Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung 9783666535963, 9783525535967, 9783647535968


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Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung
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Peter Stuhlmacher

Biblische Theologie des Neuen Testaments Band II

Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung Der Kanon und seine Auslegung Zweite, durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht III

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53596-7 ISBN 978-3-647-53596-8 (E-Book) © 2012, 1999 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI – BuchBücher.de, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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H artm u t G e s e zum 70. Geburtstag am 4. April 1999 Sir 17,8

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Die Verkündigung in der Zeit nach Paulus . . . . . . . . . . .

1 4 27 42 54 59 70 84

§ 24 Die Christusverkündigung in der Paulusschule . . . . . . . . § 25 Das Verständnis von Kirche in der Paulusschule . . . . . . . § 26 Paraklese und Eschatologie in der Paulusschule . . . . . . . . Exkurs: Eschatologie und Apostolat im 2. Thessalonicherbrief § 27 Der Jakobusbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 28 Theologie und Verkündigung des 1. Petrusbriefes . . . . . . . § 29 Theologie und Verkündigung des Hebräerbriefes . . . . . . . § 30 Apostolische Glaubenslehre und kirchliche Schriftauslegung: Der Kampf gegen die Häresie im Judasbrief und 2. Petrusbrief

5. Die Verkündigung der synoptischen Evangelien

. . . . .

115 117 130 150 174

6. Die Verkündigung des Johannes und seiner Schule . . . . . .

199 200 216 249 265 280

§ § § §

§ § § § §

31 32 33 34

35 36 37 38 39

Zur Entstehung der synoptischen Evangelien . . Das Markusevangelium . . . . . . . . . . . . Das Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte

Die Tradition der johanneischen Schule . . . . Das Christuszeugnis der Johannesschriften . . . Das Leben im Glauben und in der Liebe . . . . Die johanneische Sicht der Kirche . . . . . . . Die Bedeutung der johanneischen Schultradition

. . . . . . . . . .

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II. Das Problem des Kanons und der Mitte der Schrift . . . . . . . § 41 Die Mitte der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 42 Der Kanon und seine Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . § 43 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287 288 304 322 336

Stellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

350

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

370

§ 40 Die Ausbildung des zweiteiligen kirchlichen Kanons . . . . .

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Vorwort Seit Erscheinen des ersten Bandes ist leider mehr Zeit ins Land gegangen als ich ursprünglich dachte. Grund dafür waren nicht nur die unabweisbaren Tübinger Fakultäts-, Lehr- und Prüfungsverpflichtungen, sondern auch die ganz undurchsichtige Forschungslage zu den neutestamentlichen Büchern und Problemen, die in diesem zweiten Band zu behandeln waren. Sie hat mich immer wieder zu Überarbeitungen und Neuansätzen genötigt. Nun aber ist es endlich so weit, daß ich ein einigermaßen stimmiges Bild von Entstehung und Bedeutung der gesamten neutestamentlichen Traditionbildung vorlegen kann. Eines Tages ergibt sich vielleicht die Möglichkeit, die beiden im Verlauf von acht Jahren entstandenen Bände genau aufeinander abzustimmen und dabei Einsichten (z. B. über die Zielsetzung und den Verlauf der urchristlichen Völkermission) auszuwerten, die sich mir erst in den letzten Jahren eröffnet haben (vgl. dazu meinen Aufsatz: Zur missionsgeschichtlichen Bedeutung von Mt 28,16–20, EvTh 59, 1999, 108–130). Sie zeigen aber auch schon in ihrer vorliegenden Fassung, daß es keineswegs aussichtslos ist, eine zum Alten Testament hin offene Biblische Theologie des Neuen Testaments auszuarbeiten. Als ich mich in den siebziger Jahren an die biblisch-theologisch Arbeit machte, haben mir Neutestamentler immer wieder vorgehalten, der ganze Ansatz sei verfehlt und werde nur in fragwürdigen Programmentwürfen versanden; einige haben sogar gemeint, biblisch-theologische Arbeit bestehe bloß in der willkürlichen Kombination alt- und neutestamentlicher Schriftstellen. Außerdem war die Sorge groß, das ‚neutestamentliche Proprium‘ werde bei biblisch-theologischer Arbeit verdunkelt. Alle diese Befürchtungen haben sich mir nicht bestätigt. Vielmehr hat sich (mir) ein Bild von Werdegang und missionarischer Intention der neutestamentlichen Traditionsbildung(en) ergeben, das sich erstaunlich gut mit den anderweitig vorgegebenen Daten der Geschichte des alt- und neutestamentlichen Kanons verbinden und diese Geschichte selbst in neuem Licht erscheinen läßt. Die neutestamentliche Forschung hat sich seit mehr als einem Jahrhundert an eine Reihe von Vorurteilen und Verfahrensweisen gewöhnt, die den Zugang zu diesen Daten und den Texten selbst eher verstellen als eröffnen; in der deutschen Forschung halten sich diese Einstellungen besonders zäh, weil sie immer wieder zu theologischen Grundentscheidungen stilisiert worden sind. Sobald man aber wagt, einige dieser Schemata – allen voran die vom Alten Testament völlig getrennte Erforschung des Neuen Testaments – zu durchbrechen, läßt sich (wieder) erkennen, daß die zweiteilige IX

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christliche Bibel aus einem vielschichtigen kanonischen Prozeß erwachsen ist, dem nicht nur die hebräische Bibel, sondern auch die Septuaginta, alle neutestamentlichen Bücher und schließlich die zweiteilige Heilige Schrift der (Alten) Kirche entstammen. Biblisch-theologische Forschung lehrt also, die (traditions-)geschichtlichen Grundlagen des Glaubens an die Offenbarung des einen Gottes in seinem einen Sohn, dem Christus Jesus, zu erkennen und die Entstehung der aus Altem und Neuem Testament bestehenden christlichen Bibel nachzuvollziehen. Sie ist deshalb kein illusionäres und schon gar kein willkürliches, sondern ein der biblischen Tradition entsprechendes und sehr lohnendes Geschäft. Hoffentlich findet es auch über meine Generation hinaus Interesse. Denn vieles von dem, was jetzt (wieder) erkennbar geworden ist, bedarf noch weiterer Klärung, und die notgedrungen experimentellen Entwürfe, die B. Childs, H. Hübner und ich vorgelegt haben, bedürfen der Korrektur. Exegetisch-theologische Arbeit läßt sich nicht im Alleingang betreiben. Nachdem ich den ersten Band Martin Hengel gewidmet habe, brauche ich jetzt nur noch zu sagen, daß ich auch bei der Ausarbeitung des zweiten Bandes dankbar von seinen Forschungen profitiert habe. Mit diesem zweiten Band möchte ich Hartmut Gese zum 70. Geburtstag am 4. April 1999 gratulieren. Seit Beginn meiner Studien über die Gottesgerechtigkeit bei Paulus hat er mich fachkundig beraten, und dank des ihm geschenkten einzigartigen Blicks für biblische Texte und Zusammenhänge hat er mir (und vielen anderen) die Augen für die biblisch-theologische Betrachtung des Neuen Testaments und der Offenbarung Gottes insgesamt geöffnet. Aus Geses Schriften habe ich immer wieder gelernt, und die Seminare, die ich zusammen mit ihm habe halten dürfen, gehören zu den ertragreichsten und beglückendsten Zeiten meiner Tübinger Lehrtätigkeit. Ich bin für die geistige Verbundenheit mit Gese, die nunmehr schon (fast) vier Jahrzehnte dauert, zutiefst dankbar und kann mir die theologische Arbeit an der Evangelischtheologischen Fakultät der Universität Tübingen ohne ihn und seinen Rat gar nicht mehr vorstellen. Über dem Dank an die beiden alten herausragenden Freunde dürfen aber all die anderen nicht vergessen werden, die mir geholfen haben, dieses Buch fertigzustellen. Meine Frau war für mich in den zurückliegenden Jahren weit mehr als nur eine unermüdliche Privatsekretärin. Christian Stettler und seine Frau Hanna haben nicht nur die Hauptlast der Redaktionsarbeit getragen, sondern mit Hilfe ihrer Dissertationen habe ich auch die Traditionen und Briefe der Paulusschule besser verstehen gelernt. Ralf Rohrbach-Koop hat ohne Murren Manuskripte durchgesehen, kopiert und zeitraubende Gänge in die Bibliotheken für mich unternommen. Hans U. Weidemann hat das ganze Manuskript nach den Wünschen des Verlags redigiert und die Register erarbeitet. Der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht hat in altgewohnter Weise für den Druck gesorgt; ich danke den Mitarbeitern und MitarbeiteX

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rinnen für alle Mühe, die sie an das Buch gewandt haben. Schließlich bin ich Monika Herghelegiu und Enno E. Popkes dankbar, daß sie mir das mühsame Geschäft des Korrekturlesens erleichtert haben. Die Literaturangaben sind wie in Bd. 1 exemplarisch gemeint. Die Abkürzungen richten sich in aller Regel nach S.M. Schwertner, Abkürzungsverzeichnis zur TRE (19932), also DH = Enchiridion Symbolorum, ed. H. Denzinger und P. Hünermann; WA = Luther, Martin: Sämtliche Schriften. hg. von J.G. Walch; ZThK = Zeitschrift für Theologie und Kirche, usw. Die Qumrantexte habe ich vor allem nach der Ausgabe von J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer, I–III, München 1995–1996, zitiert. Hinweis zur 2. Auflage: Nachdem der 1. Band dieser Theologie schon in 3. Auflage vorliegt, ist nun auch ein Nachdruck von Band 2 nötig geworden. Für ihn konnte der bestehende Text wenigstens auf eine ganze Reihe von Schreibversehen durchgesehen werden. Ich danke allen, die mir beim Aufspüren der Fehler geholfen haben. Tübingen, im Februar 2012

Peter Stuhlmacher

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4. Die Verkündigung in der Zeit nach Paulus Da wir uns den synoptischen Evangelien, der Apostelgeschichte und den johanneischen Schriften noch gesondert zuwenden werden, ist in den folgenden Paragraphen nur erst die Verkündigung der nachpaulinischen Briefliteratur ins Auge zu fassen. Es handelt sich dabei um Briefe aus der Spätzeit des Apostels und den Jahren nach 62 n. Chr., als der Herrenbruder Jakobus in Jerusalem als angeblicher Gesetzesbrecher gesteinigt worden war und Petrus sowie Paulus (unter Nero?) das Martyrium erlitten hatten. In den spätund deuteropaulinischen sowie den katholischen Briefen spiegeln sich die Probleme und Ansichten der zweiten (und dritten) urchristlichen Generation. Man muß sie kennen, um den Schreiben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. 1. Traditionsgeschichtlich und theologisch gleich beachtlich ist zunächst, daß Paulus schulbildend gewirkt hat wie neben und nach ihm nur noch Johannes: Im Auftrag und Geist des Paulus schrieb eine ganze Schülergeneration. Ihr verdanken wir den Kolosser- und Epheserbrief sowie die Pastoralbriefe (d. h. 1./2. Timotheus- und Titusbrief). Der Epheserbrief und die Pastoralbriefe greifen schon bewußt auf den Römerbrief und andere Paulinen zurück, um die Lehrkontinuität zum Apostel zu bewahren. 2. Ebenso deutlich rückt aber auch der Umstand in den Blick, daß im Jakobus- und Judas- sowie im Hebräerbrief, aber auch in den beiden Petrusbriefen Zeugnisse eines Judenchristentums vorliegen, das die theologische Tradition der Urgemeinde, des Stephanuskreises und der Missionsgemeinde von Antiochien aufgenommen und fortentwickelt hat. Das Christentum ist ohne Zutun des Paulus nach Rom gelangt, und die beiden Petrusbriefe, der 1. Clemensbrief und der Hirt des Hermas dokumentieren, daß die dortige Gemeinde durch die unbekannten Missionare auf Dauer judenchristlich geprägt worden ist. Auch Syrien, Kleinasien und Griechenland waren nicht nur Wirkungsfeld der Paulusschule, sondern auch jenes (hellenistischen) Judenchristentums, dessen Repräsentanten Petrus, Barnabas, Apollos und andere (für uns anonym bleibende) Missionare und Lehrer gewesen sind. Im Neuen Testament sind uns neben dem Corpus Paulinum auch die Überlieferungen des übrigen für die Heidenmission offenen Judenchristentums erhalten geblieben; zu ihnen gehören außer den eben genannten Briefen auch das Matthäusevangelium und das johanneische Schrifttum. Man darf diesen judenchristlichen Schriften nicht einfach deshalb schon mindere theologische Bedeutung zumessen, weil sie andere Per1

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spektiven als Paulus verfolgen und die Tiefe sowie Trennschärfe seiner Lehre nicht erreichen. 3. Die zwei Hauptprobleme, vor die sich sowohl die Schüler des Paulus als auch die judenchristlichen Briefsteller gestellt sahen, waren geschichtlich unabweisbar: Mit dem Fortgang der Zeit mußten die durchweg kleinen christlichen Minderheitengemeinden nicht nur dauerhafte Gemeindestrukturen und feste Maßstäbe für den christlichen Wandel entwickeln, sondern sich auch der Zersetzung ihres Glaubens durch Irrlehrer aus den eigenen Reihen erwehren. 3.1 Im Kampf gegen die aufkommende Häresie haben die Paulusschule und die missionierenden Zeugen des Judenchristentums eine normative Lehrtradition ausgebildet, an der sich messen ließ, woran Christen glauben und woran nicht. 3.1.1 Die sowohl die Briefe der Paulusschule als auch die beiden Petrusbriefe und den Hebräerbrief kennzeichnende Pseudonymität und Anonymität wird in diesem Zusammenhang verständlich. Die Schüler der Apostel schrieben – griechischer und jüdischer Sitte entsprechend – im Namen ihrer Lehrer oder ganz ohne Autorenangabe, weil ihre eigene Individualität angesichts der zu bewahrenden und weiter zu entfaltenden apostolischen Lehre nur von geringer oder gar keiner Bedeutung war. 3.1.2 Am Beispiel der Paulusschule kann man sich das Gesagte verdeutlichen: Paulus selbst hat nicht nur als Verkündiger des Evangeliums, sondern auch als urchristlicher Lehrer gewirkt und über Jahre hinweg in Antiochien, Korinth und Ephesus Gemeindeunterricht gehalten (vgl. Apg 11,26; 18,7–11; 19,8–10). Die Gründung der Schule des Paulus geht also auf den Apostel selbst zurück. Um sein globales Missionsprogramm zu bewältigen, hat er von früh an Männer und Frauen um sich versammelt, die mit ihm und auch statt seiner verkündigt und gelehrt haben. Timotheus (vgl. Apg 16,1–3; 1Thess 3,2; 1Kor 4,17; 16,10–11; Phil 2,19–23), Titus (vgl. Gal 2,1–5; 2Kor 2,13; 7,6–7.13–15; 8,6.16–24) und Silas/Silvanus (vgl. Apg 15,22.27. 32.40; 16,25; 17,14; 18,5; 2Kor 1,19; 1Petr 5,12) ragen unter ihnen besonders hervor, aber auch Priska und Aquila (vgl. Apg 18,2; Röm 16,3) sowie Evodia und Syntyche (vgl. Phil 4,3) haben Paulus geholfen. Die Mitarbeiter(innen) waren im Auftrag des Apostels unterwegs, haben für den Kontakt zwischen ihm und den Gemeinden gesorgt (vgl. 1Thess 3,2), in seinem Namen gelehrt (vgl. 1Kor 4,17; 2Kor 1,19), die Kollekte organisiert (vgl. 2Kor 8) und werden auch als Mitverfasser paulinischer Briefe genannt (vgl. 1Thess 1,1; 2Kor 1,1; Kol 1,1). Die Übernahme von Verkündigungs- und Lehraufgaben war besonders wichtig in Zeiten, in denen Paulus selbst keine Gemeinde- und Missionsreisen unternehmen konnte; dies war vor allem während seiner langen Gefangenschaften in Cäsarea (vgl. Apg 23,31–26,32) und Rom (vgl. Apg 28,16–31) der Fall. Wahrscheinlich ist der Kolosserbrief ein von Timotheus im Auftrag des gefangenen Paulus verfaßtes und von ihm nur ‚gegengezeichnetes‘ Auftragsschreiben (vgl. Kol 4,18 und E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser, 19893, 25 ff.; W.H. Ollrog, Paulus u. seine Mitarbeiter, 1979, 236 ff., J.D.G. Dunn, The Epistles to the Colossians and to Philemon, 1996, 35 ff.). Auch der Epheserbrief setzt eine Gefangenschaft des Apostels

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voraus (vgl. Eph 4,1; 6,20). Man führt ihn m. E. am besten auf ein paulinisches Rundschreiben zurück, das Mitarbeitern des Paulus wie Tychikus (vgl. Eph 6,21) mitgegeben und im ganzen kleinasiatischen Raum in den Gemeindeversammlungen verlesen werden sollte; das Exemplar aus dem Gemeindearchiv von Ephesus ist uns erhalten geblieben (vgl. die Lesarten zu ejn ∆Efevsw/ in Eph 1,1). Nach dem Tode des Apostels ist das Zirkularschreiben grundlegend überarbeitet (vgl. Eph 2,20; 3,5) und zu einer Art von „theologischem Vermächtnis der Paulusschule“ (M. Gese, Das Vermächtnis des Apostels, 1997, 275) ausgestaltet worden. Die drei Pastoralbriefe schließlich scheinen auf Briefe zurückzugehen, die Paulus während seiner Gefangenschaften an Timotheus und Titus geschrieben hat. In ihrer heutigen Form stellen sie Lehrbriefe dar, die (geraume Zeit) nach dem Martyrium des Apostels zu testamentarischen Verfügungen und Kirchenordnungen ausgestaltet worden sind, um einen Damm gegen die in den paulinischen Gemeinden aufkommende Gnosis (vgl. 1Tim 6,20) zu bauen.

3.2 Neben die Nötigung zur Ausgestaltung und Absicherung der Lehre trat die Aufgabe, Wesen, Aufbau und Dienst der christlichen Gemeinden so zu bestimmen, daß sie sich inmitten einer noch ungläubigen Welt auf längere Sicht behaupten konnten. Die Lehre von der Kirche und ihrer Ordnung sowie das Bemühen um die Fortschreibung und Ausgestaltung einer christlichen Gemeindeethik nehmen deshalb in der jetzt zu behandelnden Briefliteratur breiten Raum ein. Die Bewältigung der genannten Aufgaben prägt auch die frühchristlichen Schriften, die zwar z. T. noch gleichzeitig mit den Spätschriften des Neuen Testaments entstanden sind, aber keine Aufnahme in den (neutestamentlichen) Kanon gefunden haben, d. h. vor allem den 1. Clemensbrief, die Didache und die Briefe des Ignatius von Antiochien. Auf sie werden wir gelegentlich verweisen, ohne sie detailliert zu untersuchen.

4. Heinz Schürmann hat in seinem Aufsatz „Frühkatholizismus im NT“ (Cath [M] 51, 1997, 163–168) zur Vorsicht geraten beim Umgang mit dem mehrdeutigen, auf der Suche „nach Entartungserscheinungen in der frühen Entwicklung der ‚Katholischen Kirche‘“ entwickelten Begriff Frühkatholizismus, und er hat hinzugefügt: „Vom Standpunkt der alt- und neutestamentlichen Schriften (wie der altkirchlichen Symbole) aus müßte die ‚Katholizität‘ der (sic!) qehal Jahwe, der ekklésia Theou (der ecclesia catholica) … grundlegend als positives Merkmal gewertet … werden“ (a.a.O., 163). Wir folgen seinem Rat, indem wir bei der Auslegung von Eph, Past und 2Petr den mißverständlichen Begriff meiden. Weder die Urkirche noch auch die Alte Kirche wären ohne die in den Briefen der zweiten und dritten urchristlichen Generation ausgebildeten Traditionen und Positionen überlebensfähig gewesen, und die Schülerbriefe bilden bis heute die Brücke, über die man zu den Traditionen des Anfangs zurückgehen und diese neu auswerten kann. Insgesamt hat die exegetische Erforschung der Deuteropaulinen und der Katholischen Briefe noch immer mit vielen offenen Fragen zu kämpfen. Wir 3

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können darum den Weg zum Ursprungssinn der zur Debatte stehenden Briefe z. T. nur hypothetisch ertasten und müssen in Kauf nehmen, daß noch kein wissenschaftlicher Konsens über die sich dabei ergebenden Resultate erzielt ist.

§ 24 Die Christusverkündigung in der Paulusschule Literatur: C.E. Arnold, Ephesians: Power and Magic, 1989; C. Burger, Schöpfung u. Versöhnung, 1975; R. Deichgräber, Gotteshymnus u. Christushymnus in der frühen Christenheit, 1967, 133 ff.143 ff.; H.J. Gabathuler, Jesus Christus, 1965; H. Gese, Die Weisheit, der Menschensohn u. die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie, in: ders., Atl. Studien, 1991, 218 –248; M. Gese, Das Vermächtnis des Apostels, 1997, 108 ff.; J.G. Gibbs, Creation and Redemption, 1971; J. Gnilka, Christus unser Friede – Ein Friedens-Erlöserlied in Eph 2,14–17, in: Die Zeit Jesu, FS für H. Schlier, hg. von G. Bornkamm u. K. Rahner, 1970, 190–207; M. Hengel, Hymnus u. Christologie, in: Wort in der Zeit, Festgabe für K.H. Rengstorf, hg. von W. Haubeck u. M. Bachmann, 1980, 1–23; B. Janowski, ‚Ich will in eurer Mitte wohnen‘, JBTh 2, 1987, 165–193; ders., Tempel u. Schöpfung, JBTh 5, 1990, 37–69; J. Jeremias, Das Lösegeld für Viele (Mk.10,45), in: ders., Abba, 1966, 216–229; E. Käsemann, Eine urchristliche Taufliturgie, in: ders., Exegetische Versuche u. Besinnungen I, 19706, 34–51; ders., Epheser 2,17–22, ebd., 280–283; B. Klappert, Miterben der Verheißung, in: Israel u. Kirche heute. FS für E.L. Ehrlich, hg. von M. Marcus, E.W. Stegemann, E. Zenger, 1991, 72–109; F. Lang, Die Eulogie in Eph 1,3–14, in: Studien zur Geschichte u. Theologie der Reformation, FS für E. Bizer, hg. von L. Abramowski u. J.F.G. Goeters, 1969, 7–20; A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 1979; H. v. Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 1979; G. Lohfink, Die Vermittlung des Paulinismus zu den Pastoralbriefen, in: ders., Studien zum NT, 1989, 267–289; ders., Paulinische Theologie in der Rezeption der Pastoralbriefe, ebd., 291–343; U. Luz, Rechtfertigung bei den Paulusschülern, in: Rechtfertigung, FS für E. Käsemann, hg. von J. Friedrich, W. Pöhlmann u. P. Stuhlmacher, 1976, 365–383; H. Merklein, Paulinische Theologie in der Rezeption des Kolosser- u. Epheserbriefes, in: ders., Studien zu Jesus u. Paulus, 1987, 409–453; W. Pöhlmann, Die hymnischen All-Prädikationen in Kol 1,15–20, ZNW 64, 1973, 53–74; H.-M. Schenke, Das Weiterwirken des Paulus u. die Pflege seines Erbes durch die Paulus-Schule, NTS 21, 1974/75, 505–518; E. Schweizer, Two New Testament Creeds Compared. 1Corinthians 15,3–5 and 1Timothy 3,16, in: ders., Neotestamentica (Ges. Aufs.) 1963, 122–135; ders., Die ‚Elemente der Welt‘ Gal 4,3.9; Kol 2,8. 20, in: ders., Beiträge zur Theologie des NT (Ges. Aufs.), 1970, 147–163; E. Sjöberg, Wiedergeburt u. Neuschöpfung im palästinischen Judentum, StTh 4, 1950, 44–85; ders., Neuschöpfung in den Toten-Meer-Rollen, StTh 8, 1955, 131–136; Chr. Stettler, Der Kolosserhymnus Kol 1,15–20, Diss.theol. Tübingen 1999 (Masch.); H. Stettler, Die Christologie der Pastoralbriefe, 1998; P. Stuhlmacher, „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14), in: ders., Versöhnung, Gesetz u. Gerechtigkeit, 1981, 224–245; ders., Das Christusbild der Paulus-Schule, in: J.D.G. Dunn (Ed.), Jews and Christians, 1992, 159–175; P. Trummer, Die Paulustradition der Pastoralbriefe, 1978; K. Wengst, Christologische For-

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meln u. Lieder des Urchristentums, 19732; H. Windisch, Zur Christologie der Pastoralbriefe, ZNW 34, 1935, 213–238; M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, 1988; N.T. Wright, Poetry and Theology in Colossians 1.15–20, NTS 36, 1990, 444–468.

Wenn man sich eine Vorstellung von der Christusanschauung der Paulusschüler machen will, muß man zweierlei bedenken: Ihre Briefe fußen zwar auf der christologischen Überlieferung, die in der Schule des Apostels hochgehalten worden ist, sie haben aber alle verschiedene Anlässe. Der Kolosserbrief tritt mit seiner Christusverkündigung der filosofiva (Kol 2,8) entgegen, die den Christen in Kolossä und Laodicea zu schaffen gemacht hat. Der Epheserbrief stellt Christus als den göttlichen Herrn und Heilsmittler dar, von dem und für den die Kirche lebt. Die Pastoralbriefe schließlich heben die christologischen Traditionen hervor, die zu der unverletzt zu bewahrenden apostolischen Lehre (paraqhvkh) gehören, die dem „gottlosen Gerede und den Streitsätzen der fälschlich so genannten ‚Erkenntnis‘ ( gnw`si")“ (1Tim 6,20) entgegenzusetzen ist. Ordnet man die Briefe chronologisch, ist zuerst auf den Kolosser-, dann den Epheserbrief und zuletzt auf die Pastoralbriefe einzugehen. 1. Die Christologie des Kolosserbriefes ergibt sich aus dem Christushymnus Kol 1,15–20 und den christologischen Passagen des ganzen Schreibens. 1.1 Der Christushymnus aus Kol 1,15–20 gehört zusammen mit Phil 2,6–11 und 1Tim 3,16 zu den Hauptzeugnissen für Christus-Hymnen, die im urchristlichen Gottesdienst zum Vortrag kamen (vgl. Kol 3,16). Unter dem Einfluß der Interpretation von Phil 2,6–11 und Kol 1,15–20 durch E. Käsemann sind die Christus-Hymnen in den Paulusbriefen bis vor kurzem als Produkte eines spekulationsfreudigen urchristlichen Enthusiasmus gewertet worden, den Paulus und seine Schüler kreuzestheologisch eingebunden haben. Das literarkritische Programm für die Interpretation der Texte lautet(e): Es ist zwischen hymnischer Ursprungstradition und interpretierenden Zusätzen der Briefsteller zu unterscheiden. Die Interpretamente haben nicht nur den Sinn, Andeutungen im Text näher zu erläutern, sondern sie sollen auch und vor allem die spekulative Christologie der Hymnen (kreuzes-)theologisch korrigieren. Wie bereits in Bd. 12, 292, angemerkt, hat O. Hofius in seiner Monographie über den Philipperhymnus gezeigt, daß dieses Auslegungsschema gegenüber Phil 2,6–11 weder stilistisch noch inhaltlich greift. M. Hengel hat außerdem in einem Aufsatz über „Hymnus und Christologie“ (a.a.O.) darauf aufmerksam gemacht, daß die urchristlichen Hymnen aus der Situation des gottesdienstlichen Lobpreises heraus verstanden werden müssen und „lebendiges Medium zur fortschreitenden Entfaltung des christologischen Denkens“ waren (a.a.O. 22). Der die Christushymnen bestimmende liturgische Enthusiasmus ist also eine legitime urchristliche Glaubensäußerung. Wendet man diese Erkenntnisse auf Kol 1,15–20 an, ergeben sich erhebliche Differenzen zur bisher üblichen Auslegung.

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1.2 Der Text lautet in der Übersetzung von H. Gese (Weisheit, 240 f.): „(15) Er (Christus) ist das Bild (eijkwvn) des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, (16) denn in ihm ward alles erschaffen, in den Himmeln und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, seien es Throne oder Herrschaften, Mächte oder Gewalten. Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen, (17) und er ist vor allem, und alles hat in ihm Bestand. (18) Und er ist das Haupt (vaOr) des Leibes, der Kirche, er ist der Anfang (tyviarE), der Erstgeborene aus den Toten, daß er in allem der Erste ( ˆ/varI) sei. (19) Denn in ihm gefiel es der ganzen Fülle zu wohnen (20) und durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen, indem er Frieden stiftete durch das Blut seines Kreuzes, (durch ihn) sei es, was auf Erden ist oder in den Himmeln.“ 1.2.1 E. Käsemann hat in seinem 1949 verfaßten und die Forschung zu Kol 1,15–20 neu belebenden Aufsatz „Eine urchristliche Taufliturgie“ (a.a.O.) den Hymnus in zwei Strophen eingeteilt, die mit V.15 (o{" ejstin ktl.) und 18b (o{ " ejstin ktl.) beginnen. Er beurteilt den Text als vorchristliches Lied auf den gnostischen Erlöser, „dem erst die christliche Bearbeitung und Umrahmung einen neuen, eschatologischen Sinn verleiht“ (39 f.). Die christliche Bearbeitung drückt sich nach Käsemann in nur acht griechischen Wörtern aus, nämlich th`" ejkklhsiva" in V.18 und dia; tou` ai{mato" tou` staurou` aujtou` in V.20. Mit diesen Worten soll ausgesagt werden, daß die Kirche mit dem vom Erlöser geschaffenen All (= Leib) identisch und daß der durch ihn gestiftete kosmische Friede (auf den die ganze Antike hofft) durch Jesu Lebenshingabe am Kreuz heraufgeführt worden ist. E. Schweizer hat an Käsemanns Analyse verschiedentlich Kritik geübt; in seinem Kommentar (Der Brief an die Kolosser, 19893, 50 ff.) hat er sie zusammengefaßt. Nach Schweizer ist das Prädikat prwtovtoko" ejk tw`n nekrw`n in V.18 (vgl. mit Apk 1,5) in der Gnosis undenkbar, der Hymnus muß also christlicher Herkunft sein. Sein Hintergrund wird nicht von dem (erst in nachneutestamentlicher Zeit bezeugten) gnostischen Erlösermythos, sondern von der frühjüdischen Weisheitstradition gebildet. Der Text preist Christus mit den Worten der Weisheit als den ur- und endzeitlichen Schöpfungsmittler. Auch E. Schweizer nimmt zwei mit V.15 und 18b beginnende Liedstrophen an, scheidet aber noch weitere Zusätze aus als Käsemann: Die Worte ei[te qrovnoi ei[te kuriovthte" ei[te ajrcai; ei[te ejxousivai in V.16b nehmen kritisch Bezug auf die in Kolossä grassierende Irrlehre (vgl. 2,10. 15), der Genitiv th`" ejkklhsiva" in V.18a will interpretieren, was der Christusleib ist, der Finalsatz i{na gevnhtai ejn pa`sin aujto;" prwteuvwn in V.18c soll auf die Überlegenheit Christi hinweisen, und mit Hilfe von dia; tou` ai{mato" tou` staurou` aujtou` in V.20a soll der ursprünglich kosmologisch ausgerichtete Hymnus auf die Friedensstiftung durch Kreuz und Blut Jesu Christi bezogen werden.

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In dem Aufsatz „Poetry and Theology in Colossians 1.15–20“ (a.a.O.) hat N.T. Wright gegen diese Art von Analyse eingewandt, liturgisch sei nichts widersinniger, als eine lobpreisende Gemeinde mit Zusätzen zu (oder auch Abstrichen von) einem ihr bekannten Liedtext zu verunsichern. Er will Kol 1,15–20 ohne alle literarkritischen Eingriffe lesen und gliedert den Text in zwei Hauptstrophen (= V.15a-16 + 18b-20) und eine Zwischenstrophe (V.17–18a). Das Lied ist nach Wright Zeugnis eines typisch judenchristlichen „christologischen Monotheismus“, der im Anschluß an den Monotheismus Deuterojesajas vom Schöpfungs- und Erlösungswerk des einen Gottes in Christus sprechen will. Es preist den Messias Jesus Christus von Gen 1,26–27 her als das sichtbare Ebenbild des unsichtbaren Gottes, in dem Gottes Weisheit wohnt und der eine transzendente Gott immanent gegenwärtig wird. Die Rede von der ‚Einwohnung‘ der göttlichen Fülle in Jesus (V.19, vgl. auch Kol 2,9) ist als Modifikation der Tempel- und Schekinatheologie von Y 67,17 (68,17) zu begreifen. In die Debatte über Kol 1,15–20 hat 1979 auch der Alttestamentler H. Gese eingegriffen, und zwar mit dem Aufsatz „Die Weisheit, der Menschensohn und die Ursprünge der Christologie als konsequente Entfaltung der biblischen Theologie“ (a.a.O.). Im Hintergrund des Hymnus stehen nach Gese die Weisheitstheologie und die (kultische) Sühnetradition des Alten Testaments, wie sie schon in Sir 24 verbunden worden seien; „möglicherweise liegt dem Kultlied eine hebräische Formulierung zugrunde“ (a.a.O., 241 Anm. 15), und auf jeden Fall ist es nach den Gesetzen semitischer Poesie in zwei Hälften (V.15–17 und 18–20) gegliedert. Insgesamt gilt: „Die weisheitliche Christologie dieses Kolosserhymnus ist organisch aus dem A.T. erwachsen. Es bedarf hier weder der Annahme fremder, angeblich gnostischer Einflüsse, noch der typischerweise dann daneben auftretenden Hypothesen besonderer christlicher Korrekturen und Zurechtbiegungen des Textes. Der Hymnus ist vielmehr in seiner Gänze ein überzeugendes Beispiel für die im A.T., und zwar in der Weisheit, gegründete Entfaltung der Christologie“ (a.a.O., 243). Chr. Stettler hat Geses Analyse fortgeführt und darauf hingewiesen, daß dessen Stropheneinteilung dem üblichen Einsatz bei V.15 und 18b vorzuziehen sei, weil sie der Struktur des Textes besser entspreche und es (bis auf das ganz anders gelagerte Beispiel von Y 134,8–12) in der (hellenistisch-)jüdischen und urchristlichen Literatur keine Analogien für den Anfang einer Liedstrophe mit einem Relativsatz (V.18b) gebe. Die in einem Teil der Textüberlieferung gestrichene Wiederholung des di∆ aujtou` in V.20b erklärt Stettler als Anadiplosis, wie sie häufig in Psalmen und jüdischen Hymnen auftritt (Beispiele bei O. Hofius, Philipperhymnus, 10–12).

Folgt man diesen Hinweisen, ergibt sich eine biblisch-theologisch reizvolle Aufgabe: Die Integrität des Hymnus vorausgesetzt, ist seine Gliederung in zwei Strophen (V.15–17 und 18–20) und die Verflechtung von schöpfungs- und sühnetheologischen Aussagen nachzuvollziehen. 1.2.2 Der religions- und überlieferungsgeschichtliche Hintergrund des Hymnus wird von der priesterlichen Weisheits- und Sühnetheologie gebildet, wie sie am Jerusalemer Tempel beheimatet war. Von dort her stammen die in 1,19 (und 2,9) auftauchende Rede von der ‚Einwohnung‘ Gottes (auf dem Zion; vgl. Ex 29,43–46; Ps 68,17; Ps 74,2 und dazu B. Janowski, ‚Ich will in eurer Mitte wohnen‘) und die Sühnevorstellung von V.20. Zur Erschaffung 7

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und Erhaltung der Welt gehört nach priesterlicher Anschauung aber auch die Erschaffung und Beherrschung der Engelmächte (vgl. Jub 2,2 und 4Q 403 Frg. 1 Kol 1,35 [Hinweis von Chr. Stettler]). Diese stehen nicht nur dem himmlischen Kult vor, der das Urbild für alle Gottesdienste auf Erden darstellt (vgl. Jub 2,18.21.30, die von C. Newsom herausgegebenen: Songs of the Sabbath Sacrifice, 1985 [= 4Q 400–407], TestLev 3,8; Hebr 12,22; Apk 4,1–5,14), sondern sie halten auch den Kosmos in Ordnung (vgl. Jub 2,2; äthHen 60,11–22; Apk 12,7–9) und bändigen die Dämonen, die alles Leben auf Erden in heillose Unordnung stürzen (vgl. äthHen 9,1–10,22; 20,1–7; TestSal 18; Apk 12,12). Von diesem Hintergrund und der semitisierenden Stilform her ist Kol 1,15–20 als judenchristliche Dichtung zu beurteilen. Die erst bei Paulus auftauchende ekklesiale Rede vom Leib Christi (vgl. 1Kor 12,12 ff.; Röm 12,4 ff.) in V.18a legt die Annahme nahe, daß der Hymnus in der Paulusschule formuliert worden ist. In Person und Opfergang des Christus kommt zur Erfüllung, was im Jerusalemer Kult nur erst symbolisch geschah: Erschaffung und Erneuerung der Heilsgemeinde Gottes als Zentralakt von Schöpfung und Erhaltung der Welt durch den Kult der Sühne. 1.2.3 Der Einsatz des Textes mit o{" ejstin setzt eine (liturgische) Erwähnung Christi voraus, an die der Hymnus anknüpft: „Gelobt sei Jesus Christus – Er ist …“ (o. ä.). Die Gliederung in zwei Strophen erklärt sich am besten von der semitischen Poesie und dem alttestamentlichen Grundsatz her, daß Schöfung und Erlösung einander entsprechen: Wie z. B. bei Deuterojesaja die Rede von Gottes Schöpfermacht die Erlösungsbotschaft begründet und bekräftigt (vgl. Jes 42, 5–9; 45,7–8.11–13; 51,9–11), so entspricht nach Kol 1,15–20 Gottes uranfängliches Schöpfungshandeln in Christus seinem Erlösungswerk in und durch Jesu Opfergang und seiner Herrschaft über ta; pavnta. Der christologische Lobpreis greift also auf die Tradition von der Schöpfung zurück, um die Bedeutung der Versöhnung des Alls in und durch Christus herauszustellen. 1.2.3.1 Die Ausdrucksweise der ersten Strophe (V.15–17) entstammt der alttestamentlich-jüdischen Weisheits- und Schöpfungstheologie, wie sie in Prov 8; Sir 24; Weish 7 und Jub 2 zum Ausdruck kommt. Hier wird die Weisheit als ajrchv der Werke und des Wirkens Gottes (Prov 8,22.23), als eijkwvn von Gottes Güte (Weish 7,26) und als Mittlerin der Schöpfung beschrieben, die schon bei der Gestaltung des Alls am Werke war und es seither durchherrscht und ordnet (Weish 1,7; 7,27; Sir 24,1 ff.). Wie W. Pöhlmann gezeigt hat, sind die All-Prädikationen unseres Textes stilistisch und inhaltlich eng verwandt mit den Schöpfungshymnen der alttestamentlichen und jüdischen Hymnendichtung (vgl. z. B. Jes 44,24 LXX; Sib 3,20–23). Unser Text stellt ein Musterbeispiel für die urchristliche Bemühung dar, Sein und Wirken des präexistenten und des erhöhten Christus in Analogie zum 8

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Walten der Weisheit zu verstehen (vgl. ganz ähnlich 1Kor 1,30; 8,6 und Joh 1,1–18). Das antike Judentum hat die Tora mit der Weisheit identifiziert und ihr damit kosmische Geltung zugeschrieben (vgl. Bd. 12, 256). Die Christen haben in der Sendung, Passion und Auferweckung Jesu Christi die Überbietung der Sinaioffenbarung gesehen und es deshalb gewagt, Jesus Christus die Eigenschaften und Werke der Weisheit zuzumessen (und den novmo" dementsprechend neu zu bewerten, vgl. Kol 2,14; Eph 2,15; Joh 1,17 f.).

Nach V.15–17 ist Christus die eijkwvn des einen Gottes, sein Abbild und wirkmächtiger Wesensrepräsentant gegenüber dem Kosmos (vgl. Gen 1,26–27). Kraft seiner Mittlerschaft wurde das All (mit Einschluß der Engelmächte) geschaffen (s. o.), und nur in ihm wird es erhalten und hat es Bestand. Der Kosmos hat keinen andern Herrn als den ‚Erstgeborenen der Schöpfung‘ (vgl. Apk 3,14), und die Ordnung des Alls besteht darin, daß es ihm zu- und untergeordnet ist (vgl. so auch 1Kor 8,6). 1.2.3.2 Dem Schöpfungsgeschehen entspricht Ereignis und Wirkung der Erlösung. Sie werden in der zweiten Strophe (V.18–20) besungen. Die ajpoluvtrwsi" (vgl. 1,14) ist erforderlich, weil die Ordnung des Kosmos durch die Sünde tiefgreifend gestört worden ist. In der Johannesoffenbarung wird Christus das A und das W genannt (vgl. 1,8), der Erste und der Letzte (vgl. 1,17), der uns mit seinem Blut von Sünden erlösende Erstgeborene von den Toten (vgl. 1,5) und die ajrchv der Schöpfung Gottes (3,14). In ganz ähnlicher Art und Weise wird Christus in Kol 1,18–20 die kefalhv (hebr. vaOr), die ajrchv (hebr. tyviarE), der prwtovtoko" (hebr. r/kB]) ejk tw`n nekrw`n und der prwteuvwn (hebr. ˆ/varI) genannt. Zusammen mit prwtovtoko" pavsh" ktivsew" haben diese Prädikate messianischen Klang: Für vaOr ergibt sich dies von Ps 18,44; Hos 2,2 her. - arE tyvi und r/kB] sind im Alten Testament Bezeichnung für den Erstgeborenen (vgl. Gen 49,3) und ebenfalls messianisch zu verstehen (vgl. Ps 89,28 und PesR 34 [159b]; vgl. Bill III, 677). ˆ/varI ist Wechselbegriff zu r/kB] (vgl. Gen 25,25.31 f.) und jüdisch mehrfach als ‚Name des Messias‘ nachgewiesen (vgl. Bill I, 65).

Nach V.18a ist Christus das herrschende ‚Haupt‘ (kefalhv) des sw`ma. Die Aussage ist christologisch und ekklesiologisch gleichermaßen wichtig. E. Schweizer meint, mit sw`ma sei „ursprünglich … der Weltleib gemeint“ gewesen (a.a.O., 62; vgl. die von ihm in ThWNT VII, 1035,41–1036,13; 1038,11–14; 1051,36–38 angeführten Belege). Erst durch die vom Verfasser des Kolosserbriefes nachträglich angehängte Apposition th`" ejkklhsiva" soll diese kosmologische Aussage uminterpretiert und theologisch „völlig verändert“ worden sein: An die Stelle der „Feststellung, daß Gottes Handeln in der Schöpfung allein in Christus erkennbar ist“, sei die „Erkenntnis“ getreten, „daß Christus als Herr über alle Mächte nur dort als Haupt anerkannt wird, wo sich die Kirche ihm glaubend zuwendet und eben damit ‚sein‘ von ihm mit Leben erfüllter (2,19) ‚Leib‘ wird“ (a.a.O., 70). Chr. Stettler hat jedoch mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß diese kühne Auslegung fraglich

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wird, wenn man der Gliederung des Hymnus durch Gese folgt (s. o.). Dann ist hJ kefalh; tou` swvmato" ursprüngliches Christusprädikat, und sw`ma meint – gut paulinisch (vgl. dazu Bd. 12, 357 ff.) – die Gemeinde.

Durch die Stellung von V.18a zu Beginn der zweiten Strophe wird zum Ausdruck gebracht, daß die von Christus als ihrem Haupt regierte Gemeinde das Grundmodell des durch den Sühnetod Jesu von Gott endgültig befriedeten und neu geschaffenen Alls darstellt. Mit der Auferweckung Jesu Christi von den Toten hat das (von der Kirche repräsentierte) All seinen endzeitlichen Herrn gefunden (vgl. Apk 5,11–13). Durch ihn hat der eine Gott das ein für allemal gültige Werk der Versöhnung (Versühnung) des Alls vollbracht, und zwar auf folgende Art und Weise: Seine göttliche ‚Fülle‘ (plhvrwma) – rabbinisch ausgedrückt: die Schekina – hat in ihm leibhaftig Wohnung genommen (vgl. Kol 1,19; 2,9 mit Jes 6,3; Weish 1,7; Jer 23,24). Mit dieser Aussage rückt Christus an die Stelle des Tempels auf dem Zion (vgl. Ex 29,43–46; Ps 68,17; Ps 74,2 mit Jub 4,26 und Joh 1,14; 2, 21). Durch seine stellvertretende Lebenshingabe am Kreuz hat Gott die Versöhnung heraufgeführt, die Himmel und Erde befriedet (vgl. 2Kor 5,19). Das am Kreuz auf Golgata vergossene Blut Jesu ist das endzeitliche Sühnemittel, welches das All endzeitlich wieder in die (Schalom-)Ordnung (zurück-)führt, aus der es herausgefallen ist: Alle Menschen und alle Engelmächte, die den Christus als Herrn der Welt bekennen, werden durch ihn geheiligt, gebändigt und (dadurch) in den Frieden mit Gott gestellt (Kol 2,15). Exemplarischer Ausdruck dieses Friedens ist der von der Gemeinde angestimmte Lobpreis Gottes (vgl. Kol 3,16). Einen wichtigen Fingerzeig für das Verständnis der kosmischen Sühne von V.20 hat E. Lohmeyer schon 1930 gegeben, und zwar in seinem Kommentar: Die Briefe an die Kolosser und an Philemon (nach dem Handexemplar des Verfassers durchgesehene Neuauflage durch W. Schmauch, 1953, 43 ff.). Lohmeyer hatte gemeint, man müsse die enge Verbindung beachten, die der Text zur jüdischen Liturgie und Theologie des großen Versöhnungstages aufweist. An Jom Kippur, dem Tag der Friedensstiftung zwischen Jahwe und seinem Volk schlechthin, verbänden sich der Gedanke des von Gott selbst gestifteten Opfers, der Entsühnung und Neuschöpfung der Gemeinde durch Sündenvergebung sowie der Stiftung neuen kosmischen Friedens aufs engste, und der Opfergang Jesu Christi werde in V.18–20 in Analogie zur israelitischen Versöhnungsfeier gesehen. Unter dem Eindruck der Analyse von Kol 1,15–20 durch E. Käsemann und ihren Nachwirkungen ist dieser Deutungsvorschlag nicht weiter verfolgt worden. Erst H. Gese hat V.19–20 wieder unter Verwendung der Sühnetradition interpretiert: „Dadurch, daß in Jesus die ganze Fülle der Gottheit wohnte (skn), konnte die weihende Verbindung, die Versöhnung vollzogen werden und durch das Blut seines Kreuzes der Frieden gestiftet werden, der die erschaffene Welt in den neuen Äon der Heiligkeit Gottes stellt“ (a.a.O., 242 f.). Chr. Stettler hat Geses Sicht vollends bestätigt: Die Sühne hat schon frühjüdisch kosmische Bedeutung (vgl. Jub 6,2), und der Sühnekult im Tempel ist auf die Erhaltung und Erneuerung des Kosmos gerichtet (vgl. Jub 1,29; 4,26). Diese Erneuerung wird von Gott durch

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Christi Opfergang und Auferweckung (verheißungsvoll) heraufgeführt und findet ihre endzeitliche Vollendung in der Befreiung aller Kreatur vom Fluch der Nichtigkeit (vgl. Röm 8,18–21; Kol 3,3–4). An der Versöhnung haben auch all die Engelmächte teil, die es lernen, den erhöhten Christus als kosmokravtwr anzubeten (vgl. Apk 5,6–13), während Satan und seine Engel in der Feindschaft verharren und dem Vernichtungsgericht entgegengehen (vgl. Apk 12,7–9; 20,1–3.7–15 mit 1Kor 6,3; 15,23–27; Kol 2,15; Eph 6,12).

1.2.4 Umfassender und kühner als auf dem Hintergrund der Jerusalemer Sühne- und Tempeltradition kann das Christusgeschehen kaum ausgelegt werden. Indem die ursprünglich kultische Sühnetradition auf Gottes Handeln in Christus auf Golgatha bezogen wird, erscheinen der Opfertod und die Auferweckung Jesu als göttliche Heilstaten von kosmischer Tragweite. An Kol 1,15–20 ist gar nichts zu korrigieren oder klarzustellen. Der Hymnus spiegelt dieselbe judenchristliche Denkwelt wie Röm 3,25–26 und führt in der kühnen Sprache des anbetenden Lobpreises die erstaunliche Weite der Christologie der Paulusschule vor Augen. Die Bezeugung des Hymnus (erst) im Kolosserbrief sollte nicht dazu verleiten, diese Christologie erst als nachpaulinisch anzusehen; sie gehört schon zu der vom Apostel selbst hochgehaltenen Tradition. Der Verfasser des Briefes hat den Hymnus in 1,14 nicht zufällig unter das Stichwort ajpoluvtrwsi" gestellt (vgl. Röm 3,24). Es deutet an, daß die von Gott in und durch Christus heraufgeführte Versöhnung des Alls die endzeitliche Entsprechung zur Erlösung Israels aus der Schuldknechtschaft in Ägypten darstellt (vgl. Ex 15,13; Ps 74,2 und B. Janowski, Tempel und Schöpfung, 62 ff.). Nach V.14 wird die ajpoluvtrwsi" in der a[fesi" tw`n aJmartiw`n wirksam, welche die Gemeinde Jesu Christi schon gegenwärtig empfängt. 2. Der Briefsteller ruft seinen Adressaten den Christushymnus in Erinnerung, weil die Gemeinde aufgrund dieser Homologie alle religiösen Ansprüche zurückweisen kann, die mit ihrer Zugehörigkeit zu Christus, dem ‚Erstgeborenen von den Toten‘, nichts zu tun haben. Statt den Hymnus theologisch zu korrigieren, bettet der Briefsteller ihn in die Aufforderung zur Danksagung (1,11–14) ein, welche die Gemeinde an ihre in der Taufe empfangene Erlösung erinnert (vgl. 2,12–15; 3,10–11). Anschließend versucht er, die Problemsituation der Christen von Kolossä (und Laodicea, vgl. Kol 2,1; 4,15–16) von dem im Hymnus lautwerdenden Christusbekenntnis aus anzugehen. 2.1 Unser Brief legt besonderen Nachdruck darauf, daß Gott die Adressaten bereits „der Macht der Finsternis entrissen und in das Reich seines geliebten Sohnes aufgenommen hat“ (1,13); kraft der Sühnetat Christi sind sie bereits versöhnt (1,22). Der Abschnitt 2,11–15 erinnert an die Taufe und wertet den baptismov~ als Empfang „der Beschneidung Christi“, als Ster11

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ben und Mitauferwecktwerden mit Christus im Glauben. Gott hat durch Tod und Auferweckung des Christus Vergebung für die Glieder der Gemeinde erwirkt, das sie verklagende ceirovgrafon (= die aufgrund ihrer Vorschriften schuldig sprechende Tora, vgl. Röm 3,19) annulliert und durch Christus die Engelmächte, die seine Geschöpfe bedrohen (vgl. Röm 8,38–39; Eph 1,21; 2,2; 6,12), entmächtigt, so daß sie (als Gefangene) in seinem Triumphzug mitgeführt werden (vgl. 2,15 mit Eph 4,8). Die Stoßrichtung dieser Argumentation wird aus 2,8–23 deutlich: Die Christen in Kolossä und Laodicea sollen davor geschützt werden, daß jemand sie zur Unwahrheit verführt „durch die Philosophie (filosofiva) und den leeren Lug und Trug, die der Überlieferung von Menschen und den Element(armächt)en der Welt (stoicei`a tou` kovsmou), aber nicht Christus entsprechen“; keiner, der sich in demütiger „Verehrung von Engeln“ (qrhskeiva tw`n ajggevlwn) gefällt und sich mit ihrer Schau und dem Zutritt zur himmlischen Welt brüstet, soll die Gemeindeglieder „wegen Speise und Trank oder wegen eines Festes, oder Neumond oder Sabbaten“ verurteilen (2,16) und ihnen den Kampfpreis aberkennen (vgl. 2,18 mit Phil 3,14), 2.1.1 Die genaue Deutung dieser Anfeindung ist sehr umstritten (vgl. C.E. Arnold, The Colossian Syncretism, 1995). Im Anschluß an den 1948 erschienenen Aufsatz von G. Bornkamm über „Die Häresie des Kolosserbriefes“ (wieder abgedruckt in: ders., Das Ende des Gesetzes, Ges. Aufs. I, 1958, 139–156) gehen eine ganze Reihe von Auslegern davon aus, daß die Kolosser von einer christlich-synkretistischen Häresie bedrängt werden. E. Schweizer z. B. hält (a.a.O., 100 ff.) „die kolossische Philosophie“ für eine Art von Pythagoreismus, dessen Vertreter zusätzlich zu Taufe und Christusbekenntnis einen Mysterienritus pflegen und zur Vorsorge gegen die himmlischen Mächte drängen, um so den Aufstieg der Seele in die obere Welt abzusichern. Als Himmelsmächte gelten diesen Menschen vor allem die ‚Weltelemente‘ (stoicei`a) Wasser, Feuer, Luft und Erde, aus denen sich nach antikem Denken Mensch und Welt aufbauen (vgl. G. Delling, ThWNT VII, 672, 8–675, 21), und zugleich die zahllosen Dämonen, welche die Luftregion erfüllen. Um ihrer Macht zu entrinnen, mußte man „den Göttern und, wenigstens am Nachmittag, auch den Heroen (Engeln) Ehre erweisen, sich Reinigungsbädern unterziehen und auf gewisse Lebensmittel und Fleischarten wie auf Sexualverkehr verzichten“ (E. Schweizer, a.a.O., 104). Der Kolosserbrief will nach dieser Deutung mit seiner Lehre von Christus einen Damm bilden gegen den synkretistischen Aberglauben, daß auch die Christen um ihres ewigen Heils willen die Himmelsmächte noch zu respektieren hätten, und zwar bis in die Grundsituationen von Essen und Trinken, Arbeit und Ruhe sowie die Sexualität hinein. 2.1.2 Die Auslegung Schweizers leidet historisch daran, daß die Konturen der kolossischen Philosophie recht unbestimmt bleiben und die Kritik an den Christen „wegens eines Festes, oder Neumond oder Sabbat“ (2,16) ganz ungedeutet bleibt. Es ist deshalb noch eine zweite Interpretationsmöglichkeit zu erwägen, der dieser Mangel nicht anhaftet. Nach N.T. Wright (a.a.O., 463 f., und ders., Colossians and Philemon, 1991, 23ff) will der Verfasser unseres Briefes die Adressaten nicht vor einer christ-

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lichen Häresie, sondern vor Leuten warnen, welche die (Heiden-)Christen in Kolossä zu Vollmitgliedern der Synagoge machen wollen. Ähnlicher Meinung ist J.D.G. Dunn, The Epistles to the Colossians and to Philemon, 1996, 33–35. Nach dem Wortlaut von Kol 2 liegt diese Sicht in der Tat näher als das erste Deutungsmodell. Das Diaspora-Judentum hatte gerade im kleinasiatischen Raum bis ins 3. Jh. großen Einfluß (vgl. die Inschrift aus dem 50 km westlich von Kolossä gelegenen Aphrodisias; Text bei C.K. Barrett – C.J. Thornton, Texte zur Umwelt des NT, 19912, Nr. 64 [S. 66 f.]). 4Makk 5,22; 7,9–10, Arist, Philo und Josephus zeigen, daß das hellenistische Judentum seine eigene Lehre zuweilen selbst die (wahre) filosofiva genannt hat (vgl. O. Michel, ThWNT IX, 177,3–180,39). Es ist ferner zu bedenken, daß stoicei`a die Anfangsgründe (der Lehre) meinen (vgl. Hebr 5,12). Auch jüdisch sind die vier Weltelemente stoicei`a tou` kovsmou genannt worden (vgl. z. B. Weish 7,17; 19,18; 4.Makk 12,13 u. G. Delling, a.a.O., 675,22–676, 36). Sie wurden zwar nicht als religiöse Wesen verstanden, aber ihre Wirkungskraft war unbestritten (vgl. Weish 19,18). Als stoicei`a konnten (gelegentlich) auch Konstellationen von Gestirnen und Tierkreiszeichen bezeichnet werden (vgl. TestSal 15,5; 18,1–42); die ‚Schrift des Sem‘ (ed. J.H. Charlesworth in ANRW II 20,2, 1987, 951–987) belegt die bedrohliche Machtfülle, die man ihnen (trotz Jub 12,16–18) in Teilen des Frühjudentums beigemessen hat. Bezieht man Kol 2,8.16–23 auf die Lehranschauung des kleinasiatischen Judentums, lassen sich ihr alle Charakteristika der kolossischen ‚Philosophie‘ zuordnen. Dies gilt auch für die in 2,18 erwähnte Verehrung der Engel, die qrhskeiva tw`n ajggevlwn. Im 7. Sabbatlied von Qumran ist von der µyhwla lwk twjbvt die Rede (vgl. den Text von 4Q 403 Frg 1 Kol 1,30–2,16 bei Barrett-Thornton, a.a.O., Nr. 240, Z.11 [S. 271]); wahrscheinlich ist damit „die Verehrungswürdigkeit der Engel, ihre Preiswürdigkeit“ gemeint, die ihnen „von der irdischen Gemeinde aus“ zukommt (A.M. Schwemer, Gott als König u. seine Königsherrschaft in den Sabbatliedern aus Qumran, in: M. Hengel – A.M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes u. himmlischer Kult, 1991, 100 [45–118]). Auch der schwierige Ausdruck a} eJovraken ejmbateuvwn in 2,18: „herzutretend zu dem, was er geschaut hat“ (2,18) macht von Ps 103,19–22 und den Sabbatliedern her guten Sinn, weil diese Texte nicht nur den Blick auf den Lobpreis der Engel im himmlischen Heiligtum eröffnen, sondern der Gemeinde auf Erden auch erlauben, „gemeinsam mit den Engeln im Lobpreis den himmlischen Gottesdienst“ zu feiern und „sich damit in den himmlischen Tempel“ zu erheben (A.M. Schwemer, a.a.O., 76).

Die von Wright vorgeschlagene Sicht eröffnet den Blick auf kleine christliche (Haus-)Gemeinden in Kolossä und Laodicea, deren Glieder von der Lehre und Liturgie der Diaspora-Synagoge fasziniert und in ihrem eigenen Glaubensstand verunsichert waren. Der Briefsteller erinnert sie durch Kol 1,15–20 an Christus als Haupt der Gemeinde und des ganzen Kosmos. Wenn und indem sie an ihm festhalten, können sie in der Konkurrenz mit der Synagoge durchaus bestehen. 2.2 Nach Kol 1,27; 2,2 ist das Geheimnis Gottes (musthvrion tou` qeou`) in Christus verkörpert. Damit ist zweierlei gemeint: 2.2.1 Zunächst und vor allem geht es um die wunderbare Tatsache, daß Gottes seit ewigen Zeiten verborgener Heilsratschluß, der Welt in und 13

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durch Christus zur Erlösung von Sünde und Tod zu verhelfen, nunmehr durch das Christus-Evangelium des Paulus offenbar gemacht wird. Man kann diese Darstellungsweise mit N.A. Dahl (Form-Critical Observations On Early Christian Preaching, in: ders., Jesus in the Memory of the Early Church, 1976, 30–36 [32]) „the Revelation Pattern“ (Offenbarungsschema) oder mit D. Lührmann (Das Offenbarungsverständnis bei Paulus u. in paulinischen Gemeinden, 1965, 124 ff.) „Revelationsschema“ nennen, muß sich aber im klaren darüber sein, daß es dabei nicht um eine feste Textsorte (Gattung), sondern nur um eine an verschiedenen Stellen im Neuen Testament (z. B. in Röm 16,25 f.; Eph 3,4 f.9 f.; 2Tim 1,9 f.; 1Petr 1,12) auftauchende Argumentationsfigur handelt, die das heilsgeschichtliche Jetzt der Christusoffenbarung in Gegensatz zu den früheren Zeiten stellt, als diese Offenbarung noch verborgen war (vgl. zum Problem und den jüdischen Analogien dieses ‚Predigtschemas‘ M.N.A. Bockmuehl, Revelation and Mystery, 1990, 208 ff.).

2.2.2 Zugleich signalisiert die Formulierung aber auch einen eschatologischen Vorbehalt: Solange Christus als Herr und Haupt der Gemeinde und der Welt insgesamt nur erst verkündigt und von der unter Verfolgung stehenden Gemeinde zwar im Glauben angenommen, aber noch nicht geschaut werden kann, steht die Endvollendung noch aus und wird die Herrlichkeit, zu der das All bestimmt ist, „vorerst nur durch die Kirche … in der Verhüllung der qlivyei" (Kol 1,24 f.; Eph 3,13)“ offenbar (G. Bornkamm, ThWNT IV, 828, 28 f.). Das Heilsgeheimnis, das Christus ist, erfährt in der Verkündigung des Apostels erst seine verborgene Epiphanie. Christus wird deshalb in 1,27 mit gutem Grund hJ ejlpi;" th`" dovxh" genannt (vgl. auch 1,23). Nur wenn die Christen im Glauben unerschüttert bleiben und bis zum Tage der Offenbarung des Christus vor aller Welt treu an der ihnen durch das Evangelium erschlossenen Hoffnung festhalten, werden sie zusammen mit ihm in endzeitlicher Herrlichkeit leben können (vgl. 3,4 mit Röm 8,19.21). 2.3 Nach alledem steht die Christusverkündigung des Kolosserbriefes ganz in der Kontinuität der paulinischen Lehrtradition. Sie ist nicht als Abweichung vom genuinen Gedankengut des Apostels zu beurteilen, sondern gibt zu erkennen, wie thematisch reich und umfassend die von ihm und seinen Schülern vertretene Christologie gewesen ist. 3. Nach der treffenden Formulierung von E. Lohse (Entstehung des NT, 19915, 59) ist im Epheserbrief „die kosmische Christologie des Kol(osserbriefes) … zu einer unpolemisch entfalteten Lehre von der Kirche ausgestaltet worden.“ Der schwebende und von Assoziationen geprägte Stil des Briefes unterscheidet ihn deutlich von den großen Paulinen. Es ist aber „nicht der Stil eines Fälschers, sondern der eines theologischen Interpreten der Paulusbriefe“ (M. Gese, Vermächtnis, 101). Da der Brief ursprünglich ein Rundschreiben an die von Paulus begründeten Gemeinden in Kleinasien war, der zu einer Summe paulinischer Schultradition ausgebaut worden ist (s. o.), er14

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klärt sich die Nähe zum Kolosserbrief ebenso gut wie die in Kol 1,18; 2,19 nur erst angedeutete, nun aber klar hervortretende neue Gewichtung des Kirchengedankens. 3.1 Die ekklesiale Auslegungstendenz des Briefes zeigt sich schon in der Eingangseulogie (1,3–14); der Altphilologe E. Norden hat sie „das monströseste Satzkonglomerat“ genannt, „das mir in griechischer Sprache begegnet ist“ (Agnostos Theos, 19564, 253 Anm. 1). An die Eulogie schließt sich eine ausführliche Fürbitte an (1,15–23). In beiden Texten wird das Geheimnis des Heilsratschlusses Gottes, seine oijkonomiva, gepriesen. Es besteht darin, daß der Kosmos in Christus sein Heil und seine Ordnung finden sollte und für die Adressaten auch schon gefunden hat. Der präexistente Gottessohn (vgl. 1,4) hat diese Heilsordnung dadurch aufgerichtet, daß er im Vollzug seiner Sendung das All (bei der Erdenfahrt) bis in die irdische Tiefe und (bei der Himmelfahrt) in die höchsten Höhen durchmessen hat (vgl. 4,7–10) und es nun mit seiner Herrschaft erfüllt. Diese Herrschaft wird durch das Evangelium den Völkern kundgetan (vgl. 3,6–12) und von der Kirche der irdischen und himmlischen Welt bezeugt (s. u.). Die Herrschaft des Christus über die den Kosmos erfüllenden (Engel-) Mächte wird in 1,20–22 als Erfüllung von Ps 110,1 und 8,7 angesehen. Das erinnert an 1Kor 15,25–27 und entspricht Hebr 1,13; 2,5–7. Neutestamentlich einmalig ist dagegen die Beziehung von Ps 68,19 (67,19 LXX) in 4,8 auf Christi Himmel- (und Erden-)fahrt, die zugleich die Stiftung der Evangeliumsverkündigung (durch Apostel und Evangelisten) impliziert (s. u.).

3.2 Die Mitte des die Kirche begründenden Heilsgeschehens bilden (auch) nach dem Epheserbrief Sühnetod und Auferweckung Jesu (vgl. 1,7; 2,4–7.14–18; 5,2). Sie haben sich ereignet, als die Adressaten noch Sünder waren (vgl. 2,1–3.11–13 mit Röm 5,6). Als aber Christus kam und (durch seine Sühnetat) die Heilsverkündigung stiftete, haben sie Erlösung (ajpoluvtrwsi") erlangt. Diese besteht in der Vergebung der Sünden und der Anwartschaft auf das (himmlische) Erbe (vgl. 1,14.18; 4,30 mit Kol 1,14). 2,1–22 zeigen, was das im einzelnen heißt. 3.2.1 In 2,1–10 wird die Rede von der Rechtfertigung so aufgenommen, wie sie schon vor Paulus und bei ihm im Taufzusammenhang tradiert worden ist (vgl. 1Kor 6,11; Röm 6,15–23): Die vormals in Sünden und Begierden (vor Gott) ‚toten‘ Adressaten haben allein aus Gottes Gnade und Liebe heraus, ohne eigene Werke und Anlaß zum Selbstruhm, durch den Glauben Rettung gefunden. In der Taufe (vgl. 4,5) sind sie zusammen mit Christus lebendig gemacht worden und haben in ihm Anteil am ewigen Leben sowie an seiner himmlischen Herrschaft erlangt. Derart neu geschaffen, sind sie nun vor Gott und den Menschen dazu da, „die guten Werke zu tun, die Gott im voraus bereitet hat“ (vgl. 4Esr 8,52). Der Briefsteller erspart sich 15

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nähere Erläuterungen, weil er voraussetzt, „daß seine Leserinnen und Leser mit paulinischem Denken vertraut sind und vielleicht sogar paulinische Briefe kennen“ (U. Luz, Der Brief an die Epheser, 1998, 133). 3.2.2 Auch die christologischen Ausführungen von 2,11–22 sind für unseren Brief christologisch und ekklesiologisch gleich charakteristisch. Auf den ersten Blick wirkt der von alttestamentlichen Anspielungen durchzogene Abschnitt undurchsichtig. Er wird nicht durchsichtiger, wenn man in 2,14–18 ein Friedens-Erlöserlied zitiert und kommentiert findet, das man nach dem bekannten Schema interpretiert: Die (gnostische) Spekulation von dem Himmel und Erde, Engel, Menschen und Gott versöhnenden Erlöser soll vom Briefsteller auf Christi Erlösungstat bezogen und so theologisch gebändigt worden sein (vgl. z. B. J. Gnilka, Der Epheserbrief, 1971, 147 ff., und K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, 1972, 181 ff.; ähnlich P. Pokorny´, Der Brief des Paulus an die Epheser, 1992, 117 ff., und H. Hübner, An die Epheser, 1997, 180 f.). R. Schnackenburg (Der Brief an die Epheser, 1982, 103 ff.) und U. Luz (a.a.O., 135 ff.) haben diese Exegese mit Recht aufgegeben. V.11–22 sind ein Prosastück, in dem die Versöhnungstradition von Kol 1,18–20 sowie die Rede vom ‚Frieden des Christus‘ aus Kol 3,15 aufgenommen und ein messianischer Midrasch zu Jes 57,19 vorgetragen wird: Das in Jesu Opfergang vollbrachte göttliche Versöhnungswerk ist das endzeitliche Erfüllungsgeschehen, in dem sich die Verheißungen vom Kommen des messianischen ‚Friedensfürsten‘ (Jes 9,5–6) und ‚Freudenboten‘, der die Erlösungsbotschaft proklamiert (Jes 52,7), erfüllt haben; nach Mi 5,4 ist sein Name eijrhvnh (µ/lv;) ; ‚Friede‘ ist auch in einigen späteren jüdischen Texten Name für den Messias (vgl. Bill I, 64). Mit seiner Erscheinung ist das Gotteswort aus Jes 57,19: „Ich schaffe … Frieden, ja Frieden den Fernen und den Nahen“ in Erfüllung gegangen (vgl. V.17). Der Friede besteht darin, daß Heiden und Juden gemeinsam den einen neuen Menschen bzw. den Leib Christi bilden.

Geht man der Argumentation von 2,11–22 im einzelnen nach, ergibt sich folgendes Bild: Einst waren die Adressaten Heiden (ta; e[qnh) und gemäß (der frühjüdischen Auslegung von) Jes 57,19 die Gott gegenüber ‚Fernen‘. Als Unbeschnittene waren sie getrennt vom Gottesvolk Israel und den ihm geltenden Verheißungen und wurden für ‚Gottlose‘ (a[qeoi) ohne Heilshoffnung gehalten (vgl. 1Thess 4,5 und z. B. Philo, OpMund 170; Fug 114). Nun aber sind sie kraft der durch Jesu Blut gewirkten Sühne Gott nahegebracht worden. Jesus Christus ist der Messias von Jes 9,5–6, auf den Israel schon lange gehofft hat (vgl. 1,12). Sein Name ist ‚unser Friede‘ (vgl. Mi 5,4). Er hat den in Jes 57,19 von Gott verheißenen Frieden heraufgeführt, indem er durch seinen Sühnetod dreierlei vollbracht hat: Er hat – erstens – das Gesetz abgetan. Dieses hat mit seinen Geboten und Lehrsätzen nicht nur einen Zaun (fragmov") und eine ‚Trennmauer‘ (mesovtoicon) zwischen Heiden und Juden gebildet (vgl. zu dieser Ausdrucksweise epAr 139.142 und mAv 1,1), sondern auch (die sündhaften Leidenschaften angestachelt und so) die ‚Feindschaft‘ (e[cqra) der Sünder gegen Gott begründet (vgl. Röm 7,5). Er 16

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hat – zweitens – diese e[cqra zwischen Gott und den Sündern (vgl. Röm 5,10; 8,7) beseitigt. Er hat – drittens – in und durch sich selbst aus Heiden und Juden den einen neuen, Gott in Freiheit dienenden Menschen geschaffen (vgl. Kol 3,10; Gal 3,28) bzw. die Kirche als seinen Leib begründet. Jesu Kommen in die Welt läßt sich dementsprechend begreifen als Erscheinung des in Jes 52,7 angekündigten messianischen Evangelisten und als Erfüllung der göttlichen Friedensverheißung von Jes 57,19 für die Nahen und Fernen, d. h. für Juden und Heiden. Beide haben jetzt durch Christus ‚Zugang‘ (vgl. Röm 5,2) zu Gott, dem Vater, erlangt, und die Heiden sind nunmehr zusammen mit den a{gioi ‚Hausgenossen Gottes‘. Unter den Heiligen in 2,19 sind entweder von 1QS 11,7–8; 1QH 3,22 und Kol 1,12 her die Engel oder – dem sonstigen Sprachgebrauch des Epheserbriefes folgend – Christen zu verstehen (vgl. 1,18; 3,8.18; 4,12; 5,3; 6,18). Wenn dies der Fall ist, sind wahrscheinlich die (Juden-)Christen gemeint, die schon vor dem jetzigen Herzuströmen der Heidenchristen zur ejkklhsiva gehört haben.

Juden- und Heidenchristen gehören nunmehr gemeinsam zu der von Christus gestifteten Kirche. Nach V.20–22 ist sie der (Tempel-)Bau, dessen Fundament die Apostel und (christlichen) Propheten bilden; seinen ‚Eckstein‘ hat Gott selbst durch die Sendung Jesu Christi gelegt (vgl. Jes 28,16). Aus Jes 28,16 (und 1Kor 3,11) ergibt sich, daß ajkrogwniai`o" (in 2,20 und 1Petr 2,6) nicht mit dem „Abschlußstein des Baues, der wahrscheinlich über dem Portal eingesetzt wurde“ gleichzusetzen ist, wie J. Jeremias (ThWNT I, 792, 25 f.) gemeint hat. Vielmehr geht es um den ‚Eckstein‘, der das Fundament abschließt und dem ganzen Bauwerk Halt und Maß gibt (vgl. J. Roloff, Die Kirche im NT, 1993, 238 Anm. 40).

3.2.3 Unter den gemeinsam an Jesus Christus glaubenden Heiden und Juden ist der messianische Friede angebrochen, nach dem sich die ganze Welt sehnt. In der Kirche aus Heiden und Juden bilden die beiden Menschengruppen eine Lebensgemeinschaft, die bisher streng getrennt und in bedrohlicher Feindschaft lebten (vgl. die zahlreichen antiken Belege vom Haß zwischen Heiden und Juden, z. B. 3Makk 3,4; den bei Barrett – Thornton, a.a.O., Nr. 52 [S. 55 ff.] abgedruckten Brief des Kaisers Claudius an die Bürger von Alexandrien aus dem Jahre 41 n. Chr. sowie das bei Bill IV, 353–414, zusammengestellte jüdische Material). Eph 2,11–22 erteilt allen heidenchristlichen Bestrebungen, sich von Israel loszusagen (vgl. Röm 11,13ff), eine klare Absage. In 2,19 (und 3,6) wird nachdrücklich betont, daß die ehemals (von jüdischer Seite) verachteten Heiden nunmehr in und durch Christus vollen Anteil an den Heilsgütern Israels erhalten haben und Miterben der Verheißung geworden sind. Die Aussagen belegen, daß der Epheserbrief genauso wie der Kolosserbrief in eine Situation hineinspricht, in der die Christen in der Asia noch kleine Minderheitengemeinden bildeten, die den etablierten Synagogen gegenüberstanden. Da sich die Christen zum großen Teil aus dem Kreis der heidnischen ‚Gottesfürchtigen‘ rekrutierten, bedurften sie der Vergewisserung, daß sie mit dem Übertritt zum Christentum der von ihnen bewunderten jüdischen Heilsgüter nicht etwa verlustig gegangen, sondern vielmehr teilhaftig geworden seien. Unser Text ist ein Indiz dafür, daß der

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Briefsteller ein mit dem Alten Testament wohlvertrauter Judenchrist war, der es verstanden hat, die in Kol 1,15–20 bezeugte Christologie so aufzunehmen und auszulegen, daß sie in die Situation aller kleinasiatischen (Paulus-)Gemeinden hineinsprach.

3.3 Wie schon in Kol 1,18 wird auch in Eph 1,22; 4,15; 5,23 Christus das Haupt ( kefalhv) der Kirche genannt. Diesem Christusprädikat ist in § 25 weiter nachzugehen (s. u. S. 30). Es bringt zweierlei zum Ausdruck. Zuerst und vor allem bezeichnet es die von Gott gewollte kosmische Herrscherposition des erhöhten Christus, der mit seiner Macht das All erfüllt. Gleichzeitig wird aber auch die wesenhafte Bezogenheit des Christus auf die Kirche zum Ausdruck gebracht. Die Kirche ist sein Leib und wird von ihm bestimmt. 3.4 Der schwärmerischen Verabsolutierung seiner umfassenden christologischen (und ekklesiologischen) Aussagen beugt der Briefsteller durch folgende Hinweise vor: Gott hat zwar Christus schon gemäß Ps 8,7 zum Haupt der Kirche und Herrscher des Alls erhöht (vgl. 1,20–22; 4,10). Aber die von Gott gewollte ajnakefalaivwsi" des Alls in Christus (1,10) wird gegenwärtig nur erst im Raum der Kirche anerkannt und bedarf noch der kosmischen Durchsetzung. Die Kirche muß deshalb den Glauben nicht nur auf Erden bezeugen, sondern auch den himmlischen Mächten Kenntnis geben von der Weisheit, mit der Gott das All neu geordnet hat (3,10–11). Ebenso wie das Haupt steht auch der Leib noch im Kampf gegen die Mächte und Gewalten, die sich gegen die Christusherrschaft auflehnen (6,12). Im Kolosser- und Epheserbrief wird zwar die „Abwandlung eines ursprünglich eschatologisch-zeitlichen in ein sphärisches Denken“ erkennbar (G. Bornkamm, Die Hoffnung im Kolosserbrief, in: ders., Geschichte und Glaube. Zweiter Teil, Ges. Aufs. IV, 1971, 212 [206–213]). Trotzdem bleibt die eschatologische Gesamtsicht paulinisch (vgl. Bd. 12, 306), indem sie sowohl die gegenwärtige Herrschaft Christi als auch den schon erreichten Heilsstand der Kirche von der noch ausstehenden Vollendung unterscheidet (vgl. 4,30). 3.5 Auch wenn es einige Anstrengung erfordert, die christologischen Gedankengänge unseres Briefes nachzuvollziehen, beeindrucken ihre schöpfungstheologische Weite und ekklesiale Ausrichtung. Es leidet keinen Zweifel, daß im Epheserbrief die von Paulus überkommene Versöhnungschristologie (und mit ihr der Rechtfertigungsgedanke) hochgehalten wird. Diese Christologie wird entschiedener als in den großen Paulusbriefen auf die eine universale Kirche aus Heiden und Juden bezogen, die das sw`ma Cristou` bildet. Christologie und Ekklesiologie bilden eine Einheit, ohne daß die Rangfolge verdunkelt wird: Das Haupt bestimmt den Leib und nicht umgekehrt. Die ganze Darstellung ist in eine Weltsicht eingebettet, die weder einen christologischen noch einen kirchlichen Triumphalismus aufkommen läßt. Die Christologie des 18

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Epheserbriefes verdient darum keine Kritik, sondern ist als legitime Entfaltung paulinischer Lehre zu würdigen. 4. Die drei Pastoralbriefe stellen sprachlich und sachlich eine Einheit dar, unterscheiden sich aber in Stil und Ausdrucksweise grundlegend von allen anderen Paulusbriefen. Sie fußen nicht nur auf den Paulusbriefen, sondern auch auf der synoptischen und johanneischen Tradition. Wie immer ihre Vorform auch zu bestimmen sein mag, in ihrer gegenwärtigen Fassung stellen sie Lehrschreiben des Apostels für die nach ihm wirkende Schülergeneration dar. Der 1. Timotheus- und der Titusbrief belehren über Wesen, Ordnung und Erhalt der Gemeinde, während der 2. Timotheusbrief ein lehrhaftes Testament des (in Gefangenschaft liegenden) Apostels sein will. Die drei Briefe verteidigen die Person des Apostels gegen (christliche) Angriffe (vgl. 2Tim 4,3–18) und stellen die Bedeutung seiner Lehre für Aufbau und Erhalt der Kirche heraus. Sie tun dies zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Kirche für längere Zeit in der Welt einrichten und ihr gegenüber bewähren muß, gleichzeitig aber die innere Bedrohung durch Häretiker abzuwehren hat, die vom angestammten Glauben abgefallen sind (vgl. 1Tim 1,6.7.20; 5,13; 2Tim 1,15; 2,18; 3,1–9) und den Lehrmeinungen der „fälschlich so genannten ‚Erkenntnis‘ (gnw`si")“ anhängen (vgl. 1Tim 6,20). Die historische und theologische Intention der drei Briefe läßt sich umso klarer und besser erfassen, desto enger man sie an die erst vom 2. Jh. n. Chr. an in Originaltexten bezeugte und von den Kirchenvätern bekämpfte christliche Gnosis heranrückt. Dies bedeutet, daß man ihre Ausgestaltung zu Lehrbriefen erst im letzten Jahrzehnt des 1. Jh.s n. Chr. ansetzen kann.

4.1 Die Christologie der drei Briefe fußt auf dem Evangelium des Paulus und nimmt die großen Motive von Sendung, Erlösung, Rechtfertigung, Herrschaft und Parusie Jesu Christi auf. Ihr besonderes Profil liegt darin, daß sie paulinische Tradition mit vor- und nachpaulinischem Lehrgut verbindet und zur normativen Lehre (paraqhvkh) erhebt, die von der Kirche hochzuhalten, unverletzt zu bewahren und weiterzugeben ist (vgl. 1Tim 6,20; 2Tim 1,12.14). A. Lindemann (Paulus im ältesten Christentum, 1979, 142 f.) hat zutreffend festgestellt, daß der Verfasser der Pastoralbriefe die Absicht gehabt hat, „seiner kirchlichen Gegenwart das ‚Vermächtnis‘ des Paulus nahezubringen.“ Aus dieser Absicht folgt, daß die „‚Dogmatisierung‘ des theologischen Denkens in den Past(oralbriefen)“ keinen Abfall von der paulinischen Lehre darstellt, sondern „zumindest auch eine Folge des ‚Sitz im Leben‘ bzw. einfach der Gattung der Past(oralbriefe) (ist).“ Von dieser Einsicht aus ist es möglich und geboten, kritisch Stellung zu beziehen gegen die negative Bewertung der Christologie unserer Briefe, die seit dem Aufsatz von H. Windisch (Zur Christologie der Pastoralbriefe, ZNW 34, 1935, 213–238 [bes. 236 f.]) üblich und von N. Brox in seinem Kommentar (Die Pastoralbriefe, 1969, 165 f.) auf die Spitze getrieben worden ist: „Für die Pastoralbriefe bleibt es überraschend, daß sie zu nachpaulinischer Zeit eine vorpaulini-

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sche Christologie bieten, die nirgends zu den Aussagen des Paulus durchstößt. Ein ausschließlich ‚archaisches‘ christologisches Überlieferungsgut findet Verwendung“, das bis zur Abfassung der Briefe „noch nicht um das paulinische Denken bereichert wurde. – Eine Kirche (bzw. ein Autor) mit solch expliziten paulinischen Prätentionen ist in jenem formulierten Gut der Christologie aus Liturgie, Verkündigung und Katechese, auf das die Briefe zurückgreifen, nur minimal von Paulus beeinflußt und bezeugt hier eine schon zur Abfassungszeit durch andere Aussagen ‚überholte‘ Christologie. Der konservative, doktrinäre Charakter dieses kirchlichen Denkens könnte sich nicht beredter bezeugen. Hier wird das einmal Formulierte und Erkannte festgehalten, weitergereicht, aufgenommen, nicht aber ausgelegt und erweitert …“. Diesem Fehlurteil ist H. Stettler entgegengetreten. Sie weist mit Recht darauf hin, daß es dem Briefsteller nicht auf originelle Aussagen, sondern auf die der Kirche insgesamt anvertraute Lehrtradition angekommen ist. Nach ihrer Analyse aller christologischen Texte in den drei Briefen hat der Autor ganz bewußt auf Lehrformulierungen zurückgegriffen, die er selbst mitgeprägt (und im Missionsunterricht verwendet) hat: „Was uns in den Briefen begegnet, ist sozusagen die am Ende des Unterrichts stehende Zusammenfassung der Lehre in Lehrformeln …, an deren Inhalt unbedingt festgehalten werden muß … Dabei vollbringt der Verfasser eine doppelte Leistung: Die paulinische Theologie wird in ihrer Ganzheit bewahrt und in die nachpaulinische Zeit hinübergenommen, und sie wird in den Rahmen der sie umgebenden urchristlichen Tradition hineingestellt“ (Christologie der Past., 301). Die Arbeitsweise des Autors hat entscheidend dazu beigetragen, der Kirche das paulinische Erbe zu erhalten; in dem von den drei Briefen gesteckten Rahmen hat die Paulustradition Zeiten der Kritik und des Unverständnisses überdauern können.

4.2 Die folgenden Beispiele lassen die katechetische Qualität und den Gehalt der christologischen Formeln in den Pastoralbriefen am besten erkennen: 4.2.1 In 1Tim 2,5–6 ist ähnlich wie in 1Kor 8,6 das Shema‘ (vgl. Dt 6,4) christologisch zu einer zweigliedrigen Formel erweitert und um den Satz ergänzt worden, daß Jesus mit seinem Opfergang auch das Zeugnis ‚gegeben‘ hat. Die christologische Erweiterung besteht in der Neuformulierung des Jesuswortes von Mk 10,45 (Mt 20,28). Der Text lautet: „(5) Denn einer ist Gott und einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, (6) der sich selbst zum Lösegeld für alle gab – (und damit einsetzte) das Zeugnis zur rechten Zeit.“

Die Formel besagt: Der eine Gott hat sich der Welt in einem einzigen Mittler erschlossen und ist auch nur durch ihn allein zugänglich. Dieser Mittler ist der Christus mit dem Namen Jesus. Er ist Mensch geworden und hat sein Leben als (endgerichtlich wirksames) Lösegeld für alle Sünder dahingegeben. Durch seinen Opfergang hat er auch das apostolische Zeugnis eingesetzt, welches die Heilstat Gottes in und durch Jesus Christus aller Welt bekannt macht, so daß sie zur Erkenntnis der Glaubenswahrheit und zum Heil kommen kann. 20

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In 1Tim 2,5–6 wird Mk 10,45 (Mt 20,28) ins christliche Bekenntnis eingerückt. Wie schon in Bd. 12, 121, angemerkt, wird dabei der semitisierende Wortlaut des Jesuslogions so umformuliert, daß die zentrale Aussage erhalten bleibt, aber auch von solchen Griechisch sprechenden Christen nachvollzogen werden kann, die noch keine genaue Kenntnis der an das Alte Testament angelehnten Sprache Jesu und der Evangelien besitzen: Aus dem Begriff uiJo;" tou` ajnqrwvpou wird – semantisch korrekt (vgl. Röm 5,15.19) – a[nqrwpo"; aus dem Übersetzungsgriechisch dou`nai th;n yuch;n aujtou` wird oJ dou;" eJautovn, das Jes 43,3 aufnehmende luvtron wird durch das seltene, aber hellenistisch gefälligere Kompositum ajntivlutron ersetzt, und an die Stelle des auf Jes 53,11–12 zurückgehenden, inklusiv gemeinten oiJ polloiv tritt – wiederum semantisch korrekt (vgl. Röm 5,15.18.19) – pavnte".

Die Lehrformel geht auf die Paulusschule zurück. In ihr werden zwei wesentliche Inhalte des Gemeindeunterrichts verknüpft, die schon zu Lebzeiten des Paulus Gegenstand der Unterweisung waren: die Anleitung (von Heiden) zum monotheistischen Bekenntnis (vgl. 1Thess 1,9) und die Lehre von Jesu Selbstpreisgabe für alle Sünder (vgl. Gal 1,4; 2,20; 2Kor 5,14; Eph 5,2.25). Die direkte Aufnahme eines Jesuslogions in Lehre und Bekenntnis ist schon bei Paulus selbst denkbar (vgl. 1Kor 11,23–25) und Ende des 1. Jh.s n. Chr., als die synoptischen Evangelien und das 4. Evangelium schon fixiert vorlagen, gar nicht verwunderlich. Auch Tit 2,14 scheint auf Mk 10,45 zurückzugehen und die Tat Christi von Ps 130,8 her zu deuten. Daß den Pastoralbriefen die Evangelientradition bekannt war, zeigt die Rede von den „gesunden Worten Jesu Christi“ in 1Tim 6,3, ihre Zitierung als Schrift (vgl. 1Tim 5,18b mit Lk 10,7) und der Hinweis auf „Christus Jesus, der vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat“ (vgl. 1Tim 6,13 mit Joh 18,36–37). 1Tim 2,5–6 will dazu anleiten, die Heilswahrheit von der exklusiven Offenbarung und dem Rettungshandeln des einen Gottes in und durch den einen Christus hochzuhalten und zu respektieren, daß das apostolische Christuszeugnis auf Jesu eigene Stiftung zurückgeht. 4.2.2 1Tim 3,16b bietet neben Phil 2,6–11 (vgl. Bd. 12, 292.305) und Kol 1,15–20 (s. o.) das dritte Beispiel für christologische Hymnen im Neuen Testament. In ihm wird die durch das Evangelium erschlossene Glaubenswahrheit, das musthvrion th`" eujsebeiva" (vgl. Kol 1,26–27; Eph 3,4–5), besungen, auf dem die Kirche gegründet ist: „… bekanntermaßen groß ist das Geheimnis der Frömmigkeit: Der da ward geoffenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, verkündigt unter den Völkern, geglaubt in der Welt, erhoben im Lichtglanz.“

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Da der Ersatz des einleitenden Relativpronomens o{" durch qeov" in ˜ mit Sicherheit sekundär ist, bedarf der Text keiner Korrekturen. Er ist sorgsam in sechs Zeilen formuliert, die jeweils mit einer passiven Verbform beginnen. Die drei Aoriste ejfanerwvqh , ejdikaiwvqh und ajnelhvmfqh sind als Passiva divina zu deuten. Die Sinnzeilen sind einander paarweise (nach dem chiastischen Schema: Welt – Himmel / Himmel – Welt / Welt – Himmel) zugeordnet. Die erste und letzte Zeile bilden eine Inklusio (vgl. 1Petr 3,18b), und das Ganze will eine Totalität zum Ausdruck bringen: Christi Herrschaft und Würde sind im Himmel und auf Erden offenbar geworden. Die geschlossene Form des Textes spricht dafür, daß V.16b nicht nur ein Fragment, sondern ein vollständiger Hymnus ist. J. Jeremias hat in ihm einen dreigliedrigen ‚Thronbesteigungs-Hymnus‘ gesehen (vgl. ders., Die Briefe an Timotheus und Titus, 19812, 27–29) und damit Schule gemacht. Er ging dabei von dem durch E. Norden (Die Geburt des Kindes, 1924, 116–128) rekonstruierten altägyptischen Thronbesteigungsritual aus, das drei Stufen gekannt haben soll: die Erhöhung des Königs (zum Gott), seine Präsentation (vor den Göttern) und die Inthronisation (d. h. die Einsetzung in die Herrscherrechte). 1Tim 3,16 erschien wie eine christliche Analogiebildung dazu. Leider ist aber der Entwurf E. Nordens eine ‚fata morgana‘ ohne hinreichende ägyptische Textbasis (vgl. die Mitteilung von H. Brunner an G. Friedrich, in: ZThK 80, 1983, 150). Da 1Tim 3,16 auch keine nennenswerten Verbindungen zu den Jahwe-König-Hymnen (Ps 47; 93; 96; 97; 99) aufweist, ist die Bezeichnung ‚Thronbesteigungshymnus‘ problematisch. Im Hintergrund des Christusliedes stehen zwar Ps 110,1; Dan 7,13–14 und Jes 53,11, aber es besingt nicht nur das Geschehen der Epiphanie des Christus in der himmlischen Welt, sondern auch seine Erscheinung und Bekanntmachung auf Erden. ejfanerwvqh ejn sarkiv kann man auf die Inkarnation Jesu Christi deuten, von Mt 28, 17; Mk 16,12.14; Joh 21,1.14; Apg 10,40 und IgnSm 3,3 her liegt es aber näher, an „die leibhafte Erscheinung des Auferstandenen“ zu denken (H. Stettler, a.a.O., 93, im Anschluß an C. Spicq, Les Épîtres pastorales, Bd. 1, 19694, 472). In der LXX-Fassung von Jes 53,11, die vom masoretischen Text abweicht, meint die Wendung dikaiw`sai divkaion eu\ douleuvonta die Einsetzung des Gottesknechts in seine himmlischen Rechte durch Gott. Dementsprechend ist auch ejdikaiwvqh ejn pneuvmati in der zweiten Zeile unseres Hymnus auf die Einsetzung des Christus in seine himmlischen Herrscherrechte zu deuten (vgl. so auch Joh 16,10), w[fqh ajggevloi" bezieht sich auf die Erscheinung des erhöhten Christus vor den Engeln in der himmlischen Welt (vgl. Dan 7,13–14; Apk 5,6–13), ejkhruvcqh ejn e[qnesin läßt sich von Mk 24,14; 28,19; Kol 1,23b her auf die apostolische Völkermission beziehen, und ejpisteuvqh ejn kovsmw/ meint, daß der erhöhte Christus in der Völkerwelt (vgl. Mt 28,19; Gal 1,16; 2,8; Röm 15,16) Glauben und Anerkennung gefunden hat (vgl. 1Thess 1,8; 2Thess 1,10; Röm 1,8; Apg 20,21). ajnelhvmfqh ejn dovxh/ schließlich ist von Apg 1,2.11; Joh 17,5 her auf die Himmelfahrt zu deuten.

Wenn man 1Tim 3,16b als ein hellenistisch-judenchristliches Osterlied versteht, ergibt sich eine geschlossene christologische Aussage, die mit Kol 1,15–20.26–27 vergleichbar ist: Christus wurde von den Toten auferweckt und ist in göttlicher Autorität und neuer Leiblichkeit vor Zeugen erschienen. Im Bereich des Geistes, d. h. in den Himmeln, wurde er in die Herrscherrechte eingesetzt, auf die er irdisch verzichtet hatte. Er wurde den Engeln als Herrscher präsentiert, und die apostolische Verkündigung hat ihn 22

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unter den Völkern als solchen bekannt gemacht. Er ist aufgenommen worden in die himmlische Herrlichkeit (und wird nach 1Tim 6,14; Tit 2,13 von dort zu seiner zweiten Epiphanie wiederkehren). Die Ausdrucksweise des Hymnus ist ebenso wie in Kol 1,15–20 liturgisch zu verstehen: Sie beschreibt das göttliche Heilshandeln an und durch Christus in der Form des Lobpreises und nimmt mit ejkhruvcqh ejn e[qnesin und ejpisteuvqh ejn kovsmw/ Tatbestände voraus, die zwar im Raum der anbetenden Kirche schon Wirklichkeit sind, weltweit aber erst noch (durch Weiterführung und Vollendung der Völkermission) realisiert werden müssen. Insgesamt kann man 1Tim 3,16 gut „als Ausführung des in Röm 10,9 geforderten Bekenntnisses (vgl. oJmologei`n – oJmologoumevnw") verstehen“ (H. Stettler, a.a.O., 107). Auf diese Weise erklärt sich auch die Bezeichnung unseres Liedes als musthvrion th`" eujsebeiva" in 3,16a ohne Probleme. 4.2.3 In 2Tim 2,8 (vgl. mit Röm 1,3–4) und Tit 2,14 (vgl. mit Gal 1,4; 2,20) werden einzelne christologische Aussagen aus der Paulustradition aufgenommen, und in 1Tim 6,13 wird Christus als der treue Zeuge (vgl. Apk 1,5) vor Augen gestellt, der „vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat“ (vgl. Joh 18,37). In 2Tim 1,8–11 und Tit 3,1–7 geht es noch einmal um Zentralaussagen des paulinischen Evangeliums. 4.2.3.1 2Tim 1,8–11 lehnen sich bewußt an Röm 1,16–17; 3,21–28 an und beschreiben den Gehalt des Paulus anvertrauten Evangeliums in Analogie zu Eph 2,4–9. Die Rettung der Sünder war und ist Gottes Gnadentat allein. Sie war schon vor Begründung der Welt beschlossen und ist nun durch die (erste) Erscheinung „unseres Retters Christus Jesus“ geschichtlich offenbar geworden. Gott hat durch sie den (Gerichts-)Tod zunichte gemacht und das ewige Leben mitsamt der Unsterblichkeit (vgl.1Kor 15,42.53) heraufgeführt. Prototyp der Sünder, die Erbarmen erfahren (haben), ist in unseren Briefen der Apostel selbst (vgl. 1Tim 1,16 mit 1Kor 15,9). Neu am Text ist die Rede von der (ersten) ejpifavneia des Christus, der die zweite am Ende der Tage entspricht, durch welche er die Gottesherrschaft als endzeitlicher Richter vollends durchsetzen wird (vgl. 2Tim 4,1.8; 1Tim 6,14; Tit 2,13). Die erste meint Jesu heilvolle messianische Erscheinung in der Welt (vgl. Lk 1,79), die in seinem Sühnetod und seiner Auferweckung gipfelt, die zweite die Parusie (die schon in 2Thess 2,8 als ejpifavneia dargestellt wird). jEpifavneia bezeichnet in der hellenistischen Gräzität das helfende Eingreifen einer Gottheit zugunsten ihrer Verehrer. Im hellenistischen Judentum wird das Wort zusammen mit dem Verbum ejpifaivnesqai für die rettende Präsenz und das Heilshandeln Gottes zugunsten Israels und der Juden verwendet. Dieses reicht von der Teilung des Schilfmeers und der Gegenwart Gottes in der Wolkensäule (vgl. Josephus, Ant 2,339 und 3,310) über den Erweis des göttlichen Erbarmens in der Vergebung der Sünden (vgl. 3Makk 2,19) bis hin zu besonderen Rettungstaten für bedrohte Israeliten (vgl. 3Makk 5,51; 6,9). In den Pastoralbriefen wird dieser

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hellenistisch-jüdische Wortgebrauch aufgenommen und christologisch präzisiert: Gott handelt für sein endzeitliches Eigentumsvolk (vgl. Tit 2,14) in der Person Jesu. Durch dessen erste Erscheinung wird die swthriva heraufgeführt (s. o.), und durch die zweite wird sie vollendet. Zwischen beiden liegt die Zeit der Bezeugung des Evangeliums. Auf die zweite Erscheinung schauen die auf Erden verfolgten Christen, der Apostel voran, erwartungsvoll voraus (vgl. 2Tim 4,1.8). Anders als Matthäus (vgl. Mt 24,3.27.37.39), die genuinen Paulusbriefe (vgl. 1Thess 2,19; 3,13; 4,15;5,23; 2Thess 2,1.8; 1Kor 15,23) und der Jakobus- sowie der erste Johannesbrief (vgl. Jak 5,7; 1Joh 2,28) meiden die Pastoralbriefe den Begriff parousiva. Woran dies liegt, läßt sich nicht eindeutig ausmachen.

4.2.3.2 Tit 3,3–7 erinnern im Stil der Exhomologese an die endzeitliche Rettung und ihre Zueignung in der Taufe: Einst waren die Christen ganz und gar von der Sünde und ihren Auswirkungen beherrscht (V.3). Als aber Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit (in der Sendung Jesu) in Erscheinung traten (V.4), haben sie nicht aufgrund eigener gerechter Werke, sondern aufgrund des Erbarmens Gottes Rettung erlangt. Gott hat sie ihnen in der Taufe zugeeignet, die kraft des Heiligen Geistes als „Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung“ wirksam ist (V.5). Diesen Geist hat Gott durch Jesus Christus über den Täuflingen reichlich ausgegossen (V.6), damit sie als Menschen, die von Gott (allein) aus Gnade gerechtfertigt worden sind, Erben des verheißenen ewigen Lebens würden (V.7). Der Text ist kein fixiertes Überlieferungsstück, sondern fest in die mit 3,1 beginnende Mahnrede an bereits bekehrte Christen eingebunden. Er lehnt sich inhaltlich eng an 1Kor 6,1–11 an, ohne diese Verse zu kopieren. Als treu zu bewahrendes Wort (vgl. 3,8) ruft er das für den Glaubensstand der Adressaten wesentliche Rechtfertigungsgeschehen in Erinnerung. Dessen Elemente werden in der für die Pastoralbriefe typischen Weise vor Augen geführt, die sich nicht mehr nur an den Paulusbriefen allein, sondern auch an hellenistisch-jüdischer Ausdrucksweise und urchristlichen Gesamtanschauungen orientiert: V.3 erinnert an die Beschreibung heidnischer Lasterhaftigkeit in Röm 1,18–32. Aber statt (wie in V.7) paulinisch von der Gnade zu sprechen, ist in V.4 von Gottes Güte und Menschenliebe die Rede (vgl. Ps 31, 20; Weish 1,6; Josephus, Ant 8,214; Philo, Abr 203). V.5 geht von Dt 9,5 aus, wonach Israel sein Erbe (vgl. V.7) nicht seiner eigenen Gerechtigkeit zuzuschreiben hat, und nennt die Taufe „das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung“, die durch den Heiligen Geist bewirkt wird; diese Definition berührt sich eng mit Röm 6,4; 2Kor 5,17; Kol 2,12–13; 3,10; Joh 3,5 und der Taufanschauung Justins (vgl. Apol I,61,3.10; 66,1; Dial 138,2). Die Ausgießung des Geistes durch Jesus Christus (V.6) entspricht Joh 16,7; Lk 24,49; Apg 2,33. Die Rede von der Rechtfertigung (allein) aus Gottes Gnade stimmt fast wörtlich mit Röm 3,24 überein, während von der Hoffnung auf das Erbe des ewigen Lebens (V.7) schon in frühjüdischen Texten die Rede ist (vgl. PsSal 14,10; äthHen 40,9). Insgesamt wird also die Paulustradition sorgsam bewahrt, aber so gefaßt und angereichert, daß sie als allgemeines Glaubensgut der Kirche gelten kann.

4.3 Die in den Pastoralbriefen zitierten christologischen Einzeltraditionen werden von einem großen Spannungsbogen zusammengehalten: Er setzt 24

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bei der vorzeitlichen Heilsabsicht Gottes an, die in und durch Christus ins Werk gesetzt werden soll (vgl. 2Tim 1,9–10; Tit 1,2) und führt weiter zum Kommen des Christus Jesus in die Welt (vgl. 1Tim 1,15) bzw. zu seiner (ersten) Erscheinung (ejpifavneia) auf Erden (vgl. 1Tim 3,16; 2Tim 1,10). Diese beginnt mit der Geburt des Retters aus dem Samen Davids (vgl. 2Tim 2,8) und gipfelt in Jesu gutem Bekenntnis vor Pilatus (vgl. 1Tim 6,13) und seinem freiwillig ‚für uns‘ erlittenen Sühnetod (vgl. 1Tim 2,6; Tit 2,14). Von da führt der Bogen weiter zu Aufweckung (vgl. 2Tim 2,8), Erhöhung und Verherrlichung Christi (vgl. 1Tim 3,16), der Ausgießung des Geistes durch ihn (vgl. Tit 3,6) und seinem Wirken in der Gegenwart (vgl. z. B. 2Tim 2,11–13; Tit 2,14). Endpunkt der christologischen Bewegung ist die zweite Epiphanie des Christus, bei der er Gericht halten (vgl. 1Tim 6,14; 2Tim 4,1.8.14) und seine himmlische basileiva (vgl. 2Tim 4,18) auch auf Erden durchsetzen wird (vgl. 2Tim 4,1). Die Rede von der mit der zweiten Epiphanie anbrechenden basileiva Jesu Christi in 2Tim 4,1 kann von 1Kor 15,23–28 her verstanden werden. In diesem Fall ginge sie der ewigen Herrschaft Gottes voran. Eph 5,5 und der Anschluß an die Himmelfahrtstradition in 1Tim 3,16b (vgl. ajnelhvmfqh ejn dovxh/ mit Apg 1,2.11) geben aber auch die Möglichkeit, an die dem Gottesvolk verheißene basileiva zu denken, die von Gott und Christus gemeinsam ausgeübt wird (vgl. Apk 11,15).

4.4 In den Pastoralbriefen rücken Gott und Christus denkbar eng zusammen. Man kann dies an der christologischen Erweiterung des Shema‘ in 1Tim 2,5–6 (s. o.) und an den christologischen Titeln ablesen: In Tit 2,13 wird Christus mevga" qeo;" kai; swth;r hJmw`n genannt. Das Prädikat swthvr wird sowohl Gott als auch Christus beigelegt: Nach 1Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4 ist Gott der Retter, nach 2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13 Christus. Jesus Christus ist also ‚Gott von Art‘ wie in Joh 1,1.18 und 20,28 auch. Dies hebt aber die Unterscheidung von Gott und dem von ihm gesandten Christus nicht auf. Unsere Briefe meiden zwar die Rede vom uiJo;" qeou`, und sie stellen auch Gottvater und Gottessohn nicht gegenüber. Sie machen aber deutlich, daß nur Christus Mensch geworden ist (vgl. 1Tim 2,5), vor Pilatus das gute Bekenntnis abgelegt hat (vgl. 1Tim 6,13) und (wieder) aufgenommen wurde in die himmlische Herrlichkeit (vgl. 1Tim 3,16). Ihm gegenüber ist Gott der „König der Äone“ und movno" qeov" (vgl. 1Tim 1,17), „der selige und einzige Herrscher, der König der Könige und Herr der Herren“ (vgl. 1Tim 6,15), und sein Ratschluß bestimmt auch die erste und zweite ejpifavneia Jesu (vgl. 2Tim 1,9–10; 1Tim 3,16b und 6,15). Die Pastoralbriefe gehen in ihrer Lehre von Christus terminologisch und inhaltlich über Paulus hinaus, fallen aber in den christologischen Inhalten nirgends hinter die großen Briefe des Apostels zurück. Paulus macht entscheidende christologische und soteriologische Aussagen öfters in Aufnahme und Auslegung vorgegebener Überlieferungsstücke 25

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(vgl. z. B. 1Kor 15,1–8 + 15,20–28; 2Kor 5,20–21; Röm 3,24–26 usw.). Auch im Kolosser- und Epheserbrief wird diese Lehrweise sichtbar (vgl. Kol 1,14–23 + 2,6–23 und Eph 2,1–10 + 2,11–18). Die Pastoralbriefe stehen in derselben Tradition, erweitern die Überlieferung und bieten sie dar als Elemente jener Lehre, die der Kirche von Paulus her anvertraut ist. Es geht ihnen nicht um Originalität, sondern um die Grundlagen des Glaubens, und diese haben sie in Gegenwehr gegen die häretische Gnosis geschichtlich dauerhaft bewahrt. 5. Fragen wir zum Beschluß unseres Paragraphen nach der Bedeutung des Glaubens im Kolosser- und Epheserbrief sowie in den Pastoralbriefen, lassen sich Übereinstimmungen mit den ihnen vorangehenden Paulusbriefen feststellen, aber auch Akzente erkennen, die ihnen gegenüber neu sind. 5.1 Zu den Übereinstimmungen gehört, daß die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus für alle fünf Briefe grundlegend ist (vgl. Kol 1,5.23; Eph 1,13; 3,6; 6,19; 2Tim 1,8–10; 4,2): Der Glaube verdankt sich dem verkündigten Wort (vgl. Kol 1,25–28; Eph 1,13; 1Tim 4,6), das auf göttliche Offenbarung und Stiftung zurückgeht (vgl. Kol 1,23; Eph 3,1–7; 1Tim 2,6; 2Tim 1,10–11); das Heil wird nicht durch Werke, sondern allein durch Glauben an Jesus Christus erlangt (vgl. Kol 1,4; Eph 1,15; 1Tim 3,13; 2Tim 3,15). Der akute Kampf um die Rechtfertigung ist für die Paulusschule im Sinne des Apostels entschieden; dementsprechend gehört die dikaivwsi" für sie fest zur Tauftradition (vgl. Tit 3,3–7 mit Eph 2,4–10). Gut paulinisch wird die pivsti" in Eph 2,8; 3,16–17 und 1Tim 1,14 als Geschenk Gottes verstanden. Die paulinische Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung begegnet auch in Kol 1,4–5, und ganz im Sinne von Gal 5,6 (vgl. auch 1Thess 3,6; Phlm 5) wird die pivsti" mit der ajgavph als ihrer Wirkungsdimension verbunden (vgl. Eph 1,15; 3,17; 1Tim 1,14; 2,15; 4,12; 6,11; 2Tim 1,13; 2,22; 3,10; Tit 2,2). Mit ihrer Rede vom Glauben stehen die Schülerbriefe also deutlich in der Paulustradition. 5.2 Neue Akzente treten hervor, wenn in Eph 4,5.13 die miva pivsti" und eJnovth" th`" pivstew" zum Kennzeichen der einen ejkklhsiva erhoben wird. Damit scheint der Glaube gemeint zu sein, der in allen Einzelgemeinden gleich ein und dasselbe (Tauf-)Bekenntnis hochhält. Die Verbindung von Glaube und Lehre tritt hier und in Kol 2,7 (vgl. mit 1,28); 2Thess 2,12.13; Tit 1,1 deutlich hervor. Angesichts der Abzweckung der Pastoralbriefe verwundert es nicht, daß sie pivsti" häufiger als Paulus selbst für den Glaubensinhalt setzen (vgl. 1Tim 3,9; 4,1.6; 5,8). Während pivsti" in den genuinen Paulusbriefen nur ganz selten mit göttlicher oder menschlicher Treue gleichgesetzt wird (vgl. Röm 3,3; Gal 5,22), verwenden die ‚Hirtenbriefe‘ das Wort regelmäßig, um auch die (Glaubens-)Treue zu bezeichnen. Sie wird nicht nur zusammen mit der Liebe genannt (s. o.), sondern auch mit 26

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dem guten Gewissen (1Tim 1,19; 3,9), der Wahrhaftigkeit (1Tim 2,7) und anderen christlichen Tugenden (vgl. 1Tim 2,15; 4,12; 6,11; 2Tim 3,10; Tit 2,2). Der Gebrauch von pivsti" für Treue gehört mit der ständigen Verwendung von pistov" = ‚treu‘ oder ‚zuverlässig‘ zusammen (vgl. z. B. 1Tim 1,12.15; 3,11 usw. und dazu M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition, 1988, 39 ff.) und ist ein Kennzeichen der für die Pastoralbriefe charakteristischen Umformulierung der Paulustradition in eine hellenistischen Adressaten leicht(er) zugängliche Sprache. Die Neuformulierung wird auch daran deutlich, daß die Pastoralbriefe zehnmal den hellenistischen Ausdruck Frömmigkeit (eujsevbeia) (vgl. 1Tim 2,2; 3,16; 4,7.8; 6,3. 5.6; 2Tim 3,5; Tit 1,1), einmal das Verbum eujsebei`n (vgl. 1Tim 5,4) und zweimal das Adverb eujsebw`" verwenden (vgl. 2Tim 3,12; Tit 2,12). Im hellenistischen Judentum meint eujsevbeia vor allem die Gottesfurcht (vgl. die LXX-Übersetzung von Jes 11,2; 33,6 [AaR]; 2Makk 3,1; 3Makk 2,32; 4Makk 5,18.31; Test Is 7,5; epArist 2,42 u. a.). Unsere Briefe knüpfen an diesen Sprachgebrauch an und bezeichnen mit eujsevbeia Glaubensstand und Glaubenshaltung der Christen. Sie betonen damit auf ihre Weise die Zusammengehörigkeit von Bekenntnis und Lebensvollzug, auf die schon Paulus großen Wert legt (vgl. nur Röm 6,1–14 + 6,15–23). Die „Wortgruppe eujseb- (war) zur Verständigung mit (ehemaligen) Heiden hervorragend geeignet“ (H. Stettler, a.a.O., 235); außer in den Pastoralbriefen begegnet sie in Apg 3,12; 17,23 und in 2Petr 1,3.6; 2,9; 3,11.

6. Schauen wir auf die Christologie (und die Anschauung vom Glauben) in der Paulusschule zurück, wird deutlich, daß die vom Apostel begründete Schultradition nirgends bewußt verlassen, vielmehr aufgenommen, fortgeführt und in eine Form gebracht worden ist, die sie zum festen Bestandteil christlicher Tradition hat werden lassen. Ein Gesamturteil über die Schülerbriefe läßt sich aber erst abgeben, wenn auch noch ihre Sicht von Kirche und Ethik vor Augen steht.

§ 25 Das Verständnis von Kirche in der Paulusschule Literatur: G. Bornkamm, Artikel: prevsbu" ktl., ThWNT VI, 651–683; R.A. Campbell, The Elders of the Jerusalem Church, JTS 44, 1993, 511–528; ders., The Elders. Seniority within earliest Christianity, 1994; H. Frhr.v. Campenhausen, Kirchliches Amt u. geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 19632; C. Colpe, Zur Leib-Christi-Vorstellung im Epheserbrief, in: Judentum – Urchristentum – Kirche, FS für J. Jeremias, hg. von W. Eltester, 19642, 172–187; N.A. Dahl, Das Volk Gottes, 19632; E. Dassmann, Hausgemeinde u. Bischofsamt, in: Vivarium, FS für Th. Klauser, JAC.E 11, 1984, 82–97; K.M. Fischer, Tendenz u. Absicht des Epheserbriefes, 1973; R. Gehring, Hausgemeinde u. Mission, Diss. theol. Tübingen 1998 (Masch.); M. Gese, Das Vermächtnis des Apostels, 1997; A.E. Harvey, Elders, JTS 25, 1974, 318–332; J. Heinz, Ekklesia, 1972; E. Käsemann, Das Formular einer ntl. Ordinationsparänese, in: ders., Exegetische Versuche u. Besinnungen I, 19706, 101–108;

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ders., Das Interpretationsproblem des Epheserbriefes, in:ders., Exeget. Versuche u. Besinnungen II, 19703, 253–261; ders., Das theologische Motiv vom Leibe Christi, in: ders., Paulinische Perspektiven, 19933, 178–210; K. Kertelge, Gemeinde u. Amt im NT, 1972; H.-J. Klauck, Hausgemeinde u. Hauskirche im frühen Christentum, 1981; G. Kretschmar, Die Ordination im frühen Christentum, FZPhTh 4/22, 1975, 35–69; H. Lichtenberger, Organisationsformen u. Ämter in den jüdischen Gemeinden im antiken Griechenland u. Italien, in: R. Jütte – A.P. Kustermann (Hg.), Jüdische Gemeinden u. Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart, 1996, 11–27; H. v. Lips, Glaube-Gemeinde-Amt, 1979; G. Lohfink, Die Normativität der Amtsvorstellungen in den Pastoralbriefen, in: ders., Studien zum NT, 1989, 345–362; E. Lohse, Die Ordination im Spätjudentum u. im NT, in: K. Kertelge (Hg.), Das kirchliche Amt im NT, 1977, 501 –523; ders., Christusherrschaft u. Kirche im Kolosserbrief, in: ders., Die Einheit d. NT (Ges. Aufs.), 1973, 262–275; ders., Die Entstehung des Bischofsamtes in der frühen Kirche, ZNW 71, 1980, 58–73; U. Luz, Unterwegs zur Einheit: Gemeinschaft der Kirche im NT, in: C. Link, U. Luz, L. Vischer, Sie aber hielten fest an d. Gemeinschaft, 1988, 43–183; H. Merklein, Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, 1973; ders., Christus u. die Kirche, 1973; ders., Studien zu Jesus u. Paulus, 1987, 319 ff.409 ff.; O. Michel, Grundfragen der Pastoralbriefe, in: Auf dem Grund der Apostel u. Propheten, Festgabe für Th. Wurm zum 80. Geburtstag, hg. von M. Loeser, 1948, 83–99; F. Mussner, Christus, das All u. die Kirche, 1955; H.-W. Park, Die Kirche als Leib Christi bei Paulus, 1992; J. Roloff, Die Kirche im NT, 1993, 222 ff.250 ff.; ders., Der erste Brief an Timotheus, 1988, 169–189; H. Schlier, Die Ordnung der Kirche nach den Pastoralbriefen, in: ders., Die Zeit der Kirche (Ges. Aufs.), 19623, 129–147; E. Schweizer, Gemeinde u. Gemeindeordnung im NT, 19622; ders., Die Kirche als Leib Christi in den paulinischen Antilegomena, in: ders., Neotestamentica, 1963, 293–316; H. Stettler, Die Christologie d. Pastoralbriefe, 1998; P. Stuhlmacher, Kirche nach dem NT, ThBeitr 26, 1995, 301–325.

Bei der Lehre von der Kirche in den Deuteropaulinen stößt man auf einen ähnlichen Befund wie bei der Christologie und dem Glaubensbegriff: Auch in ihrer Auffassung von Kirche folgen die Schüler den Vorgaben des Lehrers, formen sie aber so, daß die ejkklhsiva auch unter den schwierigen Bedingungen der nachapostolischen Zeit lebensfähig bleibt. Es ist eindrücklich zu sehen, daß sie bei dieser Weiterbildung nicht einfach pragmatisch vorgehen, sondern sich an den zweifachen Grundsatz halten: Die Kirche kann und soll in der Welt nur von Christus her existieren, und sie steht und fällt mit dem apostolischen Evangelium. 1. Für den wahrscheinlich noch zu Lebzeiten des Apostels verfaßten Kolosserbrief ist die Gemeinde das sw`ma Cristou`. Sie lebt vom Christusgeschehen und stellt inmitten der noch nicht endgültig befriedeten Welt das Modell dar für das durch Christi Opfergang befriedete und neugeschaffene All. Diese Sicht ergibt sich aus Kol 1,15–20 (s. o. S. 5 ff.) und dem Kontext, in dem der Christushymnus steht. 1.1 Nach 1,13–14.22 sind die Briefempfänger bereits der Herrschaft der Mächte entrissen und der basileiva Jesu Christi unterstellt, sie haben Ver28

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gebung ihrer Sünden erlangt und sind durch die Hingabe des Fleischesleibes Jesu in den Tod mit Gott versöhnt. Auf die koinwniva der Glaubenden beim Herrenmahl (vgl. 1Kor 10,16–17) nimmt unser Brief keinen direkten Bezug. Umso deutlicher verweist er aber auf die Taufe. In 2,12–13 versichert er den Lesern, daß sie durch den baptismov~ zusammen mit Christus begraben, auferweckt und lebendig gemacht worden seien, um nur noch ihrem neuen Herrn zu leben (vgl. Röm 6,3–4). In 3,9–11 wird die (schon in Gal 3,26–28; 1Kor 12,13 aufgenommene) Tauftradition zitiert (vgl. Bd. I3, 219.353 f.). Nach ihr haben die Adressaten mit der Taufe ihre alte vorchristliche Existenz abgelegt und „den neuen Menschen angezogen, der nach dem Bilde seines Schöpfers zur (Gottes-)Erkenntnis erneuert wird“ (to;n nevon a[nqrwpon to;n ajnakainouvmenon eij" ejpivgnwsin kat’ eijkovna tou` ktivsanto" aujtovn), „wo es nicht mehr Griechen und Juden, Beschnittene und Unbeschnittene, (ungebildete) Barbaren, Skythen, Sklaven, Freie gibt, sondern Christus alles in allen ist.“ Die eijkwvn ist nach 1,15 Christus selbst. Die Gemeinde Jesu Christi stellt sich für den Kolosserbrief dar als Gemeinschaft der Getauften. Sie sind in und durch Christus neu geworden, (nur) ihm zugeordnete und auf ihn hin wachsende Menschen. Das Präsens to;n ajnakainouvmenon in 3,10 zeigt, daß im Kolosserbrief trotz der Aoriste perietmhvqhte, suntafevnte" und sunhgevrqhte in 2,11–13 kein Taufenthusiasmus vertreten wird. Vielmehr wird die (Neu-)Schöpfung des Menschen in der Taufe gut paulinisch als ein Geschehen verstanden, das mit der Heilszueignung und geistlichen Neuorientierung beginnt, sein Ziel aber erst erreicht haben wird, wenn das nach Kol 3,3–4 noch zusammen mit Christus bei Gott verborgene neue Leben endgültig offenbar werden wird.

1.2 Der Epheserbrief sieht die Dinge ähnlich. In Eph 2,5–6 wird versichert, die Adressaten seien bereits zusammen mit Christus auferweckt und in den Himmeln zu Mitherrschern mit Christus eingesetzt. Gleichwohl werden sie in 4,20–24 aufgerufen, „den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist“, erst anzulegen und sich gegen die Anfeindungen des Teufels zu wappnen (6,10–17). Eph 5,14 zitiert einen vermutlich in die christliche Tauffeier gehörigen Weckruf (R. Deichgräber): „Erhebe dich, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, und Christus wird dir aufstrahlen“. Die Aussage hat frühjüdischen Hintergrund: In den Lobliedern von Qumran preist der von seinen Sünden erlöste Fromme inmitten der Gemeinde den einen Gott: „Ich danke Dir, Herr! Denn Du hast meine Seele aus Verderben erlöst und aus Höllenabgrund mich erhoben zu ewiger Höhe … einen verkehrten Geist hast Du gereinigt von viel Vergehen, um sich hinzustellen am Posten mit einem Heer der Heiligen und um in eine Einung [d.i. die Gemeinde, P. St.] zu treten mit einer Gemeinschaft von Himmelssöhnen … Deinen Namen zu loben in gemeinschaftlichem Jubel und Deine Wunder zu erzählen vor all Deinen Werken“ (1QH XI [= III] 19.21–23; Übersetzung von J. Maier, Die Qumran29

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Essener: Die Texte vom Toten Meer, Bd. I, 1995, 70; vgl. außerdem 1QS XI 4–17 und PsSal 16,1–5. Ganz ähnlich wird in Eph 5,14 die Bekehrung als Auferstehungsereignis und Erleuchtung (vgl. 2Kor 4,1–6) des bislang in seinen Sünden ‚toten‘ Täuflings (vgl. 2,5) beschrieben und die Gemeinde insgesamt aufgefordert: „Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lob des Herrn. Sagt Gott, dem Vater, jederzeit Dank für alles im Namen Jesu Christi, unseres Herrn!“ (5,19–20). Diese Aussagen streichen nicht durch, daß das neue Leben der Christen auch nach dem Epheserbrief erst vollendet sein wird, wenn sie das verheißene himmlische Erbe erlangt haben (vgl. 1,18; 4,4). 2. In Kol 1,18; 2,19 wird Christus das Haupt (des Leibes) der Kirche (hJ kefalh; tou` swvmato" th`" ejkklhsiva") genannt, und in Eph 1,22; 4,15; 5,23 wird dies aufgenommen. Mit der Rede vom Haupt setzen Kolosser- und Epheserbrief einen ekklesiologischen Akzent, der in den unbestritten echten Paulusbriefen noch fehlt. Seine Funktion ist deutlich: Die ejkklhsiva hat in Christus ihren alleinigen Herrn, erhält von ihm ihre Lebenskraft (vgl. Kol 2,19; Eph 4,15) und ist (nur) ihm Dank und Gehorsam schuldig. In Christus ist die göttliche Fülle leibhaft präsent (Kol 2,9), und von ihm her erfüllt sie die ejkklhsiva (Eph 1,23). Wenn Christus die kefalhv der Kirche genannt wird, erhält die ganze Lehre von der Kirche christologische Prägung: Christus ist der Herr, den Gott dem All gesetzt hat, und der neue Adam, dem die Gemeinde so eng verbunden und zugeordnet ist, daß er und die ejkklhsiva einen Leib bilden. Während diese Perspektiven für den Kolosserbrief weithin anerkannt sind, hat z. B. E. Käsemann gemeint, im Epheserbrief werde „die Christologie fast ausschließlich von der Ekklesiologie her interpretiert“ (Interpretationsproblem, 255). So deutlich die ekklesiale Akzentsetzung im Epheserbrief ist, so klar sprechen Eph 1,22–23; 2,20–22; 4,8–10.15–16; 5,32 gegen Käsemanns Sicht. Auch die Tradition, die zur Bezeichnung des Christus als kefalhv geführt hat, spricht gegen sie. Die Metapher nimmt die populäre antike Ansicht auf, daß der Kopf der oberste und führende Teil des menschlichen Leibes ist (vgl. z. B. Cornutus, Theol Graec 20; Philo, OpMund 119; TestSeb 9,4). Sie hat aber auch jüdische Wurzeln: Im Alten Testament ist vaOr bzw. kefalhv Bezeichnung für den Herrscher (vgl. Ri 11,8; Jes 7,8–9) und den (messianischen) König (vgl. Hos 2,2; Ps 18,44). Außerdem ist nach der frühjüdischen Auslegung von Gen 1,27–28; 3,16 Adam zur Herrschaft über die Schöpfung und die Frau berufen, da Eva aus Adams Rippe geschaffen wurde, also Bein von seinem Bein und Fleisch von seinem Fleisch ist und Mann und Frau in der Ehe ein Fleisch bilden (vgl. Gen 2,22–24). Auf Christus übertragen, heißt das dann, daß er als der messianische Mensch(ensohn) und neue Adam zum Herrscher über das All bestimmt ist (vgl. 1Kor 15,27; Eph 1,22 mit Ps 8,5–9); diese Herrschaft manifestiert sich prototypisch in der Kirche.

2.1 Mit der ihnen aus der hymnischen Tradition vorgegebenen Rede vom Christusleib (vgl. Kol 1,18) nehmen Kolosser- und Epheserbrief Paulustradi30

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tion auf und entfalten sie weiter: Die Gemeinde ist inmitten des Kosmos (der in der Antike als Leib vorgestellt werden konnte, vgl. E. Schweizer, ThWNT VII, 1029,9 ff.), das Modell für die neue Schöpfung (vgl. Kol 1,18.27; Eph 1,12.14; 3,10; 4,13). Sie wächst mit all ihren Gliedern von ihrem Haupt her (vgl. Kol 2,19; Eph 1,21; 4,15–16). Das heißt konkret: Heiden und Juden bilden gemeinsam den Leib Christi und das eine zum Frieden mit Gott berufene Gottesvolk (Kol 2,16–19; 3,11.15; Eph 2,11–22; 4,3–6). Wenn man übersieht, daß schon die paulinische Konzeption vom sw`ma Cristou` in 1Kor 10,16–17; 12,12–27; Röm 12,4–5 mit den frühjüdischen Adam-Spekulationen verbunden ist (vgl. Bd. 12, 357 ff.), kann man den Eindruck gewinnen, daß der paulinische Kirchengedanke im Kolosser- und Epheserbrief wesentlich verändert worden sei. Die exegetisch übliche Meinung, in Kol 1,18 werde ein ursprünglich kosmisch gedachter sw`ma-Begriff nachträglich durch die Apposition th`" ejkklhsiva" auf die Kirche gedeutet (s. o.), bestärkt diese Sicht noch. J. Roloff meint deshalb in seinem Buch „Die Kirche im NT“, in Kol 1,17–18 erscheine „die Metapher ‚Leib Christi‘ in einem gegenüber 1Kor 12,12–26 völlig veränderten Bezugsfeld, nämlich der kosmischen Leibvorstellung“ (a.a.O., 228; kursiv im Original); auch in Eph 5,32 gewinne das im Urchristentum weit verbreitete Bild von der Heilsgemeinde als der Braut des Messias (Mk 2,19 f.; 2Kor 11,2; Apk. 19,7; 21,2.9) „eine völlig neue Gewichtung. Es ist nicht mehr eschatologischer Ausblick auf die Endzeit, sondern Beschreibung gegenwärtiger Wirklichkeit. Die Kirche ist die reale Partnerin Christi; auf sie bezieht sich sein Handeln – und nicht etwa auf die einzelnen Glaubenden“ (a.a.O., 236; kursiv im Original); im Epheserbrief trete also die Kirche als besonderer Heilsbereich „zwischen Christus und die Glaubenden“, und damit werde „die Ekklesiologie zur Voraussetzung der Soteriologie“ (a.a.O., 237; kursiv im Original). Alle diese Urteile überzeichnen die Differenz zwischen Paulus und dem Kirchenbegriff seiner Schule: Schon in 1Kor 12,13 wird das sw`ma Cristou` als ein die Welt erfüllender Bereich vorgestellt, in den die Täuflinge hineingetauft werden. Die Verbindung von Christus mit (den Gliedern) der Gemeinde zu einem Leib ist bereits in Gal 3,28 sowie in 1Kor 6,13.16–17; 2Kor 11,2 von Gen 2,21–24 her gedacht. Außerdem liegt in 2Kor 11,2 nicht nur ein eschatologischer Ausblick auf die Gemeinde als Braut Christi vor, sondern Paulus schreibt von einem durch ihn bereits in Gang gesetzten Geschehen: „Ich habe euch nämlich mit einem einzigen Mann verlobt, um (euch) Christus (als) eine reine Jungfrau zuzuführen“ (Übersetzung von F. Lang, Die Briefe an die Korinther, 19942, 334). Von 2Kor 11,2 ist der von M. Gese (Vermächtnis, 208 f.) in Eph 5,25–27 aufgewiesene Brautzuführungsritus nur graduell verschieden. Er orientiert sich an Gen 2,21–23 sowie am frühjüdischen Brauchtum (vgl. Bill I, 500–517) und hat drei Glieder: Christus hat die Kirche – erstens – dadurch geschaffen bzw. begründet, daß er sich für sie in den Tod gegeben hat (vgl. V.25 mit Gen 2,21); er hat sie – zweitens – mittels der Taufe, die als Brautbad gedeutet wird, bereitet (vgl. V.26 mit Gen 2,22); er hat sie – drittens – herrlich präsentiert und sich selbst geheiligt und makellos zugeführt (vgl. V.27 mit Gen 2,23). Die Kirche wird mit dieser Schilderung nicht zur Voraussetzung für die Rettung der Glaubenden, sondern zum Medium der Bezeugung des Christus auf Erden. Auch das ist schon ein paulinischer Gedanke (vgl. 1Kor 6,1–11; 2Kor 6,14–7,1).

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2.2 Während der Kolosserbrief an die Einzelgemeinden von Kolossä und Laodicea gerichtet ist, wendet sich der Epheserbrief an die Kirche Jesu Christi insgesamt. Sie ist für ihn kosmisches Vorbild und endzeitliches Gottesvolk zugleich; auch der Gedanke der kirchlichen Einheit wird stärker betont als sonst in den Paulusbriefen üblich. 2.2.1 Nach Eph 3,10 (vgl. mit 1,20–23) soll die „vielgestaltige Weisheit Gottes“ den „Mächten und Gewalten in den Himmeln“ durch die ejkklhsiva kundgetan werden. Die Weisheit besteht darin, daß Gott Christus gemäß seiner provqesi" zum Herrn über die Schöpfung eingesetzt hat, um die von ihm gewollte Ordnung des Kosmos wieder herzustellen. Durch die Kirche soll diese neue Ordnung den Mächten „in den Himmeln“ kundgetan werden. Dies geschieht vor allem durch den Gottesdienst, den die Gemeinde feiert (vgl. Eph 5,17–20; Kol 3,16). Die Aussagen von Eph 3,10 sind verständlicherweise umstritten. Dia; th`" ejkklhsiva" ist am besten mit H. Schlier (Der Brief an die Epheser, 19582, 157) auf „das gesamte Dasein und Leben der Kirche“ zu beziehen: „Sie, die Kirche, läßt an sich und in sich und durch sich die Mächte und Gewalten die Weisheit Gottes erfahren“. R. Schnackenburg (Der Brief an die Epheser, 1982, 142) deutet die Kundgabe an die Mächte von 3,8–9 her: Die einst in Götzendienst und unzüchtigen Leidenschaften dahinlebenden Heiden (vgl. 2,12; 4,17–18; 5,5) werden ‚jetzt‘ durch das paulinische Evangelium zum Glauben an Jesus Christus berufen und auf diese Weise „dem Herrscher, der seine Macht im Luftbereich ausübt“ (2,2), entrissen. An diesem Vorgang müssen und sollen die ajrcai; kai; ejxousivai erkennen, daß Christus der wahre Herrscher des Alls ist. Der Sache noch näher kommt U. Luz (Der Brief an die Epheser, 1998, 146). Er geht davon aus, daß die Kirche für den Epheserbrief „eine kosmische Größe ist, deren Haupt, Christus, „über jeder Macht und Gewalt“ (1,21) steht und die darum auch im Luftraum den Mächten predigen kann. Das entspricht etwa 1Tim 3,16 (Christus ist den Engeln erschienen) oder 1Petr 1,12 (selbst die Engel begehren das Evangelium zu sehen)“. Die Bedeutung der Predigt für die Mächte ergibt sich, wenn man sich IgnSm 6,1 vor Augen hält. Nach Ignatius kommt auch über „die himmlischen Mächte, die Herrlichkeit der Engel und die sichtbaren wie unsichtbaren Herrscher“ das Gericht, „wenn sie nicht an das Blut Christi glauben“.

Der Bezeugung der auf die Wohlordnung der Welt bedachten Weisheit Gottes gegenüber den kosmischen Mächten entspricht die Darstellung der Herrschaft Christi durch die Gemeinde auf Erden. Die ausführliche Paraklese in 4,1–6,20 macht deutlich, was dies für die Glieder der Gemeinde heißt (s. § 26). 2.2.2 Im Epheserbrief tritt die Gleichsetzung von Kirche undGottesvolk vor allem in 2,11–22 in Erscheinung (s. o. S. 16 ff.), ohne daß der Begriff lao;" qeou` fällt. Die Heils- und Verheißungsgeschichte gipfelt in der Entstehung der ejkklhsiva aus Juden- und Heidenchristen. Diese Sicht ist älter als unser Brief, denn sie wurzelt bereits in der Tauftradition: Nach Gal 3,28 sind die 32

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getauften Gemeindeglieder nicht mehr Juden oder Griechen, sondern ein neuer Mensch in Christus (vgl. so auch 1Kor 12,13 und Kol 3,11). Dementsprechend wird auch in Eph 2 betont, daß Juden und Heiden durch Christus gemeinsam Zugang zum Vater erhalten (vgl. 2,18 mit Röm 5,1) und daß die vormals in der Gottesferne lebenden Heiden nun Vollbürger des himmlischen Gemeinwesens (politeiva) in Gestalt der Kirche geworden sind (vgl. 2, 19). Vom Fortgang der Heilsgeschichte über die Kirche hinaus ist – anders als in Röm 11 (vgl. Bd. I 3, 309) – keine Rede mehr. Das mit der Erwählung Israels und den verheißungsvollen Bundesschlüssen begonnene Heilswerk Gottes kommt vielmehr in der Sendung Christi und der Errichtung des katoikhthvrion tou` qeou` ejn pneuvmati (2,22) zum Ziel. Die Hinweise auf die noch ausstehende Erfüllung aller christlichen Hoffnung (vgl. Eph 1,18; 4,4) und die Endvollendung der Kirche (vgl. Eph 4,13) führen über diese Perspektive nicht hinaus. 2.2.3 Der Epheserbrief tritt mit Nachdruck für die Einheit (eJnovth") der Kirche ein. Der klassische Belegtext dafür ist Eph 4,1–6: „(1) Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, euer Leben würdig des Rufes zu führen, mit dem ihr gerufen wurdet, (2) mit aller Demut und Milde, mit Langmut. Ertragt einander in Liebe, (3) bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch das Band des Friedens – (4) ein Leib und ein Geist, wie ihr auch zu einer Hoffnung durch den Ruf an euch gerufen wurdet, (5) ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, (6) ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist“ (Übersetzung von R. Schnackenburg, a.a.O., 161).

Die in diesem Text beschworene Einheit der (aus vielen Einzelgemeinden bestehenden) universalen Kirche hat die aus Juden- und Heidenchristen zusammengeführte ejkklhsiva im Blick (vgl. Eph 2,11–22). Im Judentum der Zeit nach 70 n. Chr. hat sich mit dem Shema‘ (vgl. Dt 6,4) die Überzeugung verbunden: „… wir alle sind ein Volk, das einen berühmten Namen trägt, die wir von Einem (Gott) ein Gesetz empfangen haben“ (syrBar 48,24; vgl.ähnlich 85,14). Vergleicht man Eph 4,4–6 mit dieser Aussage, wirkt der Text wie ein christliches Gegenstück dazu: Die Kirche lebt als der eine Christusleib, der von dem einen Geist Christi und von der einen großen Hoffnung erfüllt ist, im kommenden Äon am himmlischen Erbe teilhaben zu dürfen (vgl. 1,18.21). Sie bekennt den einen Kuvrio" ∆Ihsou`" Cristov" (vgl. 1Kor 12,13). Ihre Glieder sind verbunden in der einen pivsti" eij" ∆Ihsou`n Cristovn, der an ihnen allen vollzogenen einen Taufe auf den Christusnamen und dem Bekenntnis zu dem einen Schöpfergott, von dem alles stammt und dem das ganze All untergeordnet ist (vgl. 1Kor 8,6). Lehre und Leben, schöpfungstheologisches, heilsgeschichtliches und christologisches Denken haben sich in Eph 4,1–6 zu einer ekklesiologischen Vision von enormer Wirkung verbunden. Mit dem Epheserbrief ist ein entscheidender Schritt zur Konsolidierung der Kirche in der Welt getan. 33

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Man kann von Eph 4,4–6 ohne weiteres fortschreiten zum Bekenntnis der aJ g iv a ej k klhsiv a im alten römischen Symbol und der Sancta Ecclesia Catholica im Symbolum Apostolicum. Bei diesem Überschritt ist nur zu bedenken, daß die Kirche nach Eph 2,21–22; 4,13.16.30 ihrer geglaubten Einheit erst entgegenwächst. Im Epheserbrief wird kein kirchlicher Triumphalismus laut, sondern der Brief will den (kleinen) christlichen Minderheitengemeinden in der Asia den Blick für die sie einigende geistliche Realität schärfen und Mut machen, bei ihrem Bekenntnis zu bleiben.

3. In den Pastoralbriefen wird der im Epheserbrief eingeschlagene Weg zur Konsolidierung der Kirche weitergegangen. Die Gemeinde wird definiert als das ‚Haus Gottes‘, und ihr wird anbefohlen, die (von Paulus her) überkommene kirchliche Lehre unversehrt zu bewahren. 3.1 Der Briefsteller muß den Standort der ejkklhsiva in der Welt neu bestimmen, weil sich für die Christen am Ausgang des 1. Jh.s neue Probleme ergeben haben. Sie müssen lernen, vor den Augen der vielen (noch) nicht an Jesus Christus glaubenden Menschen einen unanstößigen Wandel zu führen, und sie müssen in die Lage versetzt werden, der in den eigenen Reihen aufkommenden Irrlehre wirksam widerstehen zu können. Nach 1Tim 6,20 hat diese Irrlehre für sich in Anspruch genommen, „Erkenntnis“ ( gnw`si") zu bieten. Die im selben Vers erwähnten ajntiqevsei" th`" yeudonuvmou gnwvsew" haben mit den ‚Antithesen‘ Marcions (vgl. A.v. Harnack, Marcion – das Evangelium vom fremden Gott, 19603, 256 ff.) noch nichts zu tun. Sie machen aber deutlich, daß die gnw`si", welche die Häresie vertritt, im Widerspruch zu dem von Paulus gelehrten Glauben steht (vgl. auch 2Tim 4,15). Nach Tit 1,10 sind die Häretiker teilweise jüdischer Abstammung. Sie sind vom wahren Glauben abgefallen (vgl. 1Tim 4,1), ihre Gottesfurcht ist nur vorgetäuscht (vgl. 2Tim 3,5), sie geben sich ab mit jüdischen Mythen und Geboten von Menschen sowie endlosen Geschlechterreihen (vgl. 1Tim 1,4; Tit 1,14; 3,9), und sie wollen außerdem Gesetzeslehrer sein (vgl. 1Tim 1,7). Weil die Irrlehrer in die Hausgemeinen vordringen, werden ganze ‚Häuser‘ von ihnen irregeführt (vgl. Tit 1,11); bei Frauen finden sie besonderen Anklang (vgl. 2Tim 3,6). Sie verbieten die Ehe und fordern Nahrungsaskese (vgl. 1Tim 4,3). Einige behaupten sogar, die Auferstehung sei schon geschehen (vgl. 2Tim 2,18). Nimmt man diese Merkmale zusammen, zeigt sich eine aus jüdischen und christlichen Wurzeln hervorwachsende frühe Gnosis, die im 2. Jh. n. Chr. zum christlichen Gnostizismus erstarkte und eigene Schulen hervorgebracht hat (vgl. M. Hengel, Die Ursprünge der Gnosis u. das Urchristentum, in: Evangelium – Schriftauslegung – Kirche, FS für P. Stuhlmacher, hg. von J. Ådna, S.J. Hafemann u. O. Hofius, 1997, 190–223).

3.2 Gegenüber der frühen gnostischen Häresie betonen unsere Briefe, daß es nur einen Gott und einen Mittler zwischen Gott und den Menschen gibt, den Menschen(sohn) Jesus Christus. Ihn hat Gott gesandt, um allen Menschen Rettung und die Erkenntnis der heilsamen Wahrheit zu eröffnen (vgl. 1Tim 2,4–6). Diese ajlhvqeia ist Paulus offenbart worden, und die Gemeinde 34

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hat sie treu zu bewahren. In 1Tim 3,15 wird die Kirche nacheinander ‚Haus Gottes‘ (oi\ko" qeou`), ‚Kirche des lebendigen Gottes‘ (ejkklhsiva qeou` zw`nto") sowie ‚Säule und Fundament der Wahrheit‘ (stu`lo" kai; eJdraivwma th`" ajlhqeiva") genannt. Die Rede von der ejkklhsiva (tou`) qeou` geht auf die Urgemeinde von Jerusalem zurück und ist außerdem gut paulinisch (vgl. Bd. 12, 198 ff.), die beiden anderen Bezeichnungen aber sind neu. 3.2.1 Der Begriff Haus Gottes taucht auch in 1Petr 4,17 auf und hat für die Pastoralbriefe grundlegende Bedeutung. Er geht auf die alttestamentliche Bezeichnung des Tempels als Gotteshaus zurück (vgl. 2Sam 7,13 und Mk 11,17Par mit Jer 7,11) und berührt sich von daher eng mit der im Neuen Testament breit bezeugten Ansicht, daß die Gemeinde Jesu Christi der Tempel Gottes ist (vgl. 1Kor 3,16–17; 2Kor 6,16; Eph 2,20–22; 1Petr 2,5 usw.). Unser Briefsteller nimmt sie wörtlich: „Gott gilt … als ‚Hausherr‘ (despovth": 2Tim 2,21). Er hat einen ‚Hausverwalter‘ (oijkonovmo") eingesetzt (Tit 1,7), den örtlichen Gemeindeleiter. Dieser ejpivskopo" … muß wissen, ‚wie man im Hause Gottes wandeln soll‘, d. h. er muß die für die verschiedenen Gruppen und Stände der Gemeinde geltenden Regeln kennen und sie kraft seiner hausväterlichen Autorität durchsetzen“ (J. Roloff, Die Kirche im NT, 255 f.). Mit dem Gleichnis vom großen Haus (megavlh oijkiva) wird in 2Tim 2,20–21 aber auch schon angedeutet, daß die irdisch vorfindliche Kirche ein corpus permixtum (geworden) ist, in dem es reine und unreine Gefäße gibt, d. h. heilige und unheilige Hausgenossen leben. Die Aufforderung zur Reinigung in V.20 zeigt, daß die Kirche ihren unheiligen Gliedern Raum zur Umkehr gibt (vgl. 2Tim 2,25–26). Nur wenn sie nach zweimaliger Abmahnung durch den Gemeindeleiter unbußfertig bleiben, gelten sie definitiv als ‚Sektierer‘ (aiJretikai; a[nqrwpoi), die sich selbst das Urteil gesprochen haben; solche Leute sind fortan zu meiden (vgl. Tit 3,10–11 mit 1Kor 5,5 und Mt 18,15–18). Mit diesen Aussagen wird das simul peccator et iustus von der Paulusschule nicht nur erkannt, sondern es ist auch zum Impuls geworden, die Gemeindeglieder zu einem Leben in Glaubenstreue und Gerechtigkeit anzuhalten (vgl. Tit 2,11–13).

3.2.2 Die Bezeichnung der Kirche als stu`lo" kai; eJdraivwma th`" ajlhqeiva" zeigt an, daß die Gemeinde von der durch Gott in Christus offenbarten Wahrheit lebt und zu ihrer Bezeugung in der Welt da ist. Allerdings ist die Bezeichnung semantisch zweideutig. Entweder handelt es sich bei stu`lo" kai; eJdraivwma th`" ajlhqeiva" um einen durch den Genitiv ajlhqeiva" qualifizierten Doppelausdruck: Säule und Gründung (oder auch Fundament) der Wahrheit. Diese Sicht entspricht frühjüdischer Tradition: Nach mAv 1,2 ruht die Welt auf drei Säulen (vgl. 1Sam 2,8): auf der Tora, dem Kultus und der Liebestätigkeit, und nach 1QS 5,5 bildet die Gemeinde der Essener von Qumran „ein Fundament der Wahrheit für Israel“ (laer:c]yil] tm,a‘ dsæ/m). Versteht man 1Tim 3,15 von diesem Hintergrund her, ist die Kirche Säule und Fundament der Wahrheit; sie ist von der

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heilschaffenden Wahrheit des Evangeliums begründet und gibt der Welt durch ihr Wahrheitszeugnis Stabilität. – Man kann stu`lo" und eJdraivwma th`" ajlhqeiva" aber auch trennen und die Säule als hochaufragendes Zeichen der Gottesgegenwart (nach dem Vorbild von Ex 13,21–22) deuten und in der Kirche die „feste, sichere, weil durch die Wahrheit bestimmte Gründung“ sehen (vgl. J. Roloff, Die Kirche im NT, 253). – Da die Gleichsetzung der Kirche mit der Wolkensäule der Gottesgegenwart singulär wäre und 1Tim 3,15–16 zeigen will, wovon die Kirche lebt und was sie zu bezeugen hat, ist m. E. die erste Deutung vorzuziehen.

3.3 Die Bezeugung der Wahrheit erfolgt in Form der christlichen Lehre. Sie findet in den Pastoralbriefen besondere Beachtung. 3.3.1 Die beiden wichtigsten Ausdrücke für die Lehre sind paraqhvkh und hJ uJgiaivnousa didaskaliva. Paraqhvkh (vgl. 1Tim 6,20; 2Tim 1, 12.14) ist ein Rechtsbegriff und kennzeichnet die Lehre als anvertrautes, unverkürzt zu bewahrendes und weiterzugebendes Überlieferungsgut. Mit uJgiaivnousa didaskaliva (vgl. 1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1 und 1Tim 6,3; 2Tim 1,13) ist die gesunde, zum Leben verhelfende Lehre gemeint. Nach 1Tim 1,11; 6,20 und 2Tim 1,12–14; 2,2 ist die paraqhvkh mit dem paulinischen Evangelium identisch. Zu der zum Leben verhelfenden Lehre gehören für unsere Briefe aber auch „die gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus“ (vgl. 1Tim 6,3). In 1Tim 5,18 belegt das mit levgei hJ grafhv eingeführte Doppelzitat von: bou`n ajlow`nta ouj fimwvsei" (= Dt 25,4) und a[xio" oJ ejrgavth" tou` misqou` aujtou` (= Lk 10,7), daß die Worte des Herrn in unseren Briefen schon ‚Schrift‘ (grafhv) geworden sind. Dies ist ein klarer Hinweis auf schriftlich fixierte Evangelientradition (in unserem Fall auf das Lukasevangelium).

Neben dem paulinischen Evangelium und den Worten Jesu ergibt sich die gesunde Lehre aus den Heiligen Schriften (d. h. dem christlich so genannten Alten Testament). Sie „machen weise zum Heil durch den Glauben in Christus Jesus“ und dienen der Belehrung der Gemeinde (2Tim 3,15–16, vgl. mit Röm 15,4). In 2Tim 3,15–16 wird Timotheus gemahnt: „(15) … du kennst von Kindheit an die heiligen Schriften (ta; iJera; gravmmata), welche die Kraft haben, dich weise zu machen zum Heil durch den Glauben in Christus Jesus. (16) Jede von Gott eingegebene Schrift (pa`sa grafh; qeovpneusto") ist auch nützlich zur Belehrung (didaskaliva), zur Zurechtweisung (e[legmo"), zur Besserung (ejpanovrqwsi") und zur Erziehung ( paideiva) in der Gerechtigkeit …“ (Übersetzung von H. Merkel, Die Pastoralbriefe, 1991, 73). Das Verständnis von pa`sa grafh; qeovpneusto" ist umstritten. Pa`sa grafhv heißt zwar „jede beliebige Schrift“, in Fortführung von ta; iJera; gravmmata aus V.15 sind aber wahrscheinlich nicht verschiedene Schriften oder Schriftstellen gemeint, sondern „the whole of scripture“ (C.F.D. Moule, An Idiom Book of New Testament Greek, 1963, 65) bzw. „all (scripture) as such“ (M. Zerwick – A. Grosvenor, A Grammatical Analysis of the Greek New Testament, 1981, 644). Wie H. Merkel

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(a.a.O., 76) betont, ist das Adjektiv qeovpneusto" attributiv und nicht prädikativ aufzufassen. Der Briefsteller will und muß nicht erst die Inspiration der Schrift herausstellen, sondern er setzt sie voraus und betont den Nutzen des Gebrauchs der heiligen Schriften in der Kirche: Sie machen weise im Glauben und sollen deshalb zur Belehrung, Zurechtweisung, Besserung und Erziehung der Gemeinde in der Gerechtigkeit eingesetzt werden. Die vierfache Gliederung läßt erkennen, wie differenziert die Schriftauslegung z. Z. unserer Briefe gewesen ist.

3.3.2 Die Pastoralbriefe betonen, daß die kirchlich tragende Lehre dem Apostel Paulus durch den erhöhten Christus offenbart worden ist. Er hat sie an Timotheus (und Titus) weitergegeben, und durch sie soll sie den Leitern der Gemeinde(n) weitergereicht werden. Bei dieser Darstellung bauen die Briefe auf Eph 3,5–7.8–12; 4,11–15 auf. Nach Ansicht der drei Briefe ist der Apostel von Christus zum Verkündiger und Lehrer des Evangeliums eingesetzt worden (vgl. 1Tim 1,12; 2,7; 2Tim 1,11; Tit 1,3). Paulus hat dann Timotheus im Beisein von Zeugen das göttliche cavrisma, d. h. die Bevollmächtigung zur Lehre, weitergegeben. Dies geschah unter Handauflegung nicht nur des Apostels allein, sondern auch des Presbyteriums (vgl. 1Tim 4,14 mit 2Tim 1,6; 2,2). Nun wird Timotheus aufgefordert, diese Art von Handauflegung nicht vorschnell zu vollziehen (vgl. 1Tim 5,22), sondern nur bewährte und zur Lehre befähigte Männer mit der Lehre zu betrauen (vgl. 2Tim 2,2). Dabei geht es vor allem um die Vorsteher der Gemeinden (vgl. Tit 1,9 mit 1Tim 3,1–2; 5,17). Um Kontinuität und Integrität der Lehre zu gewährleisten, wird in den Pastoralbriefen die Ordination von Presbytern (Episkopen) propagiert, die zum Lehren befähigt sind. Die ejpivqesi" tw`n ceirw`n, von der die Rede ist, stellt einen institutionellen kirchlichen Akt dar, durch den die Ordinanden das cavrisma, d. h. „die durch den Heiligen Geist gewirkte Gabe, die zur Ausübung des gemeindlichen Leitungsamtes befähigt“, empfangen (J. Roloff, Die Kirche im NT, 265). Die Gleichsetzung der Handauflegung mit der Ordination ist historisch unabhängig von der literarkritischen Frage, ob in 1Tim 6,11–16 ein traditionelles Formular einer ‚Ordinationsverpflichtung‘ zu sehen ist, wie E. Käsemann (Formular, 107) gemeint hat, oder eine erst vom Briefsteller selbst formulierte „Ermahnung an den Amtsträger …, wie es deren in den Past(oralbriefen) mehrere gibt“ (H. Stettler, Die Christologie d. Pastoralbriefe, 117); die Autorin hat die literarischen Befunde auf ihrer Seite. – Vorbild für den von unseren Briefen bezeugten Ordinationsakt ist aller Wahrscheinlichkeit nach die nach dem Muster von Num 27,15–23; Dt 34,9 vollzogene Semikah (hk;ymis] = Handauflegung) gewesen, die Ende des 1. Jh.s n. Chr. im Frühjudentum üblich wurde: Nach Abschluß ihrer Ausbildung wurden ausgewählte Rabbinenschüler unter Mitwirkung zweier Assistenten von ihrem Lehrer durch Handauflegung ordiniert. Sie wurden dadurch in die Kette derer eingereiht, die befähigt waren, die von göttlicher Weisheit erfüllte Lehrtradition weiterzuführen, die von Mose am Sinai begründet worden war.

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3.3.3 Nach Tit 1,5–9 soll Titus gemäß paulinischem Auftrag in den einzelnen Städten (von Kreta) Presbyter und Episkopen einsetzen, damit sie den Gemeinden vorstehen und die (gesunde) Lehre vertreten. Diese Darstellung hat ihr Vorbild im Vorgehen des Paulus selbst, wie es Lukas in Apg 14,23 (vgl. mit 20,27–28) schildert. Die Weisung an Titus entspricht also dem Vorgehen des Lehrers. Nimmt man diese Beobachtung mit den Befunden zur Ordination zusammen, zeigt sich, daß unsere Briefe genauso wie Eph 4,11–12 und 1Clem 42,1–4 die altkirchliche Ansicht von der göttlichen Stiftung des kirchlichen Leitungs- und Lehramts sowie der apostolischen Sukzession vertreten. 4. Die eben getroffene Feststellung führt uns weiter zum Verständnis der kirchlichen Ämter in den Briefen der Paulusschule. Auch dabei ist ein deutlicher Unterschied zu den frühen Briefen des Apostels festzustellen. 1Thess 5,12–13; 1Kor 12,4–11.27–31; Röm 12,3–8 und Phil 1,1 belegen zwar, daß es in den paulinischen Gemeinden von Anfang an spezifische Dienste (diakonivai) gegeben hat, unter denen die der Verkündigung und Lehre dienenden Ämter besondere Bedeutung hatten (vgl. Gal 6,6; 1Kor 12,28; Röm 12,6–7). Aber Paulus hat noch nicht auf eine einheitliche Gemeindeverfassung gedrängt, sondern den Gemeinden die Freiheit gelassen, ihr Leben als charismatische Gemeinschaften zu führen. Aus der Erwähnung von Episkopen und Diakonen in Phil 1,1 geht nur hervor, daß es in den einzelnen Hausgemeinden Gemeindevorsteher (ejpivskopoi) und Diakone (diavkonoi) gegeben hat, die für die Mahlfeiern zuständig waren. Im Epheserbrief werden die für das Gemeindeleben konstitutiven Leitungsämter in die apostolische Sukzession gestellt. Die Pastoralbriefe gehen noch einen Schritt weiter. Sie legen Timotheus und Titus ans Herz, für eine feste Gemeindeordnung zu sorgen. 4.1 In 4,7–16 nimmt der Epheserbrief die Charismenlehre des Apostels auf (vgl. Bd. I3, 355.360 ff.). In Weiterführung von 1Kor 12,28 wird vor allem das Amt von Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern auf die Stiftung Christi zurückgeführt. Warum gerade diese fünf Ämter genannt werden, ergibt sich aus dem Zitat von Ps 68,19 (67,19LXX) in 4,8. Wie oben schon erwähnt (s. S. 15), bezieht der Briefsteller das Psalmwort auf Jesu Erden- und Himmelfahrt. Durch sie hat er ‚Gaben‘ ( dovmata) für die Menschen erworben und sie ihnen ausgeteilt. Statt aber mit der LXX zu sagen: e[labe" dovmata ejn ajnqrwvpw/ (= „du nahmst Gaben in Empfang unter Menschen“), schreibt unser Autor: e[dwken dovmata toi`" ajnqrwvpoi" (= „er hat den Menschen Gaben gegeben“) und kehrt damit den ursprünglichen Textsinn um. Diese Umkehrung erfolgt nicht einfach willkürlich, sondern taucht auch in der altrabbinischen Literatur und im Psalmentargum auf. Hier wird Ps 68,19 auf den Aufstieg des Mose zu Gott bezogen, und die von ihm an die Menschen ausgeteilten Gaben sind die Worte der Tora (vgl. F.F. Bruce, The Epistles to the Colossians, to

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Philemon, and to the Ephesians, 1984, 342, und Bill III, 596 f.). Der Autor des Epheserbriefes denkt ähnlich, deutet aber Ps 68,19 auf Christus und versteht die Austeilung der Gaben von Ps 68,12 her, wo es heißt: kuvrio" dwvsei rJh`ma toi`" eujaggelizomevnoi" dunavmei pollh`/. Die in 4,11 genannten Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer sind für ihn die eujaggelizovmenoi, denen der erhöhte Christus das heilschaffende Wort (rJh`ma) zur Verkündigung übergeben hat. Diese Sicht entspricht Röm 10,14–17 (vgl. Bd. 12, 315) und weist den Verfasser als Schüler des Paulus aus. Er hat das paulinische Verständnis des Apostelamts auf alle die Amtsträger ausgedehnt, die in die Fußtapfen der (inzwischen verstorbenen) ‚heiligen Apostel‘ (3,5) getreten sind.

Während unter den Aposteln von 1Kor 15,7–8; Röm 10,14–17 und Eph 3,5 her die durch Christus selbst berufenen Verkündiger der ajkoh; Cristou` zu verstehen sind, war die Aufgabe der Propheten die geistgewirkte paravklhsi", d. h. die Ermahnung, Tröstung und Erbauung der Gemeinde (vgl. Eph 3,5 mit 1Thess 5,20–21 und 1Kor 14,4. 29–31). Für den Briefsteller gehören „die heiligen Apostel und Propheten“ wahrscheinlich schon der Vergangenheit an. In den (von den anerkannt echten Paulusbriefen noch nicht genannten) Hirten hat man wahrscheinlich die Leiter der (Haus-)Gemeinden zu sehen. Nach Apg 20,28 gehörte zu diesem Leitungsamt „auch die Bewahrung der Gemeinde in der rechten Lehre“ (U. Luz, Der Brief an die Epheser, 157). Der Dienst der (in früheren Briefen des Apostels ebenfalls fehlenden) Evangelisten lag in der Ausbreitung des Evangeliums (vgl. Apg 21,8; 2Tim 4,5), während die Lehrer (vgl. 1Kor 12,28; Röm 12,7; Apg 13, 1; Hebr 5,12) mit dem Gemeindeunterricht betraut gewesen sind. Der Vergleich von Eph 4,11–12 mit 1Tim 6,3; Lk 1,4 legt nahe, diesen Unterricht auch auf die Einprägung und Weitergabe der Worte des Herrn (in Gestalt von Evangelientraditionen) zu beziehen. H. Merklein hat darauf hingewiesen, daß im Epheserbrief „erstmalig innerhalb des p(au)l(inischen) Schrifttums, ja wahrscheinlich innerhalb des NT überhaupt, der Punkt erreicht ist, wo das Phänomen ‚kirchliches Amt‘ klar und eindeutig erkennbar theologisch reflektiert wird“ (Das kirchliche Amt nach dem Epheserbrief, 224; kursiv im Original). In der Tat wird durch unseren Brief ein entscheidender Schritt zur dauerhaften Institutionalisierung der (Lehre der) Kirche in der Welt getan.

4.2 Die Pastoralbriefe zeigen, daß die Paulusschule auf dem vom Epheserbrief gewiesenen Weg noch weitergegangen ist. Den Briefen liegt an einer für alle gültigen Gemeindeordnung. Die Gemeinden sollen von Presbytern geleitet werden. Aus dem Rat der Ältesten soll jeweils einer aufrücken, „der in besonderem Maße Verantwortung für Verkündigung und Gemeindeleitung übernimmt und sich so als Episkope qualifiziert (1Tim 5,17). Die unausgesprochene Voraussetzung ist dabei, daß es in jeder Gesamtgemeinde nur einen Episkopen als verantwortlichen Leiter geben soll“ (J. Roloff, Die Kirche im NT, 262; kursiv im Original). Für das Presbyter- und Episkopenamt kommen nur Männer in Frage, die sich bereits als Hausvorstände be39

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währt haben (vgl. Tit 1,6; 1Tim 3,2–6), weil man ihnen von da aus zutrauen kann, auch im ‚Hause Gottes‘ gute Haushalter (oijkonovmoi) zu werden (vgl. Tit 1,7 mit 1Tim 3,15). Wenn sie sich um das Episkopenamt bewerben, gewählt werden und bewähren, sollen die ejpivskopoi aus Mitteln der Gemeinde besoldet werden (vgl. 1Tim 3,1 mit 5,17–18). Den (Presbytern und) Episkopen sollen Männer und Frauen als Diakone sowie ältere Witwen zur Seite stehen, die ebenfalls familiäre Erfahrung und guten bürgerlichen Leumund besitzen (vgl. 1Tim 3,8–13; 5,9–10). Die Gemeindeordnung in den Pastoralbriefen orientiert sich an der antiken Oikonomik (d. h. der Lehre vom Hauswesen, vgl. § 26) und spiegelt langjährige Erfahrung mit der Bildung und Leitung von urchristlichen Hausgemeinden (vgl. 1Kor 16,19 und Phlm 2; Röm 16,5; 2Tim 4,19). Am Ende des 1. Jh.s tendiert diese Ordnung schon in Richtung auf den monarchischen Episkopat, wie ihn dann die um 120 n. Chr. verfaßten Ignatiusbriefe bezeugen (vgl. z. B. IgnEph 5,3; 6,1; Magn 2,1; 3,1–2; Trall 2,1–2). Sofern und solange das den einzelnen Hausgemeinden gegenüberstehende Leitungs- und Lehramt des Bischofs dem Dienst am Evangelium in der Weise verpflichtet bleibt, die in 2Tim 1,12–14; 2,1–13; Tit 1,9 vorgesehen ist, verstößt es nicht gegen die Paulustradition, sondern hilft dazu, die paraqhvkh unversehrt zu bewahren. Auf welche Weise die presbyteriale Gemeindeordnung in die von Paulus begründeten Gemeinden vorgedrungen ist, kann man nur vermuten. In den unbestritten echten Paulusbriefen werden noch keine Presbyter, sondern nur Episkopen und Diakone erwähnt (vgl. Phil 1,1); sie standen den (Haus-)Gemeinden vor und besorgten bei den Abendmahlsfeiern den Tischdienst (diakoniva) (vgl. 1Thess 5,12; Röm 12,7–8 und J. Roloff, a.a.O., 142 f.). Lukas geht davon aus, daß Paulus (und Barnabas) auf ihren Missionsreisen in jeder Gemeinde Presbyter eingesetzt haben (vgl. Apg 14,23); in Apg 20,28 werden sie mit Episkopen und Hirten der Gemeinden gleichgesetzt. Diese Angaben werden durch 1Petr 5,1–4 bestätigt. Die Bezeichnungen presbuvtero" und ejpivskopo" scheinen anfänglich austauschbar gewesen zu sein und wechseln auch in Tit 1,5–9 noch miteinander ab (ein ähnlicher Befund ergibt sich beim Vergleich von 1Clem 42,4 und 44,5). Da es in der Leitung der Urgemeinde von Jerusalem sicher Presbyter gegeben hat (vgl. Apg 11,30; 15,2–6.22–23; 16,4; 21,18), ist es gut vorstellbar, daß die presbyteriale Gemeindeordnung von der Mutterkirche in Jerusalem aus in den Missionsraum und die paulinischen Gemeinden vorgedrungen ist. Als die Pastoralbriefe verfaßt wurden, war sie in Korinth schon ebenso eingebürgert wie in Rom (vgl. 1Clem 1,3; 44,5; Herm vis II 4, 8,2–3; vis III 1, 9,8). Ob und in welchem Maße die presbyteriale Gemeindeordnung jüdisch-synagogalem Vorbild entspricht, ist nicht leicht zu sagen. R.A. Campbells Forschungen zu Stellung und Funktion von Ältesten in den Synagogen haben ergeben, daß es dort weder eine Ältestenverfassung noch ein förmliches Ältestenamt, sondern nur den Ehrentitel ‚Ältester‘ gegeben hat. Außerdem hat H. Lichtenberger darauf hingewiesen, daß die Synagogen in der (westlichen) Diaspora nicht nach dem Vorbild von Familie und Haus (oi\ko"), sondern als rechtlich selbständige Vereine (collegia) organisiert waren. Beide Beobachtungen nötigen zu der Feststellung, daß die presbyteriale Ordnung

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der christlichen Gemeinden nicht einfach „nach Art und Muster der Diaspora-Synagoge“ ausgebildet wurde (G. Bornkamm, ThWNT VI, 664,7), sondern in viel höherem Maße, als bisher wahrgenommen, eine christliche Eigenbildung gewesen zu sein scheint: Die christliche Gemeinde hat es gewagt, Jesu Weisung zu folgen (vgl. Mk 3,33–35Par), in der Welt als familia dei zu leben und sich entsprechend zu organisieren.

4.3 Der institutionelle Kirchenbegriff, die presbyteriale Gemeindeordnung und das Bischofsamt haben es der von häretischer Zersetzung bedrohten Kirche ermöglicht, ihre Identität zu bewahren und eine krisenfeste Überlebensform zu finden. Diese Entwicklung hat aber auch einen hohen Preis gefordert. Er läßt sich an einem dreifachen Befund ablesen: Das für Paulus theologisch grundlegende Stichwort ‚Freiheit‘ (ejleuqeriva) wird in den Briefen seiner Schüler nicht mehr aufgenommen; der für den Apostel ebenfalls entscheidende Begriff cavrisma (vgl. Bd. I 3, 355) wird auf die ‚Amtsgnade‘ reduziert (vgl. 1Tim 4,14; 2Tim 1,6); gleichzeitig wird in 1Tim 2,11–12 (vgl. mit 1Kor 14,34–35) Frauen untersagt, in der Gemeinde öffentlich zu lehren. Diese Anordnung ist auffällig, weil sie nicht nur 1Kor 11,5.13 (und dem ursprünglichen Text von 1Kor 14 [vgl. Bd. 13, 361 f.]), sondern auch aller urchristlichen Missionserfahrung widerspricht. Nur mit Hilfe missionierender Frauen ist nämlich „die Lehre des Herrn auch in das Frauengemach (gunaikwni`ti") gelangt, ohne daß üble Nachrede entstehen konnte“ (Clemens von Alexandrien, Strom III, 53,3). 1Tim 2,11–15 reagiert offenbar auf eine konkrete, durch die Gnosis heraufbeschworene Lage, hat aber eine höchst problematische Wirkungsgeschichte ausgelöst (s. u. S. 52 f.). 5. Schaut man auf die Lehre von der Kirche in den Briefen der Paulusschule zurück, wird ein intensives Bemühen um die Konsolidierung der Gemeinden nach Maßgabe des paulinischen Evangeliums sichtbar. Dabei werden deutliche Fortschritte über Paulus hinaus erzielt. Sie liegen vor allem in der Ausbildung eines klaren Traditionsbegriffs, der Klärung des Leib-ChristiGedankens und der Schaffung fester, der Verkündigung und Lehre dienender Ämter. Um der Häresie keine Angriffsflächen zu bieten, haben die Paulusschüler aber auch die freie Entfaltung des geistlichen Lebens in der Gemeinde eingeengt und eine Amtsauffassung entwickelt, die Frauen von der Lehre ausschloß. Man kann diese Entscheidungen historisch verstehen, ohne sie deshalb zu begrüßen. Um die Möglichkeit der Korrektur von offenkundigen kirchlichen Fehlentwicklungen offenzuhalten, sind die Aussagen der Deuteropaulinen zum Thema Kirche am ganzen Corpus Paulinum zu messen.

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§ 26 Paraklese und Eschatologie in der Paulusschule Literatur: J. Ådna, Die eheliche Liebesbeziehung als Analogie zu Christi Beziehung zur Kirche, ZThK 92, 1995, 434–465; C.A. Arnold, Ephesians: Power and Magic, 1989; G. Bornkamm, Die Hoffnung im Kolosserbrief, in: ders., Geschichte u. Glaube II (Ges. Aufs. IV), 1971, 206–213; J.E. Crouch, The Origin and Intention of the Colossian Haustafel, 1972; K.M. Fischer, Tendenz u. Absicht des Epheserbriefes, 1973, 147 ff.161 ff.; R. Gehring, Hausgemeinde u. Mission, Diss.theol. Tübingen 1998 (Masch.); L. Goppelt, Die Herrschaft Christi u. die Welt, in: ders., Christologie u. Ethik (Ges. Aufs.), 1968, 102–136; ders., Der erste Petrusbrief, hg. von F. Hahn, 1978, 163 ff.; F. Hahn, Taufe u. Rechtfertigung, in: Rechtfertigung, FS für E. Käsemann, hg. von J. Friedrich, W. Pöhlmann u. P. Stuhlmacher, 1976, 95–124; E. Kamlah, uJpotavssesqai in den ntl. Haustafeln, in: Verborum Veritas, FS für G. Stählin, hg. von O. Böcher u. K. Haacker, 1970, 237–243; H.-J. Klauck, Hausgemeinde u. Hauskirche im frühen Christentum, 1981; H. v. Lips, Glaube – Gemeinde – Amt, 1979; ders., Die Haustafeln als ‚Topos‘ im Rahmen der urchristlichen Paränese, NTS 40, 1994, 261–280; E. Lohse, Christologie u. Ethik im Kolosserbrief, in: ders., Die Einheit des NT (Ges. Aufs.), 1973, 249–261; D. Lührmann, Ntl. Haustafeln u. antike Ökonomie, NTS 27, 1981, 83–97; A.J. Malherbe, Antisthenes and Odysseus, and Paul at War, HThR 76, 1983, 143–173; K.-W. Niebuhr, Gesetz u. Paränese, 1987; R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft d. NT, Bd. 2, 1988, 73 ff.; W. Schrage, Ethik d. NT, 19892, 249 ff.; S. Schulz, Evangelium u. Welt, in: NT u. christliche Existenz, FS für H. Braun, hg. von H.D. Betz u. L. Schottroff, 1973, 483–501; ders., Ntl. Ethik, 1987, 247 ff.264 ff.556 ff.; P. Stuhlmacher, Christliche Verantwortung bei Paulus u. seinen Schülern, EvTh 28, 1968, 165–186; M. Theobald, Heilige Hochzeit. Motive des Mythos im Horizont von Eph 5,21–33, in: K. Kertelge (Hg.), Metaphorik u. Mythos im NT, 1990, 220–254; U. Wagener, Die Ordnung des ‚Hauses Gottes‘, 1994; K. Weidinger, Die Haustafeln. Ein Stück urchristlicher Paränese, 1928.

Das Verständnis von Paraklese und Eschatologie in den Deuteropaulinen bestimmt sich im Grundsatz von Paulus her: Das Christusgeschehen bestimmt den Stand der Gemeinde, und die Paraklese handelt vom Leben der einzelnen Christen sowie der Gemeinde insgesamt angesichts des gegenwärtigen und kommenden Christus. Die Eschatologie nimmt allerdings neue Formen an. Während sie im Kolosser- und Epheserbrief noch gut paulinisch mit der Christologie verkoppelt ist, bildet sie in den Pastoralbriefen nur noch den Rahmen für eine weitgehend in sich selbst ruhende Paraklese. 1. Im Kolosserbrief wird der Zusammenhang von Christologie, Eschatologie und Paraklese sofort erkennbar: Der gekreuzigte und zur Rechten Gottes erhöhte Christus ist Inbegriff und Bürge der Hoffnung seiner Gemeinde. Diese ist sein Leib und soll bis zu seiner endzeitlichen Erscheinung ein ihm würdiges Zeugnisleben führen. 1.1 Gleich in 1,5 erinnert Paulus seine Adressaten an die für sie in den Himmeln bereitliegende Hoffnung, von der sie durch das Evangelium erfahren 42

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haben. Nach 1,27 ist sie in Christus verkörpert. Er ist „die Hoffnung auf die Herrlichkeit“ (vgl. Ps 71,5), weil er den Glaubenden die endzeitliche Verherrlichung und ewiges Leben verbürgt. Parallel dazu ist Christus „unser Leben“ (vgl. 3,4 mit Ps 36,10), weil die Christen hoffen dürfen, daß, „wenn Christus, unser Leben offenbar wird ( fanerwqh/`) , dann auch ihr mit ihm offenbar werdet (fanerwqhvsesqe) in Herrlichkeit“. Wann Christus erscheinen und das in 3,6 erwähnte Zorngericht Gottes hereinbrechen wird, sagt unser Brief nicht. Er gibt nur den Rat, die bis dahin noch zur Verfügung stehende Zeit „auszukaufen“ (4,5, vgl. ebenso Eph 5,16). Wichtiger als der Termin von Parusie und Endgericht ist dem Verfasser der Hinweis auf die schon gegenwärtige Erlösung: Gott hat die Glaubenden schon von der Macht der Finsternis erlöst und in die basileiva seines geliebten Sohnes versetzt (1,13), indem er durch Christi Blut Versöhnung gestiftet (1,20) und Christus in den Himmeln zu seiner Rechten auf den Thron gesetzt hat (vgl. 3,1 mit Ps 110,1); die Glieder der Gemeinde sind in der Taufe schon zusammen mit Christus begraben und auferweckt worden (vgl. 2,12–13; 3,1). Diese pointierten präsentischen Heilszusagen haben zwar in den unbestritten authentischen Briefen des Apostels Parallelen (vgl. z. B. Gal 3,26–28; 1Kor 6,11; Röm 8,29 f.), fallen aber trotzdem auf. Da in 3,3–4 von der Verborgenheit des ewigen Lebens in Christus und seiner noch bevorstehenden Enderscheinung gesprochen wird, kann man die Heilszusagen nicht einfach als Ausdruck religiösen Überschwangs werten. Ihr Ermöglichungsgrund liegt tiefer, nämlich darin, daß die Eschatologie des Paulus und seiner Schüler nicht nur zeitliche, sondern auch räumliche Dimensionen hat. Diese räumlichen Dimensionen treten überall dort in den Paulusbriefen hervor, wo von der bereits geschehenen Auferweckung Jesu (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 15,20), seiner Erhöhung (vgl. Phil 2,9) und Inthronisation zur Rechten Gottes (vgl. Röm 8,34; Eph 1,20), seinem gegenwärtigen Wirken in den Himmeln (vgl. 1Kor 15,25; 2Kor 12,9) und der himmlischen Welt insgesamt die Rede ist, die diesen noch andauernden Äon überlagert (vgl. Gal 4,26; 2Kor 12,2; Phil 3,20–21). Von ihr ist schon in Jes 6,1–8, in den Psalmen (vgl. Ps 33,14; 89,15; 97,2), bei Ezechiel (vgl. Ez 1,3–28), Hiob (vgl. Hiob 1,6–12), Sacharja (vgl. Sach 3,1–9) und Daniel (vgl. Dan 7,9–14) die Rede. Das Frühjudentum hat ganz detaillierte Vorstellungen von den Dimensionen der himmlischen Welt entwickelt (vgl. nur äthHen 6–36). Jesus hat diese Vorstellungen geteilt (vgl. Lk 10,18; 12,8–9; 22,29–30), und die Himmelswelt war in jedem Gottesdienst präsent, den Juden oder Christen in biblischer Zeit feierten (vgl. nur Ps 22,4; die Sabbatlieder 4Q400–407 und die Schilderungen der Anbetung Gottes und des Lammes in Apk 4,2–11; 5,8–14; 11,15–19; 12,10–12 usw.). Wie wir schon gesehen haben (s. o. S. 8. 13), war die von Engeln, Geistern und Mächten erfüllte unsichtbare Welt für den Kolosser- und Epheserbrief besonders wichtig (vgl. nur Kol 1,16; 2,10.15; Eph 1,20–21; 3,10; 6,12).

Weil sie in der himmlischen Welt eine Realität sahen und in ihren Gottesdiensten Psalmen, Hymnen und geisterfüllte Lieder zur Ehre Gottes und 43

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seines Christus sangen (vgl. Kol 3,16 und Eph 5,19), wußten sich Paulus und seine Schüler schon gegenwärtig vor Gott und den erhöhten Christus gestellt. Der Umstand, daß die sichtbare Welt von der unsichtbaren überlagert wird, nötigte dazu, die Ereignisse der Endzeit nicht nur im zeitlichen Schema von Gegenwart und Zukunft, sondern auch räumlich zu denken. Das Denken in Zeit-Räumen hat die Heilserwartung der Paulusschüler von Terminberechnungen des Weltendes relativ unabhängig gemacht. Die Parusieverzögerung hat deshalb ihren Glauben nicht ernsthaft in Frage gestellt. Nur Apk 6,10 und vor allem 2Petr 3,4 lassen auf Krisen in dieser Hinsicht schließen. Die Hauptzeugen des Neuen Testaments haben sich daran gehalten, daß Gott in der Sendung, dem Sühnetod und der Auferweckung Jesu Christi für das Heil der ganzen Welt bereits das Entscheidende getan hat, und sie haben darum den Termin der Parusie Gottes Sorge sein lassen. Paulus hat dieser Gewißheit in 1Thess 4,14 und Röm 8,38–39 klassisch Ausdruck verliehen, und seinen Äußerungen ist z. B. der Aufruf zur Danksagung aus Kol 1,11–20 an die Seite zu stellen. 1.2 Die Paraklese unseres Briefes richtet sich an getaufte Christen. Für sie geht es darum, dem Gewinn des Heils im Verlauf ihres irdischen Lebens gerechtzuwerden. Die Ausführungen über das noch (in den Himmeln) verborgene neue Leben der Christen in 3,1–4 zeigen, daß der Autor die aus den großen Paulusbriefen bekannte Dialektik von ‚schon‘ und ‚noch nicht‘ kennt. Das neue Sein, das die Gemeindeglieder im Mitsterben und Mitauferwecktwerden mit Christus gewonnen haben, ist für sie Gabe und Aufgabe zugleich: Weil sie in der Taufe mit Christus gestorben und auferweckt worden sind, können und sollen sie den neuen Menschen anziehen, zu dem sie in der Taufe neu erschaffen worden sind (vgl. 3,9–11 mit Gal 3,26–28). Sie sollen einander als Glieder des einen Leibes Christi in Liebe und Erbarmen beistehen und ein Leben führen, das vor den Augen der außerhalb der Gemeinde Lebenden bestehen kann (vgl. 4,5–6). 1.2.1 Einen neuen Akzent gewinnt die Paraklese des Kolosserbriefs durch die sog. Haustafel in 3,18–4,1. Diese Textform hat Geschichte gemacht, und zwar nicht nur im Neuen Testament (vgl. Eph 5,21–6,9; 1Tim 2,8–15; 6,1–2; Tit 2,1–10; 1Petr 2,13–3,7), sondern auch bei den Apostolischen Vätern (vgl. Did 4,9–11; 1Clem 21,6–9; Barn 19,5–7) und durch die ganze Kirchengeschichte hindurch bis hin zu Luthers ‚Haustafel‘ im Anhang zum Kleinen Katechismus (BSLK 523,1–527,15). Kol 3,18–4,1 lauten: „(3,18) Ihr Frauen, ordnet euch den Männern unter, wie es sich im Herrn gehört. (19) Ihr Männer, liebet die Frauen und werdet nicht bitter gegen sie. (20) Ihr Kinder, gehorcht den Eltern in allem; denn das ist gut so im Herrn. (21) Ihr Väter, reizt eure Kinder nicht auf, damit sie den (Lebens-) Mut nicht verlieren. (22) Ihr Sklaven, gehorcht in allem euren leiblichen Herren, nicht in äußerem Schein, um Menschen zu gefallen, sondern in Herzensschlichtheit den Herrn fürchtend. (23) Was immer ihr

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tut, das wirkt von Herzen für den Herrn, nicht für Menschen, (24) im Wissen darum, daß ihr vom Herrn das Entgelt des Erbes empfangen werdet. Dem Herrn Christus dienet; (25) denn wer Unrecht tut, wird erhalten, was er an Unrecht getan hat, und da gibt es kein Ansehen der Person. (4,1) Ihr Herren, gewährt euren Sklaven, was recht und billig ist, im Wissen darum, daß auch ihr einen Herrn im Himmel habt“ (Übersetzung im Anschluß an E. Schweizer, Der Brief an die Kolosser, 19893, 159). 1.2.1.1 Die Haustafel-Tradition wird in der Forschung noch immer sehr unterschiedlich beurteilt. Für L. Goppelt hat sie hohe Bedeutung: „Die Haustafel-Tradition regelt die mitmenschlichen Verhältnisse, die in der Ethik der Reformation als weltliche Stände, heute als Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen oder auch als gesellschaftliche Institutionen bezeichnet werden, nämlich das Verhältnis zwischen den Ehegatten, zwischen Eltern und Kindern, Herren und Knechten, und im 1. Petr. auch das zur Obrigkeit … Die Haustafel hat im Kol. und in Eph. 5,22–6,9 das christliche Haus, in 1.Petr.2,13–3,7 den Christen unter Nichtchristen im Auge“ (Die Herrschaft Christi u. die Welt, 127). S. Schulz dagegen hält die Tradition für das Symptom einer gefährlichen Anpassung der Urchristenheit an die bestehenden sozialen Verhältnisse: „Statt die eschatologische Botschaft von der Gottesherrschaft und Gottesgerechtigkeit kritisch in den damaligen Herrschaftsformen unter Menschen wirksam werden zu lassen, hat der Frühkatholizismus [ihm rechnet Schulz Kol, Eph, 1Petr und die Pastoralbriefe zu, P. St.] im Neuen Testament verhängnisvollerweise gerade die konträren Konsequenzen gezogen, indem er die herrschende Ordnung als gottgewollte Schöpfungsordnung religiös paraphrasierte und christlich überhöhte“ (Evangelium u. Welt, 501; ähnlich: ders., Ntl. Ethik, 567). P. Pokorny´ stellt demgegenüber mit Recht heraus, daß die Haustafeln in den Deuteropaulinen von 1Thess 4,12; Phil 4,5 her zu beurteilen seien, und er fügt hinzu: „Ohne Gemeinsamkeiten in dem Modell des sozialen Verhaltens“ war für die Urchristenheit „keine Kommunikation mit der Umwelt möglich“ (Der Brief des Paulus an die Kolosser, 1987, 150). 1.2.1.2 Das Urteil von Pokorny´ läßt sich durch einen Blick auf die Wurzeln der Haustafel-Tradition bestätigen: In Anknüpfung an Arbeiten seines Lehrers M. Dibelius hat K. Weidinger in den Haustafeln Spiegelungen der antiken Lehre von den Pflichten bestimmter Berufe und sozialer Stände sehen wollen, wie sie z. B.bei Onosander (De imperatoris officio 1,18–21), Soranus von Ephesus (Sorani Gynaeciorum liber) oder Lucian (De saltatione 81) belegt ist. Auch die Synagogen in der Diaspora haben Elemente dieser Pflichtenlehren in ihre ethische Unterweisung aufgenommen. Dies belegt z. B. das Lehrgedicht des (Pseudo-)Phokylides, das zunächst im jüdischen und später auch im christlichen Schulunterricht Verwendung fand. In ihm finden sich Mahnungen zur ehelichen Treue, Kindererziehung und Behandlung von Sklaven, die den Weisungen der Haustafeln ähneln (vgl. PsPhok 195–197. 200–209. 223–226). – Aber diese Gemeinsamkeiten erklären noch nicht die paarweise Anordnung der Weisungen in Kol 3,18–4,1 und Eph 5,22–6,9 sowie ihren apodiktischen Ton. Beidem kommt man auf die Spur, wenn man das frühjüdische Verständnis des Gebots der Elternehrung (Ex 20,12; Dt 5,16) ins Auge faßt. Nach Sir 3,1–16, Philo (Decal 165–167) und Josephus (Ap 2,206) regelt dieses Gebot das Verhältnis von Kindern und Eltern, Jung und Alt, Niedrig und Hoch schlechthin. Wie Eph 6,2 belegt, hat die Paulusschule dieses Gebot bei der Haustafelparaklese vor Augen gehabt, und ihre patriarchalische Weltsicht ergibt sich aus Eph 3,14–15. – Es ist aber noch eine

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weitere Wurzel der Tradition zu beachten. Auf sie haben D. Lührmann, U. Wagener und R. Gehring hingewiesen: Die Haustafeln fassen das Leben im antiken Hauswesen in den Blick und berühren sich deshalb mit der antiken Oikonomik, d. h. der Lehre vom Hauswesen, wie sie z. B. im 1. Buch der Politik des Aristoteles, in Xenophons Oeconomicus und bei verschiedenen Stoikern entfaltet wird. In der Oikonomik haben die Paarbildungen Frauen-Männer, Eltern-Kinder usw. ihren Ort und sind auch Anweisungen zur Unterordnung, Liebe und Furcht belegt. Die Beziehung der Haustafel-Tradition auf das Leben im Haus ist aber keine nur literarische: Für die Christen war das Haus von der Jesuszeit und den Jerusalemer Anfängen an der wichtigste Ort des sozialen Zusammenlebens, und sie bedurften deshalb von Anfang an Anweisungen, wie sie sich als Glieder einer christlichen Großfamilie (= oi\ko") zueinander verhalten sollten. In den Haustafeln spiegelt sich also elementare urchristliche Lebens- und Missionserfahrung. 1.2.1.3 Berücksichtigt man diese Zusammenhänge, kann man nicht mehr sagen, das Urchristentum habe bei der Ausbildung der Haustafel-Tradition nur die Ethik seiner ‚Umwelt‘ übernommen. Vielmehr stellt diese Tradition eine eigenständige christliche Bildung dar, die der sozialen Wirklichkeit in den antiken Häusern ebenso verpflichtet ist wie der frühjüdisch-komplexen Auslegung des Gebots der Elternehrung und dem als Liebestat verstandenen Christusgeschehen. Als christliche Bildung hat diese Lehrtradition Schule gemacht und ist im 1. Petrusbrief sowie in den Pastoralbriefen zu einer Art von Gemeindeordnung ausgeweitet worden (s. o. S. 39 ff.).

1.2.2 Kol 3,18–4,1 macht den Eindruck eines traditionellen, aber beweglichen Topos (H. v. Lips), der schon vor Abfassung des Kolosserbriefes die Unterweisung von (getauften) Christen geprägt hat, die in Häusern und Hausgemeinden zusammenwohnten. Der Topos hat Aufnahme in die Paraklese unseres Briefs gefunden, weil die Gemeinde als Leib Christi nach dem Willen des Christushauptes zu leben hat und dies nirgends deutlicher zum Ausdruck kommt als am gedeihlichen Zusammenleben von Frauen und Männern, Kindern und Eltern, Sklaven und Herren in den christlichen Großfamilien und Hausgemeinden. Die paarweise Anordnung der Weisungen für die zum Haus gehörigen Personen in 3,18–4,1 entspricht der patriarchalen Ordnung des oi\ko" und dem Tenor des Gebots von Ex 20,12; Dt 5,16: Die Frauen sollen sich ihren Männern unterordnen, die Kinder ihren Eltern und die Sklaven ihren Herren gehorchen. Da aber auch die Männer, Väter (Eltern) und irdischen Herren dem kuvrio" ’Ihsou`" Cristov" unterstehen, sollen sie mit allen, die ihnen untergeordnet sind, umgehen, wie „es gut und recht ist im Herrn“: Sie sollen ihre Frauen lieben, ihre Kinder nicht einschüchtern und ihren Sklaven geben, was recht und billig ist. Die ausführliche Ermahnung der Sklaven in 3,22–25 zeigt, daß das Verhältnis von Sklaven und Herren im christlichen Hauswesen besonderer Aufmerksamkeit bedurfte; von 1Kor 7,21–23 und dem Philemonbrief her wird das gut verständlich (vgl. Bd. I2, 387). Die Haustafel-Paraklese setzt ein Zeichen dafür, daß Christus nicht nur die Herzen, sondern auch die Leiber der Christen re46

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giert: Seine Gemeinde betet ihn nicht nur in ihren Gottesdiensten an, sondern lebt auch in ihrer sozialen Existenz nach seiner Weisung. 2. Die Befunde zur Eschatologie und Paraklese im Epheserbrief berühren sich mit dem Kolosserbrief, tragen aber auch eigenes Gepräge und haben kirchlich große Bedeutung erlangt. 2.1 Auch im Epheserbrief kann die Eschatologie nicht von der Christologie abgelöst werden. Kommenden Zeiten zum Zeichen sind die früher von fleischlichen Begierden und dem bösen Trieb beherrschten „Kinder des Zorns“ von Gott durch die Sendung Jesu in den Tod bereits errettet, zusammen mit Christus auferweckt und in den Himmeln zu Herrschern eingesetzt worden. Die Adressaten des Epheserbriefes leben ihr christliches Leben also aus der pneumatischen Gemeinschaft mit dem auferstandenen und zur Rechten Gottes erhöhten Christus heraus. Aber der „Tag der Erlösung“ (4,30) steht für sie noch aus. Sie haben noch den Kampf gegen die bösen himmlischen Geister (6,12) und die Nöte des bereits angebrochenen „bösen Tages“ (6,13, vgl. mit 1QM 1,10–12) zu bestehen. Erst wenn sie durchgestanden sind, wird die Herrschaft Gottes und seines Christus anbrechen, an der kein Götzendiener Anteil haben wird (5,5). Auch im Epheserbrief kann also von einem Heilsenthusiasmus keine Rede sein. Problematisch ist die Sicht des Epheserbriefes von der Endzeit nur an einer Stelle: Obwohl der endzeitliche Anbruch der basileiva tou` Cristou` kai; qeou` (5,5) noch aussteht und die Kirche den unsichtbaren Mächten ein Zeichen für (die Anerkennung) der Herrschaft Christi über das All geben soll (3,10), wird (anders als in Röm 11,25–32!) nirgends mehr vom Geschick Israels gesprochen. Das ist verwunderlich. Der Autor kennt die von Haß und Totschlag geprägten Auseinandersetzungen zwischen Juden und Heiden (vgl. 2,11); er spricht wiederholt von der Erfüllung der messianischen Verheißungen in und durch Christus (vgl. 1,4.13–14; 2,13–18), und er versichert in 2,12 den Heidenchristen, daß sie zwar bisher „von dem Gemeinwesen Israels (hJ politeiva tou` ∆Israhvl) und von den Bundesschlüssen der Verheißung ausgeschlossen“ gewesen seien, nunmehr aber kraft der Versöhnungstat Christi zu „Mitbürgern der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ geworden seien (2,19). Die Kirche als das neue Gottesvolk aus Juden und Heiden rückt an die Stelle Israels, und am Ende des hier eingeschlagenen Weges steht schließlich die theologisch fragwürdige Annahme, das erwählte Gottesvolk sei nicht Israel, sondern die mehrheitlich aus bekehrten Heiden bestehende Kirche.

2.2 Für die Paraklese unseres Briefs gilt nach guter paulinischer Tradition, daß das Heilsgeschehen der Verpflichtung der Gemeinde vorangeht und sie begründet (vgl. Eph 2,4–9; 4,1). Ebenso unmißverständlich wird aber hinzugefügt, daß die Christen schon von Urzeit her zum heiligen Wandel vor Gott erwählt (1,4) und durch Christus errettet worden sind, um „die guten Werke zu tun, die Gott für uns im voraus bestimmt hat“ (2,10). Die Formulierung berührt sich mit 4Esr 8,52 und stellt heraus, daß auch dem neuen 47

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Gottesvolk in Gestalt der Kirche der Wille Gottes von Urzeit an vorgezeichnet ist, um durch die Gemeinde zur Tat zu werden. Die traditionelle Forderung der Nachahmung Gottes (vgl. Lk 6,36/Mt 5,48) wird in Eph 5,1–2 aufgenommen und christologisch erweitert. Wie sich der Wandel der Gemeinde darstellen soll, wird in Eph 4,1–6,20 ausgeführt. Drei Punkte aus dieser ausführlichen Paraklese sind besonders erwähnenswert. 2.2.1 Die Haustafel-Tradition umfaßt im Epheserbrief nicht mehr nur neun Verse wie in Kol 3,18–4,1, sondern sie ist auf 22 Verse (= 5,21–6,9) angewachsen und beginnt, das Leben der Gesamtgemeinde zu bestimmen. In der Gemeinde sollen sich alle Gemeindegenossen einander in Ehrfurcht vor Christus (als Haupt und Richter der Gemeinde) unterordnen (vgl. 5,21 mit 6,8–9 und Kol 3,24; 4,1). Die Mahnung von 5,21 gibt auch der Anweisung an die Frauen, sich ihren Männern unterzuordnen wie dem Herrn (5,22–24), neuen Klang. Sie basiert zwar auf dem frühjüdischen Verständnis von Gen 1,26–27; 2,22–24; 3,16, wonach Gott zuerst Adam, den Mann, erschaffen und zur Herrschaft über die Frau und die ganze Schöpfung bestimmt hat; Paulus erschließt daraus in 1Kor 11,3.7 eine förmliche Hierarchie: Gott ist die kefalhv des Christus, Christus ist das Haupt des Mannes, der Mann ist die kefalhv der Frau, und die Frau spiegelt als erst nach Adam geschaffenes Geschöpf die Gottebenbildlichkeit des Mannes wider. Eph 5,22–24 nimmt diese Sicht auf, deutet sie aber nun von Christus her: Die Unterordnung der Frauen unter die Männer bemißt sich an dem Gehorsam, den alle Glaubenden dem Herrn schulden, und die Herrschaft der Männer über die Frauen wird an der Liebe und Lebenshingabe des Kuvrio" für die Gemeinde gemessen (vgl. 5,25.28–29). Aus der patriarchalen Forderung der Unterordnung (nur) der Frauen wird auf diese Weise die Mahnung zur gegenseitigen Unterordnung von Frauen und Männern (sowie aller Gemeindeglieder) in der (Ehr-)Furcht vor Christus. Die frühjüdisch-paulinische Deutung von Gen 1,26–27 auf Adam als Mann ist vom Urtext nicht gedeckt, und entsprechend fragwürdig sind die theologischen Folgerungen, die aus ihr gezogen worden sind und werden (s. u. S. 53). Aber das christologische Verständnis der Ehe und der gegenseitigen Beziehung aller Angehörigen des Hauses Gottes ist theologisch wegweisend, weil es den antiken Patriarchalismus umformt zum Liebespatriarchat und außerdem deutlich macht, daß die Gemeinde Jesu Christi zusammengehalten wird von der ajgavph als dem Band der Vollkommenheit (vgl. Kol 3,14 mit Eph 4,15–16).

2.2.2 In Eph 5,29–32 tritt endgültig das neue Verständnis der Ehe zutage, das Paulus und seine Schüler entwickelt haben (vgl. Bd. I3, 388): Die Ehe ist nicht nur eine von Urzeit her feststehende göttliche Schöpfungsordnung, sondern sie ist außerdem noch das irdische Spiegelbild des Verhältnisses von Christus zur Kirche als seiner Braut (s. o. S. 31). Als Mittelpunkt des christlichen Hauses erhält sie damit ganz besonderen Rang. Es ist verschiedentlich vermutet worden, daß hinter Eph 5,29–32 die antike Vorstellung von der Heiligen Hochzeit (iJero;" gavmo") stehe (vgl. die bei M. Theobald,

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Heilige Hochzeit, 221 ff.244 ff. genannten Autoren). Aber diese Betrachtungsweise ist höchst problematisch! Das Verhältnis von Mann und Frau ist schon im Alten Testament zur Abbildung des Verhältnisses von Jahwe zu Israel geworden (vgl. Hos 2,4; Jer 2,2; Ez 16 und Jes 62,4–5). H.-W. Park (Die Kirche als Leib Christi bei Paulus, 1992, 163 ff.) hat außerdem gezeigt, wie diese Sicht frühjüdisch aufgenommen und weitergeführt worden ist: In Ant 32,15; 4Esr 6,54 ff. und 7,116 ff. wird die Erschaffung Evas aus Adams Rippe mit der Erschaffung Israels bzw. der israelitischen Heilsgemeinde aus Adam gleichgesetzt. Schon Paulus hat diese Tradition auf das Verhältnis von Christus und Kirche übertragen (vgl. Bd. 12, 358), und der Epheserbrief hat sie vollends durchgeführt. In Eph 5,29–32 stehen wir also vor der christologischen und zugleich ekklesiologischen Weiterführung der frühjüdischen Deutung von Gen 2,22–24 auf die Erschaffung Israels. Der Bezug auf Gen 2,22–24 erklärt, weshalb Paulus häufig davon spricht, daß die Gemeinde (zusammen mit Christus) einen Leib bildet (vgl. Gal 3,28; 1Kor 12,12–13; 2Kor 11,2; Röm 12,4–5; Kol 3,15). Auf dem Hintergrund der frühjüdischen Auslegungstradition erscheint die Kirche in Eph 5,29–32 in der Rolle des Gottesvolkes, das schon vor dem Fall der Welt erschaffen und Christus zugeordnet worden ist. Gleichzeitig wird die Ehe von Mann und Frau christlich enorm aufgewertet: Sie spiegelt das ekklesiale Geheimnis der Beziehung von Christus und der ejkklhsiva nach Gottes in den Heiligen Schriften niedergelegtem Schöpferwillen.

2.2.3 Die Paraklese unseres Briefes schließt in 6,10–17 mit dem Topos von der geistlichen Waffenrüstung und dem Aufruf zur Fürbitte für alle Mitchristen und den gefangenen Apostel (vgl. 6,18–20). 1Thess 5,8 und 2Kor 10,3–5 lassen erkennen, daß der Topos zur paulinischen Schultradition gehört. Hinter ihm stehen Jes 59,17 und Weish 5,17–18. In Eph 6 wird er erweitert und von dem schriftkundigen Briefsteller durch Anspielungen auf Jes 11,5 und Jes 52,7 angereichert. Der Text zeigt, daß der Epheserbrief die Lage der Christen in der Welt ganz ähnlich sieht wie Paulus selbst: Christus ist bereits zum göttlichen Herrscher der Welt eingesetzt (vgl. 1,20–21), und die Glieder seiner Gemeinde haben im Geist schon Anteil an der Erlösung (vgl. 1,14; 2,19). Aber die Königsherrschaft Gottes und seines Christus (5,5) muß noch gegen den Widerstand der satanischen Mächte durchgesetzt werden (vgl. 6,12 mit 1Kor 15,24–25). Deshalb haben die Christen in der Welt noch letzte böse Tage durchzustehen (vgl. 5,16; 6,13) und sich gegen die Anschläge der überirdischen bösen Geister mit der Waffenrüstung zu wappnen, die Gott ihnen zur Verfügung stellt: mit dem Hüftgurt der Wahrheit, dem Brustpanzer der Gerechtigkeit, den Stiefeln der Bereitschaft zur Verkündigung des Evangeliums, dem Langschild des Glaubens, dem Helm des Heils und dem Schwert des Geistes in Gestalt des Wortes Gottes. „Die aufgezählten Waffen (bringen) ausnahmslos die Wirkkraft Gottes zur Darstellung“ (M. Gese, Das Vermächtnis des Apostels, 227). Die Christen können den Geisteskampf, in den sie verwickelt sind, nur in der Kraft bestehen, die Gott ihnen verleiht. Es ist sicher kein Zufall, daß das Schwert des Geistes auch die Waffe ist, mit der Christus selbst gegen die Herrscher der Finsternis kämpft (vgl. 6,17 mit Jes 11,4 und 49

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2Thess 2,8; Apk 19,15). Der Glaubens- und Zeugniskampf der Glieder des Leibes Christi auf Erden entspricht also dem himmlischen Kampf ihres Herrn gegen die Widersacher Gottes. Erst wenn diese Widersacher überwunden sind, wird der durch Jesu Tod und Auferstehung gestiftete messianische Friede das ganze All erfüllen (vgl. 2,14–16). 3. In den Pastoralbriefen wird zwar die von Paulus überkommene eschatologische Sicht der Welt weitertradiert, aber die Paraklese zeigt, daß sich andere Lebensfragen in den Vordergrund geschoben haben. 3.1 Von der akuten Naherwartung des Paulus, wie sie sich in 1Thess 4,17; Röm 13,11 u.ö. äußert, ist in den Pastoralbriefen nur noch die grundsätzliche Weisung geblieben, auf die endzeitliche Erscheinung Christi zu warten (vgl. Tit 2,13). Die Gemeinde hat ihren Standort zwischen der ersten und zweiten ejpifavneia des Christus (s. o. S. 23 f.). Mit der ersten Epiphanie Jesu auf Erden ist das Heil wirksam in Erscheinung getreten, und die zweite, die Gott zu der von ihm vorherbestimmten Zeit heraufführen wird (vgl. 1Tim 6,15), wird dieses Heil vollenden. In der Zwischen-Zeit zwischen den beiden Epiphanien darf sich die Gemeinde in der Anbetung des Erhöhten (gemäß 1Tim 3,16) immer neu der Wahrheit und Wirklichkeit ihres Glaubens versichern. Die Episkopen haben das überkommene Evangelium zu Zeit und Unzeit hochzuhalten (vgl. 1Tim 6,14–15; 2Tim 4,1–5), und die Glaubenden haben die heilsame Gnade Gottes, die ihnen zuteilgeworden ist, vor den Augen aller Menschen glaubhaft zu bezeugen, indem sie einen heiligen Lebenswandel führen (vgl. Tit 2,11–13). 3.2 Tit 3,3–8 belegt, daß unsere Briefe das Verhältnis von Hingabe Christi für die Sünder und Anspruch an die Gemeinde, von Herrschaft Christi und christlichem Gehorsam in der von Paulus her vertrauten Weise sehen. Die Paraklese unserer Briefe kommt von der Taufe her und bezieht sich auf sie zurück. 3.2.1 Inhaltlich fußt die Gemeindeermahnung der drei Briefe auf der Haustafel-Tradition, diese ist aber nun zur förmlichen Ordnung im ‚Hause Gottes‘ ausgestaltet worden. Damit wird der christliche Ansatz beim ‚Haus‘ (s. o. S. 35. 39 f.) kirchlich grundsätzlich wirksam: Die Glieder des ‚Hauses Gottes‘ (vgl. 1Tim 3,15) werden zu einem Wandel angehalten, der ihrem Stand als Hausgenossen Gottes entspricht. Generelle und aktuelle Anweisungen überschneiden sich. Die generellen lehren, wie sich Presbyter und Episkopen, Alte und Junge, Männer und Frauen, aber auch Herren und Sklaven in Gemeinde und Öffentlichkeit verhalten sollen, während sich die aktuellen auf die Auseinandersetzung mit den (gnostischen) Häretikern beziehen. Tugend- und Lasterkataloge wie 1Tim 1,9–10; 2Tim 3,2–5; Tit 3,1–3 bilden zusammen mit Tit 2,1–15 Beispiele für den ersten, die Mahnungen in 1Tim 2,11–15; 4,1–5; 6,20–21; 2Tim 3,1–17 illustrieren den zweiten Typus. 50

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Die Gemeindeglieder werden einander nicht nur in der Weise über- und untergeordnet, wie dies im antiken Hauswesen üblich war, sondern auch die Qualitäten für die Amtsträger, d. h. für Presbyter und Episkopen, Diakone und Witwen werden so bestimmt, daß die von ihnen bestimmte Gemeinde nach innen und nach außen als Musterfamilie (Gottes) erscheint. Drei Beispiele: Ein Episkop soll nach 1Tim 3,2–7 „… ohne Tadel sein, nur eines Weibes Mann, nüchtern, besonnen, maßvoll, gastfrei, zum Lehren befähigt, kein Trunkenbold und Schläger, sondern gütig, frei von Streitsucht, nicht geldgierig, seinem eigenen Hause muß er in guter Weise vorstehen, seine Kinder soll er in Zucht halten mit aller Ehrbarkeit – denn wer seinem eigenen Hause nicht vorzustehen vermag, wie soll der für die Kirche Gottes sorgen? … Er muß auch bei denen draußen guten Leumund haben, damit er nicht in üble Nachrede kommt und dadurch in die Schlinge des Satans gerät“; ganz ähnlich sollen die Diakone nach 1Tim 3,8 „respektabel sein, nicht doppelzüngig, nicht unmäßig dem Wein zugetan, nicht gewinnsüchtig“, und nach 3,12 sollen sie „nur eines Weibes Mann sein, sie sollen ihren Kindern und ihrem eigenen Hauswesen gut vorstehen“ (Übersetzung von J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 148). Gemäß 1Tim 5,3.9–10 soll eine Witwe nur dann besoldet und in die Gemeindeliste eingetragen werden, wenn sie wenigstens „… sechzig Jahre alt ist, (nur) eines Mannes Weib war, beglaubigt ist, gute Werke zu tun, wenn sie Kinder aufgezogen, Gastfreundschaft geübt, den Heiligen die Füße gewaschen, Bedrängten beigestanden hat, jedem guten Werk nachgegangen ist“ (Übersetzung a.a.O., 282).

3.2.2 Insgesamt wünschen die Briefe, daß die Christen „ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit“ (1Tim 2,2). Um dies zu gewährleisten, werden ihnen „Bitten, Gebete, Fürbitten und Danksagungen für alle Menschen, für Könige und alle in maßgeblichen Stellungen“ ans Herz gelegt (1Tim 2,1–2) und in Tit 3,1–2 angeraten, „sich den Herrschern und Machhabern unterzuordnen, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein, niemanden zu lästern, nicht streitsüchtig zu sein, sanftmütig, allen Menschen alle Freundlichkeit zu erzeigen“ (vgl. Röm 12,18; 13,1–7). Da die christlichen Haus- und Gesamtgemeinden Ende des 1. Jh.s überall in der Mittelmeerwelt noch kleine Minderheiten darstellten, werden die Christen in unseren Briefen ermahnt, ein Leben zu führen, das auf Juden und Heiden einen positiven Eindruck macht. Die Pastoralbriefe raten nicht zur Bildung weltflüchtiger Konventikel, sondern zu einem nach antiken Maßstäben vorbildlichen Lebenswandel in Familien und Hausgemeinden, welche die Öffentlichkeit nicht meiden. M. Dibelius hat in seinem berühmten Kommentar zu unseren Briefen von dem „Ideal christlicher Bürgerlichkeit“ gesprochen, „auf das die Past(oral)briefe immer wieder Bezug nehmen“, und hinzugefügt, dieses Lebensideal werde „nicht als vulgäre Ethik reproduziert, sondern mit christlichen Gedanken neu motiviert und um der Kirche willen befohlen. Die Bedeutung der Past(oralbriefe) beruht nicht zum mindesten darin, daß sie im Kanon die einzige Urkunde einer solchen christlich-bürgerlichen Lebensgestaltung darstellen“ (Die Pastoralbriefe, 19312, 24–25, kursiv im Original). Man kann diese (oft zur Abqualifizierung der Briefe benutzte) Sichtweise

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akzeptieren, wenn man sich klarmacht, daß den Christen die sozioökonomische Wirklichkeit des Lebens in Haus und Großfamilie vorgegeben war, und das bedeutet konkret: die öffentlich bestimmende Rolle des Hausherrn als pater familias, die Zuständigkeit der Frau für (Klein-)Kinder und die häusliche Wirtschaft und ein nicht beliebig abzuänderndes soziales Rollenverhalten von Eltern, Kindern und Bediensteten. Die Christen haben es gewagt, den so vorstrukturierten oi\ko" als den Ort zu begreifen, an dem sie sich in ihrem Glauben am besten bewähren konnten. Das Leben, das sie auf diese Weise geführt haben, genügt nicht nur den Maßstäben, welche durch die antike Oikonomik gesetzt waren, sondern hält auch den Vergleich mit den Schilderungen von tugendhaftem frommen Leben aus, die Philo in seiner Schrift über den Dekalog und Josephus in seiner Schrift gegen Apion (2,190–219) gegeben haben. Die christliche Bürgerlichkeit der Pastoralbriefe ist für Jahrhunderte kirchlichen Lebens in Ost und West wegweisend geworden und bis in die Gegenwart herein maßgeblich geblieben.

3.2.3 Gleichwohl verdienen unsere Briefe keine naive, sondern nur reflektierte theologische Zustimmung. Dies ist nicht nur durch den Umstand bedingt, daß die Maßstäbe der antiken Oikonomik und der festgefügten sozialen Rollen im Hauswesen in der modernen Gesellschaft fraglich geworden sind. Es liegt auch und vor allem daran, daß die Pastoralbriefe das Bewußtsein für die begrenzten Möglichkeiten der Koexistenz von christlicher Gemeinde und ungläubiger Welt, die dem Johanneskreis stets vor Augen gestanden haben, nur noch andeutungsweise wachhalten (vgl. 2Tim 3,10–13), und daß ihr Aufruf zur Pflege des christlichen Hauswesens von Anfang an erhebliche Einschränkungen der durch die Taufe begründeten Gleichheits- und Freiheitsrechte aller Glieder der Gemeinde (vgl. Gal 3,26–28) mit sich gebracht hat. 3.2.3.1 An 1Tim 2,8–15 kann man sich das zuletzt Gesagte gut verdeutlichen. Der Gesamttext bildet eine dreigliedrige Anweisung für das Verhalten der Gemeindeglieder im Gottesdienst: 2,8 ermahnt die Männer (von Mal 1,11 her) zum Gebet in heiliger Haltung und Gesinnung. 2,9–10 hält die Frauen ähnlich wie 1Petr 3,3–4 an, sich nicht durch auffällige Frisuren, Schmuck und kostbare Kleidung hervorzutun, sondern fromme Zurückhaltung und Wohltätigkeit zu pflegen. 2,11–15 schließlich verpflichtet die Frau zu stillem Lernen und verbietet ihr, öffentlich zu lehren und so Herrschaft (über den Mann) auszuüben. Der generelle Singular gunhv zeigt, daß es um eine grundsätzliche Regelung geht. Sie wird in V.13–14 doppelt begründet: Adam ist der (zur Autoritätsausübung bestimmte) Ersterschaffene und nicht die erst nach ihm erschaffene Eva. Und: Nicht Adam ist verführt worden, sondern die Frau hat sich verführen lassen und Gottes Gebot übertreten. Das erste Argument führt die paulinische Auslegung von Gen 1,27 in 1Kor 11,8–9; Eph 5, 23 fort, das zweite das Verständnis von Gen 3,4–6 aus Sir 25,24 (vgl. auch Philo, Quaest. in Gn I 43; IV 15 und Josephus, Ap 2,201). In V.15 folgt ein Zusatz, der mit dem Thema Gottesdienst gar nichts zu tun zu haben scheint: Die Frauen werden „aber gerettet werden durch das Kindergebären, wenn sie in Glaube, Liebe und Heiligung verharren in Sittsamkeit“ (Übersetzung nach J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, 126). Der seltsame Zusatz macht deutlich, welche Stoßrichtung die ganze Weisung hat: Die „fälschlich

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so genannte Gnosis“ (1Tim 6,20) fand mit ihren Lehren offenbar bei wohlhabenden und gebildeten Frauen besonderen Anklang (vgl. 1Tim 5,13; 2Tim 3,6). Zu diesen Lehren gehörte auch die Aufforderung zum Eheverzicht und zur Nahrungsaskese (vgl. 1Tim 4,3). Nach Irenäus, Haer I 24,2 haben die Gnostiker gelehrt: „Heiraten und Zeugen stammt vom Teufel. Die meisten von ihnen enthalten sich der Fleischspeisen, und durch diese scheinbare Enthaltsamkeit verführen sie viele“ (vgl. J. Roloff, a.a.O., 224 Anm. 36). 1Tim 2,11–15 scheint die öffentliche Verbreitung solcher Ansichten durch Frauen dadurch verhindern zu wollen, daß ihnen das Lehren in den gottesdienstlichen Versammlungen untersagt und Rettung auch dann verheißen wird, wenn sie sich als Hausmütter bewähren. 3.2.3.2 Der antignostische Akzent von V.15 ist beachtlich und die Absicht, die Verbreitung gnostischer Irrlehre zu verhindern, geschichtlich gut verständlich. Das generelle Lehrverbot aber ist denkbar unglücklich. Es widerspricht nicht nur den Ausführungen des Apostels in 1Kor 11,5.13, sondern seine beiden Begründungen halten auch der exegetischen Nachprüfung nicht stand: In Gen 1,27 ist nicht von Adam als Mann die Rede, sondern von dem männlich und weiblich zugleich erschaffenen Menschenwesen (LXX übersetzt das hebräische µd:a; richtig mit a[nqrwpo"), und Gen 2,24 propagiert in ganz auffälliger Weise gerade nicht die Herrschaft des Mannes über die Frau, sondern die eheliche Partnerschaft beider. Die Auslegung von Gen 3,4–6 in V.14 steht in fundamentalem Widerspruch zum paulinischen Sündenbegriff (vgl. Röm 5,12–21; 7,7–13) und widerstreitet außerdem der Tauftradition von Gal 3,26–28 sowie 1Kor 7,23. Diese Beobachtungen relativieren die biblisch-theologische Bedeutung von 1Tim 2,11–15 sehr. Die Verse haben zwar denselben Tenor wie der wahrscheinlich deuteropaulinische Nachtrag 1Kor 14,34–35 (vgl. Bd. 12, 362f.), aber das rechtfertigt die Aussagen weder hier noch dort. Wirkungsgeschichtlich haben die beiden Texte die Kirche der aktiven Teilhabe von Frauen am Lehramt beraubt und die Bedeutung verdunkelt, welche sie für die paulinische und altkirchliche Mission gehabt haben.

4. Kolosser- und Epheserbrief sowie die Pastoralbriefe belegen, daß die Paulusschule das Wagnis eingegangen ist, die Paulustradition zu bündeln, weiterzuinterpretieren und eine (Neu-)Ordnung der Kirche zu wagen, welche den Gemeinden die Möglichkeit gegeben hat, auf längere Zeit in der Welt zu existieren, ohne ihrer christlichen Identität verlustig zu gehen. Die akute Diskussion über die Rechtfertigung, die Geltung und Reichweite des Gesetzes und die Bedeutung des Glaubens tritt in den genannten Briefen in den Hintergrund, dafür schieben sich Grundfragen der Christologie, des Gemeindeaufbaus, der Bewahrung der Gemeinde vor Zersetzung durch christliche Irrlehre und des glaubwürdigen Wandels der Christen in den Vordergrund. Missionsgeschichtlich war dies alles notwendig. Deshalb wird man die Bemühungen der Paulusschule um die Kirche als ‚Haus Gottes‘ ebenso positiv würdigen wie die in unseren Briefen bezeugte Zusammenfassung und Weiterinterpretation des paulinischen Evangeliums. Über dieser Weiterinterpretation darf allerdings die Lehre der paulinischen Originalbriefe nicht aus dem Blickfeld geraten, damit die Deuteropaulinen nicht als ein Ersatz für Paulus, sondern nur als Abrundung seiner einzigartigen Lehrverkündigung erscheinen. 53

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Exkurs: Eschatologie und Apostolat im 2. Thessalonicherbrief Literatur: O. Cullmann, Der eschatologische Charakter des Missionsauftrags u. des apostolischen Selbstbewußtseins bei Paulus, in: ders., Vorträge u. Aufsätze (1925–1962), hg. von K. Fröhlich, 1966, 305–336; K.P. Donfried, The Theology of 2Thessalonians, in: ders. – I.H. Marshall, The Theology of the Shorter Pauline Letters, 1993, 81–113; A. Lindemann, Zum Abfassungszweck des Zweiten Thessalonicherbriefes, ZNW 68, 1977, 35–47; ders., Paulus im ältesten Christentum, 1979, 42 ff.; J. Munck, Paulus u. die Heilsgeschichte, 1954, 28 ff.; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus, 1994, 213 ff.; J.M. Scott, Paul and the Nations, 1995, 136 ff.; W. Trilling, Untersuchungen zum 2. Thessalonicherbrief, 1972; D. Wenham, The Rediscovery of Jesus’ Eschatological Discourse, 1984.

Auf den 2. Thessalonicherbrief gehen wir erst an dieser Stelle ein, weil die Urteile über seine Authentizität noch immer extrem schwanken und entsprechend umstritten ist, ob die in diesem Brief vertretenen Ansichten für Paulus selbst oder nur für seine Schule charakteristisch sind. 1. Der Brief will über den Ablauf der Endereignisse informieren und ruft seine Adressaten auf, sich nüchtern auf das nahegekommene, aber noch nicht erreichte Ende einzustellen. Er schließt damit thematisch eng an den 1Thess an. Das Bild, das der Brief vom Apostolat (des Paulus) entwirft, das apokalyptische Szenario, das er entfaltet, und die ihm entsprechende Paraklese lassen sich nicht gut in die Linie dessen einfügen, was Kolosser- und Epheserbrief sowie die Pastoralbriefe über Bedeutung, Gefangenschaft, Leiden und Todesbereitschaft des Paulus, über die Endereignisse und die Probleme der Kirche sagen. Im 2Thess begegnen zwar einige sonst bei Paulus nicht auftauchende Wörter und Redewendungen, insgesamt aber hat er paulinischen Sprachcharakter. Die besonderen Formulierungen erklären sich von den speziellen eschatologischen Traditionen her, auf die der Brief Bezug nimmt (s. u.), und die paulinische Ausdrucksweise insgesamt unterscheidet den Brief deutlich von dem redundanten Stil des Epheserbriefes und der speziellen Terminologie der Pastoralbriefe. Es ist darum recht fraglich, ob das Schreiben wirklich zu den Deuteropaulinen gehört. Von der Sprachgestalt her kann es sich durchaus um einen zeitlich und sachlich eng mit dem 1Thess zusammengehörigen frühen Brief handeln, den Paulus selbst diktiert hat (vgl. 2Thess 3,17). 2. Die Entscheidung über den Charakter des Briefes fällt weniger am Proömium (1,3–12) als an der Auslegung von 2,1–12. Die Hinweise auf das bevorstehende Gericht und das Ende der von den Adressaten gegenwärtig zu erleidenden Verfolgungen und Heimsuchungen (1,3–12) erklären sich, wenn der Brief an den 1Thess anknüpft (vgl. besonders 1Thess 2,12; 3,13; 4,15) und die Christen in Thessalonich erneut ihres endzeitlichen Anteils an der Gottesherrschaft versichern will, die Christus durch seine Parusie heraufführen wird. 54

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Schwieriger ist 2Thess 2,1–12 zu erklären. Hier bezieht sich der Briefsteller kritisch auf eben die Erwartung von Parusie und Jüngstem Tag, die er selbst in 1Thess 4,13–5,11 propagiert hat. Man kann im 2Thess nur dann ein Schreiben des Paulus sehen, wenn sich diese kritische Bezugnahme im Rahmen der genuin paulinischen Lehre plausibel machen läßt. Der in 2,1–12 skizzierte Ablauf der Endereignisse muß mit der Enderwartung des Apostels und seinem apokalyptischen Sendungsbewußtsein (vgl. Gal 1,15–16; 2,7–9; Röm 1,1–5; 11,13–14; 15,15–21) besser zusammenpassen als mit dem Bild vom gefangenen ‚heiligen‘ Apostel (vgl. Eph 3,5), der für seine Gemeinden gelitten (vgl. Kol 1,24; Eph 3,2.13; 2Tim 2,10) und den guten Kampf gekämpft hat, der ihn seinem nahen Ende hoffnungsvoll entgegensehen läßt (vgl. 2Tim 4,6–8). Der Text lautet: „(1) Wir bitten euch aber, Brüder, wegen der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus und unserer Versammlung bei ihm, (2) daß ihr euer Denken nicht schnell verwirren noch euch erschrecken laßt, weder durch eine(n) Geist(esäußerung) noch durch ein Wort noch durch einen Brief als von uns stammend, (die angeblich besagen) daß der Tag des Herrn da sei. (3) Daß niemand euch auf irgendeine Weise täusche! Denn (das wird nicht geschehen), wenn nicht zuerst der Abfall kommt und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart wird, der Sohn des Verderbens, (4) der widerstreitet und sich überhebt über alles, was Gott oder Heiliges heißt, so daß er sich selbst in den Tempel Gottes setzt und sich (damit) als Gott einsetzt. (5) Erinnert ihr euch nicht, daß ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war? (6) Aber jetzt kennt ihr das, was aufhält, damit er (d.i. der Mensch der Gesetzlosigkeit) geoffenbart werde, (erst) zu seiner Zeit. (7) Denn schon wirkt das Geheimnis der Gesetzlosigkeit. Nur (dauert es) noch (so lange), bis der, der aufhält, abgetreten ist. (8) Und dann wird der Gesetzlose offenbart werden, den der Herr Jesus vernichten wird durch den Hauch seines Mundes und vertilgen wird durch die Erscheinung seiner Ankunft; (9) dessen (d.i. des Gesetzlosen) Ankunft in der Kraft Satans geschieht mit aller Macht und mit trügerischen Zeichen und Wundern (10) und mit jeder Art Verführung der Ungerechtigkeit für die, welche verlorengehen, dafür daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht ergriffen haben, damit sie gerettet würden. (11) Und deshalb schickt ihnen Gott die Kraft des Irrtums, so daß sie der Lüge glauben, (12) damit alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht glaubten, sondern sich am Unrecht freuten.“ (Übersetzung in Anschluß an W. Trilling, Der zweite Brief an die Thessalonicher, 1980, 68 f.).

2.1 Wie die Kommentare zeigen, hat der Abschnitt im Verlaufe der Auslegungsgeschichte ein ganzes System von geschichtstheologischen und eschatologischen Interpretationen hervorgerufen. In deren Mittelpunkt stand und steht die Frage, wer der von Paulus angekündigte endzeitliche Widersacher Gottes ist und was oder wen man unter dem das Hervortreten dieses Widersachers noch ‚Aufhaltenden‘ (vgl. to; katevcon und oJ katevcwn in 2,6–7) zu verstehen hat. In dem Widersacher alles Göttlichen hat die christliche Tradition seit 2Joh 7; 1Joh 2,18.22; 4,3 den Antichristen (ajntivcristo") gesehen, und bei der Identifizierung von to; katevcon und oJ katevcwn haben sich die Ausleger häufig von der Schilderung des gegen den Christus Gottes 55

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aufstehenden Tieres (qhrivon) in Apk 13 leiten lassen. Wir können diesen interessanten Auslegungsfragen nur so weit nachgehen, als es der Klärung des Textes dienlich ist. 2.2 In 2,1–3 reagiert der Autor auf Anschauungen, die in der Gemeinde von Thessalonich unter Berufung auf vom Geist eingegebene Worte (von Gemeindepropheten) und angebliche schriftliche Äußerungen des Paulus vertreten werden. Nach 2,2 gipfeln sie in der Behauptung: „Der Tag des Herrn ist schon da“ (ejnevsthken hJ hJmevra tou` kurivou). Die Vertreter dieser Meinung benehmen sich „unordentlich“ (3,6), „wirtschaften herum“ (3,11) und fallen ihren Gemeindegenossen zur Last. Der Behauptung der Schwärmer und ihrem unsteten Gehabe tritt der Briefsteller noch entschiedener entgegen, als es in 1Thess 5,14 geschieht. Die Adressaten sollen sich durch die Behauptung, der Tag des Herrn sei schon da, in ihrem Denken nicht verunsichern lassen (2,3), und die Enthusiasten sollen angehalten werden, sich ihren Lebensunterhalt (nach dem Vorbild des Apostels) mit eigener Hände Arbeit zu verdienen (3,6–13). Wenn sie trotzdem bei ihrer Meinung bleiben, die der von Paulus gelehrten Glaubenstradition widerstreitet (vgl. 2,15), und auch nach Empfang des 2Thess keine Ruhe geben, soll man sich diese Leute merken und den Umgang mit ihnen (vorübergehend) abbrechen (vgl. 3,6.14). Fragt man, wie die Schwärmerei in der von Paulus begründeten Gemeinde aufkommen konnte, ist an 1Thess 4,13–5,11 und die Mahnung des Apostels zu erinnern, den Geist nicht zu löschen und die Prophetie nicht zu verachten (1Thess 5,19–20). Unter Berufung auf diese Äußerungen des Apostels (vgl. besonders 1Thess 4,17; 5,5) konnten Gemeindepropheten mit einigem Recht zu dem (johanneisch anmutenden!) Satz vorstoßen: ∆Enevsthken hJ hJmevra tou` kurivou (vgl. 2Thess 2,2 mit Joh 5,24–25). Für ihre Auffassung haben sie sich auch noch auf andere, angeblich von Paulus stammende briefliche Äußerungen des Apostels berufen. Da auch in der von Paulus begründeten Gemeinde von Korinth die Meinung aufgekommen ist, die Christen seien (im Glauben) schon auferstanden und es stehe keine leibliche Auferweckung mehr aus (vgl. 1Kor 15,12.35), ist die Entstehung der Schwärmerei in Thessalonich kein Einzelfall. Der Umstand, daß die Schwärmer als Paulinisten auftreten, erklärt die scharfe Reaktion des Briefstellers. Sie hat ihr Gegenstück in 1Kor 15,12–19 und weist voraus auf die Verurteilung von Hymenäus und Philetus, die mit ihrer (auf Kol 2,12; 3,1; Eph 2,6 gründenden?) Meinung: „Die Auferstehung ist schon geschehen“ (ajnavstasi" h[dh gevgonen) von der Glaubenswahrheit, die ‚Paulus‘ lehrt, abgewichen sind (vgl. 2Tim 2,17–18 und 1Tim 1,19–20).

2.3 In 2,3–12 wird der irrigen Meinung der Schwärmer die richtige paulinische entgegengestellt. Die Verse sind als ein ergänzender Kommentar zu den apokalyptischen Belehrungen in 1Thess 4,13–5,11 zu verstehen. 2.3.1 In 1Thess 4,15–5,11 erläutert Paulus das an ihn ergangene Auftragswort des Herrn: „Wir, die Lebenden, die wir übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, werden den (bereits) Entschlafenen nicht zuvorkommen“. Wie 56

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wir schon gesehen haben (vgl. Bd. I3, 224.300.308), lehnt sich die Erläuterung eng an die synoptische Apokalypse an, die Paulus in (einer Vor-)Form von Mt 24 bekannt gewesen zu sein scheint (D. Wenham). Geht man dieser Spur weiter nach, läßt sich der hinter 1Thess 4,15–5,11 stehende Vorgang auch für 2Thess 2,3–12 belegen. Paulus setzt hier den im 1Thess begonnenen schriftlichen Unterricht über die Endereignisse fort und rekurriert wieder auf Aussagen, wie sie sich in Mt 24,4–6.10–28 finden: Die Parusie Christi steht bevor, aber das Ende ist noch nicht gekommen (Mt 24,6). Ihm geht eine besondere Schreckenszeit voran, in der Lügenpropheten auftreten, die Verführung zum Unglauben und zur ‚Gesetzlosigkeit‘ (ajnomiva) grassieren (vgl. Mt 24,12) und zuletzt der durch den Propheten Daniel angekündigte ‚Greuel der Verwüstung‘ (to; bdevlugma th`" ejrhmwvsew", vgl. Dan 9,27; 11,31; 12,11) im Tempel Gottes Platz nehmen wird. Das Ende und die Parusie werden aber erst kommen, wenn das Evangelium von der Gottesherrschaft in der ganzen Ökumene verkündigt worden ist, und zwar „allen Völkern zum Zeugnis“ (vgl. Mt 24,14 mit Mk 13,10). Da Paulus schon in 1Thess 2,14–16; 4,16–17; 5,3 detaillierte Kenntnis apokalyptischer Traditionen verrät (vgl. außerdem 1Kor 15,23–28) und in Röm 11,13–15.25–31; 15,16 seinen apostolischen Verkündigungsauftrag von Mt 24,14 (Mk 13,10) her deutet, bilden die Belehrungen in 2Thess 2,1–2.3–12 keinen Fremdkörper in seiner Lehre. Es handelt sich nicht um erst deuteropaulinische Topoi, sondern die Verse belegen, daß der Apostel selbst ein sehr genaues Bild vom Ablauf der Endereignisse gehabt und dieses auch weitergegeben hat. 2.3.2 Einer Antwort auf die Frage, was und wer mit to; katevcon bzw. oJ katevcwn in 2,6–7 gemeint ist, sind wir damit schon nähergekommen. Ehe wir ‚den (das) Aufhaltende(n)‘ von Apk 13 her auf Rom und Nero (redivivus) als Antichrist deuten, ist zu bedenken, daß der Apostel den göttlichen Plan vor Augen hatte, die Parusie erst dann geschehen zu lassen, wenn das Christusevangelium „allen Völkern zum Zeugnis“ verkündigt und diese damit für das Weltgericht qualifiziert worden sind (Mt 24,14; Mk 13,10): Diejenigen, die das Evangelium angenommen haben, werden gerettet, und diejenigen, die es verworfen haben, werden verworfen werden (vgl. Mt 24,29–31 und Mk 13,24–27). In 2Thess 1,5–10; 2,10–12 wird genau diese Gerichtsanschauung entfaltet, und die im Corpus Paulinum nur in 2,1 auftauchende Rede von „unserer Versammlung (ejpisunagwghv) bei ihm“ deutet darauf hin, daß der Briefsteller tatsächlich (die Tradition von) Mt 24,31; Mk 13,27 vor Augen gehabt hat. Die gleichzeitig neutrische und personale Ausdrucksweise to; katevcon und oJ katevcwn in 2,6–7 bringt den Doppelaspekt des göttlichen Heilsplanes und seiner Durchführung durch (einen) Menschen zum Ausdruck. Movnon oJ katevcwn a[rti e{w" ejk mevsou gevnhtai in 2Thess 2,7 wird gern von 1Kor 5,2 her (vgl. auch Kol 2,14) auf die noch bevorstehende gewaltsame Beseitigung

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des ‚Aufhaltenden‘ gedeutet. Semantisch kann ejk mevsou givnesqai aber auch einfach bedeuten ‚vom Schauplatz abtreten, sich zurückziehen‘ (vgl. H.W. Fulford, ”Ew" ejk mevsou gevnhtai (II Thess II,7), ET 23, 1911/12, 40–41, und W. Bauer – K.u.B. Aland, Wb6, 319). Die zweite Bedeutung paßt besser zu der endzeitlichen Aufgabe, mit der sich Paulus betraut sah (s. u.). Deshalb haben wir oben auch übersetzt: „… bis der, der aufhält, abgetreten ist“.

2.3.3 Da Paulus sich von dem erhöhten Christus zum Apostel der Heiden berufen wußte und durch das Apostelkonzil in dieser besonderen Aufgabe bestätigt worden war (vgl. Gal 1,15–16; Röm 1,1–5; 15,16–21 mit Gal 2,7–9), scheint er sich selbst als den (die letzten Endereignisse noch) ‚Aufhaltenden‘ angesehen zu haben: Er muß noch das ihm aufgetragene Missionswerk unter den Heiden vollenden. Erst wenn das Evangelium allen Völkern verkündigt worden ist, können und werden die Endereignisse vollends ihren Lauf nehmen. Bis in den Römerbrief hinein war der Apostel der Meinung, daß er die Vollendung seines Werkes noch erleben werde (vgl. Röm 15,23–24). Dieses hochapokalyptische Rollenverständnis, hinter dem auch Jes 66,18–21 (vgl. mit Röm 15,15–21) zu stehen scheint, paßt sehr viel besser in die eigene Wirkenszeit des Paulus als in jene Jahre, in denen seine Schüler Gefangenschaft, Leiden und schließlich auch den Tod des Apostels vor Augen hatten. Die Erwartung des Antichristen taucht im Neuen Testament expressis verbis erst in 1Joh 2,18.22; 4,3; 2Joh 7 (vgl. auch Apk 12,18–13,10.11–18; 17,8–10) auf, aber der uiJo;" th`" ajpwleiva" von 2Thess 2,3–4 und das bdevlugma th`" ejrhmwvsew" von Mt 24,15; Mk 13,14 meinen offenkundig dieselbe Figur. Die Erwartung der gegen Gott und seinen Christus antretenden satanischen Gegenmacht geht zurück auf Daniels geheimnisvolle Schilderung des syrischen Königs Antiochus IV. Epiphanes (175–164 v. Chr.), der 167 v. Chr. den Jerusalemer Tempel durch Aufstellung eines Opferaltars für den Zeus Olympios entweiht hatte und sich auf Münzen qeo;" ejpifanhv" nennen ließ (vgl. Dan 7,24–26; 8,9–12.23–25; 11,21–39). Die Erwartung des gottlosen Tyrannen zieht sich dann von den Qumrantexten (vgl. 4Q175,23–24) über frühjüdische Apokalypsen (syrBar 39,7; 40,1–3; AssMos 8,1–5) bis in die neutestamentliche Zeit und ist zeitgeschichtlich wachgehalten worden durch den Plan des römischen Kaisers Caligula, sein eigenes Standbild im Tempel von Jerusalem aufstellen und anbeten zu lassen (vgl. Josephus, Ant 18,261 ff.). Wie 2Thess 2,8–9 belegen, hat auch Paulus das Auftreten des „Sohnes der Gesetzlosigkeit“ erwartet und in ihm gut jüdisch bzw. judenchristlich (eine Kreatur) Belial(s) gesehen (vgl. 2Kor 6,15). Die Erwartung des Antichristen findet sich später auch in christlich überarbeiteten apokalyptischen Schriften wie der Eliaapokalypse 3,1–13 und der Himmelfahrt Jesajas 4,1–18.

2.4 Es geht Paulus in 2Thess 2,1–12 nicht um Aufhebung, sondern um Klärung der apokalyptischen Naherwartung, in der er selbst gelebt hat. Diese Erwartung ist ganz von seinem apostolischen Sendungsauftrag bestimmt und verlangt der Gemeinde Glaubensgehorsam, Leidensbereitschaft, Nüchternheit und Vertrauen auf die Hoffnung ab, die Gott in und durch Christus tröstlich begründet hat (vgl. 1Thess 5,9; 2Thess 2,13–16). Interpre58

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tiert man 2Thess 2,1–12 wie geschehen, kann man den 2Thess als genuin paulinisch ansehen und auf die ganz unsichere Annahme verzichten, daß ein unbekannter Paulusschüler mit Hilfe des 2Thess Anschauungen bekämpfen wollte, die von Irrlehrern aus dem 1Thess herausgelesen und aufgrund gefälschter Paulusbriefe (vgl. 2Thess 2,2) verbreitet worden seien.

§ 27 Der Jakobusbrief Literatur: K. Aland, Der Herrenbruder Jakobus u. der Jakobusbrief, in: ders., Neutestamentliche Entwürfe, 1979, 233–245; E. Baasland, Der Jakobusbrief als ntl. Weisheitsschrift, StTh 36, 1982, 119–139; M. Bockmuehl, The Noachide Commandments and New Testament Ethics, RB 102, 1995, 72–101; G. Eichholz, Jakobus u. Paulus, 1953; ders., Glaube u.Werk bei Paulus u. Jakobus, 1961; M. Hengel, Eigentum u. Reichtum in der frühen Kirche, 1973; ders., Jakobus der Herrenbruder – der erste ‚Papst‘? in: Glaube u. Eschatologie, FS für W.G. Kümmel, hg. von E. Gräßer u. O. Merk, 1985, 71–104; ders., Der Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: Tradition and Interpretation in the NT. Essays in Honor of E.E. Ellis, ed. G.F. Hawthorne with O. Betz, 1987, 248–278; J. Jeremias, Paul and James, ET 66, 1954/55, 368–371; G. Kittel, Der geschichtliche Ort des Jakobusbriefes, ZNW 41, 1942, 71–105; ders., Der Jakobusbrief u. die Apostolischen Väter, ZNW 43, 1950/51, 54–122; M. Lautenschlager, Der Gegenstand des Glaubens im Jakobusbrief, ZThK 87, 1990, 163–184; A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum, 1979, 240 ff.; E. Lohse, Glaube u. Werke – zur Theologie des Jakobusbriefes, in: ders., Die Einheit d. NT, 1973, 285–306; U. Luck, Weisheit u. Leiden. Zum Problem Paulus u. Jakobus, ThLZ 92, 1967, 253–258; ders., Der Jakobusbrief u. die Theologie des Paulus, ThGl 61, 1971, 161–179; K.-W. Niebuhr, Der Jakobusbrief im Licht frühjüdischer Diasporabriefe, NTS 44, 1998, 420–443; W. Popkes, Adressaten, Situation u. Form des Jakobusbriefes, 1986; W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus u. die Jakobustradition, 1987; P. Stuhlmacher, Das vollkommene Gesetz der Freiheit, ZThK 79, 1982, 283–322; ders., Die Mitte der Schrift, in: Wissenschaft u. Kirche, FS für E. Lohse, hg. von K. Aland u. S. Meurer, 1989, 29–56; ders., Zur missionsgeschichtlichen Bedeutung von Mt 28,16–20, EvTh 59, 1999, 108–130.

Wer den Jak historisch und im Zusammenhang des Kanons verstehen will, muß sich über die ursprüngliche Situation und Intention des Briefs im klaren sein und den Versuch machen, ihn zu Paulus und seiner Verkündigung in Beziehung zu setzen. 1. Um den Jak historisch zu identifizieren, gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist der Brief noch zu Lebzeiten des Herrenbruders Jakobus geschrieben worden, oder man sieht in ihm ein pseudepigraphisches Schreiben aus der Zeit (lange) nach der Zerstörung Jerusalems. Der Herrenbruder Jakobus hat im Jahre 62 n. Chr. das Martyrium erlitten (s. u.). Sofern er selbst den Jak verfaßt hat, muß dieser (spätestens) Ende der 50er Jahre des

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1. Jh.s, d. h. während der mehrjährigen Gefangenschaft des Paulus zuerst in Cäsarea und dann in Rom (vgl. Apg 23,23–26,32; 28,16–31) entstanden sein. Phil 1,15–18 zeigt, daß und wie Paulus in jener Zeit auf die missionarische Aktivität von Freunden und Gegnern reagiert hat. – Wenn man den Jak erst nach 70 n. Chr. ansetzt, erhebt sich die kaum lösbare Frage nach dem Autor und seinen Rezipienten. In der sich nach der Zerstörung Jerusalems rasch verselbständigenden, immer stärker heidenchristlich geprägten Großkirche blieb zwar die endzeitliche Orientierung auf den Zion als Ort der Parusie erhalten, die entscheidenden Lehrautoritäten aber waren Petrus und Paulus. Es ist darum kein Zufall, daß sich unser Brief kanongeschichtlich erst um 200 n. Chr. durchgesetzt hat. Angesichts dieser Umstände bot es sich nach der Zerstörung Jerusalems nicht an, gerade den Herrenbruder Jakobus zum Pseudonym für einen an die ganze Christenheit gerichteten „weisheitlichen Mahn- und Lehrbrief“ (U. Schnelle, Einleitung in das NT, 19962, 448) zu machen. – Die z. B. von G. Kittel, M. Hengel, W. Popkes und F. Mußner (Der Jakobusbrief, 19814, 7 f.) vertretene Frühdatierung des Briefes ist aus historischen Gründen der üblichen Spätdatierung (weit) vorzuziehen.

2. Wenn der Jak noch vom Herrenbruder selbst verfaßt wurde, impliziert er eine Stellungnahme zur Verkündigung des Paulus. M. Hengel sieht in dem Brief sogar bewußte antipaulinische Polemik am Werk, die nach antiker Gepflogenheit nicht direkt, sondern indirekt geäußert wird. Nicht nur 2,14–26 ist polemisch akzentuiert (s. u.). Die Kritik an gewinnsüchtigen Leuten, die ständig herumreisen (4,13–16), läßt sich leicht auf Paulusanhänger wie Priska und Aquila beziehen, die als Zeltmacher von Rom nach Korinth, von dort nach Ephesus und dann wieder zurück nach Rom gereist sind (vgl. Apg 18,1–3. 18–19.24–26; Röm 16,3–5 und dazu P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, 1987, 156 ff.). Die Mahnung, schnell beim Hören, aber langsam beim Reden und zurückhaltend beim Zorn zu sein, weil Zorn der Rechtsforderung Gottes widerspricht und keinen Freispruch im Endgericht erwirkt (1,19–20, vgl. mit Sir 1,22), kann unschwer auf die verletzend scharfe Polemik des Apostels an seinen judenchristlichen Gegnern bezogen werden (vgl. Gal 5,12; 6,12–13; 2Kor 11,1–6; Röm 16,17–18; Phil 3,2); auch die Anspielung auf das paulinische Stichwort dikaiosuvnh qeou` in V.21 ist sicher kein Zufall. Die Warnung, sich nicht allzu zahlreich ins Lehreramt zu drängen und die eigene Zunge in Zaum zu halten (3,1–2), könnte auf die von Paulus (und Barnabas) in jeder Gemeinde eingesetzten Presbyter (vgl. Apg 14,23) gemünzt sein. Da Paulus ständig Schwurformeln in seine Argumentationen einflicht (vgl. z. B. Gal 1,20; 2Kor 1,23; Röm 1,9), macht die Einschärfung des Schwurverbotes in Jak 5,12 (auch) polemisch guten Sinn. 5,13–16 schließlich braucht nicht nur ein allgemeiner Rat zu sein, sich unter die Fürbitte der Gemeindeältesten zu stellen, sondern kann auch eine konkrete Mahnung an die Adresse des ständig kränkelnden Apostels sein (vgl. 2Kor 12,7).

3. Im Jak haben wir ein in der Tradition der frühjüdischen Weisheit stehendes Zirkularschreiben vor uns, das die „zwölf Stämme in der Zerstreuung“ (1,1) zu einem Christentum der Tat und zur geduldigen Bewährung anleiten will. Der Brief ist in einem rhetorisch ausgefeilten Griechisch formuliert, 60

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wie es für Sendschreiben üblich war, die von Jerusalem in die oijkoumevnh hinausgingen (vgl. als Analogie z. B. 2Makk 1,1–2,18). Mit den zwölf Stämmen dürfte das endzeitliche Zwölf-Stämme-Volk in Gestalt der ganzen Christenheit gemeint sein (vgl. Apk 7,4–8), deren Muttergemeinde Jerusalem war. Inhaltlich bietet der Brief vor allem weisheitliche Ermahnung. Diese atmet strekkenweise den Geist einer von jüdischer und jesuanischer Tradition gespeisten christlichen Armenfrömmigkeit (vgl. 1,9–10; 2,1–13 und vor allem 4,13–5,6 mit Lk 6,20–21.24–25; 16,19–31). Auch sonst berührt sich der Brief auffällig oft mit synoptischer Jesusüberlieferung (vgl. z. B. Mt 22,39–40 mit Jak 2,8; Mt 7,7 mit Jak 4,3; Mt 5,34–37 mit Jak 5,12; Mk 4,26–29 mit Jak 5,7–8 usw.). Von dem Kuvrio" ∆Ihsou`" Cristov" ist zwar nur in 1,1 und 2,1 die Rede, und es fehlt auch jede direkte Bezugnahme auf das in Jesu Tod und Auferweckung vollbrachte Heilswerk Gottes. Gleichwohl sind Taufe und Wiedergeburt Voraussetzung aller Ermahnungen, die der Jak erteilt (vgl. 1,17.18.21). Im Zentrum der (nach neueren Analysen rhetorisch durchaus kohärenten) Argumentation steht die Auseinandersetzung mit einem a[nqrwpo" kenov" (2,20), der von der (End-)Rechtfertigung allein aus Glauben ohne Werke überzeugt ist (2,14–26). Von Wortlaut und Sache her kann es sich bei dem angegriffenen Toren nur um einen Vertreter der Lehrmeinung des Paulus oder den Apostel selbst handeln.

4. Um die Kritik nachvollziehen zu können, die in 2,14–26 an der paulinischen Auffassung von Rechtfertigung geübt wird, muß man bedenken, wie Jakobus und Paulus zueinander gestanden haben. 4.1 Die ehemaligen pharisäischen Glaubensgenossen haben in Paulus seit seinem Übertritt zu den Christen einen Apostaten gesehen (vgl. Gal 5,11 mit 2Kor 11,24). Er war und blieb aber auch all den Judenchristen suspekt, die an jüdischer Sitte und am Gesetz festhielten (vgl. Apg 15,1–2). Nachdem Paulus in Antiochien die Einführung der von den Abgesandten des Jakobus geforderten rituellen Auflagen für Heidenchristen vergeblich bekämpft und sich von der Mehrheit der dortigen Judenchristen sowie von Petrus und Barnabas distanziert hatte (vgl. Gal 2,11–21), war der Apostel ständiger Kritik und schließlich sogar einer Art von ‚Gegenpropaganda‘ von seiten judenchristlicher (Gemeinde-)Apostel ausgesetzt, die teils von Jerusalem, teils aber auch von Antiochien ausgingen. Sie traten in (Süd-)Galatien gegen Paulus an und forderten dort sogar die nachträgliche Beschneidung und Observanz der von Paulus (und Barnabas) bekehrten Heidenchristen (vgl. Gal 6,12–13). In den beiden Korintherbriefen und im Römerbrief wird eine weniger radikale judenchristliche Opposition greifbar, die den Heiden keine Beschneidung abverlangte, aber auf strengere Einhaltung der Gebote pochte, als Paulus und seine Mitarbeiter sie forderten. Der Apostel war für alle seine judenchristlichen Kontrahenten nur der spätberufene Prediger eines den Wünschen der Heiden angepaßten Evangeliums (vgl. Gal 1,10; 2Kor 11,5–11; Röm 3,8; 61

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6,1.15 usw.), dem die Lehre der wahren apostolischen Autoritäten, Petrus und Jakobus voran, entgegengestellt werden mußte. 4.2 Der Herrenbruder Jakobus verdankt seine Bekehrung einer besonderen Christuserscheinung (vgl. 1Kor 15,7). Nach der Flucht des Petrus aus Jerusalem (vgl. Apg 12,17) ist er zum Leiter der Urgemeinde aufgestiegen. In dieser Position ist er einen Mittelweg gegangen: Er hat den von Paulus so genannten ‚Falschbrüdern‘ verwehrt, Einfluß auf die Völkermission zu nehmen (vgl. Gal 2,4 mit Apg 15,1.5.24), aber auch den bekehrten Heiden verwehrt, das Gesetz abzuschaffen. Um die Position des Jakobus zu verstehen, muß man bedenken, daß das auf Mt 28,16–20 basierende Missionskonzept der Jerusalemer Säulenapostel (vgl. Gal 2,9) den Heiden keine Beschneidung und Toraobservanz abverlangt, sondern nur die Taufe auf den Namen Christi und die Einhaltung der Weisungen Jesu zugemutet hat (s. u. S. 168 ff.).

Jakobus war ein an den Christus Jesus glaubender Jude und hat ein christlich transformiertes Judentum verkörpert. Trotzdem ist er im Jahre 62 n. Chr. unter dem Hochpriester Ananus II. durch das Synhedrium als Gesetzesbrecher verurteilt und gesteinigt worden (vgl. Josephus, Ant 20,200 und Hegesipp bei Euseb, KG II 23,4–18; beide Texte deutsch bei H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, 19835, 146–147). Während pharisäische Kreise in Jakobus einen Gerechten (qyDIxæ) gesehen haben (vgl. Hegesipp, a.a.O.), hat die sadduzäische Mehrheit im Synhedrium seine Position nicht als echt jüdisch anerkannt. Paulus ist Jakobus zum ersten Mal zwei Jahre nach seiner Berufung in Jerusalem begegnet (vgl. Gal 1,19; Apg 9,27). Der Herrenbruder war dann sowohl auf dem Apostelkonzil im Jahre 48 n. Chr. als auch bei der Überbringung der Kollekte nach Jerusalem im Jahre 56/57 n. Chr. der entscheidende Gesprächspartner des Apostels. Zusammen mit Petrus ist er den radikalen Pauluskritikern in den eigenen Reihen entgegengetreten, hat aber keinen Hehl daraus gemacht, daß Judenchristen in Jerusalem im Rahmen des ∆Ioudaismov" zu leben hätten. Außerdem hat er darauf gedrungen, daß sie auch in der Diaspora nicht genötigt werden sollten, wie Heiden zu leben (vgl. Gal 2,3.6.9–10 mit Apg 15,13–21 und außerdem Apg 21,18–25): Gleich nach dem Apostelkonzil hat er Emissäre nach Antiochien gesandt und Petrus mitsamt den dortigen (Juden-)Christen aufgefordert, nur dann mit Heidenchristen Kirchen- und Tischgemeinschaft zu halten, wenn diese bereit seien, die in Gen 9,1–17 (vgl. auch Lev 17–18) den Heiden gegebenen (Mindest-) Gebote (d. h. Verzicht auf Götzendienst, Blutgenuß, Ersticktes, Unzucht) einzuhalten (vgl. Gal 2,12–13 mit Apg 15,20.29). Ebenso hat er Paulus bei dessen Kollektenbesuch in Jerusalem zugemutet, einen bestimmten Betrag des „für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem“ bestimmten Geldes (vgl. Röm 15,26) aufzuwenden, um vier arme judenchristliche Nasiräer rituell auszulösen (vgl. Apg 21,23–25). Nach lukanischer Darstellung ist Paulus dieser Aufforderung gefolgt (vgl. Apg 21,26).

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4.3 Bedenkt man all diese Umstände, macht es keine Schwierigkeiten, im Jak ein wirklich vom Herrenbruder autorisiertes Zirkularschreiben an die Christenheit in der Diaspora zu sehen. Der Brief setzt bei seinen Adressaten die Taufe auf den Namen des Herrn voraus (vgl. 2,7 mit 1,18.21) und ermahnt sie, nach „dem vollkommenen Gesetz der Freiheit“ zu leben, um auf diese Weise selig zu werden in ihrer Tat (vgl. 1,25). Er stärkt damit den gemäßigten Paulusgegnern den Rücken, die den Heiden (nur) die Taufe und die Einhaltung der vom Liebesgebot her gewichteten (Jesus-)Tora abforderten (s. o.). 5. Wegen der theologischen Bedeutung der Auseinandersetzung ist Jak 2,14–26 im Wortlaut anzuführen: „(14) Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, aber keine Werke hat? Kann ihn etwa der Glaube retten? (15) Wenn ein Bruder oder eine Schwester nackt sind und Mangel an täglicher Nahrung leiden, (16) und jemand von euch sagt zu ihnen: ‚Geht hin in Frieden, wärmt und sättigt euch‘ und ihr gäbt ihnen nicht das, wessen der Leib bedarf, was nützte das? (17) So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, für sich allein tot. (18) Aber es wird jemand einwenden ‚Du hast Glauben und ich habe Werke‘. (Dem entgegne ich:) ‚Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke, und ich will dir aus meinen Werken den Glauben zeigen. (19) Du glaubst, daß ein einziger Gott ist? Du tust recht (daran), (aber) auch die Dämonen glauben (das) und zittern. (20) Willst Du wohl einsehen, du leerer (törichter) Mensch, daß der Glaube ohne die Werke nutzlos ist‘? – (21) Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, ‚da er Isaak, seinen Sohn, auf dem Altar darbrachte‘ (Gen 22,2.9)? (22) Du siehst, der Glaube wirkte mit seinen Werken zusammen, und aus den Werken gewann der Glaube die Vollendung. (23) Und die Schrift wurde erfüllt, die da sagt: ‚Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet‘ (Gen 15,6), und er wurde ‚Freund Gottes‘ (vgl. Jes 41,8) genannt. (24) Ihr seht, daß der Mensch aus Werken gerechtfertigt wird und nicht allein aus Glauben. (25) Ist ebenso nicht auch die Hure Rahab aus Werken gerechtfertigt worden, da sie die Boten aufnahm und auf einem anderen Weg heraus ließ (vgl. Jos 2,1–21)? (26) Denn wie der Leib tot ist ohne Geist, so ist der Glaube tot ohne Werke.“ (Übersetzung nach W. Schrage, Der Jakobusbrief, NTD 10, 19934, 29 f.).

5.1 Es läßt sich zwar nicht sagen, ob Jakobus den Galater- und/oder den Römerbrief vor sich gehabt hat. Möglicherweise hat er die Lehre des Paulus nur von den seltenen Begegnungen mit dem Apostel und aus (polemischen) Äußerungen seiner Gegner gekannt. Aber das ändert nichts daran, daß in 2,14–26 die Lehre des Paulus von Glaube und Rechtfertigung hart kritisiert wird, und zwar in Form eines fingierten Dialogs. In V.17–18 steht die Auffassung des Paulus insofern zur Debatte, als nur er Glauben und Werke (des Gesetzes) antithetisiert hat (vgl. Bd. I3, 340 f.). Ebenso wenden sich V.21–24 gegen den Apostel, weil hier Gen 15,6 von dem Bericht über die Opferung Isaaks in Gen 22,9–18 her gedeutet wird, während Paulus Gen 15,6 in Gal 3,6–9 und Röm 4,1–25 von Gen 12,1–3 her interpretiert. V.24 bildet außerdem die klare

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Gegenthese zu der nur von Paulus vertretenen Ansicht, daß der Glaube allein rechtfertigt (vgl. Röm 3,28).

5.2 Man kann sogleich sehen, daß Paulus von dem ersten Beispiel in V.14–16 nicht getroffen wird. Der Apostel ist von 1Thess 4,1–12; 5,12–15 (vgl. mit 2Thess 3,6–13) an bemüht gewesen, in den von ihm begründeten Gemeinden eine Glaubenshaltung zu korrigieren, die aus dem Heilszuspruch des Evangeliums die Erlaubnis zu Zügellosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten des Nächsten und aus der Naherwartung die Erlaubnis zum Müßiggang herleitete. Der Apostel hat in 1Thess 4,9; Gal 5,14; 6,2 und Röm 13,8–10 die Liebe als die Pflicht eingeschärft, die Christen lebenslang jedermann schulden. In 1Kor 13,2 hat er sogar die an Jesu Wort vom bergeversetzenden Glauben gemessene pivsti" für unnütz erklärt, wenn sie der Liebe entbehrt. Nur der Glaube, der in der (Nächsten-)Liebe tätig ist, kann nach Paulus das Hoffnungsgut der Gerechtigkeit, d. h. die Endrechtfertigung, getrost erwarten (vgl. Gal 5,5–6). Jak 2,14–16 sind also nur eine Art Vorspiel der eigentlichen Kontroverse. 5.3 Der eigentliche Kontroverspunkt wird mit Jak 2,17 erreicht. Während Jakobus den Glauben tot nennt, wenn er keine Werke vollbringt, setzt Paulus die pivsti" in Gegensatz zu den e[rga novmou. Außerdem kennt er keinen toten Glauben, sondern nur den (in der Liebe) tätigen Glauben(sgehorsam). Von speziellen Werken, die den ohne sie toten Glauben von Christen als lebendig erweisen, ist bei Paulus keine Rede, weil er die durch das Evangelium kraft des Heiligen Geist eröffnete pivsti" der jüdischen Glaubenshaltung entgegenstellt, die ‚Werke des Gesetzes‘ zu erbringen sucht (vgl. Gal 2,16 mit Röm 3,20). Nach der Lehre des Apostels rettet vor dem Gerichtsthron Gottes nur der Glaube allein und nicht die Berufung auf anerkennenswerte Gesetzeswerke (vgl. Röm 3,28). Der Glaube, der Jesus Christus als Herrn bekennt (vgl. Röm 10,9), ist nach Gal 5,6 (eo ipso) in der Nächstenliebe tätig; in Gal 5,22–23 spricht der Apostel deshalb auch von der vielfältigen Frucht des Geistes, die diejenigen hervorbringen, die nicht (mehr) unter dem Gesetz, sondern der Gnade Gottes stehen. (Wie Eph 2,10; Tit 2,14 zeigen, hat sich die Paulusschule von dem alten Gegensatz Glaube – Gesetzeswerke gelöst und nicht gescheut, auch wieder von den [guten] Werken zu reden, die Gott den Gliedern der Gemeinde zu tun gibt.)

5.4 Jak 2,18–26 zeigt in aller Deutlichkeit, daß Jakobus die Entgegensetzung von Glauben und Werken nicht gelten läßt und in der paulinischen Losung ‚aus Glauben allein‘ (vgl. Röm 3,28) eine Äußerung sieht, der nachdrücklich widersprochen werden muß. V.18 ist schwer zu deuten. Eine Möglichkeit (!) ist folgende: ‚Du hast Glauben, und ich habe Werke‘ könnte eine ironische Formel für den Konsens sein, der nach dem Apostelkonzil in allen Gemeinden gefunden werden mußte, in denen paulinisch geprägte Christen mit solchen zusammenlebten, die es mehr mit Jakobus und Petrus

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hielten (das galt z. B. für Antiochien, aber auch für Ephesus, Korinth oder Rom). Jakobus hält die Formel für untauglich. Er attackiert deshalb den Einredner und setzt die Position dessen, der ‚Ich habe Glauben‘ sagt, mit der bloßen Überzeugung von der Existenz eines einzigen Gottes gleich (2,19). Ein philosophischer Monotheismus war in der Antike weit verbreitet (vgl. die von H. Kleinknecht, ThWNT III, 73–79, zusammengestellten Belege aus dem Platonismus, der Stoa und der Popularphilosophie). Judenchristen erinnert ei|" ejstin oJ qeov" natürlich an Dt 6,4. Wenn 2,19 von dem Bekenntnis zu dem einen Gott sagt, es habe einschüchternde Wirkung auf die Dämonen, läßt sich dies dadurch schön belegen, daß der Name des einen Gottes tatsächlich im (jüdischen und christlichen) Exorzismus Anwendung gefunden hat (vgl. Apg 19,13–17 und den Zauberpapyrus bei C.K. Barrett – C.-J. Thornton, Texte zur Umwelt d. NT, 19912, Nr. 30 [S. 35–38]). Angesichts der von ihm bemühten Beispiele hat der Briefsteller natürlich recht: Die Dämonen bannende Formel von dem einen Gott reicht nicht aus, um Rechtfertigung im Endgericht zu erlangen. Es ist nur grotesk, einen Anhänger des Paulus oder gar den Apostel selbst auf diese Position festlegen zu wollen!

5.5 In 2,18–26 wird zweierlei übergangen: Es wird nicht beachtet, daß ei|" ejstin oJ qeov" für Paulus und seine Schule das Bekenntnis zu dem einen Gott impliziert, der sich in dem einen Schöpfungsmittler Christus der Welt mitgeteilt und ihn gesandt hat, um Juden und Heiden vor dem ewigen Verderben zu retten (vgl. 1Kor 8,6; 1Tim 2,5–6). Außerdem wird pivsti" einfach mit Glaubenstreue gleichgesetzt und der besondere Glaubensbegriff des Apostels unbeachtet gelassen. Die pivsti" eij" ∆Ihsou`n Cristovn ist für Paulus der von Gott eröffnete neue Heilsweg (Gal 3,2.23.25), die durch das Evangelium vermittelte Gnadengabe schlechthin (Gal 3,2; Röm 10,17), die das Bekenntnis zu und den Gehorsam gegenüber dem Kuvrio" ∆Ihsou`" Cristov" umschließt (vgl. Bd. I2, 342 ff.). Der Jak bedenkt oder respektiert diese christliche Neufassung des Glaubensbegriffs durch Paulus nicht und setzt pivsti" sowie pisteuvein – gut jüdisch – nur mit menschlicher Treue gegenüber der Offenbarung und Weisung Gottes gleich (vgl. die von R. Bultmann, ThWNT VI, 199–203, zusammengestellten frühjüdischen Belege). Abraham war für das antike Judentum das Musterbeispiel solcher Glaubenstreue. Für den Jak ist er es auch. Deshalb bemüht der Brief in 2,21–22 die frühjüdisch übliche Auslegung von Gen 15,6 durch Gen 22,9–18, um zu erweisen, daß Abrahams Glaube erst durch die Werke (d. h. durch die Opferung Isaaks) Bewährung und Vollendung gefunden hat (vgl. Gen 26,5; Sir 44,20; 1Makk 2,52 usw.). Am Vergleich von Jak 2,21–23 mit Hebr 11,17–19 und von Jak 2,25 mit Hebr 11,31 zeigt sich, daß unser Text judenchristlich geläufige Anschauungen reproduziert.

Die judenchristliche Explikation der Rechtfertigung in 2,18–26 arbeitet mit einem Begriff von Glauben, der sich ganz an das Alte Testament und an frühjüdische Denkweise anlehnt. Auch Abraham wird nur als der Getreue und nicht mit Paulus als der aus Glauben (an Jesus Christus) Gerechtfertigte angesehen (vgl. Gal 3,6–9; Röm 4,1–25). Von hier aus ist die Röm 3,28 widerstreitende Schlußfolgerung konsequent: „Ihr seht, daß der Mensch aus 65

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Werken gerechtfertigt wird und nicht allein aus Glauben“ (2,24). Sie geht aber an der Lehre und Intention des Paulus völlig vorbei. 6. Die Differenz von Jakobus und Paulus in der Rechtfertigungsfrage ist nach unserer Analyse von Jak 2,14–26 auf den Umstand zurückzuführen, daß der Herrenbruder den neuartigen paulinischen Glaubensbegriff ebenso unbeachtet gelassen hat wie die Kritik des Apostels an der Heilsbedeutung der Tora und den Werken des Gesetzes. Der Jak hält zwar das Bekenntnis zu Christus als dem Herrn hoch (vgl. 1,1; 2,1), geht aber von anderen sprachlichen und sachlichen Voraussetzungen aus als Paulus und muß deshalb die Rechtfertigungslehre des Apostels mißverstehen. Das Beispiel belegt eine ans Grundsätzliche reichende Aporie im Verhältnis von Judenchristentum und (der ebenfalls judenchristlich verwurzelten) Paulusschule. Der Jak formuliert seine Sicht der (End-)Rechtfertigung auf der Basis eines Glaubensdenkens, das Paulus mit seiner Berufung zum Apostel Jesu Christi hinter sich gelassen hat. Auch die Jesustradition schöpft der Jak nicht voll aus. Schon bei Jesus und dann wieder bei Paulus sind die Lehre vom Gesetz, vom Glauben und von der Rechtfertigung gegenüber der alttestamentlich-frühjüdischen Überlieferung neu gefaßt worden, und dieser Traditionsbruch war einer der wesentlichen Gründe dafür, daß Jesus und Paulus Verfolgung leiden mußten. Verfolgung und Tod von seiten des Synhedriums hat zwar auch Jakobus erduldet, aber über Rechtfertigung, Gesetz und Glaube hat er sich soteriologisch nur unzureichend geäußert. Mit der weisheitlichen Sprache des Jak läßt sich die Rechtfertigungserfahrung, die Paulus vor Damaskus gemacht hat, nicht hinreichend erfassen. Gemäß dieser Erfahrung bleibt selbst der nach Maßgabe des Gesetzes untadelige Gerechte vor Gott ein verlorener Sünder, wenn er nicht an Jesus Christus glaubt und den Gottessohn zum Fürsprecher im Endgericht gewinnt (vgl. Phil 3,4–11; Röm 8,31–39). Man kann der Rede des Jak nicht aufhelfen, indem man mit Augustin sagt: „ille (= Paulus) dicit de operibus quae fidem praecedunt, iste (= Jakobus) de his, quae fidem sequuntur“ (De div. quaest. 83, 76/2, CChr.SL 44A, 221, ähnlich auch Melanchthon in der Apologie zur CA, vgl. BSLK 207,123–210, 132). Denn Jak und Paulus sprechen beide von der Rechtfertigung im Endgericht, beantworten aber die Frage, was Glaube und Werke in diesem Gericht austragen, ganz verschieden: Der Jak meint, daß einem in Werken bewährten Gottvertrauen die Anerkennung vor dem Gerichtsthron des gnädigen Gottes nicht versagt bleiben wird, und hält deshalb seine Adressaten an, solche Werke zu tun (vgl. 2,13). Paulus dagegen setzt auf den Glauben allein, der Jesus als Herrn und Retter bekennt, und ermutigt zu solchem Glauben (vgl. Röm 4,5). Nach seiner Lehre werden die Sünder von Gott im Endgericht allein um Christi willen angenommen; ihre Werke bestimmen nur das Maß an Lohn oder Strafe, das sie endzeitlich empfangen werden (vgl. Bd. I 3, 341 ff.380).

7. Angesichts der in 2,14–26 vorgetragenen Kritik am paulinischen Glaubens- und Rechtfertigungsverständnis hat Luther seinen Doktorhut dem versprochen, dem es gelingen sollte, Paulus und Jakobus auf einen Nenner zu bringen. 66

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In einer Tischrede Luthers heißt es: „Multi valde sudant, ut concordent Iacobum cum Paulo, velut etiam Philippus in Apologia [s. o.], sed non serio. Pugnantia sunt: Fides iustificat, fides not iustificat. Wer die zusamen reymen kan, dem will ich mein pirreth aufsetzen und wil mich yhn einen narren lassen schelten“ (= „Viele schwitzen sehr, wie sie Jakobus mit Paulus in Einklang bringen, wie auch Philippus in der Apologie, jedoch nicht im Ernst. Es widersprechen sich: ‚der Glaube rechtfertigt‘, ‚der Glaube rechtfertigt nicht‘. Wer die zusammenreimen kann, dem will ich mein Barett [= Doktorhut] aufsetzen und will mich von ihm einen Narren schelten lassen“; WA TR 3; 253, 25 ff. Nr. 3292a [1533]).

Der ausgesetzte Preis ist noch immer zu vergeben, weil der Gegensatz zwischen dem Jak und der Lehre des Paulus nicht zu bestreiten ist. Angesichts der unleugbaren Differenz ist aber folgendes zu bedenken: 7.1 Jakobus und Paulus haben zu keiner Zeit theologisch miteinander gebrochen, sondern ihr gemeinsames Bekenntnis zu Jesus Christus für wichtiger erachtet als ihre unleugbaren Differenzen bei der Beurteilung von Gesetz und Endrechtfertigung. Der Apostel hat zwar Kritik an seinem Evangelium mit dem Fluch beantwortet (vgl. Gal 1,8–9) und ist mit den Sendboten des Herrenbruders sowie den diesen folgenden Judenchristen mit Einschluß von Barnabas und Petrus hart ins Gericht gegangen (vgl. Gal 2,11–21). Trotzdem hat er die Kollekte Jakobus persönlich überbracht und in der Konsequenz dieses Schritts Gefangenschaft und Verurteilung auf sich genommen (vgl. Röm 15,25–28 mit Apg 21,18–26). Im (römischen) Gewahrsam hat der Apostel sich sogar zu der Einsicht durchgerungen, daß es trotz der schwerwiegenden Differenzen zwischen ihm und seinen judenchristlichen Gegnern erfreulich sei, wenn Christus durch ihn oder sie verkündigt werde (vgl. Phil 1,18). E. Käsemann hat 1951 einen Vortrag über die Frage gehalten: „Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?“ (abgedruckt in: ders., Exeget. Versuche u. Besinnungen Bd. 1, 19706, 214–223). Er hat die Frage verneint und die provozierende These vertreten: „Der n(eu)t(estament)liche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d. h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen“ (a.a.O., 221). Käsemanns Hinweis auf verschiedene Glaubensweisen ist von Jak 2,14–26 her ebensowenig zu bestreiten wie der Umstand, daß diese sich im Verlauf der Kirchengeschichte zu verschiedenen Konfessionen weiterentwickelt haben. Um die Wahrheit des Glaubens ist also schon in neutestamentlicher Zeit erbittert gestritten worden und wird weiter zu streiten sein. Gerade deshalb ist es aber auch wichtig zu erkennen, was die neutestamentlichen Glaubensrichtungen – in unserem Fall: die von Jak und Paulus – trotz des Streites doch so verbunden hat, daß z. B. Petrus, Jakobus und Paulus (Kirchen-)Gemeinschaft gewahrt haben. Der Grund liegt darin, daß sie das gemeinsame Christusbekenntnis und die durch dieses Credo gesetzte Differenz von glaubenden Christen und ungläubigen Juden und Heiden für wichtiger erachtet haben als soteriologische Einzelfragen. Der Streit zwischen den Konfessionen über die Bedeutung und Wahrheit des Evangeliums ist in dem Maße erträglich, als die ur-

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christliche Blickrichtung auf das Credo durchgehalten und der Gedanke der Einheit im Christusbekenntnis (vgl. Eph 4,2–6; Joh 17,20–23) gebührend beachtet wird.

7.2 Der Jak muß und will von seiner eigenen Aussageabsicht her beurteilt werden. Bemüht man sich darum, ist einzugestehen, daß der fingierte Dialog in 2,14–26 eine unleugbare Schwäche des Paulinismus aufgedeckt hat. Sie liegt darin, daß die anspruchsvolle Lehre des Apostels in seinen Gemeinden selten durchgehalten und seine Rede von der Glaubensfreiheit immer wieder zum Deckmantel (schwerer) ethischer Versäumnisse gemacht worden ist. Paulus selbst hat in seinen Gemeinden verschiedentlich Kritik an Fehldeutungen seiner Lehre üben und darauf hinweisen müssen, daß Übeltäter die Gottesherrschaft nicht ererben werden (vgl. z. B. 1Kor 5,11; 6,9–10; 10,21–22; Gal 5,19–21). Seine Schüler haben diese Kritik erneuert (vgl. Eph 5,5; 1Tim 1,8–11) und dabei den Hinweis nicht gescheut, daß getaufte Christen in der Welt dazu da sind, Gott zu loben und gute Werke zu tun (vgl. Eph 2,10; Tit 2,14). Die Reformation hat im 16. Jh. die Lehre des Apostels erneuert, aber selbst Luther hat nicht verhindern können, daß die Rechtfertigungsbotschaft von Schwärmern verzerrt und die Glaubensfreiheit von vielen zum ‚Deckmantel der Bosheit‘ (vgl. 1Petr 2,16) gemacht worden ist.

8. Die Stärke unseres Briefes liegt in der unmittelbar einleuchtenden weisheitlichen Paränese. An 2,1–13 läßt sie sich schön illustrieren. Der Abschnitt warnt vor der Bevorzugung von Reichen in der Gemeinde und ruft dazu auf, das Gesetz Gottes nicht halb, sondern ganz zu halten. 8.1 Der in 2,1–9 verhandelte Fall vom Auftritt eines Reichen in der Gemeindeversammlung, durch den ein Armer herabgesetzt wird, spielt nach V.3 in einem Gebäude, das sehr an eine Synagoge erinnert. Jakobus setzt offenbar noch keine definitive Trennung zwischen christlicher Gemeinde und Synagoge voraus. Wenn die Gemeinde, die hier angesprochen wird, sich gegenüber Reichen und Armen verhält, wie beschrieben, verstößt sie gegen die von Jesus betonte Erwählung der Armen zu Gottes Reichsgenossen (vgl. Lk 6,20–21; 7,22; 16,19–31). Die Polemik gegen die Reichen, die nach Jak 2,6 Christen vor Gericht bringen, hat konkreten zeitgeschichtlichen Anhalt in der Ausbeutung der armen palästinischen Landbevölkerung durch fremdländische Großgrundbesitzer in der Zeit vor 70 n. Chr. (vgl. Mk 12,1–11Par). Daß jene Reichen den über den Christen in der Taufe ausgerufenen ‚guten‘ (Christus-)Namen (vgl. Apg 2,38; 10,48) schmähen, läßt sich von Lk 6,22 (Mt 5,11) aus begreifen. Der Jak illustriert seine Paränese offenkundig aus konkreten judenchristlichen Gemeindeerfahrungen (in Palästina) heraus. In den Paulusbriefen wird nicht mit gleichem Ingrimm vor den Reichen gewarnt wie in Jak 2,6–7; 5,1–6. Sie werden vielmehr zur Unterstützung der Mission herangezogen und z. T. sogar namentlich als Mäzene der Gemeinde gelobt (vgl. z. B. das Lob der Patronin Phöbe in Röm 16,1–2 und des korinthischen Aedilen oder Quaestors Erastus in Röm 16,23). In 1Tim 6,17–19 werden sie dann auch ermahnt, nicht

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überheblich zu werden, sondern sich durch Wohltätigkeit ein qemevlion ajgaqovn, d. h. einen sicheren Grundstock für die Zukunft (vgl. Tob 4,9 und Lk 12,33) zu schaffen.

8.2 In 2,8–11 wird das Liebesgebot aus Lev 19,18 (genauso wie in Mt 22,39–40) als oberstes Gebot in dem Sinne gefaßt, daß von ihm absteigend auch die anderen Gebote (des Dekalogs) gewichtet, aber nicht ersetzt werden. Jakobus will den basiliko;" novmo" Gottes und seines Christus durch die Christen nicht eklektisch, sondern ganz gehalten wissen (2,10). Er sieht die Christen durch die Taufe (vgl. 2,7) in den vollendeten Gesetzesgehorsam eingestiftet, und das Liebesgebot wird im Sinne Jesu als entscheidende Summe des Gotteswillens angesehen. Neben dem Matthäusevangelium vertritt der Jak im Neuen Testament am konsequentesten die judenchristliche Überzeugung, daß das Gesetz durch Christus nicht außer Kraft, sondern neu in Kraft gesetzt worden ist (vgl. Mt 5,17–20). Er ruft deshalb zur Erfüllung der von Christus vollendeten Tora (oJ novmo" tevleio" oJ th`" ejleuqeriva") auf und verheißt dem Täter, daß er selig sein werde in seiner Tat (1,25; vgl. auch 2,12). Eine fundamentale Antithese von Mose und Christus wird hier nicht empfunden. Darum wird die reflektierte Rede des Paulus von Christus als dem ‚Ende‘ des Gesetzes (als Heilsweg) (Röm 10,4) und vollends die seiner Schüler von der ‚Beseitigung‘ oder ‚Aufhebung‘ des Gesetzes durch das Kreuzesgeschehen (vgl. Kol 2,14; Eph 2,15) als Anzeichen für christlichen Antinomismus beargwöhnt (vgl. Mt 7,21–23). Die vom Jak gewählte Ausdrucksweise ist ganz jüdisch: Vom ‚königlichen Gesetz‘ (des Perserkönigs) ist in 1Esr 8,24LXX und vom ‚vollendeten Gesetz‘ in 3Hen 11,1 die Rede. Der Jak bezieht beide Ausdrücke auf das von Jesus vollendete Gesetz des Gottes, der König aller Könige ist (vgl. 2Makk 13,4; 1Tim 6,15). Es lehrt Gottes ewig gültigen Willen, beschenkt mit himmlischer Weisheit und befreit zum Tun des wahrhaft Guten (vgl. Sir 6,35–37; 24,19–29 mit Jak 3,17).

9. Problematisch am Jak ist nicht das Faktum, daß der Brief judenchristlich lehrt und Paulus widerspricht. Judenchristliche Lehre wird auch von anderen neutestamentlichen Zeugen vorgetragen, und die weisheitliche Mahnrede des Jak leuchtet auf weite Strecken ein. Ausserdem ist Widerspruch gegen den Apostel überall dort am Platze, wo Paulus (wirklich) Unrecht hat. Aber die paulinische Rechtfertigungslehre, die der Jak mißversteht und kritisiert, kommt der in Jesus Christus verkörperten Wahrheit des Evangeliums wesentlich näher, als der Briefsteller meint (und mit seinen Sprachmitteln erfassen kann). Wir können und sollten uns deshalb durch den Jak vor einem verflachten und vereinseitigten Paulinismus, wie er kirchlich z. Z. allenthalben erlebbar ist, warnen und zurückführen lassen zum Apostel selbst und zu der ursprünglichen paulinischen Lehre, die im Kern mit der Botschaft Jesu übereinstimmt. Weil diese Übereinstimmung besteht, ist es unmöglich, den Jak im Kanon gleichberechtigt neben die paulinischen Lehrbriefe zu stellen; er kann diese höchstens ergänzen und auf seine Weise kommentieren. 69

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§ 28 Theologie und Verkündigung des 1. Petrusbriefes Literatur: R.J. Bauckham, The Martyrdom of Peter in Early Christian Literature, ANRW II 26.1, 1992, 539–595; E. Best, 1Peter and the Gospel Tradition, NTS 16, 1969/70, 95–113; R. Bultmann, Bekenntnis- u. Liedfragmente im ersten Petrusbrief, in: ders., Exegetica (Ges. Aufs.), hg. von E. Dinkler, 1967, 285–297; R. Deichgräber, Gotteshymnus u. Christushymnus in der frühen Christenheit, 1967; J.H. Elliott, A Home for the Homeless, 1981; W.R. Farmer – R. Kereszty, Peter and Paul in the Church of Rome, 1990; R. Feldmeier, Die Christen als Fremde, 1992; R. Freudenberger, Artikel: Christenverfolgungen 1. Röm. Reich, TRE VIII, 1981, 23–29; L. Goppelt, Prinzipien ntl. Sozialethik nach dem 1. Petrusbrief, in: NT u. Geschichte, FS für O. Cullmann, hg. von H. Baltensweiler u. B. Reicke, 1972, 285–296; H. Gülzow, Christentum u. Sklaverei in den ersten drei Jahrhunderten, 1969, 67 ff.; J. Herzer, Petrus oder Paulus?, 1998; C.H. Hunzinger, Babylon als Deckname für Rom u. die Datierung des 1Petr, in: Gottes Wort u. Gottes Land, FS für H.W. Hertzberg, hg. von H. Graf Reventlow, 1965, 67–77; M. Karrer, Petrus im paulinischen Gemeindekreis, ZNW 80, 1989, 210–231; E. Lohse, Paränese u. Kerygma im 1Petr, in: ders., Die Einheit des NTs (Ges. Aufs.), 1973, 307–328; C.F.D. Moule, The Nature and Purpose of 1. Peter, NTS 3, 1956/57, 1–11; F. Neugebauer, Zur Deutung u. Bedeutung des 1Petr, NTS 26, 1980, 61–86; A. Reichert, Eine urchristliche praeparatio ad martyrium, 1989; A.M. Ritter, Amt u. Gemeinde im NT, in: A.M. Ritter – G. Leich, Wer ist die Kirche?, 1968, 21–115, bes. 59 ff.; K.H. Schelkle, Das Leiden des Gottesknechtes als Form christlichen Lebens (nach dem 1Petr), in: ders., Wort u. Schrift (Ges. Aufs.), 1966, 162–165; H. Schlier, Eine Adhortatio aus Rom. Die Botschaft des ersten Petrusbriefes, in: Das Ende der Zeit (Ges. Aufs. III), 1971, 271–296; W. Schrage, Die Christen u. der Staat nach dem NT, 1971, 63 ff.; ders., Ethik des NT, 19892, 274 ff.; S. Schulz, Ntl. Ethik, 1987, 613 ff.; E. Schweizer, Zur Christologie des ersten Petrusbriefes, in: Anfänge der Christologie, FS für F. Hahn, hg. von C. Breytenbach u. H. Paulsen, 1991, 369–382.

Kommt man vom Jak zum 1Petr, lassen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen feststellen, die urchristentumsgeschichtlich und theologisch gleich interessant sind. Auch der 1Petr ist ein Rundbrief, und zwar an „die auserwählten Fremden in der Diaspora von Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien“ (1Petr 1,1), und er bietet ebenfalls Gemeindeermahnung. Der Unterschied zum Jak besteht darin, daß der Brief nicht von Jerusalem, sondern (wahrscheinlich) von Rom ausgegangen ist und ein ganz anderes theologisches Niveau besitzt als das Rundschreiben des Herrenbruders. Während der Jak nur ganz wenige indirekte Aussagen über Christus macht und der paulinischen Rechtfertigungslehre massiv widerspricht, ist im 1Petr ständig von Christus die Rede, die durch seinen Opfergang erwirkte Rettung wird in aller Deutlichkeit herausgestellt, und von Polemik gegen Paulus ist nichts zu spüren. Die Christologie und Paraklese des Briefes widersprechen der paulinischen Lehre nicht, sondern entsprechen ihr bis in den Wortlaut hinein. Die Nähe des 1Petr zum paulinischen Evangelium ist so groß, daß Luther ihn im 70

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Septembertestament zu den Kernschriften des Neuen Testaments gerechnet und den Bibellesern empfohlen hat, sich auch diesen Brief „durch teglich leßen so gemeyn“ zu machen „als das teglich brott“ (WA DB 6; 10, 15). 1. Die Abfassungsverhältnisse des 1Petr sind historisch schwierig zu bestimmen. Nimmt man 1,1 und 5,12 zusammen, ist der Brief ein von Petrus durch Silvanus (Silas = al;yaiv) verfaßtes Rundschreiben an die Christen in den römischen Provinzen Kleinasiens. Nach 1Petr 5,13 läßt hJ ejn Babulw`ni suneklekthv, d. h. die auserwählte Gemeinde in Babylon, die Brüder grüßen. Da sich seit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. in Judentum und Urchristentum für Rom der apokalyptische Deck- und Kampfname ‚Babylon‘ eingebürgert hat (vgl. 4Esr 3,1.28.31; syrBar 11,1; 67,7; Apk 14,8; 16,19; 17,5 u.ö.), ist mit der suneklekthv wohl die Gemeinde von Rom gemeint. Petrus mußte schon 44 n. Chr. von Jerusalem ‚an einen anderen Ort‘ (Rom?) ausweichen (vgl. Apg 12,17 mit Ez 12,3LXX), und Paulus hat von Rom aus den Westen der Mittelmeerwelt missionieren wollen (vgl. Röm 15,24). Nach dem Martyrium der beiden Apostel (unter Nero [Amtszeit 54–68 n. Chr.]?) hat die römische Gemeinde Anspruch auf das Erbe beider Apostel erhoben (vgl. 1Clem 5,4–7). Von Rom aus ein von Petrus autorisiertes Rundschreiben nach Kleinasien ausgehen zu lassen, legte sich aus zwei Gründen nahe. Der erste und wichtigere liegt in der Autorität des Petrus selbst, dessen kirchliches Hirtenamt sogar im Johanneskreis (mit Sitz in Ephesus?) anerkannt war (vgl. Joh 21,15–17); nach seinem Martyrium ließ sich das ursprünglich auf seine apostolische Zeugenschaft gemünzte Prädikat „Zeuge der Leiden Christi“ (vgl. 5,1) leicht auf die Erfüllung der Todesprophetie von Joh 21,18–19 beziehen und martyrologisch deuten (vgl. 1Clem 5,4). Der zweite Grund ergab sich aus dem Umstand, daß sich die Christen in Kleinasien nach der Hinrichtung des Jakobus (62 n. Chr.) und dem Exodus der Jerusalemer Urgemeinde nach Pella einige Zeit darauf, vollends aber nach der Zerstörung der Stadt (70 n. Chr.) nicht mehr an der Muttergemeinde in Jerusalem ausrichten konnten. Silvanus, der dem Autor bei der Abfassung des Briefes zur Hand gegangen ist, war nach 1Thess 1,1; 2Thess 1,1; 2Kor 1,19; Apg 15,40; 16,25 Mitarbeiter des Paulus, hat aber auch das Vertrauen der für die Heidenmission aufgeschlossenen Judenchristen von Jerusalem besessen (vgl. Apg 15,22.27). Wenn er in 5,12 als Schreiber des Petrus erscheint, zeigt dies, wie sich „der Austausch urchristl(icher) Amtsgruppierungen“ vollzogen hat (O. Michel, BHH III, 1793). Ob der 1Petr in der vorliegenden Form noch zu Lebzeiten des Petrus an die Christen in Kleinasien ausgegangen ist, ist nicht sicher. Die im Brief erwähnte Verfolgung der Christen nur um des Namens Cristianoiv willen (4,16) und die in 1,5–7; 4,7; 5,10 bezeugte Naherwartung waren mitsamt dem Decknamen ‚Babylon‘ (s. o.) Grund, den 1Petr erst in die Zeit Domitians (81–96 n. Chr.) oder auch Trajans (98–117 n. Chr.) zu datieren, weil unter diesen Kaisern allgemeine Verfolgungen von

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Christen in Kleinasien stattgefunden haben und die in dieselbe Zeit zu datierende Johannesoffenbarung von glühender Naherwartung erfüllt ist. Neue Untersuchungen zu den Christenverfolgungen im römischen Imperium haben aber die Gleichsetzung Domitians mit einem Verfolger der Christen fraglich gemacht. Es gibt deshalb nur zwei feste Daten für solche Verfolgungen: „das Vorgehen Neros gegen die Christen in Rom im Zusammenhang mit dem Brand der Hauptstadt vom Jahre 64, von dem wir durch den tendenziösen Bericht des Tacitus (Ann 15,44, 2–5) und durch die kurze Notiz Suetons (Nero 16,2), aber wohl auch durch die Anspielung I Clem 6,1f, Kenntnis haben“ (R. Freudenberger, TRE VIII, 26), und den zwischen 111 und 113 n. Chr. zu datierenden Briefwechsel Plinius d. Jüngeren (damals Statthalter von Bithynien) mit Kaiser Trajan über die rechtliche Behandlung von Christen. Sonst gibt es nur indirekte Anhaltspunkte über lokale Verfolgungen von Christen in Kleinasien (vgl. z. B. Apk 2,3). Für die Entstehung des 1Petr kommt also zeitgeschichtlich der Zeitraum zwischen Nero und Trajan in Frage. Weil der Brief „noch keine blutige Verfolgung andeutet“, kann er nach B. Reicke auch dann „vor der neronischen Katastrophe datiert werden“, wenn er „nicht eigenhändig von Petrus geschrieben wurde“ (Ntl. Zeitgeschichte, 19823, 249; ähnlich C.P. Thiede, GBL III, 1171). Die Autorschaft des Petrus ist also nicht unwahrscheinlich, kann aber (nur) in dem Sinne festgehalten werden, daß der 1Petr durch Silvanus auf Petrus und die sein Erbe bewahrende römische Gemeinde zurückweist.

2. Für petrinisch-römische Herkunft spricht auch der Traditionsbefund. Bis vor einiger Zeit hat man zwar die Nähe des 1Petr zu Paulus als Abhängigkeit gedeutet und den Brief sogar für eine deuteropaulinische Epistel erklärt, die nur durch das Schreibversehen eines Kopisten Petrus zugeschrieben wurde (vgl. H.-M. Schenke – K.M. Fischer, Einleitung in die Schriften des NT, Bd. 1, 1978, 203). Neuerdings wird aber mit Recht wieder stärker auf die Differenzen zu Paulus geachtet und betont: „Der 1Petr muß als ein eigenständiges Zeugnis innerhalb der frühchristlichen Traditionen neben Paulus und seiner Schule wahrgenommen werden“ (J. Herzer, Petrus oder Paulus?, 261). Diese Betrachtungsweise eröffnet die interessante Möglichkeit, der unbestreitbaren Nähe, aber auch Konkurrenz von Petrus und Paulus auf dem Feld der Völkermission (vgl. nur 1Kor 15,3b–5.11; Gal 1,18; 2,6–10.11–21 mit Apg 15,6–12; 1Kor 1,12; 3,22; 9,5–6) ein Stück weit theologisch auf den Grund gehen zu können. 2.1 Mit den Paulusbriefen berührt sich der 1Petr nicht nur dadurch, daß er das paulinische Briefformular verwendet, sondern er spricht auch mit ähnlicher Deutlichkeit von der Gnade Gottes wie Paulus (z. B. 1,10.13; 3,7; 4,10; 5,12), verwendet die Stichworte cavrisma (4,10), ejleuqeriva (2,16) sowie die Formel ejn Cristw`/ (z. B. 3,16; 5,10.14) und weist auf die Bedeutung der Evangeliumspredigt hin (1,12.25). Genauso wie Paulus und seine Schule geht unser Brief davon aus, daß die Christen durch Glaube und Taufe neugeboren worden sind (vgl. 1,3; 2,1–2 mit 2Kor 5,17; Tit 3,5). Die Paraklese des 1Petr gründet in dem allem menschlichen Tun zuvorkommenden Gna72

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denhandeln Gottes (vgl. nur 1,3–12 mit 1,13–17 und 1,18–25 mit 2,1–10). Auch Einzelthemen überschneiden sich auffällig (vgl. z. B. Röm 12,1–2 mit 1Petr 2,5 und Röm 13,1–7 mit 1Petr 2,13–17). Ähnlich wie im Eph und den Pastoralbriefen ist die Haustafeltradition zu einem Pflichtenkatalog für Sklaven, Frauen und Männer in der ganzen Gemeinde ausgeweitet worden (vgl. 2,11–3,7). Der Leidensaspekt christlicher Zeugnisexistenz wird vom 1Petr noch intensiver hervorgehoben als in den Paulusbriefen (vgl. Phil 1,27–30 mit 1Petr 1,6–7; 2,19–21; 3,17; 4,19). Zitation und Verständnis der Hl. Schriften sind mit Paulus verwandt (vgl. z. B. 2,6 mit Röm 9,33 und 1,10 mit Röm 15,4). Auch über Jesus Christus macht der 1Petr Aussagen, die mit denen des Paulus parallelgehen: Gott hat die Sendung Jesu zur Erlösung der Sünder schon vor Grundlegung der Schöpfung geplant (vgl. 1,20 mit Eph 1,4), der Opfertod Jesu wird bewußt von Jes 53 her gedeutet (vgl. 2,21–25; 3,18 mit 1Kor 15,3b-5; Röm 4,25), und das in 1Kor 6,20 anklingende Motiv vom Loskauf durch Christi Blut wird besonders ausgearbeitet (vgl. 1,18–19 mit Apk 5,9). Die Gemeinde Christi ist auch für den 1Petr das begnadete neue Gottesvolk (vgl. 2,10 mit Röm 9,25) und der auf dem Eckstein Christus erbaute Tempel Gottes (vgl. 2,5 mit 1Kor 3,11; 2Kor 6,16). 2.2 Die genannten Berührungspunkte des 1Petr mit den Paulinen sollten aber nicht verdecken, daß unser Brief nirgends direkten Gebrauch von Paulustraditionen macht und durchweg anders akzentuiert als der Apostel, wo dessen Ausdrucksweise auftaucht (J. Herzer). Der Autor redet in 1,18 ganz ähnlich wie Paulus in Röm 5,1–2 und sieht in Jesus Christus genauso wie der Apostel den Gottesknecht (vgl. 3,21–25; 3,18 mit Röm 4,25), er meidet aber die paulinische Rechtfertigungsterminologie und sieht sich auch nicht genötigt, grundsätzliche Ausführungen über die Geltung der Tora (für die christliche Gemeinde) zu machen. Die Adressaten des 1Petr sind vor allem bekehrte Heiden (vgl. 1,14; 4,3), die dem Argwohn und Widerwillen ihrer einstigen Gesinnungsgenossen ausgesetzt sind (vgl. 2,12; 4,4); von Juden und Judenchristen ist in unserem Brief keine Rede (mehr). Es begegnet auch geprägte christologische Überlieferung, die bei Paulus (noch) nicht begegnet (vgl. 1Petr 1,18–21; 2,21–25; 3,18–19). Die Taufe wird nicht nur allgemein mit dem Exodusgeschehen verbunden wie in 1Kor 10,2, sondern in 1Petr 3,20–21 typologisch präzis von Gen 7 her gedeutet. Der Autor weist deutlicher als Paulus auf das Vorbild des leidenden Christus hin (vgl. 1Petr 2,21–25; 3,17–18 mit Röm 15,1–3). Er bestimmt auch das Leben der getauften Christen in der Welt grundsätzlicher als der Apostel im Sinne einer endzeitlichen Pilgerschaft von Männern und Frauen, die ihrer irdischen Herkunft durch die Taufe entfremdet worden sind, noch eine kleine Weile als Fremdbürger in der Welt wohnen und unterwegs sind zum Ziel ihrer endzeitlichen Verherrlichung (vgl. 1,1.17; 2,11). Auf dem Wege zur Erlangung des himmlischen Erbes sind sie Verfolgungen ausgesetzt und sollen sich vor den Augen der ungläubigen Welt durch 73

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vorbildliche Taten bewähren (vgl. 2,18–20; 3,2.9.14.16–17; 4,15). Die Paraklese des Briefes macht insgesamt den Eindruck, erst aus spät- oder nachpaulinischer Zeit zu stammen. Theologisch ist sie in sich so eigenständig, daß sie keiner Anlehnung an oder gar Stütze durch Paulus bedarf. Im 1Petr wird (synoptische) Jesustradition ebenso indirekt verwendet wie in der neutestamentlichen Briefliteratur sonst auch: Die Beziehung von Ps 118,22 auf Christus in 2,4.7 scheint auf Mk 12,10Par zurückzugehen. Auf das Gebot der Feindesliebe wird in 3,9 ähnlich Bezug genommen wie in Röm 12,17 (vgl. beide Stellen mit Lk 6,28). Die Mahnung, die Lenden zu umgürten (1,13), berührt sich mit Lk 12,35, die Seligpreisung der um des Namens Christi willen Geschmähten scheint Lk 6,22–23Par aufzunehmen, und die Rede von den guten Haushaltern der mancherlei Gnade Gottes in 4,10 könnte mit Lk 12,42 verwandt sein. Die typologische Deutung der Taufe in 3,20–21 knüpft an Lk 17,26–27 /Mt 24,37–39 an. Das für Jesu Leiden in 2,21.23; 3,18 verwendete Verbum pavscein begegnet in den synoptischen Passionssummarien (vgl. Mk 8,31Par) sowie in Lk 22,15; 24,26.46. Die Deutung des Opfergangs Jesu von Jes 53 her ruft Mk 10,45 (Mt 20,28), aber auch Lk 22,19–20 in Erinnerung. Trotz all dieser Berührungen werden aber Herrenworte oder Evangelientradition nirgends direkt zitiert. Der Gesamtbefund belegt, daß der apostolische Brief nicht das Medium war, um die Gemeinden über die Worte Jesu zu belehren. Dies geschah vor allem im urchristlichen Unterricht (vgl. Bd. I2, 302 f.). 5,13 eröffnet die Möglichkeit, in Petrus auch einen Lehrer der Evangelientradition zu sehen. Wenn in diesem Vers nicht nur die römische Gemeinde (s. o.), sondern auch „mein Sohn Markus“ Grüße an die Adressaten ausrichtet, muß es sich um einen den Christen in Kleinasien hinreichend bekannten, mit Petrus eng verbundenen Mann handeln. Er ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit Johannes Markus gleichzusetzen, den Petrus von Jerusalem her kannte (vgl. Apg 12,12–17). Nach Papias (vgl. Euseb, KG III 39,15) war er der eJrmhneuthv" des Petrus, d. h. sein Sprachgehilfe und Multiplikator (Apg 13,5), und hat sich bei der Abfassung des Markusevangeliums von der Erinnerung an die petrinischen Lehrvorträge leiten lassen.

3. Nach dem Präskript (1,1–2) setzt unser Brief mit einer Eulogie ein. Sie umfaßt V.3–9, ist besonders kunstvoll geformt und stellt die theologische Basis des 1Petr aufs schönste heraus: „(3) Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, (4) zu einem unvergänglichen, unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das im Himmel für euch verwahrt ist, (5) die ihr durch die Kraft Gottes bewahrt werdet durch den Glauben für das Heil, das bereit ist, zur letzten Zeit geoffenbart zu werden. – (6) Dann werdet ihr jubeln, die ihr jetzt, wenn es sein muß, durch mancherlei Prüfungen Schmerzliches erfahrt, (7) damit die Echtheit eures Glaubens, die kostbarer ist als vergängliches Gold, das (doch) durch Feuer geläutert wird, erfunden werde zu Lob, Herrlichkeit und Ehre bei der Offenbarung Jesu Christi. (8) Ihn liebt ihr, ohne ihn gesehen zu haben, an ihn, ohne ihn jetzt zu sehen, glaubend werdet ihr in unaussprechlicher und verklärter Freude jubeln, (9) wenn ihr das Ziel eures Glaubens, die Rettung der Seelen, empfangt.“ (Übersetzung von L. Goppelt, Der erste Petrusbrief, 1978, 89)

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In diesem Text finden sich all die großen Glaubensthemen, die uns bisher in der Tradition der Urgemeinde und der Paulusschule begegnet sind: die in der Auferweckung Jesu Christi gipfelnde Gnadentat Gottes, die den Glaubenden durch diese Tat eröffnete und in der Taufe zuteilgewordene Wiedergeburt, die durch Christus eröffnete und an ihn gebundene Hoffnung des Glaubens auf Anteil am himmlischen Erbe, der Stand der Glaubenden erst im Glauben und noch nicht im Schauen, die ihnen auferlegte Bewährung durch Leiden hindurch und die Gewißheit künftiger Errettung bei der endzeitlichen Offenbarung des geliebten Christus. Die Gemeinde verdankt sich ganz dem ihr durch die berufenen Zeugen verkündigten Gnadenhandeln Gottes, und sie geht in gläubigem Gehorsam auf die künftige Vollendung ihrer Errettung zu. Die Fortsetzung des Textes in V.10–12 hebt sich stilistisch von V.3–9 ab und kommentiert, was es mit der in V.9 erwähnten swthriva yucw`n auf sich hat: Die von Gott durch das Leiden und die Verherrlichung Christi heraufgeführte Erlösung ist das von den alttestamentlichen Propheten angekündigte endzeitliche Erfüllungsgeschehen schlechthin. In ihm kommen alle heilsgeschichtlichen Terminangaben (vgl. z. B. Hab 2,1–4; Dan 12,5–13) zu ihrem Ziel. Die Aufgabe der Propheten besteht für den 1Petr (nur) darin, der Gemeinde zum Glauben an Jesus Christus zu verhelfen (vgl. ähnlich Röm 15,4; Joh 12,41). Die von ihnen (in Jes 52,7; Nah 2,1; Ps 68,12) angekündigten eujaggelizovmenoi, die den Adressaten ‚jetzt‘ das Evangelium Gottes (vgl. 4,17 mit Röm 1,1–4) verkündigen, sind wie in Röm 10,15; Eph 4,11 (vgl. mit 4,8) und Apg 10,41 die mit dem Hl. Geist begabten Apostel. Nach dem Anblick des von ihnen ausgerufenen Kuvrio" jIhsou`" Cristov" haben sich sogar die Engel gesehnt, weil der Kosmos in der Anbetung Gottes und seines Christus die Ordnung zurückgewinnt, aus der er gefallen ist (vgl. 1,12 mit 3,22; 1Tim 3,16; Apk 5,11–13).

Die eigentliche Absicht des Briefes liegt in der Ermahnung der Christen in Kleinasien. Wenn man dies im Auge behält, erlaubt das in 1,3–9(10–12) zutage tretende Aussagegefälle, zunächst nach der Christologie, dann der Ekklesiologie und schließlich der Ethik und Eschatologie des 1Petr zu fragen. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, daß das nur fünf Kapitel umfassende Schreiben bloß einen Eindruck von der petrinisch-römischen Lehre und nicht deren Ganzes vermitteln kann. 4. Die Christusverkündigung unseres Briefes ist ganz mit der Paraklese verwoben. Sie stellt Christus als den Retter der Welt, als tröstliches Vorbild für alle Leidenden, als Herrn und als kommenden Richter vor Augen. Die einzelnen Formulierungen lehnen sich an hymnisch und homologisch vorgeprägte Christustexte an und entfalten deren Aussagen in paränetischem Interesse. 4.1 Nach 1,18–19 ist die Erlösung durch den Sühnetod Jesu erwirkt worden. Genauer: Die Christen haben Erlösung erlangt „durch das kostbare Blut Christi als eines fehllosen und unbefleckten Lammes“. 75

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Bei der Interpretation wird in der Regel auf das Passalamm (vgl. Ex 12,5; 1Kor 5,7) und Jes 53 (vgl. Jes 53,7; Joh 1,29) verwiesen. Der Hinweis auf Jes 53 hat volle Berechtigung (s. u.), aber der Vergleich mit dem Passa ist zweifelhaft. Das Passalamm ist im Judentum der neutestamentlichen Zeit nicht als Sühnopfer angesehen worden, und die jährliche Massenschächtung von Passalämmern im Tempel von Jerusalem durch die jüdischen Hausväter war auch keine Sühnopferdarbringung. Versteht man dagegen die Rede vom ajmno;" a[mwmo" von Num 28,3; Ez 46,13 her, ändert sich der Sachverhalt: Die Darbringung der Tamidopferlämmer an jedem Morgen und Abend war der wichtigste Sühnopferritus, den Israel neben dem des Großen Versöhnungstages (vgl. Lev 16) kannte. Er diente der täglichen Auslösung Israels aus Sündenschuld (vgl. Ex 29,38–42; Num 28,3–8; Ez 46,13–15; Jub 6,14; 50,11). Nicht nur 1Petr 1,19, sondern auch die in der Johannesoffenbarung auftauchende Rede vom Loskauf durch das Blut des Christus-ajrnivon (vgl. Apk 5,8–9; 14,3–4) läßt sich leichter von der Tamidopfertradition aus deuten als vom Passa her (s. u. S. 222 f.). Bedenkt man außerdem, daß Jesus sich bei der sog. Tempelreinigung (vgl. Bd. I2, 83 f.150 ff.) für Israel zum endzeitlichen (Tamid-)Opfer geweiht hat (J. Ådna), ist 1,18–19 am besten von diesem jesuanisch-frühjüdischen Hintergrund her zu deuten (den Petrus mit Sicherheit gekannt hat). Trotzdem ist eine sekundäre Assoziation auch der (christlichen) Passa-Tradition im Sinne von Joh 1,29; 19,36 in unserem späten Brief nicht ausgeschlossen.

1,20–21 fügen hinzu: Der noch vor der Grundlegung der Welt für das Erlösungswerk ausersehene Christus ist am Ende der Zeiten um der Menschen willen erschienen. Sie sind durch ihn zum Glauben an den Gott geführt worden, der Jesus von den Toten auferweckt und verherrlicht hat. Mit dieser Heilstat hat er dem Glauben die Hoffnung auf das ewige Leben eingestiftet, in dem die Glaubenden in unaussprechlicher Freude am ewigen Gotteslob teilhaben dürfen (vgl. 1,8–9). Die Heilsbedeutung der Sendung Jesu wird im 1Petr wirklich unmißverständlich herausgestellt. 4.2 In 2,21–24 wird Christus so deutlich wie sonst nirgends im Neuen Testament als der leidende Gottesknecht gezeichnet. Er, der Gerechte (vgl. 3,18), befreit die an ihn Glaubenden durch sein stellvertretendes (Sühne-)Leiden von der Last ihrer Sünden und stellt sie in den Dienst der Gerechtigkeit, die Gottes Wille ist (vgl. 2,24 mit Röm 6,18). Die auf Jesus selbst zurückgehende und von der Urgemeinde ausgeformte Deutung des Todes Jesu aufgrund von Jes 53 (vgl. 1Kor 15,3b-5 und Bd. I2, 169 ff.) wird von unserem Brief aufgenommen und paränetisch verlebendigt: Jesus ist der pai`" qeou` von Jes 53 in Person (vgl. Apg 3,13.26). Ähnlich wie in der lukanischen Passionsgeschichte (s. u. S. 188 f.) hat sein Leidensweg nicht nur soteriologische, sondern auch exemplarische Bedeutung: Die auf seinen Namen getauften Cristianoiv (vgl. 4,16) sollen bei der ihnen abgeforderten Leidensnachfolge in die Spuren ihres Herrn treten. 4.3 In 3,18 (vgl. mit Gal 1,4) wird die Heilsbedeutung des Todes Jesu noch einmal mit Worten herausgestellt, die auf Jes 53 fußen. Anschließend wird 76

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von Christus in hymnischer Weise gesagt, er sei (von Menschen) fleisch-leiblich zu Tode gebracht, aber (von Gott) geist-leiblich lebendig gemacht worden (vgl. 1Kor 15,44–45; 1Tim 3,16). 3,19 unterstreicht die universale Bedeutung dieser Verlebendigung, indem die Höllenfahrt Christi eingehender behandelt wird als im Neuen Testament sonst: Christus ist noch vor seiner Thronfahrt in geist-leiblicher Gestalt hinabgestiegen zu den Geistern, die in der Totenwelt bis zum Endgericht in Gewahrsam gehalten werden (vgl. Jub 5,10; äthHen 9,10; Lk 16,23–24). Er hat ihnen die Botschaft von seiner Herrschaft gebracht (und damit seine basileiva auf das Reich des Todes ausgedehnt). Nimmt man 4,6 hinzu, kann man sagen: Der lebendige Christus hat das Evangelium zu den Gefangenen in die Totenwelt getragen und die nekroiv den Lebenden, die das Evangelium durch die Apostel vernehmen, gleichgestellt. Jesus selbst hat Jes 61,1 auf seine Sendung bezogen (vgl. Bd. I3, 64 f.156). Diese Deutung wird in 3,19; 4,6 aufgenommen und kosmisch ausgeweitet: Jesu Sendung und das von ihm ausgehende Evangelium haben universale Gültigkeit. Es ist das ewig bleibende Wort Gottes (1,25). Paulus erwähnt die Höllenfahrt in Röm 10,7 nur nebenbei, stellt aber in Röm 14,9 heraus, daß Christus gestorben und wieder lebendig geworden ist, um Herr über die Toten und Lebenden zu sein. In Eph 4,9–10 wird zwar betont, Christus sei „in die unteren Regionen der Erde“ (ta; katwvtera mevrh th`" gh`") hinabgestiegen und habe alle Himmel überstiegen, um das All mit seiner Macht zu erfüllen. Aber damit ist nur seine Herabkunft auf die Erde und kein Abstieg in die Regionen unter der Erde gemeint. Der Topos der Höllenfahrt wird aber im 1Petr klar herausgestellt und präzisiert: Christus ist in den Hades gefahren, um den dort gefangen gehaltenen Geistern, die noch nichts von ihm erfahren haben, das Evangelium zu verkündigen. Es gibt also weder einen räumlichen Bereich in der Erdentiefe und in den Himmeln noch auch eine Dimension der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die von der Herrschaft und Botschaft Christi ausgenommen wären. – Es ist umstritten, wer mit den pneuvmata in 1Petr 3,19 gemeint ist. In Frage kommen entweder die bis zum Jüngsten Gericht in die Unterwelt verbannten Engelwesen, die nach Gen 6,1–4 mit Menschenfrauen geschlafen, ihnen alle Sünden geoffenbart und die ‚Riesen‘ erzeugt haben (vgl. äthHen 7,1–6; 9,8–10), oder die Geister toter Menschen. Die gefallenen Engel haben nach äthHen 16,1–4 keinen Frieden zu erwarten, und der den Christen nach 1Petr 5,8–9 gegenwärtig noch auflauernde diavbolo" auch nicht. Deshalb liegt die altkirchliche Deutung auf die ‚Seelengeister‘ von Menschen näher. Nach äthHen 22,1–14 sehen sie ebenfalls in den Räumen der Unterwelt dem Jüngsten Tag entgegen. Das in 1Petr 3,20 zuerst ins Auge gefaßte Sintflutgeschlecht hat nach rabbinischer Meinung „keinen Anteil an der zukünftigen Welt“ (mSanh 10,3 bei Bill I, 964), und um die vor der Parusie gestorbenen Christen haben sich auch die Thessalonicher gesorgt (vgl. 1Thess 4,13–14). Da in 4,6 von den nekroiv (und nicht wie in 3,22 von a[ggeloi, ejxousivai oder dunavmei") die Rede ist, denen Christus das Evangelium verkündigt hat, liegt die Gleichsetzung der pneuvmata mit den Geistern verstorbener Menschen sehr viel näher als mit den gefallenen Engeln. Diese Geister schließen die Verstorbenen des Sintflutgeschlechts genauso ein wie alle anderen Gestorbenen, weil Christus nicht nur über einen Teil der Toten, sondern über sie alle

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herrscht. 3,19 und 4,6 geben Einblick in die apokalyptische Denkwelt des Judenchristentums; die Verse haben dem Topos von der Höllenfahrt Christi aber auch das theologische Gewicht verliehen, das ihn ins Apostolicum aufrücken ließ.

Die Evangeliumspredigt des lebendigen Christus qualifiziert die Toten nach 4,6 für das Jüngste Gericht. Genauso wie die Lebenden (vgl. 4,5) sollen auch sie „gerichtet werden nach Menschenart im Fleisch, aber leben nach Gottes Art im Geist“. Die Aussage stimmt insofern mit Mt 24,14 (Mk 13,10) und 1Kor 1,18 überein, als das von den Aposteln verkündigte Evangelium Heil für diejenigen eröffnet, die an Jesus glauben und ihn als Herrn bekennen (vgl. 1,21), aber Unheil über all diejenigen bringt, die sich ihm verschließen (vgl. 4,17). Nach 4,6 scheint der von den Verstorbenen bereits erlittene Tod Teil des Gerichts zu sein, dem sie entgegengehen, aber ein Endgericht nach den Werken wird damit ebensowenig ausgeschlossen wie bei Paulus auch (vgl. 1,17). 4.4 Die Art und Weise der Mitwirkung Christi am Endgericht wird im 1Petr nur angedeutet. Nach 3,22 wirkt der lebendige Christus zur Rechten Gottes als Herr über alle Engel, Mächte und Gewalten (vgl. Ps 110,1–2). Seine endzeitliche Offenbarung in Herrlichkeit (das Wort parousiv a benützt der 1Petr nicht) steht nahe bevor (vgl. 1,13; 4,7.13; 5,4). Während seines Leidensweges auf Erden hat Jesus das Gericht dem gerecht richtenden Gott überlassen (vgl. 2,23 mit 1,17). Daß er bei der Parusie selbst das göttliche Richteramt ausüben wird, deuten die Texte nur an: In 4,5 legt es die auf Gott Vater kaum anwendbare Rede vom eJ t oiv m w" e[ c ein (vgl. mit 2Kor 10,6) und in 5,4 der Wortlaut nahe: Bei der Erscheinung des Erzhirten (Christus) werden die treu bewährten Presbyter von ihm „den unverwelklichen Kranz der Herrlichkeit“ (vgl. 2Tim 4,8; Jak 1,12; Apk 2,10) empfangen. 5. Die Auffassung unseres Briefes von der Gemeinde führt Ansätze weiter, wie sie aus der Apostelgeschichte bekannt und für das Judenchristentum charakteristisch sind. 5.1 Die Gemeinde ist das (geistliche) Haus Gottes (vgl. 2,5; 4,17 mit 1Tim 3,15), das auf dem von Gott selbst gelegten Grundstein, Christus, errichtet worden ist (vgl. 2,4.6 mit Ps 118,22; Jes 28,16). Zugleich ist sie das auserwählte, durch den Sühnetod Jesu geheiligte Eigentumsvolk Gottes (vgl. 2,9 mit Jes 43,21). Für Judenchristen hat dieses Doppelkonzept besonders nahegelegen. Es wurzelt in der Absicht Jesu, mit Hilfe der Zwölf das endzeitliche Zwölf-Stämme-Volk zu sammeln (vgl. Mk 12,1–12Par), und knüpft an den Anspruch der Urgemeinde in Jerusalem an, die irdische Vorhut des von Christus angeführten endzeitlichen Zwölf-Stämme-Volks zu sein (vgl. Apg 15,15–18 und Bd. I 2, 198 ff.). Es klingt in den Paulusbriefen an (vgl. Röm 9,24–26; 2Kor 6,16; Tit 2,14), begegnet im Hebräerbrief (vgl. Hebr 4,9; 78

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10,30; 13,12) und wird auch von der Johannesoffenbarung bezeugt (vgl. Apk 5,9–10; 7,4–8). Der Opfertod Jesu ist bei dieser Betrachtungsweise der endzeitliche Weiheakt, welcher der Gemeinde die Heiligkeit verleiht, die Gott seinem Volk abverlangt (vgl. 1,15–16 mit Lev 11,44–45; 19,2). Weil sie durch Jesu Sühnetod geheiligt und durch die Taufe von ihren Sünden befreit worden sind (vgl. 3,21), sind die Glieder der Gemeinde nach 2,9 „eine königliche Priesterschaft“ (vgl. Apk 1,5–6). Ihr Priesterdienst besteht in der Darbringung von „geistlichen Opfern“, d. h. von geisterfüllten Gebeten (vgl. 2,5), in der Rühmung der Heilstaten Gottes (vgl. 2,9 mit Jes 43,21) und in der Führung eines vorbildlichen Lebenswandels inmitten der ungläubigen Welt (s. u.). Für unseren Brief rekrutiert sich das neue Gottesvolk vor allem aus ehemaligen Heiden (vgl. 1,18; 4,3). Auf sie wird auch in 2,10 geschaut, wenn es dort heißt, die Adressaten seien einst ein ‚Nicht-Volk‘ ohne Erbarmen gewesen, hätten nun aber Erbarmen gefunden und seien ‚Gottes Volk‘ geworden (vgl. Röm 9,24–26). Da die in 2,10 zitierten Worte aus Hos 1,6.9; 2,25 ursprünglich auf Israel bezogen waren, kann nicht ausgeschlossen werden, daß zu den christlichen Gemeinden in Kleinasien, an die unser Brief gerichtet ist, auch bekehrte Juden gehört haben. 5.2 Von der Gemeindeordnung spricht der 1Petr nur in Andeutungen. Sie ist ganz von der Gnade Gottes bestimmt, von der unser Brief oft redet (vgl. 1,2.10.13; 2,19. 20; 3,7; 4,10; 5,5.10.12). Die cavri" wirkt so in das Leben der einzelnen Gemeindeglieder hinein, daß jedes Glied eine besondere Gnadengabe (cavrisma) erhalten hat. Die verschieden begnadeten Christen sollen einander dienen „als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes“ (4,10). Mit dieser Redeweise wird nicht nur der von Paulus theologisch geprägte Begriff cavrisma aufgenommen (vgl. Bd. I 3, 355), sondern auch die Unterscheidung von lalei`n und diakonei`n, von Verkündigungs- und Sozialdienst, wie sie in Apg 6,1–4 vorschwebt (vgl. die Erläuterung von 4,10 in V.11: „Wenn einer redet, [rede er es] als Gottes Worte, wenn einer Dienste leistet, [diene er] als aus der Kraft, die Gott verleiht, damit in allem Gott durch Jesus Christus verherrlicht werde“ und dazu J. Herzer, a.a.O., 164 f.). Der Autor hat keine Probleme, den Ansatz bei der Gnade Gottes und ihren Individuationen mit der Mahnung an bestimmte Amtsträger in den Gemeinden zu verbinden. In 5,1 ruft er als „Mitältester“ (sumpresbuvtero") die Presbyter auf, vorbildliche Gemeindehirten zu sein. Der eigentümliche Ausdruck sumpresbuvtero" weist darauf hin, daß der Briefsteller selbst (in Rom?) ein gemeindeleitendes Amt bekleidet (hat) und dabei „Zeuge der Leiden Christi“ sowie „Teilhaber an der Herrlichkeit ist (war), die in Kürze offenbar werden wird“. Von 1,11 und 4,13 her wird man dies so verstehen dürfen, daß er Zeugnis ablegt von den Leiden Christi, aber auch existentiell an ihnen teilhat und sich in dieser Zeugenschaft seines Anteils an der künftigen Herrlichkeit getröstet (vgl. Phil 3,10–11). Der Sprachgebrauch von 79

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mavrtu" und marturei`n in Lk 24,48; Apg 1,8; 10,39–43; 1Kor 15,15 legt nahe, 5,1 auf die apostolische Zeugenschaft des Petrus (und nach 64 n. Chr. auf sein Martyrium) zu deuten (s. o.). In 5,2–4 ermahnt der Autor die presbuvteroi, ihr Hirtenamt nicht gezwungenermaßen, sondern freiwillig nach Gottes Willen, nicht aus Gewinnsucht, sondern bereitwillig auszuüben; auch sollen sie die ihnen anvertrauten Gemeinden nicht unterjochen, sondern Vorbilder für sie sein. Das entspricht ganz der Weisung Jesu an seine Jünger (vgl. Mk 10,42–44Par). Die vorliegende Paraklese zeigt außerdem, daß die kleinasiatischen Gemeinden, an die der 1Petr gerichtet ist, von Presbytern geleitet wurden, wie Apg 14,23; 20,28 dies voraussetzt; sie sollen zu guten Episkopen heranreifen. „Auch der 1. Petrusbrief befindet sich also auf dem Weg hin zu einem klar definierten Amt der Gemeindeleitung. Anders als die Deuteropaulinen vertritt er jedoch noch nicht das Prinzip Leitung durch Lehre“ (J. Roloff, Die Kirche im NT, 1993, 277, kursiv bei R.). Wenn in 5,5 die Jüngeren (newvteroi) zur Unterordnung unter die Presbyter aufgerufen werden, könnte man in ihnen von Lk 22,26; Apg 5,10 her eine spezielle, zur Wahrnehmung von Diensten in der Gemeinde bestimmte Gruppe von Gemeindegliedern sehen. Aber die anschließende Mahnung: „Alle aber begegnet einander in Demut!“ deutet eher darauf hin, daß „die newvteroi hier wohl repräsentativ für alle Gemeindeglieder gegenüber den Presbytern genannt (werden)“ (L. Goppelt, Der erste Petrusbrief, 1978, 331). – Nimmt man 5,1–5 mit 2,9; 4,10 zusammen, zeigt sich, daß M. Luther exegetisch durchaus recht hatte, als er in der Schrift „An den christlichen Adel“ von 1520 gegen die Unterteilung der Gemeinde in geweihte Kleriker (Priester), die allein das Heil vermitteln können, und Laien, die auf diese Vermittlung angewiesen sind, protestierte und unter Berufung auf das eine Evangelium und die eine Taufe, durch die „wir allesampt zu priestern geweyhet (werden)“, das Priestertum aller Gläubigen verfochten hat (vgl. WA 6; 407, 13 ff.).

6. Der 1Petr will vor allem Gemeindeermahnung bieten. Die Paraklese nennt die Gemeindeglieder „neugeborene Kinder“ (vgl. 2,2) und spricht sie damit an auf ihr neues Sein, das sie durch die Taufe gewonnen haben. Auch in unserem Brief begründet also das Taufgeschehen den Anspruch an die Cristianoiv, einen Gott wohlgefälligen Wandel zu führen. Nach 1,8 stehen sie noch nicht im Schauen, sondern erst im Glauben, also der Situation der Bewährung und Hoffnung. Die Taufe wird in 3,20–22 antitypisch zur Sintflut als Rettungsereignis gedeutet. Nach 3,21 ist sie kein bloßer Reinigungsakt, durch den fleischlicher Schmutz abgetan wird, sondern ein suneidhvsew" ajgaqh`" ejperwvthma eij" qeovn. Wenn man dies mit „Bitte an Gott um ein gutes Gewissen“ übersetzt (vgl. z. B. G. Barth, Die Taufe in frühchristlicher Zeit, 1981, 111), muß man den Vorbehalt machen, daß „der Mensch von sich aus Gott nur bitten (kann)“, ihm durch Sündenvergebung ein gutes Gewissen zu schenken, und hinzufügen, der Täufling dürfe im Glauben der Erhörung dieser Bitte gewiß sein (a.a.O., 115). Das Problem an diesem Verständnis ist, daß der Taufakt nicht gut als Bitte gedeutet werden kann und es philologisch keine sicheren

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Belege für ejperwvthma = Bitte gibt. Auch paßt dieses Verständnis schlecht zum paränetischen Kontext. Es ist deshalb sehr zu erwägen, ob ejperwvthma nicht auf das Taufgelübde zu deuten ist. Das Wort wäre dann wie in Sir 33,3; Dan 4,17 (Theod.); Herm mand 11,2; Justin Dial 45,1 (und in anderen Texten) im Sinne von ‚(An-)Frage‘ zu verstehen und mit dem Rechtsbegriff stipulatio = Vertrag gleichzusetzen. 3,21 würde in diesem Fall auf den „Vorgang der Befragung des Täuflings und seiner Antwort“ anspielen (N. Brox, Der erste Petrusbrief, 19934, 178) und die bei der Taufe von den Täuflingen eingegangene Bekenntnisverpflichtung meinen, fortan Christus und der Gerechtigkeit zu dienen, die Gottes Wille ist. Angesichts von Röm 6,17 ist diese Deutung von ejperwvthma durchaus möglich, denn Paulus spricht hier von der Übergabe der römischen Täuflinge an die Lehre des Evangeliums, von der gehorsamen Übernahme dieser Lehre in Form ihres Christusbekenntnisses und vom Eintritt der Getauften in den Dienst der Gerechtigkeit (vgl. Bd. I3, 219.302). In der Genitivverbindung ejperwvthma suneidhvsew" ajgaqh`" würde suneivdhsi" ajgaqhv dann nicht Objekt des ejperwvthma sein, sondern dieses qualifizieren, und zwar als ein Gelübde, das von den Täuflingen in dem Bewußtsein abgegeben wird, durch Christus mit Gott im reinen zu sein und in der Erfüllung seines Willens zu stehen. 2,19.24 und 3,16 zeigen, daß sich dieses Verständnis hervorragend in den Makrokontext und die sonstige Ausdrucksweise des Briefes einfügt.

Die Gemeindeermahnung reicht von 2,11 bis 5,11 und behandelt zuerst die allgemeinen und öffentlichen Pflichten der gesamten Gemeinde (2,11–12 + 13–17) und dann nacheinander die Pflichten und Aufgaben der Sklaven (2,18–25), der Frauen (3,1–6) sowie der Männer (3,7); in 3,8–12 kommt sie zum Verhalten der Christen insgesamt zurück, behandelt in 3,13–4,19 die christliche Leidensbereitschaft, ruft die Presbyter zu vorbildlichem Hirtendienst und die jüngeren Gemeindeglieder zur Unterordnung unter sie auf (5,1–5) und schließt mit einem Aufruf zur Wachsamkeit in der Bedrängnis (5,6–11). Die Übersicht zeigt, daß auch im 1Petr die Haustafeltradition (s. o. S. 44 ff.) den Hintergrund für die Ermahnung der Christen bildet. Es steht aber nicht mehr nur ihr gegenseitiges Verhalten im ‚Hause Gottes‘ (vgl. 2,5; 4,17) zur Debatte, sondern auch und vor allem ihr Verhalten im öffentlichen Alltag der Welt, wo sie ständigen Anfeindungen und Verdächtigungen durch ihre nichtchristlichen Zeitgenossen ausgesetzt sind. 6.1 Der Vergleich von Röm 13,1–7 (s. Bd. I2, 390) und 1Petr 2,13–17 läßt erkennen, daß Themen und Tenor der apostolischen Gemeindeermahnung teilweise austauschbar waren. Umso interessanter ist die Beobachtung, daß die (aus unmittelbarer Begegnung mit den Regierungsinstanzen in Rom erwachsene?) Paraklese des 1Petr in manchem über Röm 13,1–7 hinausführt: Während die politischen Autoritäten nach Röm 13,1 von Gott ‚eingesetzt‘ bzw. ‚verordnet‘ sind, werden der Kaiser und seine Statthalter in 2,13 nur menschliche Geschöpfe genannt und die Staatsmacht, die sie innehaben, eine menschliche Schöpfung (ajnqrwpivnh ktivsi"). Die Lutherübersetzung von ktivsi" mit ‚Ordnung‘ gleicht 1Petr 2,13 an Paulus an und ist auch des81

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halb problematisch, weil ktivsi" „nirgendwo sonst ‚Ordnung‘ (heißt), weder in der Profangräzität noch in der LXX“ (W. Schrage, Die Christen und der Staat nach dem NT, 66 Anm. 145). Eine ordnungstheologische Absicherung der Obrigkeit ist vom Text nicht beabsichtigt. „Der Kaiser erscheint als menschliches Geschöpf, und er wird damit dem Kuvrio" ∆Ihsou`" Cristov" untergeordnet“ (U. Schnelle, Einleitung in das NT, 19962, 462 Anm. 92). Während Röm 13,3–4 und 1Petr 2,14 parallele Aussagen machen, bieten 2,15–16 eine für den 1Petr typische Begründung: Die den Christen abgeforderte Loyalität ist Teil des Wohlverhaltens, mit dem sie den Unverstand der Kritiker ihres Glaubens zum Schweigen bringen sollen; zugleich ist sie Zeichen ihrer christlichen Freiheit, kraft der sie nicht dem Übel, sondern Gott dienen. Die Christen leisten der heidnischen Regierung Gehorsam, weil sie von ihrem Herrn nicht zu Anarchie und Weltflucht, sondern zu einem Leben aufgerufen sind, das der Wohlordnung (Gerechtigkeit) dient (vgl. 2,24). 2,17 präzisiert die pauschale Anweisung von Röm 13,7: Den Menschen (einschließlich des Kaisers) gebührt Ehrerbietung, den Glaubensgenossen brüderliche Liebe, und nur Gott allein soll man in Ehrfurcht (fovbo") begegnen. 6.2 Die ausführliche Sklavenparaklese in 2,18–25 hat seltsamerweise kein Gegenstück in der Ermahnung der Herren (wie in Kol 4,1; Eph 6,9). Sie ist mit 1Tim 6,1–2; Tit 2,9–10 vergleichbar und mißt christliches Wohlverhalten am Vorbild des leidenden Christus. Der Text spricht in eine bestimmte Gemeindesituation hinein: Zu den Christen in Kleinasien gehörten nicht nur die Haussklaven christlicher, sondern auch dou`loi ungläubiger Herren. Als Christen waren sie inmitten ihrer vulgären Umgebung besonders groben Anwürfen ausgesetzt, und im Fall von lokalen Christenverfolgungen ergriff man sie zuerst. Plinius d. J. berichtet in seinem o.g. Brief an den römischen Kaiser Trajan, er habe zwei Sklavinnen, die sich ‚Dienerinnen‘ (vgl. 1Tim 3, 11) nannten, aufgegriffen, um sein Bild vom christlichen Aberglauben zu vervollständigen. Aber selbst die Ausforschung auf der Folter habe nichts als „verschrobenen, maßlosen Aberglauben“ zutage gebracht (Ep X 96,8, deutsch bei H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, 19835, 151). In eine vergleichbare Lage spricht unser Text hinein. In ihr (und jeder Parallelsituation) hat er seine Berechtigung, so wenig heute die Frage unterdrückt werden kann und darf, welche Art von Abhängigkeitsverhältnis unter Christen (und Menschen überhaupt) legitim und welche illegitim ist. Der 1Petr rät den christlichen Sklaven, sich in ihrer schwierigen Lage an Christus selbst und seinem Leidensgehorsam ein Vorbild zu nehmen. 6.3 Der 1Petr hat zur Ausbildung einer christlichen Kreuzestheologie entscheidend beigetragen, indem er das Leiden von Christen zum besonderen Thema gemacht hat. In unserem Brief wird pavscein auffällig oft gebraucht (vgl. 2,19.20; 3,14.17; 4,1. 15.19; 5,10), und nicht nur in 2,18–25 (s. o.), sondern auch in 4,1 wird das Leiden der Christen in Bezug zum Leiden Christi 82

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gestellt. Christus ist dem Todesleiden im Fleisch unterworfen gewesen. Deshalb sollen die Briefempfänger sich mit der Einsicht wappnen, daß ihnen ähnliches zugemutet werden könnte, sie dann aber auch Ruhe vor der Sünde hätten (vgl. 4,1 mit Röm 6,7). Der Satz hat ebenso ernsten Klang wie Mt 10,21–22; Joh 16,2; Apk 2,10. Ähnlich wie Paulus in Phil 1,28–30 sieht unser Brief eine besondere Gabe darin, daß Christen um des Christus-Namens willen geschmäht und verfolgt werden. Sie sollen die ihnen auferlegten Heimsuchungen in dem Bewußtsein erdulden, daß die um des o[noma Cristou` willen Geschmähten seligzupreisen sind und der Geist Gottes auf ihnen ruht (vgl. 4,14 mit Lk 6,22/Mt 5,11; Mk 13,11Par; Apg 5,41). Nach Gottes Willen werden sie durch das ihnen für kurze Zeit auferlegte Leiden erprobt (vgl. Mk 13,19–20Par), aber ihre gegenwärtige Schmach macht sie zu Anwärtern auf ewige Freude bei der Parusie (vgl. 1,6–7; 4,12–14). 6.4 Ein Blick auf die eschatologischen Aussagen im 1Petr gibt zu erkennen, daß der Autor seine Adressaten in ihrer Endzeiterwartung bestätigen will. Gleich zu Beginn des Briefes betont er, daß die Christen zwar nur erst im Glauben stehen, aber darauf hoffen dürfen, bei der nahe bevorstehenden ajpokavluyi" ∆Ihsou` Cristou` des unvergänglichen Erbes teilhaftig zu werden, das in den Himmeln für sie bereitliegt (vgl. 1,4–9). Christus ist bereits Herr über alle Mächte (vgl. 3,22) und wird in Bälde als Richter und Retter erscheinen (4,5–7.13). Die von den Christen auf Erden noch durchzustehende Leidenszeit ist als Gerichtsgeschehen zu begreifen, welches das Haus Gottes schon gegenwärtig erfaßt (vgl. 4,17). Den Gliedern der Gemeinde wird jetzt abverlangt, sich im Dienst der Gerechtigkeit, in den sie durch das Evangelium gestellt sind, gehorsam zu bewähren (vgl. 2,24; 4,18) und in der Kraft des Glaubens den Angriffen des Teufels zu widerstehen, der sie zu Fall bringen will (vgl. 5,8–9). Sie dürfen aber gewiß sein, daß Gottes Macht sie vor dem Untergang bewahrt (vgl. 1,5) und ihre auf Christus gegründete pivsti" nicht zuschanden werden wird (vgl. 2,6 mit Jes 28,16). Vielmehr wird ihre im Feuer der Anfechtungen auf ihre Echtheit erprobte Glaubenstreue endzeitliches Lob, Herrlichkeit und Ehre erfahren, sobald der Herr zum Gericht erscheinen wird (vgl. 1,7; 5,4). Nach dem 1Petr wird das endzeitliche Heil den Menschen zuteil, die sich im Glauben an Jesus Christus treu bewährt und ein entsprechendes Verhalten an den Tag gelegt haben (vgl. 4,18 mit Phil 2,12–16). 7. Die Lehre des 1Petr berührt sich immer wieder mit der des Paulus, ist ihr gegenüber aber selbständig und streckenweise viel enger mit der Evangelientradition verzahnt als das Kerygma des Apostels. Wenn diese Lehre direkt oder indirekt auf Petrus zurückgeht, wird begreiflich, warum Pevtro" nicht nur um seiner Sonderstellung im Zwölferkreis, sondern auch um seiner Lehre willen anerkannt war, und zwar von Jerusalem über Kleinasien bis hin nach Rom. Soteriologisch ist diese Lehre auf das Vertrauen gegründet, 83

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daß bis in das Endgericht hinein auf Gottes Wort und seine in Christus in Erscheinung getretene Gnade Verlaß ist. Gleichwohl ist sie nicht so eindeutig zugespitzt wie die paulinische Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Glauben um Christi willen (vgl. Röm 4,5; 5,6). Von einer Fürsprache des erhöhten Christus für die im Endgericht Angeklagten (vgl. Röm 8,34; 1Joh 2,1) ist im 1Petr keine Rede, und es fehlen auch Sätze wie 1Kor 3,15; 5,5. Es ist darum kein historischer Zufall, daß im Jakobusbrief der Paulinismus und nicht Petrus kritisiert wird. Was Kephas sagte und schrieb, war den für die Heidenmission aufgeschlossenen Judenchristen in Jerusalem und der Diaspora weniger fremd als die Lehre des Paulus. Die Botschaft des 1Petr bildet im neutestamentlichen Kanon eine Art von goldener Mitte zwischen Paulinismus und judenchristlicher Glaubenstradition und ist in sich theologisch aller Achtung wert.

§ 29 Theologie und Verkündigung des Hebräerbriefes Literatur: R.H. Bell, Sin Offerings and Sinning with a High Hand, JPJ 4, 1995, 25–59; G. Bornkamm, Das Bekenntnis im Hebräerbrief, in: Studien zu Antike u. Urchristentum (Ges. Aufs. II), 188–203; H. Braun, Die Gewinnung der Gewißheit in dem Hebräerbrief, ThLZ 96, 1971, 321–330; R. Feldmeier, Die Krisis des Gottessohnes, 1987, 50 ff.; G. Friedrich, Die Verkündigung des Todes Jesu im NT, 1982, 79 ff.156 ff.; E. Gräßer, Der Glaube im Hebräerbrief, 1965; ders., Zur Christologie des Hebräerbriefes, in: NT u. christliche Existenz, FS für H. Braun, hg. von H.D. Betz u. L. Schottroff, 1973, 195–206; ders., Das Heil als Wort. Exegetische Erwägungen zu Hebr 2,1–4, in: NT u. Geschichte, FS für O. Cullmann, hg. von H. Baltensweiler u. B. Reicke, 1972, 261–275; ders., Rechtfertigung im Hebräerbrief, in: Rechtfertigung, FS für E. Käsemann, hg. von J. Friedrich, W. Pöhlmann u. P. Stuhlmacher, 1976, 79–93; ders., Der Alte Bund im Neuen, 1985, 95 ff.290 ff.; F. Hahn, Das Verständnis des Opfers im NT, in: ders., Exeget. Beiträge zum ökumenischen Gespräch (Ges. Aufs. I), 1986, 262–302; H. Hegermann, Christologie im Hebräerbrief, in: Anfänge der Christologie, FS für F. Hahn, hg. von C. Breytenbach u. H. Paulsen, 1991, 337–351; M. Hengel, Die Ursprünge der Gnosis u. das Urchristentum, in: Evangelium – Schriftauslegung – Kirche, FS für P. Stuhlmacher, hg. von J. Ådna, S.J. Hafemann u. O. Hofius, 1997, 190–223; O. Hofius, Katapausis. Die Vorstellung vom endzeitlichen Ruheort im Hebräerbrief, 1970; ders., Der Vorhang vor dem Thron Gottes, 1972; E. Käsemann, Das wandernde Gottesvolk, 19572; B. Klappert, Die Eschatologie des Hebräerbriefes, 1969; O. Kuß, Der theologische Grundgedanke des Hebräerbriefes, in: Auslegung u. Verkündigung I (Ges. Aufs.), 1963, 281–328; U. Luz, Der alte u. der neue Bund bei Paulus u. im Hebräerbrief, EvTh 27, 1967, 318–336; W. Nauck, Zum Aufbau des Hebräerbriefes, in: Judentum – Urchristentum – Kirche, FS für J. Jeremias, hg. von W. Eltester, 19642, 199–206; M. Rissi, Die Theologie des Hebräerbriefs, 1987; J. Roloff, Der mitleidende Hohepriester, in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche (Ges. Aufs.), 1990, 144–167; Chr. Rose, Die Wolke der Zeugen, 1994; F. Schröger, Der Verfasser des Hebräerbriefes als Schriftausleger, 1968;

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Th. Söding, Zuversicht u. Geduld im Schauen auf Jesus. Zum Glaubensbegriff des Hebräerbriefes, ZNW 82, 1991, 214–241; G. Theißen, Untersuchungen zum Hebräerbrief, 1969.

Neben dem Matthäusevangelium ist der Hebräerbrief das theologisch bedeutendste judenchristliche Buch im Neuen Testament. Der Brief ist zwar jahrhundertelang für einen Paulusbrief gehalten worden, aber die neuere Exegese geht mit Recht davon aus, daß er nicht vom Apostel verfaßt worden ist. Nach 13,22 will der Brief ein lovgo" paraklhvsew" sein, d. h. eine schriftlich fixierte Mahnrede. Als einzige neutestamentliche Schrift ist der Hebr in gewähltem, nach attischem Vorbild stilisiertem Griechisch abgefaßt, und häufiger als alle anderen neutestamentlichen Briefe zitiert er die Heiligen Schriften. Der Hebr entfaltet eine ganz eigenständige Hochchristologie: Der (präexistente) Sohn Gottes, zu dem sich die Gemeinde bekennt, ist der Gesandte (ajpovstolo") Gottes und göttliche Hochpriester (ajrciereuv") schlechthin (vgl. 3,1); er ist aber auch „der Anführer und Vollender des Glaubens“, der die Schmach des Kreuzes nicht gescheut und durch sein Verhalten ein Vorbild gesetzt hat (vgl. 12,1–2). Ohne unseren Brief gäbe es keine (alt-)kirchliche Lehre vom (hoch-)priesterlichen Amt Christi. Er hat das (alt-)kirchliche Verständnis des Alten Testaments grundlegend mitbestimmt, aber auch sein Glaubensbegriff und seine Paraklese haben die kirchliche Lehre nachhaltig beeinflußt. Beim Hebr handelt es sich also ohne Zweifel um eine der neutestamentlichen Hauptschriften. Wesentliche Aussagen des Briefes haben aber auch Anstoß erregt: Weil in 6,4–8; 10,26–31; 12,15–17 die Möglichkeit der ‚zweiten Buße‘ geleugnet wird, ist der Hebr in der westlichen Kirche umstritten gewesen. In der Gegenwart ist die von der Alten Kirche und den Reformatoren bewunderte Hochchristologie des Briefes auf scharfen Widerspruch gestoßen, weil ihr der Charakter der unmittelbaren tröstenden Anrede Gottes fehle (vgl. H. Braun, Gewißheit). Gegen dieses Urteil hat aber H. Hegermann geltend gemacht, daß die Christologie des Hebr insgesamt „als Artikulation des Sprechens Gottes im Sohne“ aufzufassen sei und deshalb gerade als den Menschen bergende Anrede Gottes verstanden werden wolle (H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer, 1988, 22). Eigentümliche Faszination übt der Brief aber auch dadurch aus, daß die historischen Fragen nach Verfasser und Adressaten, Traditionsmilieu und Datierung seit altkirchlichen Zeiten unlösbar scheinen. Schon Origenes hat geurteilt: „… daß die Gedanken vom Apostel (Paulus) stammen, Ausdruck und Stil dagegen einem Manne angehören, der die Worte des Apostels im Gedächtnis hatte und die Lehren des Meisters umschrieb … Wer indes tatsächlich den Brief geschrieben hat, weiß Gott“; und er hat hinzugefügt: „Soviel wir aber erfahren haben, soll entweder Clemens, der römische Bischof, oder Lukas, der Verfasser des Evangeliums und der Apostelge85

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schichte, den Brief geschrieben haben“ (Euseb, KG VI 25,13 f.; zitiert nach H. Hegermann, a.a.O., 9). Die historische Unsicherheit mindert die kanonische Bedeutung des Hebr nicht, nötigt aber zu exegetischer Bescheidenheit. 1. Auf die Erörterung der Einleitungsprobleme kann trotzdem nicht verzichtet werden, weil erst von ihnen aus das historische Profil und die theologische Eigenständigkeit des Hebr herausgestellt werden können. 1.1 Ähnlich wie beim 1Joh fehlt auch dem Hebr ein Präskript. Das (im paulinischen Stil gehaltene) Eschatokoll (= 13,22–25) nennt den Brief einen lovgo" th`" paraklhvsew", d. h. eine Mahn- und Erbauungsrede (vgl. Apg 13,15). Es besagt außerdem, daß der Briefsteller die Adressaten zusammen mit dem Bruder Timotheus (der aus der Haft [?] freigekommen ist) in Kürze besuchen will. Er grüßt „alle eure Vorsteher“ (hJgouvmenoi) und „alle Heiligen“, schreibt also an Christen, die von (mehreren) ‚Vorstehern‘ (hJgouvmenoi ; vgl. Lk 22,26) geleitet werden und sich a{gioi nennen. In 13,24 werden Grüße von „denen aus Italien“ ausgerichtet. Da mit Timotheus aller Wahrscheinlichkeit nach der von Paulus bekehrte und geschätzte Mitarbeiter des Apostels gemeint ist (vgl. 1Thess 3,2; 1Kor 4,17; Phil 2,19–23; Apg 16,1–3), ist Paulus für unseren Brief kein Unbekannter. Der Gruß „derer aus Italien“ wird gut verständlich, wenn es sich um eine Gruppe von aus Italien stammenden (Juden-)Christen handelt, die sich analog zu den Diasporasynagogen (vgl. Apg 2,9–11; 6,9) zu einer landsmannschaftlichen Gemeindegruppe zusammengeschlossen haben und nun ihre Landsleute (in Rom?) grüßen lassen. Ob der Brief wirklich nach Rom (und nicht anderswohin) gerichtet ist, entscheidet sich an der Auslegung von 10,32–36 und der Datierung insgesamt. 1.2 Da im 1Clem (verfaßt 96/97 n. Chr.) der Hebr bereits zitiert wird (vgl. 1Clem 17,1 mit Hebr 11,37 und 1Clem 36,2–5 mit Hebr 1,3–12), ist der terminus ad quem für die Entstehungszeit gegeben. Ein terminus a quo ergibt sich, wenn man die in 10,32–36 erwähnten Schmähungen, Verfolgungen und Konfiskationen, welche die Adressaten erlitten haben, zeitgeschichtlich zu verifizieren versucht. Die Formulierung in 12,4 verbietet, diese paqhvmata auf die Neronische Christenverfolgung im Jahre 64 n. Chr. zu beziehen. In deren Verlauf hat es zahlreiche Martyrien gegeben. Von solchen verlautet aber im Hebr (noch) nichts. Geht man weiter zurück, passen die Formulierungen von 10,32–34 vorzüglich auf die Vertreibung von Juden und Judenchristen aus Rom durch Kaiser Claudius im Jahre 48 n. Chr. (vgl. Apg 18,2 und Sueton, Claudius § 25). Von ihr waren zwar Heidenchristen nur indirekt betroffen, aber natürlich wirkten sich die Zwangsmaßnahmen der kaiserlichen Behörden auch auf sie aus. In 2,3 deutet der Autor an, daß er selbst kein Augenoder Ohrenzeuge Jesu war, sondern seine Lehre von den Hörern des Herrn übernommen hat. Ob er deshalb erst der zweiten urchristlichen Generation 86

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zugerechnet werden muß, ist fraglich, weil auch Männer wie Barnabas, Johannes Markus oder Apollos erst nach Ostern zur Gemeinde Jesu Christi hinzugestoßen sind. Allerdings weist die Situation der Adressaten auf Probleme hin, die erst geraume Zeit nach Gründung der Gemeinde aufgebrochen sind. Nach 6,1 besteht sie vorwiegend aus Heiden, die sich von ihren ‚toten Werken‘ zum Glauben an Gott bekehrt und gelernt haben, ihre Hoffnung auf Jesus Christus zu setzen (vgl. 1Thess 1,9–10). Wie Röm und 1Clem zeigen, schließt heidnische Herkunft der Gemeindeglieder die judenchristliche Prägung der Gemeinde, zu der sie gehören, nicht aus. Die Empfänger des Briefes sind in der Taufe von Sünden reingewaschen worden (vgl. 6,2 mit 10,22) und haben die aus ihrer Bekehrung resultierenden Anfeindungen (vgl. 10,32 mit 1Thess 1,6; 2,14) auf sich genommen; ihren verfolgten (judenchristlichen) Brüdern haben sie einst unter Einsatz von Hab und Gut beigestanden (s. o.). Nun aber sind sie ‚schwerhörig‘ geworden (vgl. 5,11; 6,12), einige von ihnen haben sich angewöhnt, nicht mehr regelmäßig an den Gemeindeversammlungen teilzunehmen (vgl. 10,25), und stehen in der Gefahr, den ihnen geschenkten Glaubensmut wieder wegzuwerfen (vgl. 6,6). Darum ruft der Autor die Gemeinde zur ‚ersten Liebe‘ (vgl. Hebr 6,10 mit Apk 2,4) zurück und ermutigt sie, dem Bekenntnis treu zu bleiben (vgl. 10,23). Auch die Aufforderung, der bereits verstorbenen Vorsteher zu gedenken (13,7), weist auf spätere Zeiten hin. Bedenkt man aber, daß sich die Ausführungen von Hebr 9,6–7; 10,1–3 leichter verstehen lassen, solange im Jerusalemer Tempel noch Priesterdienst geleistet wurde, ändert sich das Bild. Der Autor spricht nirgends von der Zerstörung Jerusalems. Er weiß aber noch, daß Jesus „außerhalb des (Stadt-)Tores“ hingerichtet worden ist (vgl. 13,12). Diese Bemerkung ist nicht einfach aus Lev 16,27 ‚herausgesponnen‘, sondern bezieht sich auf eine Situation, die nur bis 41 n. Chr. gegeben war, als Herodes Agrippa II. die sog. dritte Mauer Jerusalems zu bauen begann und das Areal, in dem Golgatha lag, in das Stadtgebiet einbezog (vgl. Josephus, Bell 5,147 ff.). Es ist also Zurückhaltung gegenüber der üblichen Spätdatierung des Briefes in die Zeit zwischen 80 und 90 n. Chr. geboten. Der Hebr kann durchaus noch vor der Neronischen Verfolgung, also Anfang der 60er Jahre verfaßt worden sein, und es spricht so gut wie nichts dagegen, ihn als eine Mahnrede für die Christen in Rom anzusehen. (Ob der in 13,23 angekündigte Besuch des Timotheus etwas mit 2Tim 4,9 zu tun hat, läßt sich leider nicht sagen.) 1.3 Als Autor kommt ein urchristlicher Lehrer in Frage, dem Stil und Inhalt des Briefes ebenso zuzutrauen sind wie die Bekanntschaft mit Timotheus (vgl. 13,23). Er muß außerdem den Adressaten so gut bekannt gewesen sein, daß sie ihn auch ohne Namensnennung identifizieren konnten. Diese Merkmale treffen zu auf den in der Heidenmission maßgeblich tätigen, aus Zypern stammenden Leviten Barnabas (vgl. Apg 4,36–37; 9,27), von dessen Autorschaft Tertullian gehört hat (vgl. De pud 20), oder auch auf Apollos 87

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(vgl. Apg 18,24; 19,1), dem schon Luther unseren Brief zugetraut hat (vgl. WA 10/1, 143). Barnabas und Apollos haben sich als Lehrer und Missionare einen Namen gemacht. Paulus hat beide gekannt und geachtet (vgl. 1Kor 9,6; Gal 2,1.9 und 1Kor 3,4–5). Sie haben auch zeitweilig eng mit dem Apostel zusammengearbeitet, ohne sich von ihm vereinnahmen zu lassen (vgl. Gal 2,13; Apg 15,36–39 und 1Kor 16,12). Tit 3,13 weist darauf hin, daß Timotheus den Auftrag hatte, Apollos zu unterstützen. Folgt man der Spätdatierung, kann man sich zur Illustration der skizzierten Umstände nur an Apk 2,9.19; 3,11 und den um 111 n. Chr. verfaßten Pliniusbrief halten, in dem Plinius d. J. berichtet, einige der von ihm verhörten Christen seien schon „vor zwanzig Jahren“ vom Glauben wieder abgefallen (vgl. Ep X 96, 6). Der Bezug des Hebr auf das Alte Testament und die jüdische Kultordnung muß dann im Sinne einer nur literarisch motivierten Aufnahme und Deutung der einschlägigen alttestamentlichen Texte verstanden werden. Da der Briefschluß bei der Spätansetzung fiktiv wirkt, kann man über den Autor und seine Beziehung zu Timotheus gar nichts sagen.

Wem der Brief nähersteht, dem gebildeten und schriftkundigen Alexandriner Apollos oder dem aus Zypern stammenden Leviten Joseph mit dem aramäischen Beinamen Barnabas (vgl. Apg 4,36), entscheidet sich an der traditions- und religionsgeschichtlichen Standortbestimmung. 1.4 Es leidet zunächst keinen Zweifel, daß der Autor auf christliche Traditionen zurückgreift. Unter ihnen spielt das Taufbekenntnis, die oJmologiva, eine besondere Rolle (vgl. 3,1; 4,14; 10,23 mit Röm 10,9–10). Es werden aber auch Evangelientraditionen (vgl. 1,5 mit Mk 1,11Par [?]; 5,7–8 mit Mk 14,32–42Par; 7,13 mit Mt 2,6 und Lk 2,4 [?]; 12,2 und 13,12–13 mit Mk 15,20–27Par) und hymnisches christologisches Gut (vgl. 1,3–4) aufgenommen. Der Autor führt außerdem die christologische Auslegung von Ps 2 und 110 weiter: Die aus Röm 8,34; 1Joh 2,1–2 bekannte Vorstellung von der Fürsprache des erhöhten Christus wird im Hebr zu einem umfassenden Bild vom hochpriesterlichen Wirken Christi ausgebaut. Nimmt man hinzu, daß der Brief in sehr gutem Griechisch verfaßt und im Stil einer hellenistisch-judenchristlichen Mahnrede (lovgo" paraklhvsew") aufgebaut ist, wie sie in den Diasporasynagogen (vgl. Apg 13,15), aber auch christlichen Gemeindeversammlungen üblich war, erweist sich der Autor als gebildeter christlicher Lehrer. 1.5 Besonderes Profil erhält der Hebr dadurch, daß der Autor alle Register judenchristlicher Auslegungskunst der Heiligen Schriften zieht. Er stellt der veralteten alttestamentlichen Kultordnung die neue gegenüber, in der Christus als „Hochpriester nach der Ordnung Melchisedeks“ (vgl. Ps 110,4) in den Himmeln wirksam ist. In seiner Paraklese greift er auf die (jüdische Tradition der) lange(n) Kette von Glaubenszeugen aus der Zeit der Alten Setzung (diaqhvkh) zurück. Die Gemeinde ist für den Autor das wandernde 88

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Gottesvolk und christliche Existenz geduldige Wanderschaft auf das Ziel der endzeitlichen Ruhe zu, welche dem Gottesvolk verheißen ist. Diese Besonderheiten versucht man sich gegenwärtig auf dreierlei Weise zu erklären: Man verweist auf den gnostischen Hintergrund der Gedankenwelt des Briefes (E. Käsemann, E. Gräßer u. a.), zieht vor allem die jüdische Apokalyptik zu Rate (O. Michel, O. Hofius u. a.) oder stellt den Autor in Kontinuität zu Philo und der jüdisch-alexandrinischen Theologie (A. Strobel, H. Hegermann u. a.). H.-Fr. Weiß hat zwar mit Recht darauf hingewiesen, daß die Differenzen zwischen diesen drei Auslegungsmodellen durch die fließenden Übergänge zwischen den einzelnen Traditionsfeldern erheblich gemildert werden (Der Brief an die Hebräer, 1991, 96–114), aber auch bei ihm ist der Umstand seltsam unbetont geblieben, daß es schon in vorchristlicher Zeit eine am Tempel in Jerusalem beheimatete (und schließlich nach Qumran ausgewanderte) priesterliche Schultradition gegeben hat, die gleichzeitig sapiental und apokalyptisch geprägt war (vgl. A. Lange, Weisheit u. Prädestination, 1995, 301 ff.). Die entscheidende Schwäche des gnostischen Erklärungsmodells liegt darin, daß es eine ausgeprägte (vor-)christliche Gnosis im 1. Jh. noch gar nicht gegeben hat, sondern nur Ansätze zu einem sich nach 70 n. Chr. auf jüdischer und platonischer Basis ausbildenden, schöpfungsfeindlichen dualistischen Denken, das auch christliche Zirkel erfaßt hat (vgl. 1Tim 6,20). Unter diesen Umständen bieten die gnostischen Texte (aus dem 2/3. Jh. n. Chr.) keine geeignete Grundlage, sondern höchstens Vergleichsmaterial für das Verständnis unseres Briefes. – Der Sache näher kommt der apokalyptische Erklärungsversuch, weil er sich auf greifbare Texte stützen kann und durch die Qumrantexte Bestätigung gefunden hat. Die Sabbatlieder von Qumran bestätigen die Annahme von O. Hofius, daß die Vorstellung von dem Vorhang, der im himmlischen Heiligtum den Tempelraum vom Allerheiligsten abtrennt (vgl. Hebr 6,19–20; 10,19–20), auf frühjüdische Vorstellungen zurückgeht: In 4Q405 Frg. 15 II 2–5 ist die Rede von dem herrlich gewirkten „Vorhang des Debirs (= Allerheiligsten) des Königs (= Gottes)“. Die Sabbatlieder dokumentieren außerdem die genauen Vorstellungen vom himmlischen Heiligtum, die in frühjüdischen Priesterkreisen gepflegt worden sind. Hebr 6,19–20 und 10,19–20 lassen sich auf diesem Hintergrund befriedigend deuten: Beide Stellen sprechen von dem himmlischen Heiligtum und seinem Allerheiligsten, zu welchem Jesu Blut und Lebenshingabe den Zugang eröffnet haben (vgl. Kol 1,22; Eph 2,14). Die treffendsten Parallelen zu der im Hebräerbrief entfalteten Vorstellung von der himmlischen Ruhe, in welche das neue Gottesvolk der Christen eingehen soll (vgl. 3,11.18; 4,1.3.5–6), bietet die Apokalyptik des 4. Esra (vgl. 4Esr 7,36.121–124; 8,52). Nimmt man hinzu, daß in Qumran auch das Fragment eines eschatologischen Midrasch, 11Q 13 (= 11Q Melch), gefunden worden ist, in dem Melchisedek (vgl. Gen 14,18) von Ps 82,1 und Jes 52,7 her als Gottwesen (µyhiløa‘) und himmlische Erlöserfigur erscheint, welche die endzeitliche Befreiung und Entsühnung der Heilsgemeinde heraufführt und (End-)Gericht hält, verdienen frühjüdisch-apokalyptische Texte bei der Auslegung des Hebr intensive Beachtung. – Es ist aber auch noch zu bedenken, daß schon die nachexilische priester(schrift)liche Theologie in dem Schema von himmlischem Urbild und irdischem

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Abbild gedacht hat, das in Hebr 8,5; 9,23; 10,1 neu hervortritt: Die Stiftshütte ist nach Ex 25,9 nur das Abbild des Mose von Jahwe gezeigten himmlischen Urbildes (tynIb]Tæ), und nur in dieser Funktion ist sie nach Weish 9,8 das Vorbild des Tempels auf dem Zion. Der irdische Hochpriester ist nach Sach 3,1–7 und Sir 45,15–17 der gesalbte Amtsträger, der Israel im himmlischen Thronrat Gottes vertreten darf; die ihm übertragene Vermittlung zwischen dem Gottesvolk und der himmlischen Welt gipfelt nach Sir 50,1–21 in der Vollmacht zur kultischen Entsühnung Israels. Angesichts dieser Traditionen ist es unnötig, die Grundkonzeption des Hebr auf außerjüdische dualistische Wurzeln zurückzuführen. Denn diese Konzeption lebt von der eschatologischen und kosmologischen Entsprechung von vorläufiger und endgültiger Setzung, von irdischem und himmlischem Hochpriestertum sowie von nur erst zeichenhafter alter und ein für allemal wirksamer Sühne durch Christus. In diesem Konzept findet die o.g. priesterliche Schultradition ihre christliche Fortsetzung und Entsprechung. Zur Autorschaft des Barnabas passen diese Umstände noch besser als zu der des Apollos.

1.6 Der Autor des Hebr ist ein Meister hellenistisch-judenchristlicher Exegese der Heiligen Schriften. Er hat sie (vor allem) in Gestalt der Septuaginta vor Augen und legt sie nach allen Interpretationsregeln aus, die das Urchristentum vom Judentum erlernt hatte (F. Schröger). Die exegetischen Ausführungen des Hebr setzen Adressaten voraus, die über die elementaren Kenntnisse des Taufunterrichts (weit) hinausgewachsen sind (vgl. 5,14–6,1). Die wichtigsten Auslegungsmethoden sind im Hebr folgende: (1) Die Exegese nach dem Literalsinn (z.B. von Y 103,4 in Hebr 1,7 oder von Ex 24,8 in Hebr 9,20). (2) Die Auslegung im Schema von Weissagung und Erfüllung (z.B. von Ps 2,7 und 2Sam 7,14 in Hebr 1,5 oder von Jer 31,31–34 [LXX: 38,31–34] in Hebr 8,8–12). (3) Die Interpretation nach dem Schema der Typologie, d.h. der exemplarischen Vorausdarstellung eschatologischer Sachverhalte in früheren Schrifttexten (z.B. ist der Priesterkönig Melchisedek von Gen 14,17–20 nach Hebr 7,3 der Typos des Sohnes Gottes, der in Ewigkeit Priester bleibt). (4) Gelegentlich findet sich auch die sog. Allegorese, die von geistlich neuer Warte aus im alten Schriftwort Tatbestände erkennt, die dort auf Zukunft hin verschlüsselt waren (z.B. wird in Hebr 3,6 Christus als der Sohn und Treuhänder über das Haus Gottes [nach Num 12,7] gekennzeichnet und fortgefahren: „sein Haus aber sind wir“, d.h. die Gemeinde). (5) Die von den Rabbinen ständig angewandte Schlußfolgerung a minori ad maius taucht auch im Hebr auf (vgl. z.B. 9,13–14). (6) Auch der Analogieschluß aufgrund von zwei oder drei Schriftstellen, die durch Stichwort oder Inhalt miteinander verbunden ist (die sog. gezera schawa [hw:v; hr:yzEG]“ ), taucht in unserem Brief auf (vgl. z.B. 4,3–5). Solche exegetische Kunstfertigkeit ist dem Leviten Barnabas durchaus zuzutrauen, zumal er in Apg 11,24 ein ajnh;r ajgaqo;" kai; plhvrh" pneuvmato" aJgivou kai; pivstew" genannt wird, Apollos hat sie sicher besessen, denn von ihm heißt es in Apg 18,24: dunato;" w]n ejn tai`" grafai`".

Ebenso wie für Paulus (vgl. 1Kor 10,11; Röm 15,4) und seine Schule (vgl. 2Tim 3,16) weisen die inspirierten Heiligen Schriften (vgl. 3,7; 10,15) für den auctor ad Hebraeos in die Gegenwart der christlichen Gemeinde, und der Glaube an Jesus Christus ist der Schlüssel, der sie als Rede Gottes in und durch Jesus Christus verständlich macht (vgl. z. B. 2,10–13; 10,5–7.15–17). 90

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Der Verfasser konzentriert sich viel stärker als Paulus auf kultische Texte und weist noch entschiedener als der Apostel auf die Vorläufigkeit und Schwäche der alttestamentlichen Kultordnung hin (vgl. z. B. 7,18–19; 8,13; 10,1–4). Der berühmte Eingang des Briefes (1,1–2) und die Schar der alttestamentlichen Glaubenszeugen in Kap. 11 dokumentieren aber, daß die Heiligen Schriften für ihn nicht nur die überholte jüdische Kultordnung belegen, sondern auch prophetisches Zeugnis sind, das die christliche Gemeinde gehorsam zu hören und zu bedenken hat. Für den Autor ist seine exegetische Kunst auch kein Selbstzweck, sondern er stellt sie in den Dienst der Paraklese, mit deren Hilfe er die Gemeinde stärken und zum Durchhalten ermutigen will. 1.7 Über Aufbau und Inhalt des Briefes ist sich die Exegese in den letzten Jahren erstaunlich einig geworden. Angeregt durch den Aufsatz von W. Nauck, „Zum Aufbau des Hebräerbriefes“, unterscheidet sie drei Hauptteile und einen Briefschluß: I. Hauptteil: 1,1–4,13: Aufruf zum Hören auf das Heilswort Gottes im Sohn; II. Hauptteil: 4,14–10,31: Das göttliche Gnadenwort in Jesus, dem himmlischen Hochpriester; III. Hauptteil: 10,32–12,29 Aufruf zur Bewährung des Glaubens im Anbruch des Weltendes; 13,1–25 Briefschluß. Der Hebr ist also ein mit großem Bedacht gestalteter lovgo" paraklhvsew" (vgl. 13,22). Diese Gattungsbezeichnung erklärt den ständigen Wechsel von lehrhaften und ermahnenden Passagen sowie den Umstand, daß die christologischen Aussagen alle eng mit der Gemeindeermahnung verwoben sind. 1.8 Da unser Autor eine schon bestehende Gemeinde aufrichten und zum geduldigen Durchhalten ermuntern will, erinnert er sie an ihr (Tauf-)Bekenntnis, stellt ihr Christus und die durch ihn heraufgeführte neue Heilsordnung vor Augen und ruft sie auf, ihm gehorsam nachzufolgen, bis der Tag der Erlösung gekommen ist. Die Bewegung dieser Paraklese läßt sich am besten nachvollziehen, indem wir nacheinander die Christologie des Briefes, seine Antithese von Alt und Neu, den damit verbundenen Glaubensgedanken und die eng mit der Eschatologie verbundene Gemeindeermahnung in den Blick nehmen. Die Forschungslage nötigt dazu, sich bei diesen theologischen Durchgängen von der nach wie vor offenen Einleitungsproblematik (relativ) unabhängig zu machen. 2. Für die Christologie unseres Briefes ist die Rede von Christus als dem ‚Sohn (Gottes)‘ kennzeichnend, durch den Gott zur Gemeinde spricht und den er zum himmlischen Hochpriester nach der Ordnung Melchisedeks eingesetzt hat. 2.1 Das Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu ist dem Hebr so vertraut, daß er Christus nicht nur uiJo;" qeou` (vgl. 4,14; 6,6; 7,3; 10,29), sondern auch in einer auf die johanneische Christologie vorausweisenden Manier einfach oJ 91

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uiJov" nennen kann (vgl. 1,2.8; 3,6; 5,8; 7,28). Beide Pädikationen gehen auf die Bekehrungspredigt (vgl. 6,1 mit 1Thess 1,10) und judenchristliche Bekenntnisformeln wie Röm 1,3–4 zurück, berühren sich aber auch mit der weisheitlichen Jesustradition (vgl. Mt 11,27/Lk 10,22). Im Hebr beziehen sie sich auf den präexistenten Christus (vgl. 1,3), der Fleisch und Blut angenommen (vgl. 2,14), das ihm auferlegte Leiden gehorsam ertragen (vgl. 5,8 mit Joh 12,23 und Mk 14,32–42Par), durch seinen Sühnetod die ‚Reinigung von Sünden‘ erwirkt und schließlich den Thronsitz zur Rechten Gottes in den Himmeln eingenommen hat (vgl. 1,3). Die christologische Gesamtbewegung ist dieselbe wie in Phil 2,6–11 und war dem Autor und seiner Gemeinde sicher schon lange vertraut. 2.2 Auch die Verbindung Christi mit dem Wort Gottes in unserem Brief wirkt johanneisch. Sie erreicht zwar noch nicht das Stadium, in dem Christus einfach der Logos genannt wird (vgl. Joh 1,1), berührt sich aber mit Apk 19,13; 1Joh 1,1 und der das Evangelium in Form der Jesusgeschichte erzählenden apostolischen Verkündigung (vgl. Apg 10,36 [und dazu Bd. I2, 50]). 2.2.1 Das christologische Verständnis des Wortes Gottes hat im Hebr eine verheißungsgeschichtliche Ausprägung besonderer Art erfahren. Dies dokumentiert vor allem 1,1–4, der berühmte Eingang des Briefs. In meisterhafter Stilisierung, schönen Klangfiguren und in einer einzigen Satzperiode heißt es hier: „(1) Nachdem Gott einst auf vielgestaltige und mannigfaltige Weise geredet hat zu den Vätern in den Propheten, (2) hat er (jetzt) am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohn, den er zum Erben aller Dinge eingesetzt hat, durch den er auch die Äonen geschaffen hat, (3) der (da) ist Abglanz der Herrlichkeit (Gottes) und Abdruck seines Wesens, der auch das All trägt durch das Wort seiner Macht, der (durch sich selbst) eine Reinigung von den Sünden vollbracht hat und sich (sodann) zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hat, (4) der in dem Maße erhabener geworden ist als die Engel, in dem er einen sie überragenden Namen geerbt hat.“ (Übersetzung von H.-Fr. Weiß, Der Brief an die Hebräer, 1991, 133).

Das Interessante an diesem Text ist, daß die heilsgeschichtliche Perspektive vom end-gültigen Reden Gottes in und durch den Sohn in V.1–2 in V.3 mit Aussagen verbunden worden ist, die sich zu einem vierzeiligen Christushymnus ordnen lassen. Die hymnische Passage hebt sich vom übrigen Hebräerbrieftext ab durch hapax legomena (= ajpauvgasma, carakthvr, ejn uJyhloi`") und durch die Bezeichnung des Christus als Abglanz der Herrlichkeit Gottes, Abdruck seines Wesens und als Schöpfer und Erhalter der Welt. Sie gibt aber auch das Stichwort für die Sühnechristologie des ganzen Schreibens und wird in 8,1 wörtlich wiederaufgenommen. Es handelt sich also um gewichtige hymnische Formulierungen. 92

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Die hymnischen Aussagen in V.3 bieten einen weiteren Beleg dafür, daß Christus im urchristlichen Gottesdienst als Weltenschöpfer und Versöhner besungen worden ist (vgl. Kol 1,15–20). Der Autor hat dieses hymnische Bekenntnis nicht erst selbst entworfen, sondern stimmt seine Adressaten auf seine Paraklese ein, indem er sie an den ihnen seit ihrer Taufe bekannten Gemeindegesang erinnert. Die präsentische Aussage in V.3ab macht deutlich, daß Christus als das Wort Gottes Schöpfer, Versöhner und Erhalter des Alls war, ist und bleibt. Da die Weisheit in Weish 7,26 das ajpauvgasma des ewigen Lichtes (= Gottes) und in Weish 9,1.2 das schöpferische Wort Gottes genannt wird, durch welches das All mitsamt dem Menschen geschaffen wurde, ist der Anschluß von V.3 an die Weisheitstradition ebenso deutlich wie in Kol 1,15–20 auch. Nach Weish 9,4.10 ist die sofiva genau so Throngenossin Gottes wie der erhöhte Christus in V.3d. Er wird hier zusätzlich als Mittler und Medium endzeitlicher Sühne dargestellt. Die auf Ps 110,1 basierende, aber von der Septuaginta selbst nicht nahegelegte Formulierung: ejkavqisen ejn dexia`/ th`" megalwsuvnh" ejn uJyhloi`" (statt LXX: kavqou ejk dexiw`n mou), die fast wörtlich in 8,1 wiederkehrt, scheint auf alte judenchristliche Bekenntnistradition zurückzuweisen. Für solche spricht auch der Umstand, daß die direkte Nennung Gottes vermieden und statt dessen das Abstraktum megalwsuvnh eingesetzt wird (vgl. Mk 14,62Par).

In 1,4 wird die Überlegenheit des Sohnes über die Engelmächte herausgestellt: Nur der messianische Erstgeborene ist von Gott qeov" und kuvrio" genannt worden (vgl. 1,8.10 mit Joh 1,1.18 und Phil 2,9). In dieser Würde ist der Sohn zum Herrscher über das All bestellt, und die Engel müssen ihm huldigen (vgl. 1,6; 2,5–8). Mit dieser Aussage verliert sich der Autor ebensowenig wie Paulus in 1Kor 15,25; Kol 2,15 in metaphysische Spekulationen, sondern greift ein Thema auf, das für (Juden-)Christen existenzbestimmend war. Das Bekenntnis zu dem Kuvrio" jIhsou`" Cristov" machte sie unabhängig von der Engelverehrung der Synagoge (vgl. Kol 2,18) sowie den Ansprüchen der vielen von den Heiden verehrten unsichtbaren Mächte (vgl. 1Kor 8,5). Es stellte sie unter die Mittlerschaft und in den Gehorsam Christi und begründete so ihre besondere Existenz gegenüber Juden und Heiden. Für den Hebr ist diese Existenz von der parrhsiva geprägt, mit der die Christen Gott nahen und sich der Anteilschaft am künftigen Heil getrösten dürfen (vgl. 3,6; 4,16; 10,19.35). Die Dichte der Aussagen von 1,1–4 ist kaum zu überbieten. In dem Gottessohn stellt sich alles dar, was der eine Gott der Welt an schöpferischer Gnade zugedacht hat. Nur durch den Sohn gibt es Zugang zu ihm, und wenn die Gemeinde auf den Sohn hört, ist sie ganz mit Gott verbunden. 2.2.2 Die christologische Wort-Gottes-Theologie des Hebr spricht aber nicht nur von dem in und durch Christus wirksamen göttlichen Schöpferund Heilswort, sondern auch von dem Gerichtswort Gottes. Der erste Teil des Briefes schließt nämlich in 4,12–13 mit einem Lobpreis des alles durchdringenden und scheidenden lovgo" tou` qeou`. Im Hintergrund der Verse stehen Jes 49,2 und Weish 7,22–24; 18,15–17: 93

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„(12) Denn lebendig ist das Wort Gottes und wirkungskräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, durchdringend bis zur Scheidung von Seele und Geist, Gelenken und Mark, und urteilend über Gedanken und Gesinnungen des Herzens. (13) Und kein Geschöpf ist verborgen vor ihm; alles vielmehr ist unverhüllt und preisgegeben vor den Augen dessen, demgegenüber wir Rechenschaft schuldig sind.“ (Übersetzung von H.-Fr. Weiß, a.a.O., 284).

Vom Kontext her nimmt 4,12–13 die Rede Gottes von 4,3.7 auf und schärft die Dringlichkeit der Ermahnung ein, alles daranzusetzen, in die dem Gottesvolk verheißene Ruhe einzugehen (vgl. 4,11). Die Stellung und besondere Ausdrucksweise der Verse zeigt aber, daß mehr als nur eine Warnung ausgesprochen werden soll. Von 1,1–4 her kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch das göttliche Gerichtswort von dem Sohn gesprochen und ähnlich wie in Apk 1,16; 19,11–16 von ihm selbst repräsentiert wird. Christus zu bekennen und ihm die Treue zu halten, verschafft das Heil (vgl. 10,38). Aber das Bekenntnis aufzugeben und die Heilsmittlerschaft des Christus zu verleugnen, macht die Ungläubigen im Gericht schutzlos und setzt sie dem Richterspruch Gottes aus, der allen Schein durchdringt und alle Unwahrheit bloßlegt (vgl. 10,29–31). Gnade in und durch Christus gibt es nach dem Hebr für die in der Endzeit lebende Gemeinde (vgl. 1,2) nur angesichts des nahe bevorstehenden Endgerichts (vgl. 10,37), und es ist heilsnotwendig, ihr anzugehören. 2.3 Mit 4,14 beginnt nun der große zweite Hauptteil unseres Briefes. Er reicht bis 10,31 und vertieft die christologische Grundlegung des ersten Teils. Nach den Voranzeigen in 2,17; 3,1 wird Christus nunmehr in aller Deutlichkeit als himmlischer Hochpriester dargestellt, und es wird gezeigt, daß die von ihm gestiftete Versöhnung Erfüllung und Vollendung des im Alten Testament verordneten Kultus ist. Für all die (Juden-)Christen, die aus den Heiligen Schriften und vielleicht auch noch aus eigener Erfahrung (als Gottesfürchtige) die überragende Bedeutung des Kultes auf dem Zion kannten, mußte diese argumentative Vertiefung der Christologie faszinierend sein. Sie konnten nun verstehen und nachvollziehen, daß und wie die sich zu Jesus Christus bekennende Gemeinde durch den Gottessohn zur direkten und unverbrüchlichen Gemeinschaft mit Gott gelangen und durch seine Vermittlung am Gotteslob der Engel teilhaben konnte (vgl. 12,22 mit 13,15). Sie konnten dies deshalb, weil sich auch für sie die himmlische Welt nicht nur als Garten Eden darstellte, sondern als der Ort des nicht von Menschenhänden errichteten endzeitlichen Tempels (vgl. 9,11.24 mit Ex 15,17; Mk 14,58 und Apk 4,2–8), in dem es eine festgefügte Ordnung der Anbetung gab. Die Gestalt des alttestamentlichen Priesterkönigs Melchisedek (vgl. Gen. 14,17–20) dient dem Autor als Typos für den Abraham und allen seinen Nachkommen (mit Einschluß der Leviten) überlegenen himmlischen Prie94

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ster Christus. Ps 110,4 ist die maßgebende Kernstelle dieser Typologie: „Der Herr hat geschworen – es wird ihn nicht gereuen – ‚Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks‘“ (vgl. 5,6; 7,17 u.ö.). Die durch diesen Gottesschwur begründete Priesterwürde des Christus übertrifft nach Auffassung des Autors das aaronitische Priestertum (vgl. 7,20–25). Gleichwohl stellt er das priesterliche Werk des Christus auf dem Hintergrund von Lev 16 dar. Nach Lev 16 hat der Hochpriester Vollmacht und Weisung, einmal im Jahr Sühne für das Gottesvolk zu erwirken, und zwar durch den Gang ins Allerheiligste, wo er den Sühneritus mit dem Blut des Sündopferbocks zu vollziehen hat. In genauer Entsprechung zu diesem Vorgang stellt der Hebr Christus als den himmlischen Hochpriester dar, der mit seinem eigenen Blut ins himmlische Allerheiligste gegangen ist und dort ein für alle Mal Sühne für das von ihm angeführte Gottesvolk erwirkt hat. Dieser für alle Zeiten gültige Vorgang hat den alljährlich zu wiederholenden Sühneritus im Jerusalemer Tempel obsolet gemacht. In drei Stufen führt der Hebr in das Verständnis Christi als des göttlichen ajrciereuv" ein. Zunächst spricht er von dem Gottessohn, der Mensch geworden ist und dem Leiden unterworfen war; dann redet er von seinem Opfer, und schließlich stellt er seine himmlische Wirksamkeit als Hochpriester heraus. 2.3.1 Von dem durch Leiden vollendeten „Urheber des Heils“ spricht schon 2,10. Mit dem Hinweis auf ihn beginnt in 4,14 auch der zweite Briefteil: „… wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht mit unseren Schwachheiten mitleiden könnte, (vielmehr einen,) der versucht ist in jeder Hinsicht gemäß seiner Gleichheit (mit uns) – (dies freilich) ohne Sünde“ (Übersetzung von H.-Fr. Weiß, a.a.O., 291). Das Bild des leidenden Christus wird in 5,7–10 durch den Hinweis auf Jesu Gebet in Gethsemane vertieft. In Vers 7 ist die Wiedergabe von eujlavbeia strittig. Man kann übersetzen ‚Gottesfurcht‘, aber auch ‚Scheu‘ bzw. ‚Angst‘. Eijsakousqei;" ajpo; th`" eujlabeiva" kann dann heißen „aus seiner Angst erhört“ (A. Strobel, Der Brief an die Hebräer, 19914, 56), oder „erhört aufgrund seiner Gottesfurcht“ (H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer, 1988, 117 und H.-Fr. Weiß, Der Brief an die Hebräer, 1991, 301). Da eujlavbeia in 12,28 im Sinne von ‚Gottesfurcht‘ gebraucht wird, empfiehlt sich die zweite Übersetzung (s. u.). Die im Apparat des Nestle-Aland27 als Variante verzeichnete Konjektur A.v. Harnacks: oujk eijsakousqeivı ist unnötig.

Der Text besagt: Christus hat in seinen Erdentagen den Gott, der ihn vom Tode erretten konnte, laut und unter Tränen angefleht und wurde von ihm „aufgrund seiner Gottesfurcht“ erhört. Obwohl er der (präexistente) Sohn war, hat er durch sein Leiden Gehorsam gelernt, und als der Vollendete ist er allen, die ihm auf Erden gehorchen, ein Urheber des ewigen Heils geworden, der von Gott als sein Sohn und „Hochpriester nach der Ord95

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nung Melchisedeks“ angeredet wurde (5,5–6). Der Hebr führt in die priesterliche Christologie ein, indem er den Blick zunächst auf den (sündlosen, aber) versuchlichen und angefochtenen Menschen Jesus richtet und den Adressaten die Möglichkeit gibt, sich mit diesem Jesus zu identifizieren. Wie für den 1Petr 2,21–25 ist auch im Hebr der leidende Christus Vorbild der Gemeinde, nur daß nicht das Leiden des Gottesknechts (auf das der Autor nur in 9,28 anspielt), sondern Jesu Gebetskampf in Gethsemane zum Identifikationsmuster erhoben wird. (Auf die christliche Ikonographie hat diese Darstellungsweise nachhaltig gewirkt.) 2.3.2 Die Lebenshingabe Jesu am Kreuz (vgl. 12,2) wird in 9,11–14 als vollendete Sühnezeremonie dargestellt, die sich im Allerheiligsten des himmlischen Heiligtums abgespielt hat: Christus hat durch die Sprengung seines eigenen Blutes dem eschatologischen Gottesvolk ein für alle Mal Reinigung von Sünden, Heiligung und ewige Erlösung erwirkt. Das Blut Christi ist das Sühnemittel schlechthin, und die von Gott verfügte Selbstpreisgabe seines Sohnes ist das Opfer, das alle weiteren Opfer erübrigt. Unser Brief wendet in 9,26 den Begriff ‚Opfer‘ (qusiva) auf Jesu Sühnetod an, und zwar unter dem (auch in den Paulusbriefen nachweisbaren) Doppelaspekt der gehorsamen Selbstpreisgabe des Sohnes (vgl. 9,14) und seiner Aufopferung durch den Vater (vgl. 9,28). Der Autor bringt damit auf den Begriff, wie der Sühnetod Jesu urchristlich nicht erst in Eph 5,2 und im Hebr, sondern von Anbeginn der Traditionsbildung an und im gesamten Judenchristentum gedacht worden ist. Schon das Sühnopferblut, das im Jerusalemer Tempel gesprengt wurde, ist nach Lev 17,11 als Gabe Gottes an sein Volk verstanden worden; im Blut Christi gipfelt Gottes Gnadengabe an sein Volk und macht die Darbringung weiterer Sühnopfer im Tempel überflüssig (vgl. 9,24–26). Der wahrscheinlich schon im Stephanuskreis entworfene kühne Gedanke, daß Jesus auf Golgatha von Gott zum neuen ‚Sühnmal‘ (iJlasthvrion) eingesetzt wurde und Karfreitag der Große Versöhnungstag der christlichen Gemeinde ist (vgl. Röm 3,25 und dazu Bd. I3, 192 f.), ist in Hebr 9 christologisch vollends ausgearbeitet worden. Ansätze für die Christologie des Hebr scheinen also ebenso wie Röm 3,25 auf die in Antiochien bewahrte Tradition der sog. Hellenisten zurückzugehen.

2.3.3 Die Gegenüberstellung von alter und neuer ‚Setzung‘, Sinaibund und neuem Bund, von dem bei der Stiftung des Sinaibundes (durch Mose) gesprengten ‚Bundesblut‘ (vgl. Ex 24,8) und dem Opferblut Jesu, war unserem Autor aus der (vor-)lukanisch-paulinischen Abendmahlstradition (vgl. Lk 22,14–20; 1Kor 11,23–26 und dazu Bd. I3, 129 ff.) vorgegeben. Er greift sie auf und stellt die durch das Opfergeschehen auf Golgatha heraufgeführte Ablösung der palaia; diaqhvkh durch die kainh; diaqhvkh von Jer 31,31–34 (LXX: Jer 38,31–34) in 8,7–13; 10,15–18; 12,18–24 deutlicher heraus als alle anderen neutestamentlichen Autoren. Die Gemeinde lebt nach dem Hebr im Zeichen der neuen Setzung: Sie hat Vergebung ihrer Sünden sowie volle 96

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Gottesgemeinschaft erlangt und steht unter dem Anspruch der ihr ins Herz geschriebenen Weisungen Gottes. Umso auffälliger ist es, daß der auctor ad Hebraeos, der dem Opfertod Jesu größte Bedeutung beimißt (s. o.), vom Abendmahl nur ganz beiläufig spricht. Auf die Taufe verweist er mit (relativ) deutlichen Worten (vgl. 6,4–5; 10,22), aber vom Abendmahl sagt er in 13,10 nur kurz (und kryptisch): „Wir haben einen Altar, von dem die Diener des Zeltes zu essen keine Vollmacht haben“. Das meint: Während sogar den Priestern der Genuß vom Fleisch des zur Sühne für Israel geschächteten Widders verwehrt war (vgl. Lev 16,27 mit Hebr 13,11), haben die Christen das Vorrecht, von dem Opfer(altar) zu essen, das (der) Christus selbst ist. Aber dieser (sachlich gewichtige) Hinweis wird nicht weiter ausgeführt, sondern einbezogen in den Aufruf, Christus vor das Tor nachzufolgen und seine Schmach auf sich zu nehmen (vgl. 13,12–14). Der Hebr hat offenbar eine hohe Meinung vom Herrenmahl, aber seine Adressaten (in Rom) waren keine Sakramentalisten, die ähnlich ausführlicher Korrektur bedurften wie die Christen in Korinth. Ähnlich wie Paulus liegt dem Autor aber daran, in der Gemeinde unter Berufung auf Taufe und Abendmahl keine falsche Heilssicherheit aufkommen zu lassen, sondern sie zu ermahnen, ihren Weg in einer Weise weiterzugehen, der ihrer Versühnung würdig ist (vgl. 4,2–3 mit 1Kor 10,1–22). 2.3.4 Die Krönung seines Opfergangs ist nach unserem Brief die Einsetzung Jesu zum himmlischen Hochpriester, der vor Gott wirksam ist bis zum Jüngsten Tage. In Ps 110, dem Erhöhungs- und Auferstehungspsalm des Urchristentums schlechthin, heißt es in V.4: „Der Herr hat geschworen, und es wird ihn gewiß nicht reuen: ‚Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks‘“. Der Hebr bezieht diesen Vers und den in ihm ausgesprochenen Gottesschwur in 5,6; 7,17.21 auf Jesu Erhöhung. In 7,24–25 fügt er hinzu, im Unterschied zu den irdischen Priestern habe Christus, „… weil er in Ewigkeit bleibt, ein unwandelbares Priestertum. Daher ist er auch imstande, für immer diejenigen zu erretten, die durch ihn zu Gott hinzutreten – er, der allezeit lebt, um für sie (vor Gott) einzutreten“ (Übersetzung von H.-Fr. Weiß, a.a.O., 407). Die Aussage zeigt, daß auch der Hebr eine fortdauernde himmlische Wirksamkeit Jesu für die Seinen kennt (vgl. ähnlich Röm 8,31–34 und 1Joh 2,1–2). Von ihr spricht er auch in 9,24. Als Mittler der Erlösung und himmlischer Fürsprecher ist und bleibt Christus also der entscheidende Garant der Erlösung. Die irdische Gemeinde darf sich seines Opfergangs erinnern und seines beständigen Mittlerdienstes in den Himmeln getrösten: Durch ihn erfährt sie ständige Vergebung der Sünden, und kraft seiner Mittlerschaft darf sie Gott mit ihrem Lobopfer dienen in der Gewißheit, schon auf Erden in der Nähe Gottes zu stehen (vgl. 13,15). 97

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3. Der Hebr will ein lovgo" paraklhvsew" sein und stellt deshalb seine ganze Christologie in den Dienst der Gemeindeermahnung. Die Paraklese zielt darauf ab, die erschlaffende Gemeinde zu ermutigen, an dem angestammten (Tauf-)Bekenntnis festzuhalten und den Weg der Nachfolge durchzuhalten bis zum (nahen) Ende. 3.1 Wie die Paraklese in den Paulusbriefen oder im 1Petr fußt auch die Gemeindeermahnung des Hebr auf dem Heilsgeschehen, redet also von der Verpflichtung von getauften Christen, die der Erlösung aus Gottes freier Gnade heraus teilhaftig geworden sind. Man kann das Verhältnis von Indikativ und Imperativ sehr schön an 4,14 ablesen: „Da wir nun einen erhabenen Hochpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, (nämlich) Jesus, den Sohn Gottes, laßt uns an dem Bekenntnis festhalten!“ (vgl. ähnlich 10,19–25). Der Appell erhält dadurch höchste Dringlichkeit, daß die Gemeinde nach Auffassung des Autors in der Endzeit lebt (vgl. 1,2) und auf das nahe Endgericht zugeht (vgl. 8,13; 10,37). In diesem Gericht kann und wird nur bestehen, wer ein Leben lang Glaubenstreue bewahrt hat (vgl. 10,38). 3.2 Streckenweise trägt der Brief eine an Paulus erinnernde Gesetzeskritik vor. Der Grundgedanke ist dabei der, daß mit dem Auftreten und der Einsetzung Jesu zum himmlischen Hochpriester die bisher gültige Lebens- und Kultordnung aufgehoben und die neue Lebensordnung von Jer 31,31–34 in Kraft gesetzt worden ist (s. o.). Die kultisch akzentuierte Christologie des Hebr bringt es mit sich, daß bei der Gesetzeskritik vor allem die Ablösung der alten Kultordnung durch die neue im Mittelpunkt steht. Der judenchristliche Autor weiß aber sehr gut, daß diese Kultordnung ein Zentralstück der göttlichen Gesetzgebung vom Sinai ist (vgl. 7,11–12; 8,6). Schon in 2,1–4 stellt er die alte (durch Engel vermittelte, vgl. Apg 7,53; Gal 3,19) Gesetzeswirklichkeit und die neue Heilsordnung gegenüber. Dann propagiert er in 7,11–19 die Aufhebung des levitischen Priestertums durch das Priestertum Jesu und formuliert ganz ähnlich wie Paulus: Die frühere ejntolhv wird wegen ihrer Schwäche und Nutzlosigkeit aufgehoben; weil der novmo" nicht zur Vollendung geführt hat, wird eine bessere Hoffnung etabliert, durch welche die Glaubenden Gott nahen dürfen (vgl. 7,18–19 mit Gal 3,21; Röm 8,3 und Ez 20,25). In 8,7–13 und 10,11–18.19–25 stellt der Autor unmißverständlich heraus, daß die Gemeinde nunmehr im Zeichen der durch Jesu Sendung heraufgeführten neuen ‚Setzung‘ Gottes lebt. Durch sie ist die alte Kultordnung mitsamt den nutzlosen Speisevorschriften aufgehoben (vgl. 13,9). Aber das von Jesus selbst vorbildlich erfüllte Gebot der Gottesfurcht (vgl. 5,7; 12,28–29) und die Weisung der Bruderliebe (vgl. 6,10; 13,1–2) bleiben ebenso in Gültigkeit wie die in der zweiten Tafel des Dekalogs zusammengefaßten göttlichen Weisungen (vgl. 12,15; 13,3–5). Nach dem Hebr ist die Tora nicht einfach in und durch Christus abgetan, sondern im Sinne von Jer 31,33–34 in Geltung! 98

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3.3 Aus dieser Gegebenheit zieht unser Brief Folgerungen, die judenchristlich konsequent sind, aber wache, theologische Verarbeitung erfordern. Sie werden am deutlichsten in der Glaubensparaklese 10,19–13,25 und in den in sie eingeflochtenen Hinweisen auf die Unmöglichkeit, einmal vom Bekenntnis abgefallene Christen neu für Christus und die Gemeinde zu gewinnen (vgl. 6,4–8; 10,26–31; 12,15–17). 3.3.1 Die Lage der Adressaten (s. o.) erklärt, warum die Glaubensparaklese ganz auf das Thema Bewährung und Festhalten an der Hoffnung auf Gottes Verheißung gestimmt ist. Der Autor definiert zunächst in 11,1, was Glaube ist, und verweist dann von 11,2 an auf die Glaubenstreue der presbuvteroi, an der sich die Gemeinde ein Vorbild nehmen kann und soll. Die ‚Altvorderen‘ stammen sämtlich aus der Zeit der alten ‚Setzung‘ (diaqhvkh). Die ‚Wolke‘ der Glaubenszeugen (vgl. 12,1) beginnt mit Abel und schließt mit den Märtyrern der Makkabäerzeit und den Propheten, die das Martyrium erlitten haben. Die Zeugenreihe ist ein christliches Gegenstück zu ähnlichen paradigmatischen Reihen in der frühjüdischen Tradition (vgl. vor allem das sog. ‚Lob der Väter‘ [Sir 44–50] und die Vitae Prophetarum). Sie belegt, daß das vom auctor ad Hebraeos repräsentierte (Juden-)Christentum nicht nur mit den Heiligen Schriften im engeren Sinn, sondern auch mit den jüdischen Legenden über das Schicksal der Märtyrer (vgl. 2Makk 7; 4Makk 7,24–16,6) und Propheten vertraut war (vgl. zur Felltracht der Propheten MartJes 2,9–10, zur Zersägung Jesajas VitProph 1,1 und AscJes 5,1-14 usw.). Die Definition von pivsti" in 11,1 lautet: „Es ist aber der Glaube ein Feststehen (uJpovstasi") bei dem, was man erhofft, ein Überführtsein (e[legco") von den Dingen, die man (noch) nicht sieht“. Luthers schöne Wiedergabe: „Es ist aber der Glaube / eine gewisse Zuversicht / des / das man hoffet / und nicht zweiveln an dem / das man nicht sihet“, an der auch die Revisionen des Luther-NT von 1975 und 1984 festgehalten haben, ist philologisch unsicher, weil uJpovstasi" nicht ‚Zuversicht‘ und e[legco" nicht ‚Nichtzweifeln‘ bedeutet. In Frage kommen für uJpovstasi" nur ‚Standpunkt‘, ‚Feststehen‘ (vgl. Polybios, Hist IV 2,1; 50,10) oder ‚Wesen‘, ‚Wirklichkeit‘ (s. u.) und für das hapax legomenon e[legco" ‚Zurechtweisung‘, ‚Überführtsein‘ oder auch ‚Beweis‘. Josephus gebraucht uJpovstasi" in Ant 18,24 für die bis zur Martyriumsbereitschaft reichende unerschütterliche Überzeugung der Zeloten. Diese Bedeutung fügt sich in den Kontext von Hebr 11 ebenso gut ein wie die juridische von e[legco": An Mk 13,10; Mt 24,14; Joh 16,8–11 und 2Kor 2,15–16 kann man ablesen, daß die Apostel die ihnen aufgetragene Verkündigung des Evangeliums als endzeitliches Prozeßgeschehen verstanden haben. Die allen Völkern vor der Parusie zu verkündigende Botschaft von der Königsherrschaft Jesu Christi hatte rechtlich scheidende Kraft: Der eine Teil der e[qnh ließ sich durch sie überführen (ejlevgcein), d. h. von der Herrschaft Christi und der Heilsnotwendigkeit des Christusbekenntnisses überzeugen,

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dem anderen Teil aber, der das Evangelium zurückwies, wurde die Botschaft zum Zeugnis, bei dem sie im Endgericht behaftet (und wegen ihres Unglaubens verurteilt) werden konnten. Mit e[legco" spielt der Autor auf die Verkündigung an, welche die Adressaten davon überzeugt hat, daß sie Christus als Herrn bekennen dürfen und müssen. Durch sie sind sie mit parrhsiva, d. h. dem Freimut des Glaubens (vgl. 3,6; 4,16; 10,19.35) und der Hoffnung beschenkt worden, an der (noch zukünftigen) himmlischen Erlösung teilhaben zu dürfen, die Christus für sie erwirkt hat (vgl. 9,12.15).

Nach 11,1 ist also „der Glaube ein (von Gott gefordertes unbeirrbares) Feststehen bei dem, was man (aufgrund der in Gottes Wort gegebenen und durch Christi hochpriesterliches Selbstopfer zuverlässig verbürgten Verheißung) erhofft (und was am Tag der Heilsvollendung offenbar werden wird), ein (objektives, im Glauben gewährtes) Überführtsein von der Realität der (in der Transzendenz bereits jetzt existierenden und den Glaubenden zubereiteten) Dinge, die man (mit den Augen der sinnlichen Wahrnehmung) nicht sieht (, die aber im Eschaton sichtbar werden und zu denen die Glaubenden dann unmittelbar hinzutreten können).“ (Chr. Rose, Die Wolke der Zeugen, 146). Diese Deutung fügt sich wesentlich besser in den Kontext der Glaubensparaklese ein als jene, die von der Bedeutung uJpovstasi" = Wesen, Wirklichkeit (vgl. 1,3) ausgeht und in 11,1 eine ontologische Wesensdefinition des Glaubens sehen will. Nach H. Köster (Artikel: uJpovstasi", ThWNT VIII, 571–588) „(beschreiben) e[legco" und uJpovstasi" … zunächst einmal nicht den Glauben, sondern definieren den Charakter der jenseitigen und zukünftigen Dinge“, und dann wird „die pivsti" in einer Formulierung von unvergleichlicher Kühnheit (mit jener jenseitigen Wirklichkeit) identifiziert: Der Glaube ist die Wirklichkeit des Erhofften in eben dem gleichen Sinne, in dem Jesus als carakthvr der Wirklichkeit des jenseitigen Gottes bezeichnet ist (Hb 1,3)“ (a.a.O., 585 f.; kursiv bei K.).

In Abwehr vorschneller philosophischer Antworten auf die Frage nach den Ursprüngen der Erscheinungswelt definiert der Autor in 11,3 zunächst (parallel zu 2Makk 7,28) „den Schöpfungsglauben, der die Christen und die presbuvteroi zusammenschließt“ (Chr. Rose, a.a.O., 151). Er mißt Gott die Macht zu, die Welten kraft seines Wortes (aus dem Nichts) erschaffen zu haben (vgl. 2Makk 7,28); er wird auch dafür sorgen, daß die Altvorderen zusammen mit den gegenwärtig Glaubenden der verheißenen Vollendung teilhaftig werden (vgl. 11,39–40). Die mit 11,4 einsetzende Zeugenreihe stellt die presbuvteroi einzeln vor und meint mit dem ständig wiederholten pivstei – gut alttestamentlich-jüdisch – ihre hoffnungsvolle und tatkräftige Gottesfurcht. Ohne sie ist es nach 11,6 unmöglich, Gott zu gefallen. Der vom Hebr herausgestellte Glaube der Altvorderen ist keine pivsti" eij" ∆Ihsou`n Cristovn im Sinne des Paulus, sondern Glaubenstreue mit Blick auf die zukünftigen Heilsgüter. 100

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Wie weit der Hebr von Paulus entfernt ist, läßt sich an seiner Exegese von Hab 2,3–4 in 10,36–39 und dem Verweis auf Abraham in 11,8–10.11–12.17–19 erkennen. Hab 2,3–4 wird vom Hebr ähnlich wie in 1QpHab 8,1–3 auf die Glaubenstreue des Gerechten bezogen, die beim Kommen des Messias die verheißenen Heilsgüter erlangen und das Leben in Gottes Nähe gewinnen wird. Wer aber solche Treue nicht aufbringt und zurückweicht, geht dem Verderben entgegen. Beispiele von Glaubenstreue haben nach 11,4 ff. alle die presbuvteroi gegeben, die der Verfasser aufzählt. Zu ihnen gehört auch Abraham. Er hat seine pivsti" gleich mehrfach unter Beweis gestellt: Er ist auf Gottes Befehl hin aus seiner Heimat aufgebrochen und ins verheißene Land gezogen (V.8–10); Sara und er haben trotz ihres Alters an der Verheißung von Nachkommen festgehalten, so daß von ihm eine unzählbare Menge abstammt (V.11–12); er hat Isaak tatsächlich aufgeopfert (vgl. das Perfekt: prosenhvnocen in V.17) und den Träger der Verheißung durch Totenauferweckung zurückerhalten (V.19). Hab 2,4 ist für den auctor ad Hebraeos also kein Schriftbeleg für die Rechtfertigung aus Glauben (an Christus) allein wie für Paulus in Gal 3,11 und Röm 1,17 und Abraham kein aus Glauben gerechtfertigter Gottloser wie für den Apostel (vgl. Röm 4,3–5 mit Gal 3,6). Sondern beide Male schließt sich der Hebr an die geläufige frühjüdische Auslegungstradition an und gibt ihr durch die Ausrichtung auf die in Christus verheißenen (himmlischen) Heilsgüter eine neue Perspektive.

Die Glaubenstreue der ‚Wolke von Zeugen‘ wird in 12,1–4 christologisch ausgerichtet: Jesus hat sie während seines Erdenlebens in vollendeter Weise vor-gelebt. Deshalb ist er nach 12,2 der „Anführer und Vollender des Glaubens“ (oJ th`" pivstew" ajrchgo;" kai; teleiwthv"). Mit dieser klassischen Formulierung nimmt der Hebr urchristlich-liturgische Sprache auf (vgl. Apg 3,15; 5,31; 2Clem 20,5). Der Begriff ajrchgov" bedeutet in der außerbiblischen Gräzität ‚Begründer, Urheber, Anfänger‘ oder auch ‚Oberhaupt, Führer, Fürst‘. Im hellenistischen Judentum wird das Wort vor allem im zweiten Sinn gebraucht (vgl. Ri 5,15[B]; Jes 3,6–7; 1Chr 12,21). Die hebräischen Äquivalente aycin: und vaOr dienen in den Texten von Qumran dazu, den davidischen Messias (vgl. 1Q28b 5,20; 1QM 5,1) und den (messianischen) Hochpriester zu bezeichnen (vgl. 1QM 2,1 mit 15,4; 16,13 u.ö.). Da terminologisch relevante Belege aus gnostischen Texten fehlen, wird man trotz des Widerspruchs von E. Gräßer (An die Hebräer, Bd. 1, 1990, 130–133) und H.Fr. Weiß (Der Brief an die Hebräer, 1991, 211 f.) sagen dürfen, daß in dieser Bezeichnung Christi „die Kontinuität des atl.-jüd. Themas der heilsgeschichtlichen Führung Jahwes bis in die christologische Titulatur hinein“ festgehalten wird (P.-G. Müller, EWNT I, 393): Der von Gott gesandte und durch sein vorbildliches Leiden hindurch zum himmlischen Hochpriester aufgestiegene Christus ist nicht nur der messianische Urheber des endzeitlichen Heils, sondern auch das Vorbild für Glaubenstreue. Im Gegensatz zu den anderen Autoren des Neuen Testaments bezeichnet der Hebr mit pivsti" also auch das besondere Gottesverhältnis Jesu. Er ruft die Gemeinde auf, Christus nicht nur als messianischen Heilsmittler zu bekennen, sondern auch dem Vorbild seiner Leidensbereitschaft nachzueifern. Sie 101

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soll mit ihm „vor das Lager hinausziehen“ (13,13), seine Schmach mittragen und im Vollzug dieser Kreuzesnachfolge die Hoffnung bewahren, in die dem Gottesvolk verheißene Ruhe eingehen zu dürfen. Der Hebr vertritt hier eine ganz ähnliche Art von theologia crucis wie die Synoptiker (vgl. Mk 8,34–35Par). 4. Mehrfach warnt der Autor eindringlich davor, die durch Taufe und Bekenntnis begründete parrhsiva wieder wegzuwerfen (vgl. 2,1–4; 6,4–8; 10,26–31; 12,15–17). Die vier Texte lassen sich bei einer Frühdatierung des Briefes als präventive Ermahnungen begreifen, während bei einer Spätdatierung davon auszugehen ist, daß einige Christen der Gemeinde bereits den Rücken gekehrt haben und der Verfasser weitere solche Fälle verhindern will. Aus 10,26–31 wird am besten deutlich, warum der auctor ad Hebraeos den Abfall vom Bekenntnis für unvergebbar hält: „(26) Denn wenn wir vorsätzlich sündigen nach dem Empfang der Erkenntnis der Wahrheit, bleibt kein Opfer mehr für die Sünden übrig, (27) vielmehr (nur noch) ein furchtbares Warten auf (das) Gericht und (die) Glut von Feuer, das die Widersacher (Gottes) verzehren wird. (28) Denn wenn jemand das Gesetz des Mose nicht beachtet, stirbt er ohne Erbarmen auf (das Zeugnis von) zwei oder drei Zeugen hin. (29) Einer um wieviel ärgeren Strafe, meint ihr, wird derjenige würdig sein, der den Sohn Gottes mit Füßen getreten hat und das Blut der (neuen) Heilsordnung für gemein erachtet hat, durch das er (doch) geheiligt worden ist, und sich über den Geist der Gnade erhoben hat? (30) Wir kennen ja doch den, der gesagt hat: ‚Mir gehört die Rache, ich werde vergelten‘; und wiederum: ‚Richten wird der Herr sein Volk‘. (31) Furchtbar (nämlich) ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ (Übersetzung von H.-Fr. Weiß, a.a.O., 536)

Die hier geäußerte Meinung des Autors ist Ergebnis derselben typologischen Auslegung der Heiligen Schriften, die auch seine Sicht vom himmlischen Hochpriestertum Jesu bestimmt: Nach Lev 4 sühnen kultische Sühnopfer nur Sünden, die ohne Vorsatz begangen worden sind. Mit der LXX gesprochen: Sie werden nur wirksam, wenn ein einzelner oder die Gesamtgemeinde ajkousivw" sündigen (vgl. 4,12.13). Diese Einschränkung gilt auch für die Sühne am Großen Versöhnungstag und wird bis in den MischnaTraktat Yoma (= Großer Versöhnungstag) hinein festgehalten: In mYom VIII 9a heißt es: „Sagt jemand: ich will sündigen und Buße tun, wieder sündigen und Buße tun, dem wird nicht Raum zur Buße gegeben (von Gott). (Sagt er,) ich will sündigen und der Versöhnungstag mag es sühnen, so wird es der Versöhnungstag nicht sühnen“; 9b fährt fort: „Sünden, die sich zwischen Menschen und der höchsten Stelle (= Gott) abspielen, sühnt das Sühnfest, aber die, welche sich zwischen jemand und seinem Nächsten abspielen, sühnt das Sühnfest nur, wenn er seinen Nächsten zuvor begütigt hat“ (vgl. Mt 5,23–24). Der Hebr sieht die Dinge genauso. In 10,26 betont 102

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er in umgekehrter Entsprechung zu Lev 4,12.13, daß vorsätzliches Sündigen (eJkousivw" aJmartavnein) unvergebbar sei. Nach 6,6 ist damit der Abfall vom Bekenntnis gemeint. Wer sich diesen Abfall zuschulden kommen läßt, treibt nach Ansicht des Autors mit Christus seinen Spott und kreuzigt den Sohn Gottes aufs neue. Unser Briefsteller überträgt also die alttestamentlich-jüdische Ansicht, daß Sühnopfer nur unvorsätzliche Sünden sühnen, auf das eschatologische Opfer Jesu Christi. Deshalb kommt er zu dem Schluß, daß die freiwillige Verwerfung des christlichen Bekenntnisses nach der Taufe unvergebbar ist. Diese Schlußfolgerung ist im Rahmen des vom Hebr gewählten Denkansatzes schlüssig. Die Feststellung: „… es ist unmöglich (ajduvnaton), die einmal erleuchtet worden … und gleichwohl abgefallen sind … wiederum zur Umkehr zu erneuern“ (6,4–6), ist für den Autor keine menschliche Erfahrungsaussage, sondern verweist auf ein ihm von der Heiligen Schrift vorgegebenes „göttliches ‚Unmöglich‘“ (H. Hegermann, a.a.O., 132). Zur Erklärung dieser Position reicht der (richtige) Hinweis nicht aus, daß es sich bei dem Abfall vom Bekenntnis, vor dem der Hebr warnt, um ein Problem handelt, das die Kirche von dem Zeitpunkt an begleitet hat, von dem an sich die Christen auf einen längeren Weg durch die Geschichte einstellen mußten. Man sollte auch sehen, daß die synoptischen Logien von der unvergebbaren Schmähung des Heiligen Geistes (vgl. Mk 3,28–29Par) sachlich in dieselbe Richtung weisen wie unser Brief. Nach der synoptischen Tradition ist es unvergebbar, wenn jemand dem in der Vollmacht des Geistes wirksamen Christus ins Angesicht hinein absagt, und der Hebr hält es für unverzeihlich, wenn jemand die durch Christus für ihn ein für allemal erwirkte Vergebung der Sünden verwirft. Sofern damit die letztgültige Erlösung gemeint ist, gehen Menschen mit dem Abfall vom Taufbekenntnis tatsächlich des Heils verlustig. Fraglich an den Warnungen des Hebr ist nur zweierlei: Erstens ist zu fragen, ob seine Definition der Reichweite des Opfertodes Jesu zureichend ist, und zweitens ist zu prüfen, ob die Konsequenz, die der Hebr aus seinem Verständnis der qusiva Jesu zieht, der Gnade Gottes in Christus entspricht. Zur ersten Frage ist zu sagen, daß Jesus den Opfertod am Kreuz für seine Freunde und Feinde gestorben ist (vgl. Mk 10,45Par) und daß Paulus diesen Opfertod nicht nur von Lev 16, sondern gleichzeitig auch von Jes 53 her deutet. Auf diese Weise gewinnt er die Möglichkeit, das Sühnopfer des Christus auf alle Arten von Sünde zu beziehen (vgl. 2Kor 5,21; Röm 3,23–26; 8,4). In 1Joh 2,2; 4,10 hat iJlasmov" dieselbe Reichweite. Es gibt also neutestamentliche Definitionen des Opfers Jesu, die weiter und umfassender sind als die des Hebr. – Zur zweiten Frage ist anzumerken, daß es nach jahrtausendelanger kirchlicher Erfahrung höchst problematisch ist, (von der Schrift her) zu erklären, es sei unmöglich, einmal abgefallene Christen für das Bekenntnis zurückzugewinnen. Der Hebr wird mit dieser Sicht seiner eigenen Prämisse untreu, daß der erhöhte Christus himmlischer 103

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Hochpriester ‚in Ewigkeit‘ (eij" to;n aijw`na) sei, der ‚allenthalben‘ (pavntote) für diejenigen eintritt, die durch ihn zu Gott kommen, und sie ‚für alle Zukunft‘ (eij" to; pantelev") retten kann und will (vgl. 7,24–25). Sowenig es darum gehen kann, von Realität und Ernst des Jüngsten Gerichts etwas abzumarkten, so deutlich muß man sagen, daß der Hebr mit seinem auf Lev 4 basierenden ‚Unmöglich‘ die Reichweite der Gnade Gottes und die Wirksamkeit der Fürbitte des Christus in problematischer Weise eingeengt hat. Die westliche Kirche hat darum theologisch recht daran getan, in der Mitte des 3. Jh.s die sog. Lapsi (d. h. Christen, die ihren Glauben aus Furcht vor Verfolgung und Martyrium verleugnet hatten) wieder in die Gemeinden aufzunehmen, und zwar gegen den Widerspruch von Montanisten und Novatianern, die sich für ihre ablehnende Haltung auf den Hebr beriefen. Luther hat in seiner Vorrede auf unseren Brief von 1522 denselben Punkt beklagt: „Uber das hatt sie eyn harten knotten, das sie am .6. unnd 10. cap. stracks verneynet unnd versagt die pus den sundern nach der tauffe, und am .12. spricht, Esau habe puß gesucht, unnd doch nicht funden, Wilchs widder alle Euangeli und Epistel Sanct Pauli ist“ (WA DB 7, 344, 13–16). In der Tat kann der Knoten nur so aufgelöst oder durchhauen werden, daß man die Aussagen des Hebr an dem mißt, was andere neutestamentliche Autoren über Gottes Gnade und die Wirksamkeit des Sühnetodes Jesu sagen.

5. Eschatologie und Paraklese sind im Hebr ineinander verwoben. Der Brief richtet sich zwar an Adressaten, die mit den typischen Problemen der zweiten christlichen Generation, d. h. Nachlassen der anfänglichen Treue und Opferbereitschaft, Distanzierung von der Gemeinde, Abfall vom Glauben und Irrlehre (vgl. 6,6.11–12; 10,25; 13,9), zu ringen haben. Gleichwohl ist die Verzögerung der Parusie (noch) kein beherrschendes Thema und die Eschatologie noch keineswegs die Lehre von den fernen letzten Dingen. Ganz im Gegenteil macht der Autor seiner Gemeinde deutlich, daß sie in der Endzeit lebt (vgl. 1,2; 9,26) und daß der in den Himmeln zum Herrn eingesetzte Christus erst noch unangefochtener Herrscher des Alls werden muß (vgl. 2,8; 10,13). Die Adressaten werden deshalb aufgefordert, den nahen Jüngsten Tag (vgl. 10,25.37–39) und die Hoffnung auf Teilhabe an der himmlischen katavpausi" nicht aus den Augen zu verlieren (vgl. 3,7–4,11). Während und weil sie auf dieses Hoffnungsziel hin unterwegs sind, haben die Christen auf dieser Erde keine bleibende Wohnstatt (povli"), sondern suchen die zukünftige in den Himmeln, das himmlische Jerusalem, zu dem ihnen Gott durch Christus Zugang verschafft hat (vgl. 11,16; 12,22; 13,14). Die Paraklese des Hebr ruft die Christen zur Bewahrung der Hoffnung und zum Festhalten am Bekenntnis auf. Sie stellt heraus, daß Gott allein es war, der aus freier Gnade heraus Christus gesandt (vgl. 1,1–2) und die himmlische Stadt (povli") für die Glaubenden bereitet hat (vgl. 11,16 mit 12,28). Der Autor scheut sich aber auch nicht, die Vergeltung (misqapodosiva) durch Gott warnend und werbend vor Augen zu stellen (vgl. 2,2 mit 104

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10,35; 11,26). Wenn man diese im Hebr deutlicher als anderswo im Neuen Testament hervortretende Rede von der misqapodosiva mit dem engen christologischen Opfer- und dem Glaubensbegriff des Briefes (s. o.) zusammennimmt und außerdem den Aufruf zum Leidensgehorsam in 12,4–11 bedenkt, zeigt sich, daß der Hebr rechtfertigungstheologisch ganz ähnlich denkt wie der Jak (vgl. Jak 2,20–26). Unser Autor argumentiert auf einem ganz anderen Niveau als der weisheitliche Jak, aber er hat von seinem judenchristlichen Traditionsansatz und seinem speziellen Standort her weder ein theologisches Interesse noch auch die sprachlichen Möglichkeiten, um seine Glaubensparaklese gegen die Gefahren einer christlichen Leistungsfrömmigkeit abzuschirmen. Der Hebr sieht die Reichweite der Gnade Gottes in Christus enger und schätzt zugleich die endzeitliche Bedeutung menschlicher Glaubenstreue höher ein, als dies bei Paulus und in seiner Schule der Fall ist.

§ 30 Apostolische Glaubenslehre und kirchliche Schriftauslegung: Der Kampf gegen die Häresie im Judasbrief und 2. Petrusbrief Literatur: R.J. Bauckham, Jude and the Relatives of Jesus in the Early Church, 1990; N. Brox, Falsche Verfasserangaben – Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie, 1975; T.S. Caulley, The Idea of ‚Inspiration‘ in 2Peter 1:16–21, Diss.theol. Tübingen 1982 (Masch.); P. Dschulnigg, Der theologische Ort des Zweiten Petrusbriefes, BZ 33, 1989, 161–177; H. Gese, Die dreifache Gestaltwerdung des AT, in: ders., Atl. Studien, 1991, 1–28; F. Hahn, Randbemerkungen zum Judasbrief, ThZ 37, 1981, 209–218; A.T. Hanson, The Living Utterances of God, 1983, 155 ff.; E. Käsemann, Eine Apologie der urchristlichen Eschatologie, in: ders., Exeget. Versuche u. Besinnungen I, 1970 6, 135–157; O. Knoch, Die ‚Testamente‘ des Petrus u. Paulus, 1973, 65–81; H. Köster, Häretiker im Urchristentum als theologisches Problem, in: Zeit u. Geschichte, FS für R. Bultmann, hg. von E. Dinkler, 1964, 61–76; D.J. Rowston, The Most Neglected Book in the NT, NTS 21, 1974/75, 554 – 563; K.H. Schelkle, Der Judasbrief bei den Kirchenvätern, in: Abraham unser Vater, FS für O. Michel, hg. von O. Betz, M. Hengel, P. Schmidt, 1963, 405 – 416; ders., Spätapostolische Schriften als frühkatholisches Zeugnis, in: Ntl. Aufsätze, FS für J. Schmid, hg. von J. Blinzler, 1963, 225–232; G. Sellin, Die Häretiker des Judasbriefes, ZNW 77, 1986, 206–225; P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des NT, 1986 2, 53 ff.75 ff.; A. Vögtle, Die Schriftwerdung der apostolischen Paradosis nach 2.Petr.1,12–15, in: NT u. Geschichte, FS für O. Cullmann, hg. von H. Baltensweiler u. B. Reicke. 1972, 297–305; ders., Christologie u. Theologie im zweiten Petrusbrief, in: Anfänge der Christologie, FS für F. Hahn, hg. von C. Breytenbach u. H. Paulsen, 1991, 383–398; H.-Fr. Weiß, Paulus u. die Häretiker. Zum Paulusverständnis in der Gnosis, in: Christentum u. Gnosis, hg. von W. Eltester, 1969, 116–128.

In den Schriften der zweiten urchristlichen Generation wird ein für die werdende Kirche des ausgehenden ersten und beginnenden zweiten Jahrhunderts höchst bedrohlicher Umstand sichtbar: Aus den eigenen Gemein105

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den heraus entwickelt sich eine Gegenströmung, die eigene missionarische Aktivität entfaltet, und zwar nicht nur unter den bislang Ungläubigen, sondern auch und vor allem unter den Glaubensgenossen von einst. Sie hat verschiedene Gestalt: Vor falschen Propheten wird in Mk 13,5–6.21–22Par gewarnt. Die Johannesschule und Ignatius haben es mit Doketen zu tun (s. u.). Paulus nimmt gegen Paulinisten Stellung, die sich von anderen aushalten ließen (vgl. 2Thess 3,11–12), libertinistische Verhaltensweisen an den Tag legten (vgl. 1Kor 5,1–5), das Gesetz verachteten (vgl. Röm 6,1.15) und die Meinung vertraten, die Auferstehung sei (im Geiste) schon geschehen (vgl. 1Kor 15,12 mit 2Tim 2,18). Leute dieser Denkart werden in 1Tim 6,20 „der fälschlich so genannten Gnosis“ zugerechnet. In Apk 2,6.14 werden die sog. Nikolaiten bekämpft, usw. Das Auftreten all dieser Irrlehrer und Enthusiasten führte zur Aufspaltung des jungen Christentums in (Haus-)Gemeinden, die an der von den Aposteln überlieferten Glaubenstradition festzuhalten versuchten, und häretische Zirkel, die diese Tradition umdeuteten oder ganz verwarfen. Der Kampf gegen die Häresie prägt auch den Judas- und 2. Petrusbrief. 1. Die beiden Briefe sind inhaltlich eng verwandt: In beiden geht es um die Abwehr von Glaubensgegnern mit Hilfe einer von alttestamentlichen und apokalyptisch-legendarischen Beispielen gesättigten, plakativen Darstellung vom schändlichen Denken und Treiben der Häretiker. Jud und 2Petr sprechen ein gewähltes Griechisch mit vielen Formulierungen, die im Neuen Testament sonst nicht vorkommen. Beide Schreiben weisen auf die Unersetzlichkeit der von den Aposteln überkommenen Überlieferung hin und machen deutlich, daß der Kampf mit der Häresie Teil jener endzeitlichen Auseinandersetzungen ist, welche die Apostel bereits vorhergesehen und der Gemeinde angekündigt haben (vgl. Jud 17 und 2Petr 3,2–7). Den Gemeinsamkeiten stehen aber auch deutliche Unterschiede gegenüber. Während der Jud nur die Länge eines in Briefform gekleideten antihäretischen Flugblatts hat, geht es beim 2Petr um ein Rundschreiben, das als Testament des Apostels Petrus gestaltet ist (vgl. 2Petr 1,13–15). Am Jud fällt auf, daß der Autor in großer Freiheit nicht nur auf die alttestamentlichen Kernschriften, sondern auch auf die Henochtradition, die sog. Assumptio Mosis und altjüdische Glaubenslegenden Bezug nimmt. Der 2Petr kennt diese Traditionen auch, stützt sich aber bei seiner Argumentation vor allem auf den Kernbestand des Alten Testaments. Der Jud will nur gegen die Irrlehrer einnehmen, der 2Petr argumentiert im Detail, erklärt die eigenmächtige Schriftauslegung der Häretiker für illegitim und entwirft im Gegenzug das erste Modell kirchlicher Hermeneutik. Gemeinsamkeit und Differenz der beiden Briefe regen dazu an, die beiden Briefe ins Verhältnis zu setzen. Das gelingt am besten, wenn man mit den meisten neueren Exegeten annimmt, daß der Jud vom Verfasser des 106

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2Petr als Vorlage verwendet worden ist. Folgt man dieser Sicht, muß der Jud vor dem 2Petr verfaßt und für so bedeutsam erachtet worden sein, daß er es wert war, reproduziert zu werden. 2. Versucht man, den Briefen historisches Profil zu geben, stößt man auf folgende Daten. Der Jud will verfaßt sein von Judas, dem Bruder des Jakobus. Damit kann nur der in Mt 13,55 und Mk 6,3 erwähnte Bruder Jesu gemeint sein. Außer der Nachricht des Paulus von missionarischen Aktivitäten der Herrenbrüder in 1Kor 9,5 wissen wir von der Tätigkeit dieses Judas nichts. Immerhin berichtet aber Euseb unter Berufung auf Hegesipp (KG III 18,4–20,7), unter Domitian seien zwei Enkel des Herrenbruders Judas als Davididen denunziert, vor den Kaiser gebracht, aber wieder entlassen worden, als sich herausstellte, daß es sich um unvermögende palästinische Bauern gehandelt habe und ihr Glaube nur das Jenseits beträfe. Der Herrenbruder Judas war also ein frühchristlich bekannter Mann. Ob er selbst unseren kurzen Brief verfaßt hat, ist umstritten. Bedenkt man aber, daß sich für ein pseudepigraphisches Schreiben ein leuchtenderer und echt apostolischer Name nahegelegt hätte, wird sehr wahrscheinlich, daß der Jud vom Herrenbruder Judas selbst verfaßt worden ist, und zwar noch zu Lebzeiten seines Bruders Jakobus in Jerusalem; später war es wenig sinnvoll, sich als Bruder des Jakobus auszugeben. (Jud 17 spricht nicht gegen eine solche Frühdatierung, weil Judas selbst kein Apostel war. Außerdem wird nicht erst in 1Joh 2,18 ff. und 2Tim 3,1, sondern schon in der synoptischen Apokalypse vor den gottlosen Verwirrungen der Endzeit gewarnt. Paulus hat diese Warnungen in 1Thess 4,13–5,11; 2Thess 2,3 ff. aufgenommen). Der Brief setzt bei seinen Adressaten genaue Kenntnis der alttestamentlich-jüdischen Literatur voraus, spricht also vor allem Judenchristen an. Da die Irrlehrer noch an den Gemeindemahlzeiten teilnehmen (vgl. Jud 4.12) und Judas ihnen auch noch nicht die Fürbitte verweigert wie Johannes den Doketen in 1Joh 5,16–17, richtet sich der Brief offenbar ähnlich wie der Jakobusbrief gegen ein akutes Übel. Der 2Petr ist später als der Jud anzusetzen. Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich um ein klassisches Pseudepigraphon, genauer: um ein pseudonymes, gegen Ende des ersten oder zu Beginn des 2. Jh.s verfaßtes Zirkularschreiben, das die auf Petrus und Paulus begründete Glaubenstradition gegen die aufkommende Häresie verteidigen will und für eine traditionskonforme Auslegung der Heiligen Schriften plädiert. Der Brief gibt sich als Testament des Apostels Petrus, das dieser niedergeschrieben hat, nachdem ihm vom Auferstandenen sein nahe bevorstehendes Martyrium angekündigt worden war (vgl. 2Petr 1,13–14 mit Joh 21,15–19); in 2Petr 3,1 wird ausdrücklich auf den kirchlich bereits bekannten 1Petr hingewiesen. Außerdem macht er durchgängig Gebrauch vom Jud (vgl. die Vergleichstabelle bei U. Schnelle, Einleitung2, 488 f.), präzisiert aber dessen Schriftgebrauch. In 3,15–16 verteidigt der Autor

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die Paulusbriefe, aber seine Sprache weicht stark vom restlichen neutestamentlichen Griechisch ab. Der Brief gehört in ein Gemeindemilieu, in dem Petrus und Paulus gleich hoch geschätzt wurden, also z. B. nach Rom; im dortigen Gemeinearchiv könnte sich neben anderen neutestamentlichen Büchern auch der Jud befunden haben. Wann und wo der 2Petr wirklich verfaßt worden ist, ist unbekannt. In 1Clem 23,3 wird entweder auf 2Petr 3,4 Bezug genommen oder die Front benannt, gegen die auch der 2Petr Stellung nimmt. Altkirchlich war das Schreiben lange umstritten, auch Origenes sieht in ihm noch eine vielfach angefochtene Schrift (vgl. Euseb, KG VI 25,8). Wie immer die Abfassungsverhältnisse waren – im Jud und 2Petr spiegeln sich zwei aufeinander folgende Phasen des Kampfes der werdenden Kirche gegen die in den eigenen Reihen aufkommende Häresie; auf die parallele Front in den Johannesbriefen sei jetzt nur hingewiesen.

3. Die theologische Bedeutung der beiden Briefe gewinnt Profil, wenn man aus ihren polemischen Anspielungen zu erschließen versucht, gegen welche Art von Irrlehre sie sich wenden. Die Häretiker werden im Jud und 2Petr gleich scharf verurteilt (vgl. Jud 4.14–16; 2Petr 2,1–3), aber da die Briefe nacheinander entstanden sind, ist es ratsam, die in ihnen angesprochenen Irrlehrer nicht gleichzusetzen, sondern zu unterscheiden. 3.1 Im Jud wird den Häretikern Verkehrung der Gnade Gottes und Verleugnung des movno" despovth" kai; kuvrio" hJmw`n ∆Ihsou`" Cristov" vorgeworfen (vgl. Jud 4 mit Mt 7,21–23) und der Vorwurf gemacht, sie sprächen lästerlich von den Engelmächten (vgl. Jud 8–10). Bei den geistlosen ‚Psychikern‘ (vgl. Jud 19 mit 1Kor 2,14), die es sich bei den gemeinsamen Mahlzeiten der Gemeinde wohl sein lassen (vgl. Jud 12 mit Did 11,9.12), sich mit hochtrabenden Reden bei den Leuten einschmeicheln (vgl. Jud 16), ihren Begierden folgen und Spaltungen in den Gemeinden hervorrufen (vgl. Jud 18–19), könnte es sich um paulinistisch denkende Wanderlehrer (G. Sellin) handeln, die sich auf die Gnadenlehre des Apostels, seine Lehre von der Überlegenheit der Glaubenden über die Engel (vgl. 1Kor 6,3; 8,6; Kol 2,10.18) und auf den aus Korinth bekannten Grundsatz berufen haben: pavnta moi e[xestin (vgl. 1Kor 6,12; 10,23). Da Paulus selbst schon (von Judenchristen) in dieser Weise verdächtigt worden ist (vgl. nur Gal 1,10; Röm 3,8) und sich selbst gegen Paulinisten hat zur Wehr setzen müssen (s. o.), ist es gut möglich, daß das Auftreten dieser Leute außerhalb der Paulusschule als grundlegende Gefährdung des Glaubensstandes der christlichen Gemeinde empfunden worden ist. Die Schärfe, mit der sich der Jud gegen die Irrlehrer abgrenzt, entspricht dem allgemeinen Tenor der urchristlichen Ketzerpolemik, die nicht Verständigung, sondern Abgrenzung bezweckt. 3.2 Nach 2Petr 2,1 erwartet der Autor das Auftreten von yeudodidavskaloi. Das genaue Bild, das er von ihnen hat, zeigt aber, daß er von Häretikern spricht, die schon am Werke sind. Sie verleugnen den Herrn, der sie (von Sünden) losgekauft hat, ziehen mit ihrem zügellosen Vorbild viele ins Ver108

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derben und bringen „den Weg der Wahrheit“ in Verruf (vgl. 2,1–3). Sie fürchten keine Engelmächte (vgl. 2,10–11), halten die Rede von Herrschaft und Parusie des Christus für einen „ausgeklügelten Mythos“ (vgl. 1,16) und fragen ironisch: „Wo bleibt denn die Verheißung seiner Parusie? Seit den Tagen, da die Väter entschlafen sind, bleibt doch alles so, wie es seit Grundlegung der Schöpfung gewesen ist!“ (vgl. 3,4). Nach 2,21 haben sie den „Weg der Gerechtigkeit“ und das „heilige Gebot“ verlassen, in denen sie selbst unterrichtet worden sind. Um ihre Lehren zu begründen, verdrehen sie die Paulusbriefe und die anderen in der Gemeinde verlesenen heiligen Schriften (vgl. 3,16). Das entstehende Bild von Häresie erinnert an die Gnostiker, gegen die in den Pastoralbriefen Front gemacht wird (s. o. S. 34). Da eine sich auf Paulus berufende christliche Gnosis für das 2. Jh. n. Chr. sicher belegt ist, ist es das beste, auch die im 2Petr bekämpften Irrlehrer dem frühen gnostischen Spektrum zuzuordnen. Im Jud und 2Petr spiegeln sich also zwei Phasen des (judenchristlichen) Kampfes gegen den häretisch auswuchernden und zur Gnosis tendierenden Paulinismus. Die gemeinsame Frontstellung macht die Nähe des Jud zum Jak verständlich und erklärt außerdem, warum der 2Petr gerade auf den Jud zurückgegriffen hat, um die angestammte apostolische Glaubensweise zu verteidigen. 4. Beide Briefe gehen von der im petrinisch-römischen Christentum unumstrittenen Hochchristologie aus und errichten ein doppeltes Bollwerk gegen die Häresie: Sie betonen die grundlegende Bedeutung der apostolischen Lehrüberlieferung und halten die Parusie- und Endgerichtserwartung mit Entschiedenheit fest. Der 2Petr insistiert zusätzlich darauf, daß die in der Gemeinde verlesenen Heiligen Schriften nur nach Maßgabe der apostolischen Glaubenstradition auszulegen sind. 4.1 Die christologischen Aussagen beider Briefe sind inhaltlich vergleichbar, obgleich die Formulierungen des 2Petr der hellenistischen Denkart des 2. Jh.s viel näherstehen als die des Jud. 4.1.1 Nach dem Jud gebührt Christus das Gottesprädikat „alleiniger Herrscher und Herr“ (vgl. Jud 4 mit z. B. Hi 5,8LXX; Sir 23,1; Dan 9,15–19LXX). Durch Christus ist Gottes Liebe und Gnade rettend manifest geworden (vgl. Jud 1.4), für ihn werden die Glaubenden von Gott bewahrt (vgl. Jud 24), er ist ihr endzeitlicher Erbarmer und beschenkt sie mit ewigem Leben (vgl. Jud 21). Der Christus- Kuvrio" ist es aber auch, der das in Hen 1,9 angekündigte Endgericht über alle Gottlosigkeit halten wird (vgl. Jud 14–15). 4.1.2 Auch der 2Petr nennt Jesus Christus gleich zu Beginn „unsern Gott und Retter“ (vgl. 1,1–2). Als solchem gebührt ihm die Gott preisende Doxologie (vgl. 3,18 mit 2Tim 4,18; Apk 1,6). Der gott-gleiche Christus ist für 109

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den Brief der „Retter und Herr“ schlechthin (vgl. 1,1.11; 2,20; 3,2; 3,18). Er hat den Adressaten in seiner gnädigen Gerechtigkeit einen Glauben (d. h. vor allem ein Glaubenswissen) geschenkt, der (das) dem des Apostels (Petrus) gleichwertig ist (1,1; man beachte den von Paulus ganz verschiedenen, hellenistischen Begriff von ausgleichender dikaiosuvnh). Er hat sie von ihrem vormaligen sündigen Dasein gereinigt und losgekauft, sie auf den ‚Weg der Gerechtigkeit‘ gestellt und ihnen die rettende Erkenntnis seiner selbst gewährt (vgl. 1,9; 2,1.20–21). Kraft dieser ejpivgnwsi" können die Glaubenden der irdischen Vergänglichkeit entfliehen und dürfen teilhaben an der unvergänglichen göttlichen Natur (vgl. 1,3–4). „Die Flucht aus der Vergänglichkeit, der durch Gottes Kraft geschenkte Anteil an der göttlichen Natur, das Leben in Gott, Erkenntnis Gottes und unvergängliches Wesen machen den Inbegriff hellenistischer Frömmigkeit aus“ (H. Windisch, Die Katholischen Briefe, bearb. von H. Preisker, 19513, 85). Diesem Ideal kommt der Briefsteller mit seiner Redeweise sehr entgegen (vgl. ähnlich hellenistische Formulierungen in den Briefen des Ignatius: Eph 20,2; Röm 6,2; Phil 9,2; Pol 2,3). Die ejpivgnwsi" Jesu Christi ist für den 2Petr Zentrum und Ziel des Glaubens, wobei Einsicht und Praxis – typisch weisheitlich – eine Einheit bilden (vgl. 1,2–8; 2,20–21; 3,18). Über dieser spirituellen Ausdrucksweise geht aber die traditionelle Zukunftserwartung nicht verloren. Ganz im Gegenteil hält der Autor als Augenzeuge der Verklärung Jesu (vgl. 1,16–18) entschieden an der Erwartung der Parusie (vgl. 1,16.19), des eschatologischen Gerichts (vgl. 2,3; 3,7.10–12) und der Hoffnung auf Eingang in die basileiva Christi fest (vgl. 1,11). Es geht ihm also bei der Erkenntnis Christi und Teilhabe an der göttlichen Natur keineswegs um Verflüchtigung alles Leiblichen, sondern darum, daß die Glaubenden teilhaben dürfen an der Erfüllung der göttlichen Verheißung auf „einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt“ (vgl. 3,13 mit Jes 65,17; 66,22). Diese Anteilhabe winkt allerdings nur denen, die sich nach der Reinigung von Sünden, die ihnen zuteilgeworden ist, nach Kräften in guten Taten bewähren (vgl. 1,5–11; 3,17–18). Die Erlösungsauffassung des 2Petr berührt sich stärker mit dem Jak als mit dem 1Petr. 4.2 Wie sehr die beiden Briefe die apostolische Glaubenstradition schätzen (und gegen alle Neuerungen verteidigen), zeigt schon ihre Ausdrucksweise. In Jud 3.20 ist die Rede von dem (der) einmal überlieferten „hochheiligen Glauben(slehre)“, auf den (die) sich die Adressaten stützen sollen. Diese pivsti" ist dem Glauben der Apostel gleichwertig (vgl. 2Petr 1,1), und nur sie verbürgt die Rettung. Mit der in 2Petr 2,21; 3,2 erwähnten überlieferten ejntolhv Jesu dürfte die auf den Herrn zurückgehende ethische Lehrüberlieferung gemeint sein (vgl. Mt 28,19–20; Barn 2,6). In einer Zeit, da Petrus der Gemeinde fehlt (vgl. 2Petr 1,14–15) und die Väter entschlafen sind (vgl. 2Petr 3,4), gewinnt das überlieferte Zeugnis der „Apostel des Herrn Jesus 110

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Christus“ (vgl. Jud 17) bzw. „der heiligen Propheten und eurer Apostel“ (vgl. 2Petr 3,2) höchsten Rang. Die apostolische Überlieferung umschließt nach 2Petr 1,17–18 das Zeugnis von der über Jesus auf dem Berg der Verklärung ergangenen Stimme Gottes und das Matthäusevangelium insgesamt (vgl. 1,17 mit Mt 17,5 und 2,21 mit Mt 21,32; 28,19–20), die offenbar schon gesammelt vorliegenden Paulusbriefe und „die übrigen Schriften“ (vgl. 2Petr 3,15–16). Mit aiJ loipai; grafaiv können von Sir Prolog 25 her alttestamentliche Schriften neben dem „prophetischen Wort“ aus Psalmen und Propheten, von dem in 2Petr 1,19 die Rede ist, gemeint sein. Es ist aber nicht auszuschließen, daß auch noch andere neutestamentliche Bücher gemeint sind wie z. B. der 1Petr (vgl. 2Petr 3,1) oder andere Evangelien (neben Matthäus). Auf jeden Fall werden im 2Petr schon die Grundbestandteile des christlichen Kanons sichtbar. Es handelt sich um die Heiligen Schriften (des Alten Testaments) und die zu ihnen hinzutretenden neutestamentlichen Schriften in Gestalt von Evangelien und den Briefen der Apostel, Paulus voran. Anlaß zur Ausbildung dieses zweiteiligen Kanons war das Bestreben, die authentische apostolische Tradition mitsamt dem sie tragenden biblischen Zeugniswort festzuhalten. Als habe es nie Streit zwischen Petrus und Paulus über die Wahrheit des Evangeliums gegeben (vgl. Gal 2,14), wird in 2Petr 3,15–16 Paulus der „liebe Bruder“ des Petrus genannt und die sich in seinen (nicht leicht zu verstehenden) Briefen spiegelnde göttliche Weisheit gerühmt. Petrus wird im 2Petr zum Apologeten des Paulus, weil die Differenzen zwischen beiden nach dem 1Petr nicht fundamental waren und angesichts der häretischen Herausforderung vollends verblassen. 4.3 Der Häresie gegenüber mußte aber nicht nur an der (fixierten) Glaubens-Tradition festgehalten werden, sondern es galt auch, die angestammte Zukunftserwartung zu bewahren. Im Jud wird den Häretikern einfach mit der Tatsache des von Henoch angekündigten Endgerichts gedroht, das Christus mit seinen Helferengeln durchführen wird (vgl. Jud 4.14–15). Gleichzeitig werden die Adressaten aufgefordert, sich auf das künftige Erbarmen Jesu, das Stehen vor Gottes Thron und die Gabe des ewigen Lebens einzustellen (vgl. Jud 21.24). Für den 2Petr reicht solch einfache Paraklese nicht mehr aus, weil die Häretiker die Parusieerwartung massiv bestreiten (vgl. 3,4 mit 1Clem 23,3). Ihrer Kritik hält der Autor in 1,16–21 und 3,5–15 folgende Argumente entgegen: Die Parusie ist fest verbürgt, weil (die) Gott(esstimme von Mt 17,5) Jesus vor den apostolischen Zeugen als den messianischen Erwählten und Sohn Gottes ausgerufen hat (vgl. 1,16–18, s. u.). Nach dem Vernichtungsgericht der Sintflut kann und wird das mit der Parusie verbundene Endgericht am Tage des Herrn, der kommen wird wie ein Dieb, nur das eschatologische Feuergericht sein (vgl. 3,7.10–12 mit 1Thess 5,2; 2Thess 1,7–8). Zu bedenken ist außerdem der Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher 111

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Zeitrechnung. Nach Ps 90,4 ist vor dem Kuvrio" ein Tag wie tausend Jahre, und tausend Jahre sind wie ein Tag; irdische Terminberechnungen führen also nur in die Irre (vgl. Mt 24,36; Apg 1,7). Insgesamt will Gott aber nicht den Untergang der Menschen, sondern seine noch immer währende Geduld soll „allen“ Gelegenheit zur Umkehr lassen (vgl. 1Tim 2,4; möglicherweise schließt pavnte" an Mt 24,14; 28,19 an). Schon der liebe Bruder Paulus hat in seinen Briefen von der Geduldsfrist gesprochen, die dem Gottesvolk noch Gelegenheit zur Umkehr gibt (vgl. 3,15 mit Röm 2,4; 11,22). Ganz judenchristlich (und unpaulinisch!) fügt der Autor hinzu, daß die Adressaten das Kommen des Jüngsten Tages und der Parusie durch ihr heiliges Leben beschleunigen könnten (vgl. 3,11–12 mit bYom 86b). Mit diesen Argumenten hat der 2Petr zwar zur Erhaltung der kirchlichen Enderwartung beigetragen, aber nicht verhindern können, daß aus der Naherwartung die Lehre von den letzten Dingen wurde, welche das kirchliche Leben nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch in seiner Perspektive betrifft. 4.4 Zur Bewahrung der Glaubenstradition und der Verteidigung der angestammten Eschatologie trat als drittes Element die Entwicklung von kirchlichen Maßstäben für die Auslegung der biblischen Schriften, die auch von den Häretikern gelesen wurden. 4.4.1 Im Jud wird das Alte Testament noch ganz unbefangen in jener Offenheit benutzt, die für die frühjüdische und neutestamentliche Zeit charakteristisch war. Jud 6 setzt bei seinen Lesern nicht nur die Kenntnis des Faktums der sog. Engelehen aus Gen 6,1–4 voraus, sondern auch die Weiterinterpretation dieses Textes in äthHen 6–11 sowie den Bericht vom Sturz der Engel und ihrer Gefangenschaft in der Unterwelt (vgl. 1Petr 3,19–20 und Hen 12,4; 18,11–19,1). Nachdem der Brief in V.7 das biblische Beispiel vom Geschick Sodoms und Gomorras nach Gen 19,1–29 angeführt hat (vgl. mit Mt 10,15), greift er in V.9 auf die jüdische Legende vom Streit des Erzengels Michael mit dem Satan um den Leichnam Moses zurück. Nach Auskunft der Kirchenväter soll von diesem Streit in der „Himmelfahrt des Mose“ die Rede gewesen sein, d. h. in einer uns leider nur fragmentarisch und in christlicher Überarbeitung erhaltenen jüdischen Apokalypse aus der Zeitenwende (vgl. die Ausgabe von E. Brandenburger in JSHRZ V/2 [1976]). In V.11 erscheinen die biblischen Szenen vom Brudermord Kains (Gen 4,1–16), von Bileams Ratschlag (Num 31,16) und von der Auflehnung der Rotte Korachs gegen Mose und Aaron (Num 16) in jüdischlegendarischer Zuspitzung, und in V.14–15 wird die prophetische Gerichtsankündigung von Hen 1,9 wörtlich angeführt. Der Briefsteller arbeitet also mit alttestamentlichen und jüdisch-apokalyptischen Stoffen. Beides ist für ihn gültige Prophetie. Eine Unterscheidung von alttestamentlichen Primärschriften und Apokryphen kennt der Jud offensichtlich noch nicht. Im 2Petr beginnt sich dies zu ändern. Hier war offenbar der Vorwurf der Häretiker, 112

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die Christen folgten abstrusen Mythen (vgl. 2Petr 1,16), Anlaß für den pseudonymen Verfasser, in Kap. 2 die ‚apokryphen‘ Beispiele der Judasbriefvorlage zwar nicht ganz zu streichen, aber doch nur noch nebenbei zu erwähnen (vgl. 2,4.11). Statt dessen hebt er die biblischen Beispiele von Noah (2,5), Sodom und Gomorra (2,6), Lot (2,7–8) und Bileam (2,15–16) besonders hervor. In 2,15 ff. wird das Henochzitat aus Jud 14–15 sogar ganz verdrängt. Die Zurückhaltung gegenüber dem legendarischen Material des Jud ist auffällig. Da der Verfasser 2,4.11 nicht streicht, kann man zwar auch bei ihm noch ein offenes Altes Testament voraussetzen, aber die Konzentration auf die alttestamentlichen Hauptschriften ist trotzdem unverkennbar. 4.4.2 Diese Konzentration wird flankiert durch den ersten ganzheitlich durchgeführten Entwurf einer kirchlichen Hermeneutik der christlichen Bibel. Als Augen- und Ohrenzeuge greift ‚Petrus‘ in 2Petr 1,16–21 auf die synoptische Verklärungsszene (in der Fassung von Mt 17,1–9) zurück und legt besonderen Ton auf die „von der majestätischen Herrlichkeit“ über Jesus ausgerufene Stimme: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gewonnen habe“ (vgl. 1,17 mit Mt 17,5). Hinter der Formulierung stehen Ps 2,7 und Jes 42,1. Eben deshalb kann die fwnhv in 1,19 oJ profhtiko;" lovgo" genannt werden (vgl. zum Ausdruck 2Clem 11,2; der Vergleich von 2Clem 11,2 mit 1Clem 23,3 zeigt, daß profhtiko;" lovgo" und grafhv austauschbar sind). Nach Auffassung des ‚Petrus‘ ist Jesus durch die Gottesstimme den Augenzeugen nicht nur als uiJo;" qeou` präsentiert, sondern selbst auch qualifiziert und beauftragt worden, seine messianische Sendung bis zum Tage der Parusie wahrzunehmen. Diese Sicht ergibt sich aus der messianischen Interpretation von Ps 2,8 und Jes 42,1. In Ps 2,8 sagt Gott zu seinem Sohn:

dwvsw soi e[qnh th;n klhronomivan sou kai; th;n katavscesin sou ta; pevrata th`" gh`" (= „Ich will dir [die] Völker zum Erbe und die Enden der Erde zum Besitz geben“), und in Jes 42,1 heißt es vom Gottesknecht: krivsin toi`" e[qnesin ejxoivsei (= „Er trägt den Rechtsentscheid zu den Völkern hinaus“). Ps 2,7–8 und Jes 42,1 weisen also auf die Vollendung der messianischen Herrschaft des Gottessohnes voraus. Nach 1,19 ist der Tag der Parusie zugleich die hJmevra, an der die Erkenntnis Jesu als des (messianischen) „Morgensterns“ endgültig in den Herzen der Gläubigen aufgehen wird (vgl. Num 24,17; Lk 1,78). Wenn die Häretiker die Herrschaft des Christus bestreiten und die Parusieerwartung aufgeben, widersprechen sie also der von ‚Petrus‘ selbst vernommenen Gottesstimme (die ihrem biblischen Wortlaut nach profhteiva ist, vgl. 1,20 mit 3,2). Mit ihrer Kritik unterwerfen sie, wie 1,20–21 sagt, das prophetische Wort Gottes einer „eigenmächtigen Auslegung“ (ijdiva ejpivlusi") und verfehlen seinen wahren Sinn, der den apostolischen Zeugen durch die Gottesstimme offenbart worden ist. Nach Ansicht des Briefstellers ist deshalb nur die Auslegung der Prophetie zutreffend und legitim, die 113

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dem Glaubenswissen folgt, das den Aposteln geschenkt worden ist. Die vom Heiligen Geist getragene (Schrift-)Prophetie wird also nur dann sachgemäß ausgelegt, wenn sie im Geist des apostolischen Christusglaubens ausgelegt wird. Das bedeutet hermeneutisch: Die in der Gemeinde gelesenen, vom Geist inspirierten Heiligen Schriften (s. o.) werden nur im Rahmen der von den Aposteln begründeten Glaubenstradition so interpretiert, wie Gott es will. Der gnostisch-illegitimen wird die kirchlich-legitime Schriftauslegung entgegengestellt. Wie Paulus in 1Kor 2,6–16 und die Paulusschule in 2Tim 3,14–17 (vgl. außerdem Mk 12,36Par; Apg 3,21; Hebr 10,15 u. a.) bejaht auch der 2Petr die spätalttestamentlich-frühjüdische Ansicht von der Inspiration der Heiligen Schriften und entwickelt auf ihrer Grundlage eine (gesamt-)kirchliche Anweisung zur Auslegung der Bibel kata; th;n ajnalogivan th`" pivstew" (vgl. Röm 12,6). Dieser kirchlichen Schriftauslegung öffnen sich nach 3,15–16 auch die von göttlicher Weisheit erfüllten Paulusbriefe, während die „ungelehrten“ und „ungefestigten“ Häretiker die Briefe des Apostels zu ihrem eigenen Verderben ebenso „verdrehen“ wie die in der Gemeinde sonst verlesenen Schriften. Die inspirierten Schriften, die apostolische Glaubensüberlieferung und die beides achtende Gemeinde bilden einen hermeneutischen Zirkel. Mit seiner Hilfe konnte Anfang des 2. Jh.s die gnostische Fehlinterpretation des Alten Testaments, der Paulusbriefe und der Evangelientexte abgewehrt werden. Unter Inanspruchnahme dieses Zirkels hat sich die Kirche auch später häretisch-willkürlicher Schriftinterpretation erwehrt. 5. Der theologische Gewinn aus unseren beiden Briefen liegt nicht in erster Linie bei der Wertschätzung der apostolischen Glaubenstradition, deren Bedeutung auch die Pastoralbriefe betonen, oder bei der Apologie der Eschatologie und schon gar nicht bei den problematischen Ketzerplakaten, die Jud und 2Petr entworfen haben. Auch soteriologisch läßt vor allem der 2Petr zu wünschen übrig. Sein eigentlicher Wert liegt im Entwurf einer kirchlichen Hermeneutik des zweiteiligen christlichen Kanons (aus Altem und Neuem Testament mit Einschluß der apokryphen Tradition). In dieser Hermeneutik reichen sich die Achtung vor dem inspirierten biblischen Zeugniswort, die Wertschätzung der apostolischen Glaubensüberlieferung und das Glaubensbewußtsein der Gemeinde in einer Art und Weise die Hand, die für die Kirche vorbildlich geworden ist. Es ist deshalb nicht ratsam, Jud und 2Petr mit dem Urteil: ‚spekulativ und frühkatholisch‘ abzuqualifizieren, sondern es muß beachtet werden, daß die Briefe sich mit ihren Mitteln erfolgreich einem Kampf gegen die Häresie gestellt haben, den die Kirche noch immer nicht ausgekämpft hat.

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5. Die Verkündigung der synoptischen Evangelien Die synoptischen Evangelien sind für das Neue Testament von fundamentaler Bedeutung. Sie sind in ihrer heutigen Form erst redigiert und ediert worden, als die wichtigsten Schüler Jesu und Paulus den Märtyrertod gestorben waren, die Urgemeinde nach Pella ins Exil gegangen und Jerusalem vom Untergang bedroht und schließlich zerstört worden war. Papias von Hierapolis hat zwar noch bis 120 n. Chr. den Resten der von den Alten mündlich weitergegebenen (Jesus-)Tradition nachgespürt (vgl. Euseb, KG III 39,4). Aber die zentralen Stücke dieser Tradition waren schon lange vorher fixiert worden: Die Evangelisten haben diese Sammlungen aufgespürt, gebündelt und zu Büchern gemacht, aus denen ersichtlich wird, was Petrus und andere Jesusjünger, die Familie Jesu und die Begründer der Missionsgemeinde von Antiochien von Jesus gewußt und berichtet haben. Die schriftliche Fixierung der Jesustradition hat sie nicht nur vor der Vergessenheit, sondern auch vor der (häretischen) Zersetzung bewahrt und der werdenden Kirche die Möglichkeit gegeben, sich über die Zeit der Apostel hinaus an Jesus und seiner Lehre zu orientieren. Die in den synoptischen Evangelien zusammengefaßte Jesustradition geht auf das sorgsam gepflegte Traditionskontinuum zurück, welches von Jesus und seinen maqhtaiv zur Jerusalemer Urgemeinde und von ihr zu den bekannten und unbekannten Zeugen der Völkermission reicht, die von Jerusalem ausgegangen sind, um die Botschaft von der in und mit Jesus angebrochenen basileiva tou` qeou` bis ans Ende der Welt zu tragen. Die Synoptiker bieten nicht nur die ehrliche, aber historisch unsichere und divergierende Ansicht der drei Evangelisten über Jesus und auch nicht bloß sekundäre Geschichten, mit deren Hilfe man einfachen Predigthörern in nachapostolischer Zeit verdeutlichen wollte, wer Jesus war. Die drei Bücher bauen auf verläßlicher apostolischer Tradition auf und konfrontieren ihre Leser erstaunlich einhellig mit Person, Lehre und Leben des einen, geschichtlich unverwechselbaren Jesus aus Nazareth, der Gott und seine Herrschaft auf Erden repräsentiert und sein Wirken als Erfüllung der prophetischen Verheißungen verstanden hat. Es ist kein Zufall, daß wir von den drei Evangelisten nur wenig wissen. Die alten Über- und Unterschriften der Evangelien nennen sie zwar mit Namen, und hinter diesen Namen stehen Individuen, die den von ihnen verfaßten und redigierten Texten ihren Stempel aufgedrückt haben. Die Evangelisten waren Sammler, Tradenten, Interpreten und Zeugen in einer Person. Aber ihre Individualität tritt in allen drei Evangelien hinter der Absicht zurück, zuerst und zuletzt die Jesustradition sprechen zu lassen und Zeugnis von dem Christus Jesus abzulegen, den Gott der Welt zum Herrn gesetzt hat. Jeder Evangelist hat eine bestimmte Traditionssammlung vor Augen gehabt. ( Johannes) Markus hat sich an den Lehrvorträgen des Petrus orien115

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tiert, die Überlieferung der Säulenapostel von Jerusalem ist in das Matthäusevangelium eingegangen, und Lukas hat zusammengestellt, was ihm Jerusalemer Tradenten und das Archiv der Missionsgemeinde von Antiochien boten. Da diese drei Traditionssammlungen einander mehrfach überschnitten und berührt haben, überschneiden und berühren sich auch die drei synoptischen Evangelien. Sie richten sich wahrscheinlich auch nicht nur an jeweils eine bestimmte Gruppe von Adressaten, sondern sind geschrieben worden, um vielen Menschen an mehreren Orten vorgelesen zu werden. Die synoptischen Evangelien wollen kein Ersatz für das Evangelium von der Gottesherrschaft sein, welches nach Jesu Willen von Ort zu Ort zu verkündigen ist. Aber sie wollen den Frauen und Männern in der Mission helfen, nicht nur in Lehrformeln, sondern auch geschichtlich anschaulich von Jesus Christus zu reden, den urchristlichen Lehrern wollen sie konkrete Stoffe und den Katechumenen die Möglichkeit bieten, ihr Glaubenswissen durch die Lektüre der Evangelien zu vertiefen und zu präzisieren. Seit Begründung der Urgemeinde in Jerusalem hat es urchristlich immer beides zugleich gegeben: die Glauben weckende Predigt und den (Tauf-)Unterricht, in dem das Glaubenswissen eingeübt, die Gebote erlernt und von Jesus erzählt worden ist. Das Nebeneinander von apostolischen Briefen und Evangelien im Neuen Testament entspricht diesem doppelten Befund, und es ist ein Beleg dafür, daß die Botschaft der Apostel und die Geschichtserzählung von Jesus für die werdende Kirche gleich wichtig waren. Das Johannesevangelium unterscheidet sich sprachlich und inhaltlich von den Synoptikern. Es ist für Leser geschrieben, die schon Kenntnis von (Teilen) der synoptischen Jesustradition hatten, und leitet sie an, in Jesus Christus die Wirklichkeit und Wahrheit Gottes schlechthin zu erkennen. Es ist deshalb nicht schon hier, sondern erst im Rahmen des johanneischen Schrifttums zu behandeln. In den folgenden vier Paragraphen geht es darum nur um das Problem der Entstehung der synoptischen Evangelien und um ihre Verkündigung. Die Apostelgeschichte wird in die Lukasdarstellung einbezogen, weil Lukas selbst sie dem Evangelium an die Seite gestellt und (auch) in ihr dargestellt hat, was die Kirche im Auftrag des erhöhten Christus zu tun und zu bezeugen hat. Die im ersten Band der „Neutestamentliche(n) Apokryphen“ zusammengestellten apokryphen Evangelien(fragmente) bieten zwar interessantes Vergleichsmaterial zu den Synoptikern, aber ihr Quellenwert ist wesentlich geringer als der der synoptischen Tradition. Nur im koptisch-gnostischen Thomasevangelium finden sich (zuweilen) ältere Sprüche, die mit synoptischen Texten direkt vergleichbar sind. Seine heutige Fassung hat das nur aus Jesussprüchen bestehende Evangelium aber erst „um die Mitte des 2. Jh. im östlichen Syrien“ erlangt (B. Blatz, in: Ntl. Apokryphen, hg. von W. Schneemelcher, Bd. 1, 19906, 97). Es besteht deshalb keine Veranlassung, „die geheimen Worte, die Jesus der Lebendige sprach und Didymus Judas Thomas niedergeschrieben

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hat“ (ThEv 1), den vier kanonischen Evangelien gleichzustellen (vgl. zum Thomasevangelium auch G. Theißen – A. Merz, Der historische Jesus, 19972, 51–55).

§ 31 Zur Entstehung der synoptischen Evangelien Literatur: L. Abramowski, Die ‚Erinnerungen der Apostel‘ bei Justin, in: Das Evangelium u. die Evangelien (s. u.), 341–353; R. Bauckham, The Gospels for All Christians, 1998; R. Bultmann, Die Erforschung der synoptischen Evangelien, 19603; H. Cancik, Die Gattung Evangelium, in: ders. (Hg.), Markus-Philologie, 1984, 85–113; M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 19716, A. Dihle, Die Evangelien u. die griechische Biographie, in: Das Evangelium u. die Evangelien (s. u.), 383–411; C.H. Dodd, The Apostolic Preaching and Its Developments, 19622; D. Dungan (Ed.), The Interrelations of the Gospels, 1990; E.E. Ellis, Gospels Criticism, in: Das Evangelium u. die Evangelien (s. u.), 27–54; W.R. Farmer, Jesus and the Gospel, 1982; H. Frankemölle, Evangelium – Begriff und Gattung, 1988; G. Friedrich, Artikel: eujaggelivzomai, eujaggevlion ktl., ThWNT II, 705–735; R. Guelich, ‚The Beginning of the Gospel‘ – Mark 1,1–15, BR 27, 1982, 5–15; ders., The Gospel Genre, in: Das Evangelium und die Evangelien, (s. u.), 183–219; A.v. Harnack, Evangelium, in: ders., Entstehung u. Entwicklung der Kirchenverfassung u. des Kirchenrechts in den ersten zwei Jahrhunderten, 1910, 199–239; M. Hengel, Die Evangelienüberschriften, 1984; P. Hoffmann, Studien zur Theologie der Logienquelle, 1972; W.H. Kelber, The Oral and the Written Gospel, 1983; H. Koester, Ancient Christian Gospels, 19923; D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle, 1969; B. Reicke, Die Entstehungsverhältnisse der synoptischen Evangelien, ANRW II 25,2, 1984, 1758–1791; ders., The Roots of the Synoptic Gospels, 1986; W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, 1985; H.-J. Schulz, Die apostolische Herkunft der Evangelien, 19973; G.N. Stanton, The Gospels and Jesus, 1989; G. Strecker, Artikel: eujaggelivzw u. eujaggevlion, EWNT II, 176–186; ders., Literaturgeschichte des NTs, 1992, 122–148; P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I, 1968; ders. (Hg.), Das Evangelium u. die Evangelien, 1983; ders., Artikel: Evangelium, EKL3 I, 1217–1221; H. Wansbrough (Ed.), Jesus and the Oral Gospel Tradition, 1991.

In Bd. I 3, 42 ff. haben wir auf das sorgsam gepflegte Traditionskontinuum hingewiesen, das hinter der synoptischen Tradition steht und die Möglichkeit bietet, ein (relativ) verläßliches Bild vom Wirken Jesu zu zeichnen. Ehe wir von da aus weitergehen und das Verkündigungsinteresse der drei synoptischen Evangelien herausarbeiten, ist noch zu klären, aus welchen Gründen es überhaupt zu ihrer Abfassung gekommen ist und wie ihr gegenseitiges Verhältnis und ihre Adressatenschaft vorzustellen sind. 1. Die Großgattung ‚Evangelium‘ Wie unterschiedlich die Entstehung der Großgattung ‚Evangelium‘ noch immer beurteilt wird, ergibt sich aus dem knappen Forschungsbericht von U. Schnelle, Einleitung in das NT, 19962, 183–195. 117

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1.1 Über Herkunft und Bedeutung des Nomens eujaggevlion urteilt Schnelle wie sein Lehrer G. Strecker (vgl. ders., Theologie des NT, 1996, 355–357). Nach Schnelle liegt die „traditionsgeschichtliche Wurzel“ des Wortes weder im Alten Testament noch in der Verkündigung Jesu, sondern „in der hellenistischen Herrscherverehrung“ (a.a.O., 184). In der Tat gibt es interessante inschriftliche Belege darüber, daß die Nachricht von der Geburt oder auch von Wohltaten des römischen Kaisers eujaggevlia genannt wurden. Berühmtheit hat vor allem die 1899 veröffentlichte Kalenderinschrift von Priene erlangt, in der es heißt: „Der Geburtstag des Gottes (= des Kaisers) war für die Welt der Anfang der Freudenbotschaften (eujaggevlia), die seinetwegen ergangen sind“ (G. Friedrich, ThWNT II, 721,23 f.). Unter Verweis auf diese Inschrift und parallele hellenistische Belege nehmen Friedrich, Strecker, Schnelle u. a. an, daß die urchristlichen Zeugen den Begriff der Herrscherverehrung aufgenommen und zum Terminus technicus für das von ihnen zu verkündigende „Evangelium Gottes von Jesus Christus“ (vgl. Röm 1,1–4) und die Evangelienbücher gemacht haben. Bei dieser Herleitung wird aber dreierlei übersehen: (1) In der hellenistischen Herrscherverehrung wird nur im Plural von eujaggevlia gesprochen; einen singularisch geprägten Begriff eujaggevlion gibt es nicht. (2) Der neutestamentlichen Rede vom eujaggevlion wohnt von Haus aus kein Gegensatz zum Herrscherkult inne. (3) Durch österliche Erscheinungen des erhöhten Christus bekehrte Juden wie Petrus, Johannes, Jakobus und Paulus hatten nicht den geringsten Anlaß, die ihnen offenbarte Heilsbotschaft nach dem Vorbild der hellenistischen Herrscherverehrung eujaggevlion zu nennen. A. v. Harnack war zwar anfänglich auch von der zitierten Inschrift fasziniert, hat aber die genannten Schwierigkeiten gesehen und deshalb schon 1910 den Vorschlag gemacht, die Herkunft der neutestamentlichen Evangeliumsterminologie im Alten Testament und bei Jesus zu suchen (vgl. seine Untersuchung über „Evangelium“ a.a.O.). Folgt man der von ihm gewiesenen Spur, ergibt sich eine bessere Erklärungsmöglichkeit.

1.2 Hätte man einen frommen Juden in Jerusalem, Cäsarea oder anderswo in Palästina die Frage gestellt, was eujaggevlion für ihn bedeute, hätte er vielleicht (!) die Kaiserinschriften (die es in den großen hellenistischen Städten des Ostens, aber nicht in Jerusalem gab) erwähnt, vor allem aber darauf hingewiesen, daß das Wort eujaggevlion bzw. sein hebräisches oder aramäisches Äquivalent hr:/cB] und at…r]soB] in den Synagogen bei der Paraphrase der Bibeltexte für die (Heils-)Botschaft von Propheten verwendet werde. Jes 53,1 lautet nach dem Urtext: „Wer hat unserer Kunde (Wnte[;muv]) geglaubt?“ Im aramäischen Targum heißt es aber: „Wer hat diesen unseren Botschaften (an:t]r"/sB]) Glauben geschenkt?“ Eujaggevlion (hr:/cB] bzw. at…r“soB]) ist im antiken Judentum zunächst für die (Heils-)Botschaft von Propheten und Gottesboten gebraucht worden (vgl. Jes 52,7), und dieser Wortgebrauch hat sich bis in die Johannesoffenbarung hinein erhalten (vgl. 14,6).

1.3 Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Jesustradition. Lk 6,20–22Par; 7,18–23Par; 16,16Par bestätigen, was Lk 4,16–21 jedem Leser 118

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des Lukasevangeliums vor Augen führt: Jesus hat Jes 61,1 auf seine Sendung bezogen und sich selbst als messianischen Evangelisten der ‚Armen‘ verstanden (vgl. Bd. I3, 64 f.). Gegen Schnelles Einwand, Jes 61,1 sei in Mt 11,5/Lk 7,22 erst nach Ostern auf Jesus bezogen worden (a.a.O., 184), sprechen die Belege aus Qumran, in denen Jes 61,1 und 52,7 auf die (von Gott selbst, seinem Messias oder auch einem Propheten verkündete) Erlösungsbotschaft bezogen wird (vgl. 11Q13 [= 11QMelch] II 4.15–17 und 4Q521 Frg. 2 II,12). An diesen Sprachgebrauch konnten Jesus und seine Schüler leicht anschließen.

1.4 Ob Botschaft und Lehre Jesu schon vor Ostern hr:/cB] (at…r“soB]) bzw. eujaggevlion genannt worden ist, läßt sich nicht eindeutig sagen. Sicher ist aber, daß die Apostel das Nomen nach Ostern für die ihnen zur Weitergabe an alle Völker anvertraute Heilsbotschaft von Jesus Christus verwendet haben (vgl. Mk 13,10; Mt 24,14; Apg 15,7; 20,24). Paulus zitiert in 1Kor 15,3b-5.11 das für ihn selbst und alle anderen Apostel maßgebliche eujaggevlion. In Röm 1,16–17 nennt er es eine göttliche Offenbarungsmacht, die aus sich selbst heraus das endzeitliche Heil (swthriva) schafft (vgl. ähnlich auch Eph 1,13). Wesentlicher Inhalt des dem Apostel geoffenbarten Evangeliums ist nach 1Kor 15,3b-5 der Heilstod Jesu und seine Auferweckung. Paulus hat diesem Evangelium bis zur Selbstpreisgabe gedient. Wie Röm 10,15–17 (und Eph 4,7–11) zeigen, haben er und die vor ihm berufenen Apostel sich als die in Jes 52,7; Joel 3,5 und Y 67,12 angekündigten ‚Evangelisten‘ (eujaggelizovmenoi) verstanden, denen aufgetragen ist, ‚die (Christus-)Botschaft‘ (ajkohv) von Jes 53,1 allen Völkern auszurichten. Sie haben diese Botschaft von dem zur Rechten Gottes erhöhten Christus Jesus empfangen (vgl. Röm 10,17 mit Mt 28,16–20) und eujaggevlion genannt, weil es um die Heilsbotschaft vom Anbruch der basileiva tou` qeou` in der Sendung des Christus Jesus ging. 1.5 Das Evangelium, das die Apostel weiterzutragen hatten, ist von Anfang an in Formeln gefaßt worden, die im Unterricht leicht auswendig zu lernen waren (vgl. Bd. 12, 169 ff.). Es ist aber auch in der Predigt und im Missionsunterricht nacherzählt worden. Ein Beispiel dafür bietet Apg 10,36–43 (vgl. Bd. 12, 50.57). M. Dibelius (Formgeschichte6, 15.20.23.232.274) und C.H. Dodd (Apostolic Preaching2, 46 f.) haben in Apg 10,36 ff. ein Predigtschema gesehen, dem der Evangelist Markus bei der Abfassung seines Evangeliums gefolgt ist. Dagegen haben U. Wilckens (Die Missionsreden der Apostelgeschichte, 19743, 63 ff.) und eine ganze Reihe von Kommentatoren eingewandt, der Text sei von Lukas ohne Traditionsvorlage entworfen und Petrus in den Mund gelegt worden. Dieses Urteil läßt aber die auffälligen Traditionselemente außer acht (vgl. P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I, 277–279) sowie das dem Text zugrundeliegende Midrasch-Muster (aus Ps 107,20; Jes 52,7 [Nah 2,1], Jes 61,1; Dt 21,22; Hos 6,2; Jes 43,10,12; 11,3–4; Jes

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33,24), auf dessen Grundstruktur G. Stanton ( Jesus of Nazareth in New Testament Preaching, 1974, 70 ff.) hingewiesen hat. Angesichts dieser Traditionsmerkmale haben R. Guelich und ich dem Ansatz von Dibelius und Dodd zugestimmt (vgl. Das Evangelium und die Evangelien, 22 f. 181 f. 209 ff.). Daraufhin hat F. Neirynck (Ac 10,36–43 et l’Évangile, EThL 60, 1984, 109–117) noch einmal den rein lukanischen Charakter von Apg 10,36–43 verfochten, während R. Pesch (Die Apostelgeschichte, Bd. 1, 1986, 342 ff.) erneut auf die zahlreichen Traditionselemente im Text hingewiesen hat. Angesichts der stagnierenden Debatte sollte man bedenken, daß sich synchrone und diachrone Betrachtung von Texten nicht ausschließen, sondern ergänzen. Läßt man dies gelten, läßt sich durchaus sagen, Apg 10,34–43 sei von Lukas geschrieben und in den Erzählungszusammenhang eingeordnet worden. Aber das ändert nichts an den auffälligen Traditionsbefunden: Lukas legt Petrus eine Rede in den Mund, deren grammatischer Einsatz in 10,36 notorische Verständnisprobleme bereitet (zu deren Lösung vgl. H. Riesenfeld, The Text of Acts X.36, in: Text and Interpretation, FS für M. Black, edd. E. Best u. M. Wilson, 1979, 191–194). Die Petrusrede bietet auch nicht einfach die Summe des Lukasevangeliums, weist aber erstaunliche Berührungen mit der Protolukas-Tradition auf (s. u.). Auffällig ist ferner die Beziehung von Jes 52,7 auf Gottes Verkündigung des Friedens durch Jesus Christus in V.36, die Schilderung Jesu als messianischer Wundertäter in V.37–39 und das von Stanton herausgearbeitete Midrasch-Muster (s. o.). Eine Besonderheit bilden auch die gehäuften Bezüge auf Jesaja (vgl. Jes 52,7 in 10,36; Jes 61,1 in 10,38; Jes 43,10.12 in 10,41–42 [und Apg 1,8]; Jes 11,3–4 in 10,42; Jes 33,24 in 10,43). Vergleicht man das wahrscheinlich (vor-)lukanische Predigtschema mit Mk 1,1–2 und dem Markusevangelium insgesamt, ergibt sich ein interessanter Befund: Nach 1,1–2 will der Evangelist, „das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ erzählen, „wie (es) geschrieben ist bei dem Propheten Jesaja“. Da kaqw;" gevgraptai im Neuen Testament nirgends einen neuen Satz einleitet, sondern stets begründend gebraucht wird, ist auch zwischen 1,1 und 1,2 kein Punkt zu setzen. Vielmehr ist zu übersetzen: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, wie (es) geschrieben ist bei dem Propheten Jesaja …“ (vgl. R. Guelich, Mark 1–8,26, 1989, 6). Markus will das Evangelium von Jesus Christus so nacherzählen, wie es bei dem Propeten Jesaja geschrieben (bzw. verheißen) ist. Diese Darstellungsabsicht entspricht genau dem Predigt-Muster von Apg 10,36–43: Nach Mk 1,2–3 bringt Gott selbst das Evangelium auf den Weg, indem er seinem (präexistenten) Sohn (in den Himmeln) mit Worten aus Ex 23,20; Mal 3,1 das Auftreten des Gottesboten auf Erden ankündigt. Dieser Bote verkörpert die verheißene Stimme (fwnhv) , die dazu aufruft, dem Herrn den Weg zu bereiten (vgl. Jes 40,3). Auf diese Ankündigung hin tritt in 1,4 Johannes der Täufer auf den Plan. Jesus wird durch ihn im Jordan getauft, mit der Fülle des Heiligen Geist gesalbt (vgl. Apg 10,38 mit Jes 61,1) und durch die Himmelsstimme als der erwählte und geliebte Sohn Gottes ausgerufen (vgl. 1,11 mit Jes 42,1; 44,2; Ps 2,7). Nachdem der Gottessohn die Versuchung siegreich bestanden hat (vgl. 1,13 mit Jes 11,6–9) und der Täufer inhaftiert worden ist, tritt er seinen Weg nach Galiläa an mit den Worten: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (vgl. Mk 1,15 mit Jes 52,7 und zur Wendung pisteuvein ejn tw`/ eujaggelivw/ den Sprachgebrauch in TJes 53,1). Nach Markus konkretisiert Jesus seine Botschaft von Galiläa bis nach Jericho durch spektakuläre Krankenheilungen und Exorzismen, die er in messianischer Vollmacht wirkt; theologischer

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Höhepunkt ist dabei die durch den Sohn Gottes direkt zugesprochene Vergebung der Sünden (vgl. Mk 2,5). Dies entspricht Apg 10,37–39.43 genau.

Wenn all diese Zusammenhänge nicht auf Zufall beruhen, läßt sich ein wichtiger Schluß ziehen: Das Petrus durch Lukas in den Mund gelegte Erzählschema ist für die Evangelienschreibung wegweisend gewesen. Der Evangelist Markus hat den in Apg 10,36–43 vorgegebenen Darstellungsrahmen mit verschiedenen Traditionsstücken aufgefüllt und auf diese Weise eine Erzählung vom Wirken Jesu geschaffen, das den Kern des Evangeliums Gottes ausmacht. 1.6 Mit dieser Sicht lassen sich die Überschriften (inscriptiones), die alle Evangelien tragen, gut verbinden. Sie lauten jeweils: Eujaggevlion kata; Maqqai`on, Ma`rkon, Louka`n oder einfach nur: Kata; Maqqai`on, Ma`rkon, Louka`n, d. h. ‚Evangelium nach Matthäus, Markus, Lukas‘ oder bloß: ‚Nach Matthäus, Markus, Lukas‘. Der Wortlaut ist auffällig: Die Präposition katav umschreibt einen Genitiv (vgl. Bauer-Aland, Wb6, 828: katav 7c, und BDR § 224,2 + Anm. 4), ist aber in antiken Buchtiteln sehr selten. Eine im üblichen Griechisch gefaßte inscriptio hätte gelautet: Mavrkou Eujaggevlion (∆Ihsou` Cristou`) o. ä. Die Überschrift Kata; Ma`rkon stellt eine Abkürzung dar. Mit dem sprachlich auffälligen katav soll offenbar zweierlei ausgedrückt werden: erstens die Verfasserschaft und zweitens die Tatsache, daß das eine Evangelium (von Jesus Christus) in dem Buch des Markus (des Matthäus oder des Lukas) nicht aufgeht, sondern nur so bezeugt wird, daß auch noch für andere Bezeugungen desselben Evangeliums Raum bleibt.

Die Exegeten haben immer wieder gemeint, die Überschriften seien den Evangelien erst nachträglich in der ersten Hälfte des 2. Jh.s n. Chr. gegeben worden. Vor dieser Zeit hätten sie zwar vielleicht schon den Namen ihrer Verfasser getragen, seien aber noch nicht mit den „standard titles“ Eujaggevlion kata; … bezeichnet worden (vgl. z. B. H. Koester, Ancient Christian Gospels, 19923, 26 f.). Die ursprünglich anderslautenden Buchtitel werden von Koester aber nicht belegt, sondern nur vermutet. Seiner hypothetischen Sicht ist deshalb das Ergebnis der Akademieabhandlung von M. Hengel über „Die Evangelienüberschriften“ vorzuziehen. Nach Hengel ist das stereotype Auftauchen der Überschriften in den Handschriften am besten zu erklären, wenn die Überschriften den Evangelien gleich bei der Niederschrift gegeben worden sind. Weil der Vier-Evangelien-Kanon erst von Ende des 2. Jh.s an in Gebrauch gekommen ist, muß man in der vorangehenden Zeit mit der Verwendung einzelner Evangelien rechnen. Nach Hengel war in jeder (Gemeinde-)Bibliothek, in der es mehrere Bücher gab, die Titelangabe zu Beginn und zum Beschluß der Evangelien schon deshalb unentbehrlich, weil die einzelnen Kodices voneinander unterschieden werden mußten. Der 1Clem zeigt, daß es Ende des 1. Jh.s Gemeindebibliotheken in Rom und Korinth gegeben hat. Vermutlich haben aber schon vorher 121

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in christlichen Zentren wie Jerusalem, Antiochien und Ephesus Bibliotheken existiert. Solange die Evangelien einzeln gebraucht wurden, war die volle Über- und Unterschrift (Eujaggevlion kata; …) das Gegebene (vgl. als Beispiel ∏64). Erst bei der Zusammenfassung der vier Bücher in einen VierEvangelien-Kanon konnte man sich mit der Kurzform: Kata; Maqqai`on usw. begnügen. Fragt man, weshalb es in den Überschriften jeweils heißt: Eujaggevlion kata; …, bietet der Eingang des Markusevangeliums die beste Erklärung. Nur hier wird eujaggevlion im Blick auf das nachfolgende Buch benutzt, bei Matthäus, Lukas (und Johannes) ist dies nicht mehr der Fall. Mk 1,1–2 scheint also den Anstoß gegeben zu haben, eujaggevlion nicht nur für die apostolische Christusbotschaft (und die Evangeliumserzählung von Apg 10,36–43) zu verwenden, sondern so auch ein Buch zu nennen, in dem diese Botschaft in Form einer schriftlichen Erzählung von Jesu Person und Werk dargeboten wurde. Diese Wirkung von Mk 1,1–2 erklärt sich umso leichter, desto mehr hinter Markus und seinem Werk die Autorität des Apostels Petrus stand. Auch die (fast) vollständige Aufnahme des Markusstoffes in das Matthäus- und Lukasevangelium weist darauf hin, daß es beim Markusevangelium um apostolische Überlieferung ging, die hohe Beachtung verdiente. Während sich in den Evangelienüberschriften die beiden Bedeutungen von eujaggevlion = (von dem Evangelisten bezeugte) Botschaft und Evangelienbuch gleichsam noch die Waage halten, ist das Wort von der Didache (vgl. 8,2; 15,3–4) und Justin dem Märtyrer (vgl. Apol I 66,3) an sicher als Bezeichnung für literarisch fixierte Evangelien nachweisbar. 2. Die Evangelienschreibung Im judenchristlichen Traditionsmilieu ist der Überschritt von mündlich memorierten und tradierten Überlieferungen zur schriftlichen Fixierung keine metavbasi" eij" a[llo gevno". Trotzdem hat die Abfassung des Markusevangeliums nachhaltige Wirkungen gehabt. Wie wir sahen, hat der Evangelist als erster das von den Missionaren verkündigte eujaggevlion (und mit ihm den Glauben an den Christus Jesus) durch sein Buch literarisch abgestützt, und dieses Vorgehen hat den anderen Evangelisten zum Vorbild gedient. Markus hat in seinem Evangelium (die) bislang einzeln überlieferte(n Sammlungen von) Sprüche(n) und Jesusgeschichten mit der ebenfalls separat tradierten Passionserzählung zu einem literarischen Ganzen verbunden. M. Kähler hat für diese Komposition die klassische Formulierung geprägt: „Etwas herausfordernd könnte man die Evangelien Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung nennen“ (M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus u. der geschichtliche biblische Christus, hg. von E. Wolf, 19694, 60). 122

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2.1 Bedenkt man, daß die Abfassung literarisch fixierter Evangelien einsetzt, nachdem der Herrenbruder Jakobus in Jerusalem gesteinigt worden war, die Urgemeinde wegen des ersten jüdischen Aufstandes Jerusalem hatte verlassen müssen und alle großen Apostel den Märtyrertod gestorben waren, kann man sagen, daß die schriftlich fixierten Evangelien für die werdende Kirche zum literarischen Ersatz für die bis in die 60er Jahre hinein (vor allem) in Jerusalem greifbare und gepflegte Jesustradition geworden sind. 2.2 Hinter jedem der vier Evangelien steht eine Kette von Tradenten. Sie umfaßt zwei oder drei Glieder und reicht von den ( Jerusalemer) Aposteln über deren Schüler zu einzelnen urchristlichen Lehrern. Die Tradenten und ihre Adressaten haben ständig in Verbindung miteinander gestanden und waren vor Falschpropheten gewarnt (vgl. Mk 13,22Par). Gravierende Entstellungen der Evangelientradition waren unter diesen Umständen so gut wie ausgeschlossen (s. u.). 2.3 Die klassische Formgeschichte hat die Absicht der Evangelienschreibung ganz von der Verkündigung her verstanden und den Unterschied zwischen der kerygmatischen Darstellungsabsicht der Evangelisten und modernen Leben-Jesu-Darstellungen, die auf historischen Rekonstruktionen beruhen, betont. Heute wird der Ansatz beim Kerygma durch den Hinweis ergänzt, daß „unter den vergleichbaren Textsorten die hellenistische Biographie der Form des Evangeliums am nächsten (steht)“ (U. Schnelle, a.a.O., 193, kursiv von P. St., vgl. auch K. Berger, Formgeschichte des NTs, 1984, 346 ff.). Diese neue Sicht konnte sich entwickeln, weil das antike Vergleichsmaterial einer Antithese von Verkündigung und Historiographie entgegensteht. A. Dihle hat in seinem Aufsatz „Die Evangelien und die griechische Biographie“ herausgestellt, daß die Alternative Verkündigung oder Geschichtsschreibung überzeichnet ist. Die klassischen griechischen Biographien, wie sie z. B. Plutarch verfaßt hat, sind zwar noch ganz idealtypisch angelegt, aber schon in den Kaiserviten des römischen Historikers Sueton wird dies anders, weil hier „ein Menschenleben als unvergleichbares, unwiederholbares Stück Geschichte (erscheint)“ (a.a.O., 407). H. Cancik hat diese Sicht in seinem Aufsatz „Die Gattung Evangelium“ (s. o.) bestätigt. Vergleicht man die Synoptiker (und das 4. Evangelium) mit den Kaiserviten, dem in verschiedenen Fassungen vorliegenden antiken Alexanderroman (des Kallisthenes) oder auch Lukians Lebensbeschreibung des kynischen Philosophen Demonax, zeigt sich, daß nicht wenige Evangelienperikopen biographischen Charakter tragen (vgl. z. B. Mk 1,29– 31Par; 3,20–21Par; 3,31–35Par). Weil die Evangelien besonderes Interesse an der von Gott gelenkten Geschichte Jesu nehmen, die dem christlichen Glauben vorangeht und ihn begründet (vgl. Röm 5,6–8), diese Geschichte aber ganz einmalige individuelle Züge trägt, macht es wenig Sinn, einen Gegensatz Christuskerygma und Erzählung der (Lebens-)Geschichte Jesu aufzurichten.

Wenn man die fragmentarische Art des Biographischen in den Evangelien nicht außer acht läßt und im Auge behält, daß die Kirchenväter die Evange123

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lien seit dem 2. Jh. n. Chr. ‚Erinnerungen der Apostel‘ (ajpomnhmoneuvmata tw`n ajpostovlwn) genannt haben (vgl. Justin, Apol I 66,3; 67,3), sind die Evangelien schriftlich fixierte Verkündigungserzählungen von Jesu Person,Werk und Geschick. Trotz ihrer Verwandtschaft mit den hellenistischen Biographien nehmen sie in der antiken Literatur eine „inhaltliche Sonderstellung … ein: Nur sie behaupten, daß in einem konkreten und begrenzten Geschehen der Vergangenheit die Geschichte eine Wende nahm und nun auch Gegenwart und Zukunft von diesem Ereignis bestimmt werden. Insofern ist das Evangelium eine Gattung sui generis, die keiner Obergattung zugeordnet werden kann“ (U. Schnelle, a.a.O., 194). 2.4 Schon die in die Evangelien eingegangenen Tradition(ssammlung)en haben ihren Ort im prä- und (vor allem) postbaptismalen Gemeindeunterricht gehabt: Die anerkannt echten Paulusbriefe belegen, daß der Apostel Jesustraditionen und Evangelienstoffe im Unterricht verwendet hat (vgl. Bd. I3, 300 ff.). Solche Unterweisung und Verständnis für seine Anspielungen auf Jesustraditionen setzt Paulus auch bei den nicht von ihm selbst bekehrten Christen in Rom voraus (vgl. Röm 6,17–18; 8,15; 12,14; 14,14; 15,3–4.7). Auf Kenntnis von Evangelientradition in den Gemeinden deuten auch die Hinweise auf den vorbildlich glaubenden und leidenden Christus in Hebr 5,7–9; 12,2 und 1Petr 2,21 hin. Der rhetorische Verweis in Lk 1,1–2 auf ‚viele‘, die sich vor Lukas an Darstellungen der Jesusgeschichte versucht haben, läßt ebenfalls auf die Tätigkeit von Lehrern schließen, die Jesustradition weitererzählt haben. Schließlich belegt die auf Papias zurückgehende Nachricht, Markus habe nach dem Martyrium des Petrus dessen ‚Lehrvorträge‘ (aiJ didaskalivai) in seinem Evangelium festgehalten (Euseb, KG III 39,15), die Verwendung von Jesusworten und Evangelientraditionen im apostolischen Unterricht. Die literarisch fixierten Evangelien bestätigen dieses Bild. Nach Mk 13,14 und Justin Apol I 67 ist aus ihnen in den Gemeindeversammlungen vorgelesen worden. Mt 28,20 zeigt, daß das Matthäusevangelium im Missionsunterricht Verwendung gefunden hat, und nach Lk 1,1–4 soll das Lukasevangelium interessierten Katechumenen verläßliche Auskunft über Grund und Inhalt des Glaubens bieten, in dem sie unterrichtet worden sind. Die Evangelientradition und die Evangelien haben also einen katechetischen Sitz im Leben. Die synoptische Tradition und die schriftlich fixierten Evangelien haben die Kirche von ihren Anfängen an begleitet und entscheidend zur Ausbreitung, Klärung und Bestätigung der apostolischen Missionsbotschaft, des Evangeliums von Jesus Christus, beigetragen. Diese Wirkung verleiht ihnen erhebliches Gewicht und begründet die kanonische Stellung des Vier-Evangelien-Kanons im Neuen Testament.

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3. Eigenart und Verwandtschaft der synoptischen Evangelien Welch ungeheure wissenschaftliche Mühe allein in den vergangenen 250 Jahren auf die Untersuchung der Synoptiker verwendet worden ist, kann man aus den Darstellungen zur synoptischen Frage in den Einleitungen zu den drei ersten Evangelien oder in das Neue Testament insgesamt entnehmen. Zur Erklärung des Verhältnisses der synoptischen Evangelien werden bis heute vor allem drei Erklärungsmodelle diskutiert: die sog. Traditionshypothese, die hinter allen drei Evangelien vor allem mündliche Tradition vermutet, die Benutzungshypothese, die von einem literarischen Zusammenhang der Evangelien ausgeht, und die Zweiquellentheorie, die das Markusevangelium und die sog. Logienquelle als Vorlagen für Matthäus und Lukas ansieht. 3.1 Im Hintergrund der Traditionshypothese steht die alte Annahme J. G. Herders, daß den Synoptikern die mündliche Verkündigung eines Urevangeliums zugrundeliegt. Der wichtigste Vertreter dieser Hypothese in der Gegenwart ist B. Reicke. Nach seiner Sicht sind die Übereinstimmungen zwischen den synoptischen Evangelien auf sorgsam tradierte mündliche Überlieferungen zurückführen. So sehr Reicke in der Annahme zuzustimmen ist, daß hinter den drei ersten Evangelien Varianten eines von Jerusalem ausgehenden (mündlichen) Traditionskontinuums stehen, so problematisch ist sein Versuch, das Verhältnis von Matthäus, Markus und Lukas ganz ohne schriftliche Vorlagen zu erklären. Die genaue Übereinstimmung zwischen Matthäus und Lukas sowohl bei der Rezeption von Markusstoffen als auch bei der Reproduktion von Traditionen, die zwar nicht von Reicke, aber vielen anderen Exegeten der Logienquelle zugewiesen werden, erklärt sich viel ungezwungener, wenn den Evangelisten auch schriftliche Vorlagen zur Verfügung standen. 3.2 Nach der Benutzungshypothese, der schon Augustin gefolgt ist, hat Markus bei der Abfassung seines Evangeliums das schriftlich fixierte Matthäusevangelium vor sich gehabt, und das Lukasevangelium ist aufgrund von Matthäus und Markus verfaßt worden. J.J. Griesbach hat diese Hypothese umgeformt, und W.R. Farmer hat sie zur „Two-Gospel-hypothesis“ ausgestaltet. Nach seiner Sicht ist zuerst das Matthäusevangelium, dann das Lukasevangelium und zuletzt das Markusevangelium (auf der Basis von Matthäus und Lukas) verfaßt worden. Leider verdunkeln beide Varianten der Benutzungshypothese die Entstehung und Bedeutung des Markusevangeliums, statt sie aufzuhellen: Der von der Matthäus- (und Lukas-)Vorlage ausgehende Evangelist müßte bei der Niederschrift seines Evangeliums nicht nur einen beträchtlichen Teil des Matthäusstoffes und das gesamte lukanische Sondergut weggelassen, sondern auch noch die katechetische Gesamt125

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komposition des Matthäus zerschlagen haben. Da ein solcher Umgang mit der Jesustradition historisch nur schwer verständlich gemacht werden kann, findet die Benutzungshypothese gegenwärtig nur noch wenige Anhänger. 3.3 Anders steht es mit der auf C. Lachmann und H.J. Holtzmann zurückgehenden Zweiquellentheorie. Sie sieht im Markusevangelium das älteste synoptische Evangelium und belegt gleichzeitig sein Gewicht, da weder Matthäus noch Lukas den Markusstoff unbeachtet lassen konnten oder wollten. Während der Evangelist Markus in seinem Evangelium nur erst eine bestimmte Auswahl aus der apostolischen Jesusüberlieferung gebündelt hat, ist es Matthäus und Lukas darum gegangen, diese Überlieferung vollständig zu erfassen und literarisch so zu fixieren, wie sie ihnen zugänglich war. Beide Evangelisten haben neben Markus eine (wahrscheinlich schriftlich fixierte) Logienquelle benutzt und ihre Evangelien durch jeweiliges Sondergut abgerundet. Die Zweiquellentheorie findet heute breite Zustimmung, obwohl auch sie nur begrenzt aussagefähig ist und (noch) ihre Probleme hat. Eines dieser Probleme liegt in der Frage, ob in dem Markusevangelium, das Matthäus und Lukas vorlag, die folgenden in keinem der beiden Großevangelien auftauchenden Texte (Mk 4,26–29; 7,31–37; 8,22–26 und folgende Einzelverse Mk 1,1; 2,27; 3,20 f.; 7,3 f.; 9,29.48–49; 12,32–34; 14,51 f. und 15,44 f.) schon enthalten waren oder nicht. Oder anders formuliert: Hat das Markusevangelium vor oder nach seiner Auswertung durch die beiden Großevangelien noch Redaktionsstufen durchlaufen, die zur Unterscheidung zwischen einem Urmarkus und einem Deuteromarkus nötigen? Diese wird auch durch die von B.H. Streeter (The Four Gospels, 1924) so genannten minor agreements nahegelegt. Es handelt sich dabei um eine Anzahl von kleineren wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas bei der Übernahme von Markusstoff, die vom heutigen Markustext abweichen (vgl. z. B. Mk 4,11 mit Mt 13,11/Lk 8,10 [beide haben devdotai gnw`nai ta; musthvria th`" basileiva" gegenüber dem markinischen to; musthvrion devdotai th`" basileiva"], sowie Mk 14,65 mit Mt 26,68/ Lk 22,64 [beide schreiben gegen Markus tiv" ejstin oJ paivsa" se]). Eine synoptische Übersicht über alle in Frage kommenden Fälle bietet der Anhang zu A. Ennulat, Die ‚Minor Agreements‘, 1994.

3.4 Zur Annahme der Existenz einer Matthäus und Lukas schriftlich vorliegenden Logienquelle (Q) hat vor allem die Beobachtung geführt, daß zwischen den beiden Großevangelien in ca. 200 Versen über Markus hinaus z. T. wörtliche Übereinstimmung besteht. Die Existenz von schriftlich fixierten (Spruch-)Sammlungen in frühchristlicher Zeit ist nach Auffindung des Thomasevangeliums (deutscher Text bei K. Aland, Synopsis Quattuor Evangeliorum, 517 ff., und E. Hennecke – W. Schneemelcher, Ntl. Apokryphen I6, 93 ff.) zwar nicht zu bezweifeln. Aber Q bietet eine ganz andere Textfolge als das gnostische Evangelium (vgl. U. Schnelle, a.a.O., 217–220). Da Leidensweissagungen und Passionstraditionen aus Q fehlen, nimmt man an, die Logienquelle habe solche Texte nicht enthalten. 126

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Bei dem Versuch, den vor- und/oder nachösterlichen Sitz im Leben von Q zu bestimmen, gehen die Meinungen weit auseinander. Wenn Teile der Quelle schon vor Ostern in Gebrauch waren, kann man an die in Lk 10,1–12 erwähnte Situation der Aussendung der maqhtaiv zur Verkündigung der basileiva denken: Folgt man A. Polag (Die Christologie der Logienquelle, 1977) haben die Tradenten vor und vor allem nach Ostern das Material zusammengestellt, um „den Unterweisenden Handreichung für die Lehre und zugleich Stärkung für ihre eigene Überzeugung zu bieten angesichts einer gegenwärtigen oder erwarteten Verfolgungssituation“ (a.a.O., 22; kursiv bei P.). Diese Charakteristik ist missionsgeschichtlich plausibel, aber nicht unbestritten. M. Sato vertritt in seiner (von U. Luz betreuten) Dissertation (Q und Prophetie, 1988) die Meinung, die (verschiedenen Rezensionen der) Logienquelle hätten formal „die Gestalt einer unabgeschlossenen Notizblatt-Sammlung“ gehabt (a.a.O., 409). Inhaltlich vergleicht er sie alttestamentlichen Prophetenbüchern und hält Q für „eine Art ‚Prophetenbuch‘, hinter dessen Gestaltung ein traditionell-prophetisch bestimmter Nachfolger-Kreis Jesu stand“ (a.a.O., 409; kursiv bei S.). In diesem Kreis soll nicht nur die Lehre Jesu weitergegeben, sondern auch „Jüngerprophetie anhand der Meistersprache Jesu ausgeübt und das Meisterleben Jesu in radikaler Nachfolge übernommen“ worden sein (a.a.O., 410). – G. Theissen (Lokalkolorit u. Zeitgeschichte in den Evangelien, 19922, 212–245) führt die Anfänge von Q auf christliche Wandercharismatiker zurück und schließt aus zeitgeschichtlichen Anspielungen, daß die Quelle etwa in der Mitte des 1. Jh.s (in Palästina) verschriftet worden sein muß. Nach seiner Auffassung wurde die Sammlung in der Judenmission verwendet (vgl. Gal 2,7–8). U. Schnelle folgt dieser Sicht, hebt aber (mit Recht) hervor, daß viele Logien in Q auch die Seßhaftigkeit der Tradenten voraussetzen (vgl. z. B. Lk 12,39–40; 13,18–21). „Die seßhaften Sympathisanten in den Ortsgemeinden boten den Wandermissionaren eine materielle Basis, indem sie Unterkunft (vgl. Lk 9,58Q) und Unterhalt (Lk 10,5–7Q) gewährten“ (a.a.O., 229). Historisch viel ungeschützter als die bisher genannten Autoren urteilen S. Schulz (Q – Die Spruchquelle der Evangelisten, 1972), W. Schmithals (Einleitung in die drei ersten Evangelien, 1985, 215 ff.384 ff.) und H. Koester (Ancient Christian Gospels, 19923, 128 ff.). In unterschiedlicher Weise führen sie die Grundschicht von Q auf Jesusanhänger (in Galiläa) zurück, die nach Ostern die Lebensweise Jesu fortgesetzt und das (Jerusalemer) Kerygma von Tod und Auferstehung abgelehnt haben. – Da wir von einer galiläischen Jesussekte oder einem speziellen prophetischen Trägerkreis der Q-Überlieferung historisch gar nichts und auch von urchristlichen Wandercharismatikern nur wenig wissen (vgl. Mt 10,5–10.41 mit 3Joh 5–8 und Did 11,3–12), muß man mit dem (formgeschichtlich eingeübten, aber literaturgeschichtlich fragwürdigen) Rückschluß von Q-Texten auf einen spezifischen Trägerkreis sehr vorsichtig sein. Das assoziative und offene urchristliche Traditionsdenken verbietet außerdem, aus dem (möglichen) Fehlen von Passionstexten in Q auf die theologische Ablehnung des Passionskerygmas durch die Tradenten von Q zu schließen.

Was wir Q nennen, ist de facto nur eine bei Matthäus und Lukas zutagetretende (wahrscheinlich schriftlich fixierte) Quellenschicht. Sie geht vielleicht auf eine zum Zweck der Jüngermission zusammengestellte Textsammlung zurück, die nach Ostern sukzessive ergänzt worden und in verschiedenen Rezensionen verbreitet gewesen ist. Von einer separaten 127

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theologischen Auswertung der Logienquelle (vgl. z. B. A. Weiser, Theologie des NTs II, 1993, 21 ff.) nimmt man besser Abstand. Es ist nach wie vor umstritten, ob es eine selbständige Logienquelle überhaupt gegeben hat, in der Bibel spielt sie keine selbständige Rolle, und alle Urteile über Q müssen notgedrungen hypothetisch und ungenau bleiben. 3.5 Nach der Zwei-Quellen-Theorie gehören zu den im Lukasevangelium verarbeiteten Quellen das Markusevangelium, die (lukanische Fassung der) Logienquelle und das lukanische Sondergut. Dieses Sondergut tritt nicht nur in den Vorgeschichten (1,5–2,52) und in 24,9–52 in Erscheinung, sondern findet auch sonst im Evangelium Verwendung; es prägt außerdem die ganze lukanische Passionserzählung. Achtet man auf die Art und Weise, in der das genannte Material im Evangelium zusammengefügt worden ist, stößt man auf ein auffälliges literarisches Blocksystem. Schon B.H. Streeter hat in seinem Werk „The Four Gospels“ (1924) auf die Möglichkeit hingewiesen, daß Lukas aus seinem Sondergut und Q-Stoffen einen Protolukas (Proto-Luke) kombiniert und den Markusstoff in diesen Rahmen eingegliedert haben könnte. J. Jeremias hat diesen Hinweis aufgegriffen und weitergeführt (vgl. seinen Aufsatz: Perikopen-Umstellungen bei Lukas?, in: ders., Abba, 1966, 93–97, und: Neutestamentliche Theologie I, 19732, 48–49). Wenn man diesen Hinweisen folgt, hat Lukas seine Traditionen folgendermaßen kombiniert: (1) Lk 1,1–4,30 (SLk + Q) S (2) Lk 4,31–44 (Mk 1,21–39) (3) Lk 5,1–11 (SLk) S (4) Lk 5,12–6,19 (Mk 1,40–3,19) (5) Lk 6,20–8,3 (SLk + Q) ‚Kleine Einschaltung‘ S(6) Lk 8,4–9,50 (Mk 4,1–25; 3,31–35; 4,35–6,44; 8,27–9,40) (7) Lk 9,51–18,14 (SLk + Q) ‚Große Einschaltung‘ S (8) Lk 18,15–43 (Mk 10,13–52) (9) Lk 19,1–28 (SLk + Q) S (10) Lk 19,29–38 (Mk 11,1–10) (11) Lk 19,39–44 (SLk) S (12) Lk 19,45–21,33 (Mk 11,15–13,31) (13) Lk 21,34–38 (SLk) S (14) Lk 22,1–13 (Mk 14,1–2.10–16) (15) Lk 22,14–24,53 (SLk) Die Aufstellung erlaubt eine doppelte Deutung: Entweder ist Lukas dem Markusaufriß gefolgt, hat ihm sein Sondergut mitsamt den Q-Stoffen eingefügt und die markinische Darstellung außerdem noch nach vorn und hinten erweitert, oder er hat

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umgekehrt die für ihn wichtigen Markusstoffe blockweise in eine bereits bestehende, aus Sondergut und Q-Stoffen gebildete Sammlung, den sog. Protolukas, eingegliedert. Ein definitives Urteil über das lukanische Verfahren ist nicht leicht zu fällen, weil der Evangelist bei der Redaktion nicht einfach mechanisch verfahren ist: Er hat weder seine Sondertradition und die Q-Überlieferung von Nachredaktionen anhand des Markusstoffes freigehalten noch den Markusstoff einfach unbearbeitet dem Protolukasrahmen eingegliedert. Die zuletzt in minutiöser Weise von J. Jeremias durchgeführte sprachliche Untersuchung des gesamten Evangelienstoffs weist aber darauf hin, daß „dem Lukas der Nicht-Markusstoff geprägt vorlag und nicht erst von ihm zusammengetragen wurde“ (Die Sprache des Lukasevangeliums, 1980, 9). Angesichts dieser Beobachtung verdient die Protolukas-Hypothese weitere Untersuchung. Sie weist auf Vorstufen der Evangelienschreibung hin, die mit der Zweiquellentheorie allein nicht erfaßt werden können.

3.6 Auf offene Fragen der Synoptikerauslegung weist auch die von R. Bauckham edierte Aufsatzsammlung „The Gospels for All Christians“ (1998) hin. Die Autoren gehen von fünf Beobachtungen aus: (1) Anders als z. B. die Paulusbriefe richten sich die synoptischen Evangelien nicht an spezifische Gemeinden, sondern lassen offen, wo, wann und vor wem sie verlesen werden. (2) Es gibt kein Beispiel dafür, daß antike Biographien (zu denen auch die Evangelien gezählt werden können, s. o.) nur für eine bestimmte Lesergruppe bestimmt waren. (3) Die Christen haben zur Verbreitung ihres Schrifttums (einschließlich der Evangelien) nicht Schriftrollen, sondern die (wesentlich) billigere und handlichere Form des Kodex benutzt. (4) Die Apostel und führenden Personen in der Gemeindeleitung haben weite Reisen unternommen und gegenseitigen Kontakt gepflegt. (5) Auch zwischen den größeren christlichen Gemeindezentren in Jerusalem, Antiochien, Ephesus, Korinth und Rom hat seit ihrer Begründung reger Austausch geherrscht. Angesichts dieser kaum zu leugnenden Tatbestände ist nach Ansicht Bauckhams und des Autorenteams die vorherrschende Ansicht zu revidieren, daß jedes synoptische Evangelium an eine spezifische Gemeinde gerichtet gewesen ist und daß sich diese Gemeinden genau unterscheiden lassen. Den Autoren geht es nicht darum, die literarischen (und inhaltlichen) Unterschiede zwischen den Synoptikern einzuebnen. Sie wollen aber darauf aufmerksam machen, daß die Evangelien relativ „offene Texte“ (U. Eco) waren, und halten es für sehr wahrscheinlich „that the Gospels were written for general circulation around the churches und so envisaged a very general Christian audience“ (a.a.O., 1). Ob diese Sicht auch für das 4. Evangelium zutrifft, wie das Autorenteam meint, ist später zu entscheiden. Auf die Synoptiker bezogen macht sie aber deutlich, daß wir in den synoptischen Evangelien mit einer Tradition konfrontiert sind, die urchristlich allgemein akzeptiert war und nach Auffassung der Tradenten und Rezipienten keine gravierenden Entstellungen der Jesusüberlieferung enthielt, die auf die ( Jerusalemer) Apostel zurückgeht. 129

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4. Hinter den synoptischen Evangelien steht eine längere Überlieferungsgeschichte der synoptischen Einzeltraditionen und Sammlungen. Die synoptische Tradition ist also wesentlich älter als die drei Evangelien, in denen sie auf uns gekommen ist. Bei ihnen handelt es sich nicht mehr um apostolische Augenzeugeberichte von Jesu Weg und Geschick, sondern um literarisch ausgearbeitete Bücher. Bedenkt man dies, kann und muß man die Evangelisten zuerst Sammler und Tradenten von Jesusüberlieferung nennen. Da sie aber ihre Stoffe und Texte auch ausgewählt, plaziert und redigiert haben, waren sie zugleich Redaktoren und theologische Lehrer der Überlieferung. Die Über- und Unterschriften der Evangelien deuten nur an, auf wen die Evangelien zurückgehen, und trotz des Lukasprologs tritt die Individualität der Evangelisten in den Synoptikern ganz hinter die von ihnen dargebotenen Stoffe zurück. Unter diesen Umständen waren die Evangelisten zwar Sammler, Tradenten, Redaktoren und Lehrer in einer Person, aber sie wollten vor allem Zeugen sein, die das ihnen vorgegebene Evangelium von Jesus Christus und die nicht von ihnen selbst geschaffene Jesustradition bewahren und weitergeben wollten. Die synoptischen Evangelien lassen sich diachron und synchron lesen. Das Ergebnis der diachronen Lektüre haben wir in §§ 3–11 zusammengefaßt. Wenn wir uns jetzt auf die synchrone Lesung konzentrieren, darf durch die Aussagen, die wir über ‚Markus‘, ‚Matthäus‘, ‚Lukas‘ und ihre Theologie machen, ihre Zeugenschaft nicht verdunkelt werden. Die hinter den Synoptikern stehenden Autoren wollen nicht von sich und ihrem Glauben berichten, sondern ihre Leserschaft vor den Christus Jesus stellen, der das Evangelium Gottes in Person ist (vgl. Lk 17,21).

§ 32 Das Markusevangelium Literatur: K. Aland, Der Schluß des Markusevangeliums, in: ders., Ntl. Entwürfe, 1979, 246–283; O. Betz, The Concept of the So-called ‚Divine Man‘ in Mark’s Christology, in: ders., Jesus. Der Messias Israels, 1987, 273–284; B.L. Blackburn, Theios Anér and the Markan Miracle Tradition, 1991; C. Breytenbach, Grundzüge markinischer Gottessohn-Christologie, in: Anfänge der Christologie, FS für F. Hahn, hg. von C. Breytenbach u. H. Paulsen, 1991, 169–184; H. Cancik (Hg), Markus-Philologie 1984; H. Conzelmann, Gegenwart u. Zukunft in der synoptischen Tradition, in: ders., Theologie als Schriftauslegung (Ges. Aufs), 1974, 42–61; F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, 1985; M. Hengel, Studies in the Gospel of Mark, 1985; K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium, 1970; H.W. Kuhn, Ältere Sammlungen im Markusevangelium, 1971; H. Kvalbein, Die Wunder der Endzeit, ZNW 88, 1997, 111–125; D. Lührmann, Die Parisäer u. die Schriftgelehrten im Markusevangelium, ZNW 78, 1987, 169–184; U. Luz, Das Geheimnismotiv u. die markinische Christologie, ZNW 56, 1965, 9–30; W. Marxsen, Der Evangelist Markus, 19592; K. Niederwimmer, Johannes Markus u.

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die Frage nach dem Verfasser des zweiten Evangeliums, ZNW 58, 1967, 172–188; P. Pokorny´ – G. Rau, Das Markusevangelium, ANRW II 25,3, 1985, 1969– 2035.2036–2257; H. Räisänen, Das ‚Messiasgeheimnis‘ im Markusevangelium, 1976; R. Schnackenburg, ‚Das Evangelium‘ im Verständnis des ältesten Evangelisten, in: Orientierung an Jesus, FS für J. Schmid, hg. von P. Hoffmann, 1973, 309–324; E. Schweizer, Beiträge zur Theologie des NTs, 1970; Th. Söding, Glaube bei Markus, 19872; ders. (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium, 1995; G. Strecker, Eschaton u. Historie (Ges. Aufs.), 1979; P. Stuhlmacher, Die Auferweckung Jesu, die Auferweckung der Toten u. das Jüngste Gericht, in: ders., Was geschah auf Golgatha?, 1998, 43–88; G. Theissen, Urchristliche Wundergeschichten, 1974; D.L. Tiede, The Charismatic Figure as the Miracle Worker, 1972, Ph. Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums, in: ders., Aufsätze zum NT, 1965, 199–214; W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, 19633.

Nach seiner Über- und Unterschrift ist das Markusevangelium das Werk eines Ma`r ko", der sonst in dem Buch nicht erwähnt wird. Von Apg 10,36–43 her wirkt das Buch wie eine literarisch ausgeweitete Petruspredigt. Nach 13,14 war es zur Verlesung in Gemeindeversammlungen bestimmt. Folgt man der Zweiquellentheorie, ist das Evangelium das älteste synoptische Evangelium; sein Inhalt ist von Matthäus und Lukas (fast) vollständig übernommen worden. 1. Verfasser und Alter des Evangeliums 1.1 Bei der Identifikation des Autors ist die Forschung seit 1952 buchstäblich im Kreis gegangen: V. Taylor schreibt: „There can be no doubt that the author of the Gospel was Mark, the attendant of Peter“ (Mark, 19662, 26). Anschließend ist diese Meinung heftig bestritten worden, aber M. Hengel hat ihr kürzlich wieder zugestimmt (vgl. Studies in the Gospel of Mark, 45 ff.). Die Alte Kirche war einhellig der Meinung, Ma`rko" sei jener Johannes Markus gewesen, der in Apg 12,12.25; 13,5.13; 15,37.39; Phlm 24, Kol 4,10; 2Tim 4,11 und 1Petr 5,13 erwähnt wird. Papias, der Bischof von Hierapolis (in Phrygien [Kleinasien]) war, hat um 120 folgende (vom Presbyter Johannes stammende) Nachricht über ihn festgehalten: „Und dies sagte der Presbyter: Markus war Dolmetscher (eJrmhneuthv") des Petrus und schrieb sorgfältig auf, soweit er sich dessen erinnerte – freilich nicht in der (richtigen) Ordnung – was vom Herrn gesagt oder getan worden war. Denn er (selbst) hatte weder den Herrn gehört, noch war er ihm nachgefolgt, sondern erst später, wie gesagt, dem Petrus, der seine Lehrvorträge (ta;" didaskaliva") nach den Bedürfnissen der Hörer einrichtete, nicht jedoch, um eine geordnete (schriftliche) Darstellung der Lehren des Herrn (zu geben). Daher beging Markus keinen Fehler, wenn er einiges so niederschrieb, wie er sich erinnerte. Denn er war auf eines bedacht, nichts von dem, was er gehört hatte, wegzulassen oder zu verfälschen.“ (Euseb, KG III 39,15; deutsche Übersetzung im Anschluß an M. Hengel, Studies, 47).

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Nach Papias war Markus als eJrmhneuthv" des Petrus tätig und hat sich bei der Abfassung seines Evangeliums auf die Themen und Stoffe konzentriert, die der Apostel im Missionsunterricht betont hat. ÔErmhneuthv" bedeutet ‚Dolmetscher‘, ‚Interpret‘, gelegentlich auch ‚Vertreter (vor Gericht)‘ (vgl. J. Behm, ThWNT II, 659 f. und Liddell & Scott, 690). Es ist historisch durchaus glaubhaft, daß Petrus die hermeneutischen Dienste des Markus in Anspruch genommen hat. Der Apostel sprach zwar Griechisch, war aber rhetorisch ungeschult (vgl. Apg 4,13) und hat sich deshalb bei der Formulierung (und Weitergabe?) seiner Lehre von Markus helfen lassen. Josephus ist bei der Abfassung seiner Bücher ähnlich verfahren (vgl. Ap I 50). Papias bescheinigt dem Evangelisten Genauigkeit, kritisiert aber die ‚Unordnung‘ seines Gesamtberichts. (Vorbild für die theologisch richtige suvntaxi" der Worte des Herrn war für Papias wahrscheinlich Johannes, vgl. die von M. Hengel, a.a.O., 47–50 referierte Debatte). Gegen die altkirchliche Sicht wird eingewandt, die Petrus-Markus-Relation sei nur nachträglich aus 1Petr 5,13 gefolgert worden (so z. B. E. Schweizer, E. Haenchen, R. Pesch, U. Schnelle). Bei diesem Urteil wird nicht bedacht, daß sich im Verlauf des kanonischen Prozesses gegen das Werk eines unbekannten Markus sicher Widerstände erhoben hätten; der Name war nur in Verbindung mit Petrus einleuchtend. Außerdem wird übersehen, daß sich Papias auf die Auskünfte des Presbyters Johannes beruft. Es liegen also zwei verschiedene Traditionen über Markus vor. Schließlich ist auf die Rolle des Petrus bei Markus zu verweisen: In den 16 Kapiteln des Evangeliums wird Petrus 14mal genannt (vgl. 1,16 ff.; 1,29 ff.; 1,36; 3,16; 5,37; 8,29; 8,32 f.; 9,2 ff.; 10,28; 13,3; 14,29; 14,33; 14,54; 14,66 ff.; 16,7[!]), wobei sogar biographische Details wie die Heilung der Schwiegermutter festgehalten werden. Die altkirchliche Tradition ist also nicht von der Hand zu weisen. – K. Niederwimmer u. a. haben dem Evangelisten unter Verweis auf Mk 7,31; 11,1 vorgeworfen, er habe von palästinischer Geographie keine genaue Vorstellung gehabt, könne also nicht mit Johannes Markus aus Jerusalem identisch sein. Dazu ist zweierlei zu sagen: 7,31 ist eine pauschale Reisenotiz, die angesichts der schwierigen Wegführung von Tyrus und Sidon zum See Genezareth nicht abwegig ist, wenn Jesus das Territorium des Herodes Antipas meiden wollte; vielleicht will die Stelle auch die Gebiete markieren, in denen nach Ostern Mission getrieben worden ist (vgl. F.G. Lang, ZDPV 94, 1978, 145–160). Von 11,1 her negativ über die geographischen Kenntnisse des Markus zu urteilen, ist ganz problematisch: Bis heute ist die Lage von Bethphage archäologisch nicht geklärt, und die Führung der antiken Pilgerwege am Ostabhang des Oelbergs war mit Sicherheit vielfältig.

Aus alledem ergibt sich: Die Abfassung unseres Evangeliums durch Johannes Markus, den Missionsgehilfen und ‚Dolmetscher‘ des Petrus, ist historisch am besten bezeugt und sachlich durchaus nachvollziehbar. Der enge Zusammenhang zwischen Markus und den Lehrvorträgen des Petrus bietet eine gewisse Erklärung für den doppelten Umstand, der am Markusevangelium immer neu auffällt: Der Evangelist gibt wiederholt nur eine komprimierte Darstellung von Traditionen und Begebenheiten, die bei Matthäus und Lukas (sowie im

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Johannesevangelium) wesentlich detaillierter beschrieben werden; die markinische Passionsdarstellung ist dafür das beste Beispiel. – Auch Texte aus Q übernimmt Markus nicht wörtlich. Wenn man z. B. die Verkündigung des Täufers Mk 1,7–8; die Versuchung Jesu 1,12–13; das Beelzebubgespräch 3,22–30; das Gleichnis vom Senfkorn 4,30–32; die Aussendungsrede 6,7–11und die Sprüche gegen die Schriftgelehrten 12,38–40 mit den Versionen aus Q vergleicht, erkennt man rasch, daß der Evangelist die Q-Tradition zwar gekannt, aber nur gelegentlich zur Ergänzung seiner eigenen Tradition(en) herangezogen hat.

1.2 Wenn wir uns an den abgesteckten historischen Rahmen halten, wurde das Markusevangelium sehr wahrscheinlich erst nach dem Tode des Petrus verfaßt. Sofern der Apostel das Martyrium unter Nero (im Jahre 64 n. Chr.?) erlitten hat (vgl. 1Clem 5,4; Irenäus, Haer III 1,1), kann die Niederschrift nicht vor der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 1. Jh.n. Chr. erfolgt sein. Anders als in Lk 19,43–44; Mt 22,7 wird im Markusevangelium nirgends direkt auf die Katastrophe des Jahres 70 n. Chr. angespielt. Daher ist die Endredaktion des Evangeliums wahrscheinlich noch vor ihrem Eintreffen anzusetzen. 1.3 Über die Adressaten seines Werkes macht Markus keine genauen Angaben. Markus war aller Wahrscheinlichkeit nach des Aramäischen mächtig. An der Übertragung von aramäischen Wendungen ins Griechische (vgl. 7,11; 10,51; 14,36; 15,22.34), an der Erläuterung von jüdischen Gebräuchen (z. B. in 2,18; 7,3–4) und den pleonastischen Zeitangaben in 14,1.12 (vgl. mit Josephus, Ant 14,21) kann man aber erkennen, daß er für eine Leserschaft schreibt, die kein Aramäisch (mehr) konnte und mit jüdischer Sitte auch nicht mehr unbedingt vertraut war. Sie ist vor allem unter den Griechisch sprechenden (Heiden-)Christen in der Diaspora zu suchen. Einige Latinismen (vgl. die Liste bei U. Schnelle, Einleitung in das NT, 19962, 237), die auffällige Bezeichnung der Jesus bittenden Heidin in 7,26 als ‚Syrophönizierin‘ (vgl. dazu M. Hengel, a.a.O., 29) und die Abfassungszeit kurz nach dem Petrusmartyrium (s. o.) legen nahe, an eine Entstehung des Evangeliums in Rom zu denken. Sein Leserkreis war aber nicht auf die stadtrömischen Christen beschränkt, sondern reichte (weit) darüber hinaus (vgl. R. Bauckham, The Gospels for All Christians, 1998, 16 ff.). 2. Aufbau und Inhalt des Evangeliums Als Sammler und Tradent hat Markus auf (petrinische) Stoffe und Sammlungen zurückgegriffen, die heute noch im Evangelium auffallen (vgl. den exemplarischen Bericht über Jesu Wirken in Kapernaum [2,1–3,6], die Sammlung von Gleichnissen [4,1–34] und Wundergeschichten [4,35–6,52], die Endzeitrede [13,1–37] und die in enger chronologischer Abfolge er133

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zählte Passionsgeschichte [14,1–16,8]). Als Erzähler und Zeuge hat er drei Strukturfäden miteinander verwoben: (1) das ihm vorgegebene Erzählmuster vom Evangelium Gottes (Apg 10,36–43) und seine Inhalte (s. o.), (2) die Markus ebenfalls schon vorliegenden, von ihm aber noch weiter ausgebauten Verweise auf die Heiligen Schriften und (3) die Hinweise auf das Jesus umgebende Messiasgeheimnis. 2.1 Das Evangelium ist so klar komponiert, daß seine Gliederung kaum strittig ist. Es beginnt mit 1,1–2a und geht über in einen Prolog (1,1b-15), dem drei Hauptteile folgen: I Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (1,16–8,26), II Jesu Weg ins Leiden und die Kreuzesnachfolge (8,27–10,52), III Jesu Wirken in Jerusalem, seine Passion und Auferweckung (11,1–16,8). Ob 16,8 der ursprüngliche Markusschluß ist, ist umstritten. K. Aland (Schluß des Markusevangeliums) hat aber gezeigt, daß die Textüberlieferung den Abschluß des Evangeliums mit 16,8 bestätigt. Von 16,9 an folgen nur textgeschichtlich sekundäre Markusschlüsse. 2.2 Wenn man bedenkt, daß eujaggevlion (tou` Cristou`) bis zu Markus und über ihn hinaus die den Aposteln offenbarte und von ihnen zu verkündigende Missionsbotschaft von Jesus Christus meint (vgl. Apg 15,7; 20,24; Röm 1,16 u. a.), erscheint der pointierte Gebrauch des Wortes bei Markus (vgl. 1,1.14.15; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9) in besonderem Licht: Eujaggevlion bedeutet auch in 8,35; 10,29; 13,10 (Christus-)Botschaft. Ihre Bezeugung kann Menschen das Leben kosten (vgl. 8,35), um ihretwillen haben die Apostel Heimat und Familie verlassen (vgl. 10,29), vor dem Tag der Parusie muß sie allen Völkern verkündigt werden (vgl. 13,10). Diese Botschaft verbindet sich aber nahtlos mit der Erzählung der Geschichte Jesu (vgl. 1,1; 14,9), und diese Geschichte ist davon geprägt, daß Jesus selbst das Evangelium verkündigt (vgl. 1,14–15). Markus will also mit seinem Buch der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, dienen, und zwar so, daß er diese Verkündigung fest mit Jesu eigener Botschaft und Geschichte verbindet. Diese Bindung schützt die Missionsbotschaft vor spiritualistischer Verflüchtigung und inhaltlicher Beliebigkeit. Außerdem gibt sie ihr theologische Dimension: Gott selbst hat den Anfang für das Evangelium gesetzt. Er hat es durch den Propheten Jesaja verheißen und ihm in und mit der Sendung Jesu Inhalt gegeben. Dieser göttlichen ajrchv entspricht das von Gott gesetzte tevlo" des Evangeliums in Gestalt der an dem nur ihm bekannten Zeitpunkt heraufzuführenden Parusie seines Sohne (vgl. 13,10.32). Das Evangelium, von dem Markus berichtet, ist Gottes Evangelium im strengen Sinn des Wortes, und sein zentraler Inhalt ist die Aufrichtung der Gottesherrschaft durch Jesu Taten und Worte, sein Leiden und Sterben für die ‚Vielen‘ (vgl. 10,45; 14,22–24) und die von ihm selbst angekündigte Ostererscheinung in Galiläa (vgl. 14,28; 16,7). Für die Leser des Evangeliums bedeutet die Darstellung des Evangelisten eine Einladung zur Ana134

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mnese: Sie sollen lernen, sich christlich zu orientieren, indem sie sich selbst vor Jesus gestellt sehen und seine Geschichte mit- und nacherleben. 2.3 Der Verweis auf das bei dem Propheten Jesaja ‚geschriebene‘ Evangelium erinnert an das (von zahlreichen Anspielungen auf Jesaja und die Heiligen Schriften geprägte) Erzählmuster von Apg 10,36–43 und gibt dem Bericht des Markus heilsgeschichtliche Tiefendimension: In der Sendung Jesu erfüllt und vollzieht sich, was Jesaja bezeugt hat, und nicht nur er allein, sondern auch David, der geisterfüllte Verfasser der Psalmen (vgl. 12,36), und die Autoren der Heiligen Schriften insgesamt (vgl. 14,49). In 1,2a wird das nachfolgende Mischzitat aus Ex 23,20 und Mal 3,1 nicht „fälschlich auf Jesaja zurückgeführt, vielleicht weil es in einer Sammlung von Bibelzitaten einmal hinter dem Jesajawort stand“ (E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus, 19836, 11), sondern der Halbvers gehört mit 1,1 zusammen, und mit 1,2b beginnt der Prolog, in dem von der Erfüllung der Schriften die Rede ist, unter denen die Weissagungen des Jesaja besonderes Gewicht haben.

2.3.1 Die direkten Schriftzitate fallen jedem Leser auf: 1,11 (vgl. mit Jes 42,1; 44,2; Ps 2,7; Gen 22,2); 4,12 (vgl. mit Jes 6,9–10); 7,6–7 (vgl. mit Jes 29,13); 9,7 (vgl. mit Jes 42,1; Ps 2,7; Gen 22,2); 11,9–10 (vgl. mit Ps 118, 25–26; 148,1); 13,24–25 (vgl. mit Jes 13,10; 34,4); 14,27 (vgl. mit Sach 13,7); 14,49 (in Jesu Leidensweg erfüllen sich die Schriften, s. u.). 2.3.2 Die noch zahlreicheren indirekten Bezugnahmen auf die Schriften setzen Leser mit guten Bibelkenntnissen voraus. Folgende Beispiele zeigen dies: 1,9–11 (Jesu Taufe ist messianische Geistsalbung und Sendung gemäß Jes 61,1–2); 1,12–13 ( Jesus besteht die Versuchung gemäß Jes 11,6–9); 1,14–15 ( Jesus tritt auf als der messianische Evangelist der Gottesherrschaft gemäß Jes 52,7); 1,21–34 ( Jesus lehrt und heilt in göttlicher Vollmacht, s. u.); 8,31( Jesus muß gemäß Ps 118,22 verworfen werden und leiden [vgl. Lk 24,44], wird aber gemäß Hos 6,2 nach drei Tagen auferstehen); 9,31 (der Menschensohn Jesus wird gemäß Jes 43,4; 53,5.12 den Menschen ausgeliefert, aber gemäß Hos 6,2 nach drei Tagen auferstehen); 10,33–34 ( Jesus wird den Hochpriestern und Schriftgelehrten in Jerusalem gemäß Jes 43,4; 53,5.12 ausgeliefert, gemäß Jes 50,6 verhöhnt und hingerichtet, aber gemäß Hos 6,2 nach drei Tagen auferstehen); 12,1–11 ( Jesus verkündigt dem Weinberg und Weinstock Israel [vgl. Jes 5,1–2; Ps 80,9–10] das Gericht, wird gemäß Ps 118,22–23 verworfen, aber von Gott zum Eckstein gesetzt); 10,45 ( Jesus ist bereit, sein Leben als das von Gott gemäß Jes 43,3–4 für Israel ausersehene Lösegeld für die Vielen [vgl. Jes 53,10–12] preiszugeben); 14,1–16,8 (in Jesu Leiden und Tod erfüllen sich die Schriften [14,49], und zwar vor allem Ps 22 und 69 [vgl. die Stellen-Übersicht bei A. Weiser, Theologie des NT II, 1993, 74 f.]); 14,24 ( Jesus setzt in endzeitlicher Entsprechung zu Ex 24,8 sein Blut als ‚Bundesblut‘ für die Vielen [vgl. Jes 53,11–12] 135

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ein); 14,58 ( Jesus kündigt die Auflösung des alten und die Errichtung des in Ex 15,17 angekündigten endzeitlichen Heiligtums an und erleidet selbst das Geschick der Tempel-Auflösung [vgl. 15,29 mit Joh 2,17.21]); 15,34–35 ( Jesus stirbt mit dem Ruf von Ps 22,2 und 22,11 [vgl. G. Lohfink, Der letzte Tag Jesu, 19876, 74–76]); 15,38 (Jesu Tod auf Golgatha führt zum Zerreißen des Vorhangs, der das Allerheiligste vom Tempel abtrennt, weil dieser Tod als Akt der von Gott verfügten endzeitlichen Sühne den Tempel als Ort der nur zeichenhaft vollbrachten Sühne [vgl. Lev 16,12–15] ablöst [vgl. mit Hebr 7,27; 9,12; 10,10]); 15,46 ( Jesus erhält gemäß Jes 53,9 bei Reichen sein Grab); 16,1–8 ( Jesus steht gemäß Hos 6,2 nach drei Tagen von den Toten auf und läßt den Jüngern seine Erscheinung ankündigen, vgl. mit Mt 28,16–20 und Ps 80,2–3; Mi 2,13, s. u.). Die Textbeispiele zeigen, daß nicht erst das Matthäusevangelium, sondern schon Markus mit Hilfe von Zitaten und Anspielungen auf die Heiligen Schriften die Geschichte des Christus Jesus als messianisches Erfüllungsgeschehen darstellt. 3. Die Geschichte des Gottessohnes Das Evangelium wird von Markus narrativ entfaltet. Die den Evangelisten leitende Christologie ist deshalb nicht nur aus seinen Christusprädikaten, sondern auch aus den Schwerpunkten seiner Evangeliumserzählung zu ersehen. 3.1 Die markinischen Christusprädikate Auch Markus gebraucht die Christusprädikate (nach judenchristlichem Vorbild) kumulativ. Wenn Jesus z. B. in 14,61–62 kurz hintereinander Christus, Sohn Gottes und Menschensohn genannt wird, werden nicht drei verschiedene Christologien miteinander verknüpft, sondern Jesus ist als der Christus zugleich Gottes- und Menschensohn, und jedes der drei Prädikate bezeichnet (nur) einen bestimmten Aspekt seines einen Seins und Wirkens. 3.1.1 Nach A. Weiser (a.a.O., 66) wollte Markus schon mit den Eingangsversen seines Evangeliums hervorheben, „daß Jesus nicht nur als Mensch, sondern in der umfassenden Weise des Glaubens wahrgenommen und anerkannt werden soll.“ Diese richtige Einsicht wird von ihm aber leider mit dem bekannten Gedanken einer Entwicklung der Christologie von unten nach oben verbunden und auf diese Weise entstellt. Die in 1,1 verwendeten Christustitel zeigen, von welchem Jesus Markus erzählen will: von dem einen Christus Jesus, welcher der uiJo;" qeou` ist. Die von Markus nur hier gebrauchte Namensform jIhsou`" Cristov" ist aus einem Nominalsatz her136

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vorgewachsen, der ein judenchristliches Bekenntnis impliziert: „Jesus ist der Messias (und niemand sonst)!“ 3.1.2 Der Titel Sohn Gottes ist im Evangelium zentral (vgl. 1,1; 9,7; 12,6; 14,61–62; 15,39). Er bezeichnet den messianischen Gottessohn, der auf Erden sein göttliches Werk ausrichtet, den Tod am Kreuz erleidet und drei Tage später von den Toten aufersteht. Das Prädikat Gottessohn gehört eng mit dem Menschensohn- und Messiastitel zusammen (s. o.). 3.1.2.1 Es wird zwar immer wieder bestritten, daß Markus eine Präexistenzchristologie vertritt, aber der Eingang seines Evangeliums belegt es in aller Deutlichkeit. Auf den Eingangssatz 1,1–2a (s. o.) folgt in 1,2b-3 ein aus mehreren Schriftzitaten bestehender Prologteil, in dem Gott seinem Sohn mit Worten aus Ex 23,20 und Mal 3,1 die Sendung des irdischen Vorboten ankündigt. Der Ort dieses Dialogs können nur die Himmel sein. Markus ändert das pro; proswvpou mou von Mal 3,1 in pro; proswvpou sou und zeigt damit an, daß Gott seinen Sohn als Repräsentanten seines Wesens und Willens auf die Erde sendet. Ihm soll Johannes als die in Jes 40,3 angekündigte ‚Stimme eines Rufers‘ in der Wüste vorangehen und dazu auffordern, dem Kuvrio" (d. h. Jesus, dem Sohn Gottes und designierten Herrn der Welt [vgl. 12,35–37]) den Weg zu bereiten. 1,2b-3 bezeugen also die Präexistenz und volle Gottessohnschaft Jesu (vgl. Bd. I3, 62 f.). Markus stellt Jesus mit der Bezeichnung Gottessohn als „das einzigartige Gegenüber des Vaters“ dar ( J. Gnilka, Theologie des NT, 1994, 159). Ph. Vielhauer hat vorgeschlagen, die Berichte von der Taufe (1,9–11), von der Verklärung (9,2–8) und vom Bekenntnis des römischen Centurio (15, 39) auf dem Hintergrund des von E. Norden rekonstruierten altägyptischen Inthronisationsrituals zu interpretieren (vgl. Vielhauers „Erwägungen zur Christologie des Markusevangeliums“): 1,11 soll die Adoption, 9,7 die Präsentation und 15,39 die Akklamation des Gottessohnes darstellen. Wie G. Friedrich von dem Ägyptologen H. Brunner erfahren hat (vgl. ZThK 80, 1983, 150), hat es aber das von Norden konstruierte Ritual historisch nie gegeben. Die drei Texte (zu denen noch 14,61–62 hinzuzunehmen ist) müssen also anders gedeutet werden, als es Vielhauer vorgeschwebt hat.

3.1.2.2 In 1,4 tritt Johannes der Täufer als irdische Verkörperung der Stimme von Jes 40,3 auf und kündigt den nach ihm kommenden ‚Stärkeren‘ an. Sein Auftreten in der Tracht des Elia (vgl. 2Kön 1,8) und die Tauftätigkeit am Jordan (vgl. mit 2Kön 2,8) machen schriftkundigen Lesern deutlich, daß aus der Taufe des Johannes das neue endzeitliche Gottesvolk hervorgeht (vgl. Mal 3,23 und Bd. I3, 62 f.). Die Taufe Jesu wird den Lesern in 1,9–11 als Begabung mit dem Geist (vgl. Jes 61,1–2) vor Augen gestellt. Außerdem werden sie Zeugen, daß Jesus durch die vom Himmel her ertönende Stimme (Gottes) als geliebter und erwählter Sohn (vgl. Jes 42,1; Ps 2,7) angeredet und auf diese Weise aufgefordert wird, sein messianisches Werk zu begin137

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nen. Als Sohn Gottes besteht er anschließend die ihm auferlegte Versuchung siegreich (vgl. 1,12–13 mit Jes 11,6–9). Nach der Inhaftierung des Täufers begibt er sich nach Galiläa und verkündigt dort „das Evangelium Gottes“ (d. h. die Botschaft vom Anbruch der Gottesherrschaft in seiner Person und seinem Werk) und ruft zur Umkehr sowie zum Glauben an dieses Evangelium auf (1,14–15); Jesus tritt in dieser Szene als der in Jes 52,7 angekündigte (messianische) Evangelist der basileiva auf den Plan. 3.1.2.3 Jesus hat sich nach Markus auch als Menschensohn (vgl. 2,10.28; 8,38; 9,9.12.31 usw.) bezeichnet. Der Menschensohn gehört nach Dan 7 nicht zu den vier aus dem Chaoswasser des Meeres auftauchenden Tieren (vgl. 7,2–8), sondern ist ein „auf den Wolken des Himmels“ vor den Hochbetagten gebrachter Herrscher mit menschlichem Antlitz (7,13). Er wird in den Bilderreden des äthHen mit dem Erwählten, d. h. dem Gottesknecht von Jes 42,1; 52,13, und dem in Jes 11,1–5 verheißenen Messias identifiziert; äthHen 48,3–6 spricht sogar von seiner Präexistenz. Der messianische Menschensohn der Henoch-Tradition ist kein bloßer Mensch mehr, sondern eine der himmlischen Welt zugehörige Herrscherfigur. Jesus hat diese Tradition auf sich selbst angewandt und mit dem Leidensgedanken verbunden (vgl. Bd. 12, 61–66.117–125). Markus hat diesen besonderen Sprachgebrauch aufgenommen (vgl. 8,31–33; 9,31–32; 10,32–34). 3.1.2.4 A. Weiser hat darauf hingewiesen, daß das antike Judentum keinen leidenden, sterbenden und auferstehenden Messias gekannt hat, und hinzugefügt: „Auch gilt der Messias nicht etwa als ein göttliches Wesen. Den einen Messias erwartet man aus dem Geschlecht Davids … Den anderen Messias erwartet man als Sohn Aarons“ (a.a.O., 67). Dies gilt in der Tat für Sach 4,1–14 und 1QS 9,10–11. Sobald aber Messias, Gottes- und Menschensohn miteinander identifiziert werden, wie sich dies schon in Jes 9,5; Ps 45,7 anbahnt und in äthHen 48 sowie der Jesusüberlieferung der Fall ist, gewinnt der Messias göttliche Statur. Nachdem nunmehr in 4Q246 auch die Messiasbezeichnung „Sohn des Höchsten“ bezeugt ist, ist auch nicht mehr nur mit Weiser davon auszugehen, daß Mk 14,61–62 „deutlich den Einfluß nachösterlich-urchristlicher Gestaltung (zeigt)“ (a.a.O.), sondern hinzuzufügen, daß die Darstellung des Evangelisten festen Anhalt an dem tatsächlichen Geschehen hat (vgl. Bd. I3, 115 ff.). 3.2 Der messianische Wundertäter Für Markus war Jesus nicht zuletzt messianischer Wundertäter. Deshalb bietet er in seinem kurzen Evangelium den Lesern 17 Heilungs- und Wundergeschichten (vgl. 1,23–28; 1,29–31; 1,40–45; 2,1–12; 3,1–6; 4,35–41; 5,1–20; 5,21–43; 6,30–44; 6,45–52; 7,24–30; 7,31–37; 8,1–9; 8,22–26; 9,14–29; 10,46–52; 11,12–14); zu ihnen kommen noch drei Summarien über 138

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Jesu Heilungstätigkeit hinzu (vgl. 1,32–34; 3,10–11; 6,53–56). Nach Markus zieht Jesus genauso durchs Land, wie es in Apg 10,38 beschrieben wird: Er heilte alle, die in der Gewalt des Teufels waren (vgl. Mk 1,32; 3,10; 6,53–56). Die Heilungen kommen allerdings nur solchen Menschen zugute, die Jesus vertrauen; wo er keinen Glauben findet, kann er auch nur wenige oder gar keine Wunder tun (vgl. 6,5). 3.2.1 Aus Weisers lesenswerter Analyse der markinischen Wunderberichte (a.a.O., 60–65) geht zweierlei hervor: (1) Die Berichte von Jesu Wundertaten folgen einem auch hellenistisch gebräuchlichen Aufbauschema, sind also (schon vor ihrer Einbettung in das Evangelium) oft und stereotyp erzählt worden. (2) In den Berichten von Jesu Rettungs- und Geschenkwundern (4,35–41; 6,32–44.45–52; 8,1–10) treten eine ganze Reihe von „alttestamentlichen Gestaltungsmotiven“ hervor. Nach Weiser stehen die Exorzismen und Heilungen in engem Zusammenhang mit Jesu authentischer Verkündigung der Gottesherrschaft. Die Berichte von seinen Epiphanien (d. h. von Jesu Taufe [1,9–11], Seewandel [6,45–52] und Verklärung [9,2–8]) sowie seinen Rettungs- und Geschenkwundern (d. h. der Sturmstillung [4,35–41] und den Speisungen der Fünf- und Viertausend [6,32–44; 8,1–9]) sind zwar auch vormarkinisch, aber erst „aus österlichem Glauben entstanden“ (a.a.O., 63). Nach unserer Erkenntnis, daß schon der irdische Jesus beansprucht hat, aus der Seins- und Wirkungsidentität mit seinem himmlischen Vater heraus zu handeln, sind an dieser schematischen Gedankenführung Zweifel anzumelden. Die alttestamentlichen Motive in den Berichten von Jesu Epiphanien und Geschenkwundern belegen keineswegs eine erst nachösterliche Entstehung dieser Texte. Sie zeigen vielmehr, daß die Jünger von Anfang an die Erfahrung gemacht haben, in und durch Jesus dem einen Gott gegenüberzutreten. Deshalb haben sie Jesu Wirken vor und nach Ostern so dargestellt, wie Motive aus den Heiligen Schriften ihnen dies vorgaben (vgl. z. B. 6,50, wo Jesus den Jüngern mit dem ejgwv eijmi Gottes von Ex 3,14; Jes 43,10 begegnet).

3.2.2 Die markinischen Wundergeschichten haben der Forschung erhebliche Probleme gemacht. Sie ist lange davon ausgegangen, daß Markus Jesus mit Hilfe dieser Geschichten als hellenistischen Gottmenschen (qei`o" ajnhvr) darstellen und seinen Lesern zeigen wollte, daß Jesus wirklich der Sohn Gottes gewesen ist. Die (angebliche) markinische qei`o" ajnhvr-Christologie ist dann wieder scharf kritisiert worden (vgl. z. B. S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, 1967, 46–59). In der Tat kannte und schätzte man in hellenistischer Zeit von göttlicher Kraft erfüllte Heroen, Wundertäter und Philosophen. Als Prototypen galten Herakles, der Philosoph Pythagoras (580–500 v. Chr.), sein Schüler Empedokles (um 450 v. Chr.), Menekrates von Syrakus und Apollonius von Tyana (1. Jh. n. Chr.). Man darf aber nicht übersehen, daß alle Berichte über das Wirken jener Männer erst im 2.–4. Jh. n.

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Chr., d. h. nach der Entstehung des NTs, abgefaßt worden sind. Außerdem hat P. Wülfing v. Martitz in ThWNT VIII, 337–340, darauf hingewiesen, daß der seinerzeit von L. Bieler (QEIOS ANHR – Das Bild vom göttlichen Menschen in Spätantike und Frühchristentum, Bd. 1, 1935; Bd. 2, 1936) geschilderte einheitliche Typos des göttlichen Menschen nur ein modernes Konstrukt ist. Die antiken Autoren kannten diesen Typos noch nicht, und sie haben ihre Schilderungen von Heroen und Wundertätern auch noch nicht fest mit dem Adjektiv qei`o" oder dem Prädikat uiJo;" qeou` verbunden. Unter diesen Umständen konnte es für Markus keinen Anlaß geben, die Vorstellung von dem qei`o" ajnhvr auf Jesus zu übertragen.

Die Gründe, Jesus als göttlichen Arzt und Wundertäter zu schildern, haben für Markus und die urchristlichen Tradenten nicht bei der Verehrung von qei`oi a[ndre", sondern bei der messianischen Erwartung gelegen, die sich für sie in Jesu Wirken zu erfüllen begann. Im (nachneutestamentlichen) TJes 53,8 heißt es: „… die Wunder, die uns in seinen [d. h. des Messias, P.St.] Tagen geschehen werden, wer kann sie erzählen!“ Was damit gemeint ist, läßt sich schön aus 4Q521 ersehen. Nach diesem Text werden in der messianischen Heilszeit Himmel und Erde nicht mehr von der Lehre des Messias weichen, und Gott wird Israel die Rettung und Wiederherstellung zuteilwerden lassen, von der in Ps 146,7–8; Jes 26,19; 35,1–6 und 61,1–2 die Rede ist. Petrus und die Apostel haben diese Erwartung in Jesu Nähe bereits zeichenhaft erfüllt gesehen: Sie haben Jesus als messianischen Evangelisten der Armen erlebt (vgl. Lk 7,18–23/Mt 11,2–6 mit Jes 61,1–2), und er hat vor ihren Augen tatsächlich Blinde (vgl. Mk 8,22–26; 10,46–52), Lahme (vgl. Mk 2,1–12), Aussätzige (vgl. Mk 1,40–45) und Taube (vgl. Mk 7,31–37) geheilt, Tote auferweckt (vgl. Mk 5,21–43) und den Sündern die göttliche Vergebung in der Form von Tischgemeinschaften zugeignet (vgl. Mk 2,15–17 usw.).

Mißt man das von Markus dargestellte Wirken Jesu an 4Q521 (und TJes 53,8), erscheint er nicht als göttlicher Mensch, sondern als der in göttlicher Vollmacht handelnde messianische Gottessohn. Diese einzigartige Vollmacht wird in 2,1–12 klar herausgestellt: Jesus handelt an dem Gelähmten in Kapernaum genauso, wie es in Ps 103,3 von Gott gesagt wird: „Er vergibt dir all deine Schuld, alle Gebrechen will er dir heilen.“ Nach Darstellung der markinischen Wundergeschichten ist Jesus der messianische Gottessohn, der dem Teufel die Herrschaft über die Kranken streitig macht und den Elementen schöpferisch gebietet. Markus hat in seinen Berichten einen Wesenszug des Wirkens Jesu festgehalten: Er hat das Evangelium von der Herrschaft Gottes nicht nur mit Worten, sondern auch in Taten verkündigt. Eben dies stellt Markus heraus. 3.3 Der Weg des Gottessohnes Der Weg Jesu auf Erden ist nach der gerafften Darstellung des Markus in in drei Etappen verlaufen (vgl. Apg 10,36–43): Jesus hat zunächst in Galiläa 140

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und darüber hinaus gewirkt (vgl. 1,16–8,26); er ist dann den Weg nach Jerusalem gegangen (8,27–10,52); in Jerusalem hat er bewußt die letzte Entscheidung gesucht, den Kreuzestod auf sich genommen und drei Tage später die Auferstehung erfahren (11,1–16,8). 3.3.1 Im ersten Teil des Evangeliums (1,16–8,26) erfährt der Leser, daß Jesus nach seiner Taufe und der siegreich bestandenen Versuchung nach Galiläa gegangen ist und dort begonnen hat, seinen messianischen Weg zu gehen: Er hat das Evangelium von Gottes Herrschaft verkündigt und zwölf Jünger berufen, von denen die drei Erstberufenen, Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes, durch das ganze Evangelium hindurch eine besondere Rolle spielen. Jesus entfaltet seine Botschaft vor allem in Gleichnissen, Exorzismen und Heilungen. Die Heilungen sind Ausweis der göttlichen Vollmacht Jesu. Diese Vollmacht machen auch jene Geschenkwunder und Epiphanien deutlich, in denen Jesu Werk mit Motiven aus dem Alten Testament geschildert wird: Er konnte in der Kraft Gottes Wind und Wellen gebieten (vgl. 4,41 mit Ps 77,17–20; 104,6–7), er ist wie Gott selbst über die Wasser geschritten (vgl. 6,49–50 mit Hiob 9,8), und er hatte die Macht, das Gottesvolk mit Himmelsbrot zu speisen (vgl. 6,32–44; 8,1–9 mit Ps 104,27–28; Ex 16). 3.3.2 Die Szene vom Petrusbekenntnis bei Cäsarea-Philippi ist die narrative Wasserscheide des Evangeliums. Mit ihr beginnt der zweite Teil des Evangeliums (8,27–10,52). In diesem Mittelteil seiner Christusgeschichte leitet Markus die Leser an, in Jesus den Christus zu sehen, der die Rettung von Juden und Heiden durch sein stellvertretendes Leiden heraufführen wollte. Am Beispiel des Petrus wird vor Augen geführt, wie schwer diese Einsicht selbst den engsten Begleitern Jesu gefallen ist: Einerseits ist es Petrus, der stellvertretend für alle anderen Jünger in Jesus den Messias erkannt und bekannt hat: „Du bist der Gesalbte!“ Andererseits hat sich Petrus scharf gegen Jesu Ankündigung aufgelehnt, er werde leiden und sterben müssen, und daraufhin eine Zurechtweisung erfahren, deren Schärfe kaum zu überbieten ist: „Weiche hinter mich, Satan, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was Menschen wollen!“ (8,27–33). Die Szene macht die Treue der Überlieferung deutlich, der Markus folgt: Sie hat sogar die Schwächen der Apostel ohne Retuschen festgehalten (vgl. auch 14,30–31.66–72). Jesu Leidensbereitschaft wird den Lesern noch durch zwei weitere Leidensweissagungen bewußt gemacht, die sie immer detaillierter auf die Passionsereignisse vorbereiten (vgl. 9,31–32; 10,32–34); man nennt die Texte deshalb mit Recht auch Passionssummarien. Sie werden in 10,45 durch das (authentische) Jesuswort bekräftigt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für die Vielen“ (vgl. Bd. I3, 120 ff.). 141

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3.3.3 Ein den Passionssummarien komplementär gegenüberstehender Zentraltext ist die Verklärungsgeschichte (9,2–10). Jesus wird hier in Anwesenheit der himmlischen Zeugen Mose und Elia ein zweites Mal von der Stimme Gottes als Gottessohn ausgerufen, und zwar vor Petrus, Jakobus und Johannes. Sie werden gemahnt, auf diesen Gottesohn zu hören: ajkouvete aujtou` (9,7). Dieser Befehl spielt auf Dt 18,15 an, d. h. die für das antike Judentum und Urchristentum gleich bedeutsame Prophetie des Mose: „Einen Propheten wie mich wird dir Jahwe, dein Gott, aus der Mitte deiner Brüder erstehen lassen, auf den sollt ihr hören!“ (vgl. Apg 3,22; 7,37). Jesus wird durch die Gottesstimme den Aposteln (und Lesern) als Gottes geliebter Sohn und Nachfolger des Mose vorgestellt. Sobald man das sieht, erklären sich die zahlreichen typologischen Bezüge der Erzählung zur Mosetradition ohne Schwierigkeiten (vgl. zum Folgenden H. Gese, Zur biblischen Theologie, 19893, 80 f.): Wie Mose nach Ex 24,1.16–18 nur Aaron, Nadab und Abihu (sowie 70 Älteste) auf den Sinai mitgenommen hat und erst am siebenten Tag in den Lichtbereich Gottes eingetreten ist, nimmt Jesus nach sechs Tagen nur Petrus, Jakobus und Johannes mit auf den „hohen Berg“ (den Hermon?). Wie nach Ex 34,29–35 Mose auf dem Berg in himmlische Lichtherrlichkeit verwandelt wurde, geschieht es nun auch mit Jesus. Ihm und seinen Jüngern erscheinen die beiden Hauptzeugen der Alten Bundes-Setzung, Mose und Elia, von denen es kein Grab auf Erden gibt, weil sie in die himmlische Welt entrückt worden sind (vgl. Dt 34,5–6 und 2Kön 2,11–12). Sie treten als Repräsentanten des Gesetzes und der Propheten mit Jesus in einen Dialog ein, dessen Bedeutung durch die aus der Wolke der Gottespräsenz (die sich in Analogie zu Ex 24,15–18 auch in unserem Text über die Szene senkt) ertönende Stimme unterstrichen wird: „Dies ist mein geliebter Sohn, höret auf ihn!“ (vgl. Dt 18,15). Jesus ist die Vollendung der Offenbarung Gottes. Die drei Zelte, die Petrus für Elia, Mose und Jesus errichten will, sind (wie ursprünglich auch die Laubhütten [t/Ksu] ) Zufluchtsstätten. In ihnen sollen Menschen sich bergen können und die Möglichkeit gewinnen, mit Jesus, Mose und Elia in dauernden Kontakt zu treten. Unverständig (vgl. 9,6) ist das Vorhaben des Petrus nur in dem Maße, als er diese Zelte vor der Passion aufbauen und dem Leiden Jesu damit noch einmal zuvorkommen will. V.8–10 sind als erneute Absage Jesu an dieses Ansinnen zu lesen.

Die Geschichte von der Verklärung Jesu weist zwar auf Ostern voraus (vgl. Mk 9,9 mit Joh 14,26), hat aber ihren geschichtlichen Ort vor der Passion und geht auf den Umstand zurück, daß Petrus (und andere Jünger) in Jesus schon vor Ostern den Sohn Gottes erkannt hat (haben). Für die Leser des Evangeliums ist der Offenbarungsgehalt des Textes kaum zu überbieten, zumal sie nun von Jesu Verklärung reden dürfen und sollen. 3.3.4 Der dritte Teil des Evangeliums (11,1–16,8) bietet den einprägsamsten Teil der Christusgeschichte, die Markus erzählt hat. Jesus lehrt nicht mehr nur in Gleichnissen, sondern auch in pointierten Streitgesprächen und gibt ausführliche Auskunft über die Endzeit. Er hält auch nicht mehr mit seinem messianischen Anspruch hinter dem Berg. Vielmehr reitet er vom Ölberg 142

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aus auf dem alten Königsweg, auf dem einst Salomo von der Gihonquelle durch die Davidsstadt zum südlichen Tempelvorplatz geführt worden ist, in Jerusalem ein (vgl. 1Kön 1,38–40). Er benutzt dabei das alte königliche Reittier, den Esel (vgl. Sach 9,9–10), und wird mit dem messianischen Königsruf begrüßt: „Hosanna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Gelobt sei das Königreich unseres Vaters David, das (nunmehr) kommt! Hosanna in der Höhe!“ (11,9–10). Anschließend begibt sich Jesus in den Tempel. Am nächsten Tag vollzieht er in Erfüllung seines messianischen Auftrags (vgl. 2Sam 7,12–16; 1Chr 17,11–14; Sach 4,8–10a; 6,9–15; 14,20–21; TJes 53,5) die sog. Tempelreinigung (vgl. 11,15–17 und dazu Bd. 12, 83 f.150 ff.). Er weiht sich mit dieser Aktion dem Sühnetod für Israel und provoziert die Hochpriesterschaft so sehr, daß sie seinen Tod betreibt. Im Gleichnis von den bösen Winzern (12,1–11) gibt er sich für jeden, der hören kann und will, als der Sohn (Gottes) zu erkennen, führt (Streit-)Gespräche mit Freund und Feind und belehrt seine Jünger über die bevorstehenden Ereignisse der Endzeit. Im Verlauf des Abschiedspassa mit den zwölf Jüngern gibt er seinen Tischgenossen im voraus Anteil an der heilbringenden Frucht seines Sterbens (vgl. 14,22–24 mit Ex 24,8 und Jes 53,10–12), bezieht beim anschließenden Gang zum Ölberg Sach 13,7 auf sich selbst und nimmt in der Wegentscheidung in Gethsemane (F. Neugebauer) das Leiden, das Gott über ihn verhängt hat, ohne Flucht oder Gegenwehr auf sich. Vor dem Synhedrium bekennt er, der messianische Gottessohn zu sein, und kündigt seinen Richtern an, ihnen in Bälde als der zur Rechten Gottes erhöhte Menschensohn-Weltenrichter erscheinen zu wollen (14,61–62). Auf diese in den Augen seiner Gegner gotteslästerliche Äußerung hin wird er des Todes schuldig befunden, am nächsten Morgen bei Pilatus als messianischer Aufwiegler angezeigt und von diesem nach kurzem Verfahren zum Kreuzestod verurteilt. Die auf der Grundlage von Ps 22 und 69 gestaltete Geschichte von Jesu Passion deutet seinen Tod als das stellvertretende Sterben des messianischen Gerechten, durch dessen Geschick Gott seine Herrschaft aufrichten und die Bekehrung auch der Heidenvölker herbeiführen will (vgl. Ps 22,29–30). Das Zerreißen des Vorhangs vor dem Allerheiligsten nach Jesu Sterben weist die Leser darauf hin, daß die durch Jesu Tod ein für allemal erwirkte Sühne den Tempel als Ort der Sühne obsolet gemacht hat. In dem 15,39 folgenden Bekenntnis des römischen Hauptmanns: „Wahrhaftig, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!“ darf und soll sich die (vorwiegend heidenchristliche) Lesergemeinde des Markus wiederfinden. 3.3.5 Das Evangelium schließt mit dem Bericht von der Auffindung des leeren Grabes Jesu am Ostermorgen (16,1–8). Wenn man sich mit K. Aland von der ältesten Textüberlieferung leiten läßt, ist diesem Abschlußtext kein kurzer oder langer Bericht über Jesu Erscheinungen mehr hinzuzufügen. 16,1–8 sind durch Lokalität, die schon in 15,40–41 erwähnten Frauen und 143

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den Rückverweis in 16,7 auf 14,28 fest mit dem Passionsbericht verbunden. Die Verse sollen belegen, daß Tod und Grab über Jesus keine dauernde Macht behalten haben. Vielmehr ist er am dritten Tage leiblich von den Toten auferstanden, wie er dies angekündigt hat (vgl. 8,31; 9,9.31; 10,34). Das Unerhörte dieses Vorgangs wird dadurch unterstrichen, daß nicht Menschen die Auferstehung verkünden, sondern ein Engel (vgl. 16,6). Die Engelsbotschaft ist nicht zufällig mit dem Hinweis verbunden: „… Siehe die Stätte, wo sie ihn hingelegt hatten.“ Der Hinweis auf das leere Grab besagt im judenchristlichen Überlieferungshorizont, daß Jesus etwas entscheidend anderes ist als ein jüdischer Märtyrer. Von den Märtyrern nahm man an, daß ihre Gebeine unverweslich im Grabe ruhten, während ihre yucaiv (oder auch pneuvmata) bereits in der himmlischen Welt weilten, um dort Fürbitte für Israel zu leisten (vgl. Apk 6,9–11 und J. Jeremias, Heiligengräber in Jesu Umwelt, 1958, 126 ff.). Mit Jesus stand es anders. Er war der von Gott leiblich auferweckte Sohn Gottes, und seine Auferstehung war der verheißungsvolle Anfangsakt der endzeitlichen Auferweckung aller Toten (vgl. Röm 1,3–4 mit Apk 1,5 (3,14); 1Kor 15,20; Kol 1,18 und Ps 89,28). 16,7 nimmt die Ankündigung von 14,28 auf und nennt Petrus ausdrücklich als den Anführer der Jünger, die Jesus in Galiläa schauen sollen. Damit wird den Lesern signalisiert, daß das Evangelium von dem Christus Jesus, dem sie ihren Glauben verdanken, nicht nur auf die (bedeutsame!) Entdeckung des leeren Grabes durch die Frauen zurückgeht, die ihre wunderbare Erfahrung zunächst in Furcht und Zittern verschwiegen haben (vgl. 16,8 mit 1Sam 3,15–17; LibAnt 53,12; Dan 7,28LXX), sondern auf die (Erst-)Erscheinung des Christus vor Petrus (und dem Zwölferkreis) in Galiläa (vgl. Mt 28,16–20, s. u.).

Auch am Ende seines Evangeliums erlaubt der Evangelist keinen direkten Blick auf den auferstandenen Christus; erst am Tage seiner Parusie vom Himmel her wird man ihn schauen dürfen (vgl. 13,26–27; 14,62). Bis dahin können (und sollen) die Leser des Evangeliums auf die Frage, wer der auferstandene Christus sei, antworten: Er ist der Gottessohn, der er von Urzeit her war, als der er auf Erden gewirkt hat und von Gott auferweckt worden ist. Diese Auskunft entspricht ganz der Absicht des Evangelisten, das Missionsevangelium an Botschaft und Geschichte Jesu zurückzubinden und seine Leserschaft einzuladen, ihre Orientierung in der Anamnese zu suchen (s. o.). 3.4 Das Messiasgeheimnis Markus verschweigt seinen Lesern nirgends, daß Jesus der Gottessohn ist, der in der Seins- und Handlungseinheit mit seinem himmlischen Vater steht und wirkt. Trotzdem sind Jesu Weg und Werk nach seiner Darstellung vor Ostern vom Schleier eines Geheimnisses umgeben gewesen, das erst von Ostern her gelüftet werden kann und darf (vgl. 9,9). Seit dem Erscheinen von W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (1901), 19633, spricht man von der das Markusevangelium bestimmenden Theorie des Messiasgeheimnisses. 144

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Wie jeder Leser des Evangeliums stand Wrede vor dem folgenden komplexen Befund: (1) Derselbe Jesus, der gerade nach Markus die erstaunlichsten Exorzismen und Wunder wirkt, will diese Wundertaten möglichst geheimhalten: Er gebietet den Dämonen, die in ihm ‚den Heiligen Gottes‘ erkennen, Schweigen (vgl. 1,24.34; 3,12); mit diesem Befehl hat er Erfolg. Er hat aber keinen Erfolg, wenn er versucht, seine Heilungswunder auch vor Menschen geheimzuhalten: Es macht zwar noch gewissen historischen Sinn, wenn Jesus dem Aussätzigen in 1,44 gebietet, niemandem von der Heilung zu berichten, ehe er sich nicht dem Priester vorgestellt und die in Lev 14 vorgeschriebenen Reinigungsopfer dargebracht hat. Aber es macht keinen historischen Sinn mehr, wenn Jesus die Auferweckung der Jairustochter (vgl. 5,43) und die Heilung des Taubstummen (vgl. 7,36) geheimzuhalten versucht und in 8,26 dem geheilten Blinden von Bethsaida verbietet, wieder in den Ort hineinzugehen. – (2) Jesus gebietet nach Markus auch den Jüngern Schweigen. Nach 8,30 sollen sie die Erkenntnis, daß er der Messias sei, nicht vorzeitig bekanntmachen, und nach 9,9 sollen sie von der Verklärung erst nach Ostern öffentlich reden. Die Jünger halten sich zwar an diese Anweisungen. Sie bleiben aber trotz aller besonderen Belehrung die ganze irdische Wirkenszeit Jesu hindurch unverständig und unsicher (vgl. 4,13; 4,40; 6,52; 7,18; 8,32; 9,32; 10,32). Jesus wird durch Judas an die Hochpriester verraten, und bei der Verhaftung in Gethsemane „verließen ihn alle und flohen“ (14,50). Sogar Petrus fehlt die Kraft, sich im Hof des hochpriesterlichen Palastes zu Jesus zu bekennen (14,66–72). Es ist unwahrscheinlich, daß all diese Berichte vom Unverständnis und Versagen der Jünger erst nachösterliche Bildungen sind. Gleichwohl läßt die Konsequenz der markinischen Darstellung erkennen, daß der Evangelist mit seinem Jüngerporträt ein spezielles Interesse verfolgt. – (3) Die Leser des Evangeliums werden Zeugen, wie Jesus nach seiner öffentlichen Rede in Gleichnissen in 4,10–12 nur den Jüngern unter Verweis auf Jes 6,9–10 erklärt: „(11) Euch ist das Geheimnis der Herrschaft Gottes anvertraut; denen aber, die draußen sind, geschieht alles in Gleichnissen, (12) damit (erfüllt werde, vgl. 9,12) ‚sehend sehen sie und sehen doch nicht ein, und hörend hören sie und verstehen doch nicht; würden sie umkehren, würde ihnen vergeben werden.‘“ (oder: auf daß sie nicht umkehren und ihnen vergeben werde [vgl. zur Übersetzung des mhvpote Bauer-Aland, Wb6, 1051 f., und zum Text insgesamt R. Guelich, Mark 1–8,26, 198–215]). Nach dieser ‚Parabeltheorie‘ erfüllt sich in Jesu Gleichnisrede Jes 6,9–10, d. h. es vollzieht sich eine Scheidung zwischen denen, die verstehen und umkehren, und anderen, die nicht verstehen und keine Umkehr vollziehen. Wie ernst dies gemeint ist, kann man an der Verwendung von Jes 6,9–10 in (Röm 11,8 und) Apg 28,26–27 sehen. Auch diese Sicht erstaunt, weil die Gleichnisforschung seit A. Jülichers richtungsweisendem Werk über „Die Gleichnisreden Jesu“ (2Bde., 19102) davon ausgeht, daß die Gleichnisse der verständlichste Teil der Verkündigung Jesu sind.

3.4.1 Wrede hat es für unmöglich gehalten, die skizzierten Befunde historisch zu erklären, und deshalb von einer Geheimnistheorie gesprochen. Nach seiner Sicht ist schon in der Markus vorliegenden Tradition der Versuch gemacht worden, den erst von Ostern an datierenden Glauben an Jesus als Messias und Gottessohn mit dem alten Wissen auszugleichen, daß der irdische Jesus noch keinen messianischen Anspruch erhoben habe. Der Schlüsseltext zum Verständnis der Theorie liegt nach Wrede bei 9,9–10 (s. o.). 145

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Wredes Sicht wird bis zur Stunde kritisch diskutiert. R. Bultmann hat in der markinischen Geheimnistheorie ebenfalls „eine Verschleierung der Tatsache“ gesehen, „daß der Glaube an Jesu Messianität erst seit dem Glauben an seine Auferstehung datiert“ (Geschichte der Synoptischen Tradition3, 371). M. Dibelius begründet dagegen in seiner Formgeschichte (19716, 231 f.) die Theorie vom Messiasgeheimnis mit den Problemen, die Markus mit der „Gruppierung des Stoffes“ hatte: Der Evangelist habe „ein Buch der geheimen Epiphanien“ geschrieben, weil er nur auf diese Weise plausibel machen konnte, daß Jesus zwar der Gottessohn war, aber trotzdem als Gotteslästerer verkannt werden konnte, der den Tod am Kreuz verdient habe. In Weiterführung dieser Auffassung hat H. Conzelmann gemeint, Markus habe die ihm vorgegebenen disparaten Stoffe nur im Zeichen des (erst durch die Osteroffenbarung entschlüsselten) Geheimnisses kombinieren können: „Die Geheimnistheorie ist die hermeneutische Voraussetzung der Gattung ‚Evangelium‘“ (Gegenwart u. Zukunft, 60). H. Räisänen hat freilich Wrede, Bultmann, Dibelius und Conzelmann vorgeworfen, die Absicht des Markus viel zu rasch zu stilisieren, und in seiner Monographie über „Das ‚Messiasgeheimnis‘ im Markusevangelium“ (1976) geraten, die Belege traditionsgeschichtlich differenzierter zu betrachten: Da Markus die verschiedenen Aussagen über das Jüngerunverständnis, die sog. Parabeltheorie und die Geheimhaltungsanweisungen bei den Heilungswundern schon vorgefunden habe, könne von einem Messiasgeheimnis im präzisen Sinn des Wortes nur bei den Schweigegeboten gegenüber den Dämonen in 1,34; 3,11–12 und bei den Anweisungen an die Jünger in 8,30 und 9,9 die Rede sein. Da aber auch diese Belege z. T. auf die Markus vorliegende Tradition zurückgingen, sei es kaum möglich, aus dem Material eine theologische Gesamtkonzeption des Evangelisten zu erschließen. Auch nach R. Pesch „(hat) Markus keine Geheimnistheorie konstruiert, sondern allein in seinen Traditionen vorgefundene Motive ausgebaut“ (Das Markusevangelium, Bd. 2, 1977, 37). Mit diesem Forschungsstand vor Augen ist M. Hengel wieder zum Ausgangspunkt der ganzen Debatte zurückgekehrt und hat das Messiasgeheimnis auf die geheimnisvolle messianische Autorität Jesu zurückgeführt (Studies in the Gospel of Mark, 41–45).

3.4.2 In der Tat scheint die entscheidendeWurzel der markinischen Geheimnistheorie bei Jesus selbst zu liegen. Sein Wirken war tatsächlich von einem Schleier des Geheimnisses umgeben: Von Galiläa bis nach Jerusalem ist unter Jesu Freunden und Gegnern darüber gestritten worden, als wen man Jesus ansehen solle. Auch seine Gleichnisse sind keineswegs evident formuliert. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, daß sich die Hörer auf Jesu Lehre in Gleichnissen einlassen und das Rollenspiel mitspielen, das er ihnen dabei zumutet. Gegen Ende seines Wirkens hat Jesus zwar im Jüngerkreis und vor dem jüdischen Gerichtshof offen von seiner messianischen Sendung gesprochen, ist aber eben deshalb der Gotteslästerung bezichtigt und ans Kreuz geschlagen worden. Das entsetzliche Rätsel dieses Endes hat die Frage, wer Jesus wirklich war, vor Ostern unbeantwortbar erscheinen lassen. Erst die Ostererscheinungen haben die Jünger das göttliche Sein und die überirdische Würde Jesu begreifen lassen. Trotz dieser Vorgaben dürfte hinter der Markusdarstellung auch literarische Absicht stecken. Der Evangelist hat das ihm bereits überlieferte Geheimnismotiv besonders ausgearbei146

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tet und auch dort zum Zuge gebracht, wo es den Begebenheiten widerspricht (vgl. 5,43; 7,36 [s. o.]); in 6,52 hat er es hinzugefügt und sogar in die von ihm selbst gestalteten Summarien aufgenommen (vgl. 1,45; 3,12; 4,33–34). Nach 9,9–10 soll von Jesu göttlicher Würde und Offenbarungsmittlerschaft erst nach seiner Passion und Auferstehung geredet werden. Der Evangelist hat offenbar dafür sorgen wollen, daß Jesu Auferstehung und seine messianischen Heilstaten mit der Leidensbereitschaft und dem in äußerster (Gott-) Verlassenheit erlittenen Kreuzestod des Gottessohnes zusammengesehen werden. Erst dieser Zusammenhang macht das Evangelium aus, dessen die Leser-Gemeinde gedenken soll. Die markinische Weise, vom Messiasgeheimnis zu sprechen, hat kreuzestheologische und anamnetische Struktur. Analogien zum markinischen Messiasgeheimnis finden wir vor allem bei Paulus und im Johannesevangelium. Nach Paulus gewinnen am Evangelium nur diejenigen Anteil, die das durchaus mißdeutbare Apostelwort kraft der Gabe des Heiligen Geistes auf seinen Offenbarungsgehalt hin durchdringen, im Dienst der Gerechtigkeit stehen und keinen Anstoß daran nehmen, daß die Zeugen Christi auf Erden schlimme Leiden erdulden müssen (vgl. 1Thess 2,13; 1Kor 1,18–25; Röm 8,35–39). – Nach Johannes führt erst der der verfolgten Gemeinde nach Jesu Tod zuteil werdende Heilige Geist, der sog. paravklhto", in die volle Wahrheit ein, die Jesus war und ist. Er erinnert an Jesus, macht die Rätselworte (paroimivai) verständlich, in denen er sich vor Ostern zuweilen geäußert hat, und hilft, die Heilige Schrift auf Jesu Sein und Wirken zu beziehen (vgl. Joh 2,17.22; 10,6; 14,25 f.; 16,12 ff.25 ff.).

4. Jüngerschaft und Gemeinde nach Markus Die Bedeutung der Christusgeschichte, die Markus geschaffen hat, ist kaum zu überschätzen. Markus nötigt seine Leser-Gemeinde, ihre eigene Zeugnisexistenz mit der Geschichte des Sohnes Gottes zusammenzudenken. Dabei muß man aber berücksichtigen, daß der Evangelist für Menschen geschrieben hat, die vom Taufunterricht her bereits die Grundzüge der christlichen Glaubenslehre und auch die Heiligen Schriften kannten. Unter diesen Umständen braucht man aus dem Markusevangelium keinen Katechismus zu erheben, sondern kann sich auf das konzentrieren, was der Evangelist über Leben und Weg der Jünger-Gemeinde schreibt. 4.1 Markus weist nachdrücklich darauf hin, daß Zeit und Situation der Leser-Gemeinde von der Wirkenszeit Jesu zu unterscheiden sind. Während die Jünger im Beisein Jesu eine messianische Hoch-Zeit durchleben durften, sind nunmehr die Tage angebrochen, an denen sie fasten (2,20) und auf Verfolgungen (diwgmoiv) gefaßt sein müssen (vgl. 4,17; 10,30). Wenn die Missionare jetzt öffentlich von Jesus reden, müssen sie gewärtig sein, um ihrer 147

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Botschaft willen vor jüdische und heidnische Gerichte geschleppt oder gar zu Tode gebracht zu werden (vgl. 13,9–13). Zeit und Ort der markinischen Leserschaft lassen sich aus Kap. 13 gut erkennen: Die messianischen Wehen sind angebrochen, Jerusalem ist dem Untergang nahe (vgl. auch 12,9), und Falschpropheten sowie Irrlehrer sind am Werke. Aber die Verkündigung des Evangeliums für alle Heidenvölker ist noch im Gange (vgl. 13,10), und die (von Markus nach 9,1 in Bälde erwartete!) Stunde der Parusie des Menschensohnes noch nicht gekommen (vgl. 13,32). Für die Leser-Gemeinde sind Standhaftigkeit und Wachsamkeit angesagt (13,13.33–37). Sie darf sich aber inmitten der noch andauernden Heimsuchung (qli`yi") daran halten, daß zwar Himmel und Erde vergehen, Jesu Worte aber ewig bleiben werden (13,31). 4.2 Nach Markus können und sollen sich die Leser seines Evangeliums in den maqhtaiv Jesu anamnetisch wiederfinden. Dieser Umstand erklärt das erstaunlich ungeschminkte Bild, das der Evangelist vom Unverstand und Versagen der Jünger gemalt hat (s. o.). Dieses Bild hat der Leser-Gemeinde ein hohes Maß von Glaubensreife abverlangt. Markus hat sie angeleitet, sogar in Petrus nicht nur den Begründer und Hirten der Gemeinde zu sehen, sondern auch den exemplarisch schwachen Menschen, der unfähig war, Jesus wirklich zu verstehen, und zu schwach, seinem Herrn in der Not die Treue zu halten. In Judas haben die Leser sogar das Beispiel eines Jesusjüngers vor Augen, der durch seinen Verrat seine Erwählung aufs Spiel gesetzt hat (vgl. 3,19; 14,10.43). In beiden Fällen sollen sich die Leser am Beispiel der Apostel prüfen. Um der Leser willen werden die Jünger von Jesus auch darüber belehrt, wie sie es fortan mit der Ehe, mit den Kindern, mit Reichtum und Nächstenschaft halten sollen (vgl. 10,2–12.13–16.17–27.35– 45). Durch die Jünger war für Markus selbst die Kontinuität von Jesuszeit und Zeit der Gemeinde gegeben. Er hat sein Evangelium auch deshalb verfaßt, um diese Kontinuität über das Petrusmartyrium hinaus zu gewährleisten. 4.3 Der Leser-Gemeinde wird von Markus die Aufgabe zugewiesen, in der nachösterlichen Welt die wahre Familie Jesu zu sein, die sich aus Menschen zusammensetzt, die den Willen Gottes so tun, wie Jesus es sie gelehrt hat (vgl. 3,33–35). Diese Sicht weist auf die Pastoralbriefe voraus. Die Christen leben in Häusern zusammen, führen ein geschwisterliches (bäuerliches) Leben (vgl. 10,30), stehen aber der unbekehrten Welt in Distanz gegenüber. Die Glieder der Leser-Gemeinde zahlen zwar dem Kaiser die übliche Kopfsteuer (vgl. 12,13–17), folgen aber den von den Regierenden vorgelebten Herrschaftsregeln nicht. Vielmehr sollen die Ersten in der Gemeinde nach Jesu Vorbild Diener aller sein (vgl. 10,41–45), und die Gemeinde insgesamt soll dem Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe folgen (vgl. 12,28–34). 148

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4.4 In 13,13 sagt Jesus den Jüngern und in ihnen der Leser-Gemeinde voraus: „… ihr werdet um meines Namens willen von allen gehaßt werden; wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet“. Standhaft bleiben heißt, das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und Gottessohn durchhalten. In dieser Standhaftigkeit bewährt sich der Glaube, von dem Markus sehr anschaulich redet. Nach der markinischen Darstellung ist pivsti" zunächst Glaube an das von Jesus verkündigte Evangelium. Als solche impliziert sie die Umkehr (vom gottlosen Leben) zu dem einen lebendigen Gott, der in Jesus in Erscheinung tritt (vgl. 1,15). Der Glaube ist aber auch lebendiges Vertrauen zu Jesus in Notsituationen (vgl. 4,40); zu solcher Not rechnet Markus auch Krankheiten, in denen Menschen sich von Jesus Heilung und Hilfe erhoffen (vgl. 2,5; 5,34.36; 10,52). Das kühnste Wort über den Glauben findet sich in 9,23: „Alles ist möglich für den, der glaubt!“ Mit diesem Wort wird Jesus nicht – wie J. Gnilka, a.a.O., 170, meint – „als Glaubender und damit als – freilich letztlich nie zu erreichendes – Vorbild vorgestellt“, denn bei Markus wird das besondere Gottesverhältnis Jesu nirgends mit pisteuvein oder pivsti" bezeichnet. Vielmehr geht es um den Ansporn zum Glauben an den Gott, der alle Dinge vermag (vgl. 14,36) und als solcher all denen beisteht, die ihn ernsthaft um Hilfe bitten (vgl. 9,29; 11,22–24). Für die nachösterliche Leserschaft des Evangeliums fließen der Glaube an Gott und die pivsti" eij" ∆Ihsou`n Cristovn, von der Markus nur indirekt spricht, zusammen. Die Leser-Gemeinde darf sich nach Markus auf dem Weg, den sie durch die messianischen Wehen hindurch auf ihren kommenden Herrn zugeht, der Vergebung getrösten. Denn Jesus ist als Lösegeld für die Vielen in den Tod gegangen, zu denen auch sie gehört (vgl. 10,45), und sie darf immer wieder das Herrenmahl mit dem (Tisch-)Herrn feiern, der für sie in den Tod gegangen ist und ihr an der himmlischen Tafel Platz geschaffen hat (vgl. 14,22–25). In dem gekreuzigten und erhöhten Gottessohn ist den Lesern die Vergebung der Sünden und die Errettung im Endgericht verbürgt. Nach 3,28–30 gehen sie ihr nur dann und in dem Maße verlustig, als sie sich von dem Heiligen Geist lossagen, in dessen Kraft Jesus während seiner Erdentage gewirkt hat (vgl. 1,10.27) und der auch nach Ostern in seinen Sendboten (vgl. 13,11) und der Gemeinde wirksam ist (vgl. Apk 2,7; 3,6; 22,17). 5. Rückblick Das von Markus in seinem Evangelium gezeichnete Jesusbild verdankt sich der erst von Ostern her möglichen Einsicht, daß Jesus tatsächlich der von Gott in die Welt gesandte messianische Gottessohn war, ist und bleibt. In dieser nachösterlichen Gestalt hat die Darstellung des Evangelisten aber festen Anhalt an dem Christus Jesus, der Petrus und den Kreis der Zwölf zu 149

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seinen Begleitern erwählt hat, und ist historisch viel verläßlicher, als vielfach angenommen wird. 5.1 Der Umstand, daß Markus vor allem die petrinische Lehrtradition festgehalten hat, erklärt nicht nur, daß Matthäus und Lukas die Markusüberlieferung weitgehend übernommen haben, sondern auch die Tatsache, daß das Markusevangelium neben den beiden Großevangelien erhalten geblieben ist. Das Evangelium nach Markus hat für die biblische Theologie erhebliches Gewicht. 5.2 Der Evangelist hat die Großgattung ‚Evangelium‘ geschaffen und damit die werdende Kirche in die glückliche Lage versetzt, die nach dem Martyrium der großen Apostel gleichsam heimatlos gewordene apostolische Jesustradition in einer Form zu tradieren und zu verbreiten, die nachträgliche gravierende Entstellungen der Lehre Jesu auf ein Minimum begrenzte. 5.3 Markus hat ein Modell geschaffen, wie die Jesustradition mit dem Kerygma von Tod und Auferweckung Jesu zusammenzudenken ist, das nach 1Kor 15,1–11 den Kern aller apostolischen Verkündigung ausmacht. Er hat damit dem kirchlichen Unterricht eine sichere Grundlage gegeben und den Missionaren einen Weg gewiesen, wie sie das von ihnen in der ganzen Welt zu verkündigende Evangelium (vgl. 13,10) von konkurrierenden Heilsbotschaften unterscheiden können. 5.4 Das Christusbild des Evangelisten, die kreuzestheologischen Akzente, die er setzt, sein Bild von der Gemeinde und die sein Werk bestimmende Naherwartung lassen sich gleich gut mit den Paulusbriefen, der Botschaft des 1. Petrusbriefs und der vom Evangelisten Matthäus fixierten Tradition der Jerusalemer ‚Säulen‘ (s. u.) zusammendenken. Die Botschaft des Markusevangeliums polarisiert nicht, sondern verbindet wesentliche urchristliche Strömungen. § 33 Das Matthäusevangelium Literatur: H.-D. Betz, Studien zur Bergpredigt, 1985; G. Bornkamm – G. Barth - H. J. Held, Überlieferung u. Auslegung im Matthäusevangelium, 19706; Chr. Burger, Jesu Taten nach Matthäus 8 u. 9, ZThK 70, 1973, 272–287; S. Byrskog, Jesus the Only Teacher, 1994; J. Friedrich, Gott im Bruder?, 1977; B. Gerhardsson, The Mighty Acts of Jesus according to Matthew, 1979; ders., The Gospel Tradition, 1986; H. Gese, Natus ex virgine, in: ders., Vom Sinai zum Zion, 19903, 130–146; R. Guelich, The Sermon on the Mount, 1982; D. A. Hagner, Righteousness in Matthew’s Theology, in: Theology and Ministry in the Early Church, FS für R.P. Martin, hg. von M.J. Wilkins u. T. Paige, 1992, 101–120; F. Hahn, Der Sendungsauftrag des Auferstandenen, in: Fides pro mundi vita, FS für H.-W. Gensichen, hg. von Th. Sundermeier, 1980, 28–43; M. Hengel - H. Merkel, Die Magier aus dem Osten u. die Flucht nach Ägypten (Mt 2) im Rahmen der antiken Religionsgeschichte u. der Theologie des Matthäus, in: Orientierung an Jesus,

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FS für J. Schmid, hg. von P. Hoffmann, 1973, 139–169; ders., Jesus als messianischer Lehrer der Weisheit u. die Anfänge der Christologie, in: Sagesse et Religion, Colloque de Strasbourg, 1979, 147–188; ders., Zur matthäischen Bergpredigt u. ihrem jüdischen Hintergrund, ThR 52, 1987, 327–400; B.J. Hubbard, The Matthean Redaction of a Primitive Apostolic Commissioning: An Exegesis of Matthew 28:16–20, 1974; R. Hummel, Die Auseinanderetzung zwischen Kirche u. Judentum im Matthäusevangelium, 19662; J. Jeremias, Die Bergpredigt, in: ders., Abba, 1966, 171–189; J.D. Kingsbury, Matthew: Struc-ture, Christology, Kingdom, 1975; G. Künzel, Studien zum Gemeindeverständnis des Matthäusevangeliums, 1978; H. Kvalbein, Hat Matthäus die Juden aufgegeben? Bemerkungen zu Ulrich Luz’ Matthäus-Deutung, ThBeitr 29, 1998, 301– 314; U. Luz, Das Matthäusevangelium u. die Perspektive einer biblischen Theologie, JBTh 4, 1989, 233–248; ders., Die Jesusgeschichte des Matthäus, 1993; O. Michel, Der Abschluß des Matthäusevangeliums, EvTh 10, 1950/51, 16–26; A. Sand (Hg.), Das Matthäus-Evangelium, 1991; S. Schulz, Die Stunde der Botschaft, 19702, 157–234; E. Schweizer, Gesetz u. Enthusiasmus bei Matthäus, in: ders., Beiträge zur Theologie des NTs, 1970, 49–70; ders., Matthäus u. seine Gemeinde, 1974; ders., Die Bergpredigt, 1982; G. Stanton, The Origin and Purpose of Matthew’s Gospel, ANRW II 25,3, 1985, 1889–1951; ders., The Gospels and Jesus, 1989, 59–80; K. Stendahl, The School of St. Matthew, 19682; G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, 19713; ders., Die Bergpredigt, 1984; P. Stuhlmacher, Das paulinische Evangelium I, 1968, 238 ff.; ders., Das vollkommene Gesetz der Freiheit, ZThK 79, 1982, 283–322; ders., Zur missionsgeschichtlichen Bedeutung von Mt 28,16–20, EvTh 59, 1999 [Heft 2]; M.J. Suggs, Wisdom, Christology and Law in Matthew’s Gospel, 1970; W. Trilling, Das wahre Israel, 19643; ders., Matthäus, in: Gestalt und Anspruch des NTs, hg. von J. Schreiner, 1969, 186–199; A. Vögtle, Messias u. Gottessohn. Herkunft u. Sinn der matthäischen Geburts- u. Kindheitsgeschichte, 1971; H. Weder, Die ‚Rede der Reden‘, 19872.

Das Matthäusevangelium ist nicht nur das gewichtigste judenchristliche Buch des Neuen Testaments neben dem Hebräerbrief, sondern auch das bekannteste und wirksamste synoptische Evangelium. Es verdankt diese Bedeutung dem Umstand, daß es – wie wir sehen werden – die auf den Apostel Matthäus und auf Petrus zurückgehende Jesustradition der Jerusalemer Säulenapostel (Petrus, Jakobus und Johannes) bewahrt und die Geschichte des Heilshandelns Gottes in und durch Jesus Christus vollständiger und einprägsamer erzählt hat als der Evangelist Markus. Bis heute ist das allgemeine kirchliche Jesusbild viel stärker von der für Missionszwecke didaktisch geschickt aufbereiteten Matthäusdarstellung geprägt als von der Jesusdarstellung des Markus oder des Lukas. 1. Aufbau und Inhalt des Matthäusevangeliums U. Luz hat in seinem monumentalen Matthäuskommentar und seinem Buch: Die Jesusgeschichte des Matthäus (1993) folgende (Grob-)Gliederung des Evangeliums vorgeschlagen, der sich A. Weiser (Theologie des NTs II, 1993, 80–83) angeschlossen hat: 151

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Prolog: 1,1–4,22 I Das Wirken Jesu in Israel in Wort und Tat: 4,23–11,30 II Jesu Rückzug aus Israel: 12,1–16,20 III Die Bildung der Jüngergemeinde: 16,21–20,34 IV Die Abrechnung mit Israel und das Gericht über die Gemeinde: 21,1–25,46 V Passion und Ostern: 26,1–28,20 Matthäus bietet eine Menge von Text- und Gliederungssignalen (vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1, 15–28): Die beiden gleichlautenden Zeitangaben in 4,17 und 16,21: ajpo; tovte h[rxato oJ jIhsou`" khruvssein (bzw. deiknuvein) fallen ebenso auf wie die parallel formulierten Summarien in 4,23 und 9,35; der Evangelist bietet Sammlungen (von Wundergeschichten in Kap. 8–9 oder Gleichnissen in 21,28–22,14), er verwendet Schlüsselworte (z. B. dikaiosuvnh in 5,6.10.20; 6,1.33), für die Angaben von Themen benutzt er Kelalim (µylil;K]) , d. h. Zentralverse (vgl. z. B. 5,17.20; 7,12; 18,10.14 usw.), er hebt Sachverhalte durch Verdoppelungen hervor (vgl. z. B. das zweifache Zitat von Hos 6,6 in 9,13;12,7), schafft Inklusionen (vgl. z. B. die Wiederaufnahme von 1,23: ∆Emmanouhvl, o} ejstin meqermhneuovmenon meq’ hJmw`n oJ qeov" in 28,20) und arbeitet mit Signalen, „die Kommendes vorwegnehmen … und den Leser für später Erzähltes sensibilisieren“ (U. Luz, a.a.O., 23: 1,23 und 2,15 bereiten z. B. die Gottessohn-Prädikation in 3,17 vor). Weil es so viele Redaktionsmerkmale gibt, beschränken sich neuere Kommentare darauf, die Einzelabschnitte genau zu markieren, aber eine Makrostruktur des Evangeliums nur anzudeuten (vgl. z. B. D.A. Hagner, Matthew I & II, 1993–1995).

Die zahlreichen Gliederungsmerkmale machen deutlich, daß der Evangelist sein Evangelium – ganz ähnlich wie Markus – für die öffentliche Verlesung (in Gemeindeversammlungen) angelegt, also ein kirchliches Unterrichtswerk geschaffen hat. 2. Das Verhältnis zum Markusevangelium Wenn man der Zweiquellentheorie folgt, ist Matthäus ein vor allem auf der Basis der Markustradition erstelltes Großevangelium. Am Vergleich mit Markus kann man denn auch die redaktionellen Absichten des Evangelisten am besten verfolgen. 2.1 Matthäus hat die Markusvorlage fast vollständig übernommen. Es fehlen nur die Nachricht über Jesus und seine Angehörigen (Mk 3,20–21), das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29), der Bericht von der Rückkehr der Jünger (Mk 6,30–31), die Erzählung von der Heilung des Blinden von Bethsaida (Mk 8,22–26) und einige Einzelverse (z. B. Mk 2,27; 9,29.48; 14,51; 15,44). Von Mt 12,1 an wird der Anschluß an Markus besonders deutlich. Der Befund zeigt, daß der Evangelist den von Markus vorge152

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gebenen Grundriß des von Galiläa nach Jerusalem führenden (Leidens-)Weges Jesu übernommen und auch die anamnetische Intention des Markus bejaht hat, das allen Völkern zu verkündigende Evangelium an die schriftlich fixierte Erzählung von Jesu Sendung, Person und Lehre zu binden (vgl. Mk 13,10 mit Mt 24,14). 2.2 Markante Unterschiede zwischen beiden Evangelien zeigen aber auch, daß Matthäus nicht nur eine erweiterte Neuauflage des Markusevangeliums, sondern ein Buch schaffen wollte, das die Leser-Gemeinde ausführlicher und genauer über die Geschichte Jesu belehrt, als es Markus getan hat. 2.2.1 Schon der Evangeliumseingang unterscheidet sich von Markus erheblich. Statt mit ajrch; tou` eujaggelivou ∆Ihsou` Cristou` uiJou` qeou` (Mk 1,1) einzusetzen, schreibt der Evangelist in Mt 1,1: bivblo" genevsew" ∆Ihsou` Cristou` uiJou` Daui;d uiJou` ∆Abraavm. Bivblo" genevsew" entspricht der t/dl]/T-Formel, die in Gen 2,4; 5,1; 6,9; 10,1 usw. die Heilsgeschichte gliedert, und ist am besten mit „Entstehungsgeschichte“ zu übersetzen; in Gen 5,1 leitet die Formel den mit Adam beginnenden Stammbaum Noahs ganz ähnlich ein wie in Mt 1,1 den Stammbaum Jesu.

Mt 1,1 scheint Gen 5,1 nachgebildet zu sein und strahlt auf das gesamte Evangelium aus. Matthäus will offenbar eine Darstellung der Lebensgeschichte des Christus Jesus bieten, welche die Heilsgeschichte zum Abschluß bringt. Jesu Stammbaum führt über 3 mal 14 Generationen von Abraham zu Joseph: Die erste Generationenfolge reicht von Abraham bis David, die zweite von Salomo bis Jojachin (vgl. 2Kön 24,8–16), die dritte von Jojachin (vgl. 2Kön 25,27–29) bis Joseph. „Die dem Abraham geschenkte Verheißung, daß in ihm alle Geschlechter der Erde Segen erlangen sollten (Gn 12,3; 18,18; 22,18), sieht Matthäus in Jesus erfüllt“ (J. Gnilka, Theologie des NTs, 1994, 176). 2.2.2 Neu gegenüber Markus sind auch die matthäischen Vorgeschichten insgesamt (1,2–2,23). Sie bieten alte judenchristliche Tradition und zeigen, wie sich für Matthäus die Gotteskindschaft Jesu mit der Abraham- und Davidssohnschaft verbinden. Jesus steht durch seinen Nährvater Joseph in einer Familientradition, die über David bis zu Abraham zurückreicht (s. o.). Er trägt den Namen Jehsua‘ ([æWvy´), d.i. die Kurzform von Jehosua‘ ([æWv/hy“ = „Jahwe ist Heil“), weil er das Gottesvolk, dem er zugehört, von (den Folgen der) Sünden erretten soll (vgl. 1,21). Nach 1,22–23 ist er der in Jes 7,14 verheißene, durch den Heiligen Geist gezeugte Jungfrauensohn, der messianische Immanuel, in dem Gott selbst seinem Volk nahe ist. Wie die Schrift im voraus angekündigt hat (vgl. Mi 5,1.3), wird er in Bethlehem geboren und dort von den Magiern aus dem Osten, d. h. den höchsten Repräsentanten heidnischer Religion und Wissenschaft, als Heilskönig anerkannt (2,1–12). 153

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Ähnlich wie nach der alttestamentlich-frühjüdischen Moselegende das Mosekind bewahrt wird, bewahrt Gott Jesus vor den Nachstellungen des Herodes und läßt ihn schließlich im galiläischen Nazareth seine Heimstatt finden (vgl. 2,13–23). Dort wächst er in der Stille auf als der Nazwrai`o", d. h. als der Gottessohn, über dem das Diadem (rz