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German Pages 169 Year 2002
E RFAHRUNG U ND D ENKEN S c h r i f t e n z u r Fö rd e r u n g d e r B e z i e h u n g e n z w i s c h e n Ph i l o s o p h i e u n d Ei n ze l w i s s e n s c h a f t e n
Band 90
Werte, Wohlfahrt und das Gute Leben Philosophen und Ökonomen im Ethik-Diskurs
Herausgegeben von
Hartmut Laufhütte und Reinar Lüdeke
Duncker & Humblot · Berlin
E R F A H R U N G
U N D
D E N K E N
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Begründet von K u r t Schelldorfer
Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)
Schriftleitung Volker Gerhardt
H i n w e i s e
1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken" besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften". 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften" w i r d hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
HARTMUT LAUFHÜTTE / REINAR LÜDEKE (Hrsg.) W e r t e , W o h l f a h r t u n d das Gute L e b e n
E R F A H R U N G
U N D
D E N K E N
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 90
Werte, Wohlfahrt u n d das Gute Leben Philosophen u n d Ökonomen im Ethik-Diskurs Symposium der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der U n i v e r s i t ä t Passau
Herausgegeben v o n
H a r t m u t Laufhütte und Reinar Lüdeke
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Werte, Wohlfahrt und das Gute Leben : Philosophen und Ökonomen im Ethik-Diskurs ; Symposium der Studienstiftung des Deutschen Volkes an der Universität Passau / Hrsg.: Hartmut Laufhütte ; Reinar Lüdeke. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Erfahrung und Denken ; Bd. 90) ISBN 3-428-10878-7
Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-10878-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706Θ
Z u m Geleit A m Anfang schien es verwegen und kaum realisierbar; das Resultat aber zeigt, was Ideenreichtum und Energie bewirken können. Zu dem einen der beiden Unterzeichner dieser kurzen Vorrede, der an der Universität Passau als Vertrauensdozent der Studienstiftung des Deutschen Volkes fungiert, kamen im Frühjahr 2000 zwei (ehemalige) Stipendiaten aus der von ihm betreuten Gruppe, Studenten an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Carsten Geyer und Felix Hauser, mit der Idee, ein Symposion zu veranstalten, und baten um Unterstützung. Das Thema stand schon fest; es war dasjenige, das auch die hier vorgelegte Publikation umkreist. Zwei themenverwandte Veranstaltungen des Jahres 1999, an welchen die beiden Initiatoren teilgenommen hatten, eine von der Schweizer Studienstiftung und eine an der Universität Passau durchgeführte, hatten die Anregung gegeben. Initiativen aus dem Kreis der Stipendiaten haben grundsätzlich die Sympathie der Vertrauensdozenten; also wurde auch diese Idee als gut und förderungswürdig begrüßt. Befragt, wer eine solche Tagung denn finanzieren solle, ließen die beiden Initiatoren großes Vertrauen auf die Studienstiftung erkennen. Der Ansprechpartner teilte diese Zuversicht zunächst keineswegs; einen Versuch immerhin, fand er, sollte es wert sein. Vor allem aber ließ er sich erklären, was denn Gegenstand und Anliegen des geplanten Symposions seien. Die schon damals sehr präzisen und detaillierten Auskünfte, die er erhielt, führten ihn zu der zu Empfehlungen umgesetzten Einsicht, das Projekt sei unter der Betreuung eines Vertreters der Volkswirtschaftslehre und eines Philosophen gewiß besser aufgehoben als unter derjenigen eines germanistischen Literaturwissenschaftlers, selbst wenn dieser philosophische Interessen weder bestreiten könne noch wolle. Das leuchtete den beiden Planern ein, und so kam es dazu, daß - zum Wohle des Unternehmens - der zweite Unterzeichnende interessiert und gewonnen wurde, der freilich darauf bestand, daß die wohlwollende Schirmherrschaft gemeinsam ausgeübt werde. So kam es dann. Alle anfängliche Skepsis erwies sich rasch als unangebracht. Die Studienstiftung hatte gerade ein Programm aufgelegt, das zu Veranstaltungen wie der geplanten ermutigte und sie förderte, und sie zeigte sogleich entsprechendes Interesse. Zwei Assistenten der nächstbeteiligten Disziplinen, der Volkswirtschaftslehre und der Philosophie, Dr. Klaus Beckmann und Dr. Thomas Möhrs, konnten die Initiatoren rasch als Mitplaner und -Veranstalter gewinnen. Der Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Finanzwissenschaft und das Veranstaltungsreferat leisteten infrastrukturelle Unterstützung bei allen Planungsarbeiten. Ein ansehnlicher Kreis kompetenter Referenten war bald angeworben und ein Exposé erstellt, so daß der Verlaufsplan der Veranstaltung zusammen mit einer Kostenübersicht der Studienstiftung vorgelegt werden konnte. Die Finanzierungszusage erfolgte
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Zum Geleit
umgehend, nachdem auch der Rektor der Universität Passau eine angemessene Mitförderung versprochen hatte, und Mitte August konnten die Einladungen an die Referenten und an Studierende benachbarter Universitäten versandt werden. Dem zügig absolvierten Vorlauf folgte vom 7. bis zum 9. Dezember 2000 die Durchführung des Symposions in Räumen der Universität Passau in Gegenwart von Frau Dr. Petra Neumann als Repräsentantin der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der beiden Unterzeichner, deren Beitrag zum Gelingen des Ganzen überwiegend in Schirmherrschaft und infrastruktureller Unterstützung bestanden hatte. Es war eine außerordentlich interessante und ergiebige Veranstaltung mit guten Referaten und guten Gesprächen. Die von den Autoren überarbeiteten Vorträge werden hier der interessierten und kritischen Öffentlichkeit vorgelegt. Der Studienstiftung des Deutschen Volkes, der Universität Passau, vor allem aber den Initiatoren und Veranstaltern ist Dank zu sagen und zum Gelingen nun auch des letzten Schritts in ihrem Unternehmen zu gratulieren. Jungen Wissenschaftlern auch anderer Fächer ist der Vorgang insgesamt als ermutigendes Beispiel zu empfehlen. Wir aber, die Schirmherren des Symposions und Herausgeber des vorliegenden Tagungsbandes, wünschen dem Buch und denen, die es durch ihre Beiträge ermöglicht haben, Glück auf den Weg. Prof. Dr. Hartmut Laufliütte Lehrstuhl für neuere Deutsche Literaturwissenschaft Universität Passau
Prof. Dr. Reinar Lüdeke Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Finanzwissenschaft Universität Passau
Inhaltsverzeichnis
Das normative Problem in den Sozial Wissenschaften: Versuch einer Einführung Von Klaus Beckmann, Carsten Geyer und Felix Hauser
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Was ist ein gutes Leben? Von Peter Schaber
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Moralbegründung und normative Argumente Von Ulrich Steinvorth
John Stuart M i l l s Pflichtethik
47
- platte Provokation oder Brücke zum „guten Leben"?
Von Thomas Möhrs
67
Was leistet die Konstitutionenökonomik? Von Christian Müller
93
Freiheit und Ökonomie Von Klaus Beckmann
111
Individuelle Freiheit und soziale Wohlfahrt Von Thomas Schmidt
143
Das normative Problem i n den Sozial Wissenschaften: Versuch einer Einführung Von Klaus Beckmann, Carsten Geyer und Felix Hauser
We are good, perhaps a little too good, but we are also stupid ; and it is this mixture of goodness and stupidity which lies at the root of our troubles. Karl Popper 1
A. Der normative2 Auftrag der Sozialwissenschaften Sozialwissenschaftliche Forschung wird überwiegend öffentlich finanziert. Es liegt nahe, daß sich an diese Finanzierung - neben der Förderung der reinen Forschung und der Lehre - auch der Wunsch nach politisch verwertbaren Ergebnissen knüpft. Man fragt die Sozialwissenschaften nach Ziel-Mittel-Beziehungen, sie haben einen normativen (Teil-)Auftrag. Ob er nun Werturteilsfreiheit in den Geisteswissenschaften als wünschenswert ansieht oder nicht, der Sozialwissenschaftler wird dieser Frage nicht ausweichen können, und oft wird er es gar nicht wollen. Dies trifft in doppeltem Sinne zu: erstens in dem banalen Sinne, daß Beratung oder Unterstützung heischende Kreise ihm diese Frage aufdrängen; zweitens in dem Sinne, den das Wertbasisproblem in den Gesellschaftswissenschaften verkörpert. Der Wissenschaftler kann sich danach nicht aller seiner persönlichen Ziele und Wünsche, seiner Werte und Ideale entledigen. Schon die Wahl des Forschungsgegenstandes und der Methode werden - e.g. durch das Bestreben, kognitive Dissonanzen zu vermindern - von diesen beeinflußt. Wer neigt zur Ökonomie, wer wird eher Soziologe?
1 Popper (\9Ί2, 2
S. 365).
M i t „normativ" sind i m folgenden sämtliche Sollensaussagen gemeint, also sowohl hypothetische als auch kategorische Imperative. „Positive" Aussagen dagegen sind theoretische oder empirische Istaussagen, für die grundsätzlich keinerlei Werturteile benötigt werden. M i t dieser Abgrenzung folgen w i r dem Standard in der angloamerikanisch dominierten Ökonomik.
Klaus Beckmann, Carsten Geyer und Felix Hauser
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Damit indes wird zumindest mittelbar an fundamentale ethische Fragen gerührt, bei deren Diskussion ausgebildete Philosophen nicht nur komparative Vorteile, sondern auch einen mehrtausendjährigen Schatz an Literatur und Erfahrungen haben. Gerade in unserer eigenen Wissenschaft, der Nationalökonomie, werden diese Probleme - die sich beispielsweise hinter den Prinzipien der herrschenden Wohlfahrtsökonomie verbergen - ebenso wie die Beiträge der Philosophen häufig ignoriert. Beckerman 3 merkt bei seiner Kritik der Umweltökonomik zu Recht an [ . . . ] how impossible it is to avoid some mixture of economic and philosophical considerations when forming sensible judgments about the long-run environmental effects of economic activity. [ . . . ] Conversely, philosophical considerations frequently expose gaps in the conventional economist's approach to many problems.
Das Problem scheint uns innerhalb der Sozialwissenschaften nicht nur auf die Ökonomie beschränkt zu sein, wenn auch (neoklassische) Ökonomen in besonderem Maße sündigen dürften. Geboten ist eine stärkere Auseinandersetzung mit den normativen Grundlagen der Sozialwissenschaft, zumindest solange man strebt, ihrem normativen Auftrag einigermaßen gerecht zu werden und völlige Werturteilsfreiheit in den Sozialwissenschaften nicht realisieren kann oder w i l l . 4 Wird bei diesem Dialog der Philosoph stets den Sokrates, der Sozialwissenschaftler (Ökonom) stets den Schüler geben müssen? Möglicherweise kann man auch gegenüber der Philosophie den Vorwurf erheben, bei der Analyse von Ursache-Wirkungs-Beziehungen in der Erklärung gesellschaftlicher Phänomene zu kurz zu greifen. Hier dürfte es indes der Fachwissenschaftler sein, der komparative Vorteile hat. Und es bedarf der Erkenntnisse über solche Beziehungen, wenn sich die Philosophie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessen auswirken will. Daneben werden sie zumindest dann ebenfalls benötigt, wenn instrumentale Normen im modus tollens begründet werden sollen. Unsere Position lautet also schlicht: Der Nexus zwischen Philosophie und FachSozialwissenschaften wird oft missachtet und genügt in seiner gegenwärtigen Entwicklung nicht. 5 A u f diesem Gebiet einer angewandten Sozialphilosophie aber ha3 Beckerman {1996, S. 161). 4
Gegeben ein M i n i m u m an wissenschaftlichem Ethos kann vermutlich der Wettbewerb innerhalb und zwischen den Disziplinen strikte Werturteilsfreiheit (zumindest teilweise) ersetzen, so daß wir nicht in der Aporie enden müssen. 5 In der Ökonomie beschäftigen sich besonders die Ordnungstheorie, die Konstitutionelle Politische Ökonomie und die Ökonomie des Rechts mit diesen Verbindungen; alle drei Gebiete haben in letzter Zeit einigen Auftrieb erfahren, wie die Zahl der einschlägigen Veröffentlichungen und die Gründung des spezialisierten Journals Constitutional Political Economy i m Jahre 1990 belegen. Als eine weitere ökonomische Teildisziplin mit regen Verbindungen zur Philosophie kann man die Social choice-Theorie ansehen, um die es allerdings in letzter Zeit etwas stiller geworden zu sein scheint. Die zugehörigen Forschungsprogramme sind mit Namen wie James Buchanan (Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1986), Friedrich v. Hayek (Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1974), Kenneth Arrow (Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1972) und Amartya Sen (Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 1998) verbunden. Zumindest dürfte ein Ordnungstheoretiker heute nicht mehr
Das normative Problem in den Sozialwissenschaften
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ben sich beide Teile etwas zu sagen. Das muß aus unserer Sicht die Hauptmotivation einer Veranstaltung wie dieser Kurztagung sein, auf der Studenten und Forscher der Fachwissenschaften und der Philosophie miteinander diskutieren. Und spannend ist es auch, wie der Ökonom Richard Musgrave völlig zu Recht hervorhebt: It is not surprising therefore to find different theories of the state to be associated with different approaches to public finance. How fiscal instruments function is a matter of economics, but the purposes to which they are put depend on the image of a ,good society' and the state's role therein. Fiscal theory, therefore, is not a matter of economics only; and that, I w i l l add, is its particular appeal.
Dieser einführende Beitrag soll einzelne wesentliche Fragen aus einer - was sonst hätten wir zu bieten - ökonomischen Warte aufwerfen und das Terrain der Kurztagung abstecken. Wir wollen mit einem Beispiel für den Philosophie-Ökonomie-Nexus beginnen und dabei an das zu Beginn zitierte Bonmot von Popper anknüpfen (Abschnitt B). Es folgen einige kurze Bemerkungen zur Strukturierung normativer Überlegungen in den Sozialwissenschaften (Abschnitt C). Anschließend schlagen wir die Brücke von den für die Tagung zentralen Begriffen des Guten Lebens und des ethisch Gerechtfertigten (Abschnitt D) - die wir als Ökonomen mit wertsubjektivistischem und konsequentialistischem Hintergrund als weitgehend deckungsgleich auffassen - zum Begriff der gesellschaftlichen Ordnung (Abschnitt E). Keck werden wir dabei die mehrtausendjährige Tradition des Eidos in der Philosophie ignorieren und stattdessen aufzeigen, wie man Gutes Leben oder das gesellschaftlich Gute in den Sozialwissenschaften konzipieren kann (Abschnitt B, Unterabschnitt 1) und welche Probleme sich aus der Sicht des Ökonomen ergeben, wenn man auf der Basis dieser Konzepte gesellschaftliche Normen entwickeln w i l l (Abschnitt C, Unterabschnitt 2).
B. Eigenschaften der condicio humana und die Gestaltung der Gesellschaft Es sind drei Eigenschaften der condicio humana, die hier als weitgehend unveränderlich aufgefaßt werden und den Kern des ökonomischen Problems ausmachen: Knappheit, Unwissen und begrenzter Altruismus. 6 Knappheit meint, daß die begrenzten verfügbaren Ressourcen nicht ausreichen, alle Ziele und Wünsche der Menschen (der Gesellschaft?) gleichzeitig vollständig zu erreichen. Unwissen bzw. der Begriff des „Wissensproblems" - bezeichnet die Unvollständigkeit, Verstreutheit und Notwendigkeit der Schöpfung der notwendigen Informationen einer-
von einer renommierten Fakultät - wie es Hayek am Economic Department der Universität Chicago widerfuhr - mit der Begründung abgelehnt werden, er sei kein Wirtschaftswissenschaftler. 6 Barry (1996, S. 2).
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Klaus Beckmann, Carsten Geyer und Felix Hauser
seits sowie die Begrenztheit der kognitiven Fähigkeiten des Menschen andererseits. Begrenzter Altruismus bedeutet, daß Menschen ihre eigenen Ziele und Wünsche und die von Personen, mit denen sie sich verbunden fühlen, stärker gewichten als das Wohlergehen irgendwelcher Dritter. Wenn wir schließlich unterstellen, die condicio humana sei weitgehend unveränderlich, so meinen wir: Ansätze, die auf ihre Beseitigung abzielen - wie etwa die Erziehung zum idealen Menschen, Fortschritte in der Informationstechnik oder technischer Fortschritt allgemein - , vermögen die geschilderten Probleme bestenfalls zu mildern, nie jedoch völlig auszumerzen. Es ist das Wechselspiel von Wissensproblem und begrenztem Altruismus, das für einen Ökonomen hinter dem Eingangszitat von Popper stehen muß: Zumindest nach einigen ethischen Konzeptionen ist derjenige ein „guter Mensch", der andere so liebt wie sich selbst - ökonomisch gesprochen, in dessen Nutzenfunktion das Wohlergehen der anderen mit dem gleichen Gewicht eingeht wie sein eigenes. Ein solcher vollkommener Altruist internalisiert alle Effekte seines Tuns auf alle anderen. Für eine vernünftige Entscheidung, wie er nun handeln soll, fehlen diesem guten Menschen aber die nötigen spezifischen Kenntnisse von Ort und Zeit, 7 die breit gestreut, kollektiv unvollständig sind und teils erst kreiert werden müssen. Informationen über die besonderen Umstände von Menschen, über ihre Ziele, Wünsche und Möglichkeiten lassen sich letztendlich nur schwer oder gar nicht sozialisieren. 8 Ein zweckrationaler Egoist mag uns nicht als ersprießlich erscheinen, aber immerhin weiß er i m allgemeinen, was er tut. 9 Der Philantroph dagegen tappt möglicherweise im Dunklen und kann wohlmeinend großen Schaden anrichten. 1 0 In diesem Sinne können Menschen in der Tat „zu gut" sein. Von den spezifischen Kenntnissen strikt zu trennen sind allerdings gesetzmäßige Kenntnisse, die die positiven Sozialwissenschaften über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und die normativen Sozialwissenschaften sowie die Philosophie darauf aufbauend - über Ziel-Mittel-Beziehungen möglicherweise schaffen können. Wenn auch mangels der spezifischen Kenntnisse nur wenig Raum für wohlmeinende Interventionen im Einzelfall verbleiben kann, sinkt der Informationsbedarf erheblich, wenn man sich auf die Gestaltung von allgemeinen Regeln konzentriert. 1 1 Hier bleibt zu hoffen, daß gute gesetzmäßige Kenntnisse genügen. Aber Poppers Vorwurf kann abermals treffen, falls solche Kenntnisse fehlen; darüber hinaus setzt, wer diese Hoffnung hegt, die grundsätzliche Erkennbarkeit der Gesetzmäßigkeiten ebenso voraus wie die Existenz eines gewissen Konsenses darüber. 1 2 Auch dann gebräche es nicht an Wohlwollen, sondern an Wissen.
7 Hayek (1945). 8 Barnett {1992); Barnett (1998, S. 30^10). 9 Harsanyi (1975, S. 604). 10 Es sei denn, er bliebe sich ständig seines beschränkten Wissens bewußt und trachte daher nur danach, seinen eigenen Nutzen zu maximieren.
h Siehe dazu Beckmann (1998).
Das normative Problem in den Sozialwissenschaften
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Gegenstand dieser Kurztagung sind solche gesetzmäßigen Kenntnisse über die gesellschaftlichen Oberziele, auf die das zu gestaltende System gesellschaftlicher Spielregeln (die Ordnung) ausgerichtet ist. Es wäre vermessen, hier eine eindeutige und unstrittige Aussage zu erwarten. Was aber möglich und geboten erscheint, ist aufzuzeigen, welche Fragen man wie - in welcher Systematik - zu klären hätte und welcher Art der erforderliche Konsens ist. Um uns dieser Frage sinnvoll widmen zu können, müssen wir offensichtlich voraussetzen, daß es überhaupt möglich ist, allgemeine und langfristige Regeln für das Zusammenleben zu gestalten, zumindest aber die Entwicklung dieser Regeln geeignet zu beeinflussen. Diese Voraussetzung ist beileibe nicht unumstritten; nicht ganz ohne Grund werfen Vertreter evolutionstheoretischer Ansätze beispielsweise der Buchanan-Schule in der Konstitutionenökonomik vor, als „Konstruktivisten" von einer realiter nicht gegebenen Gestaltbarkeit der Gesellschaft auszugehen. 1 3 Wie auf so vieles werden wir auf diesen Problemkreis nicht weiter eingehen und einfach unterstellen, die soziale Wirklichkeit sei zumindest in Grenzen bewusst gestaltbar.
C. Ebenen normativer Analyse Es erscheint uns gerade beim interdisziplinären Diskurs zwischen Philosophen und Sozialwissenschaftlern hilfreich, vier Ebenen normativer Analyse und normativer Aussagen zu trennen, 14 die aufeinander aufbauen: erstens die Ebene der moralisch-ethischen Grundsätze, zweitens die der Ordnungsprinzipien, drittens die konstitutionelle Ebene und schließlich viertens die Ebene der Interventionen. Ethische Prinzipien verkörpern den Kern unserer Konzeption des Guten; sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie keinen instrumentalen Charakter haben und nicht an die Gegebenheiten von Ort und Zeit bzw. an eine bestimmte Gesellschaft 12 Welcher Art dieser Konsens auch sei: ein wissenschaftlicher, ein sozial vertraglicher oder schlicht ein Konsens i m Sinne einer stillschweigenden Akzeptanz gewisser Grundwerte in der Gesellschaft. Dazu muß an dieser Stelle noch nichts gesagt werden. 13 Siehe den Uberblick über die evolutorische Ökonomik bei Hodgson (1999, insb. Kap. 6). Vgl. auch Beckmann (1998, S. 31^13). Den Evolutorikern kann man allerdings wenn nicht unbedingt ihre Worte, so doch ihre Taten vorhalten: Viele von ihnen geben nämlich konkrete Empfehlungen ab, wie eine Gesellschaft zu gestalten sei. Gerade i m Werk Hayeks bemerkt man eine seltsame Dichotomie zwischen der evolutorischen Grundlegung, der Betonung der Bedeutung von tacit knowledge, der Charakterisierung spontaner Ordnungen („Katallaxien") und der Betonung prozeduraler Aspekte einerseits und konkreten ordnungpolitischen Vorschlägen andererseits, die mehr oder minder utilitaristisch-konsequentialistisch begründet werden (mit der größtmöglichen Wohlfahrt für ein zufällig herausgegriffenes Individuum). Z u m Kontrast konsequentialistischer und prozeduraler Kriterien siehe auch Sen (1995). 14 Ähnliche Unterscheidungen sind nicht ganz unüblich. Siehe etwa die „four-stage sequence" bei Rawls (1971, S. 195-201).
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Klaus Beckmann, Carsten Geyer und Felix Hauser
gebunden sind. 1 5 Hier liegt die Domäne der philosophischen Ethik und der Moralphilosophie, die sich bemühen, solche Prinzipien zu begründen, bei Unmöglichkeit einer Letztbegründung jedoch nur für sie werben können. Zunächst muß dabei offen bleiben, ob es nur eine Konzeption des Guten gibt, die für sich objektive Wahrheit und den Anspruch auf allgemeine Geltung reklamieren kann, oder ob die Ethik bei dem Versuch scheitern muss, zwischen (bestimmten) rivalisierenden Konzeptionen zu entscheiden. Ordnungsprinzipien stellen die nächste Ebene der Analyse dar. Sie umfassen die grundlegende Idee, wie ein institutioneller Rahmen für das Zusammenleben in der Gesellschaft, für die Interaktion von Menschen und für die Koordination individuellen Handelns gestaltet werden sollte. Eine derartige Idee ist zwar abstrakt, allgemein und auf große Dauer angelegt, dürfte aber nicht mehr völlig unabhängig sein vom Stand der kulturellen und sozialen Evolution. Naheliegend erscheint es zu fordern, die Ordnungsprinzipien sollten als Instrumentalziele auf den ethischen Prinzipien beruhen, welche auf der vorgelagerten Stufe entwickelt wurden. Wenn sich aufgrund der angedeuteten Schwierigkeiten keine allgemeingültigen ethischen Prinzipien finden lassen, könnten indes die Ordnungsprinzipien auch an deren Stelle treten: Beispielsweise wäre es denkbar, die Ethik zur Privatsache zu erklären und einen Ordnungsrahmen zu definieren, innerhalb dessen der Einzelne seine Vorstellung des Guten - unter gewissen Einschränkung e n 1 6 - verfolgen kann. Ein anderes Beispiel wäre eine Einigung auf Ordnungsprinzipien als Interimslösung, solange die Debatte um die ethischen Prinzipien offen bleibt. Eine Einigung auf Ordnungsprinzipien in solchem Sinne ließe sich zugleich als Gegenstand der Vertragstheorie deuten, der etwas bescheidener ausfällt als das hehre Ziel der Festschreibung ethischer Prinzipien in einer original position. Weil schließlich Ordnungsprinzipien nicht mehr durch normative Theorie alleine entwickelt werden können, sondern es dazu auch der positiven Analyse menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Phänomene bedarf, haben die Sozialwissenschaften selbst bei sehr großer Spezialisierung hier etwas beizutragen. 17
15 Dem mag man einen Hinweis auf den kulturellen Relativismus oder auf die Erfahrung entgegenhalten, daß sich die Vorstellung des Guten i m Laufe der kulturellen Evolution geändert hat. Jenem Einwand entgegnen wir mit der Vermutung, daß hier Ordnungsprinzipien und - in der kulturellen Entwicklung unveränderte - ethische Fundamentalnormen verwürfelt werden. A u f diesen erwidern wir, indem wir das Gute und die Erkenntnis des Guten unterscheiden. 16 Solche Restriktionen werden zum einen die Möglichkeit betreffen, andere beim gleichen Unterfangen zu behindern, zum anderen kann jedoch möglicherweise ein Kontinuum zulässiger ethischer Prinzipien definiert werden - wenn etwa keine Letztbegründung, wohl aber eine Letztverwerfung ethischer Konzepte i m modus tollens erreicht werden kann. 17 Das gilt natürlich erst recht, wenn man keinem extremen zapatero, a tus zapatos das Wort reden w i l l und den jeweils anderen sich auf dem eigenen Feld äußern läßt. Diese Grundhaltung prägt zumindest unsere Kurztagung.
Das normative Problem in den Sozialwissenschaften
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Die konstitutionelle Ebene betrifft die (Analyse der) dauerhaften und allgemeinen Regeln einer Gesellschaft, seien sie geschriebene (Institutionen), seien sie ungeschriebene (Normen und Konventionen) Regeln. 1 8 Dazu zählen Verfassungsvorschriften, wie sie in der Konstitutionenökonomik seit jeher im Mittelpunkt stehen, aber auch ein Gutteil der Gesetze, der beständigen Usancen und der „Kultur" einer Gesellschaft. 19 A u f dieser Ebene spielt die Übereinstimmung - einzelner Regeln ebenso wie der Gesamtheit der Regeln in ihrem Zusammenwirken - mit der zugrundeliegenden Ordnungsidee offensichtlich eine ausschlaggebene Rolle. Die Gestaltung dieser Regeln wird traditionell als Ordnungspolitik bezeichnet. Was die normative Ökonomik dagegen meist in den Mittelpunkt rückt, das sind die Interventionen i m Sinne fallweiser, mehr oder minder diskretionärer hoheitlicher Eingriffe in gesellschaftliche Prozesse - wobei in der Ökonomie in erster Linie die Wirtschaftsprozeßpolitik interessiert. In jüngerer Zeit wurde die Schwerpunktsetzung auf Interventionen mit Blick auf die Schwierigkeiten der condicio humana einerseits und die notwendige Kontrolle der politischen Entscheider andererseits häufig kritisiert. Eine Besinnung auf die normativen Fundamente der Sozialwissenschaften, wie sie mit dieser Kurztagung angestrebt wird, wird dieser Kritik ein Stück weit gerecht, selbst wenn es nicht vordringlich um ordnungspolitische Fragen i m oben dargelegten Sinne, sondern zuvorderst um die Ebenen der ethischen und der Ordnungsprinzipien gehen wird.
D. Bestimmung des Guten (Lebens) I. Gutes Leben und Moral Der nächste Schritt soll darin bestehen, einen Überblick über die verschiedenen Konzeptionen darüber zu geben, wie sich die Begriffe des Guten und des Guten Lebens für die normative Sozialwissenschaft inhaltlich füllen lassen. Nimmt man dazu Anleihen bei der Philosophie auf, so stößt man rasch auf eine traditionelle Differenzierung zwischen Moral und Gutem Leben. 2 0 Zumindest für einen Ökonomen mutet diese ein wenig seltsam an, ist man doch vom Herkommen her Konsequentialist, für den der Unterschied tendenziell schwindet (um im klassischen Utilitarismus völlig unterzugehen). Selbst wenn man den Konsequentialismus ablehnt und deshalb auf der Differenzierung bestehen will, muß man sich jedoch die Frage gefallen lassen, welchen materiellen Unterschied es macht, ob man ein absolutes Ziel unmittelbar (als Pflicht in der deontischen Ethik etc.) einführt oder aber einen formal individualistischen Umweg wählt, bei dem vordergründig nur das Wohler18
Für ein mögliches Begriffssystem siehe Beckmann (1998, Kap. 1).
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Klare Hinweise auf die Bedeutung der informalen Regeln in diesem Zusammenhang liefert Ellickson (1991). 20
Siehe dazu den Beitrag Peter Schabers in diesem Band.
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gehen der Menschen eine Rolle spielt, aber durch eine objektivistische Konzeption des Guten Lebens vorgegeben wird, was die Menschen wollen sollen - das absolute Ziel nämlich. Vielleicht ist es die Erfahrung mit dem grassierenden Paternalismus in der paretianischen Wohlfahrtsökonomik, die einen die Vorgabe „richtiger" bzw. „ethischer" Präferenzen oder einer „objektivierten" Vorstellung des Guten Lebens nur als absolute Moral in anderem Gewände empfinden läßt. Zudem kennt man in der Ökonomik schon seit langem individuelle Nutzenfunktionen, die nicht nur - oder gar überhaupt nicht - den eigenen Wohlstand, sondern auch das Wohlergehen anderer und Vorstellungen über absolute Ziele enthalten. Solche individuellen Wohlfahrtsfunktionen, die in das ordnungstheoretische Kalkül entscheidend eingehen, 21 müssen sich formal nicht notwendig von einer sozialen Zielfunktion unterscheiden, wie sie sich zur Verkörperung einer deontischen Ethik aufstellen läßt. 2 2 Damit bedarf man a fortiori einer Trennung von Gutem Leben und Moral auch nicht mehr, wenn man individuelles Wohlergehen als einen Wert neben anderen ethisch gelten lassen will. Letztenendes scheint uns die Ent-Individualisierung der Moral durch diese Differenzierung als Formalismus - noch dazu als Formalismus, der von einer wesentlichen Frage ablenkt: Wie soll sich ein absolutes (ent-individualisiertes) Ziel in dieser Welt Geltung verschaffen, wenn kein handelndes Wesen es sich zu eigen macht? Wir wollen also frech sein und den Unterschied von Moral und Gutem Leben im folgenden ignorieren; dazu schreiben wir „das Gute (Leben?)" als Oberbegriff. Eine mögliche Klassifikation verschiedener Konzeptionen von diesem Guten (Leben?) präsentieren wir im nachfolgenden Unterabschnitt 2; dabei entsprechen die Kategorien a und b (Wohlstand und individuelle Wohlfahrt) ungefähr dem, was üblicherweise als Gutes Leben verstanden wird. Durch den Ubergang zu dieser Systematik geht nach unserer Uberzeugung zumindest für den normativen Ökonomen nichts von Bedeutung verloren, während durch einen vorübergehenden Wechsel der Perspektive womöglich etwas gewonnen werden kann.
II. Dimensionen der Frage nach dem Guten (Leben?) aus ökonomischer Sicht U m den bisher inhaltslosen Begriff des Guten (Lebens?) füllen zu können, ist es erforderlich, eine Antwort auf zwei grundsätzliche Fragen zu finden: Erstens wer bestimmt, was Gutes (Leben?) ist und zweitens wie erkennt man, was Gutes (Le-
21 Siehe etwa Harsanyi (1955, 1978). 22 Immer gesetzt den Fall, daß eine Abbildung in funktionaler Form überhaupt möglich sei (und das ethische System daher keine Inkommensurabilitäten und internen Widersprüche aufweist). Dieser Einwand trifft die Bildung einer individuellen Zielfunktion jedoch in analoger Weise und stellt damit keinen Grund für eine Trennung des Guten vom Guten Leben dar.
Das normative Problem in den Sozialwissenschaften
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ben?) ist. Es sollen nun im folgenden - um die Unterschiede der in der Literatur vertretenen Antwortversuche besonders gut herausarbeiten zu können - die jeweiligen Extrempositionen unter den Antwortversuchen auf beide Grundsatzfragen dargestellt werden, die wiederum ein weites Feld von anderen Antwortversuchen aufspannen, die mehr oder weniger Elemente der Extreme beinhalten oder versuchen, beide miteinander zu verbinden.
Wie erkennt man, was Gutes Leben ist?
Wer bestimmt, was Gutes Leben ist? Dimensionen der Frage nach dem Guten (Leben?)
Als antagonistische Ansätze in bezug auf die erste Frage „Wer bestimmt, was Gutes (Leben?) ist?" stehen sich individualistische und kollektivistische Konzeptionen gegenüber. Individualistische Ansätze - wie bestimmte Formen des Utilitarismus 2 3 - gehen davon aus, daß alleine die subjektiven Werte und Ziele von Individuen das Gute bei der ethischen Bewertung von Handlungen und Zuständen bestimmen (operationalisierbar in einer individuellen Nutzenfunktion). Man bezeichnet den individualistischen Ansatz deshalb auch als Wertsubjektivismus. Kollektivistische Ansätze - wie beispielsweise der Kommunitarismus - hingegen setzen die Existenz von gemeinsamen objektiven - das heißt: von den Werturteilen der Individuen unabhängigen - Werten einer Gemeinschaft voraus (operationali23 Zu klären bleibt aber noch, ob der Individualismus des Utilitarimus nicht ein bloß formaler ist, in dem Personen als reine „Gefäße für Nutzen" angesehen werden (siehe unten) und es auf die individuellen Identitäten nicht ankommt. Ein materieller Individualismus könnte dagegen die Einzigartigkeit der Existenz eines jeden Menschen respektieren und betonen, wie es der jüngere Nozick (1974) tut. Siehe die Hinweise zum Problem potentieller Personen weiter unten.
2 Laufhiitte/Liideke
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Klaus Beckmann, Carsten Geyer und Felix Hauser
sierbar in einer gesamtgesellschaftlichen Nutzenixmkùon). Da ein objektiver Wert sich aber nur über das Handeln von Individuen auswirken kann, müßte der objektive Wert dann folglich stets auch Bestandteil des Denkens sämtlicher (der ausschlaggebenden) Individuen sein. Die Existenz objektiver Werte wird seitens des Individualismus aber strikt verneint, so daß Ziele von Personenmehrheiten nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar über die Ziele der einzelnen Mitglieder einer Personenmehrheit eingehen, wenn sämtliche (die ausschlaggebenden) Individuen diese Ziele akzeptieren. In Bezug auf die zweite Frage „Wie erkennt man, was Gut (es Leben?) ist?" stehen sich deontische und empirische bzw. konsequentialistische Konzeptionen gegenüber. Die deontischen Ansätze rücken die ethischen Pflichten des Menschen in den Mittelpunkt moralischer Erwägungen. Etwas lose formuliert ist ihnen gemein, daß sie normative Aussagen aus absoluten Wertaxiomen herleiten, für die gelegentlich eine - ebenso absolute - Letztbegründung offeriert w i r d . 2 4 Empirische Ansätze konkretisieren den Begriff des Guten anhand der tatsächlich beobachtbaren - und damit zumindest i m Grundsatz empirisch überprüfbaren verfolgten Zielen des Individuums bzw. Kollektivs. Konsequentialistische Konzeptionen - insbesondere der Utilitarismus - bewerten Handlungen alleine anhand ihres Ergebnisses (Konsequenzen). 25 Nachdem wir zwei wesentliche Dimensionen der Frage nach dem Guten (Leben?) beschrieben haben, liegt es nahe zu prüfen, welche Konzeptionen des Guten (Lebens?) wir vor diesem Hintergrund entwickeln und unterscheiden können. Dabei ergeben sich letztlich die folgenden fünf Gruppen von Möglichkeiten:
1. Wohlstand Zunächst können wir unter gutem Leben schlicht Wohlleben verstehen, also die Befriedigung von in engerem Sinne „ökonomischen" Bedürfnissen nach Gütern und Diensten. Die Definition des Guten Lebens erfolgt in diesem Fall rein empirisch und individualistisch - auf der Grundlage der tatsächlichen Konsumpräferenzen der Einzelnen. Für viele mag diese Vorstellung einen Hautgout haben. Gleichwohl hat sie wenn nicht alleine, so doch als Komponente anderer ethischer Vorstellungen eine gewisse instrumentale Bedeutung, da beispielsweise oft behauptet wird, eine gewisse Ausstattung mit „Grundgütern" sei Voraussetzung für eine (erwünschte, der Verwirklichung des „wahren Menschen" dienende) Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben. 2 6
24 Eine andere Rechtfertigung der Axiome besteht darin, daß sie offensichtlich seien oder sich ihnen jeder Mensch bei hinreichendem Nachdenken anschließen müßte. A u f Probleme, die mit einer solchen kognitivistischen Haltung verbunden sein können, kommen wir in Unterabschnitt I I L 2 noch zu sprechen. 25 Verwandt ist die Unterscheidung ergebnisbasierter und prozeduraler Kriterien in der Social choice- Theorie. W i r können darauf hier nicht weiter eingehen und verweisen auf Sen (1995).
Das normative Problem in den Sozialwissenschaften
2. Individuelle
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Wohlfahrt
Diese Vorstellung unterscheidet sich von der Vorgenannten i m Menschenbild, das man zugrundelegt. Neben dem eigenen Konsum stiften hier möglicherweise auch die Wohlfahrt anderer (Altruismus), die Einhaltung von Normen (Moral) sowie die Beschaffenheit der Gesellschaft und Verwirklichung bestimmter normativer Konzepte (Ideologie) einem Individuum Nutzen. Dazu wird der Begriff eines „Guts" nun bewußt weit gefaßt und schließt etwa die Freude an Erkenntnis, an der Kontemplation des Schönen ein. Offensichtlich ist auch diese Konzeption grundsätzlich individualistisch. Allerdings wird gelegentlich verlangt, nicht die tatsächlichen Ziele und Wünsche der Individuen zugrundezulegen, sondern diejenigen, die sie bei längerem Nachdenken oder einer „richtigen" Persönlichkeitsentwicklung, mitunter gar in einer hypothetischen Entscheidungssituation hätten. Wer dies fordert, bewegt sich auf den Pol einer deontischen Bestimmung des Guten (Lebens?) z u . 2 7
3. Soziale Wohlfahrt Versteht man soziale Wohlfahrt schlicht als die Gesamtheit der Oberziele, die in einer Gesellschaft verfolgt werden (sollten), so läßt sich unter dieser Kategorie jedes beliebige ethische Prinzip subsumieren. Meist verengt man indes die Vorstellung von sozialer Wohlfahrt auf ein Aggregat der individuellen Wohlfahrten im Sinne der Konzeptionen a) oder b) („Welfarismus"), wobei verschiedene Verfahren der Aggregation denkbar sind. Bekanntlich existiert kein befriedigendes Verfahren, rein ordinale individuelle Präferenzen zu einer ordinalen gesellschaftlichen Präferenzordnung zusammenzufassen. 28 Erlaubt man dagegen kardinale Wohlfahrtsvergleiche, so läßt sich die soziale Wohlfahrt welfaristisch als funktionale Verknüpfung der individuellen Wohlfahrten darstellen. Beispielsweise führt die Wahl der einfachen Summe dieser Wohlfahrten zum Utilitarismus - bezogen auf die einzelnen Handlungen als Handlungsutilitarismus, bei dem eine Tat ethisch gut ist, wenn sie die Wohlfahrt aller (größtmöglich) erhöht, bezogen auf allgemeine und dauerhafte Institutionen und Normen als Regelutilitarismus, nach dem eine Vorschrift ethisch gut ist, wenn sie die Wohlfahrt eines zufällig herausgegriffenen Indivi26 Rawls (197 Ì). 27 Dessen ungeachtet werden die Gewichte, die die Menschen ihren verschiedenen Zielen beimessen, j e nach tatsächlicher Entscheidungssituation sich unterscheiden. Das konstitutionelle Interesse kann also vom innerperiodischen Interesse divergieren, und es vollzieht noch keinen Schritt in deontische Richtung, wer das - empirisch beobachtete - konstitutionelle statt des innerperiodischen Interesses zugrundelegt. 28 Das ist der Kern von Arrows „Unmöglichkeitstheorem" (Craven 1992). Strenggenommen darf nicht überraschen, daß die Konstruktion gesellschaftlicher Präferenzen auf der Grundlage des methodischen Individualismus, der die Existenz (oder Beachtlichkeit) solcher Präferenzen negiert, auf Schwierigkeiten stoßen muß.
2=
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duums auf Dauer (bestmöglich) erhöht. 2 9 Wird das Individualverhalten - und nicht nur kollektive Maßnahmen - an diesen Kriterien gemessen (e.g. gefragt, ob meine Tat die Nutzensumme in der Gesellschaft erhöht), so besteht eine enge Verwandtschaft zu der christlichen Forderung, „den Nächsten so zu lieben wie sich selbst" und zur kantischen Forderung, Menschen stets auch als Zweck, nie nur als Mittel zu betrachten.
4. Pflichterfüllung Eine konzeptionell grundverschiedene Herangehensweise besteht darin, das Leben eines Individuums daran zu messen, inwieweit es bestimmten absoluten Normen genügt. Solche Normen werden im allgemeinen deontisch begründet, und sie orientieren sich oft am Kollektiv statt am Individuum. In diesen Fällen besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen pflichtbasierten und wohlfahrtsbasierten Ansätzen. 3 0 Doch dies ist nicht notwendig so - immerhin kann zur Pflicht erklärt werden, durch das eigene Handeln den allgemeinen Nutzen (bzw. die soziale Wohlfahrt in irgendeiner Form) zu mehren. Besteht die - einzige, zentrale - Pflicht in irgendeiner Form des „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst'4, ist die Pflicht also letztlich individualistisch orientiert, so verschwimmt der Unterschied zwischen den auf den ersten Blick inkompatiblen Kategorien c) und d).
29 Daß dabei grundsätzlich auf künftige Menschen (Lebewesen?) zu berücksichtigen sind, ist unstrittig. Problematisch erscheint, inwiefern dies auch für potentielle Personen gelten soll, die infolge der betrachteten Handlungen/Regeln entstehen (oder gerade nicht). 30
Ein klassisches Argument in diesem Zusammenhang ist die Unvereinbarkeit des ParetoKriteriums - als eines Kerns des Welfarismus - mit absoluten Zielen, also auch dem Grad der Pflichterfüllung. Das Pareto-Prinzip verlangt in seiner schwachen Variante, daß eine Situation A , die alle Individuen gegenüber Situation Β präferieren (in der die individuelle Wohlfahrt aller im Sinne von (i) oder (ii) größer ist), auch gesellschaftlich Β vorgezogen wird. Betrachten wir zur Illustration des Widerspruchs eine Zwei-Personen-Gesellschaft, bestehend aus Xaver und Yasmine. In dieser Gesellschaft werde das Pareto-Kriterium beachtet, und zugleich werde individuelles Verhalten pflichtethisch an einer absoluten Norm gemessen. Diese Gesellschaft verfolgt prima facie drei Ziele: Xavers Wohlfahrt, Yasmines Wohlfahrt und die pflichtethische Norm. Nun kann man jederzeit ein Beispiel konstruieren, in dem der ordinale Nutzenindex (als Maß der individuellen Wohlfahrt) beider Personen in Situation A Zwei, in Situation Β Eins beträgt, während sowohl Xaver und Yasmine in Β ihre Pflicht vollkommen erfüllen, diese in Situation A sträflich vernachlässigen. Das Pareto-Kriterium erzwingt die Wahl von A , also eine Gewichtung des absoluten Ziels mit Null. Dieser Zielkonflikt zwischen einer strikten Geltung des Pareto-Kriteriums und absoluten Normen kann nur insoweit aufgelöst werden, als die Individuen die Norm internalisieren. Für eine formale Darstellung siehe den Beitrag von Beckmann in diesem Band.
Das normative Problem in den Sozialwissenschaften
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5. Ausleben und Achten von Rechten Eng verwandt mit d) sind Moraltheorien, die statt individueller Pflichten Rechte in den Mittelpunkt rücken. 3 1 Wiederum kann man Rechte grundsätzlich völlig unabhängig von den Konsequenzen (deontisch), aber auch empirisch-konsequentialistisch fundieren. Typisch für die zweite Möglichkeit ist die (regel-) utilitaristische Begründung individueller Freiheits- und Bürgerrechte: Diese mögen zwar für sich genommen „Nonsens auf Stelzen" (Bentham) darstellen, weil sie als absolute Normen mit der Maximierung der sozialen Wohlfahrt konfligieren; solange sich aber zeigen läßt, daß die Beachtung bestimmter Individualrechte im Durchschnitt und langfristig die Wohlfahrt steigert, existiert eine instrumentale Begründung für solche Rechte. 3 2 Offenkundig muß die Gestaltung der Rechte hier dem Wohlfahrtsziel folgen. 3 3 Damit erscheint das Terrain für die Debatte um das Gute Leben aus ökonomischer Sicht arrondiert. Der naheliegende nächste Schritt besteht darin, einige wesentliche Stolpersteine zu beschreiben, auf die treffen kann, wer sich auf diesem Feld bewegt.
III. Eine Auswahl von Stolpersteinen 1. Quasi-Objektivität des Wertsubjektivismus: ein Epimenides-Paradox? Wertsubjektivismus bzw. der methodische Individualismus normativer Präg u n g 3 4 negieren die Existenz oder aber die moralischer Kraft absoluter, objektiver Werte. Aber woher kommt dieser Satz? Er wird letzten Endes als Wertaxiom eingeführt, ist also methodisch gesehen zumindest quasi-objektiver Natur. Wenn man so will, verneint das absolute Kriterium des Wertsubjektivismus die Gültigkeit absoluter Kriterien. 3 5 Gilt es nun - oder gilt es nicht? 3 6 31
Offensichtlich lassen sich Rechte und Pflichten in einer Moraltheorie auch verbinden so wie beispielsweise einige liberale Philosophien Bürgerrechte mit Bürgerpflichten verknüpfen (Pinzarli (2000)). 32 Posner (1981, S. 56) formuliert dies schön plastisch: „ I f happiness is maximized by allowing people to own property, marry as they choose, change jobs, and so on, then the utilitarian w i l l grant them the rights to these things, but i f happiness can be increased by treating people more like sheep, then rights are out of the window." Ο brave new world, that has such people in it. 33 Dies ist ein zentraler Strang der Neuen Institutionenökonomik und der Ökonomie des Rechts. Für einen Überblick siehe Richter und Furubotn (1996). 3 3
4 Arrow (1994, S. 1-2); Udehn (1996, S. 165-166).
5 Das Epimenides-Paradox ist der Urahn logischer Paradoxa, die auf der Selbstbezüglichkeit beruhen: Epimenides der Kreter sagt: „ A l l e Kreter sind Lügner." Lügt er? (Nebenbei sei dem Leser folgende kompliziertere Version anempfohlen (Smullyan, 1978): „ I f this sentence is true, then I am Dracula.").
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2. Potentielle Personen und endogene Präferenzen als Kernprobleme des Utilitarismus Der Utilitarismus als individualistische und konsequentialistische Konzeption besagt in seiner einfachen Form, daß aus einer Alternativenmenge diejenige Handlung durchzuführen ist, welche die Summe der individuellen Nutzen auf Basis der individuellen Nutzenfunktionen der Individuen maximiert. Aus dieser Definition wird schon ersichtlich, daß sich erstens i m Zusammenhang mit dem einzubeziehenden Personenkreis (Die Nutzenfunktion welcher Individuen ist zu berücksichtigen?) und zweitens der Endogenität der Präferenzen (Annahmen über Gestalt und Argumente der individuellen Nutzenfunktion) Problemfelder auftun. Da Entscheidungen in der Gegenwart oft auch Auswirkungen auf die Zukunft haben, wird die Wohlfahrt künftiger Generationen grundsätzlich in die Berechnung der Nutzensumme („felicific calculus ( yw)i (xwJg), C^g^g)· Gibbards Bedingung ( L + ) verlangt, daß eine Präferenz von Frau X über zwei Zuständen dann kollektiv durchschlägt, wenn sich diese Zustände nur hinsichtlich der Farbe ihrer Schlafzimmerwände unterscheiden (Entsprechendes gilt für Herrn Y). Nehmen wir weiter an, daß die Präferenzen der beiden auf der Grundlage folgender Überlegungen zustandegekommen sind. X ist eine Nonkonformistin, und ihr höchster Wunsch ist es, eine andere Wandfarbe zu haben als Y. Sie hat, zweitens, einen untergeordneten Wunsch, eher gelbe als weiße Wände zu haben. Demnach: X:
UGJw) > UWJG) > C*GO>G) > (xw,yw)
Herr Y hingegen ist ein Konformist. A m liebsten wäre es ihm, würden seine Schlafzimmerwände dieselbe Farbe haben wie die von Frau X . Bei gleichbleibenden Randbedingungen jedoch zieht auch er gelbe gegenüber weißen Wänden vor. Daher: Y
C*gJg) > (xw,yw) > (xw,yc) > (*c,yw)
Die Situation kann übersichtlich durch ein Schaubild dargestellt werden, wie es Abbildung 1 zeigt. Die Wandfarbe des Schlafzimmers von X wird durch die 20 Gibbard (1914, S. 389). 21 Die Grundzüge des Beispiels entnehme ich Gibbard (1974, S. 392 f.).
Individuelle Freiheit und soziale Wohlfahrt
151
,x-Koordinate' wiedergegeben, die von Y durch die ,y-Koordinate'. Bedingung ( L + ) fordert, daß X ,entlang der x-Achse' und Y,entlang der y-Achse' entscheidend ist. Die relevanten individuellen Präferenzen sind ebenfalls in die graphische Darstellung aufgenommen.
yg
(xw,yc) >χ Ay
yw
(xw,yw) (xwJg) > (*G,yw) > (Xw,yw)
Herrn Ys höchster Wunsch hingegen ist es, die Schlafzimmerwände von Frau X weiß zu sehen, während er es, bei sonst gleichen Bedingungen, vorziehen würde, selbst weiße Schlafzimmerwände zu haben:
Y:
23
(x w,y w) > (x\v,yc) > (xgJw) > (-xgJg) ·
Eine formale Fassung der hier ( L + + ) genannten Bedingung und eine technische Analyse finden sich bei Gibbard (1974, S. 393 ff.).
Individuelle Freiheit und soziale Wohlfahrt
153
Betrachten wir wiederum eine graphische Darstellung der Situation:
yc
(•Xw,yc)
(xw>yw)-
W i r d ( L + + ) auf die Präferen-
zen von Y angewandt, so ergibt sich für die kollektive Präferenz (*w>yw)
> (- x w^g)
(xG,yw) > (xg^g)'
zusätzlich
Daher sollte der Zustand (xc,yw) gemäß
der Bedingung ( L + + ) in der kollektiven Präferenz am höchsten rangieren. Dieser Zustand wird jedoch durch (xw^g) Pareto-dominiert, da sowohl X als auch Y den Zustand (xw^g) gegenüber (x G,yw) vorziehen. W i r erhalten also ein zu Sens Theorem analoges Ergebnis: ( L + + ) ist nicht mit (P) vereinbar.
D. Kollektive Entscheidungsverfahren oder Konzeptionen sozialer Wohlfahrt? Die i m vorstehenden Abschnitt durchgeführte Analyse hat in der Hauptsache zweierlei gezeigt: Erstens konnte mit dem Nachweis der Unerfüllbarkeit von ( L + ) der Senschen Bedingung (L) eine wichtige intuitive Grundlage entzogen werden. Zweitens ergibt sich für die modifizierte Bedingung ( L + + ) ein Resultat, das dem ursprünglichen Ergebnis von Sen entspricht. In diesem Abschnitt nehme ich den zweiten der zu Beginn von Abschnitt C genannten Einwände gegen die Angemessenheit von (L) auf. Das M o n i t u m war dies: Es ist kontraintuitiv, die Idee individueller Freiheit mit Eigenschaften eines kollektiven Entscheidungsverfahrens (wie etwa der Mehrheitsregel) in Verbindung zu bringen. Vielmehr scheint es doch so zu sein, daß zunächst Freiheitsspielräumen Rechnung getragen werden muß, und erst hernach ist es sinnvoll, ein kollektives Entscheidungsverfahren anzuwenden - gewissermaßen in demjenigen Bereich, den die gewährten Freiheitsspielräume überhaupt noch für die kollektive Entschei-
154
Thomas Schmidt
dung übriglassen. Daher, so der Einwand weiter, beruht die Idee, Liberalitätsbedingungen und das Pareto-Prinzip simultan auf eine SWF anzuwenden, auf einem Mißverständnis dessen, worum es bei der Zuweisung von Freiheitsspielräumen geht. 2 4 U m diesem Problem zu entgehen, unterscheidet Sen zwei unterschiedliche Interpretationen des Konzepts einer SWF sowie der kollektiven Präferenzordnung, die eine SWF liefert: There is [ . . . ] a problem of interpretation of a social ordering. It can be taken either to be purely a mechanism for choice, or as reflecting a view of social welfare. 25 Der zur Diskussion stehende Einwand trifft, wenn die erste Interpretation zugrundegelegt wird. Betrachtet man ein kollektives Entscheidungsverfahren wie etwa eine Form der Mehrheitsregel, so wäre in der Tat die Forderung eigentümlich, daß diese Regel irgendeine der Bedingungen (L), ( L + ) oder ( L + + ) zu erfüllen habe. Aus diesem Grunde schlägt Sen vor, die SWF, wie sie im Liberalen Paradox vorkommt, nicht als ein Entscheidungsverfahren, sondern vielmehr als eine Repräsentation einer Konzeption sozialer Wohlfahrt zu verstehen. Eine SWF hat man sich i m zur Diskussion stehenden Kontext nicht als ein Modell dessen vorzustellen, was bei einem kollektiven Entscheidungsprozeß geschieht. Sen zufolge soll sie vielmehr als Ausdruck einer normativen Auffassung darüber verstanden werden, auf welche Weise kollektive mit individuellen Präferenzen zusammenhängen - unabhängig davon, wie der Entscheidungsprozeß konkret abläuft. A u f analoge Weise scheint man auf einen von James Buchanan formulierten Einwand reagieren zu können. 2 6 Buchanan konfrontiert seine Leser mit einer Situation, in der zwei Personen, 1 und 2, vier möglichen Optionen gegenüberstehen. Er argumentiert, daß die Annahme, daß 1 entscheidend mit Bezug auf das Paar χ und y ist, mit der Tatsache unverträglich ist, daß 2 mit Bezug auf irgendein anderes Zustandspaar entscheidend ist (sagen wir, ζ und w). Buchanan zufolge ist dies der Fall, da „ [ . . . ] the choice of either χ or y by Person 1 will, in fact, preclude any exercise of choice between ζ and w by Person 2, and vice versa." 2 7 Eine dem oben genannten Manöver von Sen entsprechende Reaktion auf Buchanans Einwand ist diese: Der Begriff entscheidend sein', wie er in Sens Version des Liberalen Paradoxes vorkommt, hat streng genommen nichts mit Entscheidungen zu tun. Liberalität betrifft Sens Verständnis gemäß in erster Linie das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Präferenzen. 28 24 Dieser Einwand bezieht sich auf alle Versuche, Liberalitätsbedingungen in einem sozialwahltheoretischen Rahmen zu formulieren. Er richtet sich entsprechend sowohl gegen Sens Variante des Liberalen Paradoxes als auch gegen die von Gibbard. 2 5 Sen (1976, S. 306). 26 Buchanan hat bereits im Jahre 1976 einen kurzen Text zu diesem Thema geschrieben, der jedoch erst im Jahre 1996 veröffentlicht wurde. 2 ? Buchanan (1996, S. 120).
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Individuelle Freiheit und soziale Wohlfahrt
Sowohl diese Antwort als auch Sens Reaktion auf das zuvor benannte Unbehagen sind unbefriedigend. A u f dem Spiel steht die begriffliche Angemessenheit von (L) insofern, als eine SWF, wird sie als eine Konzeption sozialer Wohlfahrt interpretiert, nichts damit zu tun hat, was Individuen tun können. Die sozialwahltheoretische Formulierung von Liberalitätsbedingungen scheint die begriffliche Verbindung zwischen Freiheit und Handlungen zu kappen. Dies ist kontraintuitiv: Ob ein Sozialzustand derart ist, daß in ihm individuelle Freiheiten gewährleistet sind, hängt auch davon ab, auf welche Weise er zustandegekommen ist. Und nicht nur mit der ,Geschichte' eines Sozialzustands hat das Freiheitsproblem etwas zu tun, sondern auch mit seiner ,Zukunft'. Nicht zuletzt sollen es Freiheitsspielräume Personen erlauben, gewisse Dinge tun zu können, und dieser Umstand scheint im sozial wahltheoretischen Ansatz nicht berücksichtigt werden zu können: Selbst wenn die starken Präferenzen eines Individuums über denjenigen Optionen, mit Bezug auf die es entscheidend ist, in der von (L) geforderten Weise die kollektive Präferenz bestimmen, heißt dies nicht, daß diese individuellen Präferenzen irgendetwas damit zu tun haben, was tatsächlich passieren wird. Die relevanten Zustände, obwohl sie präferentiell im Sinne der Präferenzen des entscheidenden Individuums angeordnet sein mögen, brauchen nicht an der höchsten Stelle der kollektiven Präferenzordnung zu rangieren. 29 Es zeigt sich, daß Sens Antwort auf den zweiten der in Abschnitt C genannten Einwände die Problematik des dritten Einwands, der auf die Notwendigkeit verweist, Freiheit mit Entscheidungsfreiheit zu verbinden, umso schärfer hervortreten läßt.
E. Die Individuierung sozialer Zustände Sen ist der Meinung, daß er auf das genannte Problem zu reagieren in der Lage ist. Sein Manöver besteht darin, die Beschreibung der relevanten Sozialzustände derart anzureichern - bzw., abstrakter formuliert, die Zustände so fein zu individuieren - , daß Informationen über ihr Zustandekommen in ihre Beschreibung aufgenommen werden können. In diesem Abschnitt suche ich zu zeigen, daß dieses Manöver zu begrifflichen Konfusionen führt. Das Problem, auf das ich hinweise, läßt sich allgemein so formulieren: Wenn man Dinge wie „ . . .und die Person wurde dazu gezwungen, das zu tun, was sie getan hat" in die Beschreibung eines Zustands aufnimmt, so macht es keinen Sinn mehr, Liberalitätsbedingungen wie die von Sen in Anschlag zu bringen, die mit Anforderungen an den Zusammmenhang von individuellen mit kollektiven Präferenzen zu tun haben. Wird die Beschreibung von Sozialzuständen angereichert, muß man sich vielmehr die Beschreibung dieser Zustände selbst ansehen, wenn man an der Aufdeckung etwaiger Freiheitsverletzungen interessiert ist.
28 29
In dieser Weise reagiert Breyer (1996, S. 150 f.) auf Buchanan. Zu diesem Problem siehe auch Bernholz (1974) und Gärdenfors
(1981, S. 343).
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Inwiefern Sens Versuch scheitert, seine Bedingung (L) auf Präferenzen über in der genannten Weise reichhaltig beschriebene Sozialzustände anzuwenden, läßt sich gut anhand einer Analyse von Sens Reaktion auf das folgende Beispiel von Nozick zeigen: If I have a right to choose to live in New York or in Massachusetts, and I choose Massachusetts, then alternatives involving my living in New York are not appropriate objects to be entered in a social ordering. 30 In seiner Diskussion dieses Beispiels gesteht Sen zunächst zu, daß es mitunter notwendig ist, die Art und Weise zu berücksichtigen, auf die bestimmte Sozialzustände herbeigeführt wurden: Condition L does focus on the end-state, and it may be important from a libertarian point of view to ensure not merely that the consequences corresponding to the desires of the persons in question take place, but also that these consequences are brought about in the right way. 31 Das Verfahren der Erweiterung der Zustandsbeschreibungen sieht Sen zufolge i m konkreten Fall von Nozicks Beispiel folgendermaßen aus: [ . . . ] it may not be sufficient to distinguish only between Nozick's remaining in Massachusetts (jc) and his not going to New York (y). Even though it may be known by everyone that Nozick would prefer to live in Massachusetts, it can be argued that an order served on him to stay in Massachusetts will be an infringement of his liberty. A distinction may be made between there being such an order and Nozick living in Massachusetts (jti), and there being no such order and Nozick living in Massachusetts (jc2). A libertarian may well prefer x 2 to X\, even though the order does not have any consequence on where Nozick lives, and the libertarian position would seem to include ,non-consequentialist' features [ . . . ] . This does not, however, contradict that a libertarian would find y, i. e., Nozick's living in New York (and in the case described, this can happen only if he is forced) be worse than both x\ and x 2. If y is the outcome, then it is sufficient ground for concluding that the libertarian principle [that is, condition (L). - T. S.] has been violated, and that is all that is needed for the ,impossibility of the Paretian Liberal'. There is no need to deny that libertarian ethics might also involve other elements as it incorporates, inter alia , Condition L [ . . . ] . 3 2 I m folgenden werde ich diesen Vorschlag von Sen analysieren, um den Nachweis zu erbringen, daß Bedingung (L) in dem zur Diskussion stehenden Kontext nichts zu suchen hat. Es sind drei Sozialzustände zu unterscheiden: X]
Nozick (im folgenden: N) lebt in Massachusetts und wurde hierzu gezwungen.
x2
Ν lebt in Massachusetts und wurde hierzu nicht gezwungen.
y
Ν lebt in New York.
30 Nozick (1974, S. 166). 31 Sen (1976, S. 307). 32 Sen (1976, S. 307 f., Kursivierung im Original).
Individuelle Freiheit und soziale Wohlfahrt
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A u f welche Weise könnte (L) in dieser Situation sinnvoll angewendet werden? Zunächst muß angenommen werden, daß es (mindestens) zwei betroffene Personen gibt. Eine davon ist natürlich Nozick (Ν), und ich gehe von der Anwesenheit einer weiteren Person aus, die M genannt werde. U m (L) auf die nun vorliegende Situation anwenden zu können, müssen wir uns nach Möglichkeiten umsehen, jedem der beiden je ein Paar von Zuständen zuzuweisen, mit Bezug auf das er entscheidend ist. Insbesondere ist zu fragen, mit Bezug auf welche Zustände M entscheidend sein könnte. Drei Zustandspaare kommen als Kandidaten für Ms Freiheitsspielraum in Betracht: (jcj ,λγ2), (x\,y), (X2,y)> Betrachten wir zunächst die beiden Paare, in denen x x vorkommt - der Zustand, in dem Nozick dazu gewungen wurde, in Massachusetts zu leben. Es scheint eine i m höchsten Grade illiberale Idee zu sein, M mit Bezug auf ein Paar von Zuständen entscheidend sein zu lassen, in dem es die Realisierung eines Zustands erfordert, Ν zum Leben in Massachusetts zu zwingen. Aus diesem Grunde sollte X\ nicht zu denjenigen Zuständen gehören, mit Bezug auf die M entscheidend ist. Damit bleibt die Möglichkeit, M entscheidend über x 2 und y sein zu lassen. Dies würde bedeuten, daß M die kollektive Präferenz x 2 > y erzwingen könnte. Weiter heißt dies, daß M den Zustand x 2 erzwingen könnte, wenn x\ aus dem einen oder anderen Grunde nicht verfügbar ist. Jedoch ist x^ (und nicht x 2) derjenige Zustand, in dem Nozick zum Leben in Massachusetts gezwungen wurde. Dies zeigt, daß die Anwendung von (L) auf die Situation zu begrifflichen Widersprüchen führt. Dieses Argument zeigt folgendes: Werden Sozialzustände über die Geschichte ihres Zustandekommens individuiert - und insbesondere darüber, ob illegitimer Zwang oder andere Formen von Freiheitsverletzungen in dieser Geschichte eine Rolle gespielt haben - , so führt es zu begrifflichen Verwirrungen, von einer SWF, die zu kollektiven Präferenzen über den derart individuierten Zuständen führt, zu fordern, daß sie Bedingung (L) erfüllt. Demnach hat Sen damit unrecht, daß [t]here is no need to deny that libertarian ethics might also involve other elements as long as it incorporates, inter alia, Condition L [ . . . ] . 3 3 Wie unschwer zu sehen ist, läßt sich ein analoges Argument auch gegen Gibbards Bedingung ( L + + ) entwickeln.
F. Freiheit, Wohlfahrt und das Liberale Paradox Die bisher vorgebrachten Argumente begründen Zweifel daran, daß mit (L) eine Liberalitätsbedingung vorliegt, welche in allen Situationen sinnvoll gefordert werden kann. Unabhängig davon scheint es Fälle zu geben, in denen (L) zumindest einen Teil der relevanten Facetten des Freiheitsbegriffs berührt. Die Lady-Chatter33 Sen (1976, S. 308).
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Thomas Schmidt
/^-Situation ist ein naheliegendes Beispiel. Inwiefern, so soll nun gefragt werden, ist der Konflikt zwischen (L) und (P) in diesem Beispiel so zu interpretieren, daß er auf eine grundlegende Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Wohlfahrt verweist? (Hier nochmals die zentralen Elemente des Beispiels: χ - Herr X liest das Buch; y - Herr Y liest es; ζ - niemand liest es. Die Präferenzen von X sind z> x > y, und die von Y sind χ > y > ζ .)· U m die genannte Frage genauer untersuchen zu können, sollte eine Differenzierung vorgenommen werden, die an die Argumentation des vorstehenden Abschnitts anknüpft. Betrachten wir zunächst den Fall, in dem die drei genannten Sozialzustände derart umfassend beschrieben sind, daß alle für die Bewertung der Situation relevanten Aspekte in den Beschreibungen der Zustände enthalten sind. Die Beschreibungen der Zustände i m Lady-Chatterley-Beispie\ müssen, um vollständig zu sein, erweitert werden um Angaben über die Art und Weise ihres Zustandekommens. Der Zustand χ etwa könnte beschrieben werden durch ,Herr X liest das Buch, und er wurde (ungeachtet seiner entgegenstehenden Präferenz) dazu gezwungen', oder durch ,Herr X liest das Buch aus freien Stücken - er könnte es auch beiseitelegen'. Unter der Voraussetzung, daß die Zustände in dieser Weise umfassend (d. h. in allen relevanten Hinsichten) beschrieben sind, ist es begrifflich unsinnig, (L) zu fordern, da (L) auf Aspekte der Situation verweist, die nicht bei der Beschreibung der Zustände berücksichtigt wurden - und solche Aspekte sind nach der Voraussetzung über die umfassende Beschreibung der Zustände nicht vorhanden. Dies ist der Kern der Schwierigkeit, auf die ich i m vorstehenden Abschnitt hingewiesen habe. Demnach gilt: Wenn die Zustandsbeschreibungen alle für die Bewertung der Situation relevanten Informationen enthalten, hat die Liberalitätsbedingung (L) keine Rolle zu spielen. Entsprechend ist Sens Theorem für derart beschriebene Situationen nicht relevant, und insbesondere verweist es auf keinen fundamentalen Konflikt zwischen Prinzipien der Liberalität und solchen der Wohlfahrt. Betrachten wir nun die Möglichkeit, Sozialzustände weniger feinkörnig zu individuieren, wie es wohl auch der ursprünglichen Idee des Lady-Chatterley-Beispiels entspricht. Unter dieser Annahme gibt es begrifflichen Raum für die Anwendung der Bedingung (L). Ist ein etwaiger Konflikt zwischen (L) und (P) ein Problem für eine wohlfahrtsorientierte Position, die sich dem Pareto-Prinzip verpflichtet weiß? Die folgenden Überlegungen zeigen, daß dem nicht so ist: Präferenzen über Zuständen, die grobkörniger individuiert sind, als sie es unter der zuvor diskutierten Beschreibung der Situation waren, enthalten aus eben diesem Grunde nicht alle Informationen, die für die Bewertung der Situation relevant sind. Daher ist eine Position, die soziale Wohlfahrt ausschließlich daran bemißt, inwieweit diesen Präferenzen Rechnung getragen wird, unplausibel: Nach Voraussetzung gibt es schließlich für die Bewertung der Situation relevante Aspekte, die i m Rahmen der individuellen Präferenzen nicht repräsentiert sind. Sofern Liberalitätsbedingungen wie Sens Forderung (L) sinnvoll angewendet werden können, ist nicht zu sehen, warum sich eine wohlfahrtsorientierte Konzeption der Möglichkeit entheben sollte, der Tatsa-
Individuelle Freiheit und soziale Wohlfahrt
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che Rechnung zu tragen, daß Einschränkungen individueller Freiheit ceteris paribus die Wohlfahrt einer Gesellschaft reduzieren. 34 Zusammenfassend: Eine dem Pareto-Prinzip verpflichtete Konzeption sozialer Wohlfahrt ist nur dann ein Kandidat für eine angemessene normative Theorie, wenn sie mit einem umfassenden Begriff individueller Präferenzen arbeitet. Dies jedoch setzt voraus, daß die Objekte der individuellen Präferenzen (die Sozialzustände) sehr feinkörnig individuiert werden, da nur auf diese Weise allen unter Umständen relevanten Aspekten der Situation Rechnung getragen werden kann. Eine derart feinkörnige Individuierung der Sozialzustände führt jedoch dazu, daß die mit Bedingung (L) erhobene Forderung begrifflich unsinnig ist. Daher stellt Sens Theorem kein Problem für eine wohlfahrtsorientierte Position dar. Dieses Ergebnis zeigt jedoch nicht, daß das Sensche Theorem irrelevant ist. Legen wir, um seinen Stellenwert einschätzen zu können, im folgenden die zweite, engere Interpretation des Begriffs der individuellen Präferenz zugrunde. Unter dieser Voraussetzung ist es immerhin möglich, daß die Respektierung von (L) zu einem Zustand führt, dem gegenüber eine Alternative von beiden Betroffenen ausweislich ihrer individuellen Präferenzen vorgezogen wird. Obgleich dies, wie oben dargestellt wurde, nicht als Einschränkung der sozialen Wohlfahrt angesehen werden muß, ist es grundsätzlich natürlich wünschenswert, einen Zustand herbeizuführen, der den Wünschen der Betroffenen in möglichst günstiger Weise gerecht wird. Insofern dem so ist, verweist Sens Theorem schlicht auf den möglichen Konflikt zweier ceteris paribus vernünftig erscheinender normativer Forderungen, von dem man sich mit Sinn fragen kann, wie mit ihm umgegangen werden sollte. Das Problem lautet also: Wenn eine Situation vorliegt, in der Sens Bedingungen plausible ceteris paribus -Forderungen darstellen - welches der Prinzipien hat dann dem anderen zu weichen? Die Mehrzahl der in der Literatur vorgeschlagenen Antworten auf diese Frage besagen, daß im Falle eines Konflikts zwischen (P) und (L) eines und stets dasselbe Prinzip aufgegeben werden sollte. Viele Autoren meinen, daß es die Präferenzstruktur der Situation alleine ist, die eine definitive Antwort ermöglicht - von Eigenschaften der betreffenden Situation, die nicht i m Rahmen der präferentiellen Struktur wiedergegeben werden können, soll abgesehen werden können. 3 5
34 Zwischen dieser Situation und der Auseinandersetzung zwischen Konsequentialismus und Deontologie in der Ethik gibt es eine interessante Parallele. Wird ein weiter Konsequenzenbegriff vorausgesetzt - dem gemäß Konsequenzen über alle diejenigen Aspekte individuiert werden, die von normativer Relevanz sein könnten - , so gibt es wenig begrifflichen Raum für eine deontologische Moralkonzeption, die mit dem so verstandenen Konsequentialismus konfligiert. Dies entspricht der ersten der beiden vorstehend genannten Optionen. Werden jedoch Konsequenzen relativ grobkörnig individuiert, so gibt es viel begrifflichen Raum für eine deontologische Alternative zum Konsequentialismus, und es verwundert nicht, daß Deontologie und Konsequentialismus unter dieser Interpretation konfligieren können. Das Problem der Trivialisierung des Konsequentialismus wird von einer Reihe von Autoren diskutiert, siehe z. B. Broome (1991, S. 3 ff.) und Nida-Rümelin (1993, S. 51).
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Dies ist jedoch unplausibel. Betrachten wir erneut das Lady-C hatter ley- Beispiel. Ist die Prüderie des Herrn X etwa religiös motiviert und würde es seine tiefen religiösen Gefühle in hohem Maße verletzen, läse Herr Y das Buch, so spricht etwas dafür, die Präferenz ζ > y von Herrn X zumindest in Betracht zu ziehen, obgleich er sich mit dieser Präferenz in Ys private Angelegenheiten einzumischen scheint. Nehmen wir jedoch an, daß die Präferenz ζ > y des Herrn X einfach daher rührt, daß er dem Y den Spaß an einer erneuten Lektüre des Buchs nicht gönnen mag, so ist es weniger naheliegend, diese Präferenz bei der Frage danach, was denn nun geschehen sollte, zu berücksichtigen. Dies zeigt, daß es keinen Grund für die Annahme gibt, der durch Sens Theorem aufgezeigte Konflikt könne ohne Hinzuziehung weitergehender Informationen aufgelöst werden. Nicht die Präferenzen der Betroffenen alleine, sondern auch die hinter den Präferenzen stehenden Gründe und Motive sind es, die in Betracht gezogen werden müssen, um entscheiden zu können, welches der konfligierenden Prinzipien in der jeweiligen Situation unberücksichtigt gelassen werden kann. Diese Einschätzung stimmt mit Sens Diagnose überein: To discuss whether a person's preference should count or not we may need to know more than what the preferences happen to be, e. g., the reasons for holding these preferences. 36 Es ist eine offene Frage, ob eine ,formal' zu nennende Lösung des Senschen Problems mit Bezug auf eine reichhaltigere formale Begrifflichkeit gefunden werden kann. In der Literatur gibt es einige Versuche, mit komplexeren Modellen zu arbeiten, auf die ich aus Platzgründen in diesem Aufsatz nicht eingehen kann. 3 7 Ich für meinen Teil bin von der Angemessenheit derartiger Modelle nicht überzeugt, und ich sehe keinen guten Grund für die ex ante-\Jberzeugung, daß man auf ein begrifflich klares und kriterial simples Modell dafür hoffen sollte, wie Situationen vom Typ des Liberalen Paradoxes zu lösen sind. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß das Argument dieses Abschnitts auch auf Gibbards Version des Liberalen Paradoxes angewendet werden kann. Auch im Wandfarben-Beispiel kann die Situationsbeschreibung auf unterschiedliche Weise angereichert werden, so daß es einmal angemessen scheint, auf die Pareto-Bedingung zu verzichten, während es ein andermal sinnvoll sein mag, die Liberalitätsforderung ( L + + ) fallenzulassen. 38 35 So wurde etwa behauptet, daß in Situationen von der Art des Lady Chatterley-Beispiels individuelle Präferenzen auftreten, die mit der Privatsphäre einer anderen Person interferieren, aus welchem Grunde derartige Präferenzen bei der Aggregation nicht berücksichtigt werden sollten - siehe ζ. B. Seidl (1975) und Blau (1975). Andere haben (L) unter Hinweis auf die intuitiv größere Attraktivität des Pareto-Prinzips attackiert - siehe ζ. B. Gibbard (1974) und Gaertner/Krüger (1981). Überblicke über unterschiedliche Lösungsversuche bieten Sen (1976), Sen (1983, insbes. S. 12 ff.) und Kern (1985). 36 Sen (1976, S. 315). 37 Beispiele für Versuche, die Informationsbasis über ordinale Präferenzen hinaus zu erweitern, sind die Arbeiten von Ν g (1971) und Blau (1975).
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G. Die Spielform-Analyse individueller Rechte In Abschnitt E wurde gezeigt, inwieweit der sozialwahltheoretische Ansatz der Formulierung von Liberalitätsbedingungen Schwierigkeiten hat, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß individuelle Freiheit etwas mit der Möglichkeit, sich zu entscheiden, zu tun hat. Auch die erneute Diskussion des Lady-Chatterley-Beispiels i m voranstehenden Abschnitt ist unter dem Vorbehalt zu lesen, daß nach wie vor ungeklärt ist - und wohl auch ungeklärt bleiben muß - inwieweit man die am Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Präferenzen orientierte sozialwahltheoretische Terminologie mit Aussagen darüber in Verbindung bringen kann, was die Individuen eigentlich tun bzw. tun können. Die Idee, daß es bei individueller Freiheit in erster Linie um die Möglichkeit individueller Entscheidungen geht und weniger um individuelle Wünsche und Präferenzen, ist der Ausgangspunkt des Spielform-Ansatzes (,game form-approach'). Im folgenden soll diese Konzeption in den Grundzügen vorgestellt werden, um eine Einschätzung darüber zu ermöglichen, inwieweit sie eine plausiblere Explikation eines minimalen Freiheitsbegriffs darstellt als sozialwahltheoretische Ansatze.
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Eine Spielform ist durch Informationen über die den beteiligten Akteuren (,Spieler') zur Verfügung stehenden Handlungen (,Strategien') und durch eine Beschreibung der Resultate gegeben, die sich bei unterschiedlichen Strategiekombinationen ergeben. Eine Spielform ist daher ein Spiel ohne Informationen über die individuellen Präferenzen (bzw. Auszahlungen). Werden Situationen sozialer Interaktion als Spielformen beschrieben, so hat man die Möglichkeit, zwischen physisch möglichen Strategien auf der einen Seite und Strategien, die zu wählen Freiheitsrechte erlauben, auf der anderen Seite zu unterscheiden. Freiheitsspielräume werden daher im Rahmen des Spielform-Ansatzes als Menge der individuellen Strategien in der relevanten Spielform aufgefaßt. 38
Gibbard selbst vertritt hingegen die Position, daß im Falle eines Konflikts zwischen ( L + + ) und der Pareto-Bedingung stets das Liberalitätsprinzip aufzugeben ist. Dieser Vorschlag wird durch die Idee gestützt, daß Individuen bereit sein sollten, ihre Rechte zu veräußern, sobald sich auf diese Weise eine Pareto-Verbesserung erzielen läßt - für Details siehe Gibbard (1974, S. 397 ff.); eine konzise Kritik an Gibbards Vorschlag haben Gaertner/Krüger (1981, S. 19) formuliert. Eines der Probleme, denen Gibbards Ansatz ausgesetzt ist, ist die Tatsache, daß Individuen ihre Präferenzen strategisch so manipulieren können, daß es möglich wird, (individuell) bessere Resultate zu erzielen (siehe Kami 1978). Einen der Gibbardschen Lösung ähnlichen Vorschlag haben Harel/Nitzan (1987) gemacht, für eine Kritik siehe Suzumura (1996, S. 26 f.). 39
Eine kurze Einführung in den Spielform-Ansatz (und eine Verteidigung) bringen Gaertner et al. (1992, S. 173 ff.). Der Spielform-Ansatz wurde bereits von Gärdenfors (1981) vorgeschlagen. Gärdenfors trägt eine spieltheoretische Analyse des Liberalen Paradoxes vor, die Nozicks oben zitierte Idee ausbeutet, jedoch nicht Gibbards Vorschlag nutzt, Sozialzustände als aus Aspekten zusammengesetzt zu verstehen. Neuere wichtige Beiträge zum Ausbau des Spielform-Ansatzes sind Sugden (1985, 1993). 11 Laufhütte/Lüdeke
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Der wichtigste Unterschied zwischen dem spiel- und dem sozialwahltheoretischen Ansatz besteht darin, daß ersterer ohne jeden Bezug zu individuellen Präferenzen auskommt. Unter der spieltheoretischen Interpretation hat Freiheit nichts mit Zuständen und Präferenzen über Zuständen zu tun, sondern ausschließlich etwas mit der Struktur der Interaktionssituation und den Handlungen, die den Akteuren zur Verfügung stehen. U m den abstrakten Begriff einer Spielform mit Inhalt zu füllen, soll nun gezeigt werden, wie das Wandfarben-Beispiel als Spielform aufgefaßt werden kann. Wie oben gibt es vier mögliche Zustände, die nun als mögliche Resultate des Zusammenspiels individueller Entscheidungen interpretiert werden: Frau X hat sich zwischen den Optionen jc^ und x G zu entscheiden, und Herr Y hat die Wahl zwischen y vi/ und y G. Die Spielform der Situation ist der in den Abbildungen 1 und 2 angegebenen Darstellung sehr ähnlich: Tabelle 1 Das Wandfarben-Beispiel als Spielform 40 X\v )>G
(*w,yc)
(xgJG)
(*w>yw)
(x&yw)
Spieltheoretisch können die beiden in Abschnitt C diskutierten Unmöglichkeitsresultate von Gibbard auf kanonische Weise interpretiert werden. Die erste Präferenzstruktur X:
(x&yw) > (xwJg) > UcJc) > (*w>yw)
Y:
Cx&yc) > (X\v,yw)
> (Xw,yc)
> (xgJw)
hat gezeigt, daß ( L + ) nicht erfüllbar ist. Interpretiert man die Situation mit diesen Präferenzen als ein Spiel, so läuft Gibbards Resultat auf die Aussage hinaus, daß es Spiele ohne Nash-Gleichgewichte in reinen Strategien gibt. 4 1 Die zweite Präferenzstruktur X:
ÌxgJg) > (•*w>yc) > (xgJw) > (·Xw,yw)
Y:
(xw>yw) > UwJc) > (*G,yw) > (xgJG)
40 Um die Parallele zwischen der Darstellung des Wandfarben-Beispiels in den Abbildungen 1 und 2 und der spieltheoretischen Modellierung deutlich hervortreten zu lassen, wurde die Notation gegenüber der in der Standardspieltheorie üblichen leicht modifiziert: Der jeweils zweite Eintrag in den Feldern der Matrix gibt die entsprechende Ze//ewstrategie wieder.
Siehe zu dieser Parallele auch Kliemt (1996, S. 17).
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wurde eingeführt, um zu zeigen, daß ( L + + ) mit dem Pareto-Prinzip unvereinbar ist. Spieltheoretisch reformuliert ist dieses Resultat äquivalent zu der Aussage, daß es Spiele mit Pareto-ineffizienten Nash-Gleichgewichten in reinen Strategien gibt. Tatsächlich führt diese zweite Präferenzstruktur zu einer Situation vom Typ des Gefangenendilemmas, dem Standardbeispiel für ein Spiel mit einem Nash-Gleichgewicht, das durch ein anderes Ergebnis (welches kein Gleichgewicht ist) Paretodominiert w i r d . 4 2 Gibt der Spielform-Ansatz einen angemesseneren begrifflichen Rahmen ab, um den Begriff individueller Freiheit zu präzisieren? 43 Ganz offensichtlich hat der Spielform-Ansatz den Vorzug, die Idee der Freiheit mit dem Begriff individueller Handlungen zu verbinden. Freiheit hat dem Spielform-Ansatz gemäß etwas damit zu tun, wie Zustände herbeigeführt werden und auf welche Weise die jeweiligen Akteure handeln können. Die Spielform-Analyse nimmt demnach den elementaren Gedanken auf, daß es bei individueller Freiheit in erster Linie darum geht, sich zwischen unterschiedlichen Handlungen entscheiden zu können. Sie läuft letztlich auf die Behauptung hinaus, daß die Aussage ,X hat ein Recht, h zu tun 4 zu der Aussage ,/z ist eine der für X möglichen Strategien in der relevanten Spielform' äquivalent ist. Hiergegen ist soweit wenig einzuwenden. Es liegt jedoch die Frage nahe, ob der auf diese Weise bereitstehende minimale Freiheitsbegriff als Ausgangspunkt verwendet werden kann, um einen umfassenderen Begriff individueller Freiheit zu entwickeln. In einer wichtigen Hinsicht scheint die Erweiterung des soeben genannten minimalen Freiheitsbegriffs eine Abkehr von einer Grundannahme der Spielform-Analyse mit sich bringen zu müssen. Inwiefern dem so ist, zeigt folgende Überlegung: Sei eine Situation gegeben, in der eine Person X vor der Entscheidung zwischen den Handlungen h und g steht, wobei die Situation derart beschaffen sei, daß wir von diesen beiden Optionen und nur von diesen sagen wollen, daß sich X frei zwischen ihnen entscheiden kann. Der zur Diskussion stehenden Konzeption gemäß kann diese Situation als eine Spielform modelliert werden, in der X die Wahl zwischen h und g hat. Nehmen wir nun an, daß X zwischen den beiden Handlungen vollkommen indifferent ist. Wenn die Person X rational ist, wird sie nun irgendeine der beiden Möglichkeiten wählen. Nehmen wir weiter an, daß eine andere Person Y vor genau derselben Entscheidung steht, so daß die Situation von Y durch dieselbe Spielform beschrieben werden kann (bei veränderter Spielerbezeichnung). Y hat jedoch eine sehr starke Prä42 Die Analogie zwischen dem Liberalen Paradox und dem Gefangenendilemma hat bereits Thomas C. Schelling bemerkt (er hat seine Beobachtung Sen gegenüber vor der Veröffentlichung von Sen (1970a) mitgeteilt). Mit ihr beschäftigt sich auch Fine (1975). Sen (1983, S. 22) diskutiert verschiedene Hinsichten, in denen die Analogie irreführend ist. 43 Zu dieser Frage haben Sen und Sugden eine fruchtbare Debatte geführt, siehe Sugden (1985, 1993) und Sen( 1992).
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ferenz dafür, h zu wählen (und nicht g). Dies sei deswegen so, weil gewisse Aspekte der Konsequenzen von g mit Ys religiösen Überzeugungen unverträglich sind. Unter diesen Umständen würde man sagen, daß Y in seiner Freiheit in gewissem Sinne eingeschränkter ist als X. Der Beschreibung der Situation gemäß kann dieser Tatsache nicht durch einen Unterschied der beiden Spielformen Rechnung getragen werden - da diese nach Voraussetzung dieselben sind und insbesondere keine Informationen über die Präferenzen der Personen enthalten. Allgemeiner formuliert ist das Problem dies: Ein angemessener Freiheitsbegriff hat Aspekte zu umfassen, die nicht unabhängig von den individuellen Präferenzen - oder, allgemeiner, den individuellen Wünschen, Zielen und Projekten - betrachtet werden können. Da die spieltheoretische Analyse explizit mit der Idee bricht, daß Liberalität etwas mit Präferenzen über Ergebnissen zu tun hat, kann diese Facette eines intuitiven Freiheitsbegriffs i m Rahmen des Spielform-Ansatzes nicht aufgenommen werden. Was nun den vermeintlichen Konflikt zwischen Freiheit und Wohlfahrt angeht, den das Liberale Paradox hat aufdecken sollen, bestätigt der Spielform-Ansatz die oben bereits genannte These, daß von einem fundamentalen Konflikt dieser Art keine Rede sein kann. Spieltheoretische Analoga zu Situationen vom Typ des Wandfarben-Beispiels sind, wenn eine bestimmte Präferenzstruktur vorausgesetzt wird, Gefangenendilemmata. Insofern Gefangenendilemmata Situationen sind, die i m realen Leben allenthalben auftreten, ist ein Konflikt zwischen Liberalität und dem Pareto-Prinzip letztlich eine recht alltägliche Angelegenheit. Es ist eben einfach der Fall, daß die freie Verfolgung individueller Interessen zu einem kollektiv suboptimalen - bzw. Pareto-ineffizienten - Ergebnis führen kann. Ob man in einer solchen Situation eher Freiheitsrechte beschränken oder sich mit einer Pareto-Ineffizienz begnügen sollte, ist wiederum eine Frage, die nicht ausschließlich i m Rekurs auf die Struktur der individuellen Präferenzen entschieden werden kann. Warum dem so ist, zeigt folgende Überlegung: Im WandfarbenBeispiel wäre es eine merkwürdige Idee, die Akteure durch Sanktionen dazu zu bringen, ein Pareto-effizientes Resultat zu erzielen. Die Tatsache, daß die Akteure in einem Pareto-ineffizienten Zustand enden, ist in gewisser Weise bedauerlich; naheliegende Wege, dem abzuhelfen (etwa eine geeignet gewählte Preispolitik des Farbenladens), wirken jedoch bizarr. Bei Standardbeispielen für öffentliche Güter kann es hingegen durchaus angemessen sein, individuelle Freiheiten einzuschränken, um Pareto-Ineffizienz zu vermeiden.
H. Schluß Bei den Prinzipienkollisionen, die in der Debatte über das ,Liberale Paradox' diskutiert werden, handelt es sich offenbar um vergleichsweise typische und lange bekannte Schwierigkeiten, mit denen uns die soziale Welt konfrontiert. Daß es, um das Wohl aller zu steigern, oftmals nötig ist, individuelle Freiräume zu beschrän-
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ken, gehört immerhin zu einer Grundeinsicht der Moderne. Und daß die Etablierung und Sicherung von Freiheitsspielräumen ebenso wie die Berücksichtigung individueller Präferenzen zu denjenigen Dingen zählt, auf die eine an sozialer Wohlfahrt interessierte Gesellschaft Wert legen sollte, ist auch keine wirkliche Neuigkeit. Es ist gleichfalls wenig überraschend, daß der Begriff der individuellen Freiheit kompliziert ist. Dies lernt man spätestens, sobald man den Versuch unternimmt, eine angemessene Explikation dieses Begriffs zu liefern. Die Vorschläge von Sen, Gibbard und den Vertretern des Spielform-Ansatzes werfen hilfreiche Schlaglichter auf eine komplexe begriffliche Landschaft, auch wenn sie, aus verschiedenen Gründen, der Vielschichtigkeit des Freiheitsbegriffs nicht gerecht werden. Neu und interessant an den diskutierten Modellen ist insbesondere ihre Präzision, die es erlaubt, normative Probleme einer bestimmten Art auf einen klaren begrifflichen Punkt zu bringen. Die Modelle liefern keine Antworten auf die Frage, wie man in entsprechenden Situationen verfahren sollte. Sie ermöglichen es aber, eine vernünftige Diskussion über diese Frage fokussiert zu führen - ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
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