem, das im Laufe des Spiels den Helden immer mächtiger werden lässt. Normalerweise kann der Spieler am Anfang aus einer Reihe von Klassen wählen, von denen jede besondere Eigenschaften aufweist. Im weiteren Fortschritt des Spiels kann er einige seiner Fertigkeiten verbessern und oft werden zusätzliche Fertigkeiten freigeschaltet, wenn der Spieler einige Aufgaben (Quests) gelöst hat. Dieses Gefühl, im Verlauf des Spiels mächtiger zu werden, wird zumeist noch dadurch verstärkt, dass auch seine Ausrüstung sich immer mehr verbessert:
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Gamestar, S. 20. Ebd., S. 24. Vgl. auch: »Mass Effect bietet eine spannende Hauptgeschichte«, PC Games, S. 83; »Die Charaktere und die erwachsene Story motivieren bis zum Ende«, Games aktuell, S. 64; »wie spannend und vielschichtig sich die Geschichte des Weltraum-Epos entwickelt«, Computerbild Spiele, S. 66. Zur Frage von Computerspiel-Gattungen vgl. Kap. 3 in Chris Crawford: The Art of Computer Game Design. Berkeley 1984; sowie Kap. 6 in Mark J. P. Wolf: The Medium of the Video Game. Austin 2000. Beide wissenschaftlichen Definitionsversuche haben nicht viel mit der Einteilung zu tun, die sich in Zeitschriften und auf Websites findet, wo im Kern zumeist folgende Bezeichnungen zu finden sind: Adventures, Action-Spiele (evtl. mit Arcade und Ego-Shooter als besonderen Subgenres), Rollenspiele (evtl. mit MMORPGs als besonderem Subgenre), Strategiespiele, Simulationen (evtl. mit Renn-, Sport- und Musikspielen als besonderen Subgenres) und außerdem Puzzle und andere kleinere Gattungen.
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Neue Waffen, neue Rüstungen ergänzen die gesteigerten Fähigkeiten. Das Steigerungsund Belohnungssystem ist zumeist eingebettet in eine Geschichte, die die ständigen Kämpfe motiviert. Einige Rollenspiele erlauben es dem Spieler sogar, kleine Gruppen von Begleitern zusammenzustellen; insgesamt sind in Rollenspielen Nichtspielerfiguren (NPCs) besonders wichtig, da sie das Gefühl vermitteln, Teil einer umfangreicheren Welt zu sein. Ein weiteres Merkmal für Rollenspiele stellen die Gestaltungsmöglichkeiten des Helden durch den Spieler dar. Das beginnt mit der Auswahl einer bestimmten Klasse, oftmals ergänzt durch sehr freie Möglichkeiten, das Aussehen der Figur zu bestimmen. Manchmal kann auch das Geschlecht der Figur frei gewählt werden (und in einigen wenigen Spielen verändert sich dadurch auch etwas im Spiel). Im weiteren Spiel wird der Held durch die Kombination der jeweiligen Fähigkeiten noch weiter individualisiert. Die Fähigkeiten wie auch die Waffen und die Ausrüstung müssen zum Teil situationsadäquat und strategisch eingesetzt werden. Eigentlich alle längeren Rezensionen von Mass Effect 2 stellen fest, dass das Spiel diese Erwartungen an ein Rollenspiel nicht vollständig erfüllt und noch nicht einmal so erfüllt, wie es der Vorgänger, Mass Effect, getan hatte, da es zahlreiche Elemente eines Actionspiels aufweist; z. B.: Diese mächtigen Spezialtalente sind aber leider ebenfalls rar gesät – Shepards Begleiter können nur wenige Fähigkeiten lernen und diese auch nur in je vier Stufen ausbauen. Der Vorgänger bot in dieser Hinsicht noch mehr – hat Bioware hier den Rollenspiel-Tiefgang zugunsten der Action reduziert? Es sieht fast so aus.30
Die effektive Auswahl aus einer größeren Anzahl verschiedener Fähigkeiten zu treffen, kann recht komplex sein, ist aber in Rollenspielen wichtiger Teil des Gameplays: Das wird als »Rollenspiel-Tiefgang« bezeichnet, der hier als Gegensatz zu den schlichteren Action-Elementen gesehen wird. Das betrifft offensichtlich nicht eine prinzipielle Abwertung von Actionspielen, sondern die Entscheidung, die Möglichkeiten eines komplexen Gameplay-Elements aufzugeben – ist also auf die Erwartungshaltung durch die Gattung Rollenspiel bestimmt. In den Rezensionen finden sich zahlreiche entsprechende Anmerkungen zur Reduzierung der typischen Rollenspielelemente, die etwa die Auswahl der Gegenstände (»Es gibt praktisch keine, Gegner hinterlassen weder Geld noch Ausrüstung!«),31 das Level-Design (»Viele Spieler kennen das aus reinen Actiontiteln wie Doom 3«)32 oder die Individualisierung des Helden (das Spielprinzip »erlaubt es leider nicht, einen Charakter individuell auszurüsten«)33 betreffen.34 An dieser Stelle konfligieren zwei Grundprinzipien von Computerspiel-Rezensionen. Zum einen gibt es das egalisierende Wissen über die verschiedenen Typen von Spielern
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PC Games, S. 89. Oder Gamona: »ohne ausgefeiltes Rollenspiel kann BioWare keine frenetischen Jubelstürme entfachen« bzw. »Fühlt sich Mass Effect 2 also wirklich eher nach Shooter an? Ja.« PC Games, S. 89. Gamestar, S. 25. PC Games, S. 89. »Rollenspiel light eben«, Computerbild Spiele, S. 64.
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mit ihren unterschiedlichen Interessen an Spielen, zum anderen aber die Einsicht in die – aus der Spielerperspektive – höhere Komplexität der Rollenspielelemente und der Bezug auf ein Wertsystem, das Komplexität höher wertet: Während Action-Fans auf der Allmachtswelle üppig ausgebauter Kampftalente durch die Schlusskapitel surfen, vermissen Rollenspieler das Grübeln über die beste Talentkombination und die im Zwang zum Auswählen liegende Vielfalt im Charakterausbau.35
Die typenbezogene Gegenüberstellung ist, wie ein Blick auf die Wortwahl sofort deutlich macht, keineswegs neutral, vielmehr wird mit »Allmachtswelle üppig ausgebauter Kampftalente« sowie dem Ausdruck »surfen« betont, wie gering die Anforderungen an die Spieler hier sind (und der Begriff ›Allmacht‹ evoziert auch ein wenig den Begriff ›Allmachtsphantasien‹ und das Kindliche dieser Position). Gegenbegriffe sind das bei Mass Effect 2 vermisste »Grübeln« und die »Vielfalt im Charakterausbau«, also die intellektuelle Herausforderung, die gutes Rollenspieldesign mit sich bringt.36 Das zentrale Element aller Spiele ist das Gameplay, und bei Rollenspielen ist der Kampf wohl die wichtigste Einzelkomponente des Gameplays. Neben den vorbereitenden strategischen Elementen – also der richtigen Auswahl der Fähigkeiten, der Rüstung, der Waffen, der Munition und evtl. sogar der Begleiter und deren Fähigkeiten – weisen die meisten Rollenspiele im Kampf sowohl strategische als auch in sehr viel geringerem Maße geschicklichkeitsbezogene Elemente auf, wenn es darum geht, nicht nur die richtigen Fähigkeiten einzusetzen, sondern dies im richtigen Moment zu tun und dabei die Positionierungen der Figuren zu beachten. Die entscheidende Wertdimension zur Beurteilung des Gameplays ist »Spaß«. Es soll so unterhaltend und intrinsisch befriedigend sein, dass es den Spieler zum weiteren Spielen motiviert. Die Kritik an »den verhältnismäßig seichten Ballereien«37 in Mass Effect 2 und dem Leveldesign – die meisten Level seien eng aufgebaut und böten kaum Platz zum Erkunden – 38 wird allerdings relativiert durch positive Aspekte: »Biotische Druckwellen, Warp-Felder und Explosivgeschosse würzen die Gefechte mit Abwechslung und sorgen für sehenswerte Effekte«.39 Zugleich sei die Nähe zum Shooter nicht nur negativ zu werten, sondern habe auch ihre guten Seiten: Gleich zwei Neuerungen erhöhen den Shooter-Anteil zusätzlich: Zum einen heilt sich Shepard, wenn er gerade nicht beschossen wird, zügig selbst, zum anderen besitzen sämtliche Gegner nun
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Gamestar, S. 26. So auch Gamona: Das Spiel fordert »bis auf die schwersten Schwierigkeitsgrade kaum gruppendynamische bzw. -analytische Finessen von euch, immer feste druff und danach kurz verschanzen klappt erstaunlich gut; selbst der Endkampf bleibt auf ›Veteran‹ erschreckend seicht.« http:// www.gamona.de/games/mass-effect–2,special-pc:article, 1661119.html. Oder PC Games, S. 88: »Die Kämpfe erinnern an Third-Person-Shooter und haben nichts mit den taktischen Gefechten eines Dragon Age gemein.« Gamestar, S. 26. Vgl. PC Games, S. 85. Auch Gamestar spricht von einer ›Designschwäche‹: »Das Ziel ist aber stets dasselbe: Laufe durch schlauchartige Levels von A nach B und ballere unterwegs alles zu Klump.« (Gamestar, S. 22). PC Games, S. 89.
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Trefferzonen und lassen sich zum Beispiel durch einen Schuss ins Bein ausbremsen. Außerdem sollten Sie auf die Wahl der richtigen Knarre nebst passender Munition achten.40
Die Trefferzonen erlauben es – die entsprechende Geschicklichkeit vorausgesetzt – ebenso wie die Empfindlichkeit der Gegner gegen bestimmte Munition und Waffen strategisch zu spielen. Offensichtlich ist hier – unabhängig von der Gattung – ein gewisses Maß an Komplexität eine dominante Wertungsdimension. Was zu einfach ist, macht keinen Spaß. (3) Spielspezifische Besonderheiten: Wie alle Kunstwerke weisen auch Computerspiele werkspezifische Besonderheiten auf. Diese entwickeln sich manchmal sogar zum Markenzeichen einer Firma: Es gehört zum innovativen Gameplay-Design von Bioware, den Spieler mit moralischen Entscheidungen zu konfrontieren.41 Das war bereits im ersten Teil so, und da man am Anfang des zweiten Teils seine Hauptfigur aus dem ersten Teil übernehmen kann, haben die dort getroffenen Entscheidungen auch Auswirkungen auf die Spielwelt des zweiten Teils. Die Wahlfreiheit der Dialoge wird entsprechend positiv gewürdigt: »Dialoge [...] bieten auch stets viele Antwortmöglichkeiten – darunter großherzige, aber auch richtig fiese Optionen.«42 Während der Versuch des spielübergreifenden Weltgestaltens aufgrund der Entscheidungen kaum überzeugt hat.43 Neben diesen drei Aspekten, ›mediale Präsentation‹, ›Genre und Gameplay‹ sowie ›spielspezifische Besonderheiten‹, die man als objektivierende Tendenz der Rezensionen beschreiben kann, gibt es eine subjektivierende; sie geht von der unter ComputerspielDesignern wiederholt diskutierten Tatsache aus, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Spieltypen bevorzugen und dass es wichtig ist, diese Unterschiede in den Designprozess mit einzubeziehen: Though the game designer’s innate sense of good design will always be of vital importance to the creation of good gams, in a market so potentially vast, it seems foolish to assume that a single designer can please every facet of their intended audience without putting specific thought into the nature of that audience’s preferences.44
Die Aufgabe eines Game Designers sei es »to move beyond our own assumptions« dessen, was gutes Design ist.45 Die von den Spielern selbst geäußerten Angaben darüber, warum sie spielen und was für sie persönlich ein gutes Spiel ausmacht, seien ohne ein Persönlichkeitsmodell nur eingeschränkt nutzbar.46 Die vorgeschlagenen Klassifikatio-
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Gamestar, S. 25. »Mass Effect 2 wäre kein Bioware-Spiel, gäbe es nicht zahllose moralische Entscheidungen zu treffen.« (PC Games, S. 87). PC Games, S. 88. »Die großen Entscheidungen aus dem Vorgänger haben kaum Einfluss auf die Geschichte, dabei hatte Bioware doch mehr versprochen!« (PC Games, S. 89). Chris Bateman / Richard Boon: 21st Century Game Design. Hingham, MA 2006, S. 50f. Ebd., S. 33. Vgl. Richard A. Bartle: Virtual Worlds: Why People Play. In: Thor Alexander (Hrsg.): Massively Multiplayer Game Development 2. Hingham MA 2005, S. 3–18, hier S. 3.
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nen sind zwar oberflächlich einfach, vereinen aber in ihren Typen komplexere Persönlichkeitsvariablen; z. B. das Modell von Bateman und Boon, das die Typen der Eroberer, der Verwalter, der Wanderer und der Teilnehmer kennt und auf dem Myer-Briggs Persönlichkeitstest beruht.47 Wie auch immer diese Klassifikation nun genau aussieht – der Umstand, dass nicht für alle Spieler alle Spiele gleich interessant sind, ist eine wichtige Grundlage der Bewertung von Spielen, der nicht nur unter Game-Designern Rechnung getragen wird, sondern die bei der professionellen Berichterstattung ebenso eine Rolle spielt wie in den Diskussionen der Spieler untereinander. Die Redaktionen der Zeitschriften und Websites berücksichtigen das in mehrfacher Weise. Vor allem wird üblicherweise ein Redakteur mit der Rezension beauftragt, der die Gattung kennt – was zumeist bedeutet, dass er ihr positiv gegenübersteht.48 Viele Rezensionen legen außerdem offen, wie sie vergleichbare Spiele einschätzen, so dass der Leser daraus ableiten kann, ob seine Spielerfahrung sich mit der des Redakteurs deckt. Hinzukommen oft personalisierende Informationen über die Redakteure, ihre Lieblingsspiele und ihre momentane Freizeitbeschäftigung, die es erlauben, die jeweiligen Werturteile zu kontextualisieren und auf eigene Vorlieben und Abneigungen zu beziehen. 49 Und nicht zuletzt wird die Abhängigkeit der Wertung von den Vorlieben des Spielers oftmals explizit konstatiert. So heißt es etwa in einer Besprechung zu Mass Effect 2 »depending who you ask [über den Vorgänger Mass Effect, F.J.] it was either a certified masterpiece or a role player drowning in its own dialogue«,50 oder in einer Besprechung wird die Frage nach dem Spielertyp explizit gestellt: »Für welchen Spielertyp geeignet? [...] Wer Shooter grundsätzlich hasst, tut sich hier also schwer.«51 Manchmal wird auch ergänzend die Wertung anderer Redakteure dem Hauptartikel hinzugefügt.52 Die numerische Form, in der die Wertung einer Rezension oftmals zusammengefasst wird, macht es einfach, solche Bewertungen wiederum zu bündeln. Das geschieht in sogenannten Aggregatoren wie z. B. Metacritic,53 die eine neue Form der Berichterstattung über Wertung darstellen, da sie keine eigene Bewertung vornehmen, sondern lediglich auf einem Algorithmus beruhen, der andere Bewertungen zusammenfasst.
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Bartle schlägt ein eigenes Modell vor, das acht Typen unterscheidet. Vgl. etwa aus der Beschreibung des Wertungssystems der Website IGN: »Editors at IGN speak up about the games they want to play so we make sure people are playing things that interest them.« (http://uk.games.ign.com/ratings.html). Vgl. etwa PC Games, S. 72 und Gamestar, S. 64. Martin Robinson: Mass Effect 2 Review. Shepard returns for Bioware’s finest 30 hours. 26. 1. 2010 (http://uk.pc.ign.com/articles/106/1063576p1.html). PC Games, S. 82. Z.B. kommen in der Rezension von Mass Effect 2 neben dem Autor noch drei weitere Redakteure in Kurzrezensionen zu Wort; vgl. Gamestar, S. 26. Vgl. http://www.metacritic.com.
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2. Wertungen und Wertmaßstäbe: Spielerwertungen Spieler beurteilen, wie auch Rezipienten anderer Kunstformen, die Werke seit jeher, aber erst das Internet hat diese Kommunikation für alle sichtbar und zugänglich gemacht. Sie ereignet sich vor allem in den ausdrücklich dafür geschaffenen Anhängen an die professionelle Beurteilung im Internet, also auf den Websites der Spielezeitschriften, der Aggregatoren, auf den Websites der Online-Verkäufer, z. B. Amazon, oder auf den Websites der Entwickler bzw. des Publishers. Die Spielerwertungen sind kaum systematisch zu beschreiben, da sich vom Einzeiler bis zur ausführlichen, gut begründeten Analyse eigentlich alles findet. Die längeren Rezensionen verwenden häufig Zwischenüberschriften, die an die Kategorien der Zeitschriften erinnern, aber zumeist bereits deutlich auf das jeweilige Spiel, auf dessen Gattungsanforderungen und seine Stärken und Schwächen zugeschnitten sind, z. B.: Allgemeines, Nebenquests, Inventar und Ausrüstungssystem, Kampfsystem und KI, Charakterentwicklung, Dialoge und Sprachausgabe, Minispiele, Fazit.54 Oder: Gameplay, Steuerung, Story, Musik / Sound, Atmosphäre, Kurzum.55 Insbesondere die längeren Rezensionen fassen häufig am Ende noch einmal wichtige Plus- und Minuspunkte zusammen. Insgesamt merkt man deutlich, dass die Rezensionen der Spielezeitschriften das Textsortenmuster für die längeren Besprechungen darstellen. Auch in den Spielerbewertungen spielen die Erwartungen aufgrund der Gattung eine zentrale Rolle für die positive oder negative Bewertung des Spiels, wenn auch mit jeweils anderen Argumenten. So wird etwa die Veränderung des Inventarsystems von dem Rezensenten, der vom Spiel begeistert ist, als Fortschritt gesehen: Es gibt kein Rollenspiel-typisches Inventar mehr. Ganz ehrlich: In Mass Effect 1 war das Inventar nach nahezu jeder Mission überfüllt und man musste immer wieder neue Waffen mit den eigenen vergleichen, um dann festzustellen, dass doch alles nur unbrauchbar ist. Gleiches mit den Waffen-Modifikatoren. Meiner Meinung nach ein Schwachpunkt aus Mass Effect 1 und somit gefällt mir persönlich die neue Lösung durchaus.56
Ein genauerer Blick auf die Kritik an der Inventarfunktion, die auch hier als typisch für Rollenspiele angesehen wird, zeigt allerdings, dass sie gar nicht das Inventar als Spielelement im Allgemeinen betrifft, sondern vor allem dessen konsolentypisch schlichte Implementierung im ersten Teil, da die angesprochenen Probleme (zuviel Beute und zu kleines Inventar sowie keine brauchbare Vergleichsfunktion) in anderen Inventaren besser gelöst sind. Grundlage der Bewertung des Rezensenten ist auch hier, obleich nur implizit, der Spielspaß: Das Inventar hat unnötige, wenig lustfördernde Arbeit verursacht, daher wird sein Fehlen als Fortschritt gesehen. Die meisten Kritiker des Spiels, die entsprechend wenig Punkte vergeben haben, monieren die mangelnde Spielqualität
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So die beliebteste Rezension zu Mass Effect 2 bei Amazon.de, Kabraxis: Untypisch, aber definitiv ein (Action-)Rollenspiel! 1. 2. 2010. http://www.amazon.de/review/R2QGHINEQM3E9Z. Amazon.de, HumanBeing: Ein Wahnsinns Spiel und mein derzeitiger Favorit. 4. 3. 2010. http:// www.amazon.de/review/R3W4945FJO2D6P. Amazon.de, Kabraxis (Anm. 54).
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und sehen einen Hauptgrund dafür in dem besonderen Genremix: »Genauer gesagt habe ich das Gefühl eine Mischung aus Shooter und RPG zu spielen, bei der jedoch die größten Qualitäten der beiden Genres absichtlich herausgelassen wurden.«57 Die Kritik am Gameplay geht auch auf die stark reduzierte Inventarfunktion ein: Weiterhin frage ich mich warum man unbedingt das Inventar weglassen musste? Sind Spieler im Jahre 2010 tatsächlich vom Inventar und Gruppenmanagement derart überfordert, dass es ihnen nicht mehr zugemutet werden kann? Für mich persönlich gehören das Ausstatten der Gruppenmitglieder und ein entsprechendes Gruppeninventar zum Spielvergnügen in Rollenspielen einfach dazu.58
Die Kritik an der Abweichung vom etablierten Gattungssystem beruht nicht auf einer Irritation gegenüber der Innovation, sondern am mangelnden Vergnügen, das die neue Lösung dem jeweiligen Spieler bietet.59 Entsprechend kann die gleiche Lösung dem einen den Spaß verderben und dem anderen gerade gefallen.60 Auch die subjektive Tendenz der Kritik wird sichtbar, entweder explizit, wenn Rezensenten ihre Vorlieben in der Besprechung erwähnen, oder implizit dadurch, dass man sehen kann, was sie sonst noch besprochen haben. So leitet N. Fischer seine Kritik ein mit: »Ich spiele sonst eher nur Shooter oder Rennspiele. RPG’s habe ich öfters angespielt, aber sehr schnell die Lust daran verloren.«61 Diese Gattungspräferenz zeigt sich ebenfalls in seiner ironischen Ablehnung des rollenspieltypischen Inventars: »Kein Inventar mit 90tausend verschiedenen Stiefeln, Helmen, Waffen, Munition, oder irgendwelchen Kräutern die 5 Sekunden wirken :)«.62 Im Prinzip spiegelt dieses Wertungsverhalten also das professionelle, ist aber häufig bei weitem nicht so explizit begründend und systematisch. Teilweise haben sich eigene Praktiken entwickelt. Manchmal wird etwa die Aggregation der Wertungen in eine Note inzwischen selbst als Waffe verwendet. So sind niedrige Wertungen teilweise Ausdruck des Unmuts über ganz bestimmte Praktiken der Entwicklerfirma, viel öfter aber des Publishers. Beispielsweise führte Ubisofts restriktives Rechtemanagement bei dem Spiel
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Amazon.de, Hubät: Enttäuschte Erwartungen, verschenktes Potential. 29. 1. 2010. http://www. amazon.de/review/R17FP43T0FLEXF Ebd. Allerdings gibt es auch Stimmen, die Biowares Genremix als Entwicklung des Genres selbst deuten: »Mass effect introduces a new generation of RPG finally free from all the cons-
traints of D&D from the eighties! No stats, no inventory but a awesome universe in wich YOU are the hero. All you actions have real consequences, THIS is role playing.« TibsC http://www.metacritic.com/game/pc/mass-effect–2/user-reviews. 60
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»wenig ablenkung vom spielen, da sehr simples (auto)inventar« Tobi Taste Wücherburm: Der Science Fiction Film zum mitspielen. http://www.amazon.de/review/RU2SWWBT2I3I8 (5 Sterne). Oder »Hier gibt es bis zum Schluss nicht mehr als 3 Waffen für die eigene Spezialisierung und diese Waffen unterscheiden sich soweit voneinander, dass man immer die neuste nimmt. [...] Das war der Denkanspruch.« Peter K: Zweitbester interaktiver Film, den ich kenne. 29. 1. 2010. http://www.amazon.de/review/R2E6QMPRS1DTG0 (2 Sterne). Amazon.de N. Fischer: Seit langem mal wieder ein Spiel für mich. 6. 3. 2010. http://www.amazon.de/review/R1I6LRW2PHMAD8. (5 Sterne). Ebd.
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Assassin’s Creed 2 dazu, dass die Spielerwertung bei Metacritic.com oder Amazon auffallend niedriger liegen als die der Spielezeitschriften. In den einzelnen Artikeln finden sich dann häufig Aussagen wie »Das Spiel kenne ich gar nicht, aber aufgrund des Rechtemanagements bewerte ich es mit der schlechtest möglichen Note.«63 Diese Rezensionen haben im Kern ebenfalls den Anspruch, darüber zu informieren, ob es sich lohnt, das Spiel zu kaufen, z. B. »5 Sterne als absolute Kaufempfehlung«64 oder »its definitely worth its money«.65 Manche haben allerdings eher den Charakter einer Kommunikation mit dem Entwickler und dem Publisher, z. B. »Klasse! Bitte mehr davon!«66 Eine wichtige Rolle, die in der professionellen Darstellung nur selten sichtbar wird, spielt ohne Zweifel der Ausdrucksaspekt: Viele Rezensionen wiederholen bereits genannte Informationen, da es auch darum geht, seiner Begeisterung oder seinem Ärger Ausdruck zu verleihen. Das wird schon an der reichlichen Verwendung von Ausrufungszeichen sichtbar: »Most disappointing game, the graphics and story great!! But this is not RPG anymore, this game is looks like [sic!] action-adventure or third-person shooter with bit RPG elements!!«67 Daneben gibt es noch eine ganze Reihe anderer Kommunikationsformen über Spiele, die von Spielern getragen werden und die im Folgenden nur knapp skizziert werden sollen. Besonders wichtig ist sicherlich die von Kennern betriebene Darstellung von Spielen auf Webseiten wie Wikipedia oder Mobygames.68 Mit großer Liebe zum Detail werden zahlreiche einzelne Fakten aufgelistet. Die Länge und der Informationsreichtum eines Artikels enthalten dabei schon eine Wertung, da auf diese Weise das Interesse an dem Spiel reflektiert wird. Die expliziten Wertungen werden dagegen, schon aufgrund der redaktionellen Vorgaben, zumeist gering gehalten und selten so deutlich wie hier: Man »konnte für die englische Version erneut viele bekannte Schauspieler als Sprecher verpflichten«.69 Aus ähnlichen Gründen werden Walkthroughs – Beschreibungen, wie man ein Spiel durchspielen kann – und spezialisierte Wikis eingerichtet, die umfassende Informationen zu den Spielen zusammenstellen.70
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Vgl. z. B. den Tenor der über 400 Negativrezensionen zu Assassin’s Creed 2 bei Amazon (http:// www.amazon.de/product-reviews/B002D5LTOQ/ref=cm_cr_pr_hist_1?ie=UTF8&showViewp oints=0&filterBy=addOneStar). Amazon.de, Daniel Lamboy: Super Nachfolger eines guten Spiels. 28. 2. 2010. http://www.amazon.de/review/R1P8ON6V3JJNAG. K. Hannes auf http://www.metacritic.com/game/pc/mass-effect–2/user-reviews. Amazon: Unknown s85054: Geniales Spiel. 3. 3. 2010. http://www.amazon.de/review/R13P8DRYZ77SHR. DesmondL mit einer Bewertung von 4/10 Punkten (http://www.metacritic.com/game/pc/masseffect–2/user-reviews). Vgl. Mobygames.com. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Mass_Effect&stable=0&shownotice=1&from section=Mass_Effect_2. Für die Mass Effect-Serie gibt es auch spezialisierte Wikis: http://de.masseffect.wikia.com/wiki/ Mass_Effect_2 (in dt. Sprache und recht klein) und http://masseffect.wikia.com/wiki/Mass_Effect_Wiki (nach eigenen Angaben mit 1850 Einträgen).
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Die wichtigste implizite Wertungshandlung besteht im Kauf; fast ebenso wichtig ist aber wohl das wiederholte Durchspielen der Spiele. Der Kauf wird berichtet in den Bestsellerlisten und den Online-Verkaufsrankings. Die Quantität des Spielens schlägt sich direkt nieder – so kann man in neueren Spieleplattformen wie Steam sehen, mit welchen Spielen sich gerade die Freunde beschäftigen – oder auch indirekt in der Menge des ›Gesprächs‹ über das Spiel in den Benutzerforen der Hersteller, der einschlägigen Websites oder der Plattformen. So kann man etwa in den Foren von Steam sehen, dass es ca. 2600 Diskussionsthemen zu den beiden Mass Effect-Spielen gibt und ca. 450 zum Spiel Arma, von dem ebenfalls zwei Teile erschienen sind.71 Außerdem gibt es zahlreiche weitere implizite Wertungshandlungen, von denen nur einige erwähnt seien, da sie ausgesprochen spezifisch für das Feld der Computerspiele sind: Mods, Patches, Remakes, kommentierte Spielvideos und Machinimas. Viele Computerspielhersteller publizieren Autorenwerkzeuge, die es vergleichsweise unaufwändig machen, eigene Levels und Missionen zu programmieren. Solche Mods zu erstellen ist ausgesprochen zeitintensiv, und daher spielt auch die Frage, wie benutzerfreundlich ein solches Werkzeug ist, eine wichtige Rolle, aber insgesamt ziehen insbesondere die sehr beliebten Spiele viele dieser ›Modder‹ an sich.72 Die beiden Mods zu Mass Effect 2, die moddb auflistet, erschweren das Spiel, um es für Spieler, die mit Actionspielen vertrauter sind, endlich interessant zu machen, während ein besonders langweiliges Minispiel beschleunigt wird.73 Eine vergleichbare Wertschätzung zeigt die Pflege eines Spiels durch die Spielergemeinde, wenn der Entwickler das nicht mehr leistet,74 oder das Remake eines älteren Spiels, sei es als Mod eines technisch avancierteren neuen Spiels75 oder durch das Ersetzen der alten Grafiken durch neue.76 Manche Spieler zeichnen ihren Spielverlauf auf, kommentieren, häufig und ausgiebig wertend, das Geschehen auf einer eigenen Tonspur und publizieren das Ergebnis (sogenannte ›Let’s Play‹).77 Und auch die Verwendung von Spielen zur Erstellung von Machinimas, also Filmen aus Sequenzen in Computerspielen, stellt eine solche indirekte Wertung dar – wenngleich auch hier technische Erwägungen eine Rolle spielen.78
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Zu jedem Thema gibt es mindestens einen Eintrag, zu einigen aber sehr viele Beiträge (vgl. http://forums.steampowered.com/forums/). Vgl. z. B. die Datenbank http://www.moddb.com, die solche Mods verzeichnet. Vgl. http://www.moddb.com/games/mass-effect–2/mods. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Spiel Vampire: The Masquerade – Bloodlines, dessen Entwickler, Troika Games, wenige Monate nach Erscheinen des Spiels 2005 Konkurs ging. Der aktuellste von Spielern programmierte Patch erschien im November 2010. Z.B. das Spiel Hexen (1995) als Mod des Spiels Doom 3 (2004) (vgl. http://www.moddb.com/ mods/hexen-edge-of-chaos). Z.B. die Aktualisierung der Grafiken des Spiels Morrowind (2002) durch Fans im Januar 2011 (vgl. http://morrowind2011.wordpress.com/). Vgl. z. B. lparchive.org. Die Figuren der Spiele werden dabei als Schauspieler eingesetzt (vgl. http://en.wikipedia.org/ wiki/Machinima).
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3. Wertungen und Wertmaßstäbe: Game Designer Computerspiele werden heute normalerweise von Teams entwickelt, und solche Teams umfassen bei sehr großen Produktionen manchmal mehr als 100 Personen; im Fall von Mass Effect waren es rund 120. Gefragt sind ganz unterschiedliche Kompetenzen: Game Designer, Graphiker, Programmierer, Musiker, Soundeffektspezialisten, Schauspieler, Tester und viele andere mehr. Alle diese Beiträger haben unterschiedliche Ansprüche und Wertungsmaßstäbe. Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine einzige Gruppe, die Spieleentwickler, und werde auch nur einen sehr kleinen Ausschnitt der einschlägigen Kommunikation untersuchen, nämlich Bücher zum Game Design. Game Design ist inzwischen ein Fach, das entweder im Selbststudium oder auch an Hochschulen erlernt werden kann. Die Bücher zu Game Design richten sich entsprechend teilweise an Studierende, teilweise an den Autodidakten. Es ist ausgesprochen schwierig, die vielfältigen Wertungsaspekte aus der Perspektive des Game Designs zu erfassen, da keine einheitliche Systematik existiert, sondern eine lange Reihe von oft unsystematisch gewonnenen Einsichten in die Relevanz bestimmter Punkte angeführt wird: Gelungenes Menüdesign steht dann neben der Frage, auf welche Weise Figuren für Spieler attraktiv gestaltet werden können, und daneben fi nden sich Überlegungen zur Optimierung des plattformübergreifenden Designs. Jeder dieser Punkte kann unter einer ganzen Fülle von Wertungsaspekten diskutiert werden. So lauten etwa die fünf goldenen Regeln des Interface-Designs laut Bateman und Boon: Sei konsistent, verwende ein möglichst einfaches Interface, gehe vom Bekannten aus, ein Knopf – eine Funktion, strukturiere die Lernkurve.79 Blickt man auf die Punkte, die in einschlägigen Game Design-Büchern abgehandelt werden, dann sieht man, dass es eine Reihe von wiederkehrenden Themen gibt:80 1) General Game Design, Creating Characters, Puzzle Design, Level Design, Mission Design, Programming, Artificial Intelligence, Game Art, Animation, User Interface, Sound Engineering, Music, Testing81 2) Audiences, Foundations of Game Design, Principles of Interface Design, Game World Abstraction, Avatar Abstraction, Game Structures, Game Genres, Evolution of Games82 3) Game Design Theory, User Interfaces, Genres and Plattforms, Characters and Storytelling, Managing a User Community83
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Bateman / Boon (Anm. 44), S. 125ff. Ich habe im Folgenden eine themenorientierte Auswahl aus den Inhaltsverzeichnissen vorgenommen. Viele dieser Punkte, eigentlich alle, die für den Spieler sichtbar sind, tauchen übrigens in ebenso unsystematischer Weise auch in den Rezensionen und Spielerurteilen auf. Marc Saltzman (Hrsg.): Game Design: Secrets of the Sages. Indianapolis 2000. Das Buch stellt Auszüge aus Interviews mit bekannten Spieledesignern zu den einzelnen Aspekten zusammen. Bateman / Boon (Anm. 44). François Dominic Laramée: Game Design Perspectives. Hingham, MA 2002.
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4) What Players Want, Gameplay, Artificial Intelligence, Storytelling, Multi-Player Level Design, Playtesting84 5) Game Concepts, Game Worlds, Creative and Expressive Play, Character Development, Storytelling and Narrative, User Interfaces, Gameplay, Game Balancing, General Principles of Level Design, Genres of Games85 Neben den allgemeinen Überlegungen zum Spieldesign wiederholen sich diese Punkte in der einen oder anderen Form: Genres, User Interface, Figuren (die vom Spieler gelenkte Figur sowie die Nichtspielerfiguren einschließlich der künstlichen Intelligenz für deren Steuerung), Aufgabengestaltung (z. B. in Form eines Levels), Geschichten erzählen, Spielertypen und -anforderungen. Einige der technischen Aspekte, etwa die Animation von Figuren, werden nur manchmal angesprochen – wohl nicht, weil sie unwichtig sind, sondern weil sie eine eigene Aufgabe darstellen, die nicht unbedingt die des Game Designers ist. Andere Aspekte, wie z. B. das Balancing, das dafür sorgt, dass das Verhältnis des Protagonisten zu seinen Widersachern oder anderen Spielern im Spielverlauf ausgewogen bleibt, werden von einigen als eigene Punkte verhandelt, während andere sie als Teilaspekte des allgemeinen Spieldesigns mitbehandeln. Wie oben schon erwähnt, gehen eigentlich alle Spieldesign-Bücher davon aus, dass Spiele unterhalten und Spaß machen sollen: »Game design is about entertaining the player«,86 »if it is not entertaining to play, then there is no point in world building« oder »Many people see fun as the sine qua non.«87 Das ist der zentrale Wert, dem alle anderen untergeordnet werden und auf den alle anderen bezogen sind. Letztendlich soll auch der Spaß darüber entscheiden, wie weit die Simulation getrieben wird: Recreating the world is a seductive goal and something we do a little better every day. The question is, should we do it? Verisimilitude can be a powerful tool in the game developer’s arsenal, but it is not the only one. Use realism sparingly and you can suck players into your game world in powerful ways. Fall victim to realism’s seductive charms and you almost always end up with a game that’s just not much fun.88
Was Spaß macht, ist vor allem abhängig vom Spielertyp, daher die diversen Spielertypologien, die z. T. auch direkt auf Genres bezogen werden. Gelegenheitsspieler (casual gamers) etwa zeigen sehr viel weniger Bereitschaft, komplexe Steuerungen oder Spielprinzipien zu erlernen, als sehr erfahrene Spieler (hardcore gamers), während letztere sich schnell unterfordert fühlen und dann keinen Spaß mehr haben. Zumindest zwei wichtige Konzepte, die im Zusammenhang mit dem fun, den Spiele machen sollen, wiederholt
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Richard Rouse III: Game Design: Theory and Practice. Sudbury, MA. 2005. Enthält einige Interviews mit Game Designern. Ernest Adams: Fundamentals of Game Design. Berkeley, CA 2010. Ebd. S. 33. Chris Crawford in Richard Rouse (Anm. 84), S. 271; Crawford sieht darin übrigens ein Hauptproblem der ganzen Branche, die mit der Konzentration auf ›Spaß‹ ein zu enges Konzept für die Gestaltung von Computerspielen hat. Warren Spector in Marc Saltzman (Anm. 81), S. 65.
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genannt werden, sollen hier noch aufgeführt werden: Immersion und Flow. Der Begriff der Immersion, der aus der Beschreibung virtueller Realitäten stammt, bezeichnet einen Bewusstseinszustand, in dem eine Person sich intensiv als Teil der virtuellen Realität wahrnimmt, während die gleichzeitige Wahrnehmung des realen Raums und der realen Zeit deutlich reduziert ist. Der Begriff ist im Kontext der Computerspieldiskussion positiv besetzt: Spieler sollen idealerweise diesen Zustand erreichen und alles, was sie daran hindert, wird als problematisch erachtet.89 So kann etwa der Trend, ein User Interface so zu gestalten, dass es optisch zur Spielwelt passt und so aussieht, wie ein Element der Spielwelt, positiv gewertet werden, da die Immersion hier aufrechterhalten bleibt.90 Der Begriff ›Flow‹ ist damit eng verwandt. Er bezeichnet einen Zustand der Konzentration aller Aufmerksamkeit auf eine Tätigkeit, die als mühelos und dennoch herausfordernd erfahren wird, und stammt aus der Psychologie intrinsischer Motivation.91 Offensichtlich überschneidet sich der Begriff insbesondere mit dem, was Adams taktische Immersion nennt, wird aber insgesamt für den Zustand eines Spielers herangezogen, der durch das Spiel weder unterfordert und gelangweilt noch überfordert und geängstigt, sondern optimal gefordert wird.92 Aspekte des Balancings und anderes werden direkt mit dem Flow in Verbindung gebracht.93 Hier ist leider nicht der Platz, der Frage im Detail und systematisch nachzugehen, inwieweit die oben genannten Aspekte des Game Designs alleine in ihrem Bezug auf Spaß und Unterhaltung bestimmt werden oder auch andere Wertungsdimensionen eine Rolle spielen. Eine weitere, sehr häufige Wertungshandlung in den Büchern über Spieldesign sei aber noch kurz erläutert: die Nennung von Referenzspielen. Das kann wertfrei geschehen, dann ist die Wertung implizit: »In the science-fiction, real-time strategy game Starcraft, some units can operate in different modes.«94 Die Wertung kann sich auf einzelne Aspekte beziehen: »A game element that is particulary well designed is the ›head‹ used in Doom and Quake.«95 Und sie muss natürlich nicht positiv sein: »As an example of what happens when this point [klare, plattformunabhängige Steuerungskonzepte, F.J.] is overlooked, consider Turok: Evolution (Acclaim, 2002).«96 Wertungen können sich auf das Spiel insgesamt bzw. auf spieltragende Teile beziehen, z. B.: »The
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Adams unterscheidet zwischen drei verschiedenen Formen der Immersion: Taktische Immersion (Konzentration auf viele kleine Entscheidungen in kurzer Zeit, um zu überleben), Strategische Immersion (Konzentration auf die Optimierung der Entscheidungen, um zu gewinnen) und Narrative Immersion (Teil der Handlung sein sowie Figuren und Handlung als real akzeptieren); vgl. Ernest Adams (Anm. 85), S. 26. Vgl. auch Laramée (Anm. 83), S. 61, der Immersion allgemeiner als suspension of disbelief auffasst. Vgl. Richard Rouse (Anm. 84), S. 136. Vgl. Mihály Csíkszentmihályi: The Flow Experience and Its Significance for Human Psychology. In: M. C. / Isabella Selega Csíkszentmihályi: Optimal Experience. Psychological Studies of Flow in Consciousness. Cambridge 1988, S. 15–35. Vgl. Chris Bateman / Richard Boon (Anm. 44), S. 81. Vgl. z. B. Richard Rouse (Anm. 84), S. 338. François Dominic Laramée (Anm. 83), S. 86. Richard Rouse (Anm. 84), S. 139. Bateman / Boon (Anm. 44), S. 140.
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gameplay of Half-Life is virtually identical to that of any other first-person shooter, but the story sets it apart.«97 Die ausführlichste und wohl auch intensivste Form der Wertung liegt vor, wenn das ganze Spiel ausführlich analysiert wird – schon an sich ein deutlicher Wertungsakt – und dabei viele Aspekte des Spiels lobend hervorgehoben werden, so z. B. die Spielanalysen in Rouses Band, der den Spielen Centipede, Tetris, Loom, Myth: The Fallen Lords, The Sims und Grand Theft Auto III jeweils rund 10-seitige Analysen widmet.98 Eine indirekte Form der Wertung von Spielen ist die explizite Wertung von deren Spieldesignern: »The honorable Mr. Miyamoto is a living legend in the interactive entertainment industry.«99 Diese Wertungsbeziehung zwischen Autor und Spiel kann auch andersherum verlaufen: »Also at ION Storm is Warren Specter, a veteran game designer who produced a number of award-wining PC classics as Ultima VI«.100 Die Kommunikation von Game Designern ist mit diesem knappen Blick natürlich nicht einmal ansatzweise erfasst. Neben den offensichtlichen Wertungshandlungen, z. B. in Interviews, Reden, Blog-Einträgen und Preisverleihungen, existieren die indirekten, aber wohl mindestens so wichtigen, z. B. – ein besonderes Lob – die Übernahme eines Elements der Spielmechanik vom Werk eines anderen Designers; oder auch die Anspielungen, manchmal auch in Form von Easter Eggs.
4. Bestenlisten und Kanones In vielfältigen Formen und auf ganz unterschiedlichen Grundlagen finden sich in der Kommunikation über Computerspiele Listen. Im einfachsten Fall sind das Verkaufscharts, wie sie sich etwa auf der Website von Amazon finden. Hier gelten wohl die Regeln, die bei dieser Form von Liste in allen Medien gelten: Wenn soviele der Meinung sind, das Spiel (oder Buch oder Film oder die Musik) sei des Kaufens wert, dann muss etwas an dem Spiel sein, dass diese Entscheidung plausibel macht. Bei jeder einzelnen Entscheidung handelt es sich um eine Wertung, nur werden die Wertungsargumente und -maßstäbe in der Summe nicht mehr sichtbar. Popularität ist in der Welt der Unterhaltungsindustrie, aus der Computerspiele stammen, kein Manko, sondern vielmehr eine Empfehlung101 – aber auch nicht mehr. Verkaufszahlen allein machen keinen ›Klassiker‹ des Computerspiels; so befindet sich der Landwirtschafts-Simulator 2011 Anfang Januar 2011 bereits seit über 130 Tagen unter den bestverkauften Spielen von Amazon, ohne dass anzunehmen wäre, er würde den Status eines Klassikers erreichen. Neben den Verkaufscharts finden sich sehr häufig auch Spieler-Charts, also Listen der beliebtesten Spiele. Bei PC Games z. B. werden sie über die Website des Magazins erhoben; dort werden Spieler aufgefordert: »Machen Sie mit und wählen Sie Ihr aktu-
97 98 99 100 101
Ernest Adams (Anm. 85), S. 158. Richard Rouse (Anm. 84). Marc Saltzman (Anm. 81), S. 88 Ebd., S. 64. So haben zahlreiche unter den bestverkauften Spielen so etwas wie einen Klassikerstatus erreicht (vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_best-selling_video_games).
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elles Lieblingsspiel«.102 Es handelt sich hierbei nicht um eine allgemeine ›Bestenliste‹, sondern die Aktualität spielt die entscheidende Rolle. In der Liste der Spiele, die im Februar 2010 in der PC Games publiziert wurde,103 stammen 6 Spiele aus dem Jahr 2009, 2 Spiele aus dem Jahr 2008 und 2 Spiele aus dem Jahr 2005. Bei den letzten beiden Ausreißern handelt es sich um zwei Onlinespiele, um die sich größere und langlebigere soziale Gruppen aufbauen: das MMORPG World of Warcraft und der Ego-Shooter Battlefield 2, der speziell für das Onlinespiel entwickelt wurde. In den deutschsprachigen Spielezeitschriften finden sich außerdem redaktionelle Bestenlisten. In der Zeitschrift PC Games heißt diese Liste »Einkaufsführer«,104 deren Funktion so beschrieben wird: »Wir präsentieren Ihnen an dieser Stelle Titel, die die Redaktion jedem Spieler ans Herz legt – völlig unabhängig von Wertung, Preis oder Alter«.105 Diese Listen sind nach Gattungen sortiert. Ein Blick auf die Publikationsdaten der Spiele macht schnell deutlich, dass das Alter sehr wohl eine Rolle spielt: Jahr 1998 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
Anzahl der Spiele 1 1 1 2 4 7 9 10 22 3
Offensichtlich gibt es eine deutliche Verschiebung zugunsten der aktuellen Spiele, da von den insgesamt 60 Spielen 35 aus den letzten beiden Jahren stammen. Interessanter ist die Bestenliste der Website Metacritic, die die Wertungen anderer professioneller Rezensionsorgane aggregiert. Die Website erlaubt es dem Leser, sich alle Spiele auflisten zu lassen, auch in der Reihenfolge ihrer Gesamtwertung.106 Überblickt man die sechzehn Jahren des Berichtzeitraums – die ersten Wertungen betreffen Spiele aus dem Jahr 1995 –, dann sieht man schnell, dass unter den 30 bestgewerteten Spiele zahlreiche ältere Spiele sind:107 elf Spiele aus den Jahren 1995–2002 gegen 19 Spiele aus den Jahren 2003–2010.
102 103 104 105 106 107
http://www.pcgames.de/PC-Games-Brands–19921/Specials/PC-Games-Umfrage-Welches-PCSpiel-ist-das-beliebteste-im-Maerz–703340/. Tatsächlich erscheint das Heft bereits am 24. Januar, Redaktionsschluss ist also spätestens Anfang des Jahres. PC Games, S. 104. Ebd. http://www.metacritic.com/browse/games/release-date/available/pc/metascore?view=detailed. (Jahr – Anzahl der Spiele unter den ersten Dreißig) 1995 – 1, 1996 – 3, 1997 – 0, 1998 – 2, 1999 – 2, 2000 – 2, 2001 – 0, 2002 – 3, 2003 – 2, 2004 – 4, 2005 – 2, 2006 – 3, 2007 – 4, 2008 – 0, 2009 – 0, 2010 – 2.
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Einige der hier aufgelisteten Namen finden sich auch in den ›Klassiker‹-Artikeln in Spielezeitschriften und -websites bzw. in den Handbüchern der Game Designer oder in den zugehörigen Diskussionen. Die Frage nach den besten oder wichtigsten Spielen überhaupt, also die Frage nach dem Kanon der Computerspiele oder wenigstens der PCSpiele wird ausgesprochen häufig und fast immer kontrovers diskutiert. Es lohnt sich daher, abschließend einen Blick auf die Kriterien bei der Erstellung der Listen zu werfen. Die Zeitschrift Gamepro etwa begründet ihre Entscheidungen und expliziert auch die zugrundeliegenden Wertungsaspekte: * Have a lasting influence that’s still observed in modern gaming. [...] * Serve as a focusing lens, not just an empty industry »first.« Okay, so Quake was the first 3D shooter. So what? Other, earlier shooters had far more gameplay influence – id’s own trendsetters Doom and Wolfenstein, for instance. [...] * Impact the industry in a way beyond mere sales. Innovation trumps sales every time – it’s all about influence. For one reason or another, the games on this list changed the way things were done. Sometimes, sadly, these changes are for the worse.108
Stets geht es um die Innovation, die das Spiel leistet, die im ersten Punkt zusätzlich über die Reichweite ihrer Wirkung – bis in die Gegenwart – bestimmt wird; im zweiten Punkt werden technische Innovation und spielprägende Implementierung unterschieden und im dritten geht es um die wohl heikelste Unterscheidung, der zwischen Popularität und Innovation. Dieser Fokus auf die Innovation bestimmt auch die Argumente. In der Begründung für die etwas überraschende Wahl Halo werden etwa einige kleine, aber wirkungsmächtige Innovationen hervorgehoben: Das Spiel führte als erster Ego-Shooter die zügige Selbstheilung des Spieler ein, sobald dieser nicht mehr unter Beschuss war. Ein Spielelement, dass heute fast alle Actionspiele übernommen haben und das den Gebrauch von Paketen zur Heilung, die im Spiel gefunden werden mussten, weitgehend obsolet gemacht hat. Auch die Einschränkung des Spielers auf zwei Waffen aus einem umfangreicheren Arsenal hat Schule gemacht; »a design choice that highlighted strategy and realism«.109 Die in den Begründungen hervorgehobenen Innovationen sind aber nicht nur Erneuerungen des Gameplays, sondern können alle Aspekte des Spiels betreffen; so heißt es etwa zu Nintendogs: »Nintendogs clearly represents a turning point for modern video games based purely on its accessibility. Based on the foundation of digital pets like Tamagotchi, Nintendogs introduced millions of non-gamers to video games.«110 Entsprechend fällt auch die Begründung für den ersten Platz aus, der an Grand Theft Auto III geht: The open-ended sandbox design of GTA III was a masterstroke, allowing the player an unprecedented degree of freedom to play as they choose. [...] Suddenly, level-based gameplay – an
108
109 110
Boba Fatt and the Gamepros: The 52 Most Important Video Games of all Times. 24. 4. 2007. http://www.gamepro.com/article/features/110028/the–52-most-important-video-games-of-alltime/ Ebd. Ebd.
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unspoken contract between gamer and game designer for more than 20 years – was laughably antiquated. [...] Simply put, GTAIII redefined how games are played [...].111
Nur wenige der gesichteten Listen sind so konsequent um ein Set verwandter Kriterien gebaut wie diese. So überzeugend das Ergebnis in gewisser Weise auch ist, so gibt es dennoch eine Reihe von Problemen: Die Genrebeschreibung ist im Fall der Ego-Shooter relativ detailliert und enthält mit Wolfenstein 3D und Doom sogar eng verwandte Titel, während das Genre Adventure, das vor allem mit dem untypischen Myst vertreten ist, mit seinen zahlreichen kleineren Innovationen kaum auftaucht. Vor allem aber bleiben auf diese Weise gerade die Spiele unberücksichtigt, die nicht innovativ sind, sondern hervorragende Implementierungen vorhandener Spielprinzipien. Die rund 80 Titel auf der Liste der Greatest Games of All Time der Website Gamespot erfasst Titel von allen Plattformen und – mit dem frühesten Titel aus dem Jahre 1979 – aus über 30 Jahren Computerspielgeschichte. Welchen Kriterien ein Spiel genügen muss, um in die Liste aufgenommen zu werden, bleibt vage: »We hold them in equally high regard – they’re the absolute best of the best, each one a genuine classic that can still be appreciated today or whenever.«112 Diese deutlich größere Subjektivität erlaubt es den Machern, auch Spiele aufzuführen, die ohne Anspruch auf Innovation als besonders gelungen gelten können und entsprechend häufig auch in vergleichbaren Listen genannt werden, z. B. die beiden Adventure-Spiele Grim Fandango und Day of the Tentacle, die vielen als Klassiker gelten.113 Die Gamespot-Autoren benennen auch ein deutliches Problem solcher Listen: As time has gone by, games have changed dramatically in every way – games from the 1980s aren’t directly comparable to more-modern games, for example. Nevertheless, we can think of numerous remarkable games from every era of this still-young industry.114
Die Spielprinzipien der alten Spiele sind ja zumeist nicht freie Design-Entscheidungen, sondern stets Kompromisse zwischen dem Gewünschten und dem technisch Machbaren. Das aber ändert sich ständig und führt zu immer größeren Freiheitsgraden in den Gestaltungsmöglichkeiten, wodurch ältere Designentscheidungen zum Teil wenigstens obsolet werden. Bestenlisten sind keineswegs als Kanones zu verstehen; sie tragen allerdings als Wertungshandlungen zur Formierung eines Kanons bei. Die Gestaltung der Listen in numerischer Folge mit der impliziten Suggestion, dass untere Plätze weniger wichtig sind als die oberen, kann man als typisches Phänomen der Populärkultur deuten, in dem die Diskussion um den Kanon eben in dieser Form geschieht.115
111 112 113 114 115
Ebd. http://www.gamespot.com/gamespot/features/all/greatestgames/ Vgl. z. B. PC Gamers Best 100. 13.8.2007. http://www.computerandvideogames.com/article.php?id=169961&site=pcg http://www.gamespot.com/gamespot/features/all/greatestgames/ Die mangelnde Vergleichbarkeit der Spiele aus den verschiedenen Genres, wodurch das ganze Ranking fragwürdig wird, wird teilweise auch von den Beteiligten reflektiert: »I wouldn’t really
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Es stellt sich abschließend also die Frage, ob es überhaupt so etwas wie einen Kanon der Computerspiele gibt. Zahlreiche Gründe sprechen dagegen: Die Fragmentierung des Feldes durch ganz unterschiedliche Techniken (Konsolen, PC usw.) sowie durch die Genrezugehörigkeit der Spiele. Da die Genres sich an unterschiedliche Spielertypen wenden, gibt es kaum jemanden außer den professionellen Spieleforschern, die über alle Gattungen gleich gut informiert sind. Hinzukommt der Umstand, dass es einen Bias zugunsten der neueren Spiele gibt. Das betrifft zum einen die technische Zugänglichkeit: Die meisten Spiele vor 1980 sind heute nicht mehr spielbar, wenn auch Emulatoren hier inzwischen vieles wieder zugänglich machen. Dazu kommt zum anderen, dass ein älteres Spiel zwar das erste sein mag, das eine innovative Spielmechanik einsetzt – und somit für das historische Gattungsverständnis zentral ist –, dass aber, wie gesagt, bislang die meisten Spiele Kompromisse schließen mussten zwischen ihrem Anspruch, eine virtuelle Welt zu simulieren, und den technischen Möglichkeiten des PCs bzw. der Konsolen. Da die Leistungsfähigkeit der Prozessoren, der Grafikkarten usw. immer weiter zunimmt, gestalten sich diese Kompromisse allerdings immer anders. Die Gewöhnung an hochauflösende Grafik, Surroundsound, komplexe offene Welten, in denen der Spieler frei agieren kann, u. a.m. lässt die Einschränkungen früherer Kompromisse deutlich spüren. Vergleichbare Asymmetrien gibt es auch in anderen technikbasierten Medien wie z. B. dem Film (Stummfilm in Schwarz-Weiß vs. hochauflösenden Farbfilm in 3D). Da die technische Entwicklung bei Computerspielen sehr viel umfassender und ein Ende auch gar nicht abzusehen ist, lässt sich über deren Auswirkung auf die Kanonbildung nichts Abschließendes sagen. Die vielen Teilkanones für verschiedene Plattformen und Genres bilden einerseits nur theoretisch eine Einheit, und wenn, dann aus der Perspektive der Geschichte der Spielmechaniken, wie sie sich etwa Entwicklern und professionellen Beobachtern darstellt. Aber das ist – selbst für professionelle Beteiligte – kein Leserkanon. Andererseits gibt es in all den Listen doch deutliche Überschneidungen. Einige Spiele tauchen, ganz unabhängig von den Genrevorlieben, immer wieder auf.116 Es gibt also, so könnte man sagen, einen Kanon, aber kaum einer hat ihn auch nur annähernd ganz gelesen. In der Kommunikation über Computerspiele wird man nur ernst genommen, wenn man vieles davon kennt, aber die technisch bedingte Segmentierung des Feldes hat – zumindest heute noch – auch eine entsprechende Zersplitterung des Kanons zur Folge.
116
mix the genres together at all and would rather make a top 20 say, in 5 genres.« Kommentar von mikeyS unter http://www.crunchgear.com/2010/05/14/pc-gamers-best-pc-games-of-all-time-list-is-the-worstthing-youll-read-possibly-ever/ Das macht auch dieser Überblick über die Top 10 von 43 solcher Best of-Listen deutlich: http:// www.filibustercartoons.com/games.htm.
Register1
Achmatova, Anna 52 Acker, Kathy 317 Adams, Ernest 339 Adorno, Theodor W. 15, 126, 135, 138 Aichinger, Ilse 172 Airen 310, 317 Alsmann, Götz 266 Amalrik, Andrej 49 Andersch, Alfred 132, 139 Anderson, Chris 228 Andres, Stefan 124, 125, 128, 129, 131, 134, 136 Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach 72 Annenskij, Innokentij 41 Arden, Paul 317 Aristoteles 204 Arnold, Heinz Ludwig 182, 195, 232, 233 Artaud, Antonin 184, 185 Aslan, Raoul 159 Assmann, Aleida 3, 67–69, 152 Assmann, David-Christopher 14 Assmann, Jan 3, 152, 305 Astaf’ev, Viktor Petroviþ 49 Astel, Arnfrid 135 Bachmann, Ingeborg 172 Bakunin, Michail Aleksandroviþ 142 Balser, Ewald 159 Bamm, Peter 125, 137 Barth, Emil 125 Barthes, Roland 183 Bateman, Chris 332, 337 Baumann, Hans 138 Baumgarten, Alexander 26 Becher, Johannes R. 114, 131 Beilein, Matthias 182 Benjamin, Walter 114, 119, 287 Belyj, Andrej 41
1
Belzner, Emil 124 Bergengruen, Werner 124, 128, 131, 134, 137, 138 Berger, Günther 3 Berkenheger, Susanne 314 Berlemann, Dominic 6 Bernhard, Thomas 160, 164, 170, 172, 176, 197, 254 Berthold, Christian 25 Blanchot, Maurice 317 Blixen, Tanja 141 Blöcker, Günter 288 Blok, Aleksandr 48 Bloom, Harold 42, 45 Blumenberg, Hans 107 Böll, Heinrich 203 Bogdal, Klaus-Michael 306 Bokelberg, Nilz 314 Bolz, Norbert 286 Bonsels, Waldemar 204 Boon, Richard 332, 337 Borchers, Imke 10 Borchert, Wolfgang 133, 201 Borev, Jurij 41 Bosk, Charles L. 95 Bourdieu, Pierre 6, 44, 45, 84, 86, 94, 95, 105, 165, 167, 168, 204, 207, 211, 218, 220, 222, 283, 287, 306 Boveri, Margret 117, 119 Brecht, Bertolt 14, 46, 131, 133, 201, 280 Bredel, Willi 131 Brinker-Gabler, Gisela 161, 174, 175 Britting, Georg 124, 125, 128 Broch, Hermann 133 Bröckling, Ulrich 291 Brodskij, Iosif 41, 43 Bronnen, Arnolt 14, 114 Brunemaier, Bernd 26 Brunngraber, Rudolf 124, 133, 134
Das Register hat Sarah Stellhorn angefertigt. Die Herausgeber danken ihr herzlich dafür.
346 Bürger, Peter 180 Bulgakov, Michail Afanassjewitsch 52 Burckhardt, Jacob 73 Busch, Wilhelm 204, 250 Callas, Maria 265 Camilleri, Andrea 223 Carossa, Hans 124, 130, 132 Charms, Daniil 41 ýechov, Anton 51 Christiansen, Sabine 247 Cline, Craig 308 Colmeiro, José F. 210 Cottam, John 219 Crauss 309 Crespo, Antonio 219 Creuzer, Friedrich 20 Cvetaeva, Marina 41, 52 Dallontano, E.R. 89 Damrosch, David 174, 175 Darwin, Charles 142 Degens, Marc 317 Denk, Friedrich 128 Deschner, Karlheinz Diederichsen, Diedrich 289, 290 Dörner, Andreas 220 Dor, Milo 172 Dougherty, Dale 280, 308 Draesner, Ulrike 192, 309 Eagleton, Terry 45 Ehrensperger, Serge 232 Erthal, Friedrich Karl Joseph von 72 Eibl, Karl 131 Eich, Günter 135, 139, 140 Eichborn, Vito von 235, 267 Ellmann, Richard 179 Elmes, Wolfgang 118 Engels, Friedrich 44 Enzensberger, Hans Magnus 280 Ernst, Thomas 15 Esenin, Sergej 48 Esposito, Elena 68 Fadeev, Aleksandr 50 Fauser, Jörg 286 Feldbusch, Verona 269 Fernau, Joachim 138 Fielding, Helen 270, 272, 273 Flake, Otto 125 Flaubert, Gustave 133
Register Földényi, Lászlȩ 242, 243 Foster Wallace, David 317 Foucault, Michel 183, 290, 313 Franck, Georg 94, 240 Franco, Francisco 209 Franzbach, Martin 217 Franzen, Jonathan 188, 189 Freiligrath, Ferdinand 202 Friebe, Holm 315 Fried, Amelie 278 Fröhlich, Susanne 14, 261, 262, 264–279 Fröschle, Ulrich 114 Fuchs, Werner 284 Gaiser, Gerd 138 Gaiser, Gottlieb 152, 180 Gehlen, Arnold 179, 180, 189 Gellert, Christian Fürchtegott 97 Gendolla, Peter 308, 314 Genette, Gérard 239, 242, 243 George, Stefan 97 Gerstner, Alexandra 317 Gippius, Zinaida 52 Gleim, Ludwig 72 Goebbels, Joseph 159 Göbel, Wolfram 10 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 21, 27, 29, 31, 32, 39, 72, 73, 109, 159, 200–203, 249, 305, 309, 312, 313 Goetz, Rainald 315, 317 Gorak, Jan 3 Gorbaƙev, Mihail Sergeeviþ 42, 47 Gor’kij, Maxim 44, 46, 51, 52 Graf, Oskar Maria 232, 233 Grass, Günter 139, 270, 318, 324 Grigely, Joseph 145 Grimm, Hans 124 Grimm, Herman 20 Grillparzer, Franz 159, 160, 173 Grillparzer, Marion 274 Grübel, Rainer 5, 6 Guillory, John 3, 45 Gumbrecht, Hans Ulrich 146 Gurk, Paul 124, 133, 134 Gutenberg, Johannes 226, 227 Habermas, Jürgen 95 Hacker, Katharina 281, 282, 285 Hamsun, Knut 133 Handke, Peter 270, 299 Hartlaub, Felix 124, 133 Hauptmann, Gaby 261, 273, 276, 278
347
Register Hauptmann, Gerhart 124 Haushofer, Albrecht 125 Hegemann, Helene 15, 310, 316–319 Heibach, Christiane 307 Heidegger, Martin 115 Heidenreich, Elke 98, 247, 278 Heine, Heinrich 73, 201, 202 Heinse, Wilhelm 63, 71, 73, 74 Heiz, André V. 188 Heller, Eva 261, 273, 276 Helwig, Werner 124 Hemken, Heiner 230 Hensel, Jana 315, 316 Herbst, Alban Nicolai 312 Herding, Gertrud 140, 141 Herrmann, Eva 269 Herrmann, Leonhard 6 Herz, Marcus 79 Hesiod 204 Hesse, Hermann 128, 137 Heumann, Anja 10 Heydebrand, Renate von 59, 60, 62, 69, 145, 195, 200, 211, 215, 222 Hilgartner, Stephen 95 Hitler, Adolf 129, 131, 142 Hocke, René 125 Hölderlin, Friedrich 118, 156 Höllerer, Florian 179, 181, 186, 188, 190–192 Hölter, Achim 66, 164–166 Hörbiger, Attila 159 Hoffmann-Zampis, Wolfgang 128 Holl, Mirjam Kerstin 68, 69 Horaz 204 Hornung, Max 254 Houellebecq, Michel 133 Huch, Ricarda 124, 128 Hugo, Victor 196 Humboldt, Wilhelm von 72
Joyce, James 82 Jünger, Ernst 7, 107–120, 128, 130, 133, 138 Jünger, Friedrich Georg 124, 125
Iser, Wolfgang 65 Ivanov, Vjaceslav 41
Lämmert, Eberhard 130 Lampe, Friedo 125 Lange, Horst 124, 125, 133 Langewiesche, Marianne 124, 125 Langgässer, Elisabeth 124 Langier, Pascal 317 Laube, Heinrich 72 Le Fort, Gertrud von 124 Ledig, Gert 77, 88–92 Lehmann, Wilhelm 124–126 Leibniz, Gottfried Wilhelm 26 Leip, Hans 124 Lenin, Vladimir Il’iþ 51, 52, 115
Jacobson, Joseph 227 Jacques, Norbert 124 Jahnn, Hans Henny 124, 125 Jampol’skij, Michail 53 Janeva, Jana 266 Jannidis, Fotis 15, 313 Jauß, Hans Robert 65–67, 70 Jelinek, Elfriede 160, 170, 172 Jens, Walter 138, 139 Johannsen, Anja 9
Kästner, Erich 14, 125, 132, 136, 203 Kafka, Franz 25, 129, 138, 156 Kammer, Stefan 146 Kampmann, Elisabeth 6, 7 Kant, Immanuel 27, 31, 32, 35, 287 Kasack, Hermann 124, 125, 134, 136, 138, 139 Kast, Bas 272 KaszyĔski, Stefan 173 Kehlmann, Daniel 188, 189 Kerner, Johannes B. 269 Kerschbaumer, Marie Thérèse 172 Kessel, Martin 125 Kiesel, Otto Erich 88 Kilb, Andreas 318 King, John 111 King, Stephen 229 Kirchhoff, Bodo 14, 239, 240, 244–252, 258 Klee, Ernst 132 Klein, Armin 190 Kleis, Constanze 268 Klepper, Jochen 124, 125 Kluge, Kurt 124, 136 Kraus, Karl 161 Kreuder, Ernst 136 Kristeva, Julia 183 Koeppen, Wolfgang 132, 139 Körner, Christian Gottfried 72 Korte, Hermann 94 Kreisky, Bruno 176 Krischanitz, Adolf 162 Küpper, Joachim 66 Kürthy, Ildikȩ von 261, 268–270, 273, 276, 278 Kumpfmüller, Michael 314 Kuttner, Sarah 251
348 Lentz, Michael 309 Lind, Hera 261, 263, 273, 275, 276, 278 Littell, Jonathan 133 Lüsebrink, Hans-Jürgen 3 Luhmann, Niklas 6, 63, 64, 68, 69, 75 Löffler, Sigrid 188 Löhr, Eckart 316 Loerke, Oskar 124, 125 Loewy, Ernst 126 Lotman, Jurij 53 Lottel, Axel 318 Lovenberg, Felicitas von 251 Lowry, Malcolm 317 Luxemburg, Rosa 309 Lyotard, Jean-François 42 Maas, Angela 266 Macho, Thomas 174 Madonna 229 Maier, Andreas 14, 239, 240, 244, 252–258 Majakovskij, Vladimir Vladimiroviþ 51 Mandel’štam, Osip 41 Mangold, Ijoma 278, 318 Mann, Klaus 114 Mann, Thomas 82, 97, 117, 130, 138, 142, 203 Marinetti, Filippo Tommaso 133 Martial 202 Martus, Steffen 14 Marx, Karl 44, 142 May, Karl 7, 93, 98–102, 104, 105 Meinecke, Thomas 314 Meister, Wilhelm 285 Menasse, Robert 163, 169 Mendelssohn, Peter de 117 Mentzer, Alf 132 Merian, Svende 261 Merkel, Angela 202 Messner, Reinhold 272 Mitgutsch, Anna 172 Miller, Geoffrey 284 Miyamoto, Shigeru 340 Mörike, Eduard 198 Mohler, Armin 118 Molzahn, Ilse 124 Morak, Franz 170 Morgenstern, Christian 201, 202 Moritz, Karl Philipp 30, 32, 35 Moritz, Rainer 182, 186–188, 191 Moser, Doris 9 Moy, Johannes 124 Muckermann, Friedrich 115 Müller, Lothar 89
Register Nabokov, Vladimir 41, 48 Naidoo, Xavier 229 Napoleon 110 Naumann, Michael 65 Nebel, Gerhard 117, 125 Nenning, Günther 164, 170–172 Neubauer, Christine 277 Neuner, Florian 309 Nicolai, Friedrich 82 Niebelschütz, Wolf von 136 Niekisch, Ernst 115 Niemann, Robert 239, 240, 259 Niemz, Markof H. 234 Nietzsche, Friedrich 73, 142 Nipperdey, Thomas 11 Nossack, Hans Erich 125, 133 Novalis 25, 27, 202 Nozick, Robert 157 Nutt-Kofoth, Rüdiger 146, 147 O’Reilly, Tim 280, 308 Osthoff, Susanne 203 Ostrovskij, Aleksandr Nikolaeviþ 50 Ottokar von Horneck 159 Passig, Kathrin 293, 295, 315, 316 Pasternak, Boris 41, 52 Peer, Willie van 4 Peitsch, Helmut 128 Penzoldt, Ernst 125 Pervyj, Petr 51 Peter, Birgit 191 Pichler, Cathrin 161, 162 Pirmasens, Deef 310, 316 Platon 20 Platonov, Andrej Platonoviþ 52 Politycki, Matthias 310 Porombka, Stephan 15, 181, 277, 311 Plumpe, Gerhard 6 Pocci, Franz von 232, 233 Poltermann, Andreas 182 Prigov, Dmitrij 41 Proust, Marcel 197 Queri, Georg 232 Raschke, Martin 124 Rasputin, Valentin 50, 53 Rathkolb, Oliver 160 Rávic Strubel, Antje 242, 243 Rawls, John 34 Reck-Malleczewen, Friedrich 124
349
Register Reger, Erik 125 Reich-Ranicki, Marcel 125, 138, 245 Reichert, Ramȩn 311, 313 Reinl, Harald 100, 104 Remarque, Erich Maria 133 Riedel, Friedrich Justus 79 Rilke, Rainer Maria 232 Roche, Charlotte 247, 251, 252, 278 Röcken, Per 9 Rockenberger, Annika 9 Rosenberg, Alfred 143 Roth, Eugen 136 Roth, Gerhard 169, 172 Roth, Joseph 141 Rouse, Richard 340 Rozanov, Vasilij 41 Ruthner, Clemens 167 Rutschky, Michael 294 Saile, Olaf 124 Šalamov, Varlam Tichonoviþ 52 Salomon, Ernst von 124 Sarkowicz, Hans 132 Schäfer, Jörgen 308, 311 Schaper, Edzard 124, 125 Scharang, Michael 169, 172 Scheck, Denis 264, 265 Scheidt, Jürgen vom 230, 235 Schiller, Friedrich 27, 28, 32, 35, 72, 73, 79, 159, 200–202, 309 Schindel, Robert 172 Schirrmacher, Frank 117 Schlaffer, Heinz 184 Schlebrügge, Johannes 161 Schlegel, Friedrich 80, 81, 89 Schüssel, Wolfgang 170 Schmidt, Arno 99 Schmidt, Christian Y. 315 Schnabel, Ernst 124, 125, 133 Schneider, Jost 12, 277 Schneider, Reinhold 124, 130, 131, 134 Schnell, Ralf 130 Schöneberger, Barbara 266 Schöttker, Detlev 183 Scholdt, Günter 9 Scholten, Rudolf 162, 163 Scholtis, August 125 Schonauer, Franz 126 Schopenhauer, Arthur 78, 80 Schröder, Rudolf Alexander 125 Schüler, Gerhard 88 Schutting, Julian 172
Schwarzer, Alice 269 Schwarzschild, Leonard 114 Schwerbrock, Wolfgang 88 Sealsfield, Charles 232 Segeberg, Harro 7 Segers, Rien T. 145 Seghers, Anna 133 Shakespeare, William 196, 202 Sieburg, Friedrich 138 Sill, Oliver 275 Simanowski, Roberto 308 Simmel, Georg 280 Smith, Barbara Herrnstein 3 Soboczynski, Adam 279, 283 Šolochov, Michail Aleksandroviþ 49 Solženicyn, Aleksandr Isaeviþ 48, 49, 52 Sommer, Theo 202 Specht, Benjamin 5 Spengler, Oswald 110 Spiegel, Hubert 118 Spinnen, Burkhard 309 Splittgerber, Kai 181 Städel, Rosine 19 Stalin, Iosif 44, 51, 129 Stanišiü, Saša 314 Stendhal 73 Stoll, Beatrice 186–188, 190, 191 Strauß, Botho 170 Stuckrad-Barre, Benjamin von 12 Stühlen, Peter 124 Sucharowski, Wolfgang 78, 80 Šukšin, Vasilij Makaroviþ 50 Thadeusz, Jörg 266 Thiess, Frank 125, 138 Titzmann, Michael 75 Török, Imre 229 Tolstoj, Aleksej 51 Trifonov, Juri Valentinovich 50, 52 Trockij, Leo 114 Trojanow, Ilija 192 Turrini, Peter 160, 170, 172 Tufts, Gayle 266 Tvardovskij, Aleksandr 49 Twain, Mark 204 Tworek, Elisabeth 232 Uhland, Ludwig 198 Ulitz, Arnold 124 Unseld, Siegfried 263 Vandenrath, Sonja 187, 189
350 Valère, Valére 317 Vázquez Montalbán, Manuel 10, 209–211, 215–223 Vegesack, Siegfried von 124, 125, 140–143 Vietta, Egon 124 Vogt, Ludgera 220 Vring, Georg von der 125, 128 Vulpius, Christiane 203 Wacht, Walter 314 Walser, Martin 244, 245, 247, 249, 263, 270 Wapnewski, Peter 119, 138 Weber, Jonas 317 Wegmann, Thomas 15, 294, 296, 299, 311 Weidermann, Volker 318 Weimar, Klaus 72 Weinrich, Harald 65 Weisenborn, Günther 124, 125 Werber, Niels 6, 77, 78 Weyrauch, Wolfgang 117, 125, 135, 139 Wiechert, Ernst 124 Wieland, Christoph Martin 73
Register Willemer, Marianne von 19, 20 Willmann, Wolfang 10 Winkler, Eugen Gottlob 124 Winko, Simone 61, 77, 93, 146, 154, 156, 185, 195, 200, 211, 215, 218, 222, 308, 321 Wischenbart, Rüdiger 162–164, 171 Wittmann, Reinhard 190 Woesler, Winfried 146 Wodak, Ruth 172 Wolf, Christa 318 Wolff, Kurt 188 Worthmann, Friederike 60, 180 Wortmann, Sönke 263 Zabolockij, Nikolaj 49, 52 Zamjatin, Evgenij Ivanoviþ 52 Zeh, Juli 275, 276 Zellweger, Renée 272, 274 Zimmering, Max 88 Zola, Émile 202 Zwicky, Dieter 188, 189