Exzessive Subjektivität: Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan 9783495807903, 9783495487709


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Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat
II. Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung
III. Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung
Kant und der Kantianismus
Von Gesinnung und Revolution
Gesinnung als »subjektiver Grund« für einen »Hang zum Bösen«
Gesinnung und ihre Spontaneität
Gesinnungsrevolution in ethischer Grenzsituation
Die »Außer-Form« des kategorischen Imperativs
Talent als »Exzess« der Urteilskraft
Kant und der »inferentielle« Kantianismus: McDowell und Brandom
Die erzwungene Wahl moralischer Verpflichtung
Kants Kritik am Inferentialismus
Kants Typus praktischer Urteilskraft und exzessive Subjektivität
Die praktische Urteilskraft
Die legal-ethische Interpretation des »Typus«
Zu verantwortende unverantwortbare Unmündigkeit
Habitus libertatis: Gesinnungsänderung und Gestik
Kants Tugendlehre
Zum Abschluss: Das gespaltene Subjekt moralischer Handlungstat und der Fall Rosa Parks 1955
IV. Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt
Hegel gegen Kant?
Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit
Gesinnungsrevolution und sozialer Raum
Hegels Antigone: Tragik und Tragödie
Die Tragödie der Antigone: Antigones Akt
Tragik und Tragödie im Kontext von Wissen und Wahrheit
Das Rationale, das sich verwirklicht haben wird
Hegels Sokrates-Interpretation
Hegel und das Gewissen
Sokrates’ Gewissen
Allgemeines und Besonderes
In Abgrenzung zur schönen Seele
Verrücktheit und Dissoziabilität der menschlichen Seele
V. Lacan: Die Begründung autonomineller Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen
Metapsychologie und ihre politische Dimension
Lacans Rechtstheorie in Bezug zu Kant und Hegel
Ursprünge: Freuds Lustkoordinaten der Anrufung
Das Subjekt, seine Subjektivierung und der erhabene Signifikant
Zeichen und »Gesetzeskraft«
Antigone, Rosa Parks und der »Diskurs des Hysterischen«
Die Selbstbenennung des Subjekts aus (s)einer Leerstelle (Lacan über Russell und Frege)
Es gibt keine Metasprache.
Sprache als Ereignis des Unbewussten
Imperative
Phantasmatische Abwehr der Anrufungen
»La traversée du fantasme«
Nicht repräsentierte Signifikanten
»Das Losbrechen der Signifikanten«
Bedeutung ohne Geltung
Zum Paradox exzessiver Autorität
»Je dis toujours la vérité!«
VI. Literaturverzeichnis
Abkürzungen
Kant:
Hegel:
VII. Personenregister
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Exzessive Subjektivität: Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan
 9783495807903, 9783495487709

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Dominik Finkelde

Exzessive Subjektivität Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan

B

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Dominik Finkelde Exzessive Subjektivität

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Wie lassen sich ethisch motivierte Taten denken, die sich auf keine gegebenen sittlichen Vorstellungen und keine Legalität stützen können? Das heißt: Taten, welche – umgekehrt – die gegebenen normativen Ordnungen radikal in Frage stellen, dennoch aber nicht einfach als eigennützige Verletzung oder willkürliche Übertretung der herrschenden Normativität zu qualifizieren sind. Die in dem vorliegenden Buch präsentierte Theorie »exzessiver Subjektivität« zielt auf genau solche historisch so seltenen wie fundamentalen (nämlich gründenden) ethischen Ereignisse. Die Rede von »exzessiver Subjektivität« wird dabei als ein Strukturmoment verstanden, aber nicht in der Verwirklichung dessen, was Ethik als philosophische Disziplin erklärbarer und rechtfertigbarer Handlungen vorzuschreiben versucht, sondern als Verwirklichung »des Ethischen«, das sich im Sinne eines Kontextbruches mit der Sittlichkeit als Ineinssetzung von Partikulärem und Allgemeinem erst nachträglich (be-)gründet. Die Studie untersucht und analysiert diesen riskanten und dennoch unumgänglichen Moment einer »tathaften Neubegründung« als zentrales Strukturmoment des Ethischen in den Werken von Kant, Hegel und Lacan.

Der Autor: Dominik Finkelde, Jahrgang 1970, ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München.

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Dominik Finkelde

Exzessive Subjektivität Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant, Hegel und Lacan

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Antony Gormley feeling material vi, 2003 3.25 mm square section rolled stainless steel wire 215 � 175 � 130 cm Photograph by Stephen White, London © The Artist Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48770-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80790-3

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

in memoriam Rachel Corrie

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Inhalt

I

Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

. . .

11

II

Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

III Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung . . . Kant und der Kantianismus . . . . . . . . . . . . . . . . Von Gesinnung und Revolution . . . . . . . . . . . . . Gesinnung als »subjektiver Grund« für einen »Hang zum Bösen« . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesinnung und ihre Spontaneität . . . . . . . . . . . . . Gesinnungsrevolution in ethischer Grenzsituation . . . . Die »Außer-Form« des kategorischen Imperativs . . . . . Talent als »Exzess« der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . Kant und der »inferentielle« Kantianismus: McDowell und Brandom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die erzwungene Wahl moralischer Verpflichtung . . . . . Kants Kritik am Inferentialismus . . . . . . . . . . . . . Kants Typus praktischer Urteilskraft und exzessive Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die praktische Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . Die legal-ethische Interpretation des »Typus« . . . . . . Zu verantwortende unverantwortbare Unmündigkeit . . . Habitus libertatis: Gesinnungsänderung und Gestik . . . Kants Tugendlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Abschluss: Das gespaltene Subjekt moralischer Handlungstat und der Fall Rosa Parks 1955 . . . . .

. . . . . .

48 48 63

. . . . .

66 71 74 77 88

. . . . .

. . 96 . . 102 . . 111 . . . . . .

. . . . . .

120 123 130 133 135 141

. . 145 7

https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Inhalt

IV Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt . . . Hegel gegen Kant? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit . . . Gesinnungsrevolution und sozialer Raum . . . . . . . . Hegels Antigone: Tragik und Tragödie . . . . . . . . . . Die Tragödie der Antigone: Antigones Akt . . . . . . . . Tragik und Tragödie im Kontext von Wissen und Wahrheit Das Rationale, das sich verwirklicht haben wird . . . . . . Hegels Sokrates-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . Hegel und das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . Sokrates’ Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines und Besonderes . . . . . . . . . . . . . . . In Abgrenzung zur schönen Seele . . . . . . . . . . . . Verrücktheit und Dissoziabilität der menschlichen Seele .

. . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . .

Lacan: Die Begründung autonomineller Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Metapsychologie und ihre politische Dimension . . . . . . . Lacans Rechtstheorie in Bezug auf Kant und Hegel . . . . . . Ursprünge: Freuds Lustkoordinaten der Anrufung . . . . . . Das Subjekt, seine Subjektivierung und der erhabene Signifikant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichen und »Gesetzeskraft« . . . . . . . . . . . . . . . . . Antigone, Rosa Parks und der »Diskurs des Hysterischen« . . Die Selbstbenennung des Subjekts aus (s)einer Leerstelle (Lacan über Russell und Frege) . . . . . . . . . . . . . Es gibt keine Metasprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprache als Ereignis des Unbewussten . . . . . . . . . . . . Imperative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phantasmatische Abwehr der Anrufungen . . . . . . . . . . »La traversée du fantasme« . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicht repräsentierte Signifikanten . . . . . . . . . . . . . . »Das Losbrechen der Signifikanten« . . . . . . . . . . . . . Bedeutung ohne Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 167 171 178 180 187 198 203 211 214 218 228 232 235

V

8 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

247 247 255 262 269 293 297 311 320 326 330 337 339 346 353 359

Inhalt

Zum Paradox exzessiver Autorität . . . . . . . . . . . . . . »Je dis toujours la vérité!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI

Literaturverzeichnis

365 378

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

VII Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

407

9 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Versucht man, das Gemeinsame in den Aussagen unserer gesunden Versuchspersonen zu erfassen, ihre Weltanschauung als Ganzes zu charakterisieren, so ist das hervorstechendste Merkmal unbedingt die Tendenz der Gesunden, Kompromisse zu schließen, Gegensätze abzuschwächen und das, was nicht abgeschwächt werden kann, zu ignorieren. Die Ideen von Plato, Augustinus, Kant, Hegel und Nietzsche sind in den weltanschaulichen Konzepten unserer Gesunden viel verwaschener und undeutlicher als in der Weltanschauung unserer Patienten. Hans und Shulamith Kreitler

Das psychotische Subjekt weiß sehr wohl, dass seine Realität nicht gesichert ist, es gesteht sogar bis zu einem gewissen Grad das Irreale an seinen Halluzinationen zu. Aber im Gegensatz zum normalen Subjekt, dem die Realität auf dem Teller serviert wird, hat es eine Gewissheit, nämlich, dass das, worum es sich handelt – von der Halluzination bis zur Interpretation –, es tatsächlich betrifft. Jacques Lacan

I am the Way, the Truth, and the Light. No one can come to the Father but through me. Jim Jones / Jesus von Nazareth

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I. Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

Im zweiten Teil seiner Schrift Der Streit der Fakultäten drückt Immanuel Kant seine Hochschätzung gegenüber der Französischen Revolution aus. Sie habe »Enthusiasm« in Europa verbreitet (Fakultäten, VII, 86). 1 Dadurch habe sie das Vermögen der menschlichen Vernunft aufgedeckt, in bestimmten Ereignissen ein Fortschreiten der Geschichte zu einem Besseren der menschlichen Natur als narrativ-historischem Organisationsprinzip ihrer eigenen Selbstvergewisserung offenzulegen. 2 Diese Verehrung, die Kant der Revolution als Enthusiasmus verbreitendem Ereignis auch unter Berücksichtigung des Jakobiner-Terrors erweist, steht in Spannung zu seiner Behauptung aus der Metaphysik der Sitten, dass Revolutionäre jederzeit und immer zu verurteilen seien (MS, VI, 333–334). 3 Wie sind beide Aussagen zu vereinen? Ist es vertretbar, sich von denjenigen begeistert in ein visionäres Bild eines geschichtlichen Fortschritts hineinziehen zu lassen, denen man gleichzeitig für die realpolitische Revolutionstat die Todesstrafe zuerkennen muss? Auf 1 Im Folgenden zitiert nach Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. Angegeben sind Titel-Abkürzung, Band und Seitenzahl. 2 Axel Honneth bestimmt das narrativ-historische Organisationsprinzip in Kants Geschichtsphilosophie in seinem Artikel »Kein Ende der Geschichte? Geschichtsphilosophie nach Kant«, in: Ian Kaplow (Hg.), Nach Kant. Erbe und Kritik, Münster: LIT Verlag 2005, 118–133, 127. 3 Siehe ebenso: Über den Gemeinspruch, VIII, 298 f. Zu Kants vielkommentierter Ablehnung gegenüber Revolutionen als Teil des Politischen siehe: Peter Nicholson, »Kant on the Duty Never to Resist the Sovereign«, in: Ethics, Vol. 86, No. 3 (1976), 214–230; Christine M. Korsgaard, »Taking the Law into Our Own Hands: Kant on the Right to Revolution«, in: Andrews Reath / Barbara Herman / Christine M. Korsgaard (Hg.), Reclaiming the History of Ethics: Essays for John Rawls, Cambridge: Cambridge University Press 1997, 297–328; Kenneth Westphal, »Kant on the State, Law, and Obedience to Authority in the Alleged Anti-revolutionary Writings«, in: Journal of Philosophical Research, Vol. 17 (1992), 383–425.

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

eine ähnliche Spannung weist Johann Georg Hamann hin, wenn er Kants Begriff »selbstverschuldeter Unmündigkeit« mit viel Polemik kritisiert. Wenn Kant in seiner Schrift Was ist Aufklärung? »den Unmündigen«, wie Hamann schreibt, »ihre Feigheit vor[wirft]«, gestehe er nicht ein, dass hinter ihm selbst, dem Mündigen also, »ein wohldiscipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen seiner Infallibilität und Orthodoxie« stehe. Wahre Mündigkeit, die sich durch »Muth«, »Wille« und »Entschließung« 4 kundtue, werde Kant gerade durch die Staatsmacht im Rücken abgenommen. Das hat für Hamann zur Folge, in Kant nur einen »blinden Vormund« und keinen mit wirklich moralischer, d. h. politischer Autorität Sprechenden zu sehen. Kant legt so, wie Hamann behauptet, die Spannung offen zwischen der Freiheit des Denkenden und der Pflicht des Gehorchenden bzw. die Spannung zwischen dem Enthusiasmus eines Beobachters für eine politische Bewegung und der Ablehnung gegenüber einem konkreten, mutigen, die politische Ordnung auch verletzenden Handeln. Und diese Spannung ist sicher heute noch aktuell wie damals und ebenso unbefriedigend. Hamann lässt so die Frage nach politischer Mündigkeit in die nach politisch-revolutionärer »Entschließung« münden. Kant hätte bedenken sollen, dass Freiheit zur Mündigkeit Strukturen im Rücken der Freiheit als Bedingung derselben voraussetzt. Daher mag derjenige, der in seinem Rücken schon »ein Heer« stehen hat, auch mündig reden. Wem dieses aber verwehrt ist, der muss eventuell erst – paradox formuliert – handeln, um Bedingungen mündigen Handelns zu schaffen. Hamann stellt so indirekt eine rückwirkende Korrelation zwischen Mündigkeit und Handlung her und lehnt Kants Vorstellung ab, die Mündigkeit ergebe sich (handlungsunabhängig) durch willentlichen Entschluss zur Mündigkeit. Die Frage nach dem Status einer Freiheitstat in ihrem Verhältnis zu Reform- oder Revolutionsprozessen vor ihrer anerkannten (und vernünftigen) Bedingung der Möglichkeit interessiert auch Hegel in seiner Kant-Rezeption. Und dies beschäftigt ihn einerseits (in einem indirekten Sinne) mit Hamann gegen Kant aber auch mit Kant gegen Hamanns Kant-Kritik, da Hamann den Wert der Radikalität von Kants Moralphilosophie zu unterschätzen scheint, wenn er sie nur als reaktionär und als eine durch die preußische Monarchie im Rücken abgesicherte interpretiert. 4 Zitiert nach Oswald Bayer, Vernunft ist Sprache: Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002, 434 f.

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

Diese letzte Wendung widerspricht teils dem Bild, in dem Hegel oft als Antipode von Kant rezipiert wird, als Vertreter einer lebenspraktischen, auf die Antike zurückgehenden Tradition philosophischer Ethik. Teile der philosophischen Ethik scheinen sich gemäß diesem Bild zwischen Kant und Hegel wie zwischen zwei sich dichotomisch ausschließenden Hoheitsbereichen des Partikulären und Universellen zu spalten. Während für Hegel angeblich das partikuläre Moment individuellen Sollens an den Sitz im Leben des Einzelnen in der Gemeinschaft (mit der Antike zum Vorbild) als in einem Sollensgeflecht gelebter Sittlichkeit gebunden ist, beruhen Dimensionen moralischen Handelns beim frühen kritischen Kant der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft auf dem heftig kritisierten ›Formalismus‹ des kategorischen Imperativs. Diesem eher stereotypen Bild zufolge ist dann das Universelle bei Kant Ausdruck des formellen Charakters objektiver Ansprüche und Maximen, die jedem kulturbedingten und subjektiven Geneigtsein den Einfluss entsagen. Einer solchen Ethik wird oft vorgeworfen, dass sie einer Zwei-Welten-Lehre angehöre und das moralische Sollen in einer kontextlosen Vernunft begründe. 5 Elizabeth Anscombe sieht in Moralphilosophien, die ein ›emphatic moral ought‹ proklamieren, die normative Beurteilung von Handlungen auf der Ebene ihrer Beschreibungsfähigkeit in Gefahr. 6 In kontrastiver Abgrenzung zu Kant erscheint dann bei Hegel wiederum der partikuläre Willensanspruch als kulturbedingter legitimiert, da er immer schon Teil lebenspraktischer und sittlichkeitsbedingter Traditionen in faktischer Wirklichkeit ist. Diese Ethik etablierter Praktiken wird ihrerseits als relativistisch kritisiert. Sie liefere auf der Grundlage der herrschenden Normen ethische Empfehlungen für jeweils verschiedene Kulturbereiche und enthalte immer schon die Beschreibung der Situation Dieser Vorwurf wird beispielsweise prominent im 20. Jahrhundert von Ernst Tugendhat (Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 37 ff.) und Bernard Williams (Moral Luck, Cambridge: Cambridge University Press 1982, 1–19) vertreten. 6 Handlungen, die unter dekontextualisierte Normen gestellt werden, sind als solche für Anscombe unmöglich zu beurteilen, weil sie gerade als beschreibungsunabhängig vorgestellt werden. Kants »rigoristic convictions on the subject of lying« machten beispielsweise Lügen zu einer intrinsisch ungerechtfertigten Handlung, aber nur, weil diese Beurteilung von konkreten Kontexten losgelöst, unter einer prinzipienorientierten Betrachtung schon selbstevident ist. Elizabeth Anscombe, »Modern Moral Philosophy«, in: Roger Crisp / Michael Slote (Hg.), Virtue Ethics, Oxford: Oxford University Press 1997, 26–45, hier: 27. 5

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

selbst. Dadurch sei sie grundsätzlich durch zu viel Kontext auf den jeweiligen Fall bezogen und ergo relativistisch. Oft wird Hegels Kritik an Kant dabei zitiert, da die scheinbare Polarität beider Idealisten als eine noch viele zeitgenössische Debatten umtreibende Dichotomie (formalistisch, deontisch, realistisch versus lebenspraktisch, pragmatisch, ›praxeologisch‹) angesehen wird. Diese polare Einteilung vernachlässigt jedoch, dass Hegels Kritik an Kant besonders auf die Frage moralischer Motivation und nicht primär auf die Frage nach dem Status des Universellen und Formalistischen gerichtet ist. Während Kant vertritt, dass der Mensch aus einem Akt der Pflicht und nicht aus einem Akt wie auch immer geprägter Neigung moralisch handeln soll, ist Hegels Rechtsphilosophie als der Versuch anzusehen, ein System realisierter Moralität zu entwerfen, in dem Individuen erkennen, dass ihre Neigungen und ihre anerzogenen Motivationen sie daraufhin (ab)richten, das moralische Gesetz zu gestalten und zu erfüllen. Hegels Anspruch, dass Moralität nur in einem Kontext geteilter Gebräuche und sozialer Institutionen aktualisiert werden kann, führt ihn dann zu der Frage, wie ein solches System aktualisierter Moral – d. h. wie ein ethisches Leben – überhaupt begründet werden kann. 7 Hier unterscheidet er sich zwar von Kant, doch gleichzeitig bezieht er sich auf dessen Moralphilosophie in seiner Begründungstheorie, wenn er den rigiden und scheinbar rein formalistisch auftretenden reinen Willen nach Kant für eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen rezipiert. Wie diese konstruktive und dekonstruktive Kant-Rezeption Hegels im Detail zu verstehen ist, und inwiefern Hegel sowohl mit als auch gegen Kant eine Theorie politischer Handlungstat entfaltet, zeigen die beiden Hauptkapitel (III + IV) dieses Buches. Hegels Rechtsphilosophie liefert eine eigenwillige Auslegung einer solchen Begründung des Neuen, die eingebettet ist in seine Theorie kontingenter Notwendigkeit, im Kontext seiner Philosophie des Geistes. In ihr artikuliert er vielschichtig in verschiedenen Schriften, inwiefern das Ethische bzw. eine ethisch zu verstehende politische Handlungstat sich aus einer Situation nicht-zu-legalisierender Unentscheidbarkeit ergeben kann. In dieser werden sich die politisch Handelnden – im Sinne der grammatischen Zeitform des futur antérieur – als diejenigen erwiesen haben, die die etablierte Episteme auf 7 Ido Geiger stellt diese Frage ins Zentrum seines Buches The Founding Act of Modern Ethical Life: Hegel’s Critique of Kant’s Moral and Political Philosophy, Stanford: Stanford University Press 2007.

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

einen neuen, aber erst nachträglich sich legitimierenden Sinnhorizont überdehnen. Die Kluft zwischen Hegel und Kant drückt sich dabei unter anderem in der vielrezipierten, unterschiedlichen Bewertung revolutionärer Umbrüche in politischen Krisensituationen aus. Kant sah seine Zeit an der Schwelle zu einer Epoche der Freiheit und auf dem Weg einer (zumindest potenziell) moralischen Perfektionierung des Menschengeschlechts durch zunehmende Legalität. Aber dieser Weg ist ihm keiner, der, wie erwähnt, durch ordnungswidrigen Aufruhr befördert werden könne. Kant erlaubt in seiner kuriosen Rede von der »Denkungsart der Zuschauer« nur ein Fasziniert-Sein von revolutionärem Handeln als Fortschritts-Vision. Er gestattet keine konkrete Beteiligung daran. Für ihn ist (nahezu) jede Art politischer Rebellion verboten. Dies wird Hegel wiederum in seiner Kant-Rezeption sowohl mit als auch gegen Kant zu einer Umdeutung der Thematik und Problematik politischen Aufruhrs zugunsten einer Theorie des revolutionären Handelns bringen. Seine im Verlauf unserer Analyse entfaltete Theorie des ethischen Gründungsakts versucht der Freiheit Raum zu geben gegenüber einem Bereich, der sich der Vernunft – als einem begründeten und mit Bewusstsein durchzogenen Bereich des Handelns – erst zu spät erschließt. Eine solche Theorie retrospektiver Normativität, wie wir sie hier vorerst nennen möchten, beansprucht ein oftmals von der Hegel- und Kant-Forschung unkommentiertes kantisches Erbe. Dieses zeigt sich, wo der ethische Gründungsakt, den Hegel wiederholt in verschiedenen Versuchskonstellationen der Realphilosophie vorstellt, ein Akt radikalen, scheinbar kontextlosen und rein formalistisch auftretenden Neubeginns ist, der erst durch sein Ereignis-gewesen-Sein den Raum seiner Verwirklichung eröffnet, ohne (und dies ist sozusagen sein kantisches Erbe) extern bedingte Motivation, interne Neigung oder soziale Beglaubigung. 8 Diesen Gründungsakt nachträglicher Normativität nennen wir in dieser Studie »exzessive Subjektivität«. Wir verstehen sie als ein Strukturmoment, aber nicht in der Verwirklichung dessen, was Ethik als philosophische Disziplin erklärbarer und rechtfertigbarer Handlungen vorzuschreiben versucht. Exzessive Subjektivität tritt als Moment Vgl. Ido Geigers Analyse von Hegels Kant-Rezeption, auf den ich mich hier beziehe: The Founding Act of Modern Ethical Life, 63–70. Geiger berücksichtigt in seiner Auslegung zu wenig die von Hegel bewusst entfaltete Struktur der Vorzukunft innerhalb einer exzessiven Handlungstat.

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

›des Ethischen‹ auf, welches sich im Sinne eines Kontextbruches mit der Sittlichkeit als Ineinssetzung von Partikulärem und Allgemeinem erst (be)gründet. Unsere Analyse exzessiver Subjektivität, die eingebunden ist in einen exzessethischen bzw. ›über-ethischen‹ Akt retroaktivierter Normativität – im Folgenden auch Handlungstat genannt –, ist somit schwerlich mit z. B. Kant’schen und Hegel’schen Traditionen der Allgemeinen Ethik formalistischer oder pragmatischer Provenienz kombinierbar. Das Ziel der Analyse ist es, eine Mangelhaftigkeit beider Traditionen offenzulegen. Die retroaktive Normativität der Handlungstat ist weder als prinzipienorientierte, kontextabstinente Pflicht definierbar, noch in der Tradition der aristotelischen Tugendethik im Verständnis des Menschen als eines denkenden und wählenden bzw. gedeihenden und lebenspraktischen Wesens zu lesen. Besonders Kants Moralphilosophie gemäß seinen Grundlegungsschriften (Grundlegung der Metaphysik der Sitten und Kritik der praktischen Vernunft), die auf die Präzision formeller Etablierung für Handlungsmaximen ausgerichtet ist, kann eine solche Theorie kontingenter Notwendigkeit der Handlungstat, die sich après coup als legitim erkannt haben wird, nicht denken. Und dennoch liefert besonders der frühe kritische Kant mit seiner Betonung der Unbedingtheit des ethischen Handelns das zentrale Motiv einer aporetischen Gespaltenheit des moralischen Subjekts, die im Kant-Kapitel aufgewiesen wird. Sie liefert eine Grundlage sowohl für Hegels und Lacans Kant-Rezeption wie auch für die in dieser Studie entfaltete Theorie exzessiver Subjektivität. 9 Hegel rezipiert wiederholt das Motiv einer aporetischen Gespaltenheit des moralischen Subjekts nach Kant, und besonders der zweite Teil der Rechtsphilosophie offenbart, wie die kantische Moralphilosophie ihn herausgefordert hatte. Kants Motiv einer Gespaltenheit des moralischen Subjekts wird, so die These, daher schließlich bei Hegel zum Strukturmoment der Gespaltenheit des Bereichs des PoliDabei schließen wir uns den Untersuchungen von Alenka Zupančič, Henrik Joker Bjerre, Ido Geiger und Slavoj Žižek an. Sie haben in den letzten Jahren herausragende Interpretationen der Werke Kants und Hegels in Bezug auf Aporien ethischen Handelns vorgelegt, denen sich die vorliegende Arbeit auch verdankt. Vgl. Alenka Zupančič, Ethics of the Real: Kant and Lacan, London / New York: Verso 2000; Henrik Joker Bjerre, Kantian Deeds, London / New York: Continuum 2010; Ido Geiger, The Founding Act of Modern Ethical Life; Slavoj Žižek, Less Than Nothing. Hegel and the Shadow of Dialectical Materialism, London / New York: Verso 2012.

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

tischen bzw. der Sittlichkeit, der immer wieder durch exzessive Subjekte in seinem Selbstbild, das Allgemeine zu sein, wie aus einem toten Winkel, aus einer bisher unerkannten Universalität aufgeschreckt wird. Der universelle und allgemeine Bereich des Politischen erweist sich dabei als strukturell vom Partikulären als dem Umschlagpunkt seiner Unabgeschlossenheit und seiner Offenheit gegenüber der eigenen aber noch unvordenklichen Zukunft abhängig. Im vorliegenden Text soll so der Gründungsakt ethischer Radikalität in einem ersten Schritt aus dem Erbe der Kant’schen und Hegel’schen Philosophie herausgearbeitet werden: im ersten Hauptkapitel (III) durch eine Analyse der Ethik Kants, die eine Theorie des Allgemeinen auf der Ebene des Subjekts zu denken versucht; im anschließenden Kapitel zu Hegel (IV) durch eine Analyse der Abgründigkeit von Freiheit und Individualität in Hegels sogenannter Realphilosophie. Im abschließenden Kapitel (V) soll schließlich das Theorem einer Ethik exzessiver Subjektivität im Kontext der Psychoanalyse Jacques Lacans erörtert werden. Wir werden dabei sehen, wie Lacan, selbst ein Experte der Philosophie Kants und Hegels, uns die Wahlverwandtschaft zwischen der Subjektphilosophie des Idealismus und der Psychoanalyse offenlegt. Er hilft uns besonders im Kontext einer Beurteilung von autonomineller Rechtssubjektivität, viele Grundeinsichten des Idealismus zu vertiefen. Das trägt zur Fundierung einer Theorie exzessiver Subjektivität bei. Zentrale Theoriemomente des Idealismus werden individualpsychologisch durch Lacan beleuchtet. Die jüngste Rezeption des Franzosen durch Vertreter eines zeitgenössischen Linkshegelianismus (Alain Badiou, Ernesto Laclau, Slavoj Žižek u. a.) 10 hat aufweisen können, inwiefern Grundeinsichten der Psychoanalyse mit der Subjekttheorie des deutschen Idealismus nicht nur eine Schnittmenge offenlegen, sondern ein analoges Forschungsobjekt, wenn es um die Analyse von Normativitätsaporien im spannungsreichen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geht. Dies betrifft nicht nur die Spaltung des Subjekts in einen sinnlichen und

Ein Rezeptionsstrang der Werke Hegels zieht sich so von Alexandre Kojèves berühmten Vorlesungen aus den 1940er Jahren über die Epistemologie psychoanalytischer Theorie bei Lacan (einem Zuhörer Kojèves) bis zur Gegenwart. Oft geht es in den Debatten um eine Erweiterung traditioneller Ethik-Konzepte. Siehe: Dominik Finkelde, »Gegen die politische Philosophie? Theorien politischer Eskalation im 20. Jahrhundert und der Gegenwart von Martin Heidegger bis Alain Badiou«, in: Philosophische Rundschau, Bd. 57, Nr. 4 (2010), 322–341.

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

noumenalen Teil, sondern auch die Frage nach bestimmten Anerkennungsstrukturen, die die menschliche Psyche als exzentrische enthüllen. Lacans Konzentration auf das Phänomen der Subjektivität als Zwiespalt zwischen Partikulärem und Allgemeinem zeigt außerdem, wie das Begehren des Subjekts sich sowohl durch die Unterwerfung gegenüber einer Rechtsbindung als auch im Durchbrechen von Gesetzeskraft artikuliert. Das Subjekt kommt nur durch einen ihm selbst inkommensurablen Exzess ins Selbstverhältnis seiner stets neu zu ergründenden Aktualitäten und Potenzialitäten. Dieser Exzess markiert seine Unterwerfung unter das Gesetz und sein Durchstreichen-Müssen des Gesetzes selbst. Subjektivität enthält für Lacan ebenso wie für die Idealisten Kant und Hegel immer die Grenze von Normativität und Transgression als ihre eigentliche Genuss- und Lebensquelle vereint. Die vorliegende Analyse teilt sich in folgende Kapitel: Das an die Einleitung anschließende zweite Kapitel expliziert die Notwendigkeit einer Theorie exzessiver Subjektivität vor der Problematik, die sich im 18. und 19. Jahrhundert um die Frage der Bestimmung menschlicher Autonomie entfaltete. Hier steht besonders die Rede vom Paradox der Autonomie im Zentrum. Hegel hatte dieses Paradox von Rousseau über Kant geerbt und darin die Thematik einer das Gemeinwesen immer wieder konstituierenden Spaltung entdeckt. Auf diese Thematik einzugehen ist nötig, da sie der Hintergrund ist, auf dem exzessive Subjektivität überhaupt in Erscheinung tritt. Hegels Ausführungen zum Paradox der Autonomie stehen hier besonders im Zentrum und werden in aktuellen Kontexten erläutert. Das dritte Kapitel ist Kant mit der Konzentration auf die Analyse einer Ethik des Allgemeinen auf der Ebene des Subjekts gewidmet. Kants praktische Philosophie repräsentiert bekanntlich eine begründungstheoretische Wende, für die es in der Radikalität, in der er sie entfaltet, kaum ein zweites Beispiel in der Geschichte der Ethik gibt. Das hat zu dem bekannten Vorwurf geführt, seine Ethik sei hoffnungslos formalistisch. Dieser Vorwurf trägt sich durch die Zeit – von Fichte und Hegels Rede von der »Leere« des moralischen Imperativs bis hin zu Bernard Williams 11 und schließlich Ernst Tugendhats

Vgl. Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1985, besonders Kapitel 10.

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18 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

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an Pistorius erinnernder Kritik an Kants unlauterer Verwendung des Wortes »gut«. 12 Was diese Kritik aus der Perspektive unserer Kant-Lektüre nicht gebührend beachtet, ist der Umstand, dass Kant sein formalistisches Moment rückbindet an eine auf Selbstlegitimation beruhende Subjektivität, die mit dem Formalistischen nicht in einer hinreichenden Kausalitätsbeziehung steht. Kants Ethik geht aber auch nicht spannungslos mit einer viele zeitgenössische Kant-Lektüren prägenden lebenspraktischen Ethik antiker bzw. aristotelischer phronesis zusammen (Esser, Höffe, Korsgaard, Walsh). 13 In diese beiden Alternativen – formalistisch vs. lebenspraktisch – spalten sich weiterhin zeitgenössische Debatten um das Kant’sche Erbe. Unsere Kant-Lektüre möchte sich keiner der beiden Traditionen direkt zuschreiben, sondern sich einer Offenlegung paradoxer Strukturmomente in Kants Moralphilosophie widmen, mit denen er das, was wir »das Ethische« nennen, in eine Inkommensurabilität mit der Ethik stellt. Uns interessiert eine Nicht-Koinzidenz zwischen dem in Kants Ethik so zentralen Theorem des kategorischen Imperativs und der moralischen Selbstverpflichtung des Handelnden. Diese Nicht-Koinzidenz lässt eine nicht aufzulösende Spannung innerhalb des Moralischen zurück und auf sie wollen wir mit einem besonderen Augenmerk auf Kants Theorie der Gesinnung bzw. der Gesinnungsrevolution (auch »Revolution der Denkungsart« genannt) in verschiedenen Kontexten seiner Moralphilosophie und in Abgrenzung zu bestimmten Kant-Interpreten eingehen. Um es pointiert zu sagen: Bei Kant ist das Subjekt entweder vor-moralisch oder extra-moralisch, aber es ist nie (einfach nur) inferentiell-moralisch, wie Robert Brandom und John McDowell es in ihren an Kant orientierten Ethiken nahelegen. Diese an der späten Philosophie Wittgensteins ausgerichteten Kantianer interessiert die Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 37 ff. Vgl. Andrea Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004; Otfried Höffe, »Universalistische Ethik und Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 44, Nr. 4 (1990), 537–563; ders., »Ausblick: Aristoteles oder Kant – wider eine plane Alternative«, in: ders. (Hg.), Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Berlin: Akademie Verlag 1995, 277–304; Christine M. Korsgaard, »Aristotle and Kant on the Source of Value«, in: Ethics, Vol. 96, No. 3 (1986), 486– 505; dies., »From Duty and for the Sake of the Noble: Kant and Aristotle on Morally Good Action«, in: dies., The Constitution of Agency, Oxford: Oxford University Press 2008, 174–206; Sean D. Walsh, »Kant’s Theory of Right as Aristotelian Phronesis«, in: International Philosophical Quarterly, Vol. 52, No. 2 (2012), 227–246. 12 13

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Bedingung der Rechtfertigung moralischer Prinzipien in nach Vernunftprinzipien organisierten Zuschreibungen gegenseitiger Verpflichtungen. Aber in Abgrenzung zu Kant lagern sie die Betonung der (besonders vom frühen kritischen Kant) geforderten Selbstgesetzgebung in einen »inferentialistischen« Außenraum kollektiver und »praxeologischer« Normativität aus. Brandom und McDowell stehen daher im Kontext neuerer amerikanischer Arbeiten zu Kant (Pippin, Munzel, Baron, Wood), die ihn vom Formalismus-Vorwurf befreien wollen. In diesen Texten begegnet uns ein Kant, dessen Position mit werttheoretischen und motivationsbezogenen Argumenten stabilisiert ist. Auch wenn diese Interpretationen in Kants Werk ihre Berechtigung haben, möchten wir auf den Umstand hinweisen, dass sowohl die Betonung einer werttheoretisch-inferentialistischen Ethik als auch die motivationsspezifische Auslegung derselben (an einem gemeinschaftlichen, praxisorientierten und diskursethischen Vernunftbegriff entlang) ein wesentliches Moment von Kants Moralphilosophie außer Acht lassen. Dieses soll am erwähnten Theorem der »Gesinnungsrevolution« als Beispiel aporetischer Subjektivität in Kants Ethik im Bild eines »gespaltenen Subjekts moralischer Handlung« aufgezeigt werden. Es soll darüber hinaus in Kants Bemerkungen zur Pädagogik und in seiner die Fragen von Regelanwendung und Regeldurchbrechung betreffenden Theorie der Urteilskraft nachgewiesen werden. Die Übereinstimmung unserer Handlungen mit der Form des Ethisch-Allgemeinen ist zwar eine Bedingung von Ethik, aber sie bildet selbst noch nicht – wie Alenka Zupančič treffend aufweist – die ethische Dimension. 14 Die vielkommentierte Spannung innerhalb von Kants Ethik verweist darauf, wie er ein moralisches Subjekt als singulär Allgemeines zu denken versucht, dessen Pflicht im Bereich des Diskursethisch-Normativen (Habermas) und Inferentialistisch-Normativen (Brandom / McDowell) ebenso wenig aufgeht wie in einem Verständnis autonomer, ungespaltener Selbstidentität, wie sie Christine Korsgaard in ihrer Rückbindung von Kant an die antike Ethik zu finden glaubt. 15 Das Kant’sche moralische Subjekt muss sich über den Hiatus seiner eigenen Gespaltenheit entwerfen auf eine zukünftige Moralität hin; und das je neu. Wir folgen der ExVgl. Alenka Zupančič, Das Reale einer Illusion. Kant und Lacan, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 65. 15 Vgl. Christine M. Korsgaard, Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford: Oxford University Press 2009. 14

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plizierung dieser Thematik in Bezug zum Formalismus-Vorwurf gegenüber Kants kategorischem Imperativ in Anlehnung an Alain Badiou und Alenka Zupančičs Beschreibungen des moralischen Aktes als »Überzähligkeit« und interpretieren dann Kants Auffassung vom »Talent« in seiner Lehre der Urteilskraft als einen Exzess, der wesentlich mit der Thematik exzessiver Subjektivität in Kants Moralphilosophie verbunden ist. Anschließend analysieren wir den schon erwähnten Kantianismus von Brandom und McDowell, da dieser kontrastiv die Differenz zu Kants Theorem exzessiver Subjektivität anschaulich werden lässt. Wir folgen und erweitern hierbei die hervorragenden Untersuchungen von Henrik Joker Bjerre. 16 Die Ausführungen zu Brandom und McDowell nehmen einen größeren Raum im ersten Kapitel ein, weil ihre Interpretationen – stellvertretend für viele an Kant und am linguistic turn ausgerichtete Ethiken – mustergültig die von Kant nach unserer Meinung bewusst gewählten Paradoxien exzessiver Subjektivität übersehen. Die Thematik exzessiver Subjektivität wird anschließend noch in Bezug auf Kants »Typik moralischer Urteilskraft« in seiner Kritik der praktischen Vernunft analysiert. Kants Typik-Kapitel ist hier wichtig, da es zahlreiche Schwierigkeiten enthält, die sich daraus ergeben, dass Kant einerseits die Unbedingtheit des moralischen Willens festzuhalten versucht, während er andererseits auch die Notwendigkeit sieht, diese zumindest ›der Form nach‹ in eine Analogie mit Naturkausalitäten zu pressen. Das Kapitel endet mit dem Versuch einer Exemplifizierung exzessiver Subjektivität am Beispiel einer (moralischen) Handlungstat, die im Kontext der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts Geschichte geschrieben hat. Gemeint ist die Provokation, die Rosa L. Parks auslöste, als sie sich – entgegen der etablierten Normativität von durch Praktiken legitimierten Regeln für den öffentlichen Nahverkehr – am 1. Dezember 1955 in Montgomery, Alabama weigerte, einen Platz in einem für Weiße reservierten Busabschnitt freizumachen. Am Beispiel von Parks soll die Möglichkeit und Unmöglichkeit thematisiert werden, in dieser Handlung angeblicher Zivilcourage eine ethische Tat zu sehen, die die Gespaltenheit des moralischen Subjekts nach Kant in den Kontext einer gesellschaftlichen Krise stellt. Der zentrale Aspekt, der unsere These leitet, ist der Umstand, dass erst das abrupte Durchbrechen einer Praxis durch Rosa Parks’ Handlungstat, ihren Platz nicht für einen Wei16

Vgl. Bjerre, Kantian Deeds, 7–47.

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ßen freizumachen, nachträglich die Amoralität derselben Praxis zeigte, während viele vor diesem Durchbruch an der Praxis Beteiligte genau die moralische Verfehlung derselben nicht als kognitiv bedrängend wahrnehmen konnten. Sie konnten die Verfehlung nicht bemerken, da sie die herrschende Norm dessen war, was das Gesetz durch seine z. B. von der Wählergemeinschaft etablierten Repräsentanten legal als ›gut gesetzt‹ und als das allgemeine Gut sittlichen Lebens etabliert hatte. Das an Kant anschließende vierte Kapitel widmet sich dem Thema der Gespaltenheit in Hegels Verständnis von Sittlichkeit. Anhand der vielrezipierten Kritik Hegels an der kantischen Moralphilosophie wird dort offengelegt, wie sie leicht den Umstand übersehen lässt, dass Hegel sich (neben Fichtes großem Einfluss) auch von wesentlichen Einsichten Kants bezüglich der Selbstgesetzgebung des moralischen Subjekts immer wieder hat inspirieren lassen. Und zwar nicht nur für sein eigenes Konzept des »Gewissens« und der Moralität, sondern ebenso für sein Verständnis vom Antagonismus im Politischen als Bedingung des Politischen. Im vierten Kapitel der Arbeit wollen wir daher die These vertreten, dass Hegel das Kant’sche individualmoralische Gesinnungsrevolutions-Theorem übernimmt und daraus die Theorie einer Gesinnungsrevolution für den politischen Raum macht. Hegel legt in dem hier uns interessierenden Kontext seiner praktischen Philosophie in verschiedenen seiner Schriften offen, inwiefern die symbolischen Ordnungen, die sich im Verlauf von Jahrhunderten als soziokulturelle Ausgestaltungen menschlicher Geschichte ablösen, an zentralen Punkten durch widerständige politische Akteure in eine neue Gestalt gezwungen werden. Diese Akteure, zu denen Jesus, Antigone und Sokrates, aber auch – wenn auch in Abgrenzung zu den ersten – die Heroen (des sogenannten Heroenzeitalters) und charismatische politische Führer wie Caesar, Napoleon und andere zählen, stehen für einen inneren Antagonismus im je etablierten Bewusstsein der politischen Ordnung. 17 Wenn dieser AnSie tauchen teilweise zuerst in der Gestalt von Irrtümern und Verblendungen auf. Irrtümer zeigen sich für Hegel in der Phänomenologie immer gegen ein etabliertes Erkenntnisinteresse aufgrund der Überkomplexität eines Sachverhaltes. Die oben genannten Persönlichkeiten sind nur indirekt vergleichbar. Antigones Tragödie setzt die Errungenschaften der griechischen Polis voraus. Sokrates vollendet geschichtsmächtig die Sophistik, und der Umstand, dass Napoleon in Jena auftritt, ist ohne die Parole der Französischen Revolution »liberté, égalité, fraternité« nicht denkbar. Was die Persönlichkeiten vereint, ist die Negativität, die sie in Form von Krisen und Kriegen

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tagonismus nicht nur innere Parameter der Episteme umschichtet, sondern sie, die Episteme, in ihrem an-und-für-sich-seienden Selbstverhältnis als Autorität letzter Wirklichkeitsrepräsentanz unterminiert, dann weil der Antagonismus – wie hier untersucht werden soll – teils notwendig zur Tragik wird. Leitend ist die These, dass diese Gründungsgesten eines neuen Bewusstseins als performativ und nachträglich sich verifiziert habende politische Akte begriffen werden können, Akte, die nicht eigentlich zu verhandeln, zu erklären, oder aus einer neutralen Drittperspektive zu beurteilen, sondern (nahezu) nur zu ›glauben‹ sind. Hegel hat eine solche Theorie in der Phänomenologie des Geistes, in seiner Geschichts- und Rechtsphilosophie erarbeitet. Er war dabei von der über Kant hinausgehenden Gewissheit geleitet, dass der im Terminus des »Weltgeistes« verstandene Vernunftraum des Universums sich als ein durch wissenschaftlich forschende bzw. politisch handelnde Subjekte in permanente Antinomien verstrickender erweist. Als solcher versammelt er phylogenetisch die Menge kategorialer Verschiebungen von SelbsterkenntnisProzessen zwischen der Objektwelt und den kollektiven Subjekten, die beide – als zwei Seiten einer Medaille – notwendige Momente ein und desselben vernünftigen Prozesses höherwertiger Komplexitätssteigerung sind. 18 In Hegels Antigone-Rezeption lässt sich aufweisen, inwiefern die Tochter des Ödipus durch Tat den »Geist« dazu bringt, in seine Momente zu zerfallen. Antigone handelt selbst unbewusst als ›verschwindende Vermittlerin‹ für eine andere Polis. Die Veränderung, die sie provoziert, vollzieht sich retrospektiv nach auslösen, und das, was Hegel das Hervortreten eines allgemeinen »Prinzips« als das Ergebnis ihres partikulären Kampfes nennt. 18 Da wir, die Menschen und Hauptakteure in Hegels Substanz, die, wie er sagt, Subjekt ist, als begrenzte Einzelwesen, Einzelsubjekte nie die Welt in ihrer universellen Ganzheit uns epistemologisch einverleiben können, zeigt sich nach Hegel unser Verhältnis zur Außenwelt als ein durch die Zeit andauernder Kampf zwischen partikulären Erkenntnissen und immer neu zu denkenden universellen Maximen und Ontologien. Durch diesen Kampf – einen Kampf gegen die immer wieder neu sich etablierenden Vernunftabsichten (die je ihre eigenen Interessen haben) – ergeben sich nach Hegel kontraintuitive – weil den Vernunftabsichten zuwiderlaufende – Versöhnungen in Gestalt höherer Reflexionsstufen. Diesen Prozess nennt er das Zu-sichselbst-Kommen des Begriffes. Und er beschreibt ihn bekanntlich als List der Vernunft, die nicht davor zurückschreckt, sich durch Lügen, unsittliche Handlungen und theoretische Widersprüche einer sich permanent entziehenden »Wahrheit« zunehmender Selbstdurchdringung (auf dem Weg der »Schlachtbank, die die Geschichte ist«) asymptotisch anzunähern.

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ihrem bzw. durch ihren Tod. Was sie auszeichnet, betrifft auch Hegels Interpretation des Sokrates. An dessen im Fortgang der Arbeit anschließender »Tragik« verfolgt Hegel den Einbruch einer Normativität in den Raum des »gesunden Menschenverstandes« der griechischen Kultur. Sokrates’ im »Gewissen« verankertes scheinbar solipsistisches Insistieren, sein philosophisches und teils Universalien zersetzendes Denken gegen die Polis kompromisslos zu verteidigen, spitzt sich zu, mit dem Effekt, nachträglich sich als das immer schon Rechtmäßig-Gewesene zu legitimieren. Die paradoxale Struktur einer nachträglichen Normativität, die durch exzessive Subjektivität hervortritt, kann weder im Bild von Hegel als totalitär gesinntem Denker des modernen Staates (Popper, Tugendhat) noch im verbreiteteren Hegel-Bild als Vertreter paradoxfreier Anerkennungsstrukturen (Pippin, Taylor, et al.) aufgelöst werden. Hegels Analytik und Theorie des »Gewissens« ist hier in Bezug auf Sokrates wichtig. Er stellt sich damit gegen eine Ethik des moralischen Urteils in der Tradition Kants, obwohl er sich wesentlich auf Kants gespaltenes Subjekt der ethischen Gründungstat bezieht. Die vorliegende Arbeit teilt so Christoph Menkes These von der ›Überzeitlichkeit‹ der Tragödie im Sittlichen und der »Entstehung des Rechts aus der Tragödie«. 19 Der tragische Konflikt aber, so die These, spielt sich nicht so sehr auf der Dichotomie zwischen – zum einen – den Erfordernissen von Autonomie und authentischer Selbstverwirklichung und – zum anderen – den Notwendigkeiten der Öffentlich19 Vgl. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. Menke zufolge darf man die ›Tragödie im Sittlichen‹ gerade nicht als einen historisch überkommenen Konflikt der Antike verstehen. Man sollte sie anerkennen als »die tragische Erfahrung einer immanenten Gewalt des Rechts« (ebd., 13). Sie setzt sich auch in der Welt des bürgerlichen Individuums des 21. Jahrhunderts fort. Antigone und ebenso Sokrates inszenieren diese Urszene der Moderne anhand einer dargestellten Reflexivität, die sich, wie Menke betont, selbst zuschaut. Die antagonistische Spannung zwischen »Selbstbestimmung«, Autonomie und dem Gerechtigkeitsideal der Öffentlichkeit wird offengelegt und entgegen Hegels rechts- und staatsphilosophischen Thesen nicht aufgehoben. Der tragische Konflikt ist nicht nur einer der »immanenten Gewalt des Rechts«. Er ist auch einer des subtil aufrechterhaltenen Selbstbetrugs symbolischer Ordnungen. Der Kampf zwischen einer auf Authentizität bedachten Lebensform und dem Recht einer Öffentlichkeit auf meine Gleichheit zu ihr, ist einer, der die Gegenwart bestimmt. Im Spiegel der Vergangenheit gibt somit Hegel der Gegenwart eine Erfahrung, die gegen seine scheinbaren Versöhnungsbestrebungen in Rechts- und Geschichtsphilosophie eine ungleichzeitige Gleichzeitigkeit und eine differenzphilosophische Moralphilosophie avant la lettre artikuliert.

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keit / des Allgemeinen ab. Der tragische Konflikt artikuliert den Kampf – ausgehend vom Subjekt – um das Gute auf kollektiver Ebene. Man könnte nämlich Menke so verstehen, als sehe er die »Tragödie im Sittlichen« wesentlich (im Sinne M. Foucaults) zwischen individueller Autonomie, Kreativität, Authentizität einerseits und öffentlicher Norm, Formalität und Allgemeinheit andererseits. 20 Menkes treffende Diagnose berücksichtigt bei ihrem Fokus auf die Gespaltenheit des bürgerlichen Individuums jedoch nicht in vollem Umfang, warum Hegel Authentizität nicht vom Moment privatbleibender Individualität her artikuliert, sondern sie auch als normative Beglückung für den Bereich der Allgemeinheit versteht. Genau hier liegt eine unerträgliche Herausforderung für die praktische Philosophie, von der Ernst Tugendhat in seiner berühmten Polemik gegen Hegel (eventuell zu Recht) glaubt, dass Hegel sie, die praktische Philosophie, schon längst in einen unkritischen Relativismus der Werte hat abstürzen lassen, wo die »Schlachtbank der Geschichte« scheinbar vollkommen unkritisch hingenommen werden müsse. Menkes Interpretation erweiternd kann man sagen, »Tragödie im Sittlichen« ist nicht nur tragisch, weil die Spannung zwischen Individuum und Öffentlichkeit auch im Zeitalter kommunitaristischer und diskurstheoretischer Ethikmodelle besteht, sondern weil eine Gewissheit des Individuums die Öffentlichkeit von ihrer falschen Bewusstheit befreien muss aufgrund einer nur ihr zuteilwerdenden Einsicht bzw. einer nur ihr zuteilwerdenden ›Aspektwahrnehmung‹ (Wittgenstein) der Wirklichkeit. Partikularität will nicht nur partikuläres Glück, eine Nische ihrer autokreativen Selbstverwirklichung. Sie will ihre Gewissheit / ihr Gewissen normativ als Allgemeines. Die Normativität exzessiver Subjektivität kämpft also nicht so sehr für ihr Recht auf Partikularität, sondern sie kämpft dafür, das Allgemeine von seinen Prämissen her und vom solipsistischen Nukleus des Einzelnen aus überschreiben zu können. Weil jedoch »Prämissen« den Rahmen der, mit Wittgenstein gesprochen, »Gewißheit« politischer Doxa ausmachen, sind diese Subjekte strukturell personae non gratae. 21 Menke interessiert die Gespaltenheit des bürgerlichen Individuums, und er interpretiert sie als die eigentliche Tragik der Gegenwart. 21 Ähnlich wie Autoren des Sturm und Drang und der Romantik (z. B. H. v. Kleist) thematisiert Hegel das Motiv des Sich-Aufopferns von im Kampf mit einer überdimensioniert verblendeten Welt stehenden Individuen. »Sie [die Individuen] sind sich bewußt, diese einzelnen selbständigen Wesen dadurch zu sein, daß sie ihre Einzelheit aufopfern und diese allgemeine Substanz ihre Seele und Wesen ist« (vgl. He20

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Individuum und Volksgeist verursachen sich wechselseitig und Hegels soziale Freiheitstheorie wird betonen, dass man »allein kein freies Wesen« sei. Aber die Problemlage ist dort zu erblicken, wo bestimmt werden soll, wie spannungsgeladen genau dieses Verhältnis gegenseitiger Verursachung (von sittlicher Substanz und Subjekt) zu denken ist. Hegels Idealbild der antiken Polis (im Naturrechtsaufsatz, teils auch in der Phänomenologie und der Rechtsphilosophie) ebenso wie seine Theorie der Sittlichkeit (besonders in der Rechtsphilosophie) legen oft nahe, dieses Verhältnis sei in einem Staat zwar nicht konflikt-, aber doch nahezu eskalationsfrei. 22 In der hier vorliegenden Hegel-Interpretation wird davon ausgegangen, dass sich Hegels »Positionen« besonders zwischen der Phänomenologie und seiner Rechtsphilosophie, die wesentlich in seine Theorie der Sittlichkeit eingeht, nicht harmonisieren lassen. Hegels Position bezüglich der Spannungsbestimmung von Individuum und Volksgeist bzw. von Partikulärem und Universellem ist ein andauernder Konflikt. In diesem Sinne wird die nun schon einige Jahre zurückliegende Debatte von Tugendhat und Siep 23 um das ethische oder anti-ethische Erbe Hegels für unlösbar gehalten und die Unlösbarkeit selbst als Lösung gel, Phänomenologie des Geistes, im Folgenden zitiert mit Titel-Abkürzung, Band und Seitenzahl nach: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, hier: PhG, Bd. 3, 265). Vernunft ist für Hegel ähnlich wie bei Spinoza und Aristoteles »flüssige allgemeine Substanz« (ebd.) und als solche für das individuelle Bewusstsein eine »unwandelbare einfache Dingheit«, aber sie »lebt« in den Individuen als »vollkommen selbständige[n] Wesen, wie das Licht in Sterne als unzählige für sich leuchtende Punkte zerspringt« (ebd.). Die Individuen als diese »Punkte« oder aristotelische Einzelsubstanzen sind »in ihrem absoluten Fürsichsein […] für sich selbst« (ebd.). 22 Was man in Hegels Werk als Ausrichtung betrachten kann, ist nach Horstmann das Ziel, den platonisch-aristotelisch sittlichen Staat zu reaktualisieren, jedoch mit Einbezug der Subjektivität (Rolf-Peter Horstmann, »Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft«, in: Ludwig Siep (Hg.), G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin: Akademie Verlag 2005, 194–216, hier: 194 f.). In der Phänomenologie und in seiner Geschichtsphilosophie legt Hegel immer wieder den Gedanken nahe, dass eine Eskalationsfreiheit transzendental nicht gedacht werden kann, weil der Raum des Politischen per se nicht hegemonial, sondern unter der Berücksichtigung virtuell bleibender inferentialistisch transzendental-notwendiger Verblendungsmomente zu denken ist. In seiner Theorie des Krieges am Ende der Rechtsphilosophie wird das deutlich, wo er vom »sittliche[n] Moment des Krieges« spricht (Rph, Bd. 7, § 324). Nur der politische Raum, der in Eskalationen immer wieder den Naturzustand heraufbeschwört, kann politisch bleiben. 23 Vgl. Ludwig Siep, »Kehraus mit Hegel? Zu Ernst Tugendhats Hegelkritik«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 34, Nr. 3/4 (1981), 518–531.

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angesehen. Hegels Werk legt in der Breite seiner Entwicklung eine Spannung offen, die Hegel nicht gerecht würde, wenn man sie nur zugunsten seiner Theorie der Sittlichkeit als einen genealogischen Harmonisierungsprozess von Partikularität und Allgemeinem denken würde, wo nur noch der Krieg (Rph, Bd. 7, § 333 f.) die Sittlichkeit je neu aus ihrer Gemütlichkeit herausfordert. Die Versöhnung des Allgemeinen mit dem Einzelnen muss, wie Slavoj Žižek treffend bemerkt, in der Spaltung gesehen werden, die sowohl das Subjekt als auch das Allgemeine verbindet. Das exzessive Subjekt und das Allgemeine kommunizieren durch ihre Nicht-Koinzidenz, weil sie sich in einem toten Punkt einer sie beide betreffenden Spaltung gegenüberstehen, der sie zu Feinden machen kann, der sie aber auch in diesem Konflikt aufeinander verweist als »verschiedene Antworten auf ein und denselben grundlegenden Antagonismus«. 24 Figuren wie Jesus, Antigone und Sokrates, deren Exzess-Struktur von Hegels »großen weltgeschichtlichen Individuen« dabei noch einmal abzugrenzen sein wird, legen offen, wie die Gründung einer neuen Form sittlichen Lebens an eine unverstandene pseudo-ethische Gründungsgeste gebunden ist. Diese mit exzessiver Einzelheit ausgestatteten Einzelkämpfer bilden den komplementären Gegenpart zu Hegels Rede vom »Flug der Eule der Minerva«. Sie sind Eroberer einer Zukunft, die immer erst zu spät gewesen oder nicht gewesen sein wird. 25 Gerade dadurch, dass »exzessive Subjektivität« wegen der Nicht-Koinzidenz der geltenden Normen und der unverstanden bleibenden Gewissheit persönlicher Moralität nicht eigentlich beurteilend verhandelt werden kann, verwirklicht sie eine utopische Potenzialität jenseits von Möglichkeit und Wirklichkeit. Das abschließende fünfte Kapitel der Untersuchung vertieft die gewonnenen Ergebnisse aus den ersten beiden Hauptkapiteln im Kontext der Philosophie Jacques Lacans. Ziel ist hier, den Erkenntnissen bei Kant und Hegel noch einmal ein sie erweiterndes, nämlich Slavoj Žižek, Verweilen beim Negativen, Wien / Berlin: Turia & Kant 1994, 44. Friedrich Meinecke wirft Hegel vor, »mit erhabener Gleichgültigkeit gegen das beseelte Individuum« es dahin gebracht zu haben, »daß die handelnden Individuen der Weltgeschichte nur noch als Marionetten des Weltgeistes erschienen« (Friedrich Meinecke: »Ein Wort über geschichtliche Entwicklung«, in: ders., Aphorismen und Skizzen zur Geschichte, Leipzig: Koehler & Amelang 1942, 86). Was Meinecke nicht sieht, ist, dass Hegels Weltgeist keine Strippen ziehen kann. Die Strippen werden durch die Individuen selbst gezogen und nachträglich als wie von einem Strippenzieher geführt erfahren.

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psychoanalytisch-theoretisches Fundament gemäß Lacans Analysen zur autonominellen Rechtssubjektivität zu geben. 26 Dass Kant und Hegel bestimmte Theoreme psychoanalytisch geprägter politischer Philosophie vorausnahmen, ohne das Vokabular der Psychoanalyse zu besitzen, zeigt sich an verschiedenen offengelegten Überschneidungen mit Lacan, wenn es z. B. um die Frage der Willensmotivation des Subjekts geht, um Trauma-ähnliche Inkommensurabilitäten der Psyche, die ihre Rechtssubjektivität, d. h. ihr Eingebundensein in normative Semantiken betreffen, oder wenn es um die Auslieferung der Psyche an einen sie immer mit Überdeterminationen konfrontierenden normativen Raum der Gesellschaft geht. Lacan bewegt sich auf diesen Feldern in seiner schwer zu systematisierenden Philosophie, die sich uns zum großen Teil nur über Seminar-Mitschriften aus dem Zeitraum der 1950er bis zu den 1970er Jahren darbietet. Sein Werk widmet sich vielschichtig dem gegenseitigen Einfluss von gesellschaftlichem Raum und subjektiver Psyche: dem exzessiven Einfluss enigmatischer Anrufungen, den die Gesellschaft auf das Unbewusste des Subjekts ausübt, wie auch dem Einfluss exzessiver Subjektivität auf die Gesellschaft, der sich dadurch ergibt, dass die Gesellschaft für das Individuum ›nie alles‹ sein, nie dessen fundamentalen Mangel kompensieren kann und so immer als eine Provokation des eigenen imaginären Selbstbildes dasteht. Eine Grundthese Lacans ist ja der Aufweis, dass das Unbewusste ebenso wie die Sprache keine Privatangelegenheit ›meines‹ Subjektseins ist. Wo das Ich seinen intimsten Hort zu verbergen glaubt, der nur ihm (beispielsweise im Traum) zugänglich ist, befindet sich gerade eine Falltür zur Außenwelt bzw., mit Lacan gesagt, zum »großen Anderen«. Wir werden so im Laufe dieses letzten Kapitels in Bezug auf unser Thema exzessiver Subjektivität sehen, dass eine nach Lacans Philosophie als performative Freiheitstat zu verstehende »Verzerrung« des phantasmatischen Rahmens, in dem Rechtssubjektivität gemäß der Psychoanalyse Lacans angesiedelt ist, das Subjekt als politisches wie im Moment einer Neurosenwahl hervorbringt. Genau darin werden wir auch das philosophiepolitische Potenzial der Psychoanalyse aufsuchen und ihre

Viele Kommentatoren haben eine direkte historische Verbindung zwischen der Philosophie des Idealismus und der Metapsychologie aufgewiesen. Stanley Cavell z. B. spricht von einer Erbschaft (»inheritance«), die Kant mit der Psychoanalyse verbinde. Siehe Stanley Cavell, »Freud and Philosophy: A Fragment«, in: Critical Inquiry, Vol. 13, No. 2 (1987), 386–393.

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Verbindung zur Subjektphilosophie des deutschen Idealismus aufzeigen. Diese Verbindung ist in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Veröffentlichungen zeitgenössischer Philosophen und Kulturtheoretiker herausgearbeitet worden (herausragend sind die Werke von Badiou, Gardner, Laclau, Žižek) und sie zeigt unter anderem, was unter exzessiver Subjektivität im Kontext politischer Handlungstaten verstanden werden kann. 27 Man könnte annehmen, es handle sich dabei um eine Vermischung inkompatibler philosophischer Kategorien, denn Theoreme des deutschen Idealismus werden in eine Beziehung zu Kategorien der Psychoanalyse gesetzt. Schon allein aber der auch schon in der Kant-Literatur thematisierte Bezug zwischen dem Hier eine Auswahl von Veröffentlichungen, die die Psychoanalyse für die politische Philosophie fruchtbar machen. In Bezug auf Freud siehe: José Brunner, Freud and the Politics of Psychoanalysis, Oxford: Blackwell Publishing 1995. Siehe besonders Kapitel 2 und 3, wo Brunner Freuds Theorien zur Psyche und Sprache auf den Diskurs der Politik und auf verschiedene gesellschaftliche Institutionen (z. B. die Klinik) anwendet. Béatrice Longuenesse vergleicht Kants ethischen Willen mit Freuds Theorie des Über-Ichs, »Freud and Philosophy. Kant’s ›I‹ in ›I Ought To‹ and Freud’s Superego« (in: The Aristotelian Society. Supplementary Volume, Vol. 86, No. 1 (Juni 2012), 19–39). Sebastian Gardner verteidigt die Psychoanalyse gegen die Geringschätzung, die ihr aus philosophieanalytischer Tradition entgegenkommt aufgrund ihres angeblichen Festhaltens an der Theorie einer »second mind«. Gardner bringt die Psychoanalyse in Beziehung zur Alltagspsychologie und interpretiert besonders die politischen Implikationen in Bezug zu Wunschvorstellung (Kap. 6) und Fantasie (Kap. 7) nach Freud und Melanie Klein: ders., Irrationality and the Philosophy of Psychoanalysis, Cambridge: Cambridge University Press 1993. Siehe auch die sehr interessante Replik auf Gardner von Jonathan Lear: »The Heterogeneity of the Mental«, in: Mind, Vol. 104, No. 416 (Oktober 1995), 863–879. Aus den zahlreichen Publikationen von Jonathan Lear zu Freud ragt als vielleicht politischste Freud-Lektüre sein Buch Radical Hope. Ethics in the Face of Cultural Devastation (Cambridge/ Mass.: Harvard University Press 2008) heraus. Zu Lacan werden im 5. Kapitel zahlreiche Veröffentlichungen aufgewiesen. Hier seien nur folgende genannt: Slavoj Žižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, Wien: Passagen Verlag 1994. Für einen guten Überblick zum politischen ›Links-Lacanismus‹ (Badiou, Castoriadis, Laclau, Žižek,) siehe Yannis Stavrakakis’ The Lacanian Left: Psychoanalysis, Theory, Politics, New York: State University of New York Press 2007, Kap. 1; ders., Lacan and the Political, London / New York: Routledge 1999; Siehe ebenso: Willy Apollon / Richard Feldstein (Hg.), Lacan, Politics, Aesthetics, New York: State University of New York Press 1995; Alain Badiou, Ethik: Versuch über das Bewusstsein des Bösen, Wien / Berlin: Turia & Kant 2002; Eric Santner, On the Psychotheology of Everyday Life. Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago: Chicago University Press 2001. Jüngeren Datums ist Martin Schultes erhellender Vergleich von Pierre Legendres Werk mit Lacans Subjektphilosophie: Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan, Berlin: Duncker & Humblot 2009.

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Freud’schen Über-Ich und dem moralischen Willen, Hegels Psychologie der Seele in seiner Anthropologie, die zahlreichen Verweise in Lacans Seminaren auf Kant und Hegel, der biographische Umstand, dass Lacan an den berühmten Vorlesungen von Alexandre Kojève in Paris teilgenommen hat und die Herr-Knecht-Dialektik als zentrale Quelle für sein eigenes psychoanalytisches Subjektivitätsmodell antagonistischer Anerkennungsstrukturen benutzt, zeigen, dass hier eine Beziehung mehr als offensichtlich ist. Lacans Metapsychologie kann die politische Philosophie des Idealismus und dessen Definitionsversuche der Freiheit des Menschen neu verstehen lehren, da sie aufzeigt, wie Techniken der Referenz und Anrufung dazu führen, dass sich das Subjekt den appellativ-politischen Instanzen in der Doxa der etablierten Normativität zuwendet oder eben auch sich von diesen in seiner »Legitimität« nicht einmal ansatzweise angesprochen findet. Die Zuwendung zu den etablierten Institutionen stellt, wie Martin Schulte treffend formuliert, die Bereitschaft des Subjekts dar, »sich als begeisterter Zuschauer der Inszenierung der mythischen Ursprungsformel und der Verbote zu gerieren« 28. Mit seiner Rede vom »Gesetz« meint Lacan meistens nicht das positivierte, normative Recht eines Staates, sondern er zielt auf den ursprünglichen psychischen Mechanismus ab, der durch die enigmatisch zu nennende Entstehung von Anerkennung von Normen Subjektivität erst ermöglicht. Diese Subjektivität weist aber gleichzeitig durch die permanente Thematisierung einer krankhaften, paranoiden Nicht-Verortung derselben auf, inwiefern die Alltags-Realität durch institutionell gelenkte Virtualitäten (bzw. Einbildungskräfte) überhaupt erst dem Einzelnen ›normal‹ wird. Ethiken exzessiver Subjektivität entstehen teilweise an der Grenze von Normalität und Virtualität, da es für sie keine Unterscheidbarkeit mehr zwischen Potenzialität und Virtualität gibt. Gerade Lacans Konzentration auf das Phänomen der Subjektivität zeigt, wie das Begehren des Subjekts sich in seinem »Subjekt des Unbewussten«, das gemäß Lacans berühmtestem Satz »wie eine Sprache strukturiert« ist, für oder gegen Rechtsbindung und Gesetzeskraft aussprechen kann. Lacan ermöglicht so Ausdifferenzierungen in der Analyse des Rechtssystems, die viel mit Hegels Philosophie der Freiheit, mit Kants moralischem Willen zu tun haben und die über Freuds Aussagen zu Gesellschaft, Kultur und Recht hinausgehen. 28

Schulte, Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs, 52.

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Noch eine Anmerkung zum Abschluss dieser Einleitung: Im Eintrag des § 223 seines Textes Über Gewißheit fragt Ludwig Wittgenstein, ob er verrückt sei und ob er nicht dasjenige, was er an der ihn umgebenden Wirklichkeit nicht bezweifelt, vielleicht doch bezweifeln sollte. Politisch geprägte Gesellschaften können bei ihren Bürgern einen analogen Zweifel provozieren: den Zweifel an der Unterscheidbarkeit von dem, was bezweifelbar ist, und dem, was nicht bezweifelbar ist. Und sie können dies auch dann noch, wenn sehr viele Indizien darauf hinweisen, dass die Verhältnisse des Bestehenden unbedingt bezweifelt werden sollten. 29 Wenn dies nicht geschieht, dann unter anderem auch deshalb, weil das Procedere von Administrationen die performative Wirkkraft des Faktischen durch Praktiken bestätigten kann. Ein politischer Apparat – egal ob totalitär oder demokratisch – kann sich so sehr viel leichter dem Vorwurf der Paranoia entziehen. Er kann auf seine Behörden verweisen, auf das Kollektiv seiner Bürger, das ihn wählt oder in Sportstadien mit Farbtafeln als Kopf oder Friedenstaube abbildet. Ein Einzelner, der der wirkmächtigen Legitimität der Fakten durch performativ produzierende Administrationen zu widersprechen beginnt, muss stattdessen um seine Zukunft fürchten. Ebenso muss er um seine psychische Gesundheit fürchten. Vielleicht ist sein Einspruch nur Luxus des Querulanten, der doch auch vom status quo profitiert? Lacan zeigt, inwiefern die Unterscheidbarkeit von Paranoia auf gesellschaftlich-kollektiver Ebene oder auf subjektiver Ebene nicht immer klar zu bestimmen ist durch eine permanent lauernde Nicht-Koinzidenz zwischen dem notwendig individualpsychischen Erleben von ›Realität‹ und dem Symbolischen als einem kollektiv aufrecht erhaltenen Glauben an den großen Anderen, den man nie ganz zu Gesicht bekommt. 30 Auch Hegel thematisiert diese Ununterscheidbarkeit von Paranoia an der Grenze der für seine Philosophie »Paranoische Vernunft« mag man diesen Zustand mit Manfred Schneider nennen, der ihn in Figurationen des Attentäters als Instanz partikulärer Verblendung besonders seit der Zeit der Moderne lokalisiert (vgl. Manfred Schneider, Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz 2010). Schneider interpretiert besonders die Moderne als Ursprungsquelle des Attentats. Eine immer rationalere Zweckbestimmung der Lebensbezüge provoziere eine Überrationalität verschwörungstheoretischer Paranoia. Schneider dehnt den Paranoia-Begriff leider so weit aus, dass eine jegliche normative Beurteilung der politischen Krise, für die das Attentat steht, kaum noch gelingen kann. 30 Er kann dennoch mächtig und allpräsent sein, selbst wenn er offensichtlich dement, tumb, illegitim oder offiziell tot ist. 29

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Einleitung: Von der Notwendigkeit der Handlungstat

zentralen Entitäten des Allgemeinen und des Besonderen. »Geist« und »Bewusstsein« können nahezu unbemerkt aus einer Gesellschaft herausfallen. Dann sind es Einzelne, die dies (d. h. den abwesenden großen Anderen) eventuell erkennen, während die Form selbst – und die sich alle unter ihrer Protektion befindenden Schutzbedürftigen – noch an ihr Erfülltsein im Procedere der ›weitertapsenden‹, aber längst überholten Praktiken glauben. Ein Umschlag von Fülle zu Leere kann sich allmählich oder schlagartig (Hegel: »wie ein Blitz«) vollziehen. Er kann je durch Kontingenz ausgelöst werden, z. B. durch die Kontingenz einer zu spät erkannten Naturkatastrophe oder den Zusammenbruch eines Finanzsystems. Aber die Kontingenz kann auch als das Auftreten einer Subjektivität verstanden werden, die sich nicht monokausal aus der etablierten Doxa herrschender Sittlichkeit herleitet, sondern sich – in Analogie zu Kants Gesinnungsrevolution – erst in einem Akt der Tat ›beweist‹. Das Problem einer genauen Grenzbestimmung von Paranoia an der Trennwand von Allgemeinem und Besonderem ergibt sich durch die Grenzunschärfe dieser Trennwand selbst. Und sowohl Kant, Hegel als auch Lacan thematisieren diese Grenzunschärfe in den von ihnen erarbeiteten Epistemologien. Sie stellt für die Praktische Philosophie eine Herausforderung dar, die diese Studie herauszuarbeiten versucht, ohne selbst schon eine klare Antwort auf diese Herausforderung zu haben. Diese Arbeit erhebt auch deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wird aufgrund der Menge an Sekundärliteratur zu den drei genannten Auoren nicht alle Auffassungen prüfen, die man in den Fachliteraturen zu Kant, Hegel und Lacan zu der Thematik antrifft, oder jedes Argument, das bisher dazu vorgebracht wurde. Ihr Ziel besteht darin, die Streitfrage um exzessive Subjektivität als wichtig zu erhellen und die Problematik für mögliche zukünftige Analysen topographisch abzustecken.

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II. Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung

Alles Neue beginnt mit Polemik. S. Kierkegaard

Exzessive Subjektivität taucht oftmals in der Gestalt unter-repräsentierter normativer Ansprüche auf. Diese treffen unverstanden auf den Bereich des politisch Etablierten und offenbaren ihn als einen durch kollektive Hegemonialisierungsmechanismen strukturierten, der, vereinfacht gesagt, häufig nur die Kognitionen rezipieren kann, die sich unter die von ihm etablierten Oberbegriffe subsumieren lassen. Das führt innerhalb eines politischen Gemeinwesens dazu, dass beispielsweise als exzessiv wahrgenommene normative Ansprüche, welche die Differenzfrequenzen des Allgemeinen sprengen, nicht präsentiert werden können, weil sie scheinbar nicht repräsentierbar sind. Hegemoniestreben ist dabei zweifellos für ein jedes politisches Gemeinwesen unerlässlich, weil das Allgemeine innerhalb dieses Gemeinwesens (Werte, Normen, Sitten etc.) in seiner Hoheitsdefinition nur Kognitionen innerhalb bestimmter Toleranzgrenzen aufgreifen kann und darf. Erst Strukturen, die zu einer kognitiven Stressreduzierung allzu gegensätzlicher Ansprüche im Bereich des Politischen führen, lassen ein Gemeinwesen um normative Wertigkeiten herum entspringen. Deren Justierungen finden nicht selten unabhängig von Prozessen der Deliberation im Bereich der etablierten politischen Ordnungsstruktur und d. h. letztlich im Rücken des Allgemeinen statt, weil sie die Homogenität des Allgemeinen selbst bedingen. Exzessive Subjektivität taucht vor diesen Abblendungen auf. Sie verweist uns darauf, inwiefern die Frage nach der Autonomie des Subjekts mit der Bestimmung des Allgemeinen im Rücken der etablierten Doxa eng verbunden ist. Darin kündigt sich schon an, dass die Rede von der Autonomie des Subjekts nicht frei von paradoxen Momenten ist. Autonom-Sein verpflichtet das Subjekt dazu, Teil einer Sittlichkeit seiner Lebenswelt zu sein, die just immer auch wieder seiner 33 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung

Autonomie zu widersprechen scheint. Auch Hegel war diese Problematik bekannt. Er erbte sie unter dem Begriff vom Paradox der Autonomie von Rousseau und Kant als konfliktuelle Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. zwischen Partikulärem und Allgemeinem. Bevor wir auf die drei im Zentrum dieser Analyse exzessiver Subjektivität stehenden Autoren im Detail eingehen, wollen wir im Folgenden als Hinführung auf die Theorie exzessiver Subjektivität die Problematik vom Paradox der Autonomie entfalten. Dies ist nötig, da dieses Paradox die Matrix ist, auf der, wie auf einem Hintergrund, exzessive Subjektivität in Erscheinung tritt. Hegel hatte besonders die Herausforderung des Paradoxes der Autonomie für die politische Philosophie erkannt, weshalb wir mit ihm in diesem Kontext beginnen möchten. Hegels bekannte These aus der Rechtsphilosophie, dass der »Geist eines Volkes« der »wahre Grund« unserer sittlichen Pflichten sei (Rph, Bd. 7, § 137), führt zu dem wiederholt gegen seine Theorie der Sittlichkeit vorgebrachten Einwand, dass der Volksgeist den Individuen nicht nur einen Inbegriff sittlicher Pflichten, sondern auch deren Anwendungskriterien vorgibt (vgl. Gesch. d. Phil., Bd. 18, 488 f.). Das legt die totalitäre Geschlossenheit des jeweiligen Volksgeistes nahe und hat wiederholt zu scharfer Kritik geführt. Aber darüber hinaus gibt Hegel zu erkennen, dass der Geist eines Volkes damit nicht in sich abgeschlossen ist. Denn er verweist auf den Einzelnen, der z. B. in Krisenzeiten »befugt« ist, aus sich »zu bestimmen, was recht und gut« (Rph, Bd. 7, § 138) ist. Nun ist aber gerade das zu verstehen das Problem: zu verstehen, wann eine Krisenzeit eingetreten ist und zu verstehen, wie ein Einzelner ›legitimiert‹ sein kann, in einer solchen Zeit zu bestimmen, was »recht und gut« ist. Schließlich ist er Kind seiner Zeit, d. h. auch ihm sind die herrschenden Anwendungskriterien gegenüber dem, was in seiner Zeit das hegemonial definierte Gut ist, Teil seiner inneren Natur (eben seiner Sittlichkeit). Ebenso ist nicht einsehbar, wie dieser Einzelne, sollte er das, was »recht und gut« ist, nun doch autonom bestimmt haben, von der hegemonial den Volksgeist dominierenden Mehrheit verstanden werden kann, gesetzt den Fall, es würde sich sehr stark von dem absetzen, was die Mehrheit für recht und gut hält. Nun könnte man diese Spannung verringern im Verweis auf die Überdeterminierung von gesellschaftlichen Zusammenhängen und 34 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung

die Vielgestaltigkeit politischer Gremien innerhalb eines Volksgeistes. Volksgeist ist nicht so totalitär eindimensional, wie die Rede von dem Volk suggeriert. Besonders in den demokratischen Gesellschaften ist Volksgeist das Konglomerat verschiedener zivilgesellschaftlicher Diskurse. Aber auch dort gibt es unzweifelhaft die Tendenz, dass ein Diskurs hegemoniale Dominanz hat und andere von seinen Prämissen abhängig macht. Diese Prämissen können als restriktiv aufgefasst werden. Insofern bleibt das Problem: Wie kann ein Diskurs, der der hegemonialen Diskursordnung diametral widerspricht, sich durchsetzen, wenn doch die normativen Argumentationsprämissen, d. h. das, was als legitim im öffentlichen Diskurs verhandelt wird, durch den hegemonialen Hauptdiskurs festgesetzt werden? Besteht nicht die Gefahr, dass hier das Aufeinandertreffen verschiedener Weltbilder zu einem Kampf führt, in dem, mit den Worten Wittgensteins, »jeder den Andern für einen Narren und Ketzer« 31 hält? Hegel legt in seiner Abgrenzung zu Kant Wert darauf, zu zeigen, inwiefern der Innerlichkeit eine das Innere der Innerlichkeit indirekt bestimmende – durch Sitten und Gebräuche sie prägende – Außenwelt vorausgeht. Hegel schreibt, dass das Gute lebt, wenn es in Handlungen »wirklich ist« (Rph, Bd. 7, § 141N) und die Handlungen wirklich sind, insofern sie das »lebendige Gute« Gestalt werden lassen. Ökonomische Bedingungen z. B. ermöglichen einem Subjekt in einer Epoche Handlungsoptionen, die andere Subjekte Jahrhunderte zuvor nicht hatten. Durch das Aufgehen in den je sich bietenden Handlungsoptionen wird eine sittliche Welt wirklich vor einer ganz bestimmten und zeitbedingten Autonomie. Heute z. B., im Jahr 2015, verstehen sich viele Bürger in westlichen Industrieländern als autonom gemäß den Prämissen von in der Regel kapitalistisch organisierten Gesellschaften. Diese Autonomie ist höher als die der Bürger im Tschad, einem der ärmsten Länder der Welt, oder als die eines Bürgers im Mittelalter. Aber auch in den industrialisierten Ländern ist selbstverständlich Autonomie nur bedingt autonom. Das Selbstverwirklichungspotenzial der Kinder besitzloser Familien ist geringer als das der Kinder vermögender Eltern, die durch Kapitalanhäufung ihrem Nachwuchs mehr Selbstverwirklichungsoptionen bieten können. Die ärmeren Familien müssten die reicheren berauben, um die Kontingenz von materiellen Verwirklichungsmöglichkeiten weniger Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, in: ders., Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1984, 243, § 611.

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kontingent erscheinen zu lassen. Aber davon hält sie die Rechtsordnung ab, die das Recht auf Eigentum als Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft beschützt. So akzeptieren viele, Ärger vermeidend, die ihnen in diesem Jahrhundert gebotene Autonomie und bestätigen damit eine Rechtsordnung, die dennoch nicht ganz rechtens zu sein scheint. Man könnte daher sagen, dass die Sittlichkeit dem Subjekt in einer Weise eingeschrieben ist, bevor das Subjekt in seiner Autonomie als subjectum sich zu sich selbst und dem »lebendigen Gut« verhalten kann. Robert Pippin spricht in diesem Zusammenhang vom »Kantian paradox« 32 und Terry Pinkard verweist auf die Bedeutung von »Praktiken« als Bedingungen von Subjekten, sich durch Handlungszusammenhänge zu autonomisieren. 33 Das Teilsein einer Praxis heißt, wie Pippin in seinem Buch Hegel’s Practical Philosophy darstellt, 34 einen bestimmten Status in dieser Praxis haben und durch diesen in der eigenen Innerlichkeit kognitiv ›vor-formatiert‹ zu sein: einen Zweck bestimmen, Mittel wählen, eine Handlung ausführen können, Urteile über praktische Zusammenhänge fällen etc. Diese Momente sind immer schon Teil einer Verzahnung von kulturellem Überbau und subjektiver Innerlichkeit. Urteilsfähigkeit ist so an ein in der Außenwelt sich abspielendes, durch kollektiv verbürgte und doch dem Kollektiv immer auch teils undurchschaubar bleibende Prozesse gestiftetes, unthematisches Regelwerk gebunden. Die etablierten Praktiken generieren Beurteilungsvermögen derselben und vice versa. 35 32 Robert B. Pippin, »The Actualization of Freedom«, in: Karl Ameriks (Hg.), Cambridge Companion to German Idealism, Cambridge: Cambridge University Press 2000. Ebenso Karl Ameriks, Kant and the Fate of Autonomy: Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 2000, Kap. 1. Siehe ebenso Christoph Menkes Artikel »Autonomie und Befreiung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 58, Nr. 5 (2010), 675–694. 33 Vgl. Terry Pinkard, »Tugend, Moral und Sittlichkeit. Von Maximen zu Praktiken«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 49, Nr. 1 (2001), 65–87. 34 Vgl. Robert B. Pippin, Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge: Cambridge University Press 2008, 97 ff. Vgl. ebenso Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp 2011, 202 ff. 35 Christoph Menke schreibt treffend: »Etwas, das Teil einer Praxis ist, zu beurteilen, heißt daher, es an dem Gesetz zu messen, das, weil es die Praxis konstituiert, auch dieses Etwas erst zu einem Teil dieser Praxis macht« (vgl. Menke, »Autonomie und Befreiung«, 680). Pippins Interpretation von Hegels Rechtsphilosophie entfaltet so das dialektische Zusammenspiel von Subjekten und Praktiken in einer Verzahnung,

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Wenn der »Geist eines Volkes« der »wahre Grund« unserer sittlichen Pflichten ist (Rph, Bd. 7, § 137), dann verbürgt der Volksgeist einen Inbegriff sittlicher Pflichten und deren Anwendungskriterien (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 488 f.). Das Gute lebt dann in meiner Epoche, insofern ich dasselbe nicht besonders hartnäckig infrage stelle und z. B. keinen gegen die etablierte Sittlichkeit gerichteten Aufruhr anstifte oder die Wohnung meines reicheren Nachbarn ausraube. Die Autonomie, die mir und meiner Familie z. B. in einer bürgerlichen Gesellschaft geboten wird, akzeptiere ich, was nicht zwingend einem Eingeständnis, dass sie perfekt sei, gleichkommt, aber sie als diejenige auszeichnet, an die ich mich durch kulturelle Auferlegung gewöhnt habe. Die sittliche Welt ist so immer schon durch eine zirkuläre Bedingungsverschränkung von Subjekt und historisch etablierter Lebensform bestimmt. Nur Revolutionen zeigen, dass diese Bedingungsverschränkung nicht stabil sein muss. Mein Nicht-Aufbegehren gegen die Sitten kann so auch als ein indirekter passivischer Akt der Beglaubigung der sozialen Praxis verstanden werden, selbst wenn diese Praxis auf verschiedenen Ebenen von mir als unethisch beurteilt wird. Passives Erdulden gegenüber unmoralischen Gesetzen und Normen ist dann Teil der Gesetzeskultur. Dieser Umstand hat unter anderem Peter Sloterdijk dazu veranlasst, den Begriff der zynischen Vernunft als einen erschöpfenden Zwang falschen Bewusstseins zu prägen. 36 Slavoj Žižek rezipiert diesen Begriff in seinem Buch The Sublime Object of Ideology und verkehrt ihn in Abwandlung von Karl Marx’ berühmter Ideologiein der keine der beiden Entitäten den Vorrang bekommt. Es kann nicht gesagt werden, inwiefern die Subjekte die Praktiken bestimmen, die sie vollziehen, oder aber die Praktiken die Subjekte in ihrem Urteilsvermögen vorprägen. Der Mensch ist hier nie aus einer – sinnbildlich gesprochen – cartesischen Selbstbezüglichkeit auf die Praktiken im Bereich des Sozialen ausgerichtet. Terry Pinkard zeigt diese dialektische Verzahnung in Bezug auf Hegel und Wittgenstein im Kontext der Erkenntnistheorie und dem Wittgenstein’schen Konzept der ›Lebensform‹. Siehe: Terry Pinkard, »Innen, Außen und Lebensformen: Hegel und Wittgenstein«, in: Michael Quante / Christoph Halbig / Ludwig Siep (Hg.), Hegels Erbe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, 254–294. Praktiken in der Objektwelt ermöglichen der Innerlichkeit des Subjekts immer schon eine Beurteilung derselben. Nur aufgrund der Tatsache, dass das Subjekt an Praktiken teilnimmt, kann es überhaupt eine praktische Vernunft haben (Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, 263 ff.). Siehe Menkes Kommentare zu und seine Kritik an Pippin in: »Autonomie und Befreiung«, 680 f. 36 Vgl. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983. Zu Sloterdijks Kritik am ›erschöpfenden Zwang falschen Bewusstseins‹ : 20–50.

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Definition aus dem Kapital (»Sie wissen das nicht, aber sie tun es« 37) in den ideologischen Zeitgeist: »They know very well what they are doing, but still, they are doing it.« 38 Zu der Ideologie-Problematik, die dieses Thema aufweist, kommen wir im Verlauf unserer Analyse mehrmals zurück. Hegel betont, dass ein Subjekt auch dann noch autonom zu nennen ist, wenn es immer schon Teil eines inferentialistischen Netzwerkes von Handlungsoptionen ist. Auf diese Weise glaubt Hegel das Problem der Autonomie bei Kant überwunden zu haben. Das moralisch handelnde Subjekt muss nicht solipsistisch auf seine reine praktische Vernunft geworfen werden, um seine Neigungsabstinenz zu beweisen. Als autonom konstituiert sich das Subjekt vielmehr nur aufgrund seiner Teilnahme an Praktiken, die als normative seine Autonomie sind. Jede Urteilsfähigkeit ist dann immer schon teilbestimmt durch das je etablierte Gut, durch eine je etablierte Urteilsfähigkeit. 39 Hierzu schreibt Hegel: »Das Recht der Individuen für ihre subjektive Bestimmung zur Freiheit hat darin, daß sie der sittlichen Wirklichkeit angehören, seine Erfüllung, indem […] sie im Sittlichen ihr eigenes Wesen […] wirklich besitzen« (Rph, Bd. 7, § 153). Die Gesetze der Praktiken sind »dem Subjekt nicht ein Fremdes, sondern es gilt das Zeugnis des Geistes von ihnen als von seinem eigenen Wesen« (Rph, Bd. 7, § 147). Die Anerkennung einer Praxis meint das inferentialistische Eingebundensein in eine Struktur von Gründen, welche aber natürlich Irrtümer enthalten können. Gründe sind begriffliche Normen und als solche genau das, was durch unsere wirklichen Anwendungen dieser Normen in der Vergangenheit in sie hineingelegt wurde. 40 Man könnte dann mit Hegel sagen: Ein Gegenstand ist Teil eines Urteils, insofern er Teil in einer Praxis ist. 41 37 Karl Marx, Das Kapital (Buch I) in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin: Dietz Verlag 1975, 88. 38 Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, London / New York: Verso 1989, 29. 39 »Man weiß, wie man handeln soll, wenn man weiß, wie schon gehandelt wird« (Menke, »Autonomie und Befreiung«, 681). Die Wirklichkeit steht für das Gesamt dessen, was je schon Praxis ist. Dass etwas eine Norm ist, ist also davon abhängig, dass es auch von einem Subjekt als Norm »eingesehen werde[n]« kann (Rph, Bd. 7, § 132). 40 Vgl. Robert Brandom, »Semantik ohne Wahrheit. Ein Interview mit Robert Brandom von Matthias Haase«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 54, Nr. 3 (2006), 449–466, besonders: 460–462. Siehe besonders Brandoms Bemerkungen über die Anwendung gesetzlicher Normen im Urteilsspruch: ebd., 464 ff. 41 Subjekt und Praxis können als ›zwei Seiten derselben Medaille‹ verstanden werden,

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Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung

Wenn nun aber Normen als bindend anerkannt werden, so dass sie in den diskursiven und praktischen Strukturen der sozialen Wirklichkeit eine Dimension von Normativität geprägt haben und die Sittlichkeit der Individuen betreffen, dann kann dennoch die ganze Gemeinschaft sich gemäß ihrer Sittlichkeit im Irrtum befinden bzw. in einer Zeitzone, in welcher die neue Zeit schon da und die alte noch nicht ganz verloren ist. Formen des Politischen gehen zugrunde, weil die Verschränkung von Wahrheit und Rechtfertigung in ihren jeweiligen historischen Objektivationen nicht mehr zum Einklang gelangt. Wahrheit legitimiert sich für Hegel nicht – wie für Richard Rorty – nur inferentialistisch oder epistemisch, sondern Hegels inklusiver Monismus verweist darauf, dass es eines Wahrheitsvorrangs als Bedingung zur Revision von Täuschungen bedarf, der seiner Philosophie dort eingeschrieben ist, wo er das Fortschreiten des Wissens zur Wahrheit als das Zu-sich-selbst-Kommen des Begriffs beschreibt. 42 Einer rein epistemischen, inferentialistischen Wahrheitstheorie widerspricht sein Fortschrittsgedanke zunehmender Täuschungsüberwindung in der Entwicklung des Geistes. Beraubt aber die Verschränkung von »lebendigem Gut« und praktizierendem Subjekt innerhalb dieses Lebendigen nicht wiederum das Subjekt der Autonomie? Wenn das Subjekt dort autonom ist, wo es je schon Teil von Praktiken ist, wie kann es sich zu diesen Praktiken dann noch einmal verhalten (z. B. durch Widerstand, Hinterfragung)? Man könnte Hegel gemäß Pippin so interpretieren, dass das Subjekt nur dann seine Autonomie im je etablierten Gut der herrschenden Sittlichkeit verwirklicht, wenn es sich an ihr beteiligt: Urteile fällt, Urteile anderer hinterfragt, sich beurteilen lässt, mit anderen sich in einem Anerkennungsverhältnis zu sich selbst verhält etc. Dies hat Pippin, Neuhouser und Honneth dazu veranlasst, Hegels Rechtsphilosophie als Theorie sozialer Anerkennung zu verstehen. Die Beteiligung ist Bedingung des eigentlichen Verhaltens-zu. Die herrschenden Praktiken sind nicht dogmatisches Regelwerk, wo der die Hegel »Geist« als historischen Prozess sich immer wieder neu zueinander verhaltender Universalisierungsmomente nennt. Es gibt diese ›Medaille‹ nur im Werden, nicht schon bevor sie sich in der Praxis selbstgenerierend hervorbringt. Hegels Autonomie des Subjekts ist insofern der geschichtliche Weg des Geistes aus Subjekten und Praktiken. 42 Tilo Wesche analysiert dies treffend in: »Hegel und die Wahrheitstheorien der Gegenwart. Ein Streit unter Nachbarn«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 57, Nr. 3 (2009), 355–375, hier: 370.

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Einzelne nur bestimmte Handlungsabläufe eines ihm implantierten Computer-Codes ausführt. Hegel weiß durch eine den Inferentialismus permanent herausfordernde Überkomplexität von Sachverhalten, dass durch Praktiken generierte Normen notwendig immer wieder im inferentialistischen Argumentationsgebiet eine Neudefinition der je etablierten Sittlichkeit herausfordern. Solange aber ein Wissen, eine Praxis als gerechtfertigt gilt, gibt es keinen Kognitionsrahmen, sie infrage zu stellen und die Urteile über diese Praxis anders zu beurteilen. Die Argumente innerhalb des etabliert Kognitiven mögen austauschbar sein, aber wie verhält es sich mit den Prämissen, die den eigentlichen Diskursrahmen vorstrukturieren? 43 Der zuletzt genannte Umstand bereitet ein Problem, das mit zu einer Ausrichtung politischer Philosophie der Gegenwart hin zu einem radikalen, antikantischen, antikommunitaristischen Dezisionismus beigetragen hat (Badiou, Žižek, Laclau stehen dafür beispielhaft ein). Denn es ist nicht ganz einsichtig, wie ein inferentialistisches Normengeflecht trotz wechselseitiger Anerkennungsstrukturen sich z. B. aus einem kollektiven Irrtum befreien kann, wenn dieser die Prämissen des Normengeflechtes selbst betrifft. Wenn die Praxis die Bedingungen der Urteile vorstrukturiert und umgekehrt die Urteile die Praxis (als legitim) begründen, dann ist eine strukturelle – mit Luhmann gesprochen – »systemische« Blindheit immer schon Bedingung des inferentialistischen Systems selbst. Revolutionen in der Weltgeschichte sind Beispiele dafür, wie inferentialistische Normengebäude sich ab und zu nur durch politischen Aufruhr verändern können, weil z. B. eine herrschende Klasse die Prämissen, die ihr Herrschaftsund ihr Wirklichkeitsbild strukturieren, nicht aufgeben kann. Wenn die Praxis je schon Bedingung der Beurteilung ist, wie kann sie dann als Praxis hinterfragt werden? Ist Praxis vielleicht doch gar nicht so zwingend von den kognitiven Rechtfertigungen berührt? Hegel argumentiert, dass dies insofern möglich ist, als der Volksgeist vor dem Hintergrund des Weltgeistes diesen nicht mehr adäquat repräsentiert. Der Volksgeist ist dann zur bloßen »Schale« geworden, Chantal Mouffe und Ernesto Laclau thematisieren diese Problematik wiederholt in verschiedenen Veröffentlichungen im kritischen Gespräch mit Autoren wie John Rawls und Jürgen Habermas. Siehe Chantal Mouffe, Das demokratische Paradox, Wien / Berlin: Turia & Kant 2008. Siehe ebenso Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien / Berlin: Turia & Kant 1991.

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die einen »Kern« verbirgt (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 46), welcher dann von Individuen offengelegt wird. Sie führen den geschichtlichen Umbruch herbei. Ein solches Auftreten von individuellen Ansprüchen, die der Volksgeist noch nicht abdeckt und die sich dann erfolgreich durchsetzen, beweist, dass in solchen historischen Kippsituationen »ein Allgemeines anderer Art« als dasjenige, das »in dem Bestehen eines Volkes oder Staates die Basis ausmacht« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 45), in Gestalt des »weitergeschrittene[n] Geist[es]« der Weltgeschichte bereits gegenwärtig war, und zwar in der »innerliche[n] Seele« derjenigen, die zum Wandel beigetragen haben (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 46). Ein Beispiel, das diesen Umstand veranschaulichen mag, kann man zum wohlbekannten Thema der »Ausbeutung der Natur« in folgende Frage kleiden: Warum hinterfragten wir (teilweise) immer erst zu spät die »Ausbeutung der Natur«? Man könnte sagen, weil auf kollektiver Ebene das Bewusstsein sich erst durch eine nach und nach sich durchsetzende Praxis erwiesen haben wird als das, was plötzlich – eines Tages – aufgrund eines kollektiven Bewusstseins z. B. Einwegflaschen sammelt. Hegels gerade erwähnte Rede von einem »Kern«, der bereits im weltgeschichtlichen Prozess gegenwärtig war, kann hier in die Irre leiten. Denn wenn er den Volksgeist vom Verlauf des Weltgeistes so absetzt, wie es die oben erwähnten Zitate nahelegen, dann hat es den Anschein, als sei der Weltgeist schon als konkrete Potenzialität vor der Ausgestaltung des Volksgeistes da und fungiere indirekt als teleologisches Korrektiv. Zu behaupten, der Geist sei schon – wie Hegel selbst schreibt – »weitergeschritten«, suggeriert, es gäbe eine Instanz des Weltgeistes, die vor einem nachträglichen Rückblick immer schon hätte legitimieren können, welcher Schritt einen potenziellen »Kern« verberge und welcher Schritt dann als nächster erscheine. Für Hegel ist Weltgeist aber dem Prozess verschiedener Selbstbewusstseinsstufen nur nachträglich voraus. Und gerade weil die Zukunft des Weltgeistes für Hegel sich nur zu spät bestimmt, ist nicht nur die Zukunft offen, sondern auch die Vergangenheit. Sie kann neu umgeschrieben werden. 44 Das, was Hegel hier suggestiv »Kern« nennt, ist durch vir-

Dies ist bekanntlich eine Grundeinsicht von Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, die scheinbar gegen einen bestimmten Hegelianismus geschrieben, letztlich Hegel jedoch sehr verwandt sind. Vgl. Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hrsg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, 691–704.

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tuelle Verkennungsmomente, die den Volksgeist als eine Art Hologramm erscheinen lassen, ständig in Gefahr, erkannt oder verkannt zu werden. Wann also eine Praxis die Autonomie von Subjekten in einer konkreten politischen Gewohnheitsordnung bestimmt haben wird, ist anscheinend wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) von Kontingenzen mitbetroffen und kann demnach kein Prozess einer klar strukturierten normativen Absprache von beispielsweise Diskursteilnehmern sein. Dies ist ein Punkt, den die Hegel-Kritiker bis in die 1980er Jahre oft missachteten, besonders Vertreter der ersten Generation der Frankfurter Schule. 45 Sie interpretierten Hegel oftmals von einem Begriff des Allgemeinen / Universellen, das keine Kontingenz als das Partikulär-Andere seiner selbst kennt. Kontingenz erfährt aber bei Hegel gerade eine ontologische Aufwertung. 46 Sie darf nicht als Kollateralschaden der hier beschriebenen, stark passivisch und anonym sich erweisenden Prozesse verstanden werden, die den kognitiven Subjekten »geschehen«, zustoßen. Kontingenz markiert eine ontologische Dimension des Allgemeinen, mit der Hegels zyklische Verzahnung von Subjekt und Praxis uns auf eine Externalisierung der Innerlichkeit des Subjekts hinweist, die das Allgemeine braucht, um (durch azyklische Momente beeinflusst) in neue Gestalten zu gelangen. Schließlich zeigt Hegel gerade in seiner Geschichtsphilosophie, inwiefern bestimmte historisch-kontingente Situationen in Krisen sich gegen eine etablierte Praxis und das an diese Praxis gebundene Erkenntnisinteresse wenden und dadurch Sittlichkeit in eine neue Form (um)kippen lassen. Aber diese Momente können ebenso verpasst werden. Gerade am Beispiel von Jesus, Antigone und Sokrates thematisiert Hegel den Durchbruch von normativen Bewusstseinsstufen durch Tragödien der Sittlichkeit, die sich aus einer Nicht-Koinzidenz zweier verschiedener Wahrheitsansprüche ergeben. Und um diese Nicht-Koinzidenz geht es in den drei Hauptkapiteln (III–V) dieser Arbeit.

Theodor W. Adorno ist hier beispielhaft. Siehe seine Kritik an Hegels Rede von der Vernunft in der Geschichte von der Phänomenologie bis zur Rechtsphilosophie: »Weltgeist und Naturgeschichte. Exkurs zu Hegel« in: ders., Negative Dialektik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, 295–353. 46 Vgl. Konrad Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls. Hegels spekulative Dialektik in der Wissenschaft der Logik: ein Entwurf, München: Schöningh 2001. 45

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»Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen – dieses Wort, das von Gottfried Keller stammt, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an der es vom historischen Materialismus durchschlagen wird.« 47 Mit diesem berühmten Satz kritisiert Walter Benjamin die Hegel-Schule des Historismus im 19. Jahrhundert. Aber was Benjamin hier gegen eine bestimmte Hegel-Auslegung schreibt, ist das, was Hegel selbst auch erkannt hatte: dass eine Wahrheit uns in einem gewissen Sinne doch davonlaufen kann. Sie kann davonlaufen, wenn das, was z. B. in einer historischen Kippsituation als ein neuer potenzieller »Kern« des Weltgeistes vor der hohlen Schale des Volksgeistes wie eine Fata Morgana auftaucht, nicht zum Durchbruch gelangt. Nachträglich kann dies zeigen, dass die ›Zeit noch nicht reif war‹. Es kann aber auch nachträglich zeigen, dass dem Weltgeist eine weitere Tragödie zuteilwird, die er sich eventuell hätte ersparen können. Der Weltgeist kann sich daher selbst immer wieder verpassen. Oder radikaler gesagt: Der Weltgeist verpasst sich notwendig permanent, da er das Moment der Kontingenz, welches u. a. der innere Motor seines Funktionierens und die Bedingung wirklicher Freiheit der Menschen ist, selbst nicht als einen Teil seiner selbst unter reflexiver Beobachtung hat. Den Umschlagpunkt von einer neuen kognitiven Erkenntnis zur praktischen Umsetzung können beispielsweise sowohl Theoretiker der Diskurspragmatik als auch an Hegel orientierte Theoretiker beschreiben. Ohne eine tiefergehende Diskussion mit der Transzendentalpragmatik Apels und der Habermas’schen Theorie kommunikativen Handelns führen zu wollen, könnte man sagen, dass die zuletzt genannten Vertreter diesen Umschlagpunkt als Ergebnis eines kognitiven Deliberationsprozesses begreifen, in dem vernünftige Begründungen von Normen nach intersubjektiv abgestimmten argumentativen Prüfungen neue Geltung gefunden haben. An Hegel orientierte Theoretiker fassen ihn wiederum als stark von Kontingenzen und unreflektierten, nicht durch vernünftige Deliberationsprozesse einholbaren Praktiken beeinflusst auf. Diese Praktiken werden in diesem Fall retrospektiv als kognitiv einsichtig erklärbar. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo ein solcher Umschlagpunkt unzeitgemäß kommt – teils zu spät, teils zu früh – oder gar erst durch eine Katastrophe ausgelöst wird. Das sich auf der Ebene der Sittlichkeit etablierende kognitive Umkippen hat sich nämlich z. B. schleichend durch eine Praxis als 47

Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte« (These V), 695.

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immer schon zum Teil präsent gewesen erwiesen. Was uns folglich auf den ersten Blick als ein scheinbar autonomer Prüfungsprozess der Rechtfertigung von Normen zwischen Diskursteilnehmern in einer demokratischen Öffentlichkeit erscheinen mag, ist nicht richtig autonom. Praktiken im Rücken der Rechtfertigungsprüfungen von Normen, d. h. im Rücken der diskursiven Vernunft haben schon bestimmten Prämissen den Weg gebahnt. Wir wollen hier nicht behaupten, dass die Passivität von Erkenntnisprozessen durch Praktiken allein wirkmächtig ist. Die Zivilgesellschaft prägt auf allen Ebenen politisch engagierte Gruppierungen, die sich an der Gestaltung von Werten und Normen beteiligen, die sich austauschen, die Argumente vorbringen, ablehnen oder neu artikulieren. Das ist unbestritten. Dennoch gibt es eben auch das ›passivische‹ und ›nachträgliche Begreifen‹, das von Kontingenzen mitbestimmt wird. Warum essen wir z. B. immer noch Tiere, wo doch durch Peter Singer ein potenziell neues moralisches Bewusstsein uns die Amoralität dieser Praxis nahelegt? 48 Haben wir Probleme, ihn kognitiv zu verstehen? Wir verstehen, was dieser Einzelne sagt, aber das Verstehen zieht wenig Konsequenzen auf die Praxis hin nach sich. Letztere scheint ihre eigene kognitive Kraft zu haben und sich gegenüber den Einwänden aufgrund ihrer kollektiven Verbreitung abschirmen zu können. Eines Tages wird diese Praxis eventuell hinterfragt werden und vielleicht schlicht und einfach dann, wenn sie nicht mehr ausgeführt wird, sprich als nicht mehr existente nun auch hinterfragt werden kann. 49 Das Gute, das »lebt«, wenn es in Handlungen »wirklich ist« (Rph, Bd. 7, § 141N), ist demnach immer auch bedingt durch einen Prozess konkurrierender, teils parallellaufender, teils sich widersprechender (und nicht primär kognitiv zu verhandelnder) Praktiken und von darin mehr oder weniger präzise eingewobenen kognitiven Ansprüchen. Aber wenn eine Praxis von Einzelpersonen Vgl. Peter Singer, Animal Liberation: The Definitive Classic of the Animal Movement, New York: Harper Collins 2009. 49 Was Hegel in seiner Kombination von Geschichtsteleologie und Kontingenz thematisiert, ist von Georg Stenger in einer Theorie über Abgleichungsprozesse zwischen Moral in Lebenswelten und Normen im Bereich des Universellen untersucht worden. Stenger zeigt auf, wie eines Tages das »Gesetz geschieht«. Eine neue Normativität wird von einem »Volksgeist« – mit Hegel gesprochen – hingenommen, ohne dass man genau weiß warum. Das Gesetz »geschieht« als eine Art Heidegger’sches Ereignis. Das Gesetz wird angenommen, aber nicht im Sinne eines »rationalen Prozesses«, sondern es ereignet sich. Vgl. Georg Stenger, Philosophie der Interkulturalität, Freiburg im Breisgau: Herder 2006. 48

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eingeleitet wird, ist sie noch nicht »lebendiges Gut«, und es scheint, dass, wenn sie lebendiges Gut ist, sie so in einigen Fällen immer schon Teil dessen ist, was der Einzelne nicht mehr »bewusst« tut, sondern eben unbewusst als »lebendiges Gut«. 50 Ohne hier schon einen für das fünfte Kapitel zentralen Begriff vorauszunehmen, könnte man sagen, die »symbolische Ordnung« (Lacan) hat dem Einzelnen die Einsicht in den Sachverhalt von Praktiken abgenommen. Mit dem späten Wittgenstein könnte man über die Macht von Praktiken in ihrer zeitweiligen Abspaltung von kognitiver Durchdringung sagen: »So handle ich eben.« 51 Weil Hegel erfasst, wie Abgleichungsprozesse immer wieder verzerrt und unzeitgemäß sind, braucht es Individuen, die neue normativ-höherwertige Potenzialitäten immer wieder provozierend vertreten und das selbst auf Kosten kommunikativer Strukturen unserer Alltagspraxis. Das Moment, das uns hier interessiert, ist gerade eine nicht zu schließende Kluft zwischen dem Einzelnen und einer intersubjektiven Praxis. Dem Subjekt fällt bei Hegel eine – von Pippin unterbewertete – asoziale Dimension zu, die wesentlich dafür verantwortlich ist, dass das Soziale überhaupt von den toten Winkeln des »space of reason« her neue Welten generieren kann. Die Kluft zwischen dem Einzelnen als »Einzelheit« und dem »lebendigen Gut« als Allgemeinheit ist für Hegel entscheidend für sein Verständnis des Politischen. 52 Das klingt paradox. Aber das immer wieder im inferentialistischen Vernunftraum sich ereignende Zu-früh-Kommen exzessiver Subjektivität bzw. das damit einhergehende zu späte Begreifen (der Mehrheit) eines vorher schon (vom »Weltgeist« zumindest potenziell/virtuell) Unbegriffen-Begriffenen deutet auf eine permanente Verzerrung desselben Bereiches hin, der durch virtuell bleibende Harmonisierungsmythen, an deren Pflege die Philosophie sich selbstlegitimierend beteiligt, seine Stabilität behaupten muss. Hegels eige50 In seinen zahlreichen Ausführungen zur Sittlichkeit ist Hegel in der Rechtsphilosophie immer wieder darum bemüht, die Unbewusstheit des sittlichen Handelns zu betonen. Dazu mehr in Kapitel IV. 51 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, § 217. 52 An dieser Stelle überschneidet Hegel sich mit Kierkegaard, wenn auch letzterer glaubt, sein Verständnis christlicher Singularität in Abgrenzung zu Hegel zu entwerfen. Siehe dazu: Dominik Finkelde, »Excessive Subjectivity. Hegel and Kierkegaard on the Paradox of Autonomy and Liberation«, in: Sophie Wennerscheid / Armen Avanessian (Hg.), Kierkegaard and Politics. The Intervention of the Single Individual, Kopenhagen: Museum Tusculanum 2015, 111–140.

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Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung

ne Geschichtsphilosophie ebenso wie seine verborgene Theorie exzessiver Subjektivität zeigen also, dass er sich der ontologischen Dimension von Kontingenz in seiner Analyse des Politischen bewusst war. Es sind gerade die nicht zu verbergenden Verzerrungen, Widersprüche, Irrtümer, Krisen, die sich gegen eine etablierte Praxis und das an diese Praxis gebundene Erkenntnisinteresse wenden und dadurch Sittlichkeit immer wieder hinterfragen. Eine Befreiung von Gewohnheit, die mir selbst näher ist, als mir z. B. die Idee eines politischen Aufruhrs nahegeht, müsste – wie Christoph Menke treffend aufweist – darin bestehen, selbst meine innere Gewohnheitsnatur bzw. meine »zweite Natur« in einer Gesinnungsrevolution ins Gegenteil zu verkehren. 53 Die Gesinnungsrevolution müsste »gesetzlos« einbrechen. Damit sind wir nun bei einem Begriff angelangt, der besonders Menke: »Als heteronomer Akt gesetzloser Willkür gegen die heteronome Macht der Gewohnheit erscheint der Akt der Befreiung aus der Sicht des Autonomiebegriffs« (»Autonomie und Befreiung«, 693). Henrik Joker Bjerre weist in Bezug auf dieselbe Problemlage auf die Gefahr hin, dass das Spielen des je etablierten »Rechtsspiels« das Subjekt in seiner Gewohnheit davon überzeugen kann, allein durch passivisches Gehorchen der etablierten Gesetze schon moralisch zu handeln (vgl. Henrik Joker Bjerre, »Enjoying the Law. On a possible conflict between Kant’s views on obedience and enjoyment«, in: SATS Northern European Journal of Philosophy, Vol. 6, No. 2 (2005), 114–127). Aber Kant sagt explizit, dass die sittliche Handlung auf der Ebene der Indifferenz und Gewohnheit gerade nicht moralisch ist. Daher verweist Menke auch (gegen Pippin) auf den Umstand, dass eine wirkliche Autonomie sich selbst nur dann beweist, wenn sie die Sittlichkeit durchbricht. Befreiung »von der Macht der zweiten Natur macht Autonomie erst möglich, aber sie ist selbst kein Akt der Autonomie [im Sinne von Pippins Hegel, D. F.]. Als Durchbrechung der naturhaften Macht gewohnheitsmäßiger Mechanismen und Identität ist die Befreiung des Geistes kein Lernprozess« (Menke, »Autonomie und Befreiung«, 693). Eine Alternative zu einer Autonomie als »Durchbrechung […] gewohnheitsmäßiger Mechanismen« schlägt Julia Rebentisch im Verweis auf den Topos der romantischen Ironie vor. Sie verteidigt diese in einer diskursethischen Adaptation mit Hegels Sokrates-Interpretation und gegen dessen Romantik-Kritik. Rebentisch glaubt in der Tradition differenzphilosophischer Theoreme den Antagonismus des Politischen durch eine permanente Hinterfragung von Wahrheitsansprüchen mit Hilfe von selbstreflexiver Ironie zu pazifizieren. Diskursethik durch Ironie erweitert steht für eine permanente Hinterfragung der eigenen Wahrheitsansprüche, wobei Ironie ein sprachliches Medium der Selbstreflexivität ist. Damit geht Rebentisch der traumatischen Unmöglichkeit des Politischen als eines Bereichs, der seine Antagonismen entweder verdrängen und/oder nur im tragischen Konflikt austragen kann, aus dem Weg. Auch für sie ist Hegel der Totalitätsdenker der Sittlichkeit, der eine Marginalisierung des Einzelfalls mit in Kauf nimmt. »Die subjektive Freiheit scheint hier [bei Hegel, D. F.] lediglich in dem Maße in der Sittlichkeit zugelassen zu sein, wie diese sich mit dem Bestehenden identifiziert« (Juliane Rebentisch, Die Kunst der Freiheit: Zur Dialektik demokratischer Existenz, Berlin: Suhrkamp 2012, 103). Sie stellt dagegen das Verständnis von

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Exzessive Subjektivität: Zum Paradox der Autonomie als ihre Bedingung

in Kants Moralphilosophie eine entscheidende Rolle spielt. Dieser Begriff »Gesinnungsrevolution« steht im folgenden dritten Kapitel im Zentrum unserer Analyse. Er wird uns helfen zu verstehen, warum Kant eine Theorie ethischer Handlung an das Motiv einer Spaltung des Subjekts rückbindet und wie er damit uns einen ersten Baustein zu einer Theorie exzessiver Subjektivität übergibt.

Intersubjektivität, die nach ihrer Meinung am besten von der romantischen Ironie als Ausdruck selbstreflexiver Freiheit artikuliert ist. Dieser Aspekt romantischer Ironie sei Hegel verborgen geblieben. Von hier aus entfaltet auch Rebentisch den Vorwurf, Hegel verdränge die subjektive Freiheit aus der Sittlichkeit.

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III. Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

The madman is the man who has lost everything except his reason. G. K. Chesterton

Kant und der Kantianismus In der Kritik der reinen Vernunft entlehnt Kant mit seiner Rede vom »focus imaginarius« einen Begriff aus der Bildtheorie, mit dem er die Idee einer regulativen Täuschung zu entfalten versucht gegen die Vorstellung, die Welt sei – im Gegensatz zu einer geordneten Mannigfaltigkeit – bloßes Blendwerk kontingenter Naturprozesse. Die Idee des focus gibt dem Verstand eine Ausrichtung auf ein Ziel. Sie tut dies »in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit zu verschaffen« (KrV, III, 428 (A 644/B672)).

Kant borgt diesen Begriff aus dem zentralperspektivischen Bildkonzept. 54 Der focus imaginarius ist wie bei einer architektonischen Zeichnung der Fluchtpunkt, auf den hin sich die horizontalen und

Vgl. Friedrich Kaulbach, »Der transzendentale Perspektivismus Kants«, in: ders., Philosophie des Perspektivismus, Bd. 1, Tübingen: Mohr Siebeck 1990, 11–137, besonders: 74 ff. Vgl. ebenso Petra Bahr, Darstellung des Undarstellbaren, Tübingen: Mohr Siebeck 2004, 249 f. Henry E. Allison sieht Newton als Quelle. Vgl. Henry E. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven / London: Yale University Press 2004, 425–433.

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Kant und der Kantianismus

vertikalen Proportionslinien ordnen. Er kann innerhalb oder außerhalb des Bildes rekonstruiert werden. 55 Wenn Kant auf diesen Begriff rekurriert, dann um in ihm – als dem außerhalb des Bildes liegenden Fluchtpunkt – den totalisierenden Umschlagpunkt zu veranschaulichen, von dem her die Vernunft die Teilperspektivität des Verstandes (und seiner einzelnen Objekte) wie unter die Oberhoheit ihrer Totalitätsansprüche bringt. Man könnte auch sagen, der focus erzeugt eine Koordinate, von der die Vernunft sich selbst als (virtuelle) Totalität erblickt. Der notwendige Schein ist das Ergebnis einer Reflexion und die »Idee der Totalität ist ihr Selbstportrait«, 56 wie Friedrich Kaulbach treffend schreibt. In transzendentalphilosophischer Konzentration auf diesen Fluchtpunkt erkennt man, wie sich selbst kontingente Proportionen dem Blickpunkt unterwerfen. 57 Kant benutzt die metaphorische Rede vom focus imaginarius, um deutlich zu machen, dass der Verstand auf diesen Fluchtpunkt hin auch dann noch ausgerichtet ist, wenn dieser gemäß der kopernikanischen Wende der Kritik der reinen Vernunft außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung liegt. Übersetzt in Kants philosophisches Programm könnte man dann sagen: Die regulativen Ideen der Vernunft, die als transzendental hergeleitete Begriffe Kants Rede des focus ausfüllen, konstituieren die Objektivität der Objekte, sind aber – wie Kant explizit sagt – bloß subjektive Funktionen von Vorstellungen (KrV, III, 428 (A 644 f./B 672 f.)). Konstitutive Bestimmungen sind subjektimmanent (KpV, V, 135 (A 243)) und dennoch bedingen sie den Zielhorizont objektiver Erkenntnis. Obwohl Gott, Welt, Freiheit, Seele nur »Ideen der Vernunft« sind, »die in gar keiner Erfahrung gegeben werden können« (KpV, V, 136 (A 245)), ist ihre Wirklichkeit transzendentalphilosophisch zu bestimmen, da sie besonders für die praktische Vernunft (aber auch gemäß der teleologischen Urteilskraft der Kritik der Urteilskraft) nicht leer sein dürfen. So verweist Kant ebenso in seiner späten Geschichtsphilosophie (Über den Gemeinspruch, Zum ewigen Frieden) darauf, dass man als moralisch Handelnder im Anblick einer sich scheinbar zum Besseren ent-

Vgl. Bahr, Darstellung des Undarstellbaren, 249. Kaulbach, »Der transzendentale Perspektivismus Kants«, 74. 57 Hierzu führt Petra Bahr aus: »Als bloß imaginierter ist dieser Punkt äußerst folgenreich für das realisierte Bild, selbst wenn er als visuelle Täuschung gilt« (Darstellung des Undarstellbaren, 250). 55 56

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

wickelnden Menschheitsgeschichte darauf hoffen könne, dass es sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft Verbündete im Kampf für die Moralität gebe, nur sei eine objektive Sicherheit dafür nicht aufweisbar. Die Erreichbarkeit des Guten dürfe und müsse dennoch als ein nie ganz »abgebrochen[er]« (Gemeinspruch, VIII, 167) Prozess der Geschichte gedacht werden – der empirisch nie mit Sicherheit zu verifizierenden, real existierenden oder real existiert habenden Moralität in geschichtlichen Phänomenen zum Trotz. In seiner Fakultätenschrift wird Kant die Fortschritts-Virtualität als ein narratives Organisationsprinzip der historischen Selbstvergewisserung einer jeden politisch sich verstehenden Generation auslegen. 58 Die Welt mag dann sehr wohl – an sich – ein großes Blendwerk sein. Aber dass die Illusion ihrer Kohärenz dennoch »gleichwohl unentbehrlich nothwendig« (KrV, III, 428 (A 642 f./B 670)) sei als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, Pflicht und Progress in der Welt der Phänomene, könne nicht geleugnet werden. Die Totalitätsillusion unterstellt als noumenon einen Sinn im Mannigfaltigen des phaenomenon. Das Mannigfaltige kann so in seiner Pluralität und Kontingenz in den Blick geraten, ohne damit (angeblich) wiederum unter eine dogmatische, vorkritische Metaphysik gestellt zu werden. Der focus imaginarius ist für Kant damit eine transzendentale Illusion, die die Bedingung für die Syntheseleistung des systembildenden Verstandes ist und auch das ethische Handeln möglich macht (KrV, III, 428 (A 644–45/ B672–73)). 59 Kant sieht so (trotz des Eingeständnisses einer denkbaren Gründung der Welt in Kontingenz) die praktische Vernunft unter der Bedingung stehen, in der Welt so zu handeln, als sei sie durch ein »höchstes Gut«, ein »Reich der Zwecke« verbürgt. Damit eröffnet er in seiner Moralphilosophie die Kluft von Sein und Sollen, die Bedingung menschlicher Freiheit ist. 60 Diese In der Fakultätenschrift interessiert Kant der Enthusiasmus für die Französische Revolution. Wie Axel Honneth treffend formuliert, weist Kant dabei auf folgenden Umstand hin: »im Moment der Zustimmung [für eine politische Entwicklung wie diejenige der Französischen Revolution, D. F.] verschiebt sich […] der Standpunkt ihres [der Zuschauer, D. F.] historischen Bewußtseins, weil sie nun alle geschichtlich früheren Begebenheiten und Umstände aus der Perspektive der jüngsten Entwicklungen zu einem gerichteten Prozess vereinheitlichen müssen, in dem die moralischen Errungenschaften der Gegenwart einen erfolgreichen Zwischenschritt markieren« (Honneth, »Kein Ende der Geschichte?«, 126). 59 Vgl. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, 426. 60 Kants Ethik moralischer Autonomie ist keine Neuschöpfung. Sie ist das Ergebnis philosophischer Vorarbeiten zum Autonomiegedanken. Die Entwicklung dieses Ge58

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Kant und der Kantianismus

Kluft zwischen dem Umstand, wie kontingent und unvernünftig die Welt tatsächlich sein mag, 61 und wie moralisch gut der Mensch trotz allem als Vernunftwesen in ihr zu handeln habe, so als stünde sie im Licht eines Horizontes des kommenden Reichs der Zwecke, ist für Kant unüberbrückbar. Die Kluft ist notwendig unüberbrückbar, denn ein heiliger Wille braucht bekanntlich keinen kategorischen Imperativ. Eine durch und durch der Vernunft entsprechende Welt, in der der Mensch wie im Paradies in direkter Gegenwart zu und mit Gott lebte, würde ihn zur »Marionette« (KpV, V, 147 (A 265)) machen, in welcher sein Bewusstsein der Spontaneität, »wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloß Täuschung wäre« (KpV, V, 101 (A 181)). Jegliche Form einer menschlichen Zwecksetzung aus und in Freiheit, jedes ethischmoralische Handeln wäre zunichte. Aber gerade erst durch dieses Handeln ist der Mensch aufgerufen, sich als noumenales Wesen zu beweisen (KpV, V, 147 (A 265)). 62 Nur eine mit dem Theodizee-Problem durchsetzte Welt kann Tatort menschlicher Freiheit sein, weil nur in ihr das menschliche Vermögen autonomer Zwecksetzung sich erweisen kann, selbst wenn es für diese Freiheit gemäß Kants Kritik der reinen Vernunft keinen empirischen Beweis, sondern höchstens moral- und geschichtsphilosophische Indizien gibt. Der moralisch Handelnde kann – wie Kant eingesteht – selbst mit Blick auf die Fortschrittsgewissheit, in der er sich in einer Kontinuität mit Gleichgesinnten in Vergangenheit und Zukunft sieht, nie mit absoluter Sicherheit über die Wirklichkeit dieses Fortschritts urteilen, obwohl er aufgefordert wird, ihn dennoch als Bedingung der eigenen Möglichkeit moralischen Handelns sozusagen hinzu-zu-konstruieren. 63 dankens zeichnet Jerome B. Schneewind in seinem Buch The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press 1998) von Luther über Suárez, Rousseau bis zu Kant nach. Siehe besonders die Kapitel 20–23. 61 In der Kritik der praktischen Vernunft widerspricht Kant der Vorstellung, man könne aus der Schöpfung einen Schöpfergott herauslesen (KpV, V, 139). 62 Moralisch-»ethisches« Handeln ist zu unterscheiden von moralisch-»juridischem« Handeln gemäß Kants Metaphysik der Sitten. Dort steht: Die »Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschied von Naturgesetzen moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch« (MS, VI, 214). In der Folge meinen wir in der Verwendung des Wortes »moralisch« die ethisch-moralische innere Freiheit (moralitas) und nicht die moralisch-juridische äußere Freiheit (legalitas). 63 Zu Kants Geschichtsphilosophie siehe Pauline Kleingeld, Fortschritt und Vernunft:

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Die besonders mit Kants frühen Schriften zur Moralphilosophie verbundene Kluft zwischen Sein und Sollen geht von der Einsicht aus, dass die ethisch-moralische Dimension einer Handlung nicht ihr Kriterium auf der empirisch beobachtbaren Seite als einer durch einen Zweiten oder Dritten zu beurteilenden Tatsache hat, sondern sich in ihrem Wesen in der freien Willensbestimmung des Handelnden verbürgt. Im öffentlichen Rechtsbereich, den Kant in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten den der »äußeren Freiheit« nennt, sanktioniert dieser Wille nicht über die Taten. Dort ist es staatliche Autorität, die über die genaue Normierung bestimmt und Sanktionen einfordern darf. Das ist ihr Recht und ihr Sinn. Der Bereich der »äußeren Freiheit« ist dabei nur in einem indirekten Sinne, wenn überhaupt, der freien Willensbestimmung unterworfen, was zu der viel analysierten Partikularisierung von Kants Ethik in Rechtslehre, Pflicht-Theorie und Tugendlehre führt. 64 Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995. Was geschehe, wenn der Mensch unmittelbaren Zugang zum Bereich des Noumenalen hätte, beschreibt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft wie folgt: »Aber statt des Streites, den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigungen zu führen hat, in welchem nach einigen Niederlagen, doch allmälig moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät, uns unablässig vor Augen liegen […] [S]o würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Werth der Handlungen aber […] würde gar nicht existiren. Das Verhalten der Menschen […] würde also in einen bloßen Mechanismus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alle gut gesticulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde« (KpV, V, 147 (A 265)). 64 Die dichotomische Kontrastierung zwischen innerer Freiheit der »Gesinnung« des moralischen Subjekts und der »äußeren Freiheit« des Bürgers in einem staatlichen Gemeinwesen provoziert die Frage, wie Kants »Gesinnungsethik« als der Bereich eigentlicher Freiheit sich mit dem der »äußeren Freiheit« überhaupt in Beziehung bringen lässt. Diese Verhältnisbestimmungen machen einen Großteil der Kantforschung aus. Dabei weisen viele Arbeiten darauf hin, inwiefern Kants Begriff der vollzogenen Selbstorientierung im Moralischen nicht abzulösen ist von dem Bereich der »äußeren Freiheit«, in dem sie sich als ein je mit anderen Menschen kontextuell gefüllter Raum normativer Ansprüche verwirklicht. Eine »prinzipienorientierte« Kant-Rezeption wird oft in Frage gestellt mit dem Verweis, Kants kritische Begründung der Ethik müsse im Anblick der späten Tugendlehre gewürdigt werden. So zeige sich, wie Kant die »schlechte Alternative von Rationalismus« und den daran hängenden »Chorismus getrennter Seinssphären« überwindet (Esser, Eine Ethik für Endliche, 16). (So auch Höffe, Korsgaard, Wood.) Korsgaard versucht die Universalisierungsformel des kategorischen Imperativs mit der Reich-der-Zweck-Formel zu retten. Vgl. Christine M. Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge: Cambridge University Press 1996, 98 ff. Hier lesen wir Kant als Autor, der seinen Grundlagenschriften Eigenstän-

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Kant und der Kantianismus

Im Bereich der Moral aber beweist Kant in nahezu allen wichtigen Schriften des Menschen intelligibles, freiheitliches Wesen, das erkenntnistheoretisch nicht zu objektivieren ist. Kant grenzt dann Moral von einem System »der sich selbst lohnenden Moralität« (KrV, III, 525 (A 809/B 837)) ab, die sich ihrerseits von äußeren Zwecken abhängig macht. Er sieht darin die eigentliche Gründung von Moralität, mit der er sich von der philosophischen Tradition abzusetzen versucht. Jacques Lacan bringt dies in einer Nebenbemerkung zu Kants Ethik in seinem Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse auf den Punkt, wenn er schreibt, Kant habe das unlösbare Zusammenspiel von Jüngstem Gericht, unstillbarem Begehren und permanentem Scheitern durchdrungen. Während die »traditionelle Moral«, wie Lacan im Rekurs auf Aristoteles ausführt, »ein Handeln nach Maßgabe des Möglichen [verlangt]«, entlarve Kant, dass die Dimension des Möglichen gerade »die Topologie [… des menschlichen, D. F.] Begehrens« nicht berührt. »Die Überschreitung ist uns durch Kant gegeben durch seine Setzung, daß der moralische Imperativ sich nicht darum zu kümmern habe, was möglich ist oder nicht. Das Zeugnis für die Pflicht, sofern uns diese auf die Notwendigkeit einer praktischen Vernunft verweist, ist ein bedingungsloses Du sollst. Dieses Feld nimmt seine Bedeutung genau aus jener Leere an, der es die kantische Definition durch die ganze Strenge der Anwendung überantwortet.« 65

Ein Problem Kants ist die Frage nach der ethischen Motivation, denn wenn Moral (zur Verwirklichung ihrer selbst) handelnde und d. h. durch pathologische Neigungen geprägte Menschen braucht (reinen Vernunftwesen ist Freiheit kein Thema), dann ist, wie schon Hermann Andreas Pistorius aufwies, nicht klar, wie diese gut handeln sollen, ohne je einen Begriff des Guten sinnlich erfahren zu haben, das heißt z. B. als Belohnung, Nutzen oder schlicht und einfach als gutes Gefühl. 66 Für den frühen kritischen Kant folgt der Mensch modigkeit zuspricht, obwohl ihn der Formalismus-Vorwurf schon kurz nach der Veröffentlichung der Grundlegung durch Pistorius verfolgte. Der frühe Kant ist ganz bewusst ohne die Tugendlehre mit seinem Werk in die Diskussion seiner Zeit um die Ethik getreten. Die hier vertretene Kant-Lektüre versucht die eigenständige Radikalität der frühen moralphilosophischen Schriften aufzuweisen. 65 Jacques Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin / Weinheim: Quadriga 1996, 376. 66 Vgl. Hermann Andreas Pistorius, »Rezension der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Bernward Gesang, Kants vergessener Rezensent: Die Kritik der theo-

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ralischen Maximen seines Willens aufgrund eines unbedingten Müssens, obwohl er für das Verbürgtsein der moralischen Wirklichkeit keinen empirischen Beweis hat und nur die Gottes-Idee ihn zum Wagnis eines ethischen Willens animieren kann (ohne selbstverständlich ihrerseits Beweggrund der Motivation zu sein). Der Sollens-Anspruch der Moral kann sich gerade nicht auf ein Sein in der Natur mit ihren Gesetzlichkeiten rückversichern. Kant unterscheidet sich in den schwer zu ordnenden Verwicklungen seiner Moral-, Tugend- und Rechtslehre vom Idealismus eines Fichte, Schelling und Hegel. Indem er die Welt als Erscheinung in ihrer Kontingenz stehen lässt, mit dem Verweis, dass der Mensch notwendig diese Kontingenz immer wieder zu überwinden trachtet (sowohl philosophietheoretisch wie auch praktisch), scheint seine eigentliche Philosophie immer noch – zumindest für die auf ihn folgenden Idealisten – dem Skeptizismus anzugehören. Kant liest sehr wohl, ähnlich wie Hegel, einen teleologischen Fortschritt aus der Menschheitsgeschichte heraus. Aber er tut dies im Gegensatz zu Hegel aus einem nur transzendental verstandenen Vernunftmoment. Im Verhältnis zur bestimmenden Urteilskraft gelingt es dann zwar der in der Kritik der Urteilskraft erwähnten reflektierenden Urteilskraft, aus einer Vielzahl von partikulärer Einzelerscheinungen ein Allgemeines herauszulesen, aber diese »Zweckmäßigkeit« bleibt als eine in die Phänomene hineinzulesende transzendentale Denknotwendigkeit stehen, d. h. sie ist transzendentalphilosophische Funktion der Vernunft selbst und hat keinen objektiven Beweis. 67 Als intelligibles Wesen ist der Mensch berufen, gegen die mögliche Unendlichkeit rein kontingenter Naturprozesse denknotwendig den Stein der Vernunft zu schieben – auf dem teleologisch strukturierten Weg, wie er im focus imaginarius als ein ›Ende‹ erscheint im Reich der Zwecke; aber eben eingedenk dessen, dass der Mensch sich dabei die Welt epistemologisch nie (an sich) einverleiben kann (und damit auch nicht dieses ›Ende‹). So erscheinen die Erkenntnisse des Menschen transzendentalphilosophisch wesentlich imaginativ (wenn auch nicht irraretischen und praktischen Philosophie Kants in fünf frühen Rezensionen von Hermann Andreas Pistorius, Hamburg: Meiner 2007, 26–38. 67 Der reflektierenden Urteilskraft innerhalb der Kritik der Urteilskraft wird zugesprochen, die Kluft zwischen dem Reich der Naturgesetze und dem Reich der Freiheit zu überbrücken. Zu Kants verschiedenen heuristischen Ansätzen einer sich mit seiner Transzendentalphilosophie vereinbaren lassenden Geschichtsphilosophie siehe Kleingeld, Fortschritt und Vernunft, 89–170.

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tional). Kant kann damit in der praktischen Philosophie einen Fortschritt im Bereich der Phänomene annehmen und dennoch ihn nicht als einen die Moralität umfassenden verstehen. Schon Carl Leonhard Reinhold bedauerte deshalb, dass es Kant nicht gelungen sei, seine drei Kritiken einer »gemeinschaftlichen Quelle für die höchsten Prinzipien« 68, d. h. einer Vernunft unterzuordnen. Und viele Idealisten waren seiner Meinung, weshalb Kant der angebliche Preis, den seine Seins-Sollen-Dichotomie zu zahlen hat, von Fichte und Hegel vorgerechnet wurde. Für Fichte ist die Einsicht in die Unbedingtheit des moralischen Anspruchs zugleich theoretische Erkenntnis der Unbedingtheit und Absolutheit schlechthin, die keine Trennung mehr von Ichgewissheit und Ding-an-sich, von Denken und Sein zulässt. Theoretisches Erkennen ist für Fichte schon die halbe Handlung, indem sie dem Willen eine Handlung auszuführen für absolut notwendig erklärt. Und für Hegel war Kant durch sein Theorem der Einbildungskraft dem eigentlichen, monistischen Idealismus immer schon näher als er sich selbst eingestehen wollte. Hegel artikuliert dann seine viel kommentierte Kritik über die »Leere« der kantischen Moralphilosophie in den ersten Jahren seiner Jenaer Zeit und erwähnt sie noch in seiner Enzyklopädie von 1830. Was diese traditionelle Kant-Kritik jedoch oftmals unterbewertet lässt, ist der Umstand, dass Kant sein formalistisches Moment rückbindet an eine von mehreren Kritikern nicht ausreichend gewürdigte, auf Selbstlegitimation beruhende Subjektivität, die mit dem Formalistischen nicht in einer notwendigen, sondern nur hinreichenden Kausalitätsbeziehung steht. Kants Metaphysik geht aber auch nicht spannungslos mit einer lebenspraktischen Ethik aristotelischer phronesis zusammen, wie z. B. Otfried Höffe, Christine Korsgaard und Drysdale Walsh vertreten. 69 In diese beiden Alternativen – formalistisch vs. lebenspraktisch – spalten sich weiterhin zeitgenössische DeKarl Leonhard Reinhold in einem Brief vom 10. Juni 1795 an Johann Benjamin Erhard, in: Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des Philosophen und Arztes Johann Benjamin Erhard, Stuttgart / Tübingen: Cotta’sche Buchhandlung 1830, 362. 69 Vgl. Höffe, »Universalistische Ethik und Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant«; siehe ebenso Höffe, »Ausblick: Aristoteles oder Kant – wider eine plane Alternative«; Korsgaard, »Aristotle and Kant on the Source of Value«; ebenso Korsgaard, »From Duty and for the Sake of the Noble: Kant and Aristotle on Morally Good Action«; Walsh, »Kant’s Theory of Right as Aristotelian Phronesis«. 68

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batten um das Kant’sche Erbe. 70 Kants Ethik habe einen monologischen Charakter, da sie nur eine bloß »gedankliche Konstruktion von Zustimmung« 71 über die Moralität in der Abwägung mit den Willen anderer liefere. Wenn Kant z. B. die moralische Willensbildung an die Forderung rückbinde, sie auf ein universelles Vernunftprinzip des Menschen zu beziehen, so erkenne Kant nicht, dass dieses universalisierbare Kommunikationsprinzip einem tatsächlichen Diskurs gerade entzogen sei. Kant mache nicht den »Schritt von der bloß vorgestellten zur realen Argumentation«. 72 Die andere Richtung sieht Kant als ethischen Konstruktivisten, 73 dessen formalistische Dimensionen nicht eine lebenspraktische und auf phronesis ausgerichtete Ethik ausschließen, sondern im Gegenteil sie begünstigen. 74 Besonders Kants Tugendlehre, seine Rede von »weiten« im Gegensatz zu »enEinige Autoren, zu denen Apel, Habermas, Tugendhat und Williams als berühmte Vertreter gerechnet werden können, sehen bei Kant oftmals eine formalistische Ethik am Werk, die den moralischen Realismus einer unnachgiebigen Regeldeontologie vertritt. Vgl.: Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie, Bd. II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, 373 ff.; Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 77; Tugendhat kritisiert Kants Formalismus am Beispiel der Idee eines absoluten Guts und schlussfolgert, dass eine absolute Verwendungsweise von »gut«, die er ähnlich wie Pistorius ablehnt, nicht bestehen kann. Die Semantik von »gut« könne nur durch einen Diskurs von objektiven Begründungskriterien bestimmt werden. Vgl. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 37 ff. Siehe auch: Bernard Williams, »Präsuppositionen der Moralität«, in: Eva Schaper / Wilhelm Vossenkuhl (Hg.), Bedingungen der Möglichkeit. ›Transzendental Arguments‹ und transzendentales Denken, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, 251–260; ebenso ders., Ethics and the Limits of Philosophy, besonders Kapitel 10; ders., »Personen, Charakter und Moralität«, in: ders., Moralischer Zufall, Philosophische Aufsätze 1973–1980, Königstein: Anton Hain 1984, 11–29. 71 Otto Schwemmer, »Die praktische Ohnmacht der reinen Vernunft«, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 22 (1983), 1–24, hier: 20 f. 72 Reiner Wimmer, »Die Doppelfunktion des kategorischen Imperativs in Kants Ethik«, in: Kant-Studien, Bd. 73, Nr. 1–4 (1982), 291–320, hier: 301. 73 Eine jüngere Arbeit in dieser Tradition stammt von Andrea Esser: Eine Ethik für Endliche. 74 Zu den Autoren, die gegen den an Kant gerichteten Formalismus-Vorwurf das Abwägen moralischer Ansprüche aus dessen Werk herauslesen, gehören Barbara Herman, The Practice of Moral Judgment, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1993; Otfried Höffe, »Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 31, Nr. 3 (1977), 354–384; Onora O’Neill: »Instituting Principles. Between Duty and Action«, in: Mark Timmons (Hg.), Kant’s Metaphysics of Morals, Oxford: Oxford University Press 2002, 331–349; Nancy Sherman, Making a Necessity of Virtue. Aristotle and Kant on Virtue, Cambridge: Cambridge University Press 1997. 70

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gen« Pflichten und die wiederholte Betonung einer gegenseitigen Verwiesenheit von Moral und Tugend, wird als Anverwandlung antiker Tugendlehre verstanden, teils mit einem am »common sense« 75 und der »goldenen Regel« 76 orientierten Begriff der praktischen Vernunft. Im ersten Fall fragt man sich jedoch (ähnlich wie die ersten Kant-Kritiker), ob eine rein formalistische Moral, die versucht, sich so präzise wie möglich vor Kontingenz zu schützen, nicht letztlich für Engel geschrieben sei und absurd auf fallible Wesen, wie Menschen es sind, wirken muss. Im zweiten Fall hat man den Eindruck, Kants regelontologischer Schachzug werde durch den »common sense« untergraben. Kants Ethik erscheint hier schon nahezu der Sittlichkeitsethik Hegels gleichgestellt, wo die Einbindung moralischer Fragen in lebensweltliche Praktiken (zumindest scheinbar) das intelligible Sollensmoment schwächt, bzw. dieses an eine reine, praxeologisch in den Phänomenen – und d. h. in eine »im Unreinen« – liegende Verwirklichung zurückbindet. Man fragt sich dann aber mit Recht, was Hegel – der kein inkompetenter Kantexeget war – geritten haben musste, oftmals polemisch sowohl im Früh- wie auch im Spätwerk gegen Kants Moralphilosophie über Jahre auszuschlagen. In der hier vorgestellten Kantlektüre wenden wir uns gegen beide, zugegebenermaßen hier nur abrisshaft vorgestellten Lektüren. Das heißt nicht, dass sie beide schlichtweg abzulehnen sind. Zu komplex hat sich das ethische Begriffssystem Kants erwiesen, um dichotomischen Entweder/Oder-Lektüren einen klaren Sieg der Exegese zuzusprechen. Das ist zwar auch nicht gerade sehr befriedigend und doch im Anblick zahlreicher Meisterstudien zu Kant nicht zu ignorieren. Unsere Kant-Lektüre möchte sich, wie gesagt, keiner der beiden Traditionen direkt zuschreiben, sondern sich einer Offenlegung paradoxer Strukturmomente in Kants Moralphilosophie widmen, mit denen er – so unsere These –, das, was wir »das Ethische« nennen, in eine Inkommensurabilität mit der Ethik stellt. 77 Uns interessiert eine Nicht-Koinzidenz zwischen dem in Kants Ethik so zentralen Theorem des kategorischen Imperativs und der moralischen Selbstver-

Walshs These in dem Artikel »Kant’s Theory of Right«, 227 ff. Annemarie Pieper, »Zweites Hauptstück (57–71)«, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Berlin: Akademie Verlag 2002, 115–133. 77 Ethik wird hier verstanden als die philosophische Disziplin erklärbarer und rechtfertigbarer Handlungen. 75 76

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pflichtung des Handelnden, die eine nicht aufzulösende Spannung innerhalb des Moralischen zurücklässt. Auf diese wollen wir mit einem besonderen Augenmerk auf Kants Theorie der Gesinnung bzw. der Gesinnungsrevolution (auch »Revolution der Denkungsart« genannt) in den folgenden Abschnitten in verschiedenen Kontexten von Kants Moralphilosophie und in Abgrenzung zu bestimmten Kantinterpreten eingehen. Der Begriff der Gesinnung exemplifiziert besonders, was wir schließlich als Kants Theorie der Gespaltenheit des moralischen Subjekts offenlegen möchten. (Deren Bedeutung für die Frage nach dem Exzess des Ethischen als einem unstillbaren, aber auch un- bzw. übermenschlichen Begehren wird dann auch wieder für unsere Interpretation im fünften Kapitel dieser Studie zu Jacques Lacan zentral.) Kant scheint uns nämlich in der von ihm eingestandenen Aporetik ethischer Handlungstat darauf hinzuweisen, dass das Ethische als ein exzessives und überzähliges Moment zu verstehen ist, von dem her das Subjekt weniger das Allgemeine wie eine vorgefertigte ethische Anwendungsregel aus einem dem ethischen Realismus entsprechenden Ideenhimmel vorgefertigter Urteile und Handlungsanweisungen instanziiert. Vielmehr lässt das Subjekt das Allgemeine ereignen von der Ebene des Partikulären her. Das Allgemeine ergibt sich sozusagen nachträglich aus einer Leerstelle, die vor der Ereignung nicht einmal als Leerstelle sichtbar war. (Was hier vorerst enigmatisch klingen mag, wird im Verlauf unserer Argumentation noch verständlicher.) Ebenso erweist sich die eigenwillige Aporetik der moralischen Handlung bei Kant als eine, die von einem sich selbst je retrospektiv entdeckenden Subjekt ausgeht, das sich im moralischen Akt sowohl entzieht als es sich auch zugleich vorausentwirft. Dieser Aspekt einer Überzähligkeit des Ethischen, deren Inkommensurabilität im Gegensatz zur Zählbarkeit des Ethischen als eine kommensurable (durch intersubjektive Vernunft begründbare) Größe hervorgehoben werden soll, ist in den Diskussionen der Allgemeinen Ethik wenig ergründet. 78 Das ist nachvollziehbar, da das überzählig, exzessiv Ethische sich einem normativ, inferentiellen Bereich abwägbarer, kalkulierbarer und begründbarer ethischer Normen gerade definitorisch entzieht und deswegen unethisch erscheint. ErWir entlehnen den Begriff des »Überzähligen« der Ereignis-Philosophie Alain Badious. Vgl. Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin: Diaphanes 2005, 101– 112. Siehe ebenso: Alain Badiou, Manifest für die Philosophie, Wien / Berlin: Turia & Kant 2009, 86.

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fahrungen des 20. Jahrhunderts sowohl in der Philosophie wie auch in der Politik hatten ihrerseits die Erkenntnis der Gefahr exzessiver Überzähligkeit als bedrohlich und katastrophal geprägt und dazu beigetragen, einen intersubjektiv strukturierten Vernunftbegriff zu entfalten, dessen Etablierung in der Bundesrepublik Deutschland besonders das Verdienst der Transzendentalpragmatik von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel ist. Und doch meinen wir, dass Kant – aber auch Hegel und Lacan – diese Dimension des überzählig Ethischen thematisiert als eine Größe, die auch für einen eigentlichen Erweiterungsprozess der Ethik steht. Das Moment einer Nicht-Koinzidenz zwischen dem in Kants Ethik so zentralen Theorem des kategorischem Imperativs und der moralischen Selbstverpflichtung des Handelnden ist dabei für unsere Interpretation zentral. Diese NichtKoinzidenz, die wir – Lacans Intuition folgend – in einer Theorie der Gespaltenheit des ethischen Subjekts einfangen möchten, wird in den oben erwähnten Auslegungsschulen eher wenig berücksichtigt. Diejenigen Kantschulen, die Kant als metaethischen Realisten interpretieren, können diese Gespaltenheit oftmals nicht annehmen aufgrund der von ihnen gewählten Prämisse einer ungebrochenen Autonomie und Selbstidentität des Subjekts. 79 Die Kantschulen, die Kants solipsistische Selbstlegitimation in den Raum des Sozialen auslagern, halten wiederum oftmals die Spaltung eines moralischen Subjekts und eine Konzipierung des überzählig Ethischen zu thematisieren für unnötig oder unmöglich, da die Autonomie selbst nahezu nur Effekt sozial strukturierter Anerkennungsprozeduren ist, die keinen Raum des Nicht-Rationalen (nicht einmal unter struktureller Perspektive) übriglassen dürfen. Im ersten Fall muss in notwendig reduktionistischer Vereinfachung das Subjekt autonom, im zweiten Fall muss die Autonomie sozial bedingt sein. Wer diese Spannung innerhalb von Kants Werk durch eine Kontinuität zwischen dem frühen und dem Christine Korsgaards Studien sind hier herausragend. In ihnen erarbeitet sie das vormalige Streben des Menschen nach »practical identity« als Unterordnung von Neigungen bzw. Pathologien unter vernünftige, verallgemeinerbare Handlungsmotive. Der Mensch erkennt in sich selbstreflexiv die selbstzweckhafte Würde, eine autonome Person unter anderen autonomen Personen zu sein. Er ist aller Humanität verpflichtet. Vgl. Korsgaard, The Sources of Normativity, 1–165, 219–258; siehe ebenso: dies., Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, besonders Kap. 7–9; für eine kritische Auseinandersetzung mit Korsgaards Autonomiebegriff vor dem Hintergrund der Psychoanalyse Freuds siehe Jonathan Lear: »To Become Human Does not Come that Easily«, in: ders., A Case for Irony (Tanner Lectures on Human Values), Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2011, 3–41.

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späten Kant abbaut, greift nach unserer Meinung ebenfalls zu kurz, um die von Kant absichtlich konstruierte paradoxe Spannung innerhalb seiner Ethik selbst zu erkennen. 80 Wir wollen so in den folgenden Ausführungen die These vertreten, dass das Kant’sche moralische Subjekt nur über den Hiatus seiner eigenen Gespaltenheit sich auf eine zukünftige Moralität hin je neu entwerfen kann, wobei sich die dabei etablierte Normativität (das überzählig Ethische) erst rekursiv ergibt und das Subjekt sich dann je zu sich selbst anhand der von ihm selbst gelegten »Indizien« verhalten kann. Bei Kant gibt es sehr wohl einen Transfer von Sein und Sollen, aber nicht in dem Sinne, dass es einen Analogieschluss oder einen Kausalitätsschluss gibt, sondern insofern Sein und Sollen im Moment der ethischen Handlung selbst zusammenfallen, nachdem die Handlung eine »Gesinnung« retrospektiv entstanden lassen haben wird (bzw. sinnbildlich gesprochen ›ratifiziert‹ haben wird). Die Normativität der Gesinnung eines ethischen Subjekts muss als rekursives Konzept von seiner Tat her verstanden werden, für die es, das ethische Subjekt, immer erst zu spät der eigentliche Garant sein kann. Nachdem wir in einem ersten Schritt diese These an Kants Theorie der Gesinnungsrevolution exemplifiziert haben, soll diese scheinbar unterbewertete Eigenart Kants noch einmal in einem kontrastiven Vergleich zu zwei ausgeprägten kantischen ethischen Theorien der Gegenwart deutlich werden. Dabei beziehen wir uns – die Untersuchungen von Henrik Joker Bjerre 81 vertiefend und ausbauend – hauptsächlich auf die zeitgenössischen Kantianer Robert Brandom und John McDowell. Deren am späten Wittgenstein ausgerichteter Kantianismus reduziert das Ethische oftmals auf eine durch Intersubjektivität zu verstehende Größe im »space of reason«, dem entgegen das Ethische für Kant in seiner Inkommensurabilität mit diesem steht. Um diese Thematik in ihrer Komplexität – und insbesondere ihre Komplexität in der von Brandom und McDowell entworfenen praxeologischen Moralphilosophie zu verstehen, werden wir auf einschlägige Begriffe beider Autoren eingehen wie den der »zweiten Natur«, den für beide Autoren zentralen Verweis auf Wilfrid Sellars’ Die Spannung in Kants Moralphilosophie, die sich besonders aus der Sein-SollenDichotomie ergibt, wurde und wird in den beiden oben stark vereinfacht dargestellten Kantschulen selbstverständlich auch gesehen. Aber es ist fraglich, inwieweit hieraus die notwendigen Schlüsse für eine Aporetik des moralischen Willens bzw. für dessen Gespaltenheit gezogen werden. 81 Vgl. Bjerre, Kantian Deeds, 7–47. 80

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»space of reason«, den Begriff des »Inferentialismus« und die Rede vom »scorekeeping«. Ebenso werden wir uns schließlich auf die Rede von implikativen Normen eines »Gebens und Nehmens von Gründen« beziehen. Gegenüber dieser sowohl an Kant als auch am späten Wittgenstein orientierten Ethik wollen wir kontrastiv hervorheben, dass Kant über einen solchen von McDowell und Brandom vertretenen normativen Inferentialismus hinausgeht. Kant plädiert vor dem Hintergrund seiner von uns herauszuarbeitenden Paradoxie einer ethischen Unableitbarkeit moralischer Handlungstat dafür, die moralische Handlung als nahezu göttlich-unbedingten Einbruch eines Allgemeinen auf der Ebene des Partikulären zu denken. Aber diesen Einbruch kann das kantische Subjekt weder selbst als autonomes, mit Selbstidentität ausgestattetes verbürgen noch kann es dafür eine klare Begründung im Sozialraum geteilter Normen finden. Es muss diesen Einbruch wie ein ihm selbst unheimliches Schicksal wagen und verkörpern. Diesen zugegebenermaßen herausfordernden Gedanken wollen wir im Detail auszulegen versuchen. Wir wollen die These so weit treiben, um mit Sean Drysdale Walsh zu behaupten, dass Kant nie die Absicht hatte, ein ethisches System zu entwerfen, das eine gute Handlung ein für alle Mal definiert, so wie es die Beispiele aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten scheinbar nahelegen. 82 Das heißt aber nicht schon, wie Walsh es tut, Kant zu einem Ethiker der phronesis zu machen. Gerade in dem Sprung über die nie zu schließende Kluft im Moralischen zeigt Kant für uns eine Unbedingtheit, die er als »unerklärlich« stehen lässt und im Gegensatz zu Fichte z. B. nicht metaphysisch deduzieren zu müssen glaubt. 83 Das Kant’sche moralische Subjekt muss sich – wie gesagt – über den Hiatus seiner eigenen Gespaltenheit entwerfen auf eine zukünftige Moralität hin; und das je neu. So, wie es keine Garantie für einen Fortschritt des Moralischen im Bereich der Politik gibt, so kann auch, wie Kant in der Religionsschrift betont, der Einzelne nicht davor sicher sein, immer wieder in die Niederungen des »radikal Bösen« zu fallen. Das Ethische ist je neu die Herausforderung von Subjektivität und kann Wie auch andere Kant-Rezipienten weist Walsh nachvollziehbar auf, inwiefern Kants konkrete Beispiele in der Grundlegung und in der Kritik der praktischen Vernunft analytischen Charakter haben, d. h. nicht als Verhaltenskatechismus gedacht werden sollten. Siehe Walsh, »Kant’s Theory of Right as Aristotelian Phronesis«. 83 Siehe zu dieser Thematik den Artikel von Kai Gregor, »›Revolution der Gesinnung‹ und ›Vollendung der Freiheit‹«, in: Fichte-Studien, Bd. 31 (2007), 159–173. 82

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in einer Ethik gerade nicht wie in einem Katechismus von Anwendungsregeln eingefangen werden. »Gewißheit in Ansehung [… der guten und lauteren Gesinnung, D. F.] ist dem Menschen weder möglich noch, soviel wir einsehen, moralisch zuträglich« (Rel., VI, 71). Da der Mensch nie mit Hilfe intellektueller Anschauung in seine Gesinnung schauen und sich selbst durchdringen kann, »müssen [wir] allenfalls nur aus den Folgen derselben [Gesinnung]« (ebd.), d. h. nur aus den Taten, in denen der Einzelne – im Glauben eine gute Gesinnung zu haben – sich entäußert hat, Indizien moralischer Gesinnung herauslesen. 84 Aber die Garantie einer erfolgreichen, Beweise des eigenen Gutseins einsammelnden ›Lektüre‹ gibt es nicht. Kants Ethik wird hier folglich in Analogie zur Rede von der »Negativen Theologie« als eine Form »negativer Ethik« vorgestellt, die den Einzelnen in ihrer Bestimmung eines Nicht-Ortes weder zum Pragmatismus noch zum Formalismus drängt, sondern ihn in eine durch seine eigene Subjektivität zu verantwortende Macht einsetzt. Diese Macht betrifft die von Kant thematisierte Gespaltenheit der moralischen Handlung, die auf einen Ort eines nicht ableitbaren Exzesses des Ethischen rückgeführt wird. Kants ethisches Subjekt soll als ein singulär Allgemeines interpretiert werden, dessen Pflicht im Bereich des diskursethisch (Apel / Habermas) und inferentialistisch Normativen (Brandom / McDowell) ebenso wenig aufgeht wie unter der Prämisse einer ungebrochenen Autonomie (Korsgaard). Der Bereich des Legalen (von Kant auch Bereich der Reformen genannt) mag zweifellos, wie gesagt, Einfluss haben auf das Subjekt wie auch auf Sitten, Gebräuche (Habitus) und Pädagogik. Und Kant thematisiert das bekanntlich sehr ausführlich. Aber das Moralische ist, wie Kant immer wieder herausstellt, das Extra-Legale, dasjenige, das den Rahmen des intersubjektiv anerkannt Ethischen (neu) setzt. Kants Ethik denkt durch Betonung einer als paradoxal in diesem ersten Kapitel noch herzuleitenden Selbstgesetzgebung des ethischen Subjekts die Aufrechterhaltung des Moralischen als noumenal durch die Nicht-Koinzidenz mit dem Bereich des Legalen und Tugendhaften. Das Kant’sche Subjekt handelt ethisch, nicht weil es für dies gute Gründe angeben kann und von dieser Erklärung her die letzte Garantie seiner ethiZu einem absoluten Beweis einer wirklichen Herzensänderung kann »der Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittelbares Bewußtsein noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels« (Rel., VI, 51). Er wird die Gesinnungsänderung »als durchs ganze Leben nachzusuchen haben« (Rel., VI, 77).

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schen Entscheidung hat, sondern vielmehr: weil das Subjekt ethisch gehandelt hat aufgrund einer Maxime, die seinen Willen bestimmt hat, kann es anderen eine Erklärung geben. Und es kann dies auch dann noch, wenn es dabei (z. B. von der Mehrheit der Diskursteilnehmer) für nicht bei Sinnen gehalten wird.

Von Gesinnung und Revolution Für Jacques Lacan repräsentiert Kant die kontrastive Ausnahme in der gesamten Geistesgeschichte der Ethik. Seine praktische Philosophie bezeige jeder Moral, die ein Handeln »auf die Maßgabe des Möglichen« 85 reduziere, ihre Verachtung. Der moralische Imperativ stehe für eine Ethik der »Überschreitung«, eine Ethik des »Unmöglichen, in dem wir die Topologie unseres Begehrens erkennen.« 86 Für diese, wenn auch nicht neue, so doch pointierte Darstellung, sprechen viele bekannte Motive in Kants Schriften: die »absolute Nothwendigkeit« des moralischen Willens (u. a. GMS, IV, 389), das unerreichbare und trotzdem anzustrebende Ziel der Heiligkeit (u. a. KpV, V, 128 (A 231); Rel., VI, 66), die Subsumption neigungsorientierter »Glückseligkeit« zugunsten des moralischen Gesetzes (u. a. GMS, IV, 399) und Kants immer wieder betonte Skepsis, dass der Einzelne sich niemals sicher sein könne, jemals auch nur eine moralische Tat vollbracht zu haben (Rel., VI, 51). Außerdem denke man an den Horizont des Reichs der Zwecke als Zielpunkt des Begehrens. Noch in einem Leben nach dem Tod ist dieser mit unstillbarem Begehren für die vom Leib getrennte Seele als ein unendlicher Fortschritt zu verfolgen. 87 So ist die Welt der Erscheinungen, in der der Mensch sich vervollkommnet, aber eben scheinbar sogar der Lebensbereich der unsterblichen Seelen für immer und ewig diesem absoluten Horizont, dem Reich der Zwecke, untergeordnet. Wie genau diese Unterordnung sich ausgestaltet, ob durch eine im reinen Gesetz der Pflicht verankerte radikale Trennung zwischen dem intelligiblen BeLacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 376. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 377. 87 Kant: »[W]enn nach diesem [Leben] ihm [dem Menschen] noch ein anderes Leben bevorsteht, [wird] er unter anderen Umständen allem Ansehen nach doch nach ebendemselben Prinzip [eines unendlichen Fortschritts im Moralischen, D. F.] fernerhin darauf fortfahren und sich dem, obgleich unerreichbaren, Ziele der Vollkommenheit immer noch nähern« (Rel., VI, 68). 85 86

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reich des Sollens in Abgrenzung zu einem durch Neigungen und Naturkausalitäten bedingten Bereich des Seins, oder ob durch weichere Übergänge weiter und enger Pflichten und mit Abstufungen bestimmter Tugenden … diese Frage betrifft einen Großteil der erwähnten Kantstudien. Der Begriff der »Gesinnung« ragt hierbei aus Kants Pflichtethik als sehr sperriger Terminus heraus. Er entfaltet nach unserer Lesart eine dritte, die Überzähligkeit des Ethischen exemplifizierende Option, welche die strikte Trennung zwischen Sein und Sollen und die graduelle Vermischung durch Übergänge in Momenten einer Kollabierung der Differenz selbst durchstößt. Kant erwähnt die Begriffe »Gesinnung« und »Gesinnungsrevolution« besonders prominent in seiner Religionsschrift. Er spricht davon synonym auch in seiner Rede von Herzensänderung und Wiedergeburt, Neuschöpfung, vom Willen ein anderer Mensch zu werden bzw. einen »neuen Menschen anzuziehen« (Rel., VI, 48). Weil nach Kant die Willkür des Menschen immer auch mitbestimmt ist durch Lust- und Unlust-Neigungen, die neben der praktischen Vernunft die zweite Motivationsquelle unserer Handlungen sind, ist der Wille des Menschen unstet im Wollen. Dies führt dazu, dass der Mensch im Zeitverlauf seiner Existenz »mitten inne zwischen seinem Princip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege« (GMS, IV, 400) steht. Unsere Willkür, d. h. der faktische Wille des Menschen, ist besonders in ethischen Problemsituationen herausgefordert, trotz seiner Gebrochenheit, sich durch einen Willen gemäß vernünftigen Maximen und in seiner absoluten Freiheit zu bestimmen. Diesen Ort eines Scheidewegs, an dem der Mensch sich entweder als Lust/Unlust-Wesen oder als autonomes Wesen wählt, konzeptualisiert Kant unter dem Begriff der Gesinnung. Sie ist derjenige Weg, der Neigungen auszuschließen bemüht ist. 88 Sie ist es, die – »Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus noumenon) werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner anderen Triebfeder weiter bedarf als dieser Vorstellung der Pflicht selbst, das kann nicht durch allmähliche Reform, solange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung […] und Änderung des Herzens werden« (Rel., VI, 47).

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Von Gesinnung und Revolution

einem Kompass gleich – den Menschen auf dem Weg der Vernunft, nach ihrer Wahl, Führung gibt. Sie bestimmt, wie das moralische Gesetz und die sinnlichen Triebfedern in einem hierarchischen Verhältnis zueinander angeordnet werden. Gesinnung kann sich ihrerseits aber nicht wiederum auf eine höhere Gesinnung berufen, die ihr bei dieser ihrer Selbstsetzung helfen könnte. Sie ist causa sui, da die Annahme der obersten Maxime auf kein Motiv zurückgeführt werden kann. Sie steht für ein radikal arbiträres Sosein moralischer Grunddisposition und gibt dem praktisch-bedingten Menschen eine Richtung. Sie kann ihn aber, und hier liegen der Gesinnung ihre Grenzen, als Sinnenwesen nicht ganz davon abhalten, seiner Gesinnungs-Ausrichtung entgegen zu handeln. So eröffnet die Gesinnung im Kontext von Kants transzendentaler Herleitung moralischer Subjektivität ein nahezu größeres Problemfeld als sie schließen kann. Denn die Frage ergibt sich: Woher kommt eigentlich die Gesinnung? Wer / Was ist dafür verantwortlich? Wann darf man mit ihr rechnen, oder – darf man überhaupt mit ihr rechnen? 89 89 In der Regel wird unter der Gesinnungsrevolution sowohl ein einmaliger als auch ein intelligibler Akt verstanden, der als Bekehrung die Metamaxime des Bösen, die den Menschen in seinem von Kant genannten »Hang zum Bösen« bestimmt, in ihrer Allmacht durchbricht. Otfried Höffe und Henry Allison betonen die Singularität der Gesinnungsrevolution (vgl. Otfried Höffe, Kant’s Cosmopolitan Theory of Law and Peace, Cambridge / New York: Cambridge University Press 2006, 28). Sie sei, wie Allison schreibt, ein erster Schritt »on the road to virtue«, »a firm resolution«. Sie breche mit dem Hang zum Bösen, »to restore the order of incentives to their original and proper ranking« (Henry E. Allison, Kant’s Theory of Freedom, Cambridge: Cambridge University Press 1990, 170). Allen Wood betont seinerseits (ebenso wie Maximilian Forschner), dass die Revolution der Denkungsart nur die intelligible Dimension des Menschen betrifft, während der phänomenale Mensch auf der Ebene der allmählichen Verbesserung fortschreitet. Die Revolution ist daher so etwas wie eine intelligible Tat und philosophiepraktisches Analogon zum »Ding an sich« aus Kants Erkenntnislehre. Kants Reden von »Herzensänderung«, »Revolution der Gesinnung«, »Neuwerdung« dürfen nicht dazu verleiten, darunter wirklich ein in der Zeit verortbares Ereignis zu sehen. Wood: »[W]e should not confuse this ›change of heart‹ with an actual ›change‹ of any kind in time. Kant, indeed, contrasts the gradual moral progress of man in time with the change of heart which is the condition for its possibility. He notes that, because this change of heart can be known only through a gradual temporal reform, we can never be sure that it has taken place« (Allen Wood, Kant’s Moral Religion, Ithaca: Cornell University Press 1970, 229). Damit bleibt ungeklärt, wie sich die »Revolution der Denkungsart« eigentlich genau zum Fortschritt verhält, ohne uns einfach nur wieder auf einen neuen Dualismus zu verweisen. Siehe auch Maximilian Forschner, »Über die verschiedenen Bedeutungen des ›Hangs zum Bösen‹«, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant – Die Religion innerhalb der Gren-

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Kant thematisiert (mindestens) drei Begriffe der Gesinnung. Sie zu unterscheiden hilft uns im Kontext unserer Analyse, das Motiv einer Kant’schen Spaltung des moralischen Subjekts hervorzuheben. Alle drei Gesinnungsbegriffe denken Gesinnung in Abgrenzung von Reform und Legalität. Sie markieren zwei Motive von Kants Menschenbild: die Selbstlegitimation des moralischen Willens und die von jeglicher Naturkausalität unberührte Noumenalität bzw. Intelligibilität des freien und vernünftigen menschlichen Willens. Gesinnung ist das theoretische Hybrid, das diese Aspekte in sich vereinigt und mit dem Kant sowohl Moralunbedingtheit wie Reformbedingtheit verbinden möchte. »Revolution der Denkungsart« und »Gesinnungsrevolution« sind nicht zu verwechseln mit der »Reform der Sinnesart« (Rel., VI, 47). Erstere steht für eine causa sui Bekehrung, letztere für ein praktisch-pädagogisches Sich-Verbessern im Sinne von Anleitung, Pädagogik, Übung und Ritus. Es gibt für Kant eine gegenseitige Beeinflussung, die aber – um der Moralität selbst willen – keine Kausalbeziehung zulässt.

Gesinnung als »subjektiver Grund« für einen »Hang zum Bösen« Der erste uns hier interessierende Gesinnungsbegriff Kants markiert eine vorzeitig-noumenale »Gesinnung« als »obersten Grund«, der nicht von einem »ersten Zeit-actus der Willkür« abgeleitet werden kann. Diesen »erste[n] subjective[n] Grund der Annehmung moralischer Maximen« nennt Kant »Gesinnung« (Rel., VI, 21) und er braucht ihn, um, wie wir sehen werden, den Menschen mit dem Attribut einer ursprünglichen Freiheit auszustatten. Diese kann sich der

zen der bloßen Vernunft, Berlin: Akademie Verlag 2011, 71–90, hier: 78. Für Jochen Bojanowski ist die »Revolution der Denkungsart« nicht schon eine Revolution der »Sinnesart«. »Doch je häufiger der Handelnde in einer moralisch dilemmatischen Entscheidungssituation zwischen Vernunft und Neigung sich für das Moralgesetz entscheidet, desto sicherer darf er sein, daß er sich auf dem ›Wege eines beständigen Fortschreitens‹ […]« befindet (Jochen Bojanowski, Kants Theorie der Freiheit, Berlin / New York: De Gruyter 2006, 262–277, hier: 277). Christoph Horn interpretiert die Gesinnungsrevolution als »erfolgreichen ersten Vorgriff auf die vollständige Revolution« (Christoph Horn, »Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen«, in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 43–70, hier: 61).

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Gesinnung als »subjektiver Grund« für einen »Hang zum Bösen«

Mensch sprichwörtlich nicht mehr abwaschen. 90 Als Schicksal des Menschen ist diese Gesinnung etwas, wofür der Mensch unverantwortlich-und-doch-sie-verantwortend optiert hat. Auch wenn der Urgrund dieser Gesinnungsgestalt nicht in einer klaren Verantwortung zu lokalisieren ist, ist der Mensch der von ihr herkommenden Freiheit (nämlich seiner eigenen) in pragmatischen Lebensvollzügen ausgesetzt und kann sich ihr rückwirkend nicht versagen. In den Maximen als Ursprung seiner Handlungen, die er in seinem Leben ausgeführt haben wird, zeigt sich der »subjective Grund« seines Charakters, obwohl dieser Urgrund immer noch – paradoxerweise – in der Suspension seines Stattgefunden-Habens verweilt. Aber schauen wir in die Details von Kants Herleitung. Wenn Kant von der uns hier interessierenden Gesinnung als einem obersten »Grund« spricht, der nicht von einem »ersten Zeitactus der Willkür« abgeleitet werden kann, so macht er deutlich, inwiefern hier noch nicht (wie es dann bei den folgenden Gesinnungsbegriffen der Fall ist) die Gesinnungsbestimmung als »Charakterwahl« verstanden werden kann. Der Charakter verwirklicht sich erst in einem durch verschiedene Etappen der Pädagogik erzogenen Menschen. Um diesen geht es hier noch gar nicht. In diesem ersten, apriorische Menschheitsbestimmungen spezifizierenden Gesinnungsbegriff geht es um eine transzendental-noumenale Größe, mit der Kant die Freiheit des Menschen – einer Quadratur des Kreises gleich Unter anderem in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten ist Kants Gesinnungsbegriff noch unspezifisch (vgl. GMS, IV, 435; KpV, V, 56). In der Religionsschrift ist er präziser spezifiziert. Gesinnung ist nun subjektives Prinzip der Maximen (vgl. Rel., VI, 23, 37). »[T]ugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus Noumenon)« (Rel., VI, 47) ist für Kant der sittlich gute Mensch. Seine Handlungen geschehen in der Regel aus Pflicht. Dass der Mensch aber nicht einen heiligen Willen hat, impliziert nicht, er sei zum Teil gut und zum Teil böse. Denn Kant behauptet dagegen, dass, wenn der Mensch das Moralgesetz zu seiner Maxime gemacht hat, diese für ihn als Ganzes gilt und nicht nur für seinen intelligiblen Charakter. Eine Maxime, die sozusagen nur für einen Teilbereich des Menschen gelte, müsste dann für den vernünftigen Menschenteil allgemein sein und für die sinnliche Menschendimension besonders, d. h. eingeschränkt sein. (Diesen Hinweis verdanke ich der Studie von Maria Schwartz: Der Begriff der Maxime bei Kant, Münster: Lit Verlag 2006, 129 f.). Aber das ist für Kant unmöglich. Deswegen ist der Mensch nicht gut und böse, sondern entweder gut oder böse (vgl. Rel., VI, 24). Ebenso unterstreicht Kant, dass der Mensch niemals moralisch indifferent sein kann, d. h. weder gut noch böse (vgl. Rel., VI, 22 f.). Vgl. auch Bojanowski, Kants Theorie der Freiheit, 266 f. Wie die Entscheidung für die »Annehmung guter, oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen« (Rel. VI, 21) gänzlich zustande kommt, ist »unerforschlich« (Rel., VI, 21). 90

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

– zu bestimmen versucht und die dennoch schon in die Thematik von Subjektivität und Gespaltenheit einführt. 91 Gemäß diesem ersten Gesinnungsbegriff wird dem Menschen – gleich einem Sündenfall – die Verantwortung für seinen »Hang zum Bösen« zugesprochen. Die Annahme seiner Gesinnung durch die freie Willkür drückt sich dabei in einem subjektiven Grundsatz aus, d. h. in einer Wahl entweder der Metamaxime des Bösen oder der Metamaxime des Guten. Die Metamaxime des Bösen – bei der nicht weiter geforscht werden kann, warum für sie optiert wurde – ist der Grund aller moralisch-bösen Maximen (Rel., VI, 20). Bestünde diese ursprüngliche Wahl für die Metamaxime des Bösen oder des Guten nicht in einer außerhalb der Zeit liegenden (nur logischen, aber nicht empirischen) freien Wahl, dann wäre der erzogene Mensch nach Kant für seine Maximen nie verantwortlich. Er könnte immer auf seine pathologischen Neigungen verweisen als ein Erbe, das die Natur ihm (leider) vermacht hätte und für das er daher keine Verantwortung übernehmen könne. »Ich bin eben nur ein Mensch«, könnte er permanent sich entschuldigend behaupten. Kants oberste Maxime als »subjektiver Grund« dient also als letzte subjektive Grundlage zur Definition der Freiheit des Menschen für all die schlechten Handlungsmaximen der Willkür, die dem Menschen – um eben ein freiheitliches Wesen zu sein – zugesprochen werden müssen. 92 Deshalb ist dieser Aktus der Freiheit, der diese Wahl ist, denknotwendig als eine paradoxe Art von apriorischer Urwahl zu verstehen (= Kants Lehre der Erbsünde), bevor dann der Mensch als empirisches und durch Pädagogik und Sitte zur Vernunft erzogenes Wesen nur noch zwischen Pathologie und Vernunft (Ausgeburt der Maxime für das Gute) steht, aber nicht mehr zwischen »Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. Von dieser Annehmung kann nun nicht wieder der subjektive Grund oder die Ursache erkannt werden (obwohl danach zu fragen unvermeidlich ist […]. Weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-actus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der That in der Freiheit begründet ist) von Natur zukommt« (Rel. VI, 25). 92 Die Metamaxime des Bösen, für die der Mensch optiert haben mag – außerhalb der Zeit – ist nur als eine denknotwendige Größe zu verstehen, da der vernünftige Mensch nicht gegen das moralische Gesetz willentlich handeln kann. In der Option für die Metamaxime des Bösen aber war er dazu fähig. 91

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Gesinnung als »subjektiver Grund« für einen »Hang zum Bösen«

Pathologie, der Metamaxime des Guten und der Metamaxime des Bösen auswählen kann. Wie Kant immer wieder betont, kann die Vernunft, ist sie erst einmal da, sich eben nicht mehr gegen das moralische Gesetz wenden. Nur die erste Gesinnungsoption hat diese Wahlkraft zum teuflisch Bösen, wenn auch – von Kant eingestanden – nur als Erklärungskrücke zur Begründung menschlicher Freiheit. Der Begriff des Hangs als der subjektive Bestimmungsgrund der Willkür geht »jeder That vorher« und ist »mithin selbst noch nicht That« (Rel., VI, 31). Wenn der Mensch radikal böse ist, dann aufgrund dieser »Wurzel« (radix) einer Metamaxime des Bösen, die der phänomenale Mensch (qua Gattung) immer schon angenommen hat. Diesen ersten »Grund der Annehmung guter oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen«, nennt Kant eben »Gesinnung« (Rel., VI, 25). 93 Diese oberste Maxime dieser a priori zu verstehenden Urwahl einer ersten Gesinnung ist nach ihm für den Hang zum Bösen im gesamten Menschengeschlecht und nicht nur für den des Einzelnen verantwortlich. 94 Sie setzt sich dann von dem ab, was Kant als Anlage Als ein Akt absoluter Freiheit ist dieser erste Grund uns unerforschlich, weil er nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden kann (vgl. Rel., VI, 21). 94 Marcus Willaschek nennt »die These vom radikal Bösen eine empirische Hypothese, die sich aus der Anwendung einer moralphilosophischen Theorie auf die Erfahrung ergibt« (vgl. Marcus Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung, Stuttgart: Metzler 1992, 153). Gordon E. Michalson kritisiert die Transformation einer empirischen Hypothese in ein apriorisches Universalprinzip, das allen Menschen zukäme. »Quite simply, it is never clear why Kant thinks radical evil is universal, or the propensity to evil innate. At the point in the Religion where Kant makes these claims most explicit, he turns to empirical examples, as though offering a familiar ›long melancholy litany of indictments against humanity‹ will simply make manifest what we somehow intuitively know about the race. But of course there is utterly no way that Kant, above all, could legitimately generate a claim about an intrinsic feature of human nature from even the lengthiest list of empirical examples« (Gordon E. Michalson, Fallen Freedom. Kant on Radical Evil and Moral Regeneration, Cambridge: Cambridge University Press 1990, speziell 62–70, hier: 67). Allison unterstreicht »the ›intelligible‹ nature of the act through which it [the propensity to evil] is adopted. Such an act is timeless or intelligible, not in the sense that it must be regarded as occurring in some timeless noumenal world but rather in the sense that it is not to be viewed as performed at a specific point in one’s moral development. On the contrary […] this propensity to give undue weight to the nonmoral incentive and, therefore, to reverse the proper ordering of principles is already at work when moral reflection begins« (Allison, Kant’s Theory of Freedom, 153 f.). Vgl. auch Maximilian Forschner, »Immanuel Kants ›Hang zum Bösen‹ und Thomas von Aquins ›Gesetz des Zunders‹. Über säkulare Aufklärungsanthropologie und 93

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zum Guten (Rel., VI, 20; Anthro., VII, 324) konzipiert. Die Anlage zum Guten ist grundlegend für den guten Willen und ermöglicht, dass der Mensch nicht dem Hang zum Bösen, seine Freiheit verneinend, gänzlich ausgeliefert ist. Gerade weil der Mensch diese Metamaxime angenommen hat und das Böse ihm nicht angeboren ist wie eine Neigung (für die er nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnte), ist er überhaupt aufgefordert und herausgerufen, moralisch zu handeln. In diesem Sinne ist die Gesinnung noumenal zu verstehen. Sie steht für eine erste Orientierung des Subjekts außerhalb der Zeit. Als noumenale Größe ist sie zwar dem Subjekt nicht direkt zugänglich, aber für Kant zeigt sich diese Gesinnung als empirisches Faktum in einer Welt, in der es objektiv zu viele schlechte Handlungen gibt. Entgegen der Möglichkeit, die Gesinnung als noumenale zu erkennen, zeigen sich ihre empirischen Effekte in der Welt. 95 Kant thematisiert die Gesinnungsrevolution unter der Überschrift »Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft«. Und er gesteht selbst ein, dass er keine Erklärung angeben kann, wie es möglich sei, »daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache« (Rel., VI, 44). Er konstatiert: »Das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen« (Rel., VI, 45)? Trotzdem kann die Tatsache eines solchen Umschwungs »nicht bestritten werden«, weil, wie Kant behauptet, »ungeachtet jenes Abfalls […] doch das Gebot [erschallt], wir sollen bessere Menschen werden« (ebd.). Dies geht für Kant aber auch wiederum nur, weil »ein Keim des Guten in christliche Erbsündenlehre«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 63, Nr. 4 (2009), 519–542. Siehe ebenso Christian Schulte, Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München: Wilhelm Fink 1988, 33–73. 95 Allison interpretiert die Gesinnung der zweiten Kritik im Sinne der »transzendentalen Einheit« der Apperzeption (Allison, Kant’s Theory of Freedom, 153). Zupančič kritisiert dies (vgl. Ethik des Realen, 43), da Allison nach ihrer Meinung nicht die Differenzierung bei Kant zwischen zwei Gesinnungen berücksichtigt: die noumenale Schicksals-Gesinnung sozusagen und die je neue Wahl der Gesinnung. Zupančič unterstreicht, dass der Ort, von dem aus das Subjekt seine Gesinnung wählt, als »leerer Platz« verstanden werden muss, weil hier die Spontaneität der Gesinnungs-Wahl nicht präziser gefasst werden kann. Zupančič spricht nicht von Spontaneität, aber scheint sie zu meinen, wenn sie schreibt: »Dieser Ort [von dem aus das Subjekt seine Gesinnung wählt, D. F.] ist nicht noumenal [so wie die Gesinnung der Metamaxime des Bösen noumenal ist, D. F.], sondern verkörpert den blinden Fleck, aufgrund dessen das (handelnde) Subjekt sich selbst nicht durchsichtig ist und aufgrund dessen es, wie Kant betont, keinen direkten Zugang zum ›Ding-an-sich-in-ihm‹, d. h. zu seiner Gesinnung hat« (Zupančič, Ethik des Realen, 44).

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seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben« sei (ebd.). Diesen Keim bestimmt er später als die nicht »verlierbare Triebfeder zum Guten«, die er auch »Achtung fürs moralische Gesetz« nennt. Die »haben wir nie verlieren können« (Rel., VI, 46). Ein vielkommentiertes und letztlich die Gespaltenheit des moralischen Subjekts mitbestimmendes Problem bleibt Kants Kombination der Rede von der »Anlage zum Guten« mit der Rede vom »Hang zum Bösen«. Denn wenn der Mensch sich zum Bösen entschieden hat, woher kommt dann noch seine Option, sich für das »gute Herz« 96 entscheiden zu können? Das kann Kant nur angeben, insofern man ihm indirekt eine Aufteilung der moralischen Identität des Menschen in Teilmengen zuschreibt. Der Hang zum Bösen steht für eine natürliche Beharrungskraft des Menschen gegen seinen vernünftigen Willen. Allentscheidend für das Thema unserer Untersuchung ist aber der Umstand, dass sich der Begriff der Gesinnung bei Kant spaltet: als Schicksal des Menschen, wofür er unverantwortlich optiert hat und daher doch die Verantwortung übernehmen muss und, wie wir im folgenden Gesinnungsbegriff sehen werden, als spontaner Akt moralischen Handelns, zu dem – ex nihilo – das Subjekt kommt wie die Jungfrau zum Kind.

Gesinnung und ihre Spontaneität Hegel hält eine kumulative Naturdurchdringung der Moral im Sinne eines sukzessiven Fortschritts zum höchsten Gut als Gattungswesen für möglich. Darauf beruht ein großer Teil seiner Geschichtsteleologie, wie er sie in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, seiner Rechtsphilosophie und in der Philosophie der Geschichte darstellt. Kant tut dies nicht und zwar aufgrund seiner Individualisierung der Moralität, die vom sinnlich-Sittlichen besonders in den frühen Schriften des kritischen Kant abgeschnitten erscheint. Sittlichkeit umfasst für Kant in der Regel den Bereich der Legalität. Moralität ihrerseits besteht für ihn in einer unendlichen Aufgabe, wobei dies »nur in der Ewigkeit völlig aufgelöst werden« kann (KpV, V, 124 (A 223)). Der Grund dafür liegt in der »Entfernung […] des Guten,

In der Tugendlehre betont Kant, dass es Menschen mit einem »guten Herzen« gibt (Tugendlehre, VI, 441).

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was wir in uns bewirken sollen, von dem Bösen, wovon wir ausgehen, [sie] ist unendlich und […] in keiner Zeit erreichbar« (Rel., VI, 66). Wenn der erste, oben erörterte Gesinnungsbegriff uns auf eine transzendental-noumenale Größe verweist, die Kant braucht, um zu erklären, wie man dem Menschen trotz seiner Bosheit eine als causa sui zu verantwortende Freiheit unterlegen kann, so markiert Kants zweiter Gesinnungsbegriff eine Antwort darauf, inwiefern der Mensch gemäß seinem oben erwähnten innerweltlichen Streben nach wahrer Sittlichkeit sich in der Zeit seines Lebens immer wieder von neuem einer Bekehrung aussetzen muss. Die innerzeitliche Gesinnungsrevolution kann in diesem Sinne als Kairos verstanden werden, welcher die oben erwähnte Unendlichkeit des Fortschritts durchschlägt, ohne sie aufzulösen und so einen messianisch zu nennenden Moment in Zeitabfolgen integriert. 97 Diese Gesinnung betrifft besonders einen Menschen am Ende seiner pädagogischen Erziehung und fällt mit der Charakterwahl zusammen, die Kant in der Anthropologie als »Explosion« (Anthro., VII, 294) beschreibt und kurioserweise mit dem 40. Lebensjahr verbindet. 98 Bekehrungsgeschichten von religiösen Anführern (Heiligen, Propheten und Aposteln), aber auch die von politischen Kämpfern, Revolutionären und Aktivisten berichten davon, ohne dass Kant selbst auf solche Beispiele konkret eingeht. Wenn Kant in der Anthropologie (ebd.) in Bezug auf die Charakterwahl von Gesinnung spricht, so untermalt er, dass hier vor der innerweltlichen Gesinnungsrevolution keine moral-reformerisch anKant sagt an keiner Stelle, dass die Gesinnungsrevolution ein Phantasieprodukt der Einbildungskraft oder überhaupt mit ihr verwoben sei. Das mag verwundern, wenn man die Bedeutung der Einbildungskraft bei Kant in Rechnung stellt. Diese hat gemäß der Kritik der reinen Vernunft eine transzendentale Funktion in der Urteilsfähigkeit des Verstandes. In der Kritik der Urteilskraft wird ihre schöpferische Kraft, gemäß Kants Anthropologie ihr gefährliches Potenzial z. B. durch Drogeneinfluss betont. Aber in der Gesinnungsrevolution spielt sie nicht hinein. Zu Kants Begriff der Einbildungskraft im Verhältnis zu Brauch und Missbrauch bei Kant siehe Rudolf A. Makkreel, »Kant’s Anthropology and the Use and Misuse of the Imagination«, in: Volker Gerhard / Rolf-Peter Horstmann / Ralph Schumacher (Hg.), Kant und die Berliner Aufklärung, Bd. 4, Berlin: Akademie Verlag 2001, 386–394. 98 »Man kann auch annehmen: daß die Gründung desselben [des Charakters, D. F.] gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die er sich selbst thut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergeßlich mache. – Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion […] bewirken« (Anthro., VII, 294). 97

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Gesinnung und ihre Spontaneität

gemessene Motivation ausreichend gewesen sein kann. Die Gesinnung ist auch hier causa sui. Und wenn, wie wir gesehen haben, Kant voraussetzt, dass der Mensch von Geburt an eine unmoralische Gesinnung besitzt, so beschreibt eine »Revolution der Gesinnung« eine Bekehrung vom Bösen weg. Sie ist jedoch ebenso »vollkommen unerklärlich«, da sie in einem absolut freien Akt der ›Umwertung aller Werte‹ besteht. Wer sich »einen neuen Menschen anzieht«, der trägt eben den alten nicht mehr. Der Mensch kann trainiert werden, aber der eigentliche Umschlag hat die Ausprägung einer Invasion eines Fremden. In der zweiten Kritik nennt Kant diese eine »praktische consequente Denkungsart nach unveränderlichen Maximen« (KpV, V, 152). Diese zweite, innerzeitliche Gesinnung ist für Kant Bedingung eines kohärenten Vernunftbegriffs, der sittliches Handeln als Durchbrechung der ersten Metamaxime des Bösen (oder des Guten) gemäß einem Hang zum Guten versteht. Christoph Horn sieht einen Konflikt in Kants Argumentation, wo die Vorstellung einer Gesinnungsrevolution nach Kant die ihr nachfolgende Reform sinnlos macht. 99 Wofür bräuchte es noch Reform, fragt er, wenn doch mit der Revolution »alles Entscheidende vollzogen« 100 sei. Horn interpretiert die Gesinnungsrevolution daher als einen »erfolgreichen ersten Vorgriff auf die vollständige Revolution«. 101 Diese Interpretation entspricht zum Teil unserer Lesart. Denn, wenn Kant Gesinnungsrevolution ganz offensichtlich nicht als Endzustand der Bekehrung, sondern nur als Teilstück eines unendlichen Weges zur Heiligkeit denkt, kann man gar nicht anders, als sie im Sinne einer Zwischenstufe zu beschreiben. Das sollte aber nicht den Revolutionsaspekt zu einem »Vorgriff« auf die »vollständige Revolution« relativieren, wie dies Horn dann doch letztlich tut. Revolution markiert jede ethische Entscheidung per se. Eine Gesinnungsrevolution muss weder, wie Horn ausführt, schon »alles Entscheidende« vollziehen, noch muss sie in einer Kausalrelation mit der Reform zusammenfallen.

Horn: »Die Revolution muss also dasjenige sein, was am Ende steht, nicht das, was den Anfang ausmacht. […] Wie könnte es gemeint sein, dass erst eine grundlegende Revolution der Gesinnung stattfindet und danach eine schrittweise Besserung der moralischen Einzelhandlungen oder der einzelnen Einstellungen?« (Horn, »Die menschliche Gattungsnatur«, 60). 100 Horn, »Die menschliche Gattungsnatur«, 60. 101 Horn, »Die menschliche Gattungsnatur«, 61. 99

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Gesinnungsrevolution in ethischer Grenzsituation Der hier zuletzt analysierte Gesinnungsbegriff unterstreicht den – für unsere Herleitung gespaltener Subjektivität in Kants Ethik – wichtigen Gedanken, dass Gesinnungsrevolution ein das ethische Subjekt permanent herausfordernder Moment ist, für den es sich selbst nicht letztverbürgen kann. Gesinnungsrevolution markiert für Kant einen Fortschritt auf dem unendlichen Weg der Heiligkeit, aber Kant muss eingestehen, dass der Mensch auch nach der Gesinnungsrevolution noch nicht heilig ist. Der Gesinnungsrevolutionär mag eine bestimmte ethische Haltung »trainiert« haben (ich gebe immer Almosen), aber sobald diese Haltung nicht mehr ganz die moralische Gesinnung verkörpert (d. h. ein Almosengeben um des Almosengebens willen, eine reine, unpathologische Handlung) und stattdessen eine mechanisch-passive Gewohnheit geworden ist, sinkt sie zur Legalität herab. In der Religionsschrift erläutert Kant mit Hilfe eines Zahlenvergleichs das Beispiel einer solchen Gewohnheitshandlung, die gut sein kann, aber einen »bloßen Mangel […] eines Grundes des Guten« (Rel., VI, 22 FN) aufweist. Die mechanisch-passive Gewohnheitshandlung ist, wie er schreibt »= 0«, im Gegensatz zu einer wirklich moralischen Handlung »= a« und einer »positiv [b]öse[n]« Handlung »= –a«. Die gute Handlung, die zur Legalität herabgefallen ist, – das macht der Verweis auf die »= 0« deutlich – ist nicht einmal mehr im Ansatz mit der guten Handlung »= a« vergleichbar. Sie ist nur eine Form der »Gleichgültigkeit« (ebd.) und somit, wie die Null aufweist, gar keine moralische Leistung. Ebenso kann ein moralisches Versagen nach der »Gesinnungsrevolution« für Kant nicht nur als Kavaliersdelikt definiert werden, da jedes Versäumnis des kategorischen Imperativs für ihn mit dem absoluten, nicht durch ein Sicherheitsnetz abzufangenden Sturz in die Niederungen des »radikal Bösen« zusammenfällt. D. h. auch der in der Gesinnungsrevolution für das moralische Gesetz sich Entschieden-Habende ist nicht davor bewahrt, wieder in einer moralisch schwierigen Lage bei ›Null‹ anzufangen und sich entscheiden zu müssen, als hätte nie eine Gesinnungsrevolution stattgefunden. Daher markiert diese hier vorgestellte dritte Gesinnungsrevolution nach unserer Interpretation jede ethische Handlung, wo der Einzelne unmittelbar eine Einbuße seiner Glückseligkeit verspürt und sich von neuem einen »neuen Menschen anziehen« muss, um z. B. auch noch dem fünften Bettler Almosen um des Almosengebens willen zu ge74 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Gesinnungsrevolution in ethischer Grenzsituation

ben. Hier ist jede ethische Handlung gemeint, die wir nicht (nur) als Legalität ausführen. Wie gesagt konstruiert Kant in seiner Rede von einem »erste[n] subjective[n] Grund der Annehmung der Maximen« (Rel., VI, 25) eine denknotwendige Metamaxime des Guten oder des Bösen. 102 Aber diese Option ist als außerzeitliche immer noch in der Suspension ihres Geschehen-gewesen-Seins. Sinnbildlich gesprochen könnte erst am Tag des Jüngsten Gerichts Gott mir aufzeigen, welchen »subjectiven Grund der Annehmung der Maximen« ich eigentlich in Freiheit gewählt hatte. Trotz dieser außerzeitlichen Urwahl als Entscheidung für die Maxime des Guten oder des Bösen, die sich retrospektiv beglaubigt haben wird, ist der Einzelne in einer jeden neuen dilemmatisch-moralischen Situation, wo sein moralischer Wille gefordert ist, immer wieder an dem Punkt, wo er bloß einen nachträglichen Rückgriff auf diese vorzeitige Freiheitstat hat. Der »subjektive Grund« ist immer schon gesetzt und doch – so paradox es klingen mag – in diesem Gesetztsein in der Suspension seines Geschehens. Diese Theorie ist intuitiv sehr überzeugend, da sie den Einzelnen in eine eigentümliche Prädestinationslehre zu stellen scheint, gleichzeitig aber deren Geltung in einer kairotischen Jetztzeit verankert, für die nur derselbe Einzelne und eben kein göttliches Schicksal verantwortlich ist. Kant bringt zwei Beispiele der hier gemeinten Plötzlichkeit der Bekehrung als ein Überkommen in der Grundlegung. In der ersten Situation hat ein von Schicksalsschlägen gepeinigter Mensch kaum noch die Kraft, mit seinen Emotionen Anteil zu nehmen an der Not Fremder. In der plötzlichen Wahrnehmung dieser »tödlichen Unempfindlichkeit« überkommt ihn die Pflicht und zieht ihn wie Münchhausen am eigenen Schopf aus den Niederungen seines neigungsorientierten Menschseins: »und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tödlichen Unempfindlichkeit heraus, und täte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht« (GMS, IV, 398). Ebenso könne es, zweitens, einem Menschen ergehen, den die Natur »nicht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet hätte«. Auch er könnte überkommen werden von der Macht der Pflicht und »sich selbst einen weit höhern Wert […] geben […]. [G]erade da hebt der Wert des Charakters an« (GMS, IV, 398). Woher

102 Für sie hat der Mensch in Freiheit außerhalb eines »ersten Zeit-actus« (Rel., VI, 25) optiert. Sie ist der mysteriöse »Zusatz« zu seiner »Persönlichkeit« (Rel., VI, 28 f.).

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diese Umkehr und Bekehrung eigentlich kommt, kann Kant jenseits seiner Verweise auf die reine Möglichkeit nicht sagen. Die Beispiele markieren für uns jeweils die Plötzlichkeit des Auftretens einer Gesinnung auf der Alltagsebene. Die nicht ausgewiesene Schwelle von vor- zu extramoralisch verweist uns auf eine NichtKoinzidenz, aus der heraus das Subjekt sich plötzlich durch eine Art erzwungener Wahl selbst ergreift. Gesinnung begegnet uns hier als eine Größe, die, aus einer Nicht-Koinzidenz des Revolutionären kommend, nur nach dem eigentlichen Akt die Gesinnung auffüllt. Das Subjekt konstituiert sich als Subjekt der Gesinnung erst nach der Tat. Kant verdeutlicht das in der Konzentration auf die »Folgen« der Handlungen, die für ihn der einzige Indikator (nicht objektivierbarer Beweis) einer Gesinnungsrevolution sein können. Er schreibt: Da die Menschen ihre Gesinnung »nicht durchschauen«, können sie »allenfalls nur aus den Folgen derselben im Lebenswandel auf sie schließen« (Rel., VI, 71). Kant setzt dem aber wiederum skeptisch hinzu: »[M]an täuscht sich nirgends leichter als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt« (Rel., VI, 68). D. h. dort, wo man aus Folgen einen indizienbasierten Schluss ziehen könnte, betrügt der Mensch sich besonders leicht. Gesinnungsrevolution kann wirklich Bekehrung meinen und auf einen »Lebenswandel« schließen lassen und dennoch kann der Mensch immer wieder in ethischen Grenzsituationen vor die Ausgangsfrage der Gesinnung treten und sich konfrontiert finden mit der Frage, ob er überhaupt jemals eine Gesinnung wirklich gewählt habe (bzw. von ihr erwählt worden sei). Die Rede von einer je neuen Reaktualisierung dramatisiert die Wichtigkeit der Tat und den Fokus auf einen kairotischen, nahezu messianischen Jetztmoment. Der Mensch muss, obwohl er immer schon begonnen hat frei zu handeln, je neu ethisch beginnen. Ebenso kann er je neu in das »radikal Böse« herniederfallen, ohne sicher zu sein, sich jemals überhaupt über diese Niederungen erhoben zu haben. Im Fall eines Absturzes in das »radikal Böse« legt der Einzelne dann nicht nur »Schwäche« an den Tag, für die er »Reue« zeigt, sondern er ist böse. So ist jedes neue Scheitern im Alltag auf dem Weg der Heiligkeit je von neuem »radikal böse« und kein Kavaliersdelikt eines fast schon Heiligen. Erst die Tat ›beweist‹ – wenn man sich nicht gerade in ihr als der Folge einer Maxime umso mehr täuscht – retrospektiv ein Gesinnung-gehabtHaben, da sie als causa sui in der Tat performativ entstanden sein wird. Gesinnung ist im Moment ihres Überkommens, d. h. als sitt76 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

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liche Maxime, die den Menschen bis in seine »Denkungsart« hin umkrempelt, als Umschlag, als »Herzensänderung« (Rel., VI, 47), als Schritt über den Horizont des Legalen hinaus immer ein Zuviel. Sie ist mit einem Mal für zu viel verantwortlich. Gesinnungsrevolution, so könnte man sagen, stellt den Menschen ad hoc in eine Überforderung. Sie ist die nach der Etablierung moralischer Sittlichkeit ihr vorausgehende Macht. Erst nachdem ich den neuen Menschen angezogen habe, die Gesinnung sich ergeben haben wird, bin ich ein neuer Mensch geworden.

Die »Außer-Form« des kategorischen Imperativs Kants Grunderkenntnis in seiner Moralphilosophie ist bekanntlich die These, dass die reine praktische Vernunft von jeder Art von Neigung, Selbstliebe und »Eigendünkel« unabhängig moralisch handeln kann und damit ihre absolute Willenskraft und die Freiheit des Menschen als Vernunftwesen unter Beweis stellt. Die durch die praktische Vernunft selbst gesetzten Zwecke gehen über die Lebensdimension der Eigebundenheit des Menschen in die determinierten Prozesse der Natur hinaus und zeichnen den Menschen als Träger eines intelligiblen Charakters aus. Reine Vernunft will moralisch handeln, weil sie so handeln muss. In Situationen des Zweifels über die moralisch richtige Handlung hilft in der Maximenbildung der kategorische Imperativ. Kant weiß nun jedoch, dass die Einsicht in eine sittliche Tat noch nicht die sittliche Tat selbst ist. Es braucht eine Triebfeder, die er als Triebfeder der »Achtung« (KpV, V, 73 (A 130)) konzipiert. Damit sie nicht wiederum Neigung oder sinnliches Gefühl ist, tritt sie gleichursprünglich mit der Erkenntnis der Pflicht, der Handlungsmaxime und dem Handlungszweck auf den Plan. 103 Dem moralischen Gesetz 103 »Also ist Achtung fürs moralische Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellectuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können« (KpV, V, 73 (A 130)). »Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen« (KpV, V, 76 (A 135)). Kants Verweise auf »Achtung«, »Triebfeder« und »Gesetz« sind deshalb so schwer zu hierarchisieren, da er die Begriffe mehrdeutig aufeinander verweisen lässt. Er behauptet sowohl, dass ihm die Achtung Triebfeder zur Sittlichkeit ist, als auch, dass die Sittlichkeit selbst die Triebfeder sei. Vgl. dazu Lewis W. Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, ein Kommentar, München: Wilhelm Fink 1995, 206 ff.

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gelingt es dann im besten aller Fälle wirklich und ganz lebenspraktisch, in einer Entscheidungssituation der »Selbstliebe Abbruch« zu tun und in einer von Naturprozessen determinierten Welt einen intelligiblen, nahezu heiligen und absoluten moralischen Akt zu setzen. Er stellt »mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat« (KpV, V, 162). 104 Kants Ethik hat nun bekanntlich seit ihren ersten Entwürfen zum kategorischen Imperativ in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten bis hin zur Gegenwart Kritik auf sich gezogen. Der schon erwähnte Pistorius gilt als einer der ersten, der diese artikuliert und Kants Wortbedeutung von moralisch und ethisch »gut« als kontextlos und bedeutungsleer bemängelt. Als Übersetzer Humes war Pistorius die Rationalitätstheorie des englischen Empiristen vertraut, und er wandte gegen Kant ein, dass ein absolut guter Wille »eine schöne, aber unmögliche Idee« 105 sei. Sie sei in der Erfahrung nicht aufweisbar. Pistorius vermisst, wie er schreibt, eine semantisch lebenspraktische Inhaltsbestimmung des Wortes »gut« als Bedingung der Möglichkeit, den kategorischen Imperativ überhaupt anzuwenden. Sie ist nötig, um eine Handlung als »gut« im Sinne eines moralischen Aktes zu identifizieren. Ernst Tugendhat nimmt diese Kritik indirekt wieder auf. Er kritisiert ähnlich wie Pistorius Kants universalistische Begriffsverwendung von »gut« und »vernünftig« im Sinne des kategorischen Imperativs als bedeutungsleer und verweist auf eine am Sprachgebrauch orientierte Begründung moralischer Urteile. 106 So gäbe es gar keine »direkt zu verstehende Bedeutung der grammatisch absoluten Ver104 Kants Rede der »Heiligkeit« in der Religionsschrift markiert in diesem Kontext Zielpunkt des Progressus ins Unendliche, »von niederen zu den höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit« (KpV, V, 123 (A 221)). Ja, die Heiligkeit wird von der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft sogar »unnachlässlich« gefordert. Sie steht für die »völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetze« (KpV, V, 122). Würde jemand das Ziel dieser Heiligkeit auch nur ein wenig relativieren, weil es im Endlichen eigentlich nicht wirklich und absolut verwirklichbar wäre, hätte das Gesetz laut Kant »gänzlich abgewürdigt, indem man es sich als nachsichtlich (indulgent) und so unserer Behaglichkeit angemessen verkünstelt« (KpV, V, 122 (A 221)). 105 Pistorius, »Rezension der Grundlegung der Metaphysik der Sitten«, 33. 106 Tugendhat schreibt: »Diesen Sprachgebrauch mache ich an einer bestimmten Verwendung der Wörtergruppe ›muß‹ / ›kann nicht‹ / ›soll‹ und der Wortgruppe ›gut‹ / ›schlecht‹ fest. Beide Wörtergruppen haben eine breite Palette von Verwendungsweisen […]« (Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 35 f.).

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wendungsweise von ›gut‹.« 107 Und in Bezug zum kategorischen Imperativ schreibt er: »Was ein [moralisches, D. F.] Handeln sein soll, das an und für sich rational ist, ist nicht zu sehen. Diese Rede erscheint sinnwidrig«. 108 So verwirft Tugendhat die Idee eines absoluten Gutes und schlägt einen Lösungsweg vor, der die Semantik von »gut« durch einen Diskurs von objektiven Begründungskriterien bestimmen soll. 109 Wenn das Tugendhat’sche moralische Subjekt eine Tat als ethisch gut benennt, dann kann man alle möglichen Gründe (in der Verwendung des Wortes »gut«) anbringen, warum hier das Werturteil ›ethisch gut‹ als begründet angewendet wurde. Alenka Zupančič weist dagegen in ihrer Kant-Lektüre auf, dass in diesem Falle noch nicht eigentlich erfasst sei, was für Kant das Ethische der Moral impliziere. Und wenn Tugendhat schreibt: »Soviel können wir […] sagen: […] dieser Vernunftbegriff [in Kants Ethik, D. F.] orientiert sich nicht mehr am gewöhnlichen Sinn von Rationalität«, 110 so sieht Zupančič dies gerade als Kants Leistung. Wenn alle »pathologischen«, neigungsorientierten, an die Verwendungsweisen von »gut« durch Lebenspraktiken gebundenen Elemente einer Tat abgezogen werden, Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 56. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 44. Moralische Urteile werden durch die oben erwähnten Wortgruppen bestimmt. Wenn diese Wörter in Sätzen eine absolute Verwendung haben, wie in Sätzen »Du musst dein Versprechen halten« (ebd., 37), d. h. wenn sie nicht als Attribut einer bestimmten Sache gemeint sind, handelt es sich um, »die moralische Verwendungsweise« (ebd., 37), d. h. um moralische Urteile. Den Hinweis der indirekten Beziehung zwischen Pistorius und Tugendhat verdanke ich Philipp Merz. Tugendhat schlussfolgert, dass alle Aussagen, »in denen explizit oder implizit das praktische Müssen oder ein Wertausdruck (›gut‹ oder ›schlecht‹ grammatisch absolut vorkommen, […] moralische Urteile aus[drücken]« (ebd., 37). Tugendhat: »Aber es gibt auch eine Verwendung, in der das Wort ›gut‹ grammatisch absolut verwendet wird, als bloßes Prädikat ohne Ergänzung, z. B. ›jemanden zu demütigen ist schlecht‹ ; wir meinen damit nicht, es sei schlecht z. B. für die Gesellschaft, sondern: es ist schlecht einfachhin […]« (ebd., 37). Kants Projekt der praktischen Philosophie postuliert aber genau dieses absolute »gut«, so Tugendhat. »Kant ist fast der einzige, der eine Antwort auf den Sinn des moralischen Sollens zu geben versucht hat, die ich jedoch für völlig falsch halte« (ebd., 40). Und später schreibt er: »Mit einem kategorischen Imperativ ist eine Vernunftregel ohne Bezugspunkt gemeint: es wäre dann rational etwas zu tun, nicht mit Bezug auf einen bestimmten Zweck und auch nicht mit Bezug auf das Wohlergehen des Handelnden oder eines anderen Wesens, sondern einfachhin. Kant macht sich dabei zunutze, daß die moralischen Normen als absolute Werturteile formuliert werden können (›Es ist gut/schlecht, x zu tun‹) […]« (ebd., 44). 109 Diesen Hinweis verdanke ich Philipp Merz. 110 Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 45. 107 108

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bleibt nach ihrer Meinung ein Rest übrig, den Tugendhat nicht sehen kann. Dieser Rest ist das, was sie als das Moment der Überzähligkeit die reine Form des ethischen Aktes nennt, und der sich – wie man mit Tugendhat sagen könnte – »am gewöhnlichen Sinn von Rationalität« 111 tatsächlich nicht orientiert. Aus Pflicht zu handeln bedeutet nämlich für Zupančič im Gegensatz zum »pflichtmäßigen« Handeln genau diesen Rest zur Handlungsgrundlage zu machen, diesen »Rest« als etwas Unbedingtes zu verstehen, das nicht begründet werden kann. Für diesen Rest ließen sich aus der Perspektive Tugendhats keine Gründe mehr angeben. Er ist für Zupančič die reine Form bzw. die »Außer-Form«. Und diese reine Form ist die Triebfeder des moralischen Handelns. Zupančič glaubt zeigen zu können, dass das Ethische nach Kant auf der Ebene dieser Form und damit auf der Ebene der Erzeugung des Guten und nicht auf der Ebene seiner Anwendung oder Instanziierung liegt. Wie Zupančič genau diesen schwer zu fassenden Gedanken herleitet, soll noch einmal präzise vorgestellt werden, da er für die hier dargelegte Kant-Lektüre ein wichtiger Impulsgeber ist. Zupančič behauptet, dass Kants angeblich formalistische Ethik nicht einfach als eine »leere Form« oder als »leerer Formalismus« zu verstehen sei, wie man des Öfteren und in gewissem Sinne auch bei Tugendhat liest. Sie ist ein »Überschuss der Form selbst«. 112 Zupančič erklärt gemäß Kants Dichotomie von pflichtmäßigem Handeln und einem Handeln aus Pflicht was sie darunter versteht. Eine pflichtmäßige Handlung mag bekanntlich aus der Beobachtungsperspektive eines Dritten von einer Handlung »aus Pflicht« nicht zu unterscheiden sein. 113 Wenn ich z. B. vor Gericht gegen einen des Hochverrats angeklagten Freund belastende Aussagen vorbringe, so erfülle ich meine Pflicht als Staatsbürger. Dem Gericht ist es in diesem Fall gleichgültig, ob ich das belastende Beweismaterial aus Pflicht oder nur pflichtmäßig vorgebracht habe. Man könnte in Bezug auf dieses Beispiel mit den Sätzen von Zupančič sagen: »Ich habe meine Pflicht Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 45. Zupančič, Das Reale einer Illusion, 70. 113 In beiden Fällen sieht man jemanden eine Handlung vollziehen, die unter der Rücksicht der Form, d. h. der Art und Weise, wie sie ausgeführt wird (Beispiel: ich schwimme jemandem rettend zu Hilfe) und dem Inhalt, d. h. die materiellen Implikationen, die dabei involviert sein mögen (ich gefährde meine Gesundheit dabei) moralischen Charakter hat. 111 112

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erfüllt, dem ist nichts hinzuzufügen. Hätte ich meine Pflicht einzig und allein aus Pflicht erfüllt, würde das auf dieser Ebene gar nichts ändern. Selbst wenn ich das, was ich getan habe, einzig aus Pflicht getan habe, bleibt davon keine Spur, die Wirkungen meiner Handlung sind genau dieselben, was bedeutet: handle ich nicht nur pflichtmäßig, sondern auch einzig aus Pflicht, so kann ich mich dafür keiner größeren Achtung (die damit ›der Inhalt‹ dieser Form wäre) erfreuen.« 114 Die Handlung »aus Pflicht« ›pfropft‹ sich nicht einfach der »pflichtmäßigen« auf, im Sinne von: ›ja ich habe meinen Freund an die Staatsanwaltschaft ausgeliefert, und das war meine Pflicht als Staatsbürger, und natürlich habe ich dies, insofern es meine Pflicht als Staatsbürger war, übrigens auch als Vernunftwesen aus Pflicht getan.‹ Zupančič sieht stattdessen in der ethischen Handlung eine »Form« am Werk, »die mit einem mal nicht mehr die Form von etwas, die Form eines Inhalts hat. Und sie ist auch nicht einfach eine leere Form, eine Form ohne Inhalt«. 115 Sie ist stattdessen »eine Form außerhalb des Inhalts, über den Inhalt hinaus, eine Form, die nur sich selber Form gibt.« 116 Zupančič möchte auf diese Weise das in Kants Ethik allgemein anerkannte Faktum betonen, dass die Handlung aus Pflicht nicht einfach – sinnbildlich gesprochen – in das Getriebe der pflichtmäßigen hineingegossen werden kann wie ein Schmieröl. Für Kant ist die Handlung aus Pflicht mit der pflichtmäßigen nicht einmal im Ansatz auf derselben Ebene. Sie ist »der Art nach unterschieden« (Gemeinspruch, VIII, 282), da sie, die ethische Handlung, bekanntlich das Subjekt in eine zur Pflichtmäßigkeit diametral entgegengesetzte Welt des Unbedingten stellt: Sie holt das Subjekt aus dem Bereich legal und intersubjektiv anerkannter Werte, personeller Beziehungen und legaler Normen heraus und stellt es in einen Bereich, in dem die Norm aus dem reinen Willen zusammen mit seiner Triebfeder gleichursprünglich das Subjekt zu einem ethischen macht und es damit ebenso zu einem Instanziierungsorgan des Allgemeinen auf der Ebene des Partikulären werden lässt. Das klang schon in unserer Herleitung der Gesinnungsrevolution als nicht ableitbarem Exzess einer ethischen Selbstschöpfung ex nihilo des Subjekts an. Zupančič verstärkt in Bezug auf die Formalität des kategorischen Imperativs dieses 114 115 116

Zupančič, Das Reale einer Illusion, 28. Zupančič, Das Reale einer Illusion, 29. Zupančič, Das Reale einer Illusion, 29.

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Motiv. Sie möchte so einer banalisierten Vorstellung des kategorischen Imperativs widersprechen, der gegenüber das Moralische einem leicht zu etablierenden Verhaltenskatechismus entsprechen könnte. 117 (Eine solche Position wird in der Kantforschung nach meiner Meinung nirgends ernstzunehmend vertreten.) Zupančič möchte dem Exzess der ethischen Handlung gerecht werden, die keine andere inhaltliche Triebfeder hat als die Form des reinen Willens, die sowohl Motivation für das moralische Gesetz als auch – gleichursprünglich – das Gesetz ist. Insofern die Triebfeder der ethischen Handlung gar kein pathologisches Objekt beinhalten darf, impliziert dies für Zupančič, dass die Triebfeder ihr eigenes sowohl formelles als auch materielles Form-Inhalts-Prinzip ist. Wenn Bernard Williams in seinem Buch Moral Luck davon spricht, Kants Ethik statte den moralisch Agierenden mit einer Reflexionsschleife seiner Handlungsmaxime zu viel aus (»[it] provides the agent with one thought too many«), 118 dann sieht Zupančič hier nicht eine moralische Abwägung zu viel am Werk, sondern die Außer-Form des Moralischen. Williams präsentiert ein von Charles Fried übernommenes hypothetisches Szenario, in dem ein Ehemann zwischen seiner ertrinkenden Frau und einer anderen ertrinkenden Person kantisch unterscheidet, wen zu retten erlaubt sei. Williams behauptet, dass jegliche Art eines moralischen Algorithmus’, wie Kant ihn (angeblich) entwirft, die emotionale Basis des Menschsein ignoriere. Eine Moralität, die die Liebe eines Ehemanns erst zwingen würde, moralisch abzuwägen, wen er rette, sei genau eine Überlegung 117 Zupančič erwähnt in diesem Zusammenhang Adolf Eichmanns deontischen Obrigkeitsgehorsam. Nach ihr rekurrierte dieser zur Verteidigung seiner Handlungen auf sein Pflichtbewusstsein und glaubte damit, sich wiederum seiner Wahl für dieses Pflichtbewusstsein nicht mehr rechtfertigen zu müssen aus dem einfachen Grund, weil man dafür sich nicht mehr rechtfertigen könne. Zupančič betont, dass Eichmann dies genau nicht im Rekurs auf Kant tun kann. Im Rekurs auf Eichmanns Rationalisierung sieht sie zwar sehr wohl ein Gefahrenpotenzial der Selbstgesetzgebung, aber sie versucht diesem Gefahrenpotenzial zum Trotz einen Mehrwert abzuringen. Was sie diesem eigenen Sinn von Rationalität abzuringen versucht, ist das, was sie das Überzählige der ethischen Tat im Gegensatz zur Ethik als der Disziplin kalkulierbarer und legal-ethischer Handlungen nennt. Zupančič diametral entgegenstehend ist die Auslegung John Deweys, der die deontische Moralität Kants an Gehorsamsstrukturen rückbindet und damit Eichmanns Argument scheinbar kritisch vorausnimmt: Deutsche Philosophie und deutsche Politik, hrsg. und kommentiert von Axel Honneth, Berlin / Wien: Philo 2000. 118 Bernard Williams, »Persons, Character, and Morality«, in: ders., Moral Luck, Cambridge: Cambridge University Press 1982, 1–19, hier: 17.

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zu viel. Zupančič möchte darauf hinaus, dass es Kant nicht um eine Infragestellung menschlicher Leidenschaften geht, zu denen die Liebe gehört, sondern dass die Außer-Form des Moralischen eine neue Verhältnisbestimmung, eine neue Universalisierung im Verhältnis vom Partikulären und Allgemeinen einführt. Gegen Williams könnte man einwenden, dass wir uns sehr wohl einen Ehemann vorstellen könnten, der diese ›überzählige‹ Überlegung in dem erwähnten Szenario vollzieht und sich dadurch noch nicht als unmenschlich erweist. Dies müsste dann nicht, wie Susan Wolf behauptet, gleich schon einen Mangel an Liebe implizieren. 119 Zupančičs Versuch, die Radikalität des Ethischen bei Kant freizulegen, schreibt letztlich die scheinbar unmöglich zu definierende Freiheit des moralischen Willens bei Kant fort. 120 Sie erscheint hier bei Zupančič besonders als eine bloß negativ bestimmte Distanz zu etablierten Praxiszusammenhängen, in denen z. B. kooperative und diskursive Subjekte stehen. Axel Honneth würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Zupančičs Lektüre teilen, aber auch er beschreibt schließlich den »unterbrechenden […] aufschiebenden Charakter« der moralischen Freiheit nach Kant. »[W]er von ihr Gebraucht macht, will eine reflexive Distanz gewinnen, um auf eine öffentlich zu rechtfertigende Weise wieder Anschluss an eine soziale Praxis zu finden, die ihn mit sei es unzumutbaren, sei es unvereinbaren Forderungen konfrontiert hat. Auf diesem negativen Weg kommt der moralischen Freiheit freilich eine verändernde Kraft zu, die der rechtlichen Freiheit von Haus aus nicht inne wohnt. […] Der Wert der moralischen Freiheit geht daher über den der rechtlichen Freiheit hinaus.« 121

Zupančič würde diese Sätze mittragen, außer dem darin enthaltenen Hinweis, die moralische Freiheit ziehe sich »auf eine öffentlich zu rechtfertigende Weise« von der ungerechtfertigten Praxis zurück. Zupančič interessiert ja der Umstand, dass sich die moralische Freiheit in einzelnen Fällen gerade nicht mehr auf eine öffentlich zu rechtfertigende Weise präsentieren kann, obwohl sie in der Anwendung ihrer Handlungsmaxime sehr wohl die »gesamte Menschenvernunft« auf 119 Vgl. Susan Wolf, The Failure of Autonomy, Ph.D. Princeton University 1978, 51, zitiert nach Marcia W. Baron, Kantian Ethics Almost Without Apology, New York: Cornell University Press 1999, 122. 120 In diesem Sinne ist Zupančičs Kant-Lektüre nicht so innovativ, wie sie manchmal suggeriert. Dennoch gelingt ihr eine Zuspitzung der Problematik auf herausragende Weise. 121 Honneth, Recht der Freiheit, 205.

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sich vereint. Nur deshalb gibt es ja die politische Krise zwischen Partikulärem und Allgemeinem. 122 Übrigens wird auch Hegel, wie wir noch zeigen werden, bei aller Kritik am Kant’schen Gewissen diese Überschussgewalt der Gewissheit durch Absolutheit der reinen Außer-Form für seine eigene praktische Philosophie nutzen. D. h. auch Hegel kritisiert nicht nur Kants Freiheitskonzept im ethisch-moralischen Willen, den er teilverantwortlich für moderne Verirrungen der Vernunft z. B. im Kontext der Französischen Revolution macht. 123 Sondern er spricht ihm in der Nachfolge von Rousseau auch die einmalige Bedeutung zu, das für die Moderne notwendig überdisziplinäre Prinzip gewesen zu sein, welches die Vernunft im 18. Jahrhundert erst in neue Fragestellungen der praktischen Philosophie hinein katapultiert hat. Hegel ist also gerade von Kants Theorie einer nahezu paranoid erscheinenden Willenskraft fasziniert, in der er eine bestimmte Maßlosigkeit moderner Subjektivität z. B. aus dem Kontext der Französischen Revolution wiedererkennt. Für Zupančič übernimmt die Abwesenheit einer konkreten, pathologischen Triebfeder die Funktion der Triebfeder. 124 So erscheint Kants reiner moralischer Wille als »Außer-Form«. Mit Hegels Kritik am Gewissen könnte man sagen: Kants moralischer Wille ist als »Außer-Form« gottgleiches Moralprinzip, weil es seine eigene Schöpfung ist. Aus diesem Grund vergleicht Zupančič Kants ethische Triebfeder auch mit der Rede Alain Badious von einer »singulären Multiplizität«. Die singuläre Multiplizität ist eine Größe, die für Badiou – einem neuartigen Ereignis gleich – etwas noch Unbekanntes ›präsentiert‹, wobei das Neue noch nicht im Kanon ethischer Handlungsoptionen ›repräsentiert‹ werden kann. 125 Dennoch wird es als ein 122 Honneth würde seinerseits Zupančič wohl die Gefahr aufzeigen, dass ihre Kantlektüre in eine »soziale Pathologie« kippt, wo »diejenigen, die zu einer angemessenen Deutung des normativen Gehalts institutionalisierter Praktiken nicht in der Lage sind, [sich] gegenüber dem Rest der Gesellschaft isolieren« (Honneth, Recht der Freiheit, 206). Honneth gesteht aber ein, dass eine soziale Pathologie nicht nur »einige«, sondern auch »alle Gesellschaftsmitglieder« betreffen kann (ebd., 206). Zu Honneths Kritik am Terrorismus der RAF vgl. ebd., 215–218. 123 In seiner Kritik am »Gewissen« betont Hegel, dass der reine moralische Wille als Instanz sowohl von Legislative und Judikative keinen Außenraum mehr kennt, da es diesen Außenraum als Form-Inhalts-Prinzip selbst immer schon ausfüllt. 124 Kant in der Metaphysik der Sitten: »diejenige [Handlung …], in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetz zugleich die Triebfeder der Handlung ist, [nennt man] die Moralität (Sittlichkeit) derselben« (MS, VI, 219). 125 Vgl. Badiou, Das Sein und das Ereignis, 229–240 (Meditation 20: Der Eingriff:

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›wirkliches Ereignis‹ den zukünftigen Raum seiner Repräsentation – von dieser, seiner Unbestimmtheit her – eröffnet haben. Für Zupančič entspricht diese Struktur einer Singularität, die sowohl Allgemeines als auch Partikuläres in sich vereint und so die sittliche Handlung als eine überzählige Singularität definiert. Wenn, wie oben gesagt, das Tugendhat’sche moralische Subjekt eine Tat »ethisch gut« benennt, dann können dafür alle möglichen Gründe (in der Verwendung des Wortes »gut«) angebracht werden, die erklären, warum hier das Werturteil »ethisch gut« ausgesprochen wird. Aber die Außer-Form des Ethischen, seine Überzähligkeit, die Zupančič glaubt aufweisen zu können, kommt hier nicht in den Blick. Zupančič beobachtet außerdem sehr treffend (und scheinbar ohne es zu wissen auf einen alten Konflikt zwischen Kant und Karl Leonhard Reinhold zurückgreifend), dass auf der Ebene der Tat aus »reiner Form« auch nicht mehr eine Differenz zu einer »teuflisch bösen« Handlung, d. h. einer Handlung, die sich aus Prinzip und nicht aus pathologischen Gründen dem moralischen Gesetz entgegenstellt, eingesehen werden kann. Derjenige, der den kategorischen Imperativ befolgt, kann nicht mehr das Gesetz überschreiten, da er das Gesetz instanziiert. Eine Opposition zum moralischen Gesetz im Sinne des teuflisch Bösen macht gar keinen Sinn mehr. Und wie gesagt liegt genau hier für Hegel sowohl die moderne Mächtigkeit Kants wie auch der Abgrund des reinen moralischen Gewissens. Es kann alles – sogar die Welt in ihrer Glückseligkeit-bedingenden Gänze – in Frage stellen, um der scheinbaren Absolutheit und Unbedingtheit seiner selbst und des Reichs der Zwecke willen. 126 Kants Ethik besagt so für Zupančič, inwiefern es in lebensweltlichen Situationen immer wieder nur auf das partikuläre Subjekt ankommen kann, zu definieren, was das Ethische sei. Es ist, so könnte man sagen, seine Gesinnungsrevolution, seine (nichtverantwortbareillegale Auswahl eines Namens des Ereignisses). Siehe zu Badious politischer Theorie des überzähligen Subjekts auch: Dominik Finkelde, »Politische Logik. Zum Subjekt als Grenze bei Wittgenstein und Badiou«, in: Rebekka Klein / Dominik Finkelde (Hg.), Souveränität und Subversion. Figurationen des Politisch-Imaginären, Freiburg: Alber Verlag 2015, 216–241. 126 Zupančič schreibt: »Die Schwierigkeit der Kantischen Konzeption des teuflisch Bösen liegt schon in dessen Definition, der zufolge das teuflisch Böse statthat, wo man die Opposition gegen das moralische Gesetz zur Maxime (oder zum Prinzip oder Gesetz) erhebt« (Zupančič, Das Reale einer Illusion, 105 f.).

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und-doch-zu-verantwortende) Charakterwahl, die bestimmt haben wird, für was das Subjekt sich verantwortlich gesehen haben wird (oder inwiefern es sich vor dieser Verantwortung verpasst haben wird). Im gewissen Sinne kehrt sie damit eine von Reiner Wimmer vorgebrachte Kant-Kritik ins Positive. 127 Wenn Wimmer behauptet, dass Kants Begriff universaler Menschenvernunft nur monologisch sei und das Allgemeine sich nicht auf eine wirkliche Intersubjektivität – mit den realen Willen eventuell auch unvernünftig wirkender Menschen – beziehe, dann sieht Zupančič gerade darin die Kraft einer Ethik, die den Begriff des Universellen vom Subjekt und seiner monologischen Setzung des »Vernünftigen« aus instanziiert. Zupančič möchte nicht ein relativistisches »anything goes« propagieren. Sie möchte die Unbedingtheit des moralischen Aktes auf eine Rationalität rückbinden, wo das Individuum die Kollabierung von Allgemeinem und Partikulärem verbürgt und (Tugendhats Vorwurf ins Positive verkehrend) strikt genommen »nicht mehr am gewöhnlichen Sinn von Rationalität orientiert« ist. Gegen die von einigen Kantianern vertretene These, Kants kategorischer Imperativ sei immer schon auf Intersubjektivität angelegt, betont Zupančič den Gedanken, dass diese Auslagerung des Ethischen in die Ethik nur scheinbar ist. Das Prinzip der Verallgemeinerbarkeit ist zwar bei Kant auch drängend, aber es bleibt notwendig monologisch, da es sich nur so seiner Absolutheit versichern kann. Übrigens kommt einem öffentlich eingesetzten Richter diese Macht der Rechtssetzung ja indirekt wirklich zu. Seine Autorität ist die ›systemimmanente‹ Verkörperung der Ausnahmesetzung und sie wird ihm von der symbolischen Ordnung des Gemeinwesens als solche zugesprochen. Der Richter bezieht sich zwar in der Urteilsbestimmung auf Vorgaben gesetzlicher Traditionen des Gemeinwesens, muss dann aber diese Tradition in der Inkraftsetzung seines Amtes überwindend abblenden, um sein Urteil zu fällen. 128 Er ist die gesellschaftlich anerkannte Instanz, die die Macht hat, Ausnahmen und damit »Kontoführungen« (Brandom) im Bereich der »äußeren Freiheit« zu definieren. Seine Entscheidungen markieren den notwendig

127 Vgl. Wimmer, »Die Doppelfunktion des kategorische Imperativs in Kants Ethik«, 301 ff. 128 Auch Hegel kommentiert diesen Umstand. In der Rechtsphilosophie beschreibt er, dass das Moment der Zufälligkeit im Urteilsspruch »selbst notwendig« sei (Rph, Bd. 7, § 214Z).

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Die »Außer-Form« des kategorischen Imperativs

In-Kauf-zu-nehmenden Zwischenfall des momentanen Ausnahmezustandes (die Setzung eines Partikulären als Allgemeines in Traditionen des Allgemeinen) als Bedingung der gesetzlichen Reglementierung im Kontext des Sozialvertrags. Das einzelne Individuum dagegen, das nicht mit einer ähnlich symbolischen Investitur dieser Ausnahmesetzung ausgestattet ist (dennoch aber nach Kants Ethik dieselbe performative Macht verkörpert), mag dagegen sein Leben riskieren, wenn es sich berufen fühlt, wie der Richter, Urteil zu sprechen. 129 Dieses Subjekt ist dann, wenn es in seiner Gewissheit bereit ist, auch das soziale Band der Gemeinschaft zu gefährden, für Außenstehende vielleicht ein Querulant, der alles etwas zu genau nimmt und seine Überzeugen nicht rückbindet an den ›gesunden Menschenverstand‹, d. h. an die Umstände der etablierten Praktiken und der herrschenden Ordnung. Aber die mit dem Üblichen Vertrauten teilen dann die Meinung des ethischen Subjekts vielleicht nur deshalb nicht, weil ihnen der Entschluss fehlte, von dem exzessive Subjektivität in einer bestimmten Situation überkommen war. Vielleicht fehlte ihnen aber auch Talent, das nötig war, um einen ethischen, vielleicht skandalös, irrational und monologisch wirkenden Entschluss zu treffen. Dass Talent eine für unsere Analyse entscheidende Kategorie ist, sagt Kant explizit in seiner Definition der Urteilskraft. Auf sie wollen wir im Folgenden eingehen, um sie mit der Frage ethischer Bestimmung von Urteilen zu verknüpfen. 130 129 Kant entsagt hier dem Subjekt die Möglichkeit, durch seine ethische Handlung den Sozialvertrag zu beschädigen. Insofern darf ein Subjekt sich moralisch nur erheben, wenn es gerade nicht die soziale Struktur des etablierten Rechts in Gefahr bringt. Das führt zu dem gegen Kant wiederholt vorgebrachten Vorwurf, letztlich einen revolutionären Umsturz bestehender Gesellschaftsordnung theoretisch kaum mit seiner Theorie abdecken zu können. 130 Noch ein Nachtrag zu Zupančič. Sie kritisiert an Kant, dass dieser mit dem Begriff des »höchsten Gutes« das Subjekt wieder vor den Horizont einer metaphysischen Totalität bringt. Demgegenüber hätte aber Kant eigentlich das Subjekt zuvor als Größe konzipiert, welche selbst von seiner Ebene einer subjektiven Allgemeinheit diese Totalität evoziert. Hier liegen auch die von Zupančič selbst eingestandenen Grenzen ihrer Lektüre. Sie kritisiert, dass Kant die Freiheit des Subjekts eigentlich beschneidet durch ein Konzept einer Totalität, die durch die Perspektive eines göttlichen Standpunktes verbürgt wird. Nun ist nicht mehr das Subjekt verantwortlich für ein kreationistisches Moment der Totalität in seiner Freiheit, sondern der göttliche Standpunkt verdinglicht ein anderes, traditionelles Konzept von Totalität. Zupančič behauptet, das Subjekt verkörpere nun die niedrigere, limitierte Perspektive des Verstandes verglichen mit dem höheren Vermögen der Vernunft. Jetzt ist das Subjekt in einen unendlichen Verbesserungsprozess eingebunden, der nicht mehr vom Subjekt selbst

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Talent als »Exzess« der Urteilskraft Wie Kant in verschiedenen sowohl erkenntnistheoretischen, philosophiepraktischen als auch die Ästhetik bedingenden Zusammenhängen betont, sind Verstandes- und Vernunftkraft des Menschen durch die treffende Verknüpfung von Einzelnem und Allgemeinem definiert. Urteile folgen Regeln und alle Erkenntnis impliziert für Kant die Subsumtion eines gegebenen Gegenstandes unter ein Allgemeines. Denken artikuliert sich in Urteilen und im Urteilen. 131 Das Urteil ist die Verbindung des Subjekts, d. h. des Einzelnen, mit einem Allgemeinem, dem Prädikat. In der Kritik der reinen Vernunft definiert Kant die »Urteilskraft« dann als ein besonderes Vermögen. Da sie als Grundbedingung der Verstandestätigkeit des Menschen auch für die Beurteilung einer den ethischen Willen des Menschen herausfordernden Alltagssituation bedeutend ist, ist es ratsam, näher zu schauen, wie genau Kant sie definiert. Er schreibt: »Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft, und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkenntnis abstrahiert, so bleibt ihr nichts übrig, als das Geschäfte, die bloße Form der Erkenntnis in Begriffen, Urteilen und Schlüßen analytisch

verbürgt wird, sondern von Gott als dem Blickpunkt der Vernunft, der in dieser Reihe eine Totalität sieht. Aber verweist der unendliche Progressus der Seele als Seele (und nicht als Körper) nicht vielmehr auf die Unmöglichkeit einer »Verdinglichung« des Ethischen in Raum und Zeit? Wenn Kant auch noch der Seele zumutet, nach ihrer Trennung vom Körper in der unendlichen Progression der Vervollkommnung zu stehen, unterhöhlt er damit nicht vielmehr die von Zupančič kritisierte Totalität des Reichs der Zwecke? Wenn das Reich der Zwecke nur der unendliche Aufschub ist, der nie erreichbar ist, dann könnte man sagen, dass das Reich der Zwecke, wenn überhaupt, sich nur kairosartig in der partikulären Handlungstat verwirklicht. 131 Zur Spezifizierung dieses Gedankens kann man beispielsweise auf Kants Definition des Denkens als Regelfolge rekurrieren. Er schreibt: »Die Sache der Sinne ist, anzuschauen, die des Verstandes, zu denken. Denken aber ist Vorstellungen in einem Bewußtsein vereinigen. […] Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist das Urteil. Also ist Denken so viel, als Urteilen, oder Vorstellungen auf Urteile überhaupt beziehen« (Prolegomena, IV, 304 / § 22). Und Kant schreibt an derselben Stelle weiter: »Urteile, sofern sie bloß an die Bedingung der Vereinigung gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein betrachtet werden, sind Regeln. Diese Regeln, sofern sie die Vereinigung als notwendig vorstellen, sind Regel a priori« (ebd).

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Talent als »Exzess« der Urteilskraft

auseinander zu setzen, und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regel subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will« (KrV, III, 131 (A 132 f./B 171 f.)).

Kant artikuliert hier die Problematik des zu bestimmenden Mechanismus der Regelanwendung, wobei er zeigt, dass der menschliche Regelgebrauch in Erkenntnis- und Beurteilungsstrukturen notwendig unterdeterminiert ist. Er ist dies, weil die Urteilskraft als Vermögen »unter Regeln [zu] subsumieren« (KrV, III, 131 (A 133/B172)) mit jeweils völlig neuartigen Lebenssituationen konfrontiert ist. Keine Lebenssituation zum Zeitpunkt t1 ist evidentermaßen identisch zum Zeitpunkt t2 und so auch für alle Fälle in den folgenden Zeitpunkten tn. Gegenüber diesen je neuen Lebenssituationen hat die Urteilskraft nie ein Regelrepertoire – quasi die Zukunft ihrer Anwendungsmöglichkeiten vorwegnehmend – anlegen können. Sie ist endliches Vermögen endlicher Menschen und so jeweils einem Regelregress überantwortet. Wittgensteins Aporetik der Regelbegründung und Regelfolge wird hier vorweg genommen. 132 Kants Definition der Urteilskraft täuscht also nur, von Kant selbst beabsichtigt, scheinbar eine klare Begründung der Urteilskraft in eine fest-bestimmbare Referenzbestimmung von Allgemeinem und Singulärem vor. 133 132 Diese Beziehung ist in der Sekundärliteratur des Öfteren thematisiert worden. Vgl. Jonathan Lear, Open Minded, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1999, 252–275. Aus dem Grund des Regelregresses enthält auch die »allgemeine Logik«, wie Kant schreibt, keine »Vorschriften« für die Urteilskraft. Jonathan Lear: »When Kant argued that even basic laws of logic or arithmetic could ultimately not be understood independently of the activities of a judging mind, that insight was not supposed to undermine the laws. Rather, a transcendental consideration which revealed these laws to depend on a subjective contribution of mind was intended to provide insight into why, from an empirical perspective, these laws were genuinely objective and necessary« (Lear, Open Minded, 254). Besonders Markus Gabriel arbeitet die Beziehung von Kant und Wittgenstein heraus (vgl. Markus Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie: Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg / München: Alber Verlag 2008, 240–278). 133 Zur Problematik der Urteilskraft bei Kant vgl. auch Henry E. Allison, »Schematism and Judgment in General«, in: ders., Kant’s Transcendental Idealism, 204–231. Béatrice Longuenesse differenziert in einer Auseinandersetzung mit Allison die Un-

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Dieser Umstand der Endlichkeit eines möglichen Regelrepertoires zur Urteilsbildung betrifft auch die moralische Handlung und den darin von Kant verankerten kategorischen Imperativ. Denn wenn Kant versucht, mit dem kategorischen Imperativ dem Menschen ein Testmedium der Regelanwendung (die Regel einer Maxime) in Bezug auf eine – sein ethisches Handeln herausfordernde – Lebenssituation zu geben, so ist ihm klar, dass auch hier die Problematik bzw. Paradoxie der Regelfolge weiterhin präsent ist. Bevor z. B. eine ethische Handlungsmaxime überhaupt getestet werden kann, braucht es die durch die Urteilskraft vorgebrachte grundlegende Beurteilung einer Lebenssituation, die erst einmal darüber entscheidet, ob der Einzelne sich in einer ethisch schwierig zu beurteilenden Situation befindet oder nicht. Wenn meine Urteilskraft zu der Beurteilung kommt, dass es für mich unmöglich sei, einem im Meer Ertrinkenden zu Hilfe zu kommen, wird sie nicht die unangenehme Frage stellen, ob in diesem Falle das Helfen dem moralischen Willen ein absolutes Gesetz sei oder nicht. 134 Urteilskraft hat dann im Falle des Ertrinkenden bestimmt, dass eine ethische Handlung keine Option des moralischen Willens ist. Aber hat nicht vielleicht doch der Mangel einer klaren Beurteilungsregel die Distanz vom Ufer zum Ertrinkenden falsch ausgelegt? Die Problematik der Regelfolge und Regelanwendung zeigt, wie gesagt, dass die Urteilskraft selbst ein letztlich immer unzulängliches Regelrepertoire zur Subsumption der einzelnen Lebenssituation unter ein Allgemeines mitbringt. 135 Sie erscheint so sinnbildlich gesprochen wie ein sehr weitmaschiges Netzwerk, dem nur sehr begrenzt möglich ist, einem je situativ neuen Lebensfluss, den sie wie ein Sieb zu ordnen versucht, gerecht zu werden. Das hat auch Auswirkungen auf das ethische Handeln. Denn Urteilskraft braucht es nicht nur zur Beurteilung einer Situation, die ein ethisches Handeln erfordern mag, auch bei der Findung der richtigen Handlungsterscheidung zwischen Urteilsvermögen und Urteilskraft in Kant and the Human Standpoint, Cambridge: Cambridge University Press 2009, 17–38. 134 Erst die richtige Beurteilung der Situation erlaubt es dem Einzelnen verschiedene Maximen mit Hilfe des kategorischen Imperativs zu testen. Urteilskraft ist daher sowohl zur Beurteilung der scheinbar eine ethische Handlung erfordernden Lebenssituation notwendig, wie auch zur Auswahl der zu testenden Maximen. 135 Wäre dies übrigens nicht so, gäbe es den Bereich des Politischen nicht. Es gäbe nämlich kein politisches Gemeinwesen mehr, keine verschiedenen Parteien in der Auslegung der Frage, wie die Gesellschaft zu ordnen und zu strukturieren sei. Alle vernunftbegabten Wesen kämen permanent zu den gleichen Beurteilungen. Individuation gäbe es nicht.

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Talent als »Exzess« der Urteilskraft

maxime, die dann im kategorischen Imperativ getestet wird, ist sie nötig. Und Kant weiß dies selbst, weshalb die Urteilskraft gerade in der Kraft ihr zentrales Dezisionsmoment beinhaltet. Wittgenstein seinerseits liefert ein Argument dafür, inwiefern mit dem kategorischen Imperativ die Problematik der ethischen Handlung ein »ad hoc« Moment braucht, wie er für unsere ethisch exzessive Handlungstat am Beispiel der Gesinnungsrevolution hervorgehoben wurde. Dieser »ad hoc«-Moment kann von der Urteilskraft selbst nicht als eine Regel instanziierend klar und absolut vorgegeben werden. (Er ist so unableitbar wie die Gesinnungsrevolution selbst.) Diesen Moment muss die Urteilskraft sozusagen ex nihilo setzen. 136 Durch die Setzung schafft die Urteilskraft Parameter ihrer eigenen Anwendung. Gerade darin liegt die Freiheit – das große Thema des Idealismus – des zur Urteilskraft berufenen und des mit Urteilskraft ausgestatteten Menschen. Urteilskraft darf daher nicht auf eine unbezwingbare Stabilität von Regelfolge und Regelanwendung reduziert werden. Die Freiheit des Subjekts in der Urteilskraft besteht eben darin, das Allgemeine nicht nur »abzubilden«, sondern es zu setzen, zu instanziieren – und zwar als Kollabierung der Differenz von Allgemeinem und Partikulärem. 137 Kant sagt dies unmittelbar in dem oben erwähnten Zitat. Besonders der letzte Satz des Zitats ist 136 Man könnte die Handlungstat exzessiver Subjektivität auch als ein ›Noumenon im negativen Sinne‹, bzw. »nur vo[m] negative[n] Gebrauche« her auslegen, so wie Kant das »transzendentale Objekt x« auslegt. Auch die Handlungstat ist nicht »willkürlich erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne doch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können« (KrV, III, 212 (B 310/A255)). So wie das »transzendentale Objekt« für Kant dasjenige ist, was in unseren Vorstellungen vorgestellt wird, ohne dass es dabei jemals als eine bestimmte Vorstellung erscheint, so ist die Handlungstat exzessiver Subjektivität, das, was als ethisch-moralisch normatives Gesetz vorgestellt wird, ohne dass es dabei (jetzt schon) als legal-moralisches Gesetz repräsentiert werden kann. (Dies ist nur als Analogie zu verstehen.) Während wir beim transzendentalen Objekt nie wissen können, was es ist, so können wir bei der Handlungstat exzessiver Subjektivität je im Moment, in dem sie sich ereignet, noch nicht wissen, von welchem Ort her sie gewesen sein wird. 137 Joseph Heath schreibt, ebenso auf eine innere Verbindung von Kants Transzendentalphilosophie mit der pragmatischen Philosophie des späten Wittgenstein hinweisend: »[J]udgment is an act of self-constitution. It is this idea that steers Kant’s fundamentally pragmatist insight in the direction that would lead to German idealism. […] Judgment is an act of will, while perception is a form of representation. The world emerges at the intersection of the two: hence the falsity of both empiricism and rationalism« (Joseph Heath, Following the Rules: Practical Reason and Deontic Constraint, Oxford: Oxford University Press 2008, 118).

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

aufschlussreich, in dem Kant die Konsequenzen der Regelproblematik zieht. Er definiert dort Urteilskraft als »besonderes Talent«, welches gar nicht durch eine Regelfolge belehrt werden kann, aufgrund des Paradoxes einer nicht zu totalisierenden Menge aller möglichen Anwendungsfälle unter eine Regel. 138 Dieses Talent braucht die Urteilskraft, um selbst als eigenwillige Verschränkung von je unterbestimmter Regelanwendung und »ad hoc«-artiger und überdeterminierter Regel-Instanziierung in einer konkreten, nicht verallgemeinerbaren Lebenssituation hervorzutreten. Kants Rede vom Talent deutet hier also nach unserer Lektüre an, inwiefern er die Problematik der Regelanwendung selbst auf einen enigmatischen Signifikanten (Talent) auslagert, der die Paradoxie mit Hilfe einer überzähligen Größe – nämlich der des Talents – lösen soll. Das Problem der Rede vom Talent ist jedoch, dass dieser ganz unspezifische Terminus (der indirekt an den der Ästhetik zugehörigen Begriff des Genius erinnert) in die Menge aller vernunftbegabten Wesen hinein eine nicht zu spezifizierende Differenz eröffnet. Wenn Urteilskraft scheinbar mehr an »Talent« gebunden ist im Gegensatz zu verallgemeinerbaren Strukturen der Vernunft, die alle vernunftbegabten Wesen (ohne dass sie gleich schon talentiert sein müssten) haben, dann ist nicht klar, wie Kant überhaupt die Urteilskraft zu einer universellen und daher auch die ethische Beurteilung prägenden Verstandeskraft machen kann. Wird die Universalität der menschlichen Vernunftkraft nicht indirekt relativiert, indem ein Teil der Menschheit mit Talent, ein anderer Teil der Menschheit nicht mit Talent ausgestattet wird? Hier von Relativierung zu sprechen, verkennt den zentralen Punkt der Problematik. Wir möchten die These vertreten, dass Kant absichtlich im Konzept des Talents einen Exzess (eine Mehr-Form) artikuliert, der die Urteilskraft eben nicht als eine universal zu verallgemeinernde Größe zurücklässt, die alle Menschen 138 Kant sagt zwar, Talent will nicht belehrt, sondern »geübt« sein, aber was er hier genau mit »geübt« meint und welche Lösung das Üben im Verhältnis von Regelrepertoire und Regelanwendung impliziert, bleibt unterbestimmt. Die Rede von »Talent« begegnet uns auch in der Anthropologie in den §§ 57–59. Kant kombiniert dort die Talentthematik mit der herausragenden Einbildungskraft des Künstlers: »Das eigentliche Feld für das Genie ist das der Einbildungskraft: weil diese schöpferisch ist und weniger als andere Vermögen unter dem Zwange der Regeln steht, dadurch aber der Originalität desto fähiger ist« (Anthro., VII, 225). Siehe dazu auch Rudolf A. Makkreel, »The Life of the Imagination«, in: ders., Imagination and Interpretation in Kant: The Hermeneutical Import of the Critique of Judgment, Chicago: University of Chicago Press 1990, 88–110.

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Talent als »Exzess« der Urteilskraft

unter ein universelles Vermögen vereint. 139 Vielmehr muss man mit Kants Analyse diese als die Kraft denken, die das Allgemeine und Besondere »setzt«, ad hoc in eine Verbindung bringt, wo das Allgemeine und Besondere sich nicht regelkonform etablieren. Und man könnte sagen, dass die Talentkraft umso größer ist, je unerwarteter und genialer diese Verbindungsgeste der Setzung eines Partikulären auf der Höhe des Allgemeinen ausfallen mag. Die Urteilskraft muss den Anwendungsfall, wo Allgemeines und Partikuläres zusammenfallen, wie gesagt, setzen. 140 Und darin artikuliert sich für sie eine Freiheit, für die sie – ähnlich wie der »subjektive Grund« der Gesinnung in Kants Konzeption – paradoxerweise nie (ganz) verantwortlich ist – (wer talentiert ist, ist dies ja gerade nicht durch sich) und für die er dennoch sich verantwortlich zeichnen muss. Man könnte daher sagen, dass das, was Kant als Talent konzeptualisiert, weniger das ist, was wir als die fruchtbare Anwendung einer allgemeinen Regel auf einen speziellen Fall ansehen. Vielmehr ist es als fruchtbare Instanziierung des Allgemeinen auf der Ebene des Partikulären – und so als Setzung – zu verstehen. Dann käme die Urteilskraft beispielsweise im Feld der Wissenschaft der Philosophie dem wahrhaft talentierten Philosophen zu, der die Lösung eines Problems unmittelbar erfasst und der gerade dadurch die Grenzen des Altbekannten (die alten Regelanwendungen) seiner Zunft wie einen gordischen Knoten durch139 Auch Kants Rede von einem Üben der Urteilskraft hilft uns hier nicht sehr viel weiter, da die Übung ihrerseits wiederum einen objektiven Maßstab bräuchte, von dem her die Übung ihre eigenen Fortschritte misst und den zu etablieren nach Kant wohl auch wiederum Talent beanspruchte. 140 Selbst die reflektierende Urteilskraft aus Kants Kritik der Urteilskraft, die umgekehrt die Regel sucht, die ein Anwendungsfall instanziiert, die das Allgemeine findet, löst das Problem nicht. Sie löst das Problem in dem Sinne nicht, da sie – wie Markus Gabriel treffend sagt – eben das Allgemeine »nicht erfindet« (Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie, 272). »Auch in seiner reflektierenden Urteilskraft geht Kant nämlich von der Vorstellung aus, es gäbe das Allgemeine, so daß die Variabilität ausschließlich auf der Seite der Anwendungsfälle verortet wird, die unter einen Begriff gebracht werden müssen« (ebd., 272). Markus Gabriel schreibt weiter: »Unser kategoriales Equipment verändert sich Kant zufolge nicht, da es a priori ist. Wittgenstein dreht die Erklärungsrichtung demgegenüber um, indem er die Explikation von Regeln als cura posterior des Regelfolgens selbst begreift« (ebd.). »Alle Anwendungsfälle einer Regel werden von der Regel demnach wie das Besondere vom Allgemeinen impliziert, wodurch sie allererst zu Anwendungsfällen werden. Jede Erkenntnis setzt nun voraus, daß etwas als Fall einer Regel erfaßt werden kann, weshalb Denken für Kant Urteilen, d. h. die Verbindung von Einzelnem (Subjekt) und Allgemeinem (Prädikat) ist« (ebd., 266).

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

schlägt. 141 So wäre dann auch der »talentierte« Naturwissenschaftler derjenige, der im Sinne der Analysen von Thomas Kuhn und Michal Friedman zu revolutionären Brüchen in epistemischen Denkmodellen der Naturwissenschaften beigetragen hat, 142 indem er die etablierten Denkmodelle quer zu ihren Annahmen durch etwas scheinbar Neues ersetzte. 143 Kann man dann nicht dieselben Konsequenzen für den ethisch Handelnden ziehen? Und würde das nicht eine ›Unmäßigkeit‹ implizieren als Sprengung der Anwendungssituation durch ein »talentiert« entdecktes, scheinbar ereignishaft Neues, das das Subjekt in

141 Kant thematisiert das Verhältnis von Regelanwendung, Regelgründung und die Verhältnisbestimmungen von »Talent«, »Genius« und künstlerischer wie auch wissenschaftlicher Urteilskraft in zahlreichen Kontexten seines Werkes. Für einen Überblick dazu siehe: Piero Giordanetti, »Das Verhältnis von Genie, Künstler und Wissenschaftler in der kantischen Philosophie«, in: Kant-Studien, Bd. 86., Nr. 4 (1995), 406– 430. 142 Vgl. Thomas Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University of Chicago Press 1970; ders., The Road since Structure: Philosophical Essays 1970– 1993, Chicago: University of Chicago Press 2002; Michael Friedman, Dynamics of Reason, Stanford: Stanford University Press 2001. 143 Lacan bringt übrigens für einen solchen Kurzschluss der Urteilskraft im Sprung eines genialen bzw. talentierten »ad hoc« ein schönes Beispiel für den Wissenschaftsdiskurs in seinem II. Seminar in Bezug auf Platons Dialog Menon. Platon veranschaulicht dort mit Lacans Worten, »wie sich der Diskurs der Wissenschaft konstituiert«. Wenn Sokrates den Sklaven Menon auffordert, die Fläche eines in den Sand gemalten Quadrats zu verdoppeln und dieser »ganz einwandfrei von dem Gebrauch macht, was uns beim Intelligenztest als Grundlage dient – er geht vor mittels des Äquivalenzverhältnisses A/B und C/D, mit dem die Intelligenz andauernd vorgeht«, so beweist ihm Sokrates, der Herr, der Talentierte, das Genie, derjenige, der die Urteilskraft über ihre vom Intelligenztest abgesteckten Grenzen bringt, dass die Lösung an anderer Stelle liegt, nämlich in der Quadratwurzel der Äquivalenzverhältnisse (vgl. Jacques Lacan, Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Berlin / Weinheim: Quadriga 1980, 28). Dort heißt es: »Sehen Sie nicht, dass es da einen Sprung gibt«? Und er behauptet: »Es ist ganz offensichtlich, daß diesen Beweis […] der Herr vollzieht. […] Der Sklave mit all seiner Wiedererinnerung und seiner intelligenten Intuition, sieht die gute Form, wenn man das sagen kann, von dem Moment an, da man sie ihm bezeichnet« (ebd., 28). Jean Hyppolite zieht nach Lacans Anmerkungen schließlich daraus die auch für unsere Frage einer retrospektiven Normativität der exzessethischen Handlung entscheidende Schlussfolgerung (und vor dem Hintergrund dieser Frage haben wir ja die ganze Analyse von Regelbegründung, Regelfolge und Urteilskraft entfaltet): »›Sie [Lacan] zeigen also, dass bei Platon jede Erfahrung, wenn sie erst einmal gemacht ist, sich als eine erweist, die ihre eigene Vergangenheit erzeugt, sich als ewig Entdeckte erweist‹« (ebd., 29). Und Lacan erwidert darauf: »Von dem Moment an, wo ein Teil der symbolischen Welt auftaucht, erzeugt er in der Tat seine eigene Vergangenheit« (ebd.).

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Talent als »Exzess« der Urteilskraft

inkommensurabler Subjektivität »setzt« und sich dabei dem Wagnis aussetzt, von den ›Untalentierten‹ für diese Setzung zu spät (wenn überhaupt) gewürdigt zu werden? So legen wir hier zumindest die Rede vom Talent für unser Theorem exzessiver Subjektivität aus. Dann wäre der wahrhaft ethische Mensch (ähnlich wie der Künstler bzw. das mit künstlerischer Spontaneität ausgestattete Genie gemäß Kants ästhetischen Ausführungen) derjenige, der die Herausforderung einer ethischen Situation auch ohne eine klare Regelanwendung erfasst und im »ad hoc« einer Setzung durch nicht ableitbare Spontaneität die Grenzen überholter Regelanwendungsfälle durchschlägt. 144 Man könnte für dieses Talent also nicht nur, wie Kant es tut, in der Wissenschaft und in der Kunst Beispiele anführen, sondern auch im Bereich des Ethischen. 145 Das moralische Talent besteht nicht darin, dem moralischen Gesetz zu gehorchen. (Das muss der Untalentierte auch.) Das Talent besteht darin, die Lebenssituation richtig zu interpretieren, um anschließend daraus die entsprechende Handlungsmaxime abzuleiten.

144 Das entspricht, wie gesagt, dem Genie. Die Regelhaftigkeit, mit der das Genie seinen Eingebungen folgt, ist nicht dem gleichzuordnen, was ursprünglich die Aufgabe einer Regel ausdrückt: Maßstab zu sein. Das Genie bedient sich keiner Regel eines Vorgängers. Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft schreibt, weiß selbst das Genie nicht, »wie sich in ihm die Ideen dazu [d. h. die Ideen zu seinem künstlerischen Schaffen, D. F.] herbeifinden«. Ebensowenig hat der Künstler es »in seiner Gewalt […], dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken« (KU, V, 308 (B182)). Genie muss immer wieder neu aktuell werden, da es sonst selbstwidersprüchlich zur Regel würde. Jedes neue Werk braucht Genie wieder von Neuem. Auch der geniale Künstler verbürgt nicht für immer Genie. William Desmond erkennt zurecht in Kant auch ein Zurückschrecken gegenüber dem Geniebegriff. Der Grund liegt im Exzess des Genies selbst. Vgl. William Desmond, »Kant and the Terror of Genius: Between Enlightenment and Romanticism«, in: Herman Parret (Hg.), Kants Ästhetik. Kant’s Aesthetics. L’ésthétique de Kant, Berlin / New York: De Gruyter 1998, 594– 614. 145 Bei Kant vermisst man exemplarische Fälle, wo moralische Handlungen die Hoheitsbereiche von »innerer« und »äußerer« Freiheit zum Einbruch bringen. Hegel wird sich wiederholt gerade diesen Fällen widmen, d. h. Fällen, die die Verhältnisbestimmung des Moralischen zum Bereich des öffentlich Rechtlichen als instabil erscheinen lassen. Da für Kant der Bereich des Öffentlichen als Bedingung der Möglichkeit des Politischen prima facie nicht durch Moral erschüttert werden darf, entschärft er diesen Konflikt bzw. entdeckt ihn noch nicht einmal.

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Kant und der »inferentielle« Kantianismus: McDowell und Brandom Um tiefer auf paradoxale Verwindungen von Kants Ethik und ihrer Herleitung einer gespaltenen Subjektivität und deren Struktur ethischer Überzähligkeit einzugehen, wollen wir im Folgenden diese mit zwei kantischen Ethiken der Gegenwart, nämlich die von John McDowell und Robert Brandom, in ein Wechselverhältnis kontrastiver Abgleichung bringen. Die gerade erörterten Thematiken von Gesinnung, Überzähligkeit, Exzess, Revolution, Talent und Nachträglichkeit tauchen dabei in neuen Zusammenhängen wieder auf. Wir wollen so zeigen, dass die im Kant’schen Subjekt aufweisbare Kluft – wie sie in den oben erwähnten Begriffen thematisiert wird – zwar einen scheinbar marginalen Theorieaspekt seiner Ethik betrifft und dennoch für unsere Herleitung einer Ethik exzessiver Subjektivität wichtige Konsequenzen provoziert. Ebenso wollen wir zeigen, inwiefern das kantische gespaltene Subjekt nicht unproblematisch zu kombinieren ist mit einem in der Gegenwart philosophischer Debatten weitverbreiteten Vernunftbegriff des pragmatischen und Wittgenstein’schen Inferentialismus wie ihn die beiden Vertreter der Pittsburgh School vorbringen. Wenn der von Kant in seinen frühen und späten kritischen Schriften verwendete Begriff der Gesinnungsrevolution überhaupt Sinn macht, dann nur, weil er ausdrückt, dass Reform und Revolution strukturnotwendig eine Spannung prägt und das ethische Subjekt aus dieser in einer retrospektiven Nachträglichkeit (als ethisches) heraustritt. Das von Kant immer wieder evozierte noumenale Moment ist hier nicht als Garant von Freiheit und Vernunft zu verstehen im Sinne eines klassisch humanistischen (vorkantischen) Verständnisses von Selbstidentität, sondern nur unter dem Begriff der Nicht-Koinzidenz zu theoretisieren. John McDowell und Robert Brandom sehen in Kant einen Begründer des moralphilosophischen linguistic turn und binden in einer Kombination der späten Philosophie Ludwig Wittgensteins mit dem deutschen Idealismus die Frage ethischer Normativität an die Sprach- und Handlungsbefähigung des Menschen in einem mit anderen immer schon geteilten Vernunftraum zurück. 146 Kurz gesagt gibt es für sie 146 Im Folgenden entfalten wir eine Gegenüberstellung von Kant und zeitgenössischen Kantianern, die Alenka Zupančič in ihrem Buch Ethics of the Real und Henrik

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Kant und der »inferentielle« Kantianismus: McDowell und Brandom

eine gegenseitige Verwiesenheit zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bei Kant. Der Geltungsbegriff moralischer Werturteile steht für Brandoms und McDowells Kant-Interpretation in Analogie mit dem transzendental erkenntnistheoretischen Begriff von Wahrheitsurteilen von Propositionen. Kants Kategorienlehre habe als prädikative Urteilstheorie die rechtskräftige Struktur von Bedeutung in der propositionalen Erkenntnisstruktur von Urteilen erkannt und die Untrennbarkeit von Rezeptivität und Spontaneität offengelegt. Brandom versucht von dieser Grundeinsicht aus, Kants uneinheitlichen Vernunftbegriff, den schon Karl Leonhard Reinhold beklagt hatte, zu überwinden. Dabei versucht er, diesen in einen praxeologischen Vernunftbegriff einer Funktionalontologie umzuwandeln. 147 Kant sei dort hinter sich zurückgeblieben, wo er mit seiner Rede vom »Ding an sich« an einem von Wilfrid Sellars dekonstruierten »myth of the given« festhalte, der sich angeblich in einem Jenseits konzeptuellen Verstehens ansiedeln lässt. Brandoms sozial-vermittelte und Normen-geprägte Gebrauchstheorie ist als Inferentialismus bekannt geworden. Der Gebrauch des Wortes inferentiell und die Verwendung des Begriffs Inferentialität verweisen auf das Eingebundensein von Begriffen in nicht nur semantische, sondern auch normative Felder, die dazu führen, dass in der Erkenntnis, dass z. B. Pittsburgh westlich von Philadelphia liegt, gleichzeitig normativ impliziert ist, dass Philadelphia östlich von Pittsburgh liegt. 148 Nur wahrhafte Sprecher wissen unthematisch Joker Bjerre in seinem Buch Kantian Deeds eingeleitet haben und die hier in der Frage unserer Analyse einer über Kant hinausgehenden Theorie exzessiver Subjektivität weiter im Kontext der Philosophie Kants vertieft werden soll. 147 Zur Frage, inwiefern Wahrheitstheorien etwas mit der Wahrheit moralischer Urteile zu tun haben, gibt es stark divergierende Positionen. Habermas schreibt: »Die Analogie zum Wahrheitsanspruch besteht in der Forderung rationaler Akzeptabilität […]. Der Geltungsbegriff der moralischen Richtigkeit hat (allerdings) die ontologische Konnotation des rechtfertigungstranszendenten Wahrheitsbegriffs verloren« (Jürgen Habermas, »Werte und Normen. Ein Kommentar zu Hilary Putnams Kantischem Pragmatismus«, in: Klaus Günther / Lutz Wingert (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 280–305, hier: 291). Dieselbe Position wird von McDowell vertreten. Für ihn wird die Wahrheitsfähigkeit von Werturteilen mit der rationalen Empfänglichkeit für Gründe gerechtfertigt. 148 Vgl. Robert Brandom, Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 291. Siehe ebenso: Robert Bran-

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

um normative Bedeutungsgehalte von Begriffen, da sie sofort in einem Rechtfertigungsbereich indirekter »Kontoführung« des Gebens und Nehmens von Gründen stehen. 149 Ein Papagei mag beim Vorhalten eines Bildes »Hegel« ausrufen. Aber die Lautäußerung des Papageis ist eine Reiz-Reaktion-Koppelung, während der Sprachund Vernunftbegabte sofort mit »Hegel« auch ›inferentielle‹ Verknüpfungen zu anderen Begriffen wie »Mensch«, »männlich«, »sterblich«, »Autor der Phänomenologie des Geistes« etc. herstellen kann. 150 In Opposition zur klassisch repräsentationalistischen bzw. zur analytischen truth-value- und truth-condition-Theorie entfaltet Brandom das, was er eine rein inferentialistische Logik sprachlich expressiver und pragmatischer Bedeutung nennt. Eine nichtrepräsentationalistische Intentionalität des Denkens und moralischen Urteilens ist das Anliegen dieser Theorie. Brandom verehrt nun Kant dafür, dass dieser in der Urteilsfunktion die für Brandoms eigene Philosophie wichtige »Grundeinheit des Bewusstseins oder der Erkenntnis« 151 entdeckt hatte. Ein zentraler Fehler Kants bestehe darin, trotz dieser Erkenntnis die Kategorien menschlicher Denkvollzüge im Sinne ewig gültiger »intellektueller« Strukturen interpretiert zu haben. 152 Im Sinne des linguistic turn und der Diskurspragmatik macht Brandom im Verweis auf Kant die für die Sprache implizit normativen Strukturen geltend. Sie ergeben sich durch ihren implizit inferentiellen – d. h. durch normative Verweisungsbezüge geprägten – Charakter begrifflicher Zusammenhänge. Brandom möchte die inferentiellen logischen Strukturen der Sprache nicht als formal/formalistisch, sondern als »material-pragmatisch« dom, Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Berlin: Suhrkamp 2004, 16 ff. 149 Die deutsche Übersetzung von »Kontoführung« für »scorekeeping« ist irreführend, da sie den mit dem englischen Wort verknüpften Verweis auf ein Spiel nicht angibt. »Spielstand« wäre besser. 150 Brandom schreibt: »Das Handeln beruht auf verlässlich unterschiedenen Reaktions-Dispositionen zur Anerkennung bestimmter Festlegungen (dem Übernehmen deontischer Einstellungen und der entsprechenden Änderung des Kontostandes), indem verschiedene Sachverhalte herbeigeführt werden. Ein kompetenter Akteur reagiert unter geeigneten Umständen auf das Eingehen der Festlegung, den Lichtschalter zu betätigen, mit dem Betätigen des Lichtschalters« (Brandom, Expressive Vernunft, 346). 151 Brandom, Expressive Vernunft, 516. 152 Vgl. Brandom, »Semantik ohne Wahrheit«, hier: 461 (ebenso in: Brandom, Expressive Vernunft, 147–150).

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begründen. »Die materialen Richtigkeiten des Folgerns«, wie z. B. dass Hamburg westlich von Berlin liegt und damit Berlin östlich von Hamburg, »gehen den formalen explanatorisch voraus«. 153 Brandom spricht von Festlegungen (commitments) und Berechtigungen (entitlements) als »diskursiven« Praktiken. Ihnen ist ein begrifflicher Gehalt zuzuschreiben in deontischer Kontoführung. 154 Die Verlautbarung einer Aussage ist eine Performanz, die eine Festlegung auf sie impliziert. Brandom spricht von »doxastischen Festlegungen«. 155 Sie verweisen auf eine soziale Verortung in der Diskurspraxis, wodurch er den Begriff der Überzeugung mit seiner Konnotation von Innerlichkeit und innerpsychischer Repräsentation überwinden möchte. 156 Von Umständen überzeugt sein und Urteile aller Art fällen, heißt einzutreten in das Spiel der Kontoführungen im Geben und Nehmen von Gründen, wobei die Überzeugung, so Brandoms (postmoderne?) These, vielmehr an diesem Äußeren hängt. 157 Entscheidend für den Pragmatismus ist das Verständnis, inwiefern die Wirklichkeit und die theoretisch-begriffliche Beschreibung derselben als durch Konventionen bedingte Mittel ausgelegt werden Brandom, Expressive Vernunft, 542. Brandoms Ziel in Expressive Vernunft ist das im Wissen-wie implizierte Wissendas »explizit« zu machen. Dabei geht er von einem Repräsentationsmodell der Erkenntnis hin zum Verständigungsmodell der Erkenntnis. Sprecher müssen sich dabei im Sinne der Diskursethik immer schon als verantwortliche Subjekte andere anerkannt haben. Die »Kontoführung« ist nicht epochenabhängig. Brandom würde in einem gewissen Sinne behaupten, dass auch schon im Mittelalter das inferentielle Normativitätsverständnis (z. B. des Folterverbots) zumindest potenziell vorgelegen habe. Für Brandom gibt es daher keine scharfen Brüche in der Entwicklung höherwertiger Normativitätsstrukturen. Die Praxis des Folterns verweist auf einen dem Mittelalter zuzuschreibenden mangelhaften Status expressiver Vernunft. Das widerspricht der Überzeugung, die wir bei Hegel aufweisen werden, dass es Aspektwahrnehmungen exzessiver Subjektivität gibt, die nicht in ein Verständnis expressiver Vernunft paradoxfrei integriert werden können. Doch dazu später mehr. Brandom löst das starke Motiv von Kontingenz bei Hegel auf in einen sich über die verschiedenen Episteme von Selbsterkenntnismomenten des Geistes erstreckenden Vernunftraum, in dem letztlich nicht mehr zwischen dem radikalen Umbruch von Knospe und Blüte – wie Hegel in seinem berühmten Beispiel aus der Vorrede der Phänomenologie nahelegt – zu unterscheiden ist. 155 Brandom, Expressive Vernunft, 240–242. 156 Martin Jandl weist darauf hin, dass Brandom Sellars darin zustimmen würde, dass es neben den doxastischen Festlegungen auch »innere Episoden« geben mag, nur für das Verstehen von begrifflichem Gehalt sind diese nicht entscheidend (vgl. Martin J. Jandl, Praxeologische Funktionalontologie, Frankfurt/M.: Peter Lang 2010, 198). 157 Vgl. Brandom, Begründen und Begreifen, 215. 153 154

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und weniger – im Sinne Gottlob Freges – als gegebene Widerspiegelungen der unveränderlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit. Bedeutung erweist sich als ausgelagert durch eine Metastruktur, die die Sprache selbst verbürgt. Die Frege’sche ontologische These, nach der es streng genommen die Allgemeinheit eines Begriffes gibt, die in unseren einzelnen Sprachakten angewendet und instanziiert wird, wird nur im Sinne einer immer schon inferentialistisch zu bestimmenden Allgemeinheit des Begriffs akzeptiert. Die Welt so zu verstehen, als bestehe sie aus Entitäten wie Objekte mit Eigenschaften und Relationen zwischen ihnen, die unabhängig von unserem Wissen über sie existieren, verkenne die Einbindung von Wahrheitswerten in eine Metastruktur (space of reason), die die Wahrheitswerte selbst bedingt. Was für die an Kant orientierte Praxeologie existiert, sind Sprachspiele verschiedener Normativitätsstrukturen, die sich durch Praktiken und Sprachgemeinschaften rechtfertigen. Das führt zu einer Opposition zwischen einer objektivistischen Konzeption der Bestimmtheit von Gehalten im Sinne Freges auf der einen Seite und auf der anderen zu einer Position, die behauptet, dass es keine objektiven Grenzen in der Bestimmung eines Gehalts des Begriffes gibt. Daher findet auch Brandom Korrespondenztheorien der Wahrheit unbefriedigend. 158 Brandom sieht in Kant denjenigen, der einen Bezug von der theoretischen zur praktischen Philosophie in der Sprache gesehen hat. Denn »was durch normative Begriffe explizit gemacht wird, ist bereits implizit in der Idee des Handelns enthalten. Wenn das stimmt, dann sind dies reine Begriffe. Es sind Begriffe, deren implizites Verständnis Voraussetzung dafür ist, überhaupt über explizite Begriffe zu verfügen. Dieser Gedanke gehört zu demjenigen Teil von Kants Theorie, der Sellars am wichtigsten war.« 159

Folglich sieht Brandom seine Philosophie immer schon als moralphilosophisch, weil er – ähnlich wie McDowell – glaubt, inferentiell je schon die für Kant noch durch (falsch verstandene) Abgründe getrennten Bereiche von theoretischer und praktischer Philosophie mit einer Funktionalontologie zu überspannen. Während sich die Krite-

158 Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, 472. Siehe ebenso: Brandom, Begründen und Begreifen, 16 ff. 159 Brandom, »Semantik ohne Wahrheit«, 451.

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rien objektiv gültiger Erkenntnisurteile für Kant wesentlich von den Kriterien objektiv gültiger Handlungsgrundsätze oder von Geschmacksurteilen unterscheiden, so legt Brandom die bei Kant begrifflichen Abgründe zwischen Erkennen, Handeln, und ästhetischer Wahrnehmung von einem Praxis-Primat gegenüber einem BegriffsPrimat heraus. 160 Brandoms Philosophie ist ein für unsere Fragestellung wichtiger Bezugspunkt im Kontext einer zu analysierenden normativen Beurteilung exzessiver Subjektivität, da wir diese im Rekurs auf Kant (und später auf Hegel) gerade nicht inferentiell als ableitbar verstehen. Kants transzendentalphilosophischer Ansatz spezialisiert sich auf die Herausarbeitung der dem Verstand und der Vernunft inhärierenden normativen Urteilsstrukturmomente als Bedingung der Möglichkeit von objektiven Erkenntnisstrukturen. Dagegen spezifiziert Brandom seinen Blickpunkt in Abgrenzung zu den inhärierenden Verstandund Vernunftmomenten und wendet sich den inneren normativen Strukturen menschlicher Kommunikation zu. Die »Infrastruktur der Alltagskommunikation« ist, wie Habermas treffend sagt, Brandoms Untersuchungsobjekt. Brandom schreibt: »Rationality consists in both being subject to (assessment according to) conceptual norms and being sensitive to them – being both bound by, and able to feel the force of, the better reason«. 161 Brandoms Kant-Interpretation kann man durch Kants Kategorienlehre der Kritik der reinen Vernunft wie auch durch Kommentare Kants zur Sprache in der Metaphysik-Vorlesung nach Mrongovius wie auch in den Nachschriften seiner Vorlesungen zur Metaphysik 160 Brandom betrachtet Kants praktische und theoretische Philosophie unter dem einheitlichen Aspekt der sprachpragmatischen Normativität. Kant ist für ihn unmittelbarer Gewährsmann, wenn er schreibt: »Vernünftig sein wird hier [bei Kant] allgemein verstanden als fähig sein […] an einer spezifisch sprachlichen sozialen Praxis« (Brandom, Expressive Vernunft, 339) teilzunehmen. Habermas’ Kritik an Brandom: »Brandom mißversteht sich gewissermaßen selbst, weil er einen überinklusiven Begriff von Normativität verwendet und Rationalitätsnormen im weiteren Sinne – logische, begriffliche, semantische ebenso wie pragmatische Regeln – an Handlungsnormen angleicht. […] Die Affektion durch Gründe ist aber etwas anderes als eine Verpflichtung durch Normen. Während Handlungsnormen den Willen von Akteuren binden, lenken Rationalitätsnormen ihren Geist« (Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, 148). 161 Robert Brandom, Tales of the Mighty Dead. Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2002, 12.

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nach Pölitz zur Sprache nachvollziehen. 162 Die Frage bleibt jedoch, ob sich aus Kants Kommentaren zum Sprachgebrauch eine transzendentale Logik abstrahieren lässt. 163 Diese erkenntnistheoretische Frage betrifft auch unsere Ausgangsfrage, die wesentlich praktischer Natur ist.

Die erzwungene Wahl moralischer Verpflichtung Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Erkennen von Phänomenen in intersubjektiv objektivierbaren Strukturen mit Hilfe der transzendentalen Deduktion der reinen Kategorien entfaltet, so hebt er mit den entsprechenden Konsequenzen für seine praktische Philosophie die Sprache als das zentrale Medium in seiner Urteilstheorie hervor. Sprache ist Medium von Erkenntnis der zu objektivierenden Welt der Erscheinungen, wie sie auch Trainingsmedium in der Erziehung und der Pädagogik des Menschen ist. In der Metaphysik Vorlesung Mrongovius (WS 1782/83) 164 macht er ebenso, wie erwähnt, die Fähigkeit des Sprechens als Bedingung moralischen, vernunftgeleiteten Handelns aus. Trotzdem ist hier noch nicht ganz ersicht-

162 Hier schreibt Kant: »Unsere gemeine Sprache enthält schon alles das, was die transzendentale Philosophie mit Mühe heraus zieht. Diese Kategorien sind schon alle bei uns enthalten, denn ohne sie wäre keine Erfahrung möglich« (Kant, Allgemeine Metaphysik (Mrongovius Mitschrift), XXIX, 804, zitiert nach Pollok, Begründen und Rechtfertigen. Eine Untersuchung zum Verhältnis zwischen rationalen Erfordernissen und prävalenten Handlungsgründen, Berlin / New York: De Gruyter 2009, 110). 163 Konstantin Pollok unterstreicht, dass Kants transzendentale Logik nicht konstatiert, wie der Mensch Begriffe bildet, urteilt und schließt. Begriffe folgen der transzendentalen Logik und bilden Logik nicht nach Sprachpraktiken aus, wie Brandoms Pragmatismus behauptet. Pollok: »[…] das heißt quantitatives, qualitatives, relationales und modales Begreifen [ist] von gegenständlichen Vorstellungen […] durch Normen der Vernunft bestimmt« (Konstantin Pollok, Begründen und Rechtfertigen, 111). 164 Kant: »[Z.] B.: Es ist Schnee gefallen. Hierin liegt, daß Schnee ist, Substanz; gefallen, bedeutet ein Akzidens, auf die Erde, bedeutet einen Einfluß, das ist actio, gehört also zur causa. Heute bezieht sich auf die Zeit, gefallen auf den Raum« (Kant, Allgemeine Metaphysik (Mrongovius Mitschrift), XXIX, 804, zitiert nach Pollok, Begründen und Rechtfertigen, 110). In den Nachschriften der Vorlesungen zur Metaphysik (nach Pölitz) bezeichnet Kant eine Analyse der Kategorien als »transcendentale Grammatik«, »die den Grund der menschlichen Sprache enthält«, z. B. wie das praesens, perfectum, plusquamperfectum in unserem Verstande liegt, was adverbia sind u. s. w.« (Kant, Allgemeine Metaphysik, XXVIII, 576–577, zitiert nach Pollok, Begründen und Rechtfertigen, 110).

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lich, nach welchem Kriterium entschieden wird, wann wir genau einem sprachbegabten Wesen moralische Urteilskraft zusprechen. Wann beurteilen wir beispielsweise Handlungen von Kindern, die der Sprache mächtig sind, eines Tages mit Moralitätskriterien, wie wir es gegenüber Erwachsenen tun? 165 Volljährigkeit ist bis zu einem bestimmten Grad ein pragmatisches Instrument des Gesetzgebers. Sie markiert aber nur einen aus der Notwendigkeit hergeleiteten arbiträren Zeitmoment an einer nicht zu bestimmenden Schwelle zwischen vor-moralischer und moralischer Zurechnungsfähigkeit. Wie kann der Umschlag bestimmt werden, wenn er zwar mit Spracherwerb und sprachlicher Kompetenz zusammenhängt, aber Sprachkompetenz nur eine hinreichende Bedingung ist? Ein Fünfzehnjähriger mag gut sprechen und dennoch gilt er beispielsweise nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch noch nicht als vollständig moralisch zurechnungsfähig. Im Mutmaßliche[n] Anfang der Menschengeschichte umgeht Kant diese Frage, wenn er die Sprachfähigkeit als Bedingung der moralischen Beurteilung des Menschen schon voraussetzt, ohne zu untersuchen, wann genau Sprachbefähigung Kriterium moralischen Bewusstseins sein kann. Kant schreibt: »Der erste Mensch konnte also stehen und gehen; er konnte sprechen (1. Buch Mose Kap. II, v. 20), ja reden, d. i. nach zusammenhängenden Begriffen sprechen, mithin denken. Lauter Geschicklichkeiten, die er alle selbst erwerben mußte […]; mit denen ich ihn aber jetzt schon als versehen annehme, um bloß der Entwicklung des Sittlichen in seinem Thun und 165 Kant liefert auf diese Frage auch in seiner Pädagogik-Schrift keine klare Antwort. Die Problematik begegnet uns ebenso, wenn auch in anderer Gestalt, in seiner Religionsschrift, und zwar in Kants Kirchen-Genealogie von der »sichtbaren« Kirche, die auf historisch kontingenten Statuten ruht, hin zur »unsichtbaren« Kirche eines ethischen Gemeinwillens. Wenn der Vernunftglaube jedem mit Vernunft ausgestatteten Menschen so zugängig ist,wie das Moralgesetz, dann stellt sich die Frage, welche Rolle die sichtbare Kirche, die notwendig zum Pfaffentum tendiert, überhaupt spielt. Wie kann »Pfaffentum« einerseits dazu tendieren, seine Autorität zu übersteigen (Beispiel Ketzerrichter) und gleichzeitig durch ihre Verordnungen als öffentliche Instanz ein ethisches Gemeinwesen prägen? Kirche wird die Funktion einer Repräsentation der unsichtbaren Kirche zuteil. Aber wie genau ihre Rolle konfliktfrei in der Genealogie von ritueller Pfaffenreligion zur ethisch-moralischen Vernunftreligion definiert werden kann, bleibt bei Kant so spannungsreich, dass der Kirchenglaube ganz in Gefahr ist, verloren zu gehen, oder aber immer schon verloren gegangen ist. Vgl. zu dieser Problematik Ronald M. Green, »Kant and Kierkegaard on the Need for a Historical Faith: an Imaginary Dialogue«, in: Chris L. Firestone / Stephen R. Palmquist (Hg.), Kant and the New Philosophy of Religion, Bloomington: Indiana University Press 2006, 157–178.

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Lassen, welches jene Geschicklichkeit nothwendig voraussetzt, in Betrachtung zu ziehen.« 166

Robert Brandom verweist in diesem Zusammenhang auf einen retrospektiven Umschlag, wenn er schreibt, dass ein durch Sprachbefähigung moralisch zu verantwortendes Handeln sich in dem Moment zeigt, wenn man »genug richtige Züge« betätigt habe, wobei »wieviel genug ist, […] ganz offen ist«. 167 Dieser Umschlag vollzieht sich allmählich und doch ist er sozusagen eines Tages da. Brandom markiert diesen Umschlag mit der Gegenüberstellung der Begriffe »salient« und »sapient«. Ein trainierter Papagei mag verschiedene responsive Fähigkeiten haben (= salient), aber das heißt nicht, dass er auch das Vermögen einer konzeptuellen Klassifizierung der Äußerungen (= sapient) hat, die er von sich gibt wie ein sprachbegabtes Wesen. 168 Wie Brandom sagt, impliziert der Satz »Das ist rot.«, ein semantisches Differenzgeflecht, in dem der Satz andere klassifikatorische Propositionen beinhaltet wie »Das ist eine Farbe.«, oder sich absetzt von einer Proposition wie »Das ist grün.« 169 Der Papagei, der »Das ist rot.«, antwortet, reagiert zwar auf einen Stimulus, aber dieser ist nicht Teil eines durch inferentialistisch-diskursive Wertigkeiten geprägten semantischen Feldes. Worauf Brandom in dieser Abgrenzung der Begriffe hinweist, ist der Umstand, dass ein Kind genau in dem Moment moralisch handelt, wenn es erkennt, dass es eigentlich immer schon in ein normatives Feld hineingeworfen ist, das wesentlich seine eigenen Identitätskriterien mitbestimmt hat. Daher ist das plötzliche Entdecken, dass man die »richtigen Züge« macht und das plötzliche Entdecken, dass ich gegenüber meinen Eltern eventuell unartig, unmoralisch war oder meinem Alter nicht mehr entsprechend gehandelt habe, als ich Vater den Stuhl wegzog, vergleichbar mit dem, was Slavoj Žižek im Rekurs auf Lacan als Appell eines durch das Unbewusste vermittelten Über-Ichs und im Rekurs auf Louis Althusser als »ideologische Anrufung« interpretiert. 170 Dieser MechaKant, Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, VIII, 110 f. Brandom, Expressive Vernunft, 881. 168 Siehe beispielsweise Robert Brandom, Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2009, 117 ff. 169 Brandom, Expressive Vernunft, 152. 170 Vgl. Žižek, The Sublime Object of Ideology, 2–3, 121–124. Siehe auch Judith Butler, »Zur Psyche der Macht«, in: Thomas Khurana / Christoph Menke (Hg.), Paradoxien der Autonomie. Freiheit und Gesetz I, Köln: August Verlag Berlin 2011, 113– 148, besonders: 118 ff. 166 167

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nismus der Auslagerung des Selbst durch das Eindringenlassen einer Normativität in die Intentionalitäts-abgewandte Seite des Bewusstseins, ist keine sklavische Unterwerfung, die uns zu etwas zwingt, das gegen unseren Willen geschieht. In der Anrufung erfährt sich bei Brandom ähnlich wie bei Althusser das Subjekt als Interpellationsziel, setzt aber gleichursprünglich die Instanz, von der es glaubt, dass diese der legitime Interpellationsursprung (seiner eigenen Moralität) ist. Anrufung markiert hier einen Kipppunkt, an dem Unterwerfung, Identitätsbildung und das Setzen einer inferentialistischen Anerkennungs- und Interpellationsinstanz zusammenfallen. 171 Plötzlich erfährt das Kind im »Appell« einer (ideologisch selbst auferlegten normativen) Anrufung sich erstmals aktiv in seiner erzwungenen Selbstwahl. 172 Der normative Außenbereich ist ihm zum Innenbereich geworden. Man könnte diesen Kipppunkt als einen wesentlich zum Paradox der Autonomie gehörigen interpretieren. Gerade das über Rousseau vermittelte Problem vom Paradox der Autonomie wird von Kant und Hegel gleichermaßen thematisiert und verweist auf das Eingewoben-Sein des Subjekts in eine lebensweltliche Semantik, die als Außenbedingung des Daseins immer schon in seiner Innenwelt mitmischt. Das inferentielle Geflecht praktizierter Lebensnormen lässt »Evidenzen« wahrnehmen. Und eine solche Evidenz mag, wie Brandom uns nahelegt, in einer moralischen Handlung auftreten. Plötzlich erkenne das Kind: »Ich hätte Vater den Stuhl nicht wegziehen dürfen.« Aber es macht diese Erfahrung in seiner Moralitätsgenese notwendig zu spät. Es entdeckt seine Befähigung zur moralischen Pflicht erst aus der retrospektiven Entdeckung ihres Verpasst-worden-Seins. Wenn das Kind dieses Verpassen in dem Sinne interpretierte, dass es – bevor es seinem Vater den Stuhl wegzieht – die Konsequenz zöge, aufgrund seines Alters noch nicht moralisch verantwortlich zu sein, käme es in eine paradoxe Selbstbeziehung. Denn diese Reflexion bewiese, mehr zu wissen als das Kind dann praktisch umsetzte. Erst wenn sich das Kind restlos für das DenStuhl-Wegziehen verantwortlich fühlt als etwas, das es tatsächlich nicht hätte tun dürfen (und nicht nur als etwas, für das es bestraft 171 Althusser beschreibt das als »Spiel einer doppelten Konstituierung« (Louis Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate. Anmerkungen für eine Untersuchung«, in: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staatstheorie, hrsg. von Peter Schöttler, Hamburg / Berlin: VSA Verlag 1977, 140). 172 Siehe auch die erhellenden Beispiele, die Bjerre vorstellt, Kantian Deeds, 42 ff.

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wird, weil die anderen keinen Spaß verstehen), ist es moralisch verantwortlich. John McDowell entwickelt seine Philosophie in einem ähnlichen von Wilfrid Sellars ausgehenden Zusammenhang und entfaltet den von Hegel verwendeten Begriff von der »zweiten Natur« des Menschen. Diese äußert sich ebenso in der schon bei Brandom thematisierten Fähigkeit des Fragens-nach und des Gebens-von Gründen. 173 Wenn wir eines Tages feststellen, dass ein Kind unser Argumentieren versteht, darauf eingehen und ihm, wenn auch nicht mit absolutem Zuspruch, aber doch sowohl fakten- wie werte-bezogen folgen kann, beurteilen wir in dieser Fähigkeit seine Handlungen unter zu rechtfertigenden und d. h. auch unter moralischen Kriterien. Im selben Moment, wo wir keine Herablassung unsererseits auf die Kindesperspektive mehr wahrnehmen und evtl. selbst von Argumenten des Kindes uns hinterfragen lassen, ertappen wir uns fernerhin dabei, dass wir das Kind nicht mehr nur als Schüler unseres kognitiven Selbstverhältnisses- und Werttrainings ansehen, sondern als gleichwertigen Gesprächsteilnehmer. Der Heranwachsende wird seinen eigenen Erziehungsprozess nicht als einen von einer vor-moralischen Stufe hin zu einer moralischen Stufe der Selbstbeurteilung ansehen. 174 Das würde die kognitive Beurteilungsfähigkeit immer schon voraussetzen. Vielmehr wird er eines Tages eine Differenz im Selbstverhältnis wahrnehmen, wenn er z. B., wie oben erwähnt, einen Vorwurf, den man ihm macht, nicht mehr nur resignativ hinnimmt, sondern ihn in Form eines retrospektiv erkannten Fehlverhaltens als berechtigt erfährt. Schuld signalisiert hierbei, dass ich auch anders hätte handeln können, selbst wenn diese Schuld als zu späte Einsicht die Momente vor dem Schuldigwerden selbst auf die Schuld hin nachträglich strukturiert. Hier begegnen wir erneut der Spannung, wie wir sie oben im Theorie-Kontext der kantischen Gesinnungsrevolution erörtert haben. Wir entdecken eine Struktur der Nachträglichkeit, in der das Subjekt sich selbst im Moralischen entschwindet. In Bezug auf Brandom (und wie wir später noch in Bezug auf Lacan sehen werden) könnte man sagen: ein Kind erfährt sich als

173 Menschen »sind auf verständliche Weise durch die ethische Erziehung in diese Dimension des Raums der Gründe eingeführt worden. Die sich ergebenden Gewohnheiten des Denkens und Handelns sind dann die zweite Natur« (McDowell, Geist und Welt, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 109). 174 Vgl. McDowell über Erziehung: Geist und Welt, 104 ff.

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moralisch in seinem Selbstverhältnis, wenn es im »Appell« einer ideologisch auferlegten, erzwungenen Wahl der bestehenden Wertigkeiten plötzlich sein eigenes Selbstverhältnis im Wechselverhältnis zu z. B. seinen Eltern erfährt. Das mag der Moment sein, wo das Kind die Worte »Du solltest Dich schämen« nicht mehr gelangweilt überhört, sondern sich nun wirklich schämt. Mit Niklas Luhmanns systemfunktionaler Moraltheorie könnte man sagen: Das Kind hat die »Erwartung von Erwartungen« gelernt und das betrifft eben auch sein moralisches Verhalten. Luhmann vertritt ein an der Moralistik ausgerichtetes, funktionales Moralverständnis, das in einem gewissen Sinne analog zu Brandom ist. Was es leistet, ist, dass »Erwartungen erwartet« werden können und so Kontingenzreduktionen, Stabilisierung von Gleichgewicht im System und Vertrauensbildung generiert werden. 175 Wie wir am Beispiel der Befähigung, die richtigen »Spielzüge« zu machen, gesehen haben, tritt das moralische Subjekt nicht in den Bereich normativer Wertigkeiten, sondern in ihm erfährt es sich rückwirkend entborgen. Schuld ist in diesem Moment der emotive Zustand einer erzwungenen und gleichzeitig selbstauferlegten Wahl. Sprachbegabt zu sein heißt für ein Individuum, bedingte Verpflichtungen in einer von Slavoj Žižek genannten »forced choice« 176 aufgenommen zu haben und bestimmte Performanzen zu vollziehen oder zu unterlassen, wobei diese gemäß der Philosophie Brandoms auf dem erwähnten Punktekonto eingetragen erscheinen. Im intersubjektiven Austausch von Praktiken und Behauptungen schreiben Teilnehmer den jeweils anderen (unthematisch) »commitments« zu. Dieses Konto wird je individuell und doch auch transindividuell im Sinne einer regulativen Idee geführt als Möglichkeit einer Abgleichung eines performanzbezogenen Verpflichtungsgehalts für den Sprachteilnehmer. »Jemand geht eine Festlegung ein, indem er etwas tut, und dadurch ist es angebracht, ihm die Festlegung zuzuweisen«. 177 So registrieren Diskurs- und Praxisteilnehmer gegenseitig Luhmann lehnt die Vorstellung einer Metaethik und eine jede Begründungstheorie der Moral ab. Luhmanns Moralbegriff steht so jeder gesinnungsethischen Konzeption entgegen. Vgl. Niklas Luhmann, »Ethik als Reflexionstheorie der Moral«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 358–447. 176 Slavoj Žižek, The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology, London / New York: Verso 2000, 19. 177 Brandom, Expressive Vernunft, 247. In diesen Strukturen gegenseitiger Fest175

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den normativen Status ihres Austausches und verhalten sich ihrerseits wieder zu dem jeweiligen Punktestand, der ihnen nach ihrer Meinung zugesprochen wird und den sie anderen zusprechen. Gerade deshalb sind wir aber auch an die Unterscheidung »zwischen Festlegung und ihrer Zuweisung, zwischen dem Richtigen und dem für richtig Gehaltenen, zwischen objektivem Gehalt und dessen subjektiver Auffassung« 178 gebunden. Das gegenseitige Punkteführen definiert Brandom als fundamentale Struktur sozialer Praktiken, die schon normativ sein können, bevor sie »explizit« gemacht wurden. 179 Diese Matrix transindividueller Abgleichungsmodi von »Punkten« steht dem Einzelnen nicht, zumindest nicht für Brandom (für uns schon), wie ein fremder Überbau gegenüber. Die Matrix hat als Gedächtnis des Sozialen und der Gattung mit universalistischem Geltungscharakter immer schon ihre Spuren in der Einsichtsfähigkeit selbst (nicht erst in der konkreten Einsicht) des Menschen hinterlassen. Hierauf beruht ja letztlich das Paradox der Autonomie. Teilnehmer im Sprachspiel sein heißt für Brandom, immer schon in einem performanzbezogenen Bezugsgeschehen stehen, bei dem eine institutionelle Dimension immer mit von der Partie ist. Das Brandom’sche »scorekeeping« gleicht dabei einer kantischen Idee, die als virtuelle und denknotwendige zugleich die transzendentale Strukturnotwendigkeit der Sprache als denjenigen Bereich des »großen Anderen« (Lacan) betrifft, der im konkreten, mir gegenüberstehenden anderen dessen realpräsentistische Instanz hat. Alle Sprachteilnehmer sind diesem »großen Anderen«, der als virtuelle Instanz des Sozialvertrags das Konto führt, als Bedingung der Möglichkeit von Wahrheits- und legungen verändern sich die Status der Betreffenden. »Die Einstellung desjenigen, um dessen deontischen Status (Anerkennen oder Eingehen einer Festlegung) es geht, ist zu verstehen mit Blick auf die Einstellungen der anderen gegenüber diesem deontischen Status (Zuweisen einer Festlegung). Um die normative Signifikanz der Performanz als Eingehen einer Festlegung klar zu verstehen, muss also nur analysiert werden, was es bedeutet, jemanden als auf die Performanz festgelegt zu betrachten oder zu behandeln« (Brandom, Expressive Vernunft, 247). 178 Brandom, Expressive Vernunft, 833. 179 »Dieses symmetrische Paar von Perspektiventypen, die des Zuweisers und die der Zielperson, von denen beide jeweils diese grundlegende normative Unterscheidung treffen, ist die grundlegende soziale Struktur, in deren Begriffen Gemeinschaften und gemeinschaftliche Praxis zu verstehen sind. Diese symmetrische soziale Unterscheidung im Ich-du-Sinne wird von der im Ich-wir-Sinne vorausgesetzt, auf die sich die andere Auffassung der Intersubjektivität stützt« (Brandom, Expressive Vernunft, 833 f.).

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Sollensansprüchen (aber auch zur Etablierung des eigenen Selbsterkennens) notwendig untertan. Normen ergeben sich aus Anerkennungsstrukturen der Gegenseitigkeit in einer geteilten Kultur. 180 Diese Zuschreibungen können sogar so weit gehen, dass andere uns Behauptungen (assertions) zuschreiben, von denen wir bisher noch gar nicht wussten, dass wir selbst die eigentlichen Garanten und Autoritäten bestimmter Behauptungen sind oder sein müssten. Für Brandom hat dabei seine Praxeologie das utopische Ziel, die inferentiell-normativen Gehalte von Diskursen und Praktiken immer expliziter werden zu lassen. 181 Die diskursive Praxis ist immer auch Teil einer Totalität von Handlungen, für die wir ebenso eine Rückführung von Gründen einfordern können. In der Vielzahl unserer geteilten Praktiken nehmen wir unthematisch die Autorität von »assertions« als gegeben an, voraussetzend, dass sich dahinter die Option verbirgt, sie, wenn nötig, »more explicit« werden zu lassen. Man kann sich dabei kein Gemeinwesen vorstellen, wo jede Sitte, Praktik oder Handlung sich von der Autorität der in ihr enthaltenen, normativen und sozialpragmatischen und inferentiellen Begründungskette erst herleiten müsste. Das Gemeinwesen käme, wie Wittgenstein in seiner Theorie der Lebensform aufweist, gar nicht erst zustande, weil jede Begründungskette von »assertions« unbegründbar ist, wenn sie selbst wiederum nicht auf bestimmten »Gewissheiten« der Lebensform bzw. Sittlichkeit (Hegel) aufliegt. Erst die »unthematische Gewissheit« der etablierten Sitte ermöglicht als geteilte Virtualität die Normativität von Praktiken. 182 Die Heftigkeit von öffentlichen Empörungen, die manchmal in Bezug auf Institutionen oder Einzelpersonen (z. B. Politiker) erst mit 180 »Normen (im Sinne normativer Status) sind keine Gegenstände in der Kausalordnung. […] Kausal wirksam ist, dass wir uns und einander praktisch als in Besitz von Festlegungen (als Festlegungen anerkennend und zuweisend) betrachten und behandeln« (Brandom, Expressive Vernunft, 867). 181 Kommunikation scheint hier auf einen regulativen Bereich idealer, immer »expliziter« gemachter Kommunikation hin orientiert, in dem es keine »nicht explizit« zu machenden semantischen Reste mehr geben möge. 182 Die Rede von »Virtualität«, die im Lacan-Kapitel noch prominenter wird, soll darauf hinweisen, dass man im alltagssprachlichen Umgang davon ausgeht, die empfangenen oder ausgeteilten »assertions« jeder Zeit im Detail einfordern zu können. Würde man dies aber wirklich tun, dann wäre die Praktikabilität der Kommunikation permanent überfordert. So scheint Sprache auch gerade erst zu funktionieren, wenn zahlreiche Behauptungen im Kommunikationsgeschehen nicht »explizit« gemacht werden.

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kleinen Krisen beginnen und dann nicht selten größer werden, zeigt, wie schnell die virtuellen Annahmen in den Praktiken eines anderen (sei es eine Institution oder eine Einzelperson) plötzlich mit starker Skepsis beobachtet werden können, wenn dieser andere erst einmal gemäß dem Punktestand weit zurückgefallen ist. Plötzlich entdeckt man so im detaillierten, über die virtuellen Momente des gesamten inferentiellen Bereiches hinweg gehenden genauen Blick, dass ein Politiker vielleicht nicht nur zu viele Nebeneinkünfte hat, sondern jetzt, wo das allgemeine Interesse ihn mit dem Punktekonto im Rücken im Blick hat, auch noch seine Frau betrügt. Das untermalt, inwiefern der Bereich des Gebens und Nehmens von Gründen immer auch stark von virtuellen Gesten und verdrängten Antagonismen geprägt ist und Behauptungen und Zuschreibungen nie absolut und abschließend explizit gemacht werden können. Slavoj Žižek und Robert Pfaller weisen in diesem Zusammenhang sehr erhellend auf den von uns in Bezug zu Lacan im letzten Kapitel dieser Arbeit erörterten Umstand der Paranoia im öffentlichen Raum hin, wo die Illusionen der anderen als »Illusionen ohne Subjekt« 183 einerseits die Stabilität des öffentlichen Raumes erwirken, dann aber jeder Zeit auch einer Empörungsästhetik Raum machen können, wenn einzelne Virtualitäten (z. B. die einer angeblichen Perfektion öffentlicher Personen oder der eines Finanz- oder Rechtsystems) als solche nun wirklich als überdurchschnittlich ›virtuell‹-abgehoben enttarnt wurden. Sobald wir Sprache beherrschende Wesen sind, steht der Mensch als existierend in einer anderen, immer auch symbolisch-virtuellen Welt. Er ist in einem fundamentalen Sinne »ex-tim« durch das Eingebundensein in einen (immer auch) überdeterminierten Normativitätsrahmen, bei dem die scharfe Grenze zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen durchlässig wird. In dem Moment, wo der Mensch in seiner Erziehung Vollbürger des Bereiches der zweiten Natur ist, durchzieht diese zweite Natur sein ganzes Wesen, ob er will oder nicht. Nur medizinische Bestätigungen seiner mangelnden Zurechnungsfähigkeit befreien ihn vom Zugriff der Normativität eines Zuschreibers.

183 Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 11.

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Kants Kritik am Inferentialismus

Kants Kritik am Inferentialismus Wenn wir bisher so ausführlich auf die beiden Philosophen Brandom und McDowell und ihren durch Kant inspirierten Pragmatismus eingegangen sind, so deshalb, weil sie sich Kant besonders dort verpflichtet sehen, wo sie die Rechtfertigung moralischer Prinzipien als transzendental-pragmatische herausarbeiten. Dabei geraten sie in der Auslagerung moralischer Prinzipien und deren praxeologischer Begründung zum Teil in Konflikt mit Kants Motiv der Selbstgesetzgebung, wie es besonders Kants Grundlegung und die zweite Kritik betrifft. Brandom und McDowell stehen ihrerseits für die jüngere amerikanische Kantforschung eines »neuen Kant«, 184 dessen Position werttheoretisch neu ausgelegt wird. 185 Eingestanden, dass diese Interpretationen in Kants Werk ihre Nachweise finden, lässt eine werttheoretisch-inferentialistische Ethik und ihre motivationsspezifische Auslegung jedoch das Moment von Kants Moralphilosophie außer Acht, das für unser Argument zentral ist. Kant sieht zwar sowohl die notwendige Verbindung von Sprachbefähigung als Bedingung der Möglichkeit der Vernunftfähigkeit des Menschen als auch die notwendige motivationale Einbindung von Personen in eine den Menschen immer je schon bestimmende Sittlichkeit der Lebensformen, dennoch ist es zweifelhaft, ob er wirklich Logik, Kategorien und die uns hier interessierende Moral – das Ethische im Gegensatz zur Ethik – an eine sprachpragmatische Fundamentalontologie oder an eine Moralistik bzw. Systembeobachtung zweiter Ordnung (Luhmann) rückbindet, wie dies Brandom und, was den erwähnten Luhmann betrifft, z. B. Caroline Sommerfeld-Lethen nahelegen. 186 Brandoms und McDowells Kantianismus lässt die Frage offen, ob das von uns in der Einleitung zu diesem Kapitel schon kurz angerissene Moment des Unbedingten, das für den Kant der Grundlegung und der 184 Vgl. Robert B. Pippin, »Rigorism and ›the new Kant‹«, in: Volker Gerhardt / RolfPeter Horstmann / Ralph Schumacher (Hg.) Kant und die Berliner Aufklärung: Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin / New York: De Gruyter 2001, 313–326. 185 Ebenso Felicitas Munzel, Kant’s Conception of Moral Character, Chicago: University of Chicago Press 1999; Allen Wood, Kant’s Ethical Thought, Cambridge: Cambridge University Press 1999. 186 Vgl. Caroline Sommerfeld-Lethen: Wie moralisch werden? Kants moralische Ethik, Freiburg / München: Karl Alber 2005.

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Kritik der praktischen Vernunft von zentraler Bedeutung für sein ethisches Subjekt ist, hier noch vertreten werden kann. Während bei Brandom ein Konflikt mit dem Punktekonto normativer Abgleichungsprozesse als eine gesetzwidrige Handlung beschrieben werden kann, fällt auf, dass im Gegensatz dazu für Kant das »Gesetzwidrige nur eine Kategorie des Legalen« 187 ist, wie Alenka Zupančič nahelegt. Wie Kant auch schon in seiner Rede von der Gesinnungsrevolution offenbart, ist das moralische Gesetz in seiner Reinform immer ein Ausdruck der Maßlosigkeit. Handeln aus Pflicht ist im Gegensatz zu pflichtmäßigem Handeln nicht strikt genommen ein Handeln nach dem Punktekonto. Die Gesinnungsrevolution wird sich als causa sui von den Effekten der Tat nachträglich erkannt haben. Sie kann im Moment ihrer Performanz gerade keine (absolute) Rechenschaft, sondern nur eine, mit Alain Badiou gesagt, singuläre Überzähligkeit beweisen. Badiou spricht auch von einer »unifying scission«, die präsentiert, aber nicht repräsentiert wird. 188 Eine sittliche Handlung ist als vereinende Spaltung »singulär« in dem Sinn, dass sie ein Element ist, das zur Situation gehört, ohne jedoch in ihr repräsentiert zu werden. Man könnte sagen: Die ethische Geste ist eine Handlungstat, die das Punktekonto als Ebene des Universalen mit Tatsachen des Individuums auf der Ebene des Partikulären konfrontiert und nicht umgekehrt das Individuum auf Festlegungen in einer erzwungenen Wahl wie etwa auf die Punkteführungen der anderen festlegt. Kants große Leistung seiner ethischen Grundlagenschriften (GMS, KpV) war schließlich, die Hierarchie zwischen dem Begriff des Guten (= Punktekonto nach Brandom) und dem moralischen Gesetz so umzukehren, dass der Begriff des Guten auf der Ebene des ethischen Gesetzes definiert und nicht (vormalig) das moralische Gesetz von der Materialität gelebter Vorstellungen des Guten her entfaltet wird. Selbst wenn, wie Kant weiß, das Eingebundensein in zeitbedingte Lebenskontexte in der Wahl der Maxime immer eine Rolle spielt, da der Mensch aus einer konkreten Lebenswelt seine Maximen entfaltet, versucht er dennoch jede Form einer pragmatischen Reduktion des Ethischen zu verhindern. Diese in den Grundlagenschriften vertretene radikale Priorität des Ethischen vor dem Begriff eines lebenspraktisch verankerten Guten ist auch dann noch hervorzuheben, Zupančič, Das Reale einer Illusion, 25. Vgl. Alain Badiou, Theory of the Subject, London / New York: Continuum 2009, 197. 187 188

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wenn Kant diese nach zahlreichen Einsprüchen von Zeitgenossen in späteren Schriften (z. B. in der Tugendlehre) abzuschwächen versucht. Es bringt ihn in vielkommentierte neue Probleme der Kohärenz seines Systems. Für seine frühen, kritischen Schriften gibt es vormalig das moralische Gut. Kein anderes Gut hat hier konkret Platz im Ethischen. Der ethisch Handelnde kann sich gerade nicht einfach durch seine Glückseligkeit oder die seines Nächsten entlasten. Er kann sich aber auch nicht, worauf Zupančič hinweist, wie Adolf Eichmann hinter seiner Pflicht verstecken im Sinne des Urteils: Ich habe »nur« meine Pflicht getan. Zupančič schreibt demzufolge mit Recht: »[D]as Subjekt [ist] für das, was es als seine Pflicht anführt, selbst verantwortlich.« 189 Wer dem moralischen Gesetz zufolge handelt, kann nie sagen: »Es ist nicht meine Schuld«, »Ich konnte nicht anders«, »Das moralische Gesetz befiehlt mir«. 190 Kant fordert außerdem, wie wir im dritten Gesinnungsbegriff herzuleiten versuchten, dass das ethische Subjekt sich immer wieder von neuem für das Sittengesetz entscheiden muss. Das etablierte Punktekonto, von dem her es einen »Austausch« von gegenseitigen Anrechnungen und Aufrechnungen gibt, ist sekundär. Und auch in diesem Sinne können wir uns nicht auf einen Regelkanon im Konstrukt eines Punktekontos zurückbeziehen. Wir würden nicht mehr allein um des Gesetzes willen handeln, sondern nach Konvention. 191 Moralisch wird der Mensch somit nur an einer Schwelle, wo seine Zupančič, Das Reale einer Illusion, 55. Vgl. Zupančič, Das Reale einer Illusion, 55. 191 McDowell sieht im Begriff der aristotelischen Klugheit, die sich auf den Bereich moralischer Urteile bezieht, und im Verweis auf Wittgensteins Theorie der Lebensform, eine Verbindungsbrücke zwischen theoretisch-empirischem und moralischem Wissen (Vgl. McDowell, Geist und Welt, 104, 109). Für Aristoteles ist sittliche Norm eine »Polis-Norm«, die selbst schon Vernünftigkeit ist, wobei Tugend eine zweckhafte Disposition zur guten Handlung ist. Die am Beispiel des Perikles exemplifizierten Besten im Staat erscheinen als Ausgeburten sittlicher Vernunft (Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. und übersetzt von Olof Gigon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1991, Buch VI, 5: 1140a24–1140b19.) Bei Kant scheint aber gerade der Verweis auf den oder die »Besten«, die die Polis-Normen beherrschen, nicht ausreichend, weil er darauf besteht, dass die moralische Handlung – wenn sie nicht nur legal sein soll – nicht erlernt werden kann. Die Pädagogik ist verantwortlich, die Vernunftdisposition des Menschen (Sprach- und Denkfähigkeit) zu entfalten, aber sie kann keine Verantwortung für die Verwirklichung seiner moralischen Unbedingtheit tragen. »Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion […] bewirken« (Anthro., VII, 294). 189 190

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Verantwortung nicht mehr in einer Kausalrelation mit der Normativität seiner auf Reform und Disziplinierung angelegten Erziehung steht. 192 Moralisch-legales Verhalten lässt sich üben, aber moralischethisches kann nur in dezisionistischer Selbstergreifung verwirklicht werden. Daher kann, was paradox klingen mag, eine moralische Handlung (im Sinne der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft) gerade als Übererfüllung dessen, »was man tut« verstanden werden. 193 Sie ist inkommensurabel, eigentlich eine Art genialer Fehlinterpretation, weil nie als Regel zu beherrschen. Die ethische Handlung setzt ihr eigenes Gesetz performativ in der Anwendung, womit es auch dann erst seine Kriterien der Anwendung entäußert. Kants in der Religionsschrift und im zweiten Teil der Kritik der praktischen Vernunft entfaltetes Bild vom unendlichen Progressus verschleiert diesen Aspekt des Bruches, des Paradigmenwechsels im Ethischen. 194 Dem Richter wird, wie wir schon sagten, diese Macht als Verkörperung der Legalität seiner Autorität von den etablierten Instanzen der Rechtsverwaltung innerhalb eines Gemeinwesens zugesprochen. Er bezieht sich auf bestimmte Vorgaben gesetzlicher Traditionen, muss dann jedoch diese Tradition überwinden in der Inkraftsetzung seines Urteilsspruchs. 195 Das einzelne Individuum, das 192 Wenn Kant in der Anthropologie schreibt: »Der Mensch muss also zum Guten erzogen werden« (Anthro., VII, 325), so meint er hier Kultivierung und Zivilisierung, das »Gute« im Sinne von dem Legalen und dem sittlich Etablierten. Kant weist auf das Paradox hin, dass derjenige, der den Menschen erzieht seinerseits noch in der »Rohigkeit der Natur liegt« (ebd.). In der Pädagogik sagt er explizit: Eltern erziehen ihre Kinder in der Regel so, dass sie »in die gegenwärtige Welt [passen], sei sie auch verderbt« (Pädagogik IX, 447). Dagegen stellt er die Aufforderung: »Sie [die Eltern, D. F.] sollten sie also besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde« (ebd.). 193 Vgl. Bjerre, Kantian Deeds, 44. 194 Der Mensch ist darauf angewiesen, auf die wirkliche Möglichkeit des Ethischen gegen eine nie ganz zu überwindende Hermeneutik des Verdachts, dass sie nur Illusion sei, »hoffen [zu] können […], weil er ein guter Mensch werden soll« (Rel., VI, 51). 195 In der Rechtsphilosophie beschreibt Hegel dieses Paradox am Beispiel der Rechtsprechung, von der er sagt, dass das Moment der Zufälligkeit darin »selbst notwendig« sei. Hegel: »Es ist wesentlich eine Seite an den Gesetzen und der Rechtspflege, die eine Zufälligkeit enthält und die darin liegt, daß das Gesetz eine allgemeine Bestimmung ist, die auf den einzelnen Fall angewandt werden soll. Wollte man sich gegen diese Zufälligkeit erklären, so würde man eine Abstraktion aussprechen. Das Quantitative einer Strafe kann z. B. keiner Begriffsbestimmung adäquat gemacht werden,

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nicht diese symbolische Investitur verkörpert, aber doch für sich dieselbe performative Macht in Beschlag nimmt, mag schon leichter in Konfrontation mit Gesetz und öffentlicher Ordnung kommen. Die mit den Üblichkeiten Vertrauten teilen diese Meinung dann deshalb nicht, weil ihnen eventuell der Entschluss fehlte, den die exzessive Subjektivität der Gesinnungsrevolution in einer bestimmten Situation getroffen hat. Das Ethische, das hier dennoch nicht nachgeben möchte, braucht einen Entschluss vor einem kognitiv-neutralen Entscheiden. Es mag dabei an eine Evidenz gebunden sein, die sich erst einstellt, wenn das, was zuerst als extremer Standpunkt erschien, plötzlich vielleicht von vielen geteilt wird und das »einzig Richtige« war. Als die Afroamerikanerin Rosa Louise Parks sich z. B. am 1. Dezember 1955 in Montgomery weigerte, entgegen der etablierten Normativität von durch Praktiken legitimierten Regeln für den öffentlichen Nahverkehr ihren Platz in einem für Weiße reservierten Busabschnitt zu räumen, war noch nicht abschließend entschieden (im Horizont kollektiven »scorekeepings«, mit Brandom gesagt), ob ihre Handlung eine fundamentale Fehldeutung einer Beförderungsbestimmung des öffentlichen Nahverkehrs des Bundesstaates Alabama war oder moralischer Ausdruck von Zivilcourage gegen Segregation. Wer entscheidet über die Oberhoheit der Deutung in dieser Situation, d. h. über den »Punktestand« der virtuellen Kontoführung und nimmt damit bestimmte Konsequenzen in Kauf? 196 Rosa Parks und was auch entschieden wird, ist nach dieser Seite zu immer eine Willkür« (Rph, Bd. 7, § 214Z). 196 Jeffrey Stout erwähnt den Fall Rosa Parks in seinem Buch Democracy and Tradition, 216 ff. und kommt dabei genau auf diese Frage zu sprechen. Er beschreibt auf Burke und Paine verweisend eine »ethical perception« in Bezug auf »non-inferential moral perceptions«. Seine Interpretation entspricht somit sehr derjenigen, die wir hier mit Hilfe von Kant präsentieren. Stout schreibt: »There are also noninferential moves in which a participant in the practice responds to something he or she observes by becoming committed to a perceptual judgment or claim. That a judgment was arrived at noninferentially does not guarantee its truth. Many such judgments turn out to have been mistaken. […] Observation is an indispensable source of knowledge, but a fallible one. Because things are not always what they seem« (Jeffrey Stout, Democracy and Tradition, Princeton: Princeton University Press 2004, 217 f.). Stout unterbewertet leider das Moment der Kontingenz. Wenn er schreibt »things are not always what they seem«, dann weil die Dinge von einer unbestimmten Zukunft rückwirkend überschrieben werden können im modalen Netzwerk ihrer Normativität.

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war nicht ausgestattet mit der symbolischen Investitur einer Richterin, so dass die Inkraftsetzung ihres Urteilsspruchs über denselben Sachverhalt im Spielraum der Rechtsprechung eine kalkulierte Suspension der etablierten Kontoführungen im Bereich der Beförderungsbestimmungen verkörpert hätte. Rosa Parks war nicht eine vergleichbare institutionalisierte Instanz des Universellen, sondern singulärer Repräsentant ihrer Meinung über den Sachverhalt. Diese mag sie mit gleichgesinnten Bürgerrechtlern geteilt haben und sie mag viele Argumente zivilen Ungehorsams für sich in Anspruch genommen und vorgebracht haben. Diese Argumente dann aber wirklich in eine Handlungstat umzuwandeln auf der Ebene der eigenen Performanz einer Entscheidung, die andere Menschen unmittelbar praktisch und nicht nur theoretisch herausfordert, kann als eine Form spontaner Gesinnungsrevolution interpretiert werden. Der Punkt, der uns hier also interessiert, ist der Umstand, dass erst der Durchbruch einer Praxis (z. B. durch Rosa Parks) nachträglich die Amoralität derselben entblößen kann, während viele vor diesem Durchbruch in der Praxis Beteiligten genau die moralische Verfehlung der Praxis nicht sehen konnten, da sie, die Praxis, die etablierte Norm dessen war, was man im allgemeinen Verständnis des etablierten »Kontoführens« als Bürger eben tut. 197 Die Praxis war, mit dem späten Hegel gesagt, »gelebtes Gut« der Sittlichkeit. Wie wir bereits in der Einleitung sagten, verweist Terry Pinkard bei Hegel auf die Bedeutung von Praktiken als Bedingungen von Subjekten, sich durch Handlungszusammenhänge zu autonomisieren. 198 Das Teilsein einer Praxis heißt, wie auch Robert Pippin darstellt, 199 einen bestimmten Status in dieser Praxis zu haben und durch diesen in seiner eigenen Innerlichkeit kognitiv ›formatiert‹ zu sein. Die etablierten Praktiken generieren Beurteilungsvermögen derselben und vice versa. Es kann dabei nicht immer gesagt werden, inwiefern die Subjekte die Praktiken bestimmen, die sie vollziehen, oder ob die Praktiken die Subjekte in ihrem Urteilsvermögen totalitär vorprägen. Der Mensch ist hier nie aus einer – sinnbildlich gesprochen – cartesischen Selbstbezüglichkeit auf die Praktiken im Bereich des Sozialen

197 Vgl. Judith Butlers Anmerkungen zum Fall Rosa Parks in: Excitable Speech: A Politics of the Performative, London / New York: Routledge 1997, 141 ff. 198 Vgl. Pinkard, »Tugend, Moral und Sittlichkeit«. 199 Vgl. Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, 97 ff.

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ausgerichtet. Wenn der »Geist eines Volkes« 200 wahrer Grund unserer sittlichen Pflichten ist, dann führt das dazu, dass der Volksgeist den Individuen nicht nur einen Inbegriff sittlicher Pflichten, sondern auch deren Anwendungskriterien vorgeben kann. 201 Die etablierte Praxis hat als Praxis daher immer schon, mit Lacan gesprochen, den »großen Anderen« auf ihrer Seite, d. h. das semantisch-normative Feld von dem, was »man« so tut. Und das berechtigt nicht selten, es auch zu tun. Lacan interessiert ähnlich wie Heidegger in seiner Rede des »Man« die transzendentale Subjektstruktur eines vorauseilenden Gehorsams, der das virtuelle Moment gegenseitigen Verkennens der Nicht-Begründung dessen, was »man so tut«, verdrängt. Lacan entwickelt einen eigenen Begriff dafür: »le sujet supposé savoir«. 202 Es repräsentiert die Virtualität der Realität als Faktum eines transzendental zu denkenden, sich aufrecht erhaltenden Wirkungsmythos. Dieses sujet supposé savoir ist für Lacan eine Fiktion zur Befriedigung überkomplexer Zusammenhänge. In Situationen, in denen der Einzelne unsicher ist über die Beurteilung einer Normativität, wie im Konflikt um Rosa Parks beispielsweise, kann er sich in der Regel auf die etablierte »Praxis« auch dann verlassen, weil alle sich wiederum auf ihn verlassen. Praxis erscheint so teilweise als pseudo-inferentialistische Irrtumssemantik. Normativität erfährt ihre Geltung durch resignative Hinnahme bei längst abhanden gekommener Bedeutung. Das sujet supposé savoir steht für ein normativ gerechtfertigtes Mitläufertum zur stressreduzierenden kognitiven Bewältigung von Aporien im Verweis auf eine anonyme Masse von Gläubigen. Wenn in Zeiten politischer Krisen genau dieser Glaube ins Schwanken gerät, dann wird offensichtlich, inwiefern die Patina kollektiver Einmütigkeit durch rein kontingente Momente eines permanent ausgelagerten Vertrauens auf andere falsch war. Doch kommen wir zurück zum Fall Rosa Parks: Wenn ein Problem des kategorischen Imperativs für Hegel darin liegt, dass seine Maximen an den Prämissen etablierter Praktiken hängen, dann kann aus der Sicht der weißen Fahrgäste im Bus auch Rosa Parks nicht den kategorischen Imperativ für sich als Begründung ihres provokanten Hegel, Rechtsphilosophie, Bd. 7, § 137. Vgl. Hegel, Geschichte der Philosophie, Bd. 18, 488 f. 202 Jacques Lacan, Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga 1990, 153. 200 201

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Handelns nehmen, weil eine Trennung von Bussitzen ebenso wie eine Trennung von Herren- und Damen-Toiletten noch nicht per se Ausdruck von Rassismus sein muss. 203 Was das Beispiel von Rosa Parks neben der gerade aufgeworfenen Frage nach einer nicht eindeutig verzerrungsfreien Bestimmung des Ethischen im Aspektwechsel auf eine bestimmte Situation offenlegt, ist, inwiefern das Auffinden von empirisch zu verifizierenden Beispielen »exzessiver Subjektivität« eigentlich gar nicht möglich ist. Dies geht nicht, weil exzessive Subjektivität eine Struktur oder besser ein Strukturmoment in bestimmten – sich nicht inferentiell entscheidbaren – Handlungskonstellationen beschreibt. D. h., wenn erfolgreiche Einzelbeispiele exzessiver Subjektivität erwähnt werden, wie es Rosa Parks’ Fall in eindeutiger Weise für die USA der Gegenwart verkörpert, dann interpretieren wir Rosa Parks immer schon von dem Erfolg ihrer Tat her, die uns nun aus der Retrospektive nicht mehr exzessiv, sondern ganz selbstverständlich als normativ begründet erscheint. Ihre Handlungstat ist für die ›Nachgeborenen‹ immer schon auf der Ebene des Allgemeinen, von der aus wir sie rückblickend aus dem Horizont einer mittlerweile anerkannten Bürgerrechtsbewegung interpretieren. 204 203 Alles hängt von der Formulierung der jeweiligen Maxime ab. Eine rassistische Maxime könnte wie folgt getestet werden: Darf ich einem Menschen, weil er schwarzer Hautfarbe ist, einen Sitzplatz verwehren? Nein, denn eine rassistische Behandlung widerspricht einer vernünftigen Gleichbehandlung aller Menschen, die auch ich als Mitglied der Menschengattung fordern muss. Eine andere Maxime könnte aber lauten: Darf ein Vertreter einer Ethnie einen Sitzplatz, der für einen Vertreter einer anderen Ethnie reserviert ist, streitig machen, wo doch jede Ethnie ihre eigenen Sitzplätze hat? Dieser Maxime ist nicht unmittelbar ein Rassismus vorzuwerfen. 204 Dasselbe betrifft exzessive Subjektivität verkörpert im Bereich des Politischen durch Antigone und Sokrates und im Bereich des politisch-Religiösen durch Jesus von Nazareth und Paulus von Tarsus. Wenn diese Provokateure den normativen Durchbruch errungen haben, stehen sie selbst für die Bedingung ihrer normativen Beurteilung durch uns. Das ist eine der zentralen Gedanken von Hegels Philosophie des Geistes. Vgl. Kapitel 4. (Wir schauen strukturell durch ihren Exzess auf sie zurück.) Wenn sie den normativen Durchbruch nur über einen bestimmten Zeitraum errungen haben (Lenin, Rosa Luxemburg), mag man sie nach Epochen gesellschaftlicher Verehrung später retrospektiv wiederum als gefährlich beurteilen. Wenn sie diesen gesellschaftlichen Umbruch im Blick auf ihre retrospektiv als normativ zu bewertenden Handlungstat gar nicht errungen haben, sind und bleiben es in den schlimmsten Fällen Terroristen. Heißt dies, dass jede Form »exzessiver Subjektivität« geheiligt ist? Das heißt es nicht, weil – wie wir besonders im Rekurs auf Hegel sehen werden – notwendig die Zukunft die ethische Handlung in extremen Situationen erst als solche wird entziffert haben können. Was es jedoch heißt, ist, dass es Formen

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Exzessive Subjektivität verweist just auf das Strukturmoment vor dieser Aufnahme ins Allgemeine, d. h. wenn der »scorekeeper« wirklich noch virtuell nicht entschieden hat, auf welcher Seite er steht und wo das höherwertige Punktekonto eigentlich anzusiedeln ist. Auf der Suche nach einem perfekten Beispiel exzessiver Subjektivität müsste man sich auf einen Zeitpunkt zurückversetzen, wo das Allgemeine auf der Ebene des Partikulären noch nicht verwirklicht war und wo noch nicht die retrospektive Aneignung auftrat. Das ist unmöglich und verweist uns nur auf die Unabschließbarkeit des Ethischen als die Frage, die das Subjekt für sich selbst je neu beantworten muss: wann, wo und wie es für (s)eine Welt optiert. Die retrospektive Aneignung, die das Kippmoment verdrängen muss gemäß Vernunftprämissen, die die Kontingenz nicht als vernunftwürdig ansehen dürfen, ›verkleistert‹ jedes Einzelbeispiel bzw. macht es uneindeutig, Teil eines nahezu gespenstischen Graubereiches. Der Wahrheitswert des moralischen Urteils exzessiver Subjektivität bleibt dann in einem gewissen Sinne unentschieden; solange das Subjekt sich innerhalb der Grenzen der herrschenden Doxa bewegt. Oftmals erbaut sich die Nachwelt retrospektiv an diesen Individuen. Die Nachwelt erbaut sich nicht erkennend, wie die historische Verzerrung dieses Urteils durch seine Verankerung in einer genealogischen Metastruktur bedingt ist durch den Ort jetzt und hier in dieser Zeit (im Hegel’schen Begriff auf dessen aktueller Erfahrungsstufe). Das einzusehen würde der Vernunft in ihrem selbstreflexiven Autonomieverständnis einen unbehebbaren Schaden zufügen. Insofern ist hier ein innerer Selbstschutz der Vernunft eingebaut, der die Kontingenz im Begriffs-Verlauf (nach Hegel) abblenden muss. Daher kann auch eine Ethik des Inferentialismus sagen, dass Rosa Parks mit ihrer Handlung nur eine etablierte Normativität noch »expliziter« gemacht hat. Was diese Interpretation jedoch nicht erfasst, ist das Moment des Durchbruchs, den unsere Rede von exzessiver Subjektivität zu umschreiben versucht. Der Umstand, dass zur Explikation der Theorie konkrete Einzelbeispiele nicht in einem wirklichen Sinne zu finden sind, unterstreicht noch einmal, dass es keine »exzessiven Subjekte«, sondern nur »exzessive Subjektivität« gibt. 205 Exzessive exzessiver Subjektivität gibt, die im Auftritt noch nicht eindeutig moralisch beurteilt werden können, weil sie die Gegenwart spalten und zwar durch die Potenzialität einer zukünftigen Normativität, die sich in suspenso erhält. 205 Jegliche Rede vom »exzessiven Subjekt« wie sie z. B. Molly Anne Rothenberg in

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Subjekte können wir als ethisch gerechtfertigte nicht denken, da, egal vor welchem Hintergrund einer ethischen Tradition sie auch stehen mögen, sie uns als verantwortungslos erscheinen müssen. Man müsste sich auf einen Zeitpunkt zurückversetzen, wo das Allgemeine auf der Ebene des Partikulären sich noch nicht verwirklicht hat und wo noch nicht die retrospektive Aneignung uns das Kippmoment als solches verzerrt, aus dem diese Subjekte auftraten. Aber genau das scheint unserer Vernunft in ihrer Begrenzung durch ihre strukturelle Zeitlichkeit unmöglich.

Kants Typus praktischer Urteilskraft und exzessive Subjektivität Nachdem wir die zentralen Differenzen zwischen Kant und bestimmten Traditionen des Kantianismus, vertreten durch Brandom und McDowell, besonders in der Gegenüberstellung von Kants paradoxaler Ethik des moralisch Überzähligen im Vergleich zu einer Normativität inferentieller Wechselbeziehungen verdeutlicht haben, wollen wir das Thema exzessiver Subjektivität nach Kant noch einmal in Bezug zur Kritik der praktischen Vernunft, genauer im Blick auf die sogenannte Typik-Lehre erörtern. Kant versucht mit dieser Lehre die Spannung innerhalb seines Verständnisses von Moralität zu verringern. Wir werden sehen, dass sein eigenwillig konstruiertes Verhältnis von Naturkausalität und Freiheit uns auch hier wieder auf unser Thema exzessiver Subjektivität zurückverweist. In der Kritik der praktischen Vernunft und in der Religionsschrift macht Kant wiederholt deutlich, dass der menschliche Wille weder eins mit dem Gesetz der Freiheit ist, d. h. kein heiliger Wille sein kann, noch dass er einfach nur dem Gesetz der Natur verfallen, d. h. determiniert ist. Die noumenale und sinnliche Dimension menschlichen Daseins ist je in absoluter Reinheit notwendig ausgeschlossen,

ihrer sozialphilosophischen Studie The Excessive Subject: A New Theory of Social Change (New York: Polity 2010) vertritt, verkennt, dass exzessive Subjektivität nur formallogisch zu vertreten ist. Exzessive Subjektivität ist Strukturprinzip des Ethischen, was nicht heißt, dass das Subjekt selbst sich als bloß formallogisches ansieht. Die Rede vom exzessiven Subjekt läuft Gefahr, nicht erklären zu können, was an Exzess per se ethisch sein sollte.

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und dennoch haben die beiden Dimensionen einen je eigenen Nährboden. Ebenso kann das Subjekt, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft sagt, nicht »an sich« als ein repräsentatives Element mit dem Rahmen, den es für den Bereich der Erfahrungen aufreißt, selbst zusammenfallen. Aus diesem Grund spricht Kant von »diese[m] Ich oder Er oder Es (das Ding), das denkt« (KrV, III, 265 (A 346 / B 404)). Der zur Pflicht berufene Mensch ist nie eins mit der Natur, wobei dieses Nicht-eins-Sein mit der Natur keine Garantie seiner absoluten Freiheit ist. Der Mensch ist ebenso wenig eins mit dem Noumenalen, da immer ein gewisses Maß einer Verunreinigung des Willens zwingend vorausgesetzt werden muss. Im Abschnitt »Von der Typik der reinen praktischen Vernunft« in der zweiten Kritik versucht Kant deutlich zu machen, inwiefern der kategorische Imperativ, wenn schon nicht von seiner motivationalen, inneren Überzeugungskraft her, so jedoch zumindest »der Form nach« einer Naturgesetz-analogen Kausalität unterliegt. Genau hier befindet sich eine in Kants Werk liegende, viel kommentierte Spannung, die die Frage provoziert, wie es überhaupt eine »praktische Urteilskraft« geben kann, wenn ihre Kategorien sich – im Gegensatz zu den Kategorien der Kritik der reinen Vernunft – auf keine Gegenstände in der Außenwelt beziehen, sondern vom praktischen, moralischen Willen selbst, wie Kant sagt, hervorgebracht werden. Eine Alltagssituationen betreffende praktische Urteilskraft braucht, so könnte man vorbringen, Klugheitsregeln, hypothetische Imperative und die Erkenntnis, wann Moral überhaupt gefordert ist. Praktische Urteilskraft ist ebenso notwendig im Bereich des Legalen, der durch Erfahrungen und sich daraus ergebende Reformen geprägt ist. Die Sittlichkeit in ihrer Reinheit aber steht für ein Unbedingtes. Nun behauptet Kant eben in der »Typik«, dass auch für diese eine die Sittlichkeit selbst betreffende Dimension eine praktische Urteilskraft aufgestellt werden solle. Während Verstandeskategorien objektive Gültigkeit nicht aus sich heraus erzeugen, sondern nur in der Verarbeitung mit dem Anschauungsmaterial (sie bleiben sonst »leer«), so kann dies die praktische Vernunft gerade tun: Sie kann ihre Kategorien, Normen, Maximen aus einer anschauungsfreien, von der Empirie losgelösten Selbstreflexion eines unbedingten Sollens ableiten und muss dabei nicht auf die Natur achten. So kommt es scheinbar zur vielkommentierten und viele polemische Debatten auslösenden Sein-Sollen-Dichotomie, die verhindert, moralische Gesetze je in Konfrontation 121 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

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mit Lebenswelten, Kulturen, oder moralischen Zwangslagen beliebig werden zu lassen. 206 Im kategorischen Imperativ kann das Subjekt feststellen, dass Lügen, Beleidigen, ein Depositum einzubehalten oder Selbstmord zu begehen per se verboten sind, insofern das Die-Wahrheit-Sagen Bedingung z. B. von Sprache, Verträgen, sozialen Beziehungen überhaupt ist, bzw. insofern man nicht wollen kann, in einer Welt zu leben, in der Beleidigungen an der Tagesordnung sind etc. Praktische Vernunft darf gerade nicht von ihrem in absoluter Freiheit geborenen Sittengesetz auf die empirische Natur zugehen und sich mit dieser durch praktische Urteilskraft ›abzugleichen‹ versuchen. Sie darf zumindest gemäß der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft nicht fragen, ob ihre Sollensgebote eventuell in Konfrontation mit der Wirklichkeit ein wenig übertrieben ausfallen und daher relativiert werden können. Denn was sollte die praktische Urteilskraft abgleichen, wenn Sollen gerade unbedingt ist vom Sein? Die sittliche Handlung ist ja um ihrer Reinheit willen sittlich und nicht um eines Nutzeneffektes willen. Der Verweis auf eine »Typik« der praktischen Vernunft scheint Kants eigenem Argumentationsgang zu widersprechen, da seine Moralphilosophie der Grundlegung und der zweiten Kritik wesentlich von einer sich ausschließenden Dichotomie zwischen Naturgesetzgebung und Freiheit geprägt ist. Kant weiß dabei sehr wohl, dass die verschiedenen Ausführungen des kategorischen Imperativs (Naturgesetzformel: GMS, IV, 421; Reich der Zwecke-Formel: GMS, IV, 438; Selbstzweckformel: GMS, IV, 429) auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung nahelegen. Der Test der Sittlichkeit einer Handlung erklärt einerseits, dass das der getesteten Handlungsmaxime Zuwiderhandeln vernunftwidrig im Sinne von selbstwidersprüchlich ist. Aber er zeigt auch, dass eine dem kategorischen Imperativ widersprechende Handlung je dem Betroffenen und moralisch Wankenden selbst schadet, indem dieser sich selbst schon als Teil eines Reiches der Zwecke sieht. Wenn der kategorische Imperativ mir naSiehe beispielsweise Lewis W. Beck und Stephan Zimmermann über die Sein-Sollen-Problematik. Beck spricht von einem »unüberwindlichen Graben«, der zwischen Sein und Sollen, Tatsachen und Normen, Faktizität und Normativität liege (vgl. Beck, Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹, ein Kommentar, 206). Demgegenüber weist Stephan Zimmermann in Kants ›Kategorien der Freiheit‹ darauf hin, dass die Typik nicht »der ›physische[n] Möglichkeit‹ einer Handlung nachspürt, sondern deren ›moralisch[er] Möglichkeit‹ (KpV, V, A 101)« (Stephan Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, Berlin / New York: De Gruyter 2011, 58). 206

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Die praktische Urteilskraft

helegt, dass ich nicht wollen kann, meinen Nachbarn zu beleidigen, so tut er dies auch deshalb, weil ich selbst nicht wollen kann, in einer Welt zu leben, wo ich von meinen Nachbarn beleidigt werde. Sollte ich aber aufgrund des Letzteren das Sittengesetz annehmen, handle ich nur im Rahmen einer von Kant kritisierten Klugheitsregel und damit nicht mehr ethisch. Oft kann ein ethisches Handeln meiner Glückseligkeit auch schaden, selbst wenn die Handlung mir als Repräsentanten eines zukünftigen – und von der regulativen Idee Gottes geschützten – Reiches der Zwecke zumindest theoretisch ›nutzt‹. 207

Die praktische Urteilskraft Das im Typik-Kapitel der Kritik der praktischen Vernunft betrachtete Problem einer praktischen Urteilskraft hat nichts mit der Anwendung lebenspraktischer Regeln zu tun. Daher kommt es auch, dass erst in dem Moment, wenn Kant die praktische Urteilskraft in den Kontext einer Typik und in Kombination mit der Freiheit des Sittlichen stellt, die gerade erwähnte Spannung entsteht. 208 Das in der Typik erörterte Problem lässt die Frage aufkommen, ob Kant die ethische Handlung im Sinne einer theoretischen Regelfolge zu lösen versucht. Nach unseren vorhergehenden Ausführungen steht das in Konflikt mit dem Umstand, dass der Wille sich gerade selbst frei bestimmt und man sich fragen kann, ob Freiheit und schlichte Regelbefolgung sich nicht ausschließen. 209 Die Typik ruft also ein Problem 207 Eine Spannung kündigt sich schon in der Grundlegung an. Dort spricht Kant zwar vom Menschen als vernünftigem Wesen, das sich »Gesetze a priori« geben kann, gleichzeitig erwähnt er aber, dass diese Gesetze »noch durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft erfordern, um theils zu unterscheiden in welchen Fällen sie ihre Anwendung haben« (GMS, IV, 389, Hervorhebung D. F.). Wie etwas, das a priori bestimmt ist, von aposteriorischer Erfahrung abhängen kann, verweist auf eine tiefer gehende Verkomplizierung der Frage des ethischen Handelns. Die Beurteilung von »Fällen« braucht einen Maßstab der Beurteilung, der nicht exklusiv von Erfahrung abhängen kann. 208 Vgl. Henry E. Allison, Kant’s Groundwork for the Metaphysics of Morals, New York / Oxford: Oxford University Press 2011, 178 ff. 209 An anderer Stelle versucht Kant im Rückgriff auf seine Rede vom höchsten Gut die oben erwähnte Spannung zwischen Tugend und Glückseligkeit als eine bloß die subjektive Seite der Vernunft betreffende darzustellen. Er schreibt: »In der Tat ist die genannte Unmöglichkeit [einer Proportionierung von Tugend und Glück, D. F.] bloß subjektiv, d. i. unsere Vernunft findet es ihr unmöglich, sich einen so genau angemessenen und durchgängig zweckmäßigen Zusammenhang, zwischen zwei nach so ver-

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

auf, das uns letztlich auf das von Rousseau zu Kant übermittelte Paradox der Autonomie zurückverweist. Die moralische Handlung hat bei Kant nicht ihren Kern in dem, was sie in der phänomenalen Welt erreicht, sondern im »Anfang ihrer Absicht«. 210 Dieser Anfang muss absolut und spontan sein. Sie markiert eine andere Gesetzgebung als die der Natur. Wie gesagt geht Kant davon aus, dass die reine praktische Vernunft ihre Objekte nicht erst im Zusammenspiel mit sinnlicher Anschauung finden muss. Das heißt nicht, dass ein Kind diese in gleicher Weise hat wie ein Erwachsener. Das Kind wird ein Portemonnaie von der Straße aufheben und sagen: »Das gehört mir. Das habe ich gefunden.« Ihm mangelt noch eine »durch Erfahrung geschärfte Urteilskraft […], um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie [die apriorischen Gesetze der Sittlichkeit für die reine praktische Vernunft, D. F.] ihre Anwendung haben« (GMS, IV, 389). Das Kind kann noch nicht erkennen, dass das Für-sich-Behalten eines Fundstücks z. B. nicht dem kategorischen Imperativ entspricht, da – sollte es selbst etwas verlieren – es auch nicht darauf rechnen könnte, das Verlorene über einen ehrlichen Finder zurückzuerhalten. Wenn aber diese Urteilskraft geschärft ist, dann, so Kant, steht das sittliche Gesetz mehr oder weniger mit einem Schlag zur Verfügung im Kontext der Freiheit des Sittlichen, dessen Sollen sich gerade durch jede Abstinenz vom Sein unterscheidet. 211 Wir erwähnen die praktische Urteilskraft an dieser Stelle so ausführlich, weil sie wie ein Hybrid die oben thematisierte Gespaltenheit des moralisch-handelnden Subjekts noch einmal theoretisch wie in einer Nussschale einkapselt. 212 Denn in der Konstruktion einer prakschiedenen Gesetzen sich ereignenden Weltbegebenheiten, nach einem objectiven Naturlaufe, begreiflich zu machen; ob sie zwar, wie bei allem, was sonst in der Natur Zweckmäßigkeit ist, die Unmöglichkeit desselben nach allgemeinen Naturgesetzen doch auch nicht beweisen, d. i. aus objectiven Gründen hinreichend dartun kann« (KpV, V, 145 (A 261)). 210 Giorgia Cecchinato, »Die praktische Urteilskraft und das Gesetz der Freiheit«, in: Valerio Rohden / Ricardo R. Rerra / Guido Antonio Almeida et al. (Hg.), Recht und Frieden in der Philosophie Kants: Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 3, Berlin / New York: De Gruyter 2008, 71–81, hier: 74. 211 Nicht alle sehen ein Problem in der Rede von einer praktischen Urteilskraft. Allison betont den notwendigen Unterschied zwischen Schema und Typus, aber ansonsten ist ihm der »Typus« nur eine logische Konsequenz der moralischen Handlung. 212 Stephan Zimmermann hat daher Recht, wenn er schreibt, die Theorie des Typus gehöre »zum innersten Kern von Kants Moralphilosophie« (Zimmermann, Kants

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Die praktische Urteilskraft

tischen Urteilskraft werden zwei sich ausschließende Momente – wenn auch nur »der Form nach« – in ein Wechselverhältnis gegenseitiger Bestimmung gebracht. (Nicht anders im Schematismus der theoretischen Vernunft.) Das Gesetz der Freiheit (= das Gesetz der sittlichen Handlung) soll bei aller Unabhängigkeit von allem Empirischen nun doch auf den Bereich der Natur angewendet werden. Kant sah wohl die Notwendigkeit eines Analogiekonstrukts zwischen einer Kausalität der Natur und einer angeblich ebenso fehlerfrei laufenden Kausalität der Freiheit, um deutlich zu machen, dass auch die sittliche Freiheit in ihrer der empirischen Welt widersprechenden Unbedingtheit, nicht einfach nur wie eine göttliche Eingebung in der Wahl ihrer Gesetze absolut beliebig sein kann. Freiheit soll nicht einfach nur als Willkürlichkeit und Kontingenz erscheinen. Wenn er dann auf ein Anwendungsbeispiel des kategorischen Imperativs im Kontext der Naturkausalität zu sprechen kommt (KpV, V, 69 f. (A 122 f.)), soll dieses Beispiel gerade offenlegen, dass selbst der »gemeinste Verstand« nur das wollen könne, was die Vernunft fordert. »Frage dich selbst, ob die Handlungen, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest?« (KpV, V, 69 (A 122))

Diese Formulierung spiegelt diejenige aus dem § 7 wieder, wo es heißt: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (KpV, V, 30 (A 54)). 213 In der neuen Formulierung wird sie nun aber eben im Kontext der Typisierung auf konkrete Handlungen beziehbar, wobei die Handlungen ihrerseits wieder zu typisierenden Zeichen werden, die auf einen unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang des Sittlichen hinweisen. Auffallend ist hier, dass die Formen notwendig ›Kategorien der Freiheit‹, 56). Während in der ersten Kritik die Zeit Quelle der Schemata war, die sinnlich und rein zugleich sind, so benutzt Kant jetzt die Form des Verstandes als Quasi-Schema, um das moralische Gesetz sinnlich zu veranschaulichen. Die Form des Verstandes verweist uns hier auf den Verstand als Gesetzgeber der Natur. Diese Form der Natur soll nun das moralische Gesetz annehmen, um sinnlich dargestellt zu werden. Vgl. auch den Artikel von Suma Rajiva: »Sinnstiftung durch Verlebendigung. Die Bedeutung der sichtbaren Welt in Kants moralischer Religion«, in: Michael Städtler (Hg.), Kants ›Ethisches Gemeinwesen‹ : die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin: Akademie Verlag 2005, 87–96, besonders: 89 ff. 213 Vgl. Zupančič, Das Reale einer Illusion, 61.

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immer auch Nützlichkeitsformeln ausdrücken. Wenn ich überlege, ob es gut ist, meinen Nachbarn zu beleidigen, dann verdeutlicht mir die Verallgemeinerung meiner Maxime, dass ich schließlich selbst beleidigt werden würde. Wenn Kant schließlich fragt: »[W]ürdest du darin [in einer solchen Welt, D. F.] wohl mit Einstimmung deines Willens sein [wollen?]«, so ist für ihn klar, dass die praktische Vernunft hier nur »Nein« ausrufen kann. Selbst wenn ein Einzelner »sich insgeheim einen Betrug« sehr wohl erlauben könnte, so würde dieser Umstand persönlichen Schummelns die Überzeugungskraft des kategorischen Imperativs für die Handlungsfolge nach Kant nicht in Frage stellen. In der Typisierung legt Kant daher nahe, dass die praktische Urteilskraft handlungsbegründende Regeln so beurteilt. Der gemeinste Verstand kann das schon deshalb einsehen, weil einerseits bestimmte Maximen selbstwidersprüchliche Ergebnisse provozieren und andererseits den eigenen Nutzen für den Betreffenden offenbaren. Wenn ich, wie gesagt, überlege, meinen Nachbarn zu bestehlen, erkenne ich, dass ich nicht eine Welt wollen kann, in der ich selbst oder meine Kinder bestohlen werden. Stehlen widerspräche nicht nur einer Bedingung zwischenmenschlicher Sozialität, sondern auch meinem und dem Nutzen der Gattung, was den kategorischen Imperativ in die Nähe der »Goldenen Regel« stellt. 214 Dennoch betont Kant, dass mit einer solchen Ratio das Sittliche noch nicht getroffen ist. 215 214 Wenn man den »Typus« im Sinne der »Goldenen Regel« interpretiert, läuft man Gefahr, die Urteilskraft als bestimmend, nämlich als bloß subsumierend in Bezug auf die Gesetzgebung der Freiheit zu bestimmen. Die Subsumtion impliziert, dass der Wille nicht mehr so sehr als etwas bestimmt wird, was sein eigenes Wesen ausmacht, sondern als etwas von außen Bestimmtes. Deshalb darf der Wille gerade nicht auf die »Goldene Regel« reduziert werden. 215 Eine ähnliche paradoxale Nutzen-»Kalkulation« führt Kant in der Religionsschrift zur Annahme eines obersten Gutes und eines »allvermögenden Wesens« an. Nicht, dass der Mensch im »allvermögenden Wesen« und einer Welt der Endzwecke seine Motivation finden möge. Das würde seinen reinen Willen verunreinigen. Aus der Moralität ergeben sich nur als »Folge« diese beiden Motivations-Momente. Eine Begründungsschleife liegt vor: als Folgen müssen sie vorausgesetzt werden, da der Mensch »sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus[richtet]« (Rel., VI, 6), aber als eigentlicher Motivationsgrund dürfen das oberste Gut (als Ursprung auch von materiell Gutem) und das höchste Wesen (als belohnendes) nicht gelten. Sie dürfen – paradox formuliert – die Maxime motivieren helfen, aber nicht Grund der Willensmotivation sein. Sie dürfen diese materielle Motivation als »finis in consequentiam veniens« (Rel., VI, 4) annehmen, weil der Mensch einen Anreiz braucht, aber sie dürfen es nicht als den Grund ihres Willens annehmen. Kant erfindet hier ein para-

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Die praktische Urteilskraft

Kant versucht seinen Verweis auf die Naturgesetzlichkeit zu relativieren, indem er die Urteilskraft der praktischen Vernunft nicht wie die der theoretischen an einen »Schematismus« von An- und Abgleichungen von sinnlichem Anschauungsmaterial und Kategorien zurückbindet, sondern ein dem Schematismus nur analoges Verfahren der »Typisierung« entwirft. Er muss dies tun, um die Dichotomie zwischen Natur und Freiheit nicht aufzuheben. 216 Ein Schematismus für die praktische Vernunft würde eine Versinnlichung des Sittengesetzes bedeuten. Demgegenüber ist der Willensakt der sittlichen Handlung ein ursprünglicher Akt der Selbstbestimmung, unabhängig von jeder Zeitlichkeit und daher auch nicht an ein durch die Einbildungskraft bedingtes Abgleichen gebunden. Die Typisierung darf als Hybrid-Modell dem Schematismus deshalb nur analog entsprechen, ohne die Kausalität aus Freiheit mit der Kausalität der Natur ganz kurzzuschließen. Das, was nach Kants Meinung dann als Typus des Sittengesetzes fungieren kann, ist die Naturkausalität. In diesem Zusammenhang erwähnt er, dass beim Typus natürlich nicht die Einbildungskraft wie in der theoretischen Urteilskraft von Bedeutung ist, sondern nur der »Verstand« gefordert ist. Er »unterlegt« der Idee der Freiheit (»einer Idee der Vernunft«) ein Gesetz. 217 D. h. der Verstand weiß, dass die Freiheit als Idee der Vernunft denknotwendig ist. Diese Freiheit kann zwar nicht objektiv bewiesen werden, aber sie kann dennoch »objektiv« »an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden«, »aber nur seiner Form nach« (KpV, V, 69 (A 122)), d. h. bar jeder klar bestimmbaren inhaltlichen Motivationalität. Die »Typik« beruht so eigentlich auf einer Art Experiment. Es schließt die empirischen Bestimmungsgründe aus und versucht die Plausibilität der Maxime offenzulegen. Das tut sie alles wohlwissend, dass wir »in der That aber selbst durch die anstrengendste Prüfung hinter die geheimen Triebfeder niemals völlig kommen können« doxes Nützlichkeitskalkül. Der Mensch muss motiviert werden, weil er eben »bei allen Handlungen nach dem Erfolg« ausgeht, aber diese Motivation darf seinen Willen gerade nicht motivieren. 216 Lewis W. Beck kommentiert die Analogie zwischen Schematismus und Typik in Kants Kritik der praktischen Vernunft, 153 f. Siehe ebenso Ernst Vollrath, Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart: Ernst Klett 1977. 217 Gesetz meint hier, dass es ja gerade nicht der Urteilskraft um die moralische Beurteilung geht, so wie die Urteilskraft in der theoretischen Funktion beurteilend funktioniert. In der praktischen Vernunft ist sie ein unmittelbares »Erkennen«.

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(GMS, IV, 407). Die sittliche Freiheit als nicht-determinierte darf »der Form nach« (KpV, V, 69) als ein so geschlossener und auf Ursache-Wirkung-Zusammenhänge rückführbarer und nach allgemeinen Gesetzen beschreibbarer Mechanismus vorgestellt werden, wie ihn auch die Natur aufweist. Auf diese Weise glaubt Kant Objektivationsmechanismen im Verstand und Objektivitätsmechanismen der praktischen Vernunft angleichbar gemacht zu haben. So wie der Verstand das Gesetz der Kausalität als Bedingung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis offenlegt, so arbeitet die praktische Vernunft nach Gesetzlichkeiten. Demnach beurteilt die praktische Urteilskraft handlungsmotivierende Grundsätze des empirischen Willens bezüglich ihrer Sittlichkeit, indem sie Maximen so reflektiert, »als ob sie den Willen wie ein Naturgesetz determinierten«, 218 wohl wissend, dass der Wille gerade seine Autonomie verlöre, wenn er wirklich Naturgesetz wäre. 219 Die philosophiepraktisch typisierte Natur erscheint wie ein Verwirklichungsort, wo Handlungen als Realisationen von Maximen uns wirklich begegnen können. Moralische Handlungen verwirklichen als »typisierte« Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge konkrete, materialisierte Zeichen des Sittlichen. Und das scheint dasjenige zu sein, was dem oben erwähnten Kantianismus entspricht. Das Ethische wird zurückgebunden an typisierte, rational verhandelbare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge einer inferentialistischen Normativität, die ihren letzten Bürgen nicht mehr im Subjekt hat, sondern in einer intersubjektiven Gesetzlichkeit. Aber, und das scheint der Kantianismus von Brandom und McDowell zu vernachlässigen, Kant hält weiterhin an der Unbedingtheit und Nichtintegrierbarkeit des Moralischen in diese Art von Kausalität fest. Im Rückgriff auf Kants Teleologie in der Kritik der Urteilskraft kann man nun (auch unter der Lesart des traditionellen Kantianismus) das Sittengesetz mit der Naturgesetzlichkeit unter das Prinzip

Vgl. Pieper, »Zweites Hauptstück«, 130. Somit wird die (Pseudo-)Möglichkeit entworfen, sittliche Maximen könnten in der Natur wirklich, zumindest »der Form« (nicht der inhaltlichen Bestimmung) nach objektive Wirkungen des Sittlichen entfalten. So kann Kant einerseits behaupten, dass, »[w]enn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält«, sie sittlich unmöglich ist (KpV, V, 70 (A 123)). Und er kann andererseits behaupten, dass damit »nicht der Bestimmungsgrund der Handlung« des Willens (KpV, V, 116 (A 210)) bestimmt ist. 218 219

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der Zweckmäßigkeit in Ansehung der Natur stellen. 220 Dahinter steht die von Kant auferlegte, notwendige Denkbefugnis, man könne die Naturphänomene unter der Perspektive betrachten, »als ob« die Natur nach (göttlich sinnvoll) verbürgtem Zweckzusammenhang gestaltet sei, wohl wissend, dass es dafür keinen objektiven Beweis gibt. Demnach könnte man »an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellten«, aber nur »der Form nach« sittlichen Handlungen (also nur an den Gegenständen pseudo-sittlicher Handlungen) auch sagen, dass diese Handlungen so aussehen, »als ob« sie auf finale UrsacheWirkungs-Zusammenhänge verweisen, so als seien diese UrsacheWirkungs-Zusammenhänge ein Beweis der Zweckmäßigkeit der Natur. Zwar ist eine solche Unterstellung nur »subjektiv« in dem Sinne, dass sie kein objektives Urteil rechtfertigt, und dennoch hat sich, wie Kant in der Teleologie der Kritik der Urteilskraft behauptet, eine solche »als ob«-Perspektive auf Naturprozesse bewährt (KU, V, 464). Was er mit »bewährt« hier meint, bleibt leider vollkommen unbestimmt. 221 Mit Hilfe eines letztlich metaphysisch oder besser: transzendental-virtuell metaphysisch zu nennenden finalen Zweckzusammenhangs von Ursache und Wirkung will Kant einen rein kontingent bleibenden kausalmechanischen Zusammenhang der Natur zu denken vermeiden. Und er behauptet, dass dies zu denken zwar nicht objektiv gültiges Urteil, aber als subjektives letztlich vom Menschen Vgl. Pieper, »Zweites Hauptstück«, 126. Ein Moralsystem, das sich nicht von der empirischen Umwelt beeinflussen lassen möchte, muss Grenzen aufbauen und gleichzeitig diese Grenzen so konzeptualisieren, dass »reine Vernunft praktisch werden« kann. Sebastian Rödl diskutiert die Frage der Autonomie des moralischen Subjekts gegenüber Stephen Darwall am Beispiel des Satzes »Zucker ist wasserlöslich«. Der Satz artikuliert ein Gesetz, das besagt, dass unter der Bedingung, dass Wasser auf ihn einwirkt, Zucker sich auflöst. Der Akt des Sich-Auflösens des Zuckers wird durch Wasser ausgelöst. Im Gegensatz dazu ist der Akt der Autonomie, auf den Kant verweist, einer, der nicht unter eine andere Kausalität gebracht werden kann. Ist nun der menschliche Wille so frei gegenüber einem zweitpersonalen moralischen Denken wie das Zuckerstück, das sich unter der Einwirkung von Wasser auflöst? Oder ist der autonome Wille unbedingt selbst gegenüber dem Wasser? Kant betont nach unserer Meinung das Letztere und gleichzeitig betont er, dass es einen Einfluss des Wassers auf den Zucker geben muss. Aber der Zucker darf sich nicht – um das Beispiel allegorisch weiterzuspinnen – kausal-mechanisch durch das Wasser auflösen. Er muss es sozusagen aus freiem Willen tun. Das Wasser ist somit eine hinreichende Bedingung, aber der Wille ist die einzig notwendige (vgl. Sebastian Rödl, »Darwall gegen Kant: Kant verteidigt«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 57, Nr. 1 (2009), 163–168, hier: 165 f.). 220 221

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gedacht zu werden gerechtfertigt sei. Dass Menschen zumindest »der Form nach« aufgrund ihrer Freiheit in moralischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen handeln sollten, erlaubt den Schluss, »als ob« die Menschen ein Reich der Zwecke verwirklichten. Aber Kant macht ebenso am Ende des Kapitels einen entscheidenden Kommentar zu seiner Typus-Lehre. Er schreibt: »Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als Typus einer intelligiblen Natur zu brauchen, so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage, sondern bloß die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt […] darauf beziehe« (KpV, V, 70 (A 124)).

Welche Konsequenzen dieser Einwand impliziert und wie unterschiedlich er ausgelegt werden kann, zeigen die verschiedenen Stellungnahmen dazu in der Kantforschung.

Die legal-ethische Interpretation des »Typus« In der Sekundärliteratur zum »Typus«-Abschnitt gibt es mindestens zwei sich ausschließende Lesarten, die erklären, welche Wertigkeit der Typus-Theorie im Kontext der Frage nach der Motivierung moralischen Handelns zukommt. Und auf das Motivationsprinzip scheint das »Typus«-Kapitel zumindest eine Antwort im Sinne eines Indizes geben zu wollen, dass die Maxime einer Handlung notwendig so beschaffen sein muss, dass sie »an der Form eines Naturgesetzes« die Probe hält. Der Verweis des kategorischen Imperativs, wie er im Typus-Kapitel vorkommt (KpV, V, 70 (A 122 f.)), legt dies ja auch nahe. Der Test des kategorischen Imperativs ist sowohl einsichtig, weil er zu Selbstwidersprüchen führt. Aber er ist auch einsichtig, weil er Nutzen-Beförderungen suggeriert, die der Einzelne gar nicht abweisen kann. Daher fragt auch Kant gemäß einer Plausibilität, die selbst dem »gemeinsten Verstande« einsichtig ist. Eine Lesart wäre, dass Kant uns nahelegt, wie sich unsere Motivationen, moralisch zu handeln, durch ein Eingebundensein in einen sozialen Raum rechtfertigen, der schon deshalb überzeugt, weil das, was ich nicht will, das man mir antut, ich auch anderen nicht antun sollte. Durch diese Rückbindung auf eine sozialnormative und vernunftuniversale Herleitung des Moralischen (Goldene Regel) wären Kants problematische Begriffe wie der der »Achtung« als intellektuelles Gefühl, Konstruktionen wie das seltsame Denkmodell der Ge130 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Die legal-ethische Interpretation des »Typus«

sinnungsrevolution und das Motiv eines an Unbedingtheit gebundenen Sollens entschärft. »Unbedingt« muss Moral in der Einbindung eines solchen sozialen Netzwerks von Gründen, das an Brandoms und McDowells normativen Inferentialismus erinnert, gar nicht sein. Im Gegenteil: ihre Unbedingtheit wäre ein Indiz einer solipsistischen Abgründigkeit. Den Menschen definiert hier sozial-moralisches Handeln, da mehr oder weniger immer auch eigener Nutzen mitbetroffen und ein Selbstverhältnis immer durch soziale Anerkennungsstrukturen (als sich gegenseitig stützende Nutzenstrukturen) mitbedingt ist. Moralisches Handeln erscheint je als in Prozeduren von Begründungen und Rechtfertigungen eingebunden. Annemarie Piepers Interpretation der Typik geht in diese Richtung. Für sie ist ein Ergebnis der Typik, »dass das Sittengesetz auf die Willensbildung wirklich Einfluss zu nehmen vermag.« 222 Damit bestätigt für sie die Typik die »im Alltagsverständnis als praktische Orientierungshilfe je schon wirksame ›Goldene Regel‹.« 223 Stephan Zimmermann weist darauf hin, dass die Typik nicht »der ›physische[n] Möglichkeit‹ einer Handlung nachspürt, sondern deren ›moralische[r] Möglichkeit‹ (KpV, V, A 101).« 224 »Mit der (unpassenden) Sprache der Sein/Sollen-Differenz formuliert, fragt die reine praktische Urteilskraft nicht danach, ob man in der Natur tun kann, was man aus Freiheit tun soll, sondern danach, was man überhaupt tun soll.« 225 Zimmermann sieht auch die Rede von praktischer Urteilskraft in der Kritik der praktischen Vernunft gar nicht konfliktreich, wie Pieper und Beck dies tun. »Wenn wir durch Betätigung der Urteilskraft unseren so oder so gebildeten Willen einer moralischen Revision unterziehen, stellen wir keine Vermittlung von Sein und Sollen her, sondern wir untersuchen, was die Inhalte des Sollens sind.« 226 Zimmermann glaubt, dass die Kluft zwischen Sein und Sollen sich erst in der Kritik der Urteilskraft ergibt, wo für Kant in der ersten Einleitung eine »Lücke im System unserer Erkenntnisvermögen« (Erste Einleitung KU, XX, 244) geschlossen werden soll. Erst im Kontext der Kritik der Urteilskraft spricht Kant von der Notwendigkeit, dass »die Natur […] so gedacht werden könne, daß die Gesetzmäßig-

222 223 224 225 226

Pieper, »Zweites Hauptstück«, 132. Pieper, »Zweites Hauptstück«, 132. Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 58. Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 58. Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 58.

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

keit ihrer Form nach wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.« 227 Zimmermann sieht eine mehr als nur analoge Beziehung zwischen Schematismus und Typik und leitet diese These von der kompositionsgleichen Bedeutung von Schematismus und Typik in Bezug auf die jeweiligen Kategorienlehren der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft ab. Es gehe in beiden Modellen um »die Bedingungen des richtigen Gebrauchs der Kategorien«. 228 »Die Kategorien des sittlichen Willens finden ihre korrekte Anwendung nirgends anders als im moralischen Prüfverfahren […]«. 229 Dieser Interpretation des Typus entspricht Zimmermanns Grundthese, wenn er behauptet, dass »Kategorien der Freiheit für die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch dasjenige sind, was Kategorien der Natur für die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch sind. Sie stellen die konstitutiven Bedingungen der Möglichkeit, nicht der Erfahrung von Gegenständen, sondern des Wollens von Objekten dar.« 230 In diesem Sinne versteht er die Kategorien als »urteilstheoretisch«. 231

Einen Gegenstand der praktischen Vernunft wollen, wäre immer schon etwas, was Gegenstand eines praktischen Urteils ist. 232 Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 58, Fußnote 124. Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 59. 229 Zimmermann weiter: »Die Kategorien werden genau dann nach einer sicheren und verlässlichen Regel gebraucht, wenn eine Bestimmung des Willens gezielt auf ihre Sittlichkeit hin getestet wird. Alsdann nämlich erkennt die reine praktische Urteilskraft, und zwar nach Maßgabe des Typus, durch welche sittlichen Kategorien die jeweilige Willenshaltung angemessen zu spezifizieren ist; sie ordnet dem Inhalt des sinnlich unbedingten Willens die ihm gebührenden sittlichen Formen zu« (Zimmermann, Kants Kategorien der Freiheit, 59, Hervorhebung D. F.). 230 Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 7. 231 Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 7. 232 Vgl. Zimmermann, Kants ›Kategorien der Freiheit‹, 7. Vgl. auch Marcus Willascheks treffende Offenlegung der Spannung zwischen Kants Rede von der »Spontaneität« des Verstandes und der Naturkausalität in der »Analytik« der Kritik der reinen Vernunft. Sie geht der Frage nach, ob die Selbständigkeit bzw. Spontaneität unseres Denkens (und Handelns) für Kant mit der Kausalgesetzlichkeit der Natur in Konflikt steht oder nicht. Anders gesagt: Sind wir verantwortlich für das, was wir beurteilend erkennen oder aber erkennen wir, was der Verstand uns als unabhängiges, neutrales Medium erkennen lässt? Willaschek unterscheidet unter anderem zwischen der Spontaneität des Verstandes, die normativ regelgeleitet verstanden werden kann, und der im Gegensatz dazu naturgesetzlichen Kausalität des Urteilens. Vgl. Marcus Willaschek, »›Die Spontaneität des Erkenntnisses‹. Über die Abhängigkeit der ›Trans227 228

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Zu verantwortende unverantwortbare Unmündigkeit

Wieso aber kann der Wille dann noch »unbedingt« genannt werden, wenn hier eine Kausalität vorliegt? Und als unbedingten leitet ihn Kant wiederholt her. Nach unserer Meinung stellen sowohl die Interpretation zum Typus von Pieper wie die von Zimmermann Kant in den theoretischen Rahmen von McDowells und Brandoms sprachpragmatischer Ethik, die gerade nicht mehr eine allein vom Subjekt her begriffene Unbedingtheit verkörpern kann. Kant bewahrt aber eben einen Hoheitsbereich des Ethischen, der in einer Nicht-Koinzidenz mit der Inferentialität der Ethik steht. In bestimmten politischen Situationen kann erst der ethische Durchbruch einer Praxis nachträglich urteilstheoretisch eingeholt werden. Mit den Worten von Allen Wood könnte man sagen: »in the end you always have to face the music, take your pick, and come clean about it.« 233

Zu verantwortende unverantwortbare Unmündigkeit Kants Rede von Bekehrung und Revolution drückt den Umstand aus, dass das Entscheidungsmoment des moralischen Willens den Einzelnen überkommt, bzw., dass der Einzelne sich plötzlich als im Bereich des Moralischen stehend erfahren haben wird. 234 Ebenso behauptet zendentalen Analytik‹ von der Auflösung der Dritten Antinomie«, in: Jiri Chotas / Jindrich Karasek / Jürgen Stolzenberg (Hg.), Metaphysik und Kritik. Interpretationen zur ›transzendentale Dialektik‹ der ›Kritik der reinen Vernunft‹, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, 165–184. 233 Allen Wood, Kantian Ethics, Cambridge: Cambridge University Press 2008, 11. Generell vertritt Wood, dass Kants Ethik missverstanden wird, wenn man sie allzu sehr auf Kants Verweis in der Grundlegung auf die unbegrenzte Gutheit des guten Willens bezieht (vgl. Wood, Kantian Ethics, 40). Demgegenüber behauptet er, dass im zweiten Teil der Grundlegung der reine Wille »no significant part« spiele (ebd.). Zur Thematik der Autonomie bei Kant beschreibt Wood die Spannung, die im Begriff der Autonomie selbst angelegt ist. Sie drücke sich in den Begriffen »autos« und »nomos« aus. »Autos« steht für das Moment einer Selbstgesetzgebung, nach dem vernünftige Wesen ihre Handlungen nach rationalen Prinzipien ausrichten. Demgegenüber kann man in Kants Philosophie aber auch besonders den »nomos« hervorheben als das eigentlich zentrale Moment in Kants Autonomiebegriff. Wood schreibt, wenn das nomos-Moment gestärkt wird, »[then] we have to treat ›self-legislation‹ as just a certain way of considering or regarding a law whose rational content is truly objective and whose authority is therefore independent of any possible volitional act we might perform« (Wood, Kantian Ethics, 110). 234 Ein entscheidendes Zitat Kants findet sich beispielsweise in der Religionsschrift: »[W]eil wir diese [die Gesinnung, D. F.] nicht durchschauen können [,] müssen [wir]

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Kant, dass der Mensch aufgefordert ist, sich entscheiden zu müssen. 235 Zu sagen, wo und wann der Einzelne in seiner moralischen Entwicklung für die Dezision optiert, von der aus er sagt, »ich werde mich jetzt für eine moralische Gesinnung entscheiden«, muss die Gesinnung schon voraussetzen. Diese eigentümliche Verschränkung taucht auch in seinem Text Was ist Aufklärung auf. Wenn Kant dort prominent von einer »selbstverschuldeten Unmündigkeit« (Aufklärung, VIII, 35) spricht, dann ist auf den ersten Blick nicht erkenntlich, wie das Oxymoron zu verstehen ist. Man könnte es so interpretieren, dass das Unvermögen, sich seines Verstandes zu bedienen, selbstverschuldet ist, weil, wie Kant behauptet, der Verstand sich nicht entschließt »sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen« (ebd.). 236 Aber wie sollte ein unmündiges (wenn auch vernunftfähiges) Wesen sich zur Verantwortung bekehren, für die es sich aufgrund seiner Unmündigkeit noch nicht verantworten kann? Kants berühmt-paradoxer Ausspruch macht Sinn vor dem Hintergrund unserer oben markierten Paradoxie einer nachträglich sich legitimierenden moralischen Handlung als Ausdruck der sich-zu-spät-legitimierenden Gesinnung: Mündigkeit markiert einen Zustand, der eine ihm immer schon vorausgehende, wenn auch erst retrospektiv erkannte Verantwortung beinhaltet. Aus diesem Grund kann Kant behaupten, der Zustand vor der Mündigkeit sei immer schon »selbstverschuldet«. Der Mensch ist dort Mensch, wo er für etwas verantwortlich ist, für das er sich fälschlicherweise nicht verantwortlich hielt. Demnach kann man auch sagen: Selbstverschuldete Unmündigkeit impliziert eine unverschuldete Mündigkeit gleichermaßen. Mündigkeit ist ein Status, der primär unverantwortet und sekundär retrospektiv zu verantworten ist. Und Unmündigkeit ist ein Zustand, der primär zu verantworten und dann von der Mündigkeit aus im Trugbild einer Unverantwortlichkeit erscheint. Unmündigkeit war demnach immer schon zu lange und Mündigkeit kommt demnach immer ein wenig zu spät. Damit möchte Kant uns das Unerträgliche zu denken nötigen, dass der Mensch auch für Dinge verantwortlich ist, für die er sich allenfalls nur aus den Folgen derselben im Lebenswandel auf sie schließen, welcher Schluß aber, weil er nur aus Wahrnehmungen als Erscheinungen der guten und Bösen Gesinnung gezogen wurde, vornehmlich die Stärke derselben niemals mit Sicherheit zu erkennen gibt« (Rel., VI, 71). 235 Kant betont z. B. das Entscheidungsmoment in der Pädagogik. 236 Vgl. dazu auch Bjerre, Kantian Deeds, 124.

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Habitus libertatis: Gesinnungsänderung und Gestik

zu spät verantwortlich erkennt. Die Spaltung des moralischen Subjekts, das in einem Exzess seiner Entscheidung als causa sui seine Gesinnung nachträglich beweist, begegnet uns hier wieder. Wenn es ein vernünftiges Wesen gäbe, das nur im Bereich des Legalen lebte, dann bräuchte es diese an Kants Moralphilosophie gebundene Paradoxie zweier Ungleichzeitigkeiten nicht. Aber weil Kant die moralische Verpflichtung an eine Unbedingtheit bindet, die sich durch kein Naturgesetz (außer der Form nach) legitimiert, so zahlt er den Preis, dass genau diese Unbedingtheit immer nur von einem blinden Fleck aus gedacht werden kann. Das ethisch-exzessive Subjekt entsteht aus dieser Nicht-Koinzidenz zwischen Sein und Sollen. Die Normativität der Gesinnung muss als rekursives Konzept verstanden werden. Insofern gibt es bei Kant sehr wohl einen Transfer von Sein und Sollen, aber nicht in dem Sinne, dass es einen Analogieschluss gibt, sondern in dem Sinne, dass Sein und Sollen, Partikuläres und Allgemeines im Moment der ethischen Handlung und d. h. auf der Ebene des Partikulären selbst zusammenfallen.

Habitus libertatis: Gesinnungsänderung und Gestik Eine Schein-Lösung der Spannung im Verhältnis von noumenaler Revolution der Denkungsart und empirischer Reform auf der Ebene der »Sinnesart« (die Ebene des empirischen Charakters) gibt Kant in seiner Theorie der Fertigkeit: »Fertigkeit (habitus) ist eine Leichtigkeit zu handeln und eine subjective Vollkommenheit der Willkür. – Nicht jede solche Leichtigkeit aber ist eine freie Fertigkeit (habitus libertatis), denn, wenn sie Angewohnheit (assuetudo), d. i. durch öfters wiederholte Handlung zur Nothwendigkeit gewordene Gleichgültigkeit derselben ist, so ist sie keine aus der Freiheit hervorgehende, mithin auch nicht moralische Fertigkeit. Die Tugend kann man also nicht durch die Fertigkeit in freien gesetzmäßigen Handlungen definiren, wohl aber, wenn hinzugesetzt würde, ›sich durch die Vorstellung des Gesetzes im Handeln zu bestimmen‹« (Tugendlehre, VI, 407). Kant behauptet hier, dass moralisch-reformatorische Motivation und Gesinnungsrevolution sich annähern können, wo »die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch durch Übung (exercitio) erhoben wird« (Tugendleh135 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

re, VI, 397). Eine rein äußerlich bleibende Gestik könne des Menschen Gesinnung beeinflussen. 237 Was Kant hier nahelegt, nimmt eine Thematik der Verhaltenstherapie vorweg: Verhalten wirkt auf Einstellung statt umgekehrt. Durch körperliches Verhalten imprägniert der Mensch nachträglich dessen innere Gesinnung, die er dann wie aus Freiheit und Autonomie geboren definiert. (Das wäre eine mögliche Kurzformel für »Ideologie«. Doch dazu im fünften Kapitel mehr.) Um den letzten Gedanken aber aufrechtzuerhalten, muss Kant den Einfluss ritueller Scheinmoral nicht als Bedingung deklarieren. Ritualisierung kann als Einflussfaktor nicht Kausalität bedeuten. Denn bekanntlich ist für Kant eine Tat nur durch die Intention, nicht durch ihre Auswirkung verbürgt. 238 Wie kann er jedoch immer wieder die Nicht-Koinzidenz zwischen Moralität und empirischer Ritualität betonen und gleichzeitig so tun, als gäbe es trotzdem eine magische Einflusssphäre? Oder markiert hier Kant in der Tradition einer ganzen Reihe von GewöhnungsMoralisten wie Montaigne, Bacon, Descartes und Gracián eine Tugendethik, der gemäß der Mensch in die Außenwelt mit ihren Sitten immer schon ›verwoben‹ ist? Derjenige, der die richtige moralische Gesinnung noch nicht hat, handelt aber nach Kant auch dann nicht richtig, selbst wenn er scheinbar gute Taten begeht. Aber wie, so ist die Frage, sollte das Verhalten die Einstellung wirklich beeinflussen innerhalb einer puren »als ob« Haltung? In der Tugendlehre schreibt Kant ja schließlich: Tugend ist keine Gewohnheit, sondern eine »Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze« (Tugendlehre, VI, 383), d. h. moralischer Maximen. Angewohnheit steht in direktem Widerspruch zur inneren Freiheit (Tugendlehre, VI, 407, 409; Pädagogik, IX, 463; Anthro., VII, 149). Handeln nach moralischen Maximen kann nicht zur Gewohnheit werden, da Neigungen ihrer Anwendung entgegenstehen. Ein anderer Grund der 237 Und in der Anthropologie schreibt er: »Die Menschen sind insgesammt, je civilisierter, desto mehr Schauspieler; sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor Anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen […]. Denn dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt, und gehen in die Gesinnung über« (Anthro. VII, 151, Hervorhebung D. F.). 238 Zu einer generellen Theorie des Performativen im Kontext der Rechtserzeugung siehe die Studie von Sabine Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische Annäherung, Weilerswist-Metternich: Velbrück 2012.

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Habitus libertatis: Gesinnungsänderung und Gestik

fehlenden Erklärung liegt darin, dass Kant sowohl das Handeln nach dem moralischen Gesetz, ebenso wie das Handeln nach Maximen (besonders nach moralischen und daher unwandelbaren Maximen wie »Lauterkeit«, »Festigkeit«, »Reinheit«, »Unwandelbarkeit« (KpV, V, 32 / Religion, VI, 63)) nicht im Sinne eines habituellen Maximenbegriffs Wolffs denken kann. 239 Ein Leben nach habituellen Maximenbegriffen etablierter sozial-verbürgter Sittlichkeit wie Wolff dies versteht, 240 kann Kant nur dem Bereich einer Tugend der Legalität (virtus phaenomenon) zuschreiben (Rel., VI, 14). Dem gegenüber stellt er »Handlungen aus Pflicht (ihrer Moralität wegen) virtus noumenon genannt« (ebd.). Handeln auf rein symbolisch-äußerlicher Ebene trainiert (angeblich) dennoch meine Innerlichkeit. Kant muss so in seinen Anmerkungen zum Habitus wiederum eine Spaltung mitintegrieren, um diesen Zusammenhang seiner Theorie zu garantieren. Der Begriff des »habitus libertatis« ist so nur scheinbar begrifflich kohärent, denn was für eine Gewohnheit ist diese, die sich durch permanente Gesetzesvorstellung gerade versagen muss, Gewohnheit zu werden? 241 Nur unter dieser nicht anders als paradox zu nennenden Lösung kann Kant seine Ethik mit einer freiheitlich-sittlichen Gewohnheit kombinieren. 242

239 Vgl. Michael Albrecht, »Kants Maximenethik und ihre Begründung«, in: KantStudien, Bd. 85 (1994), 129–146, hier: 137. 240 In der Philosophie Christian Wolffs sind Maximen unbewusste Regeln des Verhaltens, die es erst zu entdecken gilt. Dagegen sind bei Baumgarten Maximen Verhaltensregeln im Sinne der aristotelischen hexis, die man sich angewöhnt hat. Siehe dazu Rüdiger Bubner, Handlung, Sprache und Vernunft: Grundbegriffe praktischer Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, 199 f. Bubner und Urs Thurnherr sehen in Baumgarten einen Wegbereiter Kants (vgl. Urs Thurnherr, Die Ästhetik der Existenz: über den Begriff der Maxime und die Bildung von Maximen bei Kant, Tübingen: Francke Verlag 1994). Kants Maximenbegriff unterscheidet sich von Wolffs durch den Aspekt der Bewusstheit. 241 Vgl. Caroline Sommerfeld-Lethen, »Motiva auxiliaria. Kants Motivationstheorie zwischen Aristoteles und der Moralistik«, in: Udo Kern (Hg.), Was ist und was sein soll: Natur und Freiheit bei Immanuel Kant, Berlin / New York: De Gruyter 2007, 287–300, hier: 296. 242 Wenn wir uns das Verhältnis von moralischer Fertigkeit und moralischer Handlung allegorisch als das Verhältnis von Boden (= der ›Humus‹, auf dem die Fertigkeiten wachsen) und einer Blume (= die moralische Handlung), die aus dem Boden herauswächst, vorstellen, dann dreht Kant hier das Verhältnis um: die schöne Pseudoblume (= pseudo-moralische Handlung) lässt nachträglich einen guten Boden ent-

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal zusammen: Der Mensch kann sich bekehren gegen den Menschen. Gesinnung wählt man nicht wie ein Gut unter anderen Gütern in bestimmten hypothetischen Zweck-Mittel-Relationen. Das Wählen der Gesinnung ist für Kant der Moment eines plötzlichen Überkommenwerdens. Es ist ein Moment, den Heidegger immer wieder als Moment der Angst beschreibt: es ist die Wahl des Daseins vor der Möglichkeit seiner sich erst retrospektiv potenziell erfahrenden Seinsweise. 243 Kant beharrt deshalb um der eigentümlichen Aufrechterhaltung des Themas angst-einflößender Bedrängnis des Daseins willen in seiner Replik auf Reinhold darauf, dass die einzige Freiheit des Subjekts in der erzwungenen Wahl besteht, die Freiheit als Vernunftwesen immer schon gewählt zu haben. 244 Es ist die Freiheit eines Vernunftwesens, welches 1.) weiß, nicht die Freiheit Gottes – ergo einen heiligen Willen – zu haben, nicht mit sich identisch zu sein während der »Revolution der Denkungsart« in einem moralischen Akt, das aber 2.) die Freiheit trotz seiner Nicht-Koinzidenz mit sich selbst wählt, »als ob« sie durch es selbst wie durch ein in absoluter Unbedingtheit mit sich selbst identisches, nahezu gottgleiches Wesen letztverbürgt wäre, aller Empirie zum Trotz. 245 Die einzige Freiheit, die Kants Subjekt hat, ist folglich einerseits diejenige seiner erzwungenen Wahl der NichtIdentität mit sich selbst als Vernunft- und Sinnenwesen und anderseits diejenige – dieser Gespaltenheit zum Trotz – moralisch handeln zu müssen, so als sei es nicht gespalten. Die erzwungene Wahl, sich stehen; Boden hier verstanden als innerliche Gesinnung. Wie das gehen soll, erklärt Kant nicht. 243 Das Dasein ist in seiner Geworfenheit nicht in Angst vor der Auswahl, was es an instrumentellen Lebensoptionen für sich wählen soll, sondern es ist in Angst vor dem, was es an nichtinstrumentellen Lebensoptionen ergriffen haben wird durch die Art und Weise, wie es sich aus der sein eigenes Dasein bestimmenden Unbestimmtheit entwirft. Erst in diesem Entwurf bricht es aus der Welt des »Man« aus (vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2001, § 39–44). 244 Kants Replik auf Reinhold findet sich in der Einleitung der Metaphysik der Sitten: »Die Freiheit der Willkür aber kann nicht durch das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln […] definiert werden – wie es wohl einige versucht haben, – obzwar die Willkür als Phänomen davon in der Erfahrung häufige Beispiele gibt« (MS, VI, 226). 245 Kant führt hierzu in der Religionsschrift aus: »[D]ie Freiheit der Willkür ist von der ganz eigentümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat […]; so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontaneität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen« (Rel., VI, 23).

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Habitus libertatis: Gesinnungsänderung und Gestik

als gespaltenes Subjekt wie aus einer der Spaltung vorausgehenden Nicht-Spaltung gewählt zu haben, entspricht von der Struktur her der Kant’schen Rede des focus imaginarius aus der ersten Kritik. Sie markiert eine denknotwendige Illusion, die das Subjekt im moralischen Akt von sich wie von einer Außenposition im Zerrbild einer gottgleichen Absolutheit hat. Diese Illusion wird von Kant interpretiert als eine, die dem Autonomieverständnis des Menschen eingeschrieben ist. Einen empirisch verbürgten Beweis gibt es für diese Autonomie nicht. Der Blick in die Natur zeigt zwar Indizien für moralische Handlungen, die Freiheit andeuten und auch einen Fortschritt in der Geschichte hermeneutisch (subjektiv) herauslesen lassen, aber viel mehr noch zeugt die Natur von einer Kausalität notwendiger Verkettung von Erscheinungen in der Zeit. 246 Das Subjekt ist also gespalten und kann sich durch eine selbst auferlegte – weil durch Denknotwendigkeit legalisierte – Illusion »betrügen« dürfen, um dadurch nachträglich ein Indiz für eine moralische Handlung in der Welt zu haben. Kant artikuliert ein zum Müssen verurteiltes Sollen im Sinne von »Hier stehe ich und kann nicht anders.« Aber die Instanz, die hier steht, ist, überspitzt gesagt, nicht eigentlich dafür verantwortlich, dass sie dort steht, eben aufgrund einer »Gesinnung«, die im »Unerklärlichen« verborgen bleibt. Das Subjekt ist aufgrund seiner Gespaltenheit dazu verdammt, dort zu stehen, wo es nur in seiner Gespaltenheit und d. h. nur in seiner Nicht-Koinzidenz stehen muss. Es erfährt sich dort schizophren wie von einer Außenperspektive seines noumenalen Wesens im focus imaginarius gesehen und stehend. Das kantische Subjekt moralischer Handlung hierbei im Sinne der transzendentalen Apperzeption zu denken unter dem Hinweis, dass der »rheine Wille« letztlich ein »ich will« all meiner sittlichen Handlungen begleiten muss (so wie das »ich denke« all meine Erkenntnisse begleitet), entwertet die Spaltung nicht. Das »ich will« ist genau dasjenige, was das moralische Subjekt trotz und in seinem eigenen Gespalten-sein will. Nur aufgrund der Bejahung dieser Schizophrenie glaubt Kant, das moralisch Unbedingte in einer mit Naturkausalitäten durchdrungenen Welt verteidigen zu können gegen jeden eudämonistischen, pragmatischen oder kommunitaristischen Begriff des Lebens. Und er behauptet sogar, dass der Mensch in einer erzwungenen Wahl, die er getan haben wird, immer diese Gespalten246

Noch die moralischste Handlung kann pathologisch motiviert sein.

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

heit gewählt haben musste mit der unerträglichen Konsequenz, in jeder moralischen Zwangslage um der Ewigkeit eines Reichs der Zwecke willen – und nicht um der konkreten Lebenssituation willen – das Absolute zu wählen. Der ethische Mensch verbürgt die Anerkennung, kein Gott zu sein und doch so zu handeln, als hinge das Reich der Zwecke wirklich von ihm ab wie von einer singulär-universellen Instanz, die Gott als seinen einzigen Stellvertreter auf Erden hat. 247 Wollte man das Paradox einer solchen Autonomie in Heteronomie auf eine Formel bringen, so könnte man sagen: »Handle so, als ob alles von dir abhinge, in dem Wissen aber, dass in Wirklichkeit alles von Gott [als virtueller Idee, D. F.] abhängt«. Die Formel des »als ob« spiegelt Kants teleologische Urteilskraft. Denn tatsächlich muss der Mensch aus Pflicht so handeln, als ob das Reich der Zwecke nur von ihm abhängt, wobei Kant dann die Gottes-Idee wiederum als Garanten dieses Reiches vorbringt. Man könnte daher diesen sich an einen berühmten Ausspruch des Ignatius von Loyola anlehnenden Satz so auslegen, dass der Mensch demnach seine Spaltung akzeptieren muss (er hat eben keinen heiligen Willen) und dennoch aus dieser Nicht-Koinzidenz mit sich heraus so tun solle, »als ob« durch seine Handlung allein das Reich der Zwecke auch empirisch verwirklicht würde, als ob er eines heiligen Willens würdig und fähig wäre. Die Welt »erscheint« als reine Kausalkette. Gleichzeitig soll der Mensch glaubend so handeln, als käme ihm die Freiheit/Unbedingtheit Gottes zu. Er darf aber diesen Glauben nur als Motivationsvirtualität einer Unbedingtheit nehmen, die ihn zur Gesinnungsrevolution befähigt. Er darf sie nicht als objektiv bewiesen betrachten. Gleichzeitig darf er sie nicht nur als virtuell betrachten. Denn, so Kant, wer den Zielpunkt der Heiligkeit auch nur ein wenig relativieren wollte, z. B. in dem Sinne, dass dieser nur virtuell sei, der hätte das Gesetz »gänzlich abgewürdigt, indem man es sich als nachsichtlich (indulgent) und so unserer Behaglichkeit angemessen verkünstelt« (KpV, V, 122). Hat der Einzelne moralisch gehandelt aus seiner Gespaltenheit heraus, so darf er in dem von ihm mit der Motivationsvirtualität seiner Freiheit übersprungenen Hiatus zwischen Sein und Sollen retro247 In seiner Geschichtsphilosophie legt Kant nahe, dass der Mensch aus den Indizien eines Fortschritts in der Geschichte die Indizien herauslesen darf, dass es Gleichgesinnte gibt.

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Kants Tugendlehre

spektiv ein Indiz moralischen Handelns in der Welt sehen, aber eben nur ein Indiz. Er darf nicht prahlen, dass diese Handlung, die er da ausgeführt hat, wirklich frei gewesen sei. In diesem Sinne stellt das moralische Gesetz der Kritik der praktischen Vernunft keine Ethik der »intellektuellen Anschauung« vor, von wo aus die Freiheit des Menschen vermessen werden könnte. Kant betreibt gerade keine Innenschau. Von dieser anti-innerlichen und rein praktisch-vernünftig bleibenden Denknotwendigkeit aus projiziert die zweite Kritik auf bestimmte Handlungen in der Welt einen Indizien-Verweis. Dabei kommt Kant zu der Schlussfolgerung, dass es wahrhaft moralische Handlungen geben könnte, die es philosophiepraktisch geben muss.

Kants Tugendlehre Oftmals wird Kants Tugendlehre mit ihrem Fokus auf die »eigene Vervollkommnung« und die »fremde Glückseligkeit« als derjenige Theoriebereich der Kant’schen Ethik behandelt, dem es im Gegensatz zur Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft gelinge, die ethische Orientierung der Selbstbestimmung mit dem Bereich der Öffentlichkeit, dem Bereich der »äußeren Freiheit« zu verbinden. So wird in der Tugendlehre, wie Andrea Esser schreibt, »die allgemeine Struktur des praktischen Gesetzes […] unter den konkreten Bedingungen der menschlichen Existenz betrachtet: ihres körperlichen Daseins in Raum und Zeit, die Begrenztheit ihrer Fähigkeiten und der Tatsache, daß die Zwecke des Menschen nicht allein durch sein Denken, sondern auch von seinen fundamentalen Bedürfnissen bestimmt sind. Die zunächst formale allgemeine Struktur [der frühen Ethik Kants, D. F.] erhält dadurch eine konkrete Ausgestaltung in speziellen Prinzipen der Verwirklichung, den sogenannten ›Tugenden‹.« 248

Essers Interpretation hat wie mehrere Kantlektüren der letzten Jahrzehnte (vorgelegt von Wood, Nussbaum, O’Neill, Sherman) 249 zum

Esser, Eine Ethik für Endliche, 145. Vgl. Wood, Kant’s Ethical Thought; Martha Nussbaum, »Non-Relative Virtues. An Aristotelian Approach«, in: Midwest Studies in Philosophy, XIII (1988), 32–53; dies., Vom Nutzen der Moraltheorie für das Leben, Wien: Passagen Verlag 1997; dies., »Virtue Ethics: A Misleading Category?«, in: The Journal of Ethics 3, (1999), 163– 201; Onora O’Neill, Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens, Berlin: Akademie Verlag 1996; Nancy Sherman, Making a Ne248 249

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

Ziel, Kants frühe Ethik in seiner Tugendlehre indirekt aufzuheben oder so aufgehen zu lassen, dass ihre Entschärfung beim späten Werk Kants schon von Beginn an angelegt war. Maximen werden so für Esser zu »in unserem Handeln verwirklichten Strukturen«, 250 die sich in Beschreibungen von ihren empirischen Momenten her entziffern und aus ihrer individualmoralischen Abkapselung befreien lassen. Die intelligible Welt des unbedingt Moralischen erweist sich dabei als ein geltungstheoretisches Konstrukt. Kant erfuhr aber schon von Pistorius eine grundlegende Kritik an seiner Grundlegung, was ihn nicht davon abhielt, kurz darauf die Kritik der praktischen Vernunft und nicht die Tugend- oder Rechtslehre zu schreiben. Das kann man zumindest als einen Hinweis darauf lesen, dass sich der frühe kritische Kant der Radikalität seiner Position sicher war und sehr wohl eine (unüberwindbare?) Spannung zwischen den Sphären des Rechts, der Tugend und der Moral stehen lassen wollte, um der Unintegrierbarkeit des Ethischen in die Ethik willen. 251 Esser verweist z. B. darauf, dass die wiederholt an Kants Ethik kritisierte Rede vom ›Sollen, das ein Können impliziere‹ nicht den Unterschied zwischen Willensbestimmung und Handlung sehe. Die Willensbestimmung könne sehr wohl selbstbestimmend sein, während das konkrete Handeln als ein durch Umstände und Verwirklichungsmöglichkeiten bestimmtes Moment interpretiert werden müsse. Die Reinheit der Willensbestimmung wird beibehalten, indem die Handlung als ihr pragmatisches Korrektiv aus der Reinheit in den Bereich der »äußeren Freiheit« ausgelagert wird. 252 Was an der von cessity of Virtue: Aristotle and Kant on Virtue, Cambridge: Cambridge University Press 1997. 250 Esser, Eine Ethik für Endliche, 17. 251 Viele Studien sehen sich durch die Frage der Einheitlichkeit von Kants Ethik herausgefordert, die darin enthaltenen Spannungen durch eine genealogische Bestimmung der Rechtslehre im Verhältnis zu Kants Grundlagenschriften herauszustellen. Die Frage einer solchen Genealogie ist umstritten. Otfried Höffe vertritt die Meinung einer frühen Entstehung der Rechtsphilosophie Kants (vgl. Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin: Akademie Verlag 1999, 1–18). Dagegen stellen sich die Interpretationen von Reinhard Brandt (»Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft und Geschichte in Kants Rechtslehre«, in: ders. (Hg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin / New York: De Gruyter 1982, 233–285), Ralf Ludwig (Kategorischer Imperativ und Metaphysik der Sitten. Die Frage nach der Einheitlichkeit von Kants Ethik, Frankfurt/M.: Lang 1992, 161 f.) und die von Gerold Prauss (Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg: Alber 2008, 15 ff.). 252 Esser: »Viele Fälle sogenannter ›moralischer Dilemmata‹ entstehen durch eine Fehlinterpretation der Kantischen Fähigkeit zur Willensbestimmung. In der angel-

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Kants Tugendlehre

Kant in der Tugendlehre selbst eingeführten Unterscheidung zwischen Wille und Handlung problematisch bleibt, ist aber, dass der Wille im eigentlichen Sinne als schizophren zurückbleibt. 253 Denn wenn wir vom Willen der Grundlegung ausgehen, der sich in moralischen Grenzfragen und nicht in hypothetischen Zweckbeziehungen in seiner Freiheit bestimmt, dann müsste der Wille sich zweimal bestimmen: einmal als moralischer Wille und einmal als handelnder moralischer Wille. Wo aber bleibt der moralische Wille, wenn er vom pragmatisch-handelnden Willen seinerseits sozusagen sowieso immer pragmatisch relativiert wird? Der Wille weiß dann zwar, wie man richtig handeln solle und kann sich durch dieses Wissen vergewissern, schon auf dem Weg der Perfektionierung zur Heiligkeit zu sein, aber weil er pragmatisch handeln darf, kann er – so könnte man Esser interpretieren – das Sollen nun wiederum pragmatischen Gesichtspunkten unterordnen. Selbst wenn Esser völlig zu Recht darauf hinweist, dass »jeder Zeit« neue Umstände die Situation einer ethisch zu bewertenden Sachlage beeinträchtigen können, so heißt das nicht unbedingt, dass dann die Willensbestimmung eine andere ist als die Handlungsbestimmung. Es heißt, dass der ethisch Handelnde in den neuen Umständen genauso wie immer diese mitberücksichtigen muss in der ethischen Motivationsfindung seiner Handlung. Wenn ein Ertrinkender so weit im Meer ist, dass eine Rettung nicht mehr möglich ist, dann muss der ethische Wille des Subjekts nicht erst überlegen, ob dem Ertrinkenden zu Hilfe zu kommen ist oder nicht. Die Klugheitsregeln verbieten es auf jeden Fall. Das eigentlich interessante Motiv der frühen kantischen Ethik, das sich in einer paradoxalen, inferentialistisch nicht zu entschärfenden exzessiven Selbstbestimmung findet – eben in der Gesinnungsrevolution –, würde so aufgelöst. Auch Essers Behaupsächsischen Debatte drückt sich dies in dem Kant zugeschriebenen Gedanken aus, wonach gelten soll: ›ought implies can‹ – wobei das darin angesprochene ›Können‹ durchweg als Realisierungsfähigkeit des Handelnden aufgefasst wird. Nun können aber jederzeit empirische, aber nicht von dem Handelnden zu verantwortende bzw. zu ändernde Umstände eintreten, die es vereiteln, dass er seine moralische gute Absicht umsetzen kann. Dass dies kein ethisches Problem darstellt, lässt sich auf kantischer Grundlage in aller Deutlichkeit kenntlich machen« (Esser, Eine Ethik für Endliche, 144, Fußnote 14). 253 Christine Korsgaard betont beispielsweise in ihrem vielrezipierten Artikel »The Right to Lie: Kant on Dealing with Evil« (in: Philosophy and Public Affairs, Vol. 15, No. 4, 325–349), dass es bei Kant zwischen der Maxime einer Handlung und der Ausführung der Handlung keine Differenz gebe.

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

tung, dass der frühe kritische Kant mit seinem Gebot, dass das moralische Gebot um seiner selbst willen befolgt werden solle, auf keine konkreten moralischen Inhalte verweise, erscheint nicht unmittelbar nachvollziehbar. Kant gibt doch in seinen vier berühmten Beispielen der Grundlegung sehr konkrete inhaltliche Bestimmungen von Pflichten (Erhaltung des Lebens (GMS, IV, 421 f.), Glaubwürdigkeit (GMS, IV, 422), Kultivierung der Talente (GMS, IV, 422 f.), Hilfsbereitschaft (GMS, IV, 424)). Diese nur als Metaphern für ein geltungstheoretisches Konstrukt eines reinen Willens zu sehen, scheint Kant seiner Radikalität zu berauben. Denn dann hätte ja Kant auch gleich eine Diskurspragmatik schreiben können. Die linguistischen Fundamente sind ja, wie Zimmermann vollkommen richtig sagt, in seiner Kategorienlehre der Kritik der reinen Vernunft schon allpräsent. Esser muss so zwangsläufig den moralischen Willen als einen bestimmen, der je das ethische Problem im Kontext einer Realisierungsfähigkeit immer schon mitbestimmt. Esser versucht dieses Problem zu berücksichtigen, wenn sie im Verlauf ihres Buches sehr wohl auf Kants kategorischen Imperativ hinweist, der sich mit den Worten artikuliert »handle nur nach derjenigen Maxime …« (Grundlegung, IV, 421) und darauf feststellt, dass ein moralischer Wille ohne Handeln nur »leerer Wunsch« bleibe. Aber wenn sie wie zuvor auf Seite 144 das Handeln in je durch moderne Wissenschaften (Soziologie etc.) erweiterte Kontexte einbezieht, die dem Willen nach dem frühen kritischen Kant gerade nicht »Beweggründe« des moralischen Gesetzes sind, ist nicht klar, wie Esser die Einheit von Wille und Handlung noch bestimmt, ohne Kant zu einem Hegel avant la lettre zu deklarieren. Ebenso geht Esser leider nicht auf Kants Rechtslehre ein. 254 Dabei stellt sich hier noch einmal besonders die Frage der genauen Bestimmung von Moralität und Recht, von Innen und Außen bei Kant. Gerade dort wird deutlich, dass es Kant der Aufrechterhaltung seiner Theorie des Ethischen (und nicht seiner Theorie der Ethik) zuliebe gerade nicht gelingen darf, die beiden Sphären, die des öffentlichen Rechts und die der Moral, zu harmonisieren. Generell macht die Position von Esser sehr deutlich, wie Kants Ethik der Grundlegung mit Hilfe seiner Tugendlehre gerettet werden soll, wobei in 254 Zur Rechtlehre siehe Karl Heinz Ilting, »Gibt es eine kritische Ethik und Rechtsphilosophie Kants?«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 63, Nr. 3 (1981), 325–345.

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Zum Abschluss: Das gespaltene Subjekt moralischer Handlungstat

der Regel die eigentliche – von Kant wohl auch mit Bewusstsein hervorgehobene – Spannung zwischen seinem Theorem der »Gesinnungsrevolution« und seiner späten Tugendlehre aufgelöst wird. Die Theorie der Gesinnungsrevolution spielt in Essers Analyse leider kaum eine Rolle.

Zum Abschluss: Das gespaltene Subjekt moralischer Handlungstat und der Fall Rosa Parks 1955 Bemerke wohl, daß ich dir ein unmittelbares Bewußtsein des Aktes, als eines solchen, keinesweges anmute, sondern nur dies, daß, wenn du hinterher darüber nachdenkst, du findest, es müsse ein Akt sein. J. G. Fichte

Was Kants Ethik von einer inferentialistischen unterscheidet, ist das subjektive Moment, von dem aus das Allgemeine auf der Ebene des Besonderen artikuliert wird. Es kann daher, wie schon gesagt, in einzelnen Grenzsituationen letztlich nur auf das Subjekt selbst ankommen, zu artikulieren, was das Ethische sei. Die mit dem Legalen vertrauten Nächsten des unter exzessiver Subjektivität leidenden Einzelnen teilen dann diese Meinung eventuell (nur) deshalb nicht, weil ihnen der subjektive Entschluss fehlte, den das »talentierte« Subjekt – eine neue Situation provozierend (evtl. mit den Konsequenzen, auch die herrschenden Normen zu verletzen) – getroffen hat. Das Ethische entsteht hier performativ vor einem kognitiv-neutralen Entscheiden. Es ist an eine Evidenz gebunden, die sich weder eindeutig aus einer ›agent-neutralen‹ Beobachtung (»agent-neutral«) der ethisch-problematischen Ursprungssituation heraus ableiten lässt, noch einfach mit einer Theorie agent-relativer (»agent-relative«) Motivation verbunden werden kann. 255 Um es paradox auszudrücken: Es könnte gerade die spezifische Form der Desorientierung im inferentialistisch-Normativen sein, die idiomatische Art und Weise, wie ein Subjekt in der Welt die etablierte Sittlichkeit des Thomas Nagel unterscheidet prima facie zwischen objektiven und neutralen Gründen (»agent-neutral«), die als moralische für alle gelten, während subjektive, durch Selbstinteresse geleitete partikuläre Gründen (»agent-relative«) dies gerade nicht tun. Vgl. Thomas Nagel, The View from Nowhere, New York / Oxford: Oxford University Press 1989, Kapitel 9 (Ethics), 164–188.

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Legalen »verfehlt«, die sein inkommensurables Potenzial zur moralischen Handlung am meisten angeht. Und genau von dieser Erkenntnis aus werden Hegel und Lacan ihre Theorien von Rechtssubjektivität entwickeln. Die schon erwähnte Afroamerikanerin Rosa Louise Parks bewies – aus der heute weitverbreiteten Sicht – eine allgemein als moralisch beurteilte Handlung der Zivilcourage. 256 Auf die fiktive Frage, ob eine rassistisch motivierte Sitzplatz-Segregation als allgemeine Maxime einer moralischen Handlung gelten könne, gab ihr der kategorische Imperativ die Erkenntnis, dass eine rassistisch motivierte Sitzplatztrennung auf jeden Fall nicht verallgemeinerungsfähig sei. Aus diesem Grund sah sich Parks berechtigt, den eingenommenen Sitzplatz nicht für einen weißen Fahrgast frei zu machen. Parks tat so nicht, was die etablierte Sitte als den etablierten Rahmen der freien Platzwahl ansah: nämlich den Platz gemäß der Rassendifferenz zu wählen, so wie man Toiletten nach der »urinalen Segregation« (Lacan) unterscheidet. War Rosa Parks’ Handlung nun moralisch-beispielhaft oder provozierend-polemisch und den Sozialvertrag und den darin etablierten »gemeinen Willen« in Gefahr bringend, wie eventuell Kants Rechtslehre nahelegen würde? 257 Ihre Handlung als Gefahr für die öffentliche Ordnung und damit als Angriff auf den Sozialvertrag zu interpretieren, hieße davon auszugehen, dass Parks den kategori256 Es ist umstritten, inwiefern Parks’ Aktion geplant oder spontan war. Siehe beispielsweise Sean Dennis Cashman, African-Americans and the Quest for Civil Rights. 14900–1980, New York: New York University Press 1991, 124 ff. 257 Da für den Kant der Rechtslehre jeder Bürger an die rechtliche Autorität der äußeren Gesetzgebung als Verkörperung eines Gemeinwillens gebunden ist (egal wie mangelhaft dieser Gemeinwille in realiter verwirklicht ist), so ist anzunehmen, dass er Rosa Parks kein Recht zur Störung des etablierten Gemeinwillens zugesprochen hätte. Im Bereich der »äußeren«, »juridischen« Freiheit ist der Gesetzgeber als Repräsentant der Idee des gemeinen Willens nicht durch den selbstgesetzgebenden Willen des Einzelnen in Frage zu stellen. Kants Revolutionsverbot ist hier verankert. Der Gemeinwille verkörpert die moralisch-juridische Autorität par excellence. An dieser Stelle eröffnet sich die vielkommentierte Problematik der eigentlichen Verhältnisbestimmung von ethischer und juridischer Moralität nach Kant. Ich möchte hier nur auf zwei Texte verweisen: Bernd Ludwig, »Whence Public Right? The Role of Theoretical and Practical Reasoning in Kant’s Doctrine of Right«, in: Mark Timmons (Hg.), Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays, New York / Oxford: Oxford University Press 2002, 159–184. Siehe ebenso Marcus Willaschek, »Why the Doctrine of Right does not belong in the Metaphysics of Morals. On some Basic Distinctions in Kant’s Moral Philosophy«, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), 205–227.

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schen Imperativ – nehmen wir an, sie hätte sich seiner bedient – von einer falschen Prämisse aus konstruiert hätte. In diesem Fall hätte die Prämisse nämlich die Segregation schon ursprünglich als rassistisch interpretiert, nicht – wie die »urinale Segregation« – als eine pragmatisch strukturierte gelten lassen. So zerbrach Parks eine Praxis, die von vielen Beteiligten (wohl kaum von allen) zuvor nicht zwingend als explizit rassistisch angesehen wurde. Denn zwischen Sitzplätzen von Weißen und Schwarzen zu unterscheiden, kann so selbstverständlich und als ›das etablierte Gut‹ akzeptiert sein wie die Sitzplatz-Segregation in der jüdischen Synagoge noch heute ist. Ein Mann, der, nehmen wir an, neben Rosa Parks im für Weiße reservierten Sitzbereich gesessen hätte, hätte gegen Parks vorbringen können, dass sie die Sitzplatz-Differenzierung als rassistisch interpretiert. Sie sei jedoch nicht rassistisch gemeint, sondern pragmatisch. Die hier erwähnte Problematik soll akzentuieren, dass es in bestimmten Situationen ein Subjekt braucht, welches eventuell erst aufgrund einer spezifischen Form der Desorientierung moralisch handelt. Der frühe, kritische Kant scheint sich dessen trotz einer Spannung dieser Position zu seiner späten Rechtslehre bewusst gewesen zu sein, weshalb er das Ethische auf die Ebene des Subjekts zieht und nicht auf eine diskursive Begründungsebene vom Subjekt auf andere auslagert. Unbefriedigend bleibt jedoch trotz allem seine Haltung, wenn er die Einspruchs- und Rechtfertigungskraft des Ethischen an der Grenze der etablierten Ordnung zurücknimmt, was schließlich in das vielkommentierte Aufruhr- und Revolutionsverbot mündet. 258 Was Parks heraustreten lässt aus der Menge anderer Benutzer des öffentlichen Nahverkehrs in Alabama, ist ein Perspektivwechsel, eine ihr eigene Verzerrung der Wahrnehmung einer Situation. Im Sinne von Kants Gesinnungsrevolution verstehen wir diesen Akt als einen, der »commitments« und »entitlements« indirekt vorausging. Wir fassen ihn als einen Dezisionspunkt auf, als den Nicht-Ort einer Kant’schen Gesinnungsrevolution, wo eine neue Aspektwahrnehmung sich nun Siehe dazu Lewis W. Beck, »Kant and the Right of Revolution«, in: Journal of the History of Ideas, Vol. 32, No. 1 (1971), 411–422, hier: 419; Thomas E. Hill, »A Kantian Perspective on Political Violence«, in: ders., Respect, Pluralism and Justice, Oxford: Oxford University Press 2000, 200–236; Robert Spaemann, »Kants Kritik des Widerstandsrechts«, in: Zwi Batscha (Hg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, 347–358; Wolfgang Kersting, »Die Unrechtmäßigkeit von Widerstand und Revolution«, in: ders., Wohlgeordnete Freiheit: Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin / New York: De Gruyter 1983, 313–348.

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nachträglich nicht mehr bestimmten »commitments« entziehen kann. Geschichtliche »Aufarbeitungen« nach Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche stehen nicht selten für einen ähnlichen Umstand einer paradoxalen Verschränkung empirisch-variabler und scheinbar gleichzeitig transzendental-invariabler Normativität. Die kollektiv-verbürgte Virtualität des Brandom’schen Kontoführers zeigt sich z. B. in politischen Krisen des 20. Jahrhunderts. Vertreter des NS-Regimes oder Mitarbeiter der Staatssicherheit zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik sahen sich nach dem Wechsel im ›Überbau‹ von einem anderen »scorekeeper« beurteilt, von einem, von dem nun das neue Rechtssystem (als das siegreiche in der Genealogie der Normativität) ihnen aufwies, dass sie sich in einzelnen Fällen unter diesem immer auch schon zuzeiten des alten Regimes der DDR befanden. Das konstruktive Moment dieser Setzung (der Sieger) muss das eigene Rechtssystem (und die Setzungen, die ihm vorausgehen) strukturell abblenden. Zeithistorische Bedingungen unter denen wir einst als angeblich moralisch Gerechtfertigte gehandelt haben, können durch geschichtliche Umbrüche, wie Rosa Parks einen eingeleitet hat, neu umgeschrieben werden und überführen uns als Versagt-Habende. Der »scorekeeper« erscheint dann nahezu in der Maske eines cartesischen Betrügergottes, da er nachträglich etwas als vorgängig deklarieren kann, ohne dass der Angeklagte sich dessen entbinden bzw. ohne dass der Angeklagte sich selbst in diesen Prozess gleichmächtig einbinden kann. Kant thematisiert dies indirekt in seiner Metaphysik der Sitten, wo er die Verurteilung von Ludwig XVI. durch das Revolutionstribunal scharf als Selbstmord des gemeinen Willens, des Sozialvertrags interpretiert (MS, VI, 320). Gleichzeitig muss Kant jedoch eingestehen, dass nach einem Sturz des »gemeinen Willens« durch unerlaubten Aufruhr die neuen Machthaber sofort legitimiert sind als höchste Autorität des nun neu gegründeten Gemeinwillens. Die Aporetik menschlicher Subjektivität speist sich also in einem gewissen Sinne aus einem Ausgeliefertsein gegenüber einem überdeterminierten (enigmatischen) Bereich dessen, was immer auch Normativität schon gewesen ist oder noch – aus der Zukunft kommend – gewesen sein wird. 259 So setzt der Akt einer Rosa Parks als die 259 So mögen Bürger in stark konsumorientierten Industrieländern vielleicht schon ahnen, dass eine zukünftige Generation sie des Raubbaus an Naturressourcen für schuldig sprechen wird. Aber diese Ahnung eines zukünftigen Schuldspruchs mag

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Wahl der Aspektwahrnehmung (Wittgenstein), des Gesichtspunkts (Heidegger), der Gesinnungsrevolution (Kant) das Kriterium zur Unterscheidung von »commitments« und »entitlements« als eines, das erst retrospektiv die konkrete Situation der öffentlichen Beförderungsbedingungen moralisch beurteilen kann. Durch Parks’ Entscheidung, die inferentiell gerade nicht eindeutig herleitbar und durch eine objektive Dritte-Person-Perspektive (bzw., mit Thomas Nagel gesagt, »agent-neutral«) beschreibbar ist, offenbaren sich die Begründungsketten der etablierten Normativität der Sittlichkeit als nun nicht mehr hinnehmbar, weil (angeblich) rassistisch. Diese Interpretation wird gestützt von Terry Lovell, der mit Hilfe von Pierre Bourdieus Analysen zur Entstehung sozialer Klassen gegen Judith Butlers These von einer ›performativen Autorität des Sprechens‹ auf das kontingente Zusammenspiel eines solchen – soziale Irritation und Krisen auslösenden – Handelns mit bestimmten sozialen Umständen hinweist. 260 Erst ein kontingentes Zusammenspiel von einer Einzelaktion und einem Kontext, der diese zu einer sozialen Krise verstärkt, produziert retrospektiv die von Butler anvisierte Autorität. Das Autorität verkörpernde Subjekt muss für diese seine Autorität als letztlich nicht zurechnungsfähig erklärt werden. Lovell: »In other words, the authority of Rosa Park’s act was retrospective«. 261 Damit soll nicht ausgeschlossen sein, dass Parks nicht auch aufgrund bestimmter Argumente, Gerechtigkeitsintuitionen, aufgrund bestimmter Erfahrungen auch Handlungsgründe gehabt hätte, die Sitztrennung als rassistisch interpretieren zu können. Aber gerade weil die Sitztrennung nicht intrinsisch schon rassistisch ist, braucht es den Akt, der Parks Handlungsgründe plötzlich in einen neuen Kontext hineindrängt, der vorher noch nicht sichtbar sein muss. Das Subjekt schert aus der etablierten Praxis mit seiner Handlungstat aus und provoziert den Konflikt nun auch für alle sichtbar herauf, so wie man etwas ›heraufbeschwört‹. Viele Menschen zuvor hatten es nicht für nötig gehalten, diesen Akt zu vollziehen. Mit Wittgenstein hätten sie dann trotzdem so virtuell bleiben, dass er der Gesamtstruktur konsumorientierter Lebensverhältnisse in den Industrienationen nicht zu einer entsprechend radikalen Korrektur im Hier und Jetzt verhilft. Man ›ahnt‹, dann schuldig zu sein vor einem zukünftigen »scorekeeper«, ohne dass diese Ahnung das eigene Kontoführen wesentlich beeinflusst. 260 Vgl. Terry Lovell, »Resisting with Authority: Historical Specificity, Agency, and the Performative Self«, in: Theory, Culture, & Society, Vol. 20, No. 1 (2003), 1–17. 261 Lovell, »Resisting with Authority«, 10.

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sagen können: »So handeln wir eben« bzw. »so nehmen wir getrennte Sitzreihen in Kauf.« So handeln wir eben, bis vielleicht eines Tages ein Subjekt von einem Akt überkommen wird und nicht mehr so handelt und dann eben einen neuen Blickpunkt einzuführen riskiert. Gab es dann nicht immer schon Gründe für diesen Blickpunkt? Jein. Ja, denn es gibt sozusagen immer zahllose Gründe, eine politische Situation zu hinterfragen, wenn man sich erst einmal vom ›gesunden Menschenverstand‹ innerhalb dieser Situation entfernt hat; nein, denn die Praxis verdeutlicht als Praxis, dass es, empirisch nachweisbar, ›gelebte Gründe‹ der Beibehaltung gibt, denn sonst wäre ja anscheinend die Praxis nicht, was alle täten: performativ das etablierte Gut durch das, was »man so tut« zu sanktionieren. Die nicht zu leugnende Tatsache, dass Parks’ Handlungstat Mitauslöser war einer Menschenrechtsbewegung, kann dann so interpretiert werden, dass – mit Hegel gesprochen – der Volksgeist zur bloßen »Schale« geworden war, die einen »Kern« verbirgt (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 149). Aber es braucht eben – und das ist die Pointe, um die es hier geht – ein (kontingentes) Subjekt aus diesem Volksgeist, das diese Schale als leer performativ deklariert, d. h. einen neuen Blickpunkt gegen den Blickpunkt der Mehrheit auch wirklich setzt. Solange dies nicht als wirkliche »Tat« geschieht und von einer schönen Seele beispielsweise nur imaginiert wird, ist auch die »Schale« des Volksgeistes im strikten Sinne nicht »leer«. Oder: die Schale des Volksgeistes war dann eventuell für einige Monate leer, konnte sich dann aber wieder (z. B. durch reaktionäre Kräfte) in ihrer alten Gestalt neu verfestigen. Man kann so Rosa Parks’ Handlungstat auch im Sinne von Alain Badious Rede einer performativen Benennung des erst im Akt des Nennens entstehenden Wahrheits-›Referenten‹ verstehen. Badiou exemplifiziert diesen Gedanken in seinem Werk Das Sein und das Ereignis am Beispiel der Französischen Revolution. 262 Dort betont er den Umstand, dass die Rede von der Französischen Revolution auf eine Reihe von Ereignissen, Gesten, Handlungen und Worten rekurriert, die zwischen 1789 und 1794 stattgefunden haben. Aber die Fähigkeit, diese multiplen Fakten und Umstände als eine Einheit zu setzen, hängt von dem Moment ab, in dem die Revolution vertreten durch die Revolutionäre sich als Ereignis performativ sowohl generiert als auch deklariert. In einem analogen Sinne brauchte es Rosa Parks’ Akt, der aus bestimmten, scheinbar unter-repräsentierten Fak262

Vgl. Badiou, Das Sein und das Ereignis, 206 ff.

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ten und Umständen erst nahezu performativ diese als rassistische setzt. Anschließend kann mit moralischer Gewissheit dann auch gegen die Fakten gehandelt werden. Erst die performative Setzung, die die Wirklichkeit in einem durch ihren Akt evozierenden Repräsentationsrahmen zur Erscheinung bringt, lässt zeitgleich Wirklichkeit als performativ rassistisch deklarierte bedrängend und moralisches Handeln selbstevident werden. Mit der von Florian Klinger entfalteten Urteilstheorie und mit Hilfe seiner Rede von der »Jeweiligkeit« des Urteils könnte man sagen: Rosa Parks’ Denken und Urteilen der »Jeweiligkeit« führt gleichsam zu einem neuen, »kairotischen« Weltbild in der Umgebung von nun neu sich gruppierenden Fakten. Klinger beschreibt dies in seiner Urteilstheorie treffend als dezisionistischen Akt, wo Setzung und Anmessung zusammenfallen. 263 Rosa Parks’ Akt ist als formallogisches Prinzip einer Unterbrechung von inferentialistischen Ketten zu verstehen. So schafft der Akt, wenn er dann eines Tages seine Repräsentation im Bereich der Legalität erfährt, seine eigene Ursache. Durch den Akt erkannte Parks, so könnte man sagen, retroaktiv eine Vielzahl moralischer Gründe für ihre Handlung. Sie sah dadurch etwas, was andere Schwarze und Weiße, die Teil derselben Praxis waren, zuvor über Jahrzehnte eventuell nicht sehen konnten, weil der Akt ihnen fehlte, d. h. das Dezisionsmoment, welches den Blickpunkt als Bedingung moralischer Beurteilung in einer Gesinnungsrevolution erst erschafft. Generell beruht das, was Hegel als »Sittlichkeit« definiert, auf dem Funktionieren einer Praxis, mit Kant gesprochen, auf der Legalität als Ausdruck der Idee des gemeinen Willens (MS, VI, 214, 220). Sittlichkeit ist wesentlich – wie Hegel sehr nachvollziehbar in der Rechtsphilosophie nahelegt – von der Verdrängung des Moralischen abhängig, um überhaupt bestehen zu können. Dieser Verdrängungsprozess wird untermalt durch Verkennungsprozesse im Kontext von den von Robert Pfaller analysierten Interpassivität. 264 So suggeriert uns permanent die Praxis, dass sie – wenn schon nicht moralisch – so doch legal-sittlich ist. Die Praxis des Legalen ist eben für Kant die juridisch-moralische Idee des gemeinen Willens, unabhängig davon, wie mangelhaft sie konkret umgesetzt ist. Die Praxis des Legalen tendiert 263 »Setzung und Anmessung sind das Dass und das Was des Urteils« (Florian Klinger, Urteilen, Zürich / Berlin: Diaphanes 2011, 205). 264 Vgl. Pfaller, »Interpassivität«, in: ders., Die Illusionen der anderen, 25–46.

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aufgrund ihrer appellativ-ideologischen Grundstruktur, mit der sie Subjekte in ihre Hörigkeit zwingen muss, um als Sittlichkeit bestehen zu können, generell dazu, einen vorauseilenden Gehorsam bei ihren Untertanen zu produzieren. Und Untertanen braucht sie selbstverständlich. Gerade die Abhängigkeit des Einzelnen von Illusionen der anderen kann jedoch – und da liegt die Kehrseite der Sittlichkeit – dazu beitragen, dass alle an die rechtmäßige Praxis als »Idee des gemeinen Willens« glauben (vom demokratischen Rechtssystem bis zum Führer-Gehorsam), obwohl jeder ahnt, dass etwas mit der Übereinstimmung von Idee und Wirklichkeit nicht stimmt. Wer aber wirft nun sozusagen »den ersten Stein« und nimmt damit eventuell das erboste Urteil der anderen in Kauf, dass man sich anmaße, »ohne Sünde« zu sein? Wer riskiert es auszuscheren, wenn doch Vieles für Viele unter den herrschenden Rahmenbedingungen sehr gut läuft? Hat dieser die Garantie einer besseren Praxis etwa in der Tasche? Kann er die »brave new world«, die er verkündet, auch bezahlen? Rosa Parks’ Ausbruch aus dem Inferentiellen markiert und füllt gleichzeitig die Kluft zwischen dem etablierten Wissen und der Entscheidung. Ihre Handlungstat ist ein Ereignis, das treffend mit Heideggers Rede aus seinem Text »Vom Ereignis« als »Ent-scheidung, Ent-gegnung, […] Einzigkeit, Einsamkeit« 265 verstanden werden kann. Denn das etablierte Wissen sah für viele Menschen vor 1955 in der Segregation von Sitzplätzen wie gesagt nicht explizit den Beweis einer Vernachlässigung der etablierten »entitlements« und 265 Vgl. Martin Heidegger, »Vom Ereignis«, in: ders., Beiträge zur Philosophie, Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1989, § 267. Dem Ereignis entspricht für Heidegger eine eigene Grundlosigkeit, die wesentlich etwas mit dem zu tun hat, was er als Wesung bzw. Wesenheit des Ereignisses zu umschreiben versucht. Das Ereignis artikuliert eine Übergangsfigur zwischen Sein und Nichtsein. »Die volle Wesung des Seyns in der Wahrheit des Ereignisses läßt erkennen, daß das Seyn und nur das Seyn ist und daß das Seiende nicht ist« (»Vom Ereignis«, § 267, Nr. 4). Otto Pöggeler diagnostiziert das Motiv der Plötzlichkeit, der Entschlussmächtigkeit des Daseins bei Heidegger. Es präge dessen Faszination an »kairologischen Charakteren« im Gegensatz zu »chronologischen«. Das betrifft Heideggers frühe Freiburger Vorlesungen Phänomenologie des religiösen Lebens in Bezug auf Paulus. Aber auch seine Anmerkungen zu Augustinus, Luther, Kierkegaard sind von der Thematik betroffen. Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 60, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1995. Davon sind die ersten zwei Teile: »Einleitung in die Phänomenologie der Religion« (Wintersemester 1920/21) und »Augustinus und der Neuplatonismus« (Sommersemester 1921). Vgl. dazu ebenso Otto Pöggeler, »Sein als Ereignis«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 13, Nr. 4 (1959), 597–632.

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»commitments« gemäß der amerikanischen Verfassung. »Die Entgegnung ist der Ursprung des Streites. […] Die Er-eignung des Daseins läßt dieses inständig werden im Ungewöhnlichen gegenüber jeglichem Seienden.« 266 Folglich lässt die Freiheit der Entscheidung »als der abgründige Grund eine Not erstehen«. 267 Von Rosa Parks aus schien retrospektiv die Lücke auf, die sie durch die Performativität ihrer Handlungstat besetzt hatte. 268 (Ihr Akt machte performativ die »Schale« der Sittlichkeit hohl.) Ebenso könnte man im Bereich des Politischen sagen, dass sich im blutigen Verlauf der Französischen Revolution die historische Notwendigkeit des Übergangs zum Kaiserreich unter Napoleon Bonaparte ankündigt. Ein politischer Führer bzw. eine politische Gruppierung musste ja schließlich, so könnte man annehmen, ›das Chaos‹ der Jahre 1789– 1799 beenden. Man könnte sagen, die Französische Revolution benötigte eine Person wie Napoleon. Dass es sich bei dieser Person aber um Napoleon handelte, ist reiner Zufall. In dieser Beschreibung geht jedoch, worauf Žižek hinweist, immer noch die Notwendigkeit dem Zufall voraus. 269 Wie wir aber bei Hegel im folgenden Kapitel sehen werden, vollzieht sich dieser Prozess immer auch teilweise umgekehrt. Erst durch eine Machtübernahme Napoleons bzw. erst durch einen Akt wie denjenigen von Rosa Parks scheinen rückwirkend die Bedingungen vervollständigt zu werden, die ihn ermöglichten. So gesellt sich einer zeitlich-progressiven Ordnung immer auch eine transzendental-regressive Bewegung der Aneignung von geschichtlichen Ereignissen bei. In Bezug auf Napoleon: Erst durch das Auftreten des wirklichen Napoleon werden rückwirkend die Ereignisse auf desHeidegger, »Vom Ereignis«, § 267, Nr. 4. Heidegger, »Vom Ereignis«, § 267, Nr. 4. 268 Die Theorie exzessiver Subjektivität ist nicht als Ethik der »individuellen Besonderheit« misszuverstehen, wie sie unter anderem von Emmanuel Lévinas oder Jacques Derrida vertreten wird. Es geht ihr nicht darum, der Eigenart der einzelnen Person theoretisch Aufmerksamkeit zu schenken. Vgl. Jacques Derrida, »The Politics of Friendship«, in: Journal of Philosophy, Vol. 85, No. 11 (1988), 632–644; Emmanuel Lévinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien: Passagen Verlag 1992. Siehe auch: Simon Critchley, The Ethics of Deconstruction: Derrida and Levinas, Oxford: Blackwell Publishing 1992; Stephen K. White, Political Theory and Postmodernism, Cambridge: Cambridge University Press 1991; Richard Kearney, »Derrida and the Ethics of Dialogue«, in Philosophy and Social Criticism, Vol. 19, No. 1 (1993), 1–14. Konzepte wie »Freundschaft« (Derrida), »Antlitz« (Lévinas), »fürsorgende Gerechtigkeit« sind mit exzessiver Subjektivität nicht kombinierbar. 269 Vgl. Žižek, The Sublime Object of Ideology, 58 ff. 266 267

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Kant: Das gespaltene Subjekt ethischer Handlung

sen Machtübernahme hin gelesen. Das impliziert, es hätte auch anders kommen können. Und es impliziert gleichzeitig ein erschreckend hohes Maß an Kontingenz, das retrospektiv durch ein sich-durchgesetzt-habendes Individuum einen (scheinbar) virtuellen Raum von Notwendigkeit etabliert. Die Notwendigkeit erscheint als retroaktiver Effekt, der einen kontingenten Prozess im Nachhinein durch kommende Ereignisse im Sinne einer Kausalkette ›legitimiert‹. Notwendigkeit ist hier ein nachträglicher Effekt transzendental-regressiver Bedeutungsaneignung. 270 Das heißt, die Notwendigkeit selbst ist kontingent in der Form, dass sich die Bedeutung, die das Kontingente in ein Notwendiges umwandelt, eben nicht aus der Reihe der zufälligen Bedingungen selbst immer ersehen lässt, sondern, dass diese Bedingungen erst nach ihrem Setzen zu notwendigen Bedingungen dessen werden, was sie gesetzt haben. Exzessive Subjektivität erscheint als formallogisches Strukturmoment, wo Partikularität und Allgemeinheit in einer Gleichsetzung von Form und Inhalt darüber entscheiden, von welchem Gesinnungspunkt aus das Subjekt auf seine Umgebung schaut und dadurch neue Beurteilungen stattfinden lässt. Dieser Ort ist dem Subjekt unzugänglich. Dort erfährt es sich erst nach dem Akt stehend. Die AktEntscheidung ist eine Setzung von Prämissen vor Beurteilungen, nicht das Ergebnis von Beurteilungen. Das Beispiel soll den unsere ganze Arbeit durchziehenden Grundgedanken exzessiver und nicht inferentialistisch zu interpretierender Subjektivität gegen den oben erwähnten pragmatischen Kantianismus verdeutlichen. Der Fall Rosa Parks ist hier stellvertretend gewählt für Situationen, in denen der Brandom’sche »scorekeeper« sich nachträglich durch eine vom exzessiven Subjekt provozierte Setzung erst in seiner Verkörperung einer normativen Instanz erwiesen haben wird, die ohne das Subjekt ganz anders hätte als gerechtfertigt verstanden werden können: z. B. eben als polemische Fehlinterpretation eines Umstandes. Rosa Parks’ Handlung tauchte in einer symbolischen Kippsituation auf (bzw. evozierte sie). Sie führte dazu, dass sich durch ihre Provokation plötzlich eine Menschenrechtsbewegung in Gang setzte, die 270 Žižek fasst die Dialektik als die »Wissenschaft des ›Wie-die-Notwendigkeit-ausdem-Zufall hervorgeht‹« auf (vgl. Slavoj Žižek, Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosohie des deutschen Idealismus. Wien / Berlin: Turia & Kant 1992, 45).

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Zum Abschluss: Das gespaltene Subjekt moralischer Handlungstat

vielleicht ohne die Kontingenz dieses Ereignisses im Bundesstaat Alabama sich verpasst hätte. So holte Rosa Parks eine Kultur der Südstaaten hinüber auf ihre Seite der Perspektive, die eine parallaktische Lücke von der anderen Seite trennte und eventuell für zahlreiche Menschen nicht einmal als Lücke selbst wahrgenommen werden konnte. Rosa Parks’ Beispiel steht für eine Handlungstat, die den Brandom’schen »scorekeeper« zu einer Neuformatierung zwingt. Damit erreichte sie auf der Ebene des Partikulären eine Legalität zu durchbrechen und verkörperte Kants Verständnis der überdeterminierenden Kraft des Ethischen als Allgemeines.

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IV. Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

Die Krise besteht in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann. In diesem Interregnum erscheint eine große Vielfalt tödlicher Symptome. A. Gramsci

Der Philosophie Hegels wurde bekanntlich speziell im philosophischen Diskurs des 20. Jahrhunderts vorgeworfen, individuelle Subjektivität entmündigt zu haben. Besonders die späte Rechtsphilosophie stand für einen mit totalisierenden Universalisierungsmomenten ausgestatteten metaphysischen Weg zunehmender Normativität, an dessen Ende ein totalitärer anmutender Staat stand. Diese unter anderem auf Karl Popper zurückgehende Deutung von Hegel als Ziehvater des Totalitarismus findet sich bereits im 19. Jahrhundert beim späten Schelling und bei Kierkegaard angelegt. Gegen dieses Hegel-Bild hat sich im späten 20. Jahrhundert durch die Analysen von Pinkard, Pippin, McDowell, Taylor und Wood 271 im angelsächsischen Sprachraum und durch die Lektüren von Habermas, Henrich, Honneth, Hösle, Menke, Schnädelbach, Siep 272 et al. im deutschen Sprachraum ein neues und vielschichtigeres Hegel-Bild durchgesetzt. Eine Grunddichotomie bleibt aber auch in diesen divergierenden Interpretatio271 Terry Pinkard, Hegel’s Phenomenology: The Sociality of Reason, Cambridge: Cambridge University Press 1994; Pippin, Hegel’s Practical Philosophy; McDowell, Geist und Welt; Charles Taylor, Hegel, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983; Allen Wood, Hegel’s Ethical Thought, Cambridge: Cambridge University Press 1991. 272 Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968; Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971; Axel Honneth, Leiden an Unbestimmtheit: eine Reaktualisierung der Hegel’schen Rechtsphilosophie, Stuttgart: Reclam 2001; Vittorio Hösle, Hegels System, Hamburg: Meiner 1987; Menke, Tragödie im Sittlichen; Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; Ludwig Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

nen. Hegel wird dort wiederholt als Theoretiker des Sozialen, als Theoretiker dialektischer Anerkennungsstrukturen gewürdigt, aber er steht ebenso oft im Verdacht, nur eine unzureichend vermittelnde Lösung zwischen dem Freiheitsanspruch des Einzelnen und der Notwendigkeit des Staates, diese einzuschränken, entwickelt zu haben. Hegel müsse, so Habermas, individuelle Subjektivität opfern zugunsten seines Begriffs des Absoluten. 273 Für Habermas bleibt die Hegel’sche singuläre Subjektivität einer abstrakten absoluten Subjektivität untergeordnet. Ebenso schreibt Dieter Henrich: »Der einzelne Wille, den Hegel den subjektiven nennt, ist in die Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und überhaupt nur insofern gerechtfertigt, als diese selbst es sind.« 274 Die hier angesprochene Spannung innerhalb Hegels Werk ist tatsächlich offensichtlich. Denn wenn Hegel in seiner Rechtsphilosophie betont, dass die sittliche Substanz als intersubjektiv geteilte, normative Lebenswelt einer bestimmten Epoche und einer bestimmten Kultur ohne das Individuum nur ein »bloßes Abstractum« ist, (Rph nach Ilting, III, 501) 275 und die Sittlichkeit die Akzidenzien der »eitle[n] Form der Subjectivität« (Rph nach Ilting, III, 485) braucht, dann könnte man seine Philosophie als eine verstehen, die moralisches Gewissen und Sittlichkeit zusammendenkt. Wenn man jedoch analysiert, wie eine Individualität zu verstehen ist, wenn diese, wie Hegel ebenso schreibt, von Institutionen als »Substantialität des Individuums« und als »das allgemeine Wesen desselben [Individuums]« (ebd.) ausgedrückt wird, fragt man sich, was von derselben noch übrig bleibt. Auch ein Verweis wie derjenige von Ludwig Siep (gegen Ernst 273 In Der philosophische Diskurs der Moderne heißt es: »[A]ls absolutes Wissen nimmt diese Vernunft [in Hegels Philosophie des Geistes, D. F.] schließlich eine Gestalt an, die so überwältigend ist, daß sie das anfängliche Problem einer Selbstvergewisserung der Moderne nicht nur löst, sondern zu gut löst« (Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, 55). Und wenig später: »[…] im konkreten Allgemeinen behält deshalb das Subjekt als allgemeines Vorrang vor dem Subjekt als einzelnem« (ebd., 53). »Für die Sphäre der Sittlichkeit ergibt sich aus dieser Logik der Vorrang der höherstufigen Subjektivität des Staates vor der subjektiven Freiheit der Einzelnen« (ebd.). 274 Dieter Henrich, »Vernunft in Verwirklichung«, in: G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20, hrsg. von Dieter Henrich, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 53. 275 Georg W. F. Hegel, Philosophie des Rechts. Vorlesungsnachschrift H. G. Hotho, in: ders., Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 3, hrsg. von Karl Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1994.

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Tugendhats Hegel-Kritik) auf die theorieimmanente Bedingung der Möglichkeit von Freiheit in Hegels eigenem Sittlichkeitsverständnis löst das Problem nicht ganz. 276 Denn wenn Hegel nur eine Sittlichkeit als Allgemeinheit denkt, wo alle Individualwillen diese Sittlichkeit aus ihrer Freiheit und Selbstbestimmung auch wollten und anerkennten und deshalb die Freiheit der Individuen die Allgemeinheit der sittlich institutionalisierten ist, fragt man sich, was dieses in die empirische Welt transformierte Kant’sche »Reich der Zwecke« noch anderes ausdrücken soll als eine Utopie. Die gerade erwähnten Konflikte um das Hegel’sche Erbe spitzen sich auch im Kontext der Gewissens-Definition innerhalb der Rechtsphilosophie zu (§§ 129–140). Wenn z. B. ein Hegel-Interpret schreibt, dass »das Individuum nicht zu einseitig auf seinem inneren Gerichtshof beharren [darf], um ihn gegen die Sitten, Gesetze des Gemeinwesens auszuspielen«, 277 und das Gewissen nur dann ein gutes sei, wenn es die sittliche Gesinnung sich selbst zur Gewohnheit gemacht habe, dann bleibt die Frage offen, aus welcher Perspektive bestimmt wird, ob nun das Individuum zu einseitig auf seinem »inneren Gerichtshof« beharrt oder aber die ›sittliche Gewohnheit‹ der in einem Gemeinwesen Lebenden dies tut. Ist das Gewissen des Einzelnen deswegen mit größerer Selbstverständlichkeit der Verblendung zu überführen, weil die Sittlichkeit des Gemeinwesens das Vorrecht besitzt, zu definieren was vernünftig ist? 278 Das scheint Siep zu behaupten, wenn er über Hegels Vernunft- und Geist-Kapitel der Phänomenologie schreibt, in der dort verhandelten Thematik des »Gewissens« müsse der »Gewissenstäter […] anerkennen, daß seine Entscheidungen als Interpretationen der allgemein anerkannten Gesetze, Werte und Einrichtungen erkennbar sein müssen. Das setzt zuerst einmal ein hinreichendes Verständnis der inneren Logik und der Geschichte einer moralischen Kultur voraus.« 279 Vgl. Siep, »Kehraus mit Hegel?«, 522 ff. Zhi-Hue Wang, Freiheit und Sittlichkeit, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 194. 278 Zur Genealogie des »Gewissens« von einer übernatürlichen Strafinstanz über Kants »Achtung vor dem Gesetz« bis zum Über-Ich, siehe Heinz Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/M.: Insel Verlag 1991. 279 Siep, »Hegel über Moralität und Wirklichkeit. Prolegomena zu einer Auseinandersetzung zwischen Hegel und der Realismusdebatte in der modernen Metaethik«, in: Hegel-Studien, Bd. 42 (2007), 11–30, hier: 18. 276 277

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Ebenso erwähnt Siep an gleicher Stelle, dass Hegel im Vernunft-Kapitel der Phänomenologie auf »Gewissenstäter« eingeht, aber sie als Utopisten und Menschheitsbeglücker kritisiert. 280 Und so konstatiert er, dass das Gewissen eingestehen muss, inwiefern »es sich in seiner subjektiven Gewißheit irren kann.« 281 Aber was ist, wenn es sich nicht irrt? Oder präziser gefragt: Woher kommen die Kriterien der Beurteilung, ob das Gewissen sich utopistisch verirrt hat oder ob es nicht vielmehr die Sittlichkeit als Gesamtheit kollektiv-verinnerlichter Normen der Gemeinschaft ist, die sich durch kooperativ abgesicherte Verblendungen im Irrtum befindet? Ist es die Sittlichkeit, die hier per definitionem darüber entscheidet, nach welchen Prämissen das partikuläre Gewissen des Einzelnen entweder als gut oder böse (paranoid) ausgelegt wird? Wenn dies der Fall ist, dann ist nicht einzusehen, wie Tugendhats Kritik von Siep widerlegt worden ist. Wenn dies nur mit dem Hinweis getan wird, Sittlichkeit sei Partikularität allumfassend, d. h. Legalität und Moralität in einem und sie könne daher nicht als Partikularität vernichtende oder Partikularität bedrohende Größe verstanden werden, dann sagt man nur – die eigentliche Spannung zwischen partikulärer Überzeugung (Moralität) und kollektiv gelebter Normativität (Legalität) verneinend –, Sittlichkeit könne gar nicht unmoralisch sein, da beide Momente, Legalität und Moralität, in ihr schon vereint wären. Hegels Analytik des Gewissens, auf die wir später in seiner Sokrates-Interpretation ausführlicher eingehen werden, ist hier wertvoll für unsere Auslegung einer Theorie exzessiver Subjektivität nach Hegel, da sich der Autor der Phänomenologie mit seiner Theorie des Gewissens gegen eine Ethik des moralischen Urteils in der kantischen Tradition stellt, wie auch gegen einen konsensorientierten Universalismus gegenseitiger Anerkennung. Während traditionelle Ethiken andeuten, dass der Einzelne hineingezogen wird in einen Raum 280 Siep: »Dagegen verstoßen nach Hegel die Utopisten und Menschheitsbeglücker, die er im praktischen Teil des Vernunftkapitels der Phänomenologie kritisiert« (»Hegel über Moralität und Wirklichkeit«, 18). Charles Taylor schreibt »Das entscheidende Merkmal der ›Sittlichkeit‹ besteht darin, daß sie uns vorschreibt, hervorzubringen, was bereits besteht. Das klingt paradox, aber tatsächlich ist das gemeinschaftliche Leben, das die Grundlage meiner ›sittlichen‹ Pflichten bildet, bereits vorhanden. Weil es ein immerwährender Zustand ist, habe ich diese Pflichten und indem ich sie erfülle, erhalte ich es. In der ›Sittlichkeit‹ gibt es folglich keine Kluft zwischen dem, was sein sollte, und dem, was ist, zwischen ›Sollen‹ und ›Sein‹« (Taylor, Hegel, 492 f.). 281 Siep, »Hegel über Moralität und Wirklichkeit«, 19.

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der Vernunft, der wesentlich durch das verbürgte Nehmen und Geben von Gründen innerhalb eines Gemeinwesens bestimmt ist, heißt es bei einzelnen Beispielen, auf die Hegel sein Augenmerk richtet, dass diejenigen, die für den Raum des Nehmens und Gebens von Gründen stehen, auch zum exzessiven – jenseitig sich zu diesem Raum positionierenden – Subjekt ›hinbefohlen‹ werden können. Wie könnte sonst überhaupt dem Gewissen die – Hegel bei aller Kritik weiterhin faszinierende – Eigenschaft zukommen, ein »Heiliges« (Rph, Bd. 7, § 137) zu sein, wenn per se der Bereich der Sittlichkeit immer schon die eigentlich »heilige« Beurteilungsinstanz des Gewissens wäre? Ist die Mehrheit eines Gemeinwesens der Verblendung weniger anfällig, weil diejenigen, die diese Mehrheit bilden, sich gegenseitig Vernünftigkeit durch die Macht der etablierten »Kontoführungen« (Brandom) und den darin abgeblendeten Prämissen zusprechen? Es ist genau zu untersuchen, ob Hegel das so sieht. Siep scheint in seiner Hegel-Auslegung dies nahezulegen. Daher weist er dem Gewissen auch nur eine der Sittlichkeit untergeordnete Rolle zu. Dass sich umgekehrt aber der Bereich der Sittlichkeit dem Gewissen unterordnen könnte, scheint ihm dagegen die anzunehmende und nicht zu unterschätzende Gefahr einer gesetzlosen Setzung zu verkörpern. Wir wollen dagegen zeigen, dass Siep hier stellvertretend für weit verbreitete Auslegungen Hegels (als eines Theoretikers paradoxloser und unverzerrter Anerkennungsstrukturen) eine von Hegel bewusst provozierte Spannung vernachlässigt. Die dabei aufgerissenen Fragen im Widerstreit zwischen etablierten, sich in Praktiken als legitim erweisenden Normen und partikulären im Grenzbereich der Illegalität sich ansiedelnden Überzeugungen haben seit mehreren Jahren politische Bedeutung bekommen. Autoren wie Alain Badiou, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, und Slavoj Žižek, aber auch Robert Brandom verweisen in sehr voneinander sich absetzenden Theorierahmen auf den Umstand, dass der inferentialistische Bereich etablierter Normativität nicht davor geschützt ist, selbst in einem fundamentalen Irrtum befangen zu sein. 282 Und diese These ist nach den

282 Vgl. Alain Badiou, The Rational Kernel of the Hegelian Dialectic, Melbourne: repress 2011; Ernesto Laclau / Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics, London / New York: Verso 2001; Slavoj Žižek, Tarrying with the Negative: Kant, Hegel, and the Critique of Ideology, Durham: Duke University Press 1993; Brandom, Reason in Philosophy.

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Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht schwer nachvollziehbar. Wenn dies aber so ist, dann mag vielleicht das Gewissen als partikularer Einspruch gegenüber der Sittlichkeit diese vielleicht wirklich von ihrem Irrtum befreien. Siep gesteht ein, dass der Bestimmungsort eines »abweichenden Gewissens« in der Rechtsphilosophie schwer einzusehen ist. Er zählt Situationen auf, in denen das »abweichende Gewissen« nach Hegel doch honoriert wird: im Begnadigungsrecht des Fürsten, im leidenschaftlichen Ausüben sozialer Rollen statt totem Gehorsam, im Revolutionär (der in weltgeschichtlicher Perspektive die nächste Stufe der Verfassungsentwicklung herbeiführt), in der Pflicht zur inneren Emigration. 283 Aber Sieps Interpretation – so sehr sie unserer verwandt zu sein scheint – geht an einer Stelle mit der hier vorgelegten nicht zusammen. Er denkt z. B. den Revolutionär nur von einer zukünftigen Stufe des Weltgeistes her, als sei diese Stufe schon vor ihrem Auftreten eine Potenzialität. Der Weltgeist ist für Hegel jedoch wesentlich nachträglich, was er vorgängig war. 284 Siep fragt nicht, wie es möglich ist, den Revolutionär zu denken oder aus welcher Struktur einer retrospektiven Beglaubigung er auftritt. Entscheidende Fragen, die sich aus Hegels Genealogie des Selbstbewusstseins ergeben als eines, das durch Brüche, Kontingenz, Nicht-Koinzidentien, Revolutionen und verpasste Chancen fortschreitet, werden nicht oder zu selten analysiert. Sieps Fazit ist daher unbefriedigend, wenn er schreibt, Hegel habe angeblich die Spannung »im modernen europäischen Staat im Wesentlichen als überwunden angesehen.« 285 War Hegel so arglos? Auch für Juliane Rebentisch ist Hegel auf nicht unerhebliche Weise der Totalitätsdenker der Sittlichkeit, der eine Marginalisierung des Einzelfalls mit in Kauf nimmt. »Die subjektive Freiheit scheint hier lediglich in dem Maße in der Sittlichkeit zugelassen zu sein, wie diese sich mit dem Bestehenden identifiziert.« 286 Rebentisch stellt Vgl. Siep, »Hegel über Moralität und Wirklichkeit«, 19. Weltgeist ist für Hegel definiert als die Genealogie der Wahrheit und Bestimmtheit in dem, was er Begriff nennt. Es sind die selbstreflexiven Momente innerhalb des Werdeprozesses des Weltgeistes, durch die sich der Weltgeist hin zu seinem Grund definiert. Der Begriff als Prozess seiner nachträglichen Selbstlegitimierung artikuliert das unaufhörliche Kontinuum seiner selbst, wobei er eine Einheit von Notwendigkeit, Kontingenz und Wirklichkeit generiert. 285 Siep, »Hegel über Moralität und Wirklichkeit«, 19. 286 Rebentisch, Die Kunst der Freiheit, 103. 283 284

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dementgegen ein Verständnis von letztlich diskursethischer Intersubjektivität. Diese ist nach ihrer Meinung am besten von der romantischen Ironie als Ausdruck selbstreflexiver Freiheit artikuliert. Dieser Aspekt romantischer Ironie sei Hegel in seiner Romantik-Kritik verborgen geblieben. 287 Von hier aus entfaltet Rebentisch den Vorwurf, Hegel verdränge die subjektive Freiheit aus der Sittlichkeit. 288 Zur Verteidigung Hegels könnte man angeben, dass Hegels Verständnis des Allgemeinen (Objektivität, Sittlichkeit, Staat) dazu führt, die dialektische Einbeziehung des Besonderen ins Allgemeine so zu überführen, dass das Allgemeine sich selbst besondert. Aber beim Blick auf die Geschichte ist nicht einsichtig, was für ein Staat das sein soll, bzw. wo es einen solchen quasi sich in Partikularitäten besondernden und zeitgleich das Allgemeine antagonismusfrei verkörpernden Staat auch nur im Ansatz gäbe. Politische Ordnung konstituiert sich, wie die Politologie, Soziologie und die Systemtheorie zeigen, in der empirischen Welt immer durch Abgrenzung, Verdrängung, Abblendung und Ausschluss, sowohl nach innen innerhalb ihrer eigenen Setzungen (Gesetzestreue als Treue gegenüber dem, was »gesetzt ist«) als auch nach außen im Verhältnis zu anderen Gemeinwesen, von denen es sich zu unterscheiden gilt. Ein Allgemeines,

287 Rebentisch sieht in der romantischen Ironie die Möglichkeit, ein selbstreflexives Allgemeines zu denken, ein Allgemeines, das sich immer wieder auf Partikuläres hin öffnet. Aber sie verweist darauf, dass dieses Sich-Öffnen des Allgemeinen wesentlich ein dialogischer Prozess ist, eine »intersubjektive Wahrheitspraxis« (Rebentisch, Die Kunst der Freiheit, 139). Sie spricht zwar auch von einem »politischen Kampf« (ebd., 140), aber wesentlich ist eigentlich nicht der Kampf, sondern der Dialog. Damit sind wir wieder beim eigentlichen Problem angelangt. Rebentisch zufolge entdecken die Romantiker die Bedeutung der intersubjektiv geteilten Welt- und Selbstverständnisse (vgl. ebd., 141) als etwas, das sowohl dem moralischen Diskurs vorausgeht als ihn auch als Ziel annimmt. Ihr Fazit ist der Verweis auf eine »reflexive Sittlichkeit«. Rebentisch: »Eine solche Sittlichkeit wäre in dem Maße modern zu nennen, wie die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem nicht nur – qua sozialer Praxis – als immer schon gegeben vorausgesetzt werden kann, sondern dieser Praxis zugleich aufgegeben bleibt« (ebd.). Rebentischs These lautet, Hegel sei dieser Aspekt der romantischen Ironie verborgen geblieben. 288 Hegel über die Marginalisierung des Einzelfalls: »An sich ist eine Inkonsequenz darin, Beschränktes als ein Absolutes gelten zu lassen, aber sie wird von dem sittlichen Menschen bewußtlos verbessert, und diese Verbesserung liegt in dem Sittlichen des Subjekts, in dem Ganzen des Zusammenlebens. Es kann zwar Extreme von Kollisionen geben, die unglücklich sind; sie sind aber ungewöhnlich seltene Fälle« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 477).

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das sich als ein Sich-absolut-Besonderndes ausgestaltet, verweist höchstens auf ein regulatives Ideal. In dem Buch Das Recht der Freiheit legt vor dem gerade aufgerissenen Problemhorizont Axel Honneth Hegel als reichhaltigen Theoretiker des Sozialen aus. Er zeigt, wie Hegel Normen nicht in der Tradition Kants a priori zu deduzieren versucht, sondern sie aus den sozialen Praktiken und Reproduktionsbedingungen herleitet. 289 Gegen einen normativen Individualismus entwirft Honneth ein Konzept sozialer Freiheit, in der der Mensch Selbstbestimmung nur in Gemeinschaft vollziehen kann. Er schreibt damit eine Hegel-Lektüre fort, die auch durch die im ersten Kapitel zu Kant bereits erwähnten Neo-Pragmatisten der Pittsburgh School vertreten wird. John McDowell stellt sich der Problematik ethischer Handlung im Kontext seines Konzeptes von der »zweiten Natur«. Ausgehend von Kants Theorie, dass das Ich in der Spontaneität frei ist, will McDowell ähnlich wie Hegel, aber mit einer apriorischen Epistemologie, eine Freiheit des Subjekts denken, die nicht erst mit dem Urteilen über Sachverhalte beginnt, sondern sich schon auf der Ebene der Anschauungen beweist. 290 Mit dieser Theorie versucht McDowell eine Verbindung zwischen apriorischer Normativität im Sinne Kants und aposteriorischer Normativität im Sinne Hegels zu etablieren. 291 289 Vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit. Besonders zu den Themen sozialer Freiheit, Familie und marktwirtschaftlichem Handeln ist Hegel für Honneth immer wieder eine wichtige Quelle (Kap. 3). 290 Vgl. McDowell, Geist und Welt, darin besonders die Vorlesungen III und IV. 291 In seinem Artikel »Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang« widerspricht McDowell der Vorstellung, dass »jeder wirkliche Zugriff auf das, was ein Grund für etwas ist, eine historisch situierte Errungenschaft ist« (John McDowell, »Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang«, in: Christoph Halbig / Michael Quante / Ludwig Siep (Hg.), Hegels Erbe und die theoretische Philosophie der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, 184–208, hier: 206). Er sieht die Philosophie vor dem Dilemma stehend, zwischen einer ersten (materiellen) und zweiten (geistigen) Natur dualistisch unterscheiden zu müssen, und er sagt, dass man Hegel leicht eine Exklusivität der »zweiten« (geistigen) Natur zuschreiben kann. Bei ihm ist im Gegensatz zu Kant ein historisch-vermitteltes sittliches Sein zentral. McDowell ist diese Hegel’sche Position zu relativistisch. Es gibt eine andere Art von Normativität, die nach seiner Meinung auf der Ebene der Anschauung selbst schon wirksam ist. Für McDowell ist die These von einer Normativität auf der Ebene der Anschauung gerade nicht, wie man annehmen könnte, Argument eines Idealismus in dem Sinne, dass der Mensch die Welt auf der Ebene der Spontaneität in Freiheit erschafft. Er möchte nahelegen, dass die Außenwelt sich selbst schon auf Anschauungsebene kategorial dem menschlichen Verstand sozusagen als rationale aufdrängt. Normativität ist nicht

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Die beiden zuletzt erwähnten, teils jüngeren Hegel-Rezeptionen von Honneth und McDowell bestätigen wie die zuvor genannten, dass eine im Kontext von Normativitätsmodellen entwickelte Entfaltung von Hegel als Theoretiker von Freiheit als Selbstbestimmung in Gemeinschaft oftmals zu einer Vernachlässigung exzessiver Subjektivität führt. Denn diese Subjektivität, wie wir sie an Antigone und Sokrates aufweisen werden, kann nicht mehr unmittelbar aus einer Freiheit als Selbstbestimmung in Gemeinschaft gedacht werden. Die Theorie exzessiver Subjektivität scheint daher sowohl mit den Theorierahmen von primär a priori ausgerichteten Ethiktraditionen (Habermas, Rawls, teilweise McDowell) als auch mit den primär a posteriori ausgerichteten Ethik-Modellen (Siep, Honneth, Pippin) 292 unvereinbar. In diesen Traditionen wird von einer partikulären Subjektivität ausgegangen, die dem Bereich des Sozialen eingeschrieben ist. Subjektivität heißt hier mehr oder weniger Verantwortlichkeit in einem inferentialistischen Netz von direkten oder indirekten Rechtfertigungsnormen. Ob nun diese Normen im Sinne Kants a priori bestehen oder aus sozialen Prozessen a posteriori emanieren, ist bei einer Analyse exzessiver Subjektivität aber sekundär, da hier Normativität als etwas aus einem solipsistischen Insistieren Emergie-

nur transzendentale Bedingung von Erkenntnis und Sprache, sondern schon auf vorprädikativer Ebene immer am Werk. McDowell erweitert den Vernunftraum (leider nur durch eine Verschiebung der traditionellen Dualismen) so weit über die Urteilskraft des Menschen hinaus, dass man sich fragen kann, inwiefern er sich vom Idealismus Hegels noch unterscheidet. Für eine kritische Auseinandersetzung mit McDowell, siehe: Mischa Gubeljic / Simone Link / Patric Müller, »Nature and Second Nature in McDowell’s ›Mind and World‹«, in: Marcus Willaschek (Hg.), John McDowell. Reason and Nature. Lecture and Colloquium in Münster 1999, Münster: LIT Verlag 2000, 41–49. 292 Siehe Pippin, Hegel’s Practical Philosophy. Pippin bindet die Freiheit der Individuen an institutionelle und soziale Bedingungen und behauptet gegen Habermas, Theunissen und Hösle, dass auch der späte Hegel seine Theorie sozialer Anerkennung nicht aufgegeben habe. Ein Subjekt muss zu seinen eigenen freien Handlungen ein Verhältnis haben, das im Kern durch ein Verstehen sozialer Verhältnisse mitbedingt ist. Selbst Neigungen, die eine Handlung motivieren, müssen sich als potenziell erklärbare ausweisen können und ein »giving of and asking for reasons« (ebd., 24) implizieren. Hegels Freiheitsbegriff liege im Begriff der Verantwortung begründet. Eine ähnliche These vertritt Gillian Rose, Hegel Contra Sociology, London: Athlone Press 1981. Sie interpretiert Hegel als einen proto-marxistischen Gesellschaftsanalytiker, dessen Begriff des Absoluten die selbstreflexive Hinterfragung bürgerlich-ökonomischer Wirtschaftsprämissen beinhaltet und so den Weg zu einer immer gerechteren Gesellschaft eröffnet.

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rendes gedacht wird, mit dem Effekt, dass es sich nachträglich als das rechtmäßig Gewesene legitimiert haben wird. Die Analyse genau dieses Sachverhaltes kann weder im abwegigen Hegel-Bild, das ihn als Totalitätsdenker präsentiert, aufgelöst werden, noch im moderneren, besonders im Kontext liberaldemokratischer, westlicher Gesellschaften entstandenen Hegel-Bild, das ihn exklusiv als Theoretiker des Sozialen zeigt. In den wiederholten Bezügen Hegels zu den politischen Schicksalen von Antigone und Sokrates wollen wir beispielhaft einen Ausweg aus dieser Spannung innerhalb der Hegel’schen praktischen Philosophie hervorheben. In Anlehnung an die Interpretation Ido Geigers 293 soll verdeutlicht werden, wie Hegel das individualmoralische Theorem der kantischen Gesinnungsrevolution zu einer Theorie der Gesinnungsrevolution für den Bereich des Politischen umformuliert. 294 Hegel dient dabei die In-Szene-Setzung Antigones in der Phänomenologie am Ende des Vernunft- ebenso wie zu Beginn des Geist-Kapitels dazu, die Tochter des Ödipus als eine aus der Heroenwelt heraustretende und als modern politisch handelnde Figur zu etablieren, deren Tat den »Geist« der griechischen Sittlichkeit zum Zerfallen in seine Momente bringt. Antigone handelt bis zu einem gewissen Grade ihres unreflektierten Begehrens nach einer anderen (politischen) Wirklichkeit unbewusst für eine erst zu erwartende Polis. Die Veränderungen, die sie provoziert, vollziehen sich retrospektiv aus der Tragik, in deren Mittelpunkt sie als ›verschwindende Vermittlerin‹ steht. Ihr mangelndes Bewusstseins gegenüber dem geschichtlichen Prozess, den sie selbst auslöst, ist teilweise charakteristisch für ein in die Zukunft gerichtetes Standard-gewesen-Sein des ethischen Akts selbst im Bereich des Politischen. Und es ist unverkennbar, dass darin Antigones bis heute anhaltende, sowohl Theorien des Politischen wie auch Philosophien des Ethischen irritierende Modernität liegt. 295 Antigone verkörpert einen unnachgiebigen, nahezu Vgl. Geiger, The Founding Act of Modern Ethical Life, 50–70. Geiger vernachlässigt diese Spannung zwischen gesellschaftlich-struktureller und individualmoralischer Gespaltenheit in seiner Studie und fokussiert stattdessen besonders auf Hegels Ausführungen zum Krieg. Vgl. Geiger, The Founding Act of Modern Ethical Life, 94–139. 295 Hegels Antigone ist in den letzten Jahren immer wieder (erneut) Gegenstand verschiedener Analysen gewesen. Dazu gehört Otto Pöggelers Buch Schicksal und Geschichte: Antigone im Spiegel der Deutungen und Gestaltungen seit Hegel und Hölderlin, München: Wilhelm Fink 2004. Im Kontext postmoderner Diskussionen siehe 293 294

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pathologischen Willen zur Pflicht (ihrer Pflicht), den sie nicht durch Verhandlungen mit der Polis inferentialistisch relativieren oder in ein Austauschverhältnis verschiedener auszuhandelnder Interessen bringen kann. Ihre Infragestellung bestimmter Normen der Polis und das Insistieren ihres politischen Begehrens stehen für ein Sprechen jenseits der Parameter etablierten, im Licht »des Tages und der Kraft« (PhG, Bd. 3, 351) stehenden Rechtsverstehens. Statt die stark sich in Wiederholungen ergehenden Begriffsbestimmungen von Gewissen, Moralität und Sittlichkeit in der Hegel-Literatur weiterzutreiben, wollen wir auf diejenigen Stellen unsere Aufmerksamkeit richten, an denen Hegel ganz explizit »eitle Form[en] der Subjectivität« (Rph nach Ilting, III, 485) vorstellt. Was Antigone auszeichnet, betrifft daher auch Hegels Interpretation des Sokrates. An dessen »Tragik« verfolgt er den Einbruch einer Normativität in den Raum des »gesunden Menschenverstandes« der griechischen Kultur. Und es ist besonders Sokrates’ »Gewissen«, welches sich als eine immer schon rechtmäßig-gewesene Größe nachträglicher Normativität legitimieren wird. 296 den Band von Stephen E. Wilmer / Audrone Zukauskaite (Hg.), Interrogating Antigone in Postmodern Philosophy and Criticism, Oxford: Oxford University Press 2010. Ebenso ist sie zentrale Figur und Leitbild zahlreicher feministischer Debatten. Herausragend sind hier: Judith Butler, Antigone’s Claim. Kinship between Life and Death, New York: Columbia University Press 2007; Philip J. Kain, »Hegel, Antigone and Women«, in: The Owl of Minerva, Vol. 33, No. 2 (2002), 157–177; Christine Battersby, Phenomenal Woman: Feminist Metaphysics and the Patterns of Identity, New York: Blackwell Publishing 1998, speziell: 103–124. 296 Hegels sogenannte und vielkommentierte »welthistorische Individuen« scheinen nicht direkt in die uns hier interessierende exzessive Subjektivität einzugehen. Welthistorische Individuen werden von Hegel oftmals als führende charismatische Persönlichkeiten beschrieben, die mit politischer Macht ausgestattet sind. Zumindest nach Hegels Geschichtsphilosophie kündigt sich in ihnen besonders in Epochen des Umbruchs das »wahre Verhältnis des Individuums zu seiner allgemeinen Substanz« an (Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I: Die Vernunft in der Geschichte, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 1994, 90 f.). Hegel scheint in ihnen eine tatkräftige Individualität zu denken, die das sittliche Gemeinwesen in ihrer Gewissheit erschüttern könne. Er nennt sie die »Einsichtigen« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 46). In der Enzyklopädie erwähnt Hegel, dass Umbrüche von welthistorischer Bedeutung das »Werk Einzelner« sind (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 551). Alexander, Cäsar und Napoleon: Diese Einzelnen sind »Organe« des »substanziellen Geistes« (Philosophie der Weltgeschichte, 98). Die Faktizität des Sittlichen wird von ihnen durchbrochen, wobei es ihnen als »Seelenführer[n]« gelingt (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 46), das Bewusstsein der Freiheit auch gegen das faktisch etablierte Freiheitsbewusstsein und gegen den Willen der Hauptrepräsentanten der überholten

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Hegel gegen Kant?

Wie schon eingangs erwähnt, gehen wir von der Überzeugung aus, dass Hegel das individualmoralische Theorem der Kant’schen Gesinnungsrevolution zu einer Theorie der Gesinnungsrevolution für den Bereich des Politischen variiert, mit dem Ziel einer theoretischen Durchdringung gesellschaftlich-struktureller und nicht mehr individualmoralischer Gespaltenheit. Hegel legt in dem hierbei interessierenden Kontext seiner praktischen Philosophie in verschiedenen seiner Schriften offen, inwiefern die symbolischen Ordnungen, die sich im Verlauf von Jahrhunderten als sozio-kulturelle Ausgestaltungen menschlicher Geschichte ablösen, an zentralen Punkten durch widerständige politische Akteure in eine neue Gestalt gezwungen werden. Diese Subjekte sind von einer teils wahnwitzigen und heiligen Gewissheit getragen. Um die gerade erwähnte kantische Spur in ihrer Tiefe in Hegels eigener Theorie exzessiver Subjektivität aufzudecken, ist es im Folgenden nötig, die komplexe Beziehung Hegels zu Kant präziser in den Blickpunkt unserer Fragestellung zu rücken.

Hegel gegen Kant? Zur Erinnerung: Hegel artikuliert seine Kritik an der viel kommentierten und heftig in ihrer Auslegung umstrittenen »Leere« der kantischen Moralphilosophie erstmals in seiner Jenaer Zeit. Sie wird angedeutet in der Differenz-Schrift, in seiner Fichte-Kritik in Glauben und Wissen und tritt deutlich im Naturrechtsaufsatz hervor. 297 Die Wurzeln dieser Kritik liegen für Hegel in Kants (angeblicher) Trennung von Sein und Sollen. Im Naturrechtsaufsatz unterstreicht Hegel, wie Kants und Fichtes praktische Philosophie zwar den Rahmen der bis dahin unzureichenden empirischen Naturrechtslehren verlassen hätte, aber ihr mangelhaftes Verständnis empirischer Wirklichkeit etwa der Sitten, Sittlichkeit durchzusetzen. Was die »welthistorischen Individuen« wie Alexander, Caesar, Napoleon von exzessiver Subjektivität unterscheidet, ist, dass sie Repräsentanten der ›symbolischen Oberschicht‹ sind. Auch ihnen ist eine subjektive Exzessivität zuzusprechen, aber sie artikuliert sich teilweise noch mehr innerhalb der politischen Doxa als dass sie diese Doxa von unten, aus Bereichen des politisch Unrepräsentierten, durchbricht. 297 Die späteren Präsentationen des Vorwurfs in der Phänomenologie, der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie und den Vorlesungen zur Rechtsphilosophie sind fast nur noch Echos seiner Kritik im Naturrechtsaufsatz.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

Bräuche und Lebenswelten verderbe ihren Ansatz. Kants und Fichtes Moralphilosophie sei so durch den Gegensatz des Empirisch-Anschaulichen und des Begrifflich-Allgemeinen gekennzeichnet (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 458). 298 Wenn die formelle Philosophie das gemeine Bewusstsein ausschließlich auf die »Erscheinung des Unsittlichen« reduziert habe, dann hat sie sich selbst zwangsläufig auf eine »negative Absolutheit« festgelegt (ebd.). Diese ist aber für Hegel eine unbrauchbare Größe, weil sie »Abstraktion der Form« und als »reine Identität, unmittelbar reine Nichtidentität oder absolute Entgegensetzung« ist. Das Grundprinzip der formellen Philosophie sei die extreme Entgegensetzung einer reinen Einheit der Vernunft gegen das Viele, Reelle, das mit dem »Ekelnahmen des Empirischen« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 443) gebrandmarkt sei. 299 298 Die »Kritische Philosophie« ist für Hegel im eigentlichen Sinne der »Kulminationspunkt desjenigen Gegensatzes« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 437), in dem sich empirische Wissenschaften und Kritische Philosophie als zwei Extreme zwischen verschiedenen Radiuskreisen einer von einem Zentrum ausgehenden Wellenbewegung gegenüberstehen. Hegel nennt die »Seite der Unendlichkeit« das vernünftige Begreifen der formellen Naturrechtslehren von Kant und Fichte. Demgegenüber sind die empirischen Bestimmungen des praktischen Handelns nur endlich. In Glauben und Wissen nennt Hegel die »Seite der Unendlichkeit«, den »wahren[n] Charakter des Denkens« (Glauben und Wissen, Bd. 2, 351). Hegel kritisiert aber, dass die Unendlichkeit der sogenannten Reflexionsphilosophie der Subjektivität zuerst nur negativ erkannt worden sei. Thomas M. Schmidt schreibt über den Standpunkt des frühen Hegel treffend: »So habe Fichte das reine Denken als ein endloses Produzieren von Differenzen aufgefaßt« (Thomas M. Schmidt, Anerkennung und absolute Religion: Formierung der Gesellschaftstheorie und Genese der spekulativen Religionsphilosophie in Hegels Frühschriften, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1997, 272). Nur eine Perspektive kann diese beiden Naturrechtstraditionen versöhnen: nämlich eine geschichtliche Perspektive. Hegel möchte zeigen, wie die Absolutheit der Vernunft immer auch schon auf einer defizienten Stufe zu Erscheinung kommt (vgl. Schmidt, Anerkennung und absolute Religion, 266). 299 Die Vernunft bestehe darin, »aus eigener absoluter Selbsttätigkeit und Autonomie zu wollen und jene Sinnlichkeit einzuschränken und zu beherrschen« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 458). Hegel gesteht auch ein, dass die »Realität dieser Vorstellung« – eben, dass Sinnlichkeit und Neigung mit einer reinen Vernunft nicht kompatibel seien – sich »auf das empirische Bewußtsein« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 458) gründet: eben die Erfahrung aller eines Zwiespalts sinnlicher Neigungen und der »reine[n] Einheit der praktischen Vernunft« (ebd.). Da sich jedoch Kants Moralität nur als »an sich seiende« in der Absolutheit ihrer Radikalität denken kann und dadurch blind dafür wird, sich – wie es Hegel im zweiten Teil der Rechtsphilosophie nahelegt – als notwendiges »Moment« in ihrer eigenen Überwindung zu sehen, so wird diese kantische Moralität schließlich zu ihrem eigenen Gegner, nämlich zum Prinzip des Bösen (Rph, Bd. 7, §§ 137, 139). Das empirische Bewusstsein ist zwar eingestandenermaßen

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Hegel gegen Kant?

Wie wir im vorangegangenen Kapitel sahen, liegt bei Kant in einer teils nur paradoxal zu verstehenden Wendung das Gesetz des moralischen Willens am Ursprung der Motivation für das Gesetz, nicht umgekehrt. Hegel wird dagegen in vielkommentierten Formulierungen einwenden, dass der Motivationsgrund, wie ihn Kant formuliert, letztlich das moralische Gesetz machtlos zurücklässt. In diesem Sinne wiederholt er eine Kritik, die seinerzeit Aristoteles gegenüber Platon in seiner Nikomachischen Ethik vorbrachte. Aristoteles kritisierte dort den »chorismos«, d. h. die Kluft, die die platonische Idee des Guten zum Gutsein und Wesen der konkreten Einzelnen eröffnet. 300 Die Priorität des wahren Seins, der »ousia«, des Wesens, sei – so Aristoteles gegen Platon – als dem konkreten Einzelnen inhärent zu interpretieren. Analog dazu ist für Hegel das Allgemeine dem faktischen Streben der Lebensformen abzulesen. In ihnen lebt ein Motivationsgrund von durch die Faktizität des Geltens verbürgten Gesetzen als Gesetzten. Was das Allgemeine im Einzelnen ausmacht, ist je schon als etabliertes Sein der »allgemeinen, gedachten Bestimmungen […] in der Form von Gesetzen und Grundsätzen« (Rph, Bd. 7, § 137A). In den Praktiken etablierter Normen (und Institutionen) ebenso wie in den Neigungen, die diese Praktiken (und Institutionen) als gelebte und nicht nur auferlegte Ordnungsstrukturen verinnerlicht haben, ist der Grund angegeben, warum innerhalb einer Ordnung des objektiv Guten die passiv angenommene unbewusste Anleitung eines Agierens nicht unmoralisch, sondern vom Moralischen in einem strikten Sinne nicht zu trennen ist. 301 Seltsamerweise, so Hegel, hatte Kant in einem anderen Zusammenhang erkannt, dass die Frage »Was ist Wahrheit?« nicht auf eine Definition durch die Logik reduziert werden könne, ohne dadurch einen »belachenswerten Anblick« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 460) zu erhalten. Kant

dadurch empirisch, »weil die Momente des Absoluten in ihm zerstreut, nebeneinander, aufeinanderfolgend, zersplittert erscheinen« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 458). Aber dieses gemeine Bewusstsein wäre überhaupt kein »gemeines«, wenn »die Sittlichkeit nicht ebenso in ihm vorkäme« (ebd.). Das Gesetz als »Recht oder Pflicht« in Absehung von Inhalt und »frei von Bestimmtheit« – eben als ganz »reiner Wille« – ›legitimiert‹ sich nur qua performativer Setzung. Mehr Anspruch möchte Hegel Kants reinem Willen nicht zugestehen. 300 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, NE 1095a, 30. 301 Zur Analyse des normativen Status von Institutionen für Hegels Theorie sittlicher Freiheit siehe Frederick Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory: Actualizing Freedom, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2000, Kap. 4 und 5.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

gebe jetzt eine ähnlich reduktionistische Antwort mit seiner Theorie des freien Willens, die am Thema praktischer Philosophie vorbeigreife. Sie »ist die absolute Abstraktion von aller Materie des Willens« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 461). 302 Wie für Aristoteles das Gute mit dem bezeichnet wird, wonach alles strebt, 303 wird für Hegel das je etablierte Gut als ein von diesem Streben nicht Abzulösendes interpretiert. Wird es aber doch als ein diesem Streben Gegenüberstehendes herausdestilliert, dann verkennt eine solche Trennung, wie Moralisches immer schon in den »allgemeinen gedachten Bestimmungen« (Rph, Bd. 7, § 137A) lebt. Hegel möchte so in der Breite seiner Metaphysik zu denken nahelegen, dass die Erkenntnis der Kluft zwischen Sein und Sollen schon Teil dessen ist, was das Absolute selbst als inneren Antagonismus je neu zu überwinden und zu reintegrieren fähig ist. Man könnte sagen, dass Kant für Hegel im Bereich der praktischen, aber auch im Bereich der theoretischen Vernunft dem in der Phänomenologie erwähnten »unglücklichen Bewußtsein« (PhG, Bd. 3, 163 ff.) ähnelt, das gegenüber der eigentlich dialektischen Bewegung des Geistes noch teil-blind ist. Ähnlich wie das »unglückliche Bewusstsein« erkennt Kant nicht, dass die Trennung vom Absoluten (vom höchsten Gut) darin seine Ursache hat, dass das Absolute fälschlicherweise als vom Empirischen (der gelebten Legalität) unabhängig gedacht wird und nicht als die je historisch bedingte Verschränkung zwischen kategorialer Denkform (von in Gesetzen gegossener Ethik) und dem – je historisch dieselbe Denkform schon bedingenden – materiellen Inhalt (die etablierten Praktiken). 304 Das 302 Allen Wood kritisiert Hegels Auslegung als nicht gerechtfertigt: Hegel’s Ethical Thought, 89–90. Ebenso Christine M. Korsgaard, »Kant’s Formula of Universal Law«, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, Cambridge: Cambridge University Press 1996, 77–105, siehe 86, 95. 303 Nikomachische Ethik: »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a-3). 304 Vgl. Terry Pinkard, »Virtues, Morality, and Sittlichkeit«, in: European Journal of Philosophy, Vol. 7, No. 2 (1999), 217–238, 224 f. Pinkard: »[Hegel’s] reinterpretation of what is at stake […] in Kantian morality committed him to seeing it not as the union of virtue and happiness but as the union of morality and ›particularity‹ of the ›concept of the will with the particular will‹. The ›highest good‹ would thus be the union of my particular projects […] without which I could not be an agent at all« (ebd., 224).

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Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit

Absolute (praktisch: »das höchste Gut«, theoretisch: »das Ding an sich«), von dem das »unglückliche Bewußtsein« sich getrennt glaubt, ist aber aufgrund einer Abhängigkeit vom »unglücklichen Bewußtsein« selbst nicht absolut. Ein Blick in die Geschichte zeigt, so Hegel, wie Sein (Natur, Objekt) und Sollen (der reine Wille) durch Jahrhunderte sich gegenseitig in neue Komplementärstrukturen gebracht haben. Folglich ist der von Kant angeblich betonte Dualismus zwischen Ich und Natur (Sollen und Sein) kein absoluter, der über alle Epochen hinweg derselbe bleibt, da Subjekt und Objekt sich historisch je kategorial in neue Verhältnisse bringen. Diese betreffen nicht nur theoretische Fragen der Erkenntnis der Außenwelt (empirische Forschung), sondern auch Fragen normativen Verhaltens (Ethik, Sittlichkeit). Die Geschichte des Denkens und Handelns ist Hegel ein (von Subjekten angeleiteter) Prozess autokreativ immer neu sich etablierender Sittlichkeiten, die das je schon vorstrukturieren, was Kant als Gesetz des reinen Willens angeblich a priori definiert. Denken ist kein apriorisches Medium, sondern bedingt durch eine von ihm selbst erzeugte (besser: von ihm, mit ihm und durch ihn zu erleidende) telelogische Geschichte von Kategorienbrüchen in der Zeit. Der Staat ist gerade der politische Raum einer gefühlten und mit Neigungen durchdrungenen Rationalität. In diesem Sinne strebt Hegel dem sowohl aufklärerischen (Rousseau), dem frühromantischen (F. Schlegel, Novalis) als auch dem romantischen Ideal (H. v. Kleist) nach, welches darin lag, im Staat keine Maschine zu sehen, sondern die organische Einheit eines Gemeinwillens. 305

Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit Im ersten Kapitel dieser Analyse hatten wir offengelegt, inwiefern Kant die Spaltung des Subjekts thematisiert als Teil einer exzessiv ethischen Gründungsgestik. Dabei interessierte uns weniger die Formalität des kategorischen Imperativs als vielmehr das Motiv der paradoxen Selbstgesetzgebung, mit der Kant Subjektivität formell als eine über kollektive Gefolgschaft hinausgehende setzt, hinausgehend über inferentialistische Normen des Gemeinwesens. 305 Es braucht, so Hegel in seinen zahlreichen Plädoyers für den Staat, einen Kulturraum, der immer ›zu eng‹ ist, aber gleichzeitig auch der Ort, wo diese Enge eine unendliche Offenheit hat.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

Hegel kritisiert diese Moralität, wo Kant – nach seiner Meinung – den Bogen des Formalen im Moment der Selbstgesetzgebung überspannt. Hegel kritisiert aber das Moment einer performativen Selbstgesetzgebung / Selbstsetzung nicht per se. 306 Seine Formalismuskritik bezieht sich nicht auf das gespaltene Subjekt bei Kant, sondern auf die von Kant zu wenig berücksichtigte Untergrabung der Reinheit des moralischen Gesetzes durch eine Lebenswelt, in die jedes Subjekt qua Subjektsein immer schon eingeschrieben ist. Gerade um dieser Untergrabung der Reinheit des moralischen Gesetzes willen durch die Lebenswelt aber und aufgrund der in ihr verborgen liegenden Thematik vom »Paradox der Autonomie« des einzelnen Subjekts wird Hegel das Kant’sche Motiv der Selbstgesetzgebung umso notwendiger rezipieren. Das zeigt sich schon in seinen verschiedenen und teilweise sich widersprechenden Ausformulierungen zur Thematik des Gewissens. Hegel fasziniert die Reinheit des Willens, weil er darin ein Potenzial zur Tatkraft des Subjekts sieht, von der aus das Subjekt nach seinen Handlungen und nach den Folgen seiner Handlungen sich in diesen wiedererkennen und selbstreflexiv sich zu sich verhalten kann. Wenn er in der Rechtsphilosophie die Freiheit als die in ihrer Hinterfragung alles Bestehenden radikalste Macht des Menschen beschreibt, so klingt ein hohes Maß an Hochachtung für diese Gewalt mit. 307 Hegel sieht in der Macht der Freiheit des Willens bei Kant (wie sie von Rousseau herkommt und dann bei Fichte eine weitere Radikalisierung erfährt) eine die Moderne notwendig bedingende Radikalität. Tatsächlich spricht er dem Menschen in der Enzyklopädie sogar in diesem Kontext ein »Vorrecht« der Verrücktheit zu (Enzyklopädie III, Bd. 10, 168). Für Hegel verfügt der Mensch über die Möglichkeit, »sich in jener vollkommenen Abstraktion des Ich zu erfassen« (ebd.) Und er beschreibt den Wahnsinn als »Abwerfen des Jochs der sitt-

306 Vgl. dazu auch Honneth, Leiden an Unbestimmtheit. Hegel stellt Kants Moralität nicht grundsätzlich in Frage, denn er muss »mit der Möglichkeit rechnen, dass ein Subjekt in seiner ›sittlichen‹ Alltagspraxis ins Stocken gerät« (ebd. 67). 307 Hegel: »Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen; das Tier kann dies nicht. […] Der Mensch ist das reine Denken seiner selbst, und nur denkend ist der Mensch diese Kraft, sich Allgemeinheit zu geben, d. h. alle Besonderheit, alle Bestimmtheit zu verlöschen. Diese negative Freiheit […] ist einseitig, aber dies Einseitige enthält immer eine wesentliche Bestimmung in sich« (Rph, Bd. 7, § 5Z).

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Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit

lichen Gesetze« (Enzyklopädie III, Bd. 10, 177). Wahnsinn ist ihm eine Figuration der Freiheit. Der reine Wille verkörpert demzufolge für Hegel ein enigmatisches Potenzial der Handlungstat. Und Hegel macht schon in der Phänomenologie deutlich, warum die Tat – noch bevor sie sich im eigentlichen Sinne zur verantwortbaren Handlung formiert 308 – entscheidend ist für einen in leerer Selbstbespieglung arretierten Selbstbewusstseinsprozess. Während für Kant die Theorie eines von seinen empirischen Effekten getrennten »reine[n] Willens« entscheidend ist, betont Hegel die Notwendigkeit einer Tat, die – eine falsch verstandene Innerlichkeit überwindend – eine Subjektivität überhaupt durch einen Effekt in der Außenwelt gebiert, in der diese Subjektivität sich dann zu sich selbst verhalten kann. Nicht nur bestimmt die Tat exklusiv ein sich selbst gesetzgebender Motivationsgrund, auf den Kant so sehr die Betonung als allentscheidendes Kriterium für die Reinheit des Willens legt, sondern die Tat lässt auch, wie Hegel hervorhebt, teilweise nachträglich erst einen Motivationsgrund erkennen bzw. entspringen. Hegel beschreibt diese Dialektik von Tat und Folgen verschiedentlich in seinen Werken. Beispielhaft sind seine Ausführungen in der »Einleitung« der Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte am Beispiel einer Brandlegung (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 43). Hegel gibt das Beispiel nicht exklusiv, um Verantwortlichkeiten von Praktiken und Handlungen zu hinterfragen, sondern um deutlich zu machen, »daß in der unmittelbaren Handlung etwas Weiteres liegen kann als in dem Willen und Bewußtsein des Täters« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 43 f.). Das sagt er nicht nur der selbstevidenten Tatsache zuliebe, dass eine Handlung unerwartete Kausalketten zur Folge haben kann. Er erwähnt dies in erster Linie, um zu verdeutlichen, inwiefern eine Handlung mit ihren auch unvorhergesehenen Konsequenzen die ursprünglich kaum oder nur rudimentär reflexiv ergriffene Intention retrospektiv verstärken und/oder sogar ›erzeugen‹ kann. Diesen Umstand erwähnt er ebenso in der Rechtsphilosophie unter den Paragra308 In der Rechtsphilosophie unterscheidet Hegel die Tat von der Handlung, indem er letzterer ein reflexives Begründungspotenzial zuspricht, das die Tat noch nicht in gleicher Weise hat. Die Tat entspricht dem »heroischen Selbstbewußtsein« mit Ödipus als Vorbild. Sie ist noch nicht »zur Reflexion des Unterschiedes […] der äußerlichen Begebenheit und dem Vorsatze und Wissen der Umstände« gelangt (Rph, Bd. 7, § 117). Gerade deshalb aber übernimmt der Verantwortliche (Beispiel Ödipus) »die Schuld im ganzen Umfange der Tat« (Rph, Bd. 7, § 117).

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

phen des Kapitels »Der Vorsatz und die Schuld« (Rph, Bd. 7, §§ 115– 118). Wenn Hegel hier auch unterstreicht, dass der Handelnde für absehbare Konsequenzen die Verantwortung übernehmen muss, so dialektisiert er die Folgen einer Handlung als ein Zusammenspiel von Notwendigkeit und Zufälligkeit, als deren »eigene immanente Gestaltung« sie, die Folgen, die Handlung manifestieren. Die Folgen der Handlung sind »deren Natur und […] nichts anderes als sie selbst.« Sein Fazit ist daher sehr pointiert: »Die Entwicklung des Widerspruchs, den die Notwendigkeit des Endlichen enthält, ist im Dasein eben das Umschlagen von Notwendigkeit in Zufälligkeit und umgekehrt. Handeln heißt daher nach dieser Seite, sich diesem Gesetze preisgeben« (Rph, Bd. 7, § 118). Handeln ist für Hegel immer teileingebunden in eine Dialektik von Notwendigkeit und Zufälligkeit, die »ihre Natur«, ja sogar »ihr Gesetz« ist. Dies ist mit einem Handlungsbegriff im Kontext von Kants Ethik kaum vergleichbar. Für Kant ist schließlich die Handlung gut, die in einer guten Intention ihren Ursprung hat, losgelöst von ihren Konsequenzen. Žižek schreib hierzu treffend: »What is […] crucial for Hegel’s notion of act is that an act always, by definition, involves a moment of externalization, self-objectivization, of the jump into the unknown. To ›pass to the act‹ means to assume the risk that what I am about to do will be inscribed into a framework whose contours elude my grasp, that it may set in motion an unforeseeable train of events, that it will acquire a meaning different from or even totally opposed to what I intended to accomplish – in short, it means to assume one’s role in the game of the ›cunning of reason‹.« 309

Man könnte sagen, dass der Grund einer Handlung als Moment einer Externalisierung einer noch undefinierbaren Internalisierung derjenige ist, der sowohl die Handlung mit ihren teils unabsehbaren Effekten in der Außenwelt ebenso wie das noch nicht verantwortbare Subjekt um einen toten »Punkt des Verfehlens« 310 aufeinander bezieht. Subjekt und Handlung beziehen sich aufeinander, weil beide zwei Momente eines zugrundeliegenden Antagonismus sind, welche die Substanz als Außenstelle des Subjekts wie auch das Subjekt als partikuläre Innenseite der Substanz bedingen. Wir betonen hier die Motive Hegels zur vielschichtigen Bedeutung von Tat und Handlung, weil das Potenzial exzessiver Subjekti309 310

Žižek, Tarrying with the Negative, 31. Žižek, Verweilen beim Negativen, 44.

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Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit

vität zur Handlungstat und die darin liegende Normativität sich nicht in einer klar begründbaren Intention oder in einer Beschreibung aus der Perspektive Dritter erfassen lässt. 311 Die Tat ist eingebunden in eine Exzentrizität, die auf das agierende Subjekt zurückwirkt. Für Kant ist das Ziel der praktischen Philosophie die Destillation einer Willenskraft aus reiner Vernunft. Hegel hatte im Vernunft-Kapitel der Phänomenologie in einem indirekten Bezug auf Kant die beobachtende Vernunft mit ihrem Scheitern konfrontiert, in der vorgefundenen Wirklichkeit die Vernunft als realisiert zu finden. Damit war die Vernunft wieder auf ihr »inneres Wesen« zurückgeworfen. Sie hatte nun immerhin Vernunft als Negativität, Selbstunterscheidung und Veränderung des Vorgefundenen durch individuelles Handeln verstanden. Vernunft ist deshalb jetzt an dieser Stelle in der Phänomenologie bestimmt als »praktisches Bewußtsein, das in seine vorgefundene Welt mit dem Zwecke einschreitet«, sich der »Einheit seiner Wirklichkeit mit dem gegenständlichen Wesen bewußt zu werden« (PhG, Bd. 3, 268). Hegel nennt diese Versuche die »sittliche Welterfahrung«. Während der erste Teil der Phänomenologie sich mit der Genese eines sich immer komplexer die Objektwelt erschließenden und Epistemologie betreibenden Bewusstseins beschäftigt hatte, taucht nun, spätestens in der zweiten Hälfte des Vernunft-Kapitels, neben der Frage nach dem Wahren, auch die Frage nach dem Guten auf. Ein deutlicher Umschlag ergibt sich nach der Physiognomik und der Schädellehre Galls im Ac-Abschnitt. Von der gescheiterten Logik des Sich-selbst-Beobachtens Abstand nehmend, bei der die sich selbst beobachtende Vernunft erkennt, sich nicht in einer objektiven, von ihr unabhängigen Natur »unmittelbar zu finden«, versucht das vernünftige Selbstbewusstsein, seine Gewissheit, alle Realität zu sein, durch Tätigkeit umzusetzen. Denn das Selbstbewusstsein erkennt: »Das wahre Sein des Menschen ist vielmehr seine Tat […] sie ist Mord, Diebstahl oder Wohltat, tapfere Tat u. s. f., und es kann von ihr gesagt werden, was sie ist« (PhG, Bd. 3, 242 f.). Es geht dem Selbstbewusstsein nicht mehr um die Erklärung dialektischer Erkenntnisprozesse zwischen Subjekt und Objekt. Es 311 Die Ethik der Handlungsbeschreibung, wie sie z. B. Anscombe vertritt, versucht die Beurteilung einer Handlung vom intrinsischen Gehalt angeblich normativer Begriffe her (Lügen-Verbot, Tötungs-Verbot) in Kontexte einzubinden. Vgl. Anscombe, »Modern Moral Philosophy«.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

»will sich nicht mehr unmittelbar finden, sondern durch seine Tätigkeit sich selbst hervorbringen« (PhG, Bd. 3, 261). Nun ist das Bewusstsein »selbst […] der Zweck seines Tuns, wie es ihm im Beobachten nur um die Dinge zu tun war« (ebd.). Für Hegels Bewusstseinsgenealogie der Phänomenologie ist somit entscheidend, dass Selbstbewusstsein sich durch Tat 312 hervorbringen muss, wenn es sich schon theoretisch nicht ergreifen kann. Innerlichkeit ist geschichtsohnmächtig, wenn sie nicht im Wagnis einer Konfrontation mit der Negativität der Außenwelt aus sich hinaustritt und sich an den Effekten ihrer Handlungen nachträglich zu sich selbst verhalten kann. So beginnt Hegel einzelne Spielarten praktischer Philosophie versatzstückartig durchzuspielen. Aber auf dieser Ebene – anders als im Geist-Kapitel – möchte er deutlich machen, inwiefern den Gestalten individuellen, philosophiepraktischen Handelns noch kein »innerer Geist« eigen ist, über den sich das Bewusstsein im Klaren ist. Das Bewusstsein ist nun »selbst […] der Zweck seines Tuns, wie es ihm im Beobachten nur um die Dinge zu tun war« (ebd., Hervorhebung D. F.). Mit dem Übergang vom Sichselbst-Beobachten des Bewusstseins zum Praktischen geht ein Wechsel von der epistemischen Einstellung der logischen Idee des Wahren zu der des Guten einher. 313 Wir sind auf diesen Perspektivwechsel in der Phänomenologie eingegangen, um noch einmal deutlich zu machen, warum nach Hegel ein »reiner Wille« noch nicht in eine Wahrheit des Guten eintreten kann. Ein reiner Wille, wie ihn Kants frühe Moralphilosophie artikuliert, ist (zumindest bei Hegel) noch zu sehr einer Epistemologie der Wahrheit der Erkenntnis verpflichtet und nicht einer Wahrheit des Guten, die sich gemäß Hegel in der Tat riskieren muss; z. B. in einer Tat, die als solche je ins semantische Geflecht der Lebenswelt ihre Folgen ausgießt, von denen sich der Wille, so Hegel, gerade nicht dispensieren kann. Durch die Folgen erfährt er sich in seiner Motivation retrospektiv auch als bestimmt bzw. beeinflusst. 314 Die UnüberWie erwähnt unterscheidet Hegel in der Rechtsphilosophie zwischen Tat und Handlung (vgl. Rph, Bd. 7, § 117). Handlung impliziert ein größeres Maß an Verantwortung für Zwecke und Konsequenzen des Agierens. 313 Vgl. dazu Miriam Wildenauer, Epistemologie freien Denkens: Die logische Idee in Hegels Philosophie des endlichen Geistes, Hamburg: Meiner 2004, 167 f. 314 Stephen Houlgate interpretiert dies ebenso. Er schreibt: »[C]onsequences are […] the way our action takes shape and unfolds in the external world beyond our own subjectivity. […] These consequences belong to my action itself: they are my action 312

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Die Tat als Ausbruch aus unbestimmter Innerlichkeit

sichtlichkeit von Folgen spricht die Tat nicht von ihrer Schuld frei, sondern betont nur, inwiefern sie und ein Teil ihrer Motivation immer schon ausgelagert erscheinen durch den Bereich, in dem die Tat sich ereignet und von dem aus sie rückwirkend dem handlungstätigen Subjekt seine – vom Subjekt selbst nicht mehr letztzuverbürgende – Normativität als eine immer schon exzentrische aufweist. Wir sind hierbei in einem gewissen Sinne wieder bei der Thematik aus dem ersten Kapitel, wo das moralische Subjekt sich erst retrospektiv in seinen Verfehlungen als moralisches entdecken konnte. Es war uns ein Indiz einer fundamentalen Gespaltenheit desselben. Diese Gespaltenheit tritt auch bei Hegel im Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt, dem Aktionsfeld seiner Handlungstaten, auf. Dort, wo Hegel in der Phänomenologie verschiedene an Kant erinnernde Sittlichkeitsmodelle durchspielt (das »reine Herz«, die »schöne Seele«, »das Gewissen«), geht es ihm noch nicht um die Einheitskonzeption einer Tat im Rahmen seiner Konzeption von Sittlichkeit. Er entfaltet Versuchsmodelle, in denen die einzelnen Positionen praktischer Vernunft wie in einer Form »phänomenologischer Abhandlungen« 315 untersucht werden. Im Geist-Kapitel wird er diese Positionen in eine Höherwertigkeit zu synthetisieren versuchen, aber auf der Ebene der Vernunft haben wir es immer noch mit Prüfungen zu tun, die deutlich machen, inwiefern die praktischen Vernunfttheorien Kants noch ein »innerer Geist« gefangen hält, über den sich das Bewusstsein nicht im Klaren ist. Entweder sieht das Bewusstsein in seiner individuellen Vernunft die einzige Quelle vernünftiger Einsichten in die sittliche Ordnung, oder aber »es abstrahiert«, wie Siep treffend kommentiert, »das Ansichsein der Vernunft zu einem ›gedachten Gesetz‹« 316 und dies betrifft besonders das kantische Sittengesetz. Als ein vorläufiges Fazit kann man festhalten, dass Hegel in seiner Phänomenologie einen anderen Motivationsgrund für die praktische Philosophie als Kant vorschlägt. Er möchte eine Tat konzeptualisieren, die notwendig das Subjekt in eine Welt hineintreten lässt, in the world. […] The consequences of my action […] are what my own freedom and right actually prove to be when they enter the world« (vgl. Stephen Houlgate, »Action, Right and Morality in Hegel’s Philosophy of Right«, in: Arto Laitinen / Constantine Sandis (Hg.), Hegel on Action, London / New York: Palgrave Macmillan 2010, 155–175, hier: 164). 315 Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 145. 316 Siep, Der Weg der ›Phänomenologie des Geistes‹, 145.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

der gegenüber jeder innerlich bleibende Weltbezug nur – im Vokabular Lacans gesagt – eine ›phantasmatische Illusion‹ ist. Hegel kritisiert an Kant folglich nicht so sehr, dass dessen Formalismus »leer« ist, sondern dass Kant nicht explizit erkennt, inwiefern dieser Formalismus nur ein verschwindendes Moment, ein Exzess ist, durch den das Subjekt aus einer falschen Innerlichkeit heraustritt. Innerlichkeit, die weder erkennt, wie sie durch Sittlichkeit geprägt ist, noch durch ihre Folgen im Positiven wie im Negativen nachträglich zu spät geprägt werden kann, verharrt in einer Blindheit, die um ihrer Reinheit willen sowohl ihre Geschichtsohnmächtigkeit wie auch ihre Geschichtsmächtigkeit nicht sehen kann.

Gesinnungsrevolution und sozialer Raum Hegel denkt mit Kants Begriff des moralischen Aktes, wie sich ein ethischer Gründungsakt seinerseits zu der je etablierten Wertsphäre im Gewand einer »Revolution der Gesinnung« konfliktuell-generativ und normativ-kreativ verhalten kann. Sittlichkeit verfällt damit für Hegel nicht zum starren Totalitätsmodell und ihre Wertsphären verweilen nicht in alle Ewigkeit nur in ihren, in Praktiken selbstevident gewordenen, normativen Kategorien. Sowohl der (unverstandene) ethische Gründungsakt als auch die sittlich geteilte Lebensform im Staat erweisen sich als die – in Spannung zueinander stehenden – Momente, die es braucht, um durch in Aporien sich immer wieder von neuem verwickelnde Konflikte (zwischen dem Universellen und dem Partikulären) das statisch dominierende Gesamtsystem der Sittlichkeit aufzubrechen. Für Kant gibt es keine andere Motivation moralischer Aktion außer diejenige, die sich auf die Unterwerfung der Maxime unter die Bedingung des sie qualifizierenden universellen Gesetzes beruft. Ebenso denkt Hegel, wie Ido Geiger treffend aufgewiesen hat, dass eine notwendige Bedingung einer moralischen Aktion ein radikal autonomer Akt ist. 317 Aber für Hegel betrifft die Charakterisierung eines Aktes als radikal autonom die revolutionäre Aktion, die am Ursprung einer neuen Form sittlichen Lebens steht. 318 Einerseits kritisiert er Kants Moralphilosophie, weil sie sich in der Fokussierung der 317 318

Vgl. Geiger, The Founding Act of Modern Ethical Life, 39 ff. Vgl. Geiger, The Founding Act of Modern Ethical Life, 30.

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Gesinnungsrevolution und sozialer Raum

Form des kategorischen Imperativs scheinbar nicht des Einflusses der Lebenswelt je schon bewusst ist. (Diese These wird heute von einem Großteil der Kant-Forschung bestritten.) Anderseits aber übernimmt Hegel die Radikalität von Kants Moralitätsverständnis, wenn er mit der kantischen Denkstruktur von Freiheit (= das Ausführen der Pflicht) die Autonomie einer moralischen Aktion denkt, die auf die Argumente der herrschenden legalen und sittlich gelebten Prämissen keinen unmittelbaren Zugriff hat. Hegel wird also dort das kantische Motiv der moralischen Motivation für sein Theorem der Gründung einer neuen Lebensform übernehmen, wo Kant die Motive Bruch, Ereignis und Revolution zitiert. Hegel übernimmt diese Motive, um zu explizieren, wie sich eine neue Lebensform durch eine Unterbrechung des Nehmens und Gebens von Gründen einen Raum schafft, für den es eventuell zuvor nicht einmal den Anschein einer Potenzialität gegeben hatte. Impliziert aber eine solche Hegel’sche Theorie ethisch-revolutionärer Gründungsgesten nicht einen Rückzug ins Irrationale? Gemäß der hier vorgestellten Hegel-Lektüre tut sie das nicht, wobei diese These sehr viel materialistischer zu interpretieren ist als z. B. Kants eigene Perspektive der unendlichen Annäherung des moralischen Subjekts und der Gesellschaft an das ethische Ideal. Sie ist in dem Sinne materialistischer, insofern das ethische Ideal sich für Hegel auch in den (revolutionären / epistemischen) Brüchen des Selbstbewusstseins, die seinen Weg ausmachen, verwirklichen kann. Dem Einzelnen, dem Partikulären wird die Zusage gegeben, sich im Rücken des Allgemeinen zu gerieren, wobei das Wahre und damit das neu-Allgemeine darin sich späterhin erkannt haben wird. Dieses Ziel des Partikulären hängt von seiner spezifischen Leistung ab, zu verwirklichen, was der »Wesensbestimmung« des Allgemeinen je noch harrt, verwirklicht werden zu können. Somit ist dem Partikulären (und damit auch dem einzelnen Subjekt) je ein Ziel, eine spezifische Setzungskraft des Normativen zugesprochen, sich hinter dem Rücken des Allgemeinen als dessen ›verschwindender Vermittler‹ zu realisieren. Das ist der zentrale Gedanke in Hegels Kommentar, wenn er schreibt, dass »die lebendige Substanz […] das Sein [ist], welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist« (PhG, Bd. 3, 23). Die Unbedingtheit des Ethischen ist etwas, das Hegel mit Kant 179 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

teilt. Aber diese Unbedingtheit ist nicht notwendig etwas, das im (inferentialistischen) Vernunftinnenraum von lebensweltlich-geteilten Praktiken oder in einer reinen Vernunft entdeckt wird. Die Unbedingtheit des Ethischen kann von einem Subjekt vertreten werden, das immer schon durch Neigungen geprägt ist und doch erkennt, dass sein Gewissen eine Wahrheit ›sieht‹ oder intuitiv erfasst, die die etablierte Doxa notwendig nicht nachvollziehen kann. Die Kraft des Grundes dieser Überzeugung mag dann nicht in den logischen Raum normativer Praktiken und deren Begründungen zu integrieren sein. Das heißt aber nicht, dass sie ihren eigenen rationalen Charakter aufgibt. 319 Diese These soll am Beispiel der Antigone erläutert werden. Ihr Konflikt wird von Hegel als einer dargestellt, der an keiner Stelle eine Lösbarkeit durch den Bereich eines tertium datur verspricht und dennoch im Untergang der Polis einen ethischen Ursprung für eine neue Bewusstseinsetappe des Geistes entstehen lässt. Der Rechtsanspruch der Antigone kann sich auf keinen, mit Brandom gesprochen, »scorekeeper« berufen als Garanten eines Gebens und Nehmens von Gründen. Antigones eigene Gewissheit schlummert dafür zu sehr, wie Hegel schreibt, im »stygischen Wasser« (PhG, Bd. 3, 344) bzw. in den »Wässern der Vergessenheit« (PhG, Bd. 3, 351), wo die Gesetze der Unterwelt verborgen liegen.

Hegels Antigone: Tragik und Tragödie Ein großer Mensch will schuldig sein. G. W. F. Hegel

Hegel verweist auf die antike Tragödie als einen pattähnlichen Konflikt anspruchsgleicher Rechte in der Vielfalt seiner Schriften und interpretiert sie in Abgrenzung vom Epos, der Komödie, der modernen und romantischen Tragödie je komparativ im Verhältnis zu bestimmten Bewusstseinsformen. Im Naturrechtsaufsatz versöhnt die Tragödie allegorisch das Moment moderner Ökonomie im bürgerlichen Zeitalter – vertreten durch den »Bourgeois-Geist«, wie Hegel 319 Darauf beruht für Donald Davidson die Ratio des von ihm eingeführten »MedeaPrinzips«, das er vom »Platon-Prinzip« differenziert. Wir kommen darauf noch einmal zu sprechen. Siehe Donald Davidson, »Two Paradoxes of Irrationality«, in: Richard Wollheim / James Hopkins (Hg.) Philosophical Essays on Freud, Cambridge: Cambridge University Press 1982, 289–305.

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Hegels Antigone: Tragik und Tragödie

ihn nennt, – mit der vernunftgeleiteten Oberschicht der Gesellschaft (vgl. Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 495 f.). In der Phänomenologie ebenso wie in der Ästhetik ist von dieser Versöhnung dann nicht mehr die Rede. Dort steht die Tragödie im Verhältnis zur Religion nur noch als eine Vorform der Wahrheit da. 320 Eine zentrale Unterscheidung innerhalb Hegels vielschichtigem Tragödienbegriff, die besonders die Phänomenologie trifft, markiert die Differenz zwischen der Tragödie als Kunstgattung und dem Tragischen als historischem Heroenkonflikt. 321 Letzterer birgt eine Tragik, wie Hegel am Beispiel der Antigone im Kapitel »Der wahre Geist. Die Sittlichkeit« (PhG, Bd. 3, 327 ff.) zeigt, als eine Bewusstseinsform, die nicht mit der in der Phänomenologie sehr viel später auftretenden Kunstgattung der Tragödie gleichgestellt ist. Auf die Kunstform der Tragödie als Bewusstseinsgestalt des klassischen griechischen Zeitalters, in der Form und Inhalt eine von der Tragik unabhängige dialektische Reflexionsbestimmung der (Selbst-)Bewusstseinsstruktur ist, rekurriert Hegel erst im Kunst-Religions-Kapitel (PhG, Bd. 3, 534 ff.). 322 Aber gehen wir vorerst noch einen Schritt zurück: Hegel definiert in der Phänomenologie wiederholt »Leben« als Gesamtheit geistig-materialer Geschichtsprozesse und so als eine Einheit, die sich Vgl. Otto Pöggeler, »Hegel und die griechische Tragödie«, in: Hegel-Studien, Beiheft 1, Bonn: Bouvier 1964, 285–305, hier: 296. 321 Im Geist-Kapitel der Phänomenologie bezieht sich Hegel nur auf den tragischen Inhalt als ein historisches Ereignis in der antiken Sittlichkeit. Es geht ihm nicht um eine tragödientheoretische Reflexion über den Inhalt, wie ihn die Tragödie als Kunstgattung einer bestimmten Entwicklung des Geistes präsentiert. Genau mit dieser setzt er sich im Kunst-Religion-Kapitel auseinander. Diese Differenz wird wiederholt in bestimmten Kommentaren zu Hegels Tragödientheorie vernachlässigt. So z. B. bei Christian Iber, »Tragödie, Komödie und Farce. Zur geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Tragödie bei Hegel und Marx«, in: Lore Hühn / Philipp Schwab (Hg.), Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer, Schelling, Nietzsche, Berlin / New York: De Gruyter 2011, 281–296. Iber interpretiert das Tragische als Synonym mit der Tragödie, wobei die Differenzierungen zwischen dem Sittlichkeits-Kapitel und dem Kunst-Religion-Kapitel zerfließen (siehe besonders 282 f.). 322 Unter zahlreichen Kommentaren zu Hegels Tragödien-Theorie seien hier besonders folgende erwähnt: Helsinki Oittinen, »Antike Tragödie und dialektische Moderne in Hegels Ästhetik«, in: Andreas Arndt / Karol Bal / Henning Ottmann (Hg.), Hegels Ästhetik: die Kunst der Politik, die Politik der Kunst, Bd. 1, Berlin: Akademie Verlag 2000, 126–135; Klaus Düsing, »Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel« in: ders., Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002, 275–312; Christos Axelos, »Zu Hegels Interpretation der Tragödie«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 19, Nr. 4 (1965), 655–667. 320

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

selbst entzweit. Auch die Entzweiung des Lebens zur Zeit der antiken Sittlichkeit, wie sie durch das »schöne Wesen« (die Antigone) ausgelöst wird, impliziert eine solche Trennung. Sie wird jedoch von Antigone noch als eine Einheit-in-Trennung zusammengehalten. Die antike Entzweiung des Lebens ist also noch nicht mit der modernen Entzweiung vergleichbar, die Hegel gegenüber seiner eigenen Epoche diagnostiziert. Die Tragik der Antigone im Sittlichkeits-Kapitel markiert dann den entscheidenden Konflikt einer Entzweiung durch zwei Mächte Heros und Polis. »Heros« verweist auf die Bewusstseinsstufe, die sich selbst in einer ungetrennten Gesamtheit eines Sittlichkeitsverständnisses weiß. Der Ausgang dieses Konflikts ist realpolitisch nicht weniger katastrophal für die Polis als derjenige einer jeden Krise. Und dennoch: Die Entzweiung, wie sie durch den Einzelwillen Antigones als Stimme des »göttlichen Gesetzes« (PhG, Bd. 3, 337) im Gegensatz zum »menschlichen Gesetz« (PhG, Bd. 3, 341) vertreten wird, ist – auf der Bewusstseinsstufe, auf der sie erscheint – als lebensfeindlich und trotzdem verbunden mit dem Göttlichen etabliert, ergo Teil einer sich entzweienden göttlichen Allgemeinheit (des Lebens). Hier stehen sich Universelles und Partikuläres trotz einer eingeschriebenen Teilung noch nicht entfremdet und modern-antagonistisch gegenüber. Der Heros verkörpert eine sittlich-göttliche Macht in seinem Handeln als einem subjektiven Wollen entspringend, das trotz einer Übereinstimmung mit der Sittlichkeit des Volkes in Konflikt gerät mit einer ebenso legitimen Gegenmacht, wie sie in derselben Sittlichkeit ebenso vertreten ist. Für Hegel inszeniert das Absolute diesen Zwiespalt in der Einheit seiner selbst als Trauerspiel, weil es sich – wie Hegel schon im Naturrechtsaufsatz schreibt – nach Abspaltung, Kollision, Pflicht und Tod »aus seiner Asche in die Herrlichkeit« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 495) erhebt. Das sittliche Bewusstsein hat »die Vergessenheit aller Einseitigkeit des Fürsichseins« (PhG, Bd. 3, 344). Wenn es sich entzweit, so erkennt das sittliche Wesen, dass seine Realität eine gedoppelte ist, wobei es »durch die Tat zur Schuld« (PhG, Bd. 3, 346) wird. Hegel thematisiert die Einheit in Entzweiung im Heroenzeitalter vor der Erfahrung der Entzweiung seiner eigenen Epoche. Er weiß aber schon in seiner Frankfurter Zeit, entgegen seiner zumindest für den Naturrechtsaufsatz charakteristischen Versöhnungstheorie der »Tragödie im Sittlichen«, dass eine Rückkehr zur sittlichen Einheit im antiken Sinne unmöglich ist. Schon diejenige griechische Entzweiung, für die dann Sokrates’ konfliktuell-unassimilierbare Subjektivi182 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Hegels Antigone: Tragik und Tragödie

tät zeitnahe der Tragödie als Kunstgattung stehen wird, ist keine der Einheit mehr. Und auch zahlreiche andere Figuren »moderner« oder »romantischer« Tragödienhelden, von Shakespeares Hamlet bis zu Schillers Karl Moor, auf die Hegel in der Phänomenologie und in der Ästhetik Bezug nimmt, sind keine Heroen mehr, selbst wenn die moderne Tragödie an diese Figuren als tragische unter modernen Bedingungen anzuschließen versucht. 323 Sie können im antiken Sinne nicht tragisch als Momente einer Gesamtheit von Einheit und Entzweiung genannt werden, wie dies für Hegel mustergültig die antike Sittlichkeit verkörpert. Im Heroenzeitalter ist noch der »Fehltritt« unabdingbare Bedingung des Lebens. In der Tragik der Antigone (im Unterschied zur Tragödie als Kunstgattung) tritt die Tochter des Ödipus als Individuum für bestimmte sittlich substantielle Handlungszwecke auf. Ihre Handlungszwecke provozieren einen Konflikt mit anderen sittlich substantiellen Zwecken, die Teil derselben »Schale der absoluten Substanz« (PhG, Bd. 3, 344) sind. Hegel schreibt das dominierende Idealbild der griechischen Antike fort, wenn noch im Konflikt – sei es der Konflikt des Wissens (Orestes) oder der Konflikt des Handelns (Antigone) 324 – nicht der moderne Zwiespalt von Subjektivität und Allgemeinheit vorherrscht. Im sittlichen Zeitalter der Tragik interessiert Hegel noch nicht das Publikum der Tragödie, als in einem Betrachtungsverhältnis von Reflektieren auf sich selbst stehend. 325 In diesem Sinne ist die Schuld innerhalb der Tragik eine schuldlose und zugleich bewusstlose Schuld (felix culpa). Die Tragik der Antigone ist – gemäß der (Selbst-) 323 Hegel behauptet in seiner Ästhetik, die Tragödie gehe als »das ewig Substantielle in versöhnender Weise siegend« (Ästhetik III, Bd. 15, 527) hervor. Dabei unterscheidet sich die Versöhnung der antiken Tragödie von der modernen aber grundlegend. Hegel weiter: »in der antiken Tragödie ist es die ewige Gerechtigkeit, welche als absolute Macht des Schicksals […] gegen die sich verselbständigenden und dadurch kollidierenden besondernden Mächte rettet und aufrechterhält« (Ästhetik III, Bd. 15, 565). Oittinen bringt die Differenz treffend auf den Punkt: »In der modernen Tragödie ist demgegenüber die Gerechtigkeit ›bei der Partikularität der Zwecke und Charaktere teils abstrakter, teils bei dem vertiefteren Unrecht […], zu denen sich die Individuen, wollen sie sich durchsetzen, genötigt sehen, von kälterer, kriminalistischer Natur‹« (Oittinen, »Antike Tragödie und dialektische Moderne in Hegels Ästhetik«, 129). In der antiken und der modernen Tragödie gibt es also jeweils Konflikte, die analoger Struktur sind. Durch ihre je historisch zu differenzierende Gegensätzlichkeit ist die antike Tragödie nicht tragisch wie die moderne Tragödie tragisch erscheint. 324 Antigone erkennt ihre eigene Handlung als »Frevel«. Damit übernimmt sie ihr Schicksal und erduldet es nicht passiv. 325 Vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, 94

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

Reflexivität, aufgrund derer dieses Werk von der Orestie des Aischylos als höherwertig zu unterscheiden ist – nicht vergleichbar mit der Reflexivität, die dann auf einer späteren Bewusstseinsstufe gemäß der Phänomenologie die Zuschauer der Tragödie als Teil der Konfliktlösung des tragischen Konflikts interpretieren wird. Auf der Ebene der Tragödie, wie Hegel sie im Abschnitt »Kunst-Religion« thematisiert, ist die Einheit des Heros mit der sie hervorbringenden sittlichen Substanz längst verloren. Was die Tragödie ihrerseits als höherwertige Kunstform vom Epos unterscheidet, ist, dass Subjekte als »wirkliche Menschen« (PhG, Bd. 3, 534) dargestellt sind und zwar »in wirklichem, nicht erzählendem« (ebd.) Sprechen – wie im Epos – »sondern [in] eigenem« (ebd.). Während die Handlung im Epos gemäß Hegels Anmerkungen in der Ästhetik gegenüber der Erfahrung der Subjektivität eine äußerliche bleibt, tritt die Handlung in der Tragödie »gegenwärtig aus dem besonderen Willen, aus der Sittlichkeit und Unsittlichkeit der individuellen Charaktere hervor« (Ästhetik III, Bd. 15, 323). Der Konflikt der Tragödie wird zu einem Erkenntnismoment im Selbstverhältnis des Publikums. 326 Somit ist die Bewusstseinsstufe des Tragischen im Gegensatz zur Tragödie schon zurzeit der Tragödie nicht mehr wiederzubeleben. Sie ist dies auch nicht im Zeitalter der Komödie und ebenso wenig bei Sokrates, obwohl auch hier Hegel wiederum von einer Tragik für das antike Griechenland spricht. 327 Die Tragik der Antigone ist anders zu beurteilen als diejenige von Schillers Karl Moor. Die erste ist tragisch (trotz fehlenden Bewusstseins), die andere wird von Hegel nur skeptisch als letztlich banal und als uninteressante individuelle Verblendung gedeutet. Karl Moor fehle die Größe der antiken Heroen, konstatiert Hegel in der 326 Diese Reflexion ist durch die »Versöhnung als Verstehenshaltung des Zuschauers begründet« (Düsing, »Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel«, 308) und expliziert eine Reflexionsform, die Antigone als heroische Figur nicht verkörpert. 327 Bei Hegels Sokrates steht, wie wir noch sehen werden, ein Einzelwille in seiner subjektiven Partikularität gegen die Allgemeinheit der Sittlichkeit. Dieser kann keinen einheitlichen Grund etablierter Sittlichkeit mit seiner Epoche teilen. Sokrates’ Freiheit ist der Beginn »subjektiver« Freiheit und somit Wegmarke einer neuen Bewusstseinsstruktur. Mit dem Auftreten der Komödie und schließlich dem Christentum ›ent-antikisiert‹ sich das Tragische und verliert in der Perspektive der Versöhnung von Göttlichem und Weltlichem ganz seine antike Heroenwelt. Dies führt mit allerletzter Konsequenz dazu, dass es eine tragische Moderne auf der Ebene eines tragischen Bewusstseins, wie es die Antike prägte, nicht mehr geben kann. Vgl. Pöggeler, »Hegel und die griechische Tragödie«.

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Hegels Antigone: Tragik und Tragödie

Ästhetik. Seine »Privatrache« fällt »klein und vereinzelt« aus und kann »nur zu Verbrechen führen, da sie das Unrecht in sich schließt, das sie zerstören will« (Ästhetik I, Bd. 13, 256). Es ist deutlich herauszulesen, dass Hegel durch solche Kommentare das Drama des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts nicht als Wiedergeburt der Antike sieht. 328 Wie aber sind dann nachantike oder nach-›tragische‹ Konflikte zu beurteilen? Überhaupt nicht mehr als tragisch? Gibt es keine tragischen Menschenschicksale mehr, da die Bedingung derselben die antike Lebenswelt, die antike Sittlichkeit nach Hegels Definition erfordert? Die Frage ergibt sich vor dem alltäglichen Sprachgebrauch des Wortes »tragisch«. Umgangssprachlich werden heutzutage Konflikte und Schicksalsschläge immer noch als tragisch interpretiert. Die Betroffenen müssen diese unverantwortet und in teils resignativer Fügung in bestimmten schicksalhaften und/oder kontingenten Umständen hinnehmen. Hegels Begriff des Tragischen hat aber mit diesem Wortgebrauch wenig gemein. Für ihn markiert das Wort Tragik die Bedingung eines sehr eng ausgelegten Begriffs einer antiken Bewusstseinsform. Das heißt aber nicht, dass damit das Potenzial eines Konfliktes zwischen Besonderem und Allgemeinem für Hegel aus der Welt sei. Dieses ist ja schließlich die Grundstruktur der Erfahrungswissenschaft, die die Phänomenologie bis in Hegels eigene Zeit entfaltet. Man kann treffender behaupten, dass der Konflikt zwischen Partikulärem (Willen) und Allgemeinem (Norm) durch den Wegfall der sittlichen Einheit, wie sie die Antike noch in sich barg, in der Moderne eine neue Dramatik bekommt. Hegels Anmerkungen in den Folgekapiteln zur Sittlichkeit in Bezug auf die »reine Einsicht«, die Aufklärung und schließlich die Französische Revolution zeigen, 328 Tilo Wesche vertritt die These, dass Hegels Theorie der Tragödie nur scheinbar auf eine »Demaskierung des Tragischen« zielt. Der tragische Konflikt und seine Ausweglosigkeit werden von Hegel zwar entmystifiziert, insofern die politischen Konflikte sich als »rationale Konflikte begreiflich machen [lassen], denen erklärbare Voraussetzungen zugrunde liegen« (Wesche, »Wissen und Wahrheit im Widerstreit. Zu Hegels Theorie der Tragödie«, in: Lore Hühn / Philipp Schwab (Hg.), Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer, Schelling, Nietzsche, Berlin / New York: De Gruyter 2011, 297–318, hier: 305), aber gerade dort, wo Hegel »Täuschungsvermeidung« als abhängig von »schierem Zufall« beschreibt, kann auch der Intentionalismus sich nicht dem Ausgeliefertsein an solche Kontingenzen entziehen. »Diese Kontingenz ist kein Produkt fehlerhaften Denkens und lässt sich nicht durch eine erkenntnistheoretische Aufklärung beheben. Vielmehr ist sie eine Realität, die unserem Denken je schon zuvorkommt« (ebd., 310).

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

dass die dialektischen Umbrüche, die die Aufklärung prägen, entgegen ihrer ursprünglichen Absicht Brutalitäten und Schreckensherrschaftsformen hervorbringen, denen gegenüber die antike Tragik nahezu als lautere und ehrsame Leidensgeschichte erscheint. Köpfe abschlagen in der Manier des »Durchhauen[s] eines Kohlhaupts« (PhG, Bd. 3, 436) konnte die Antike nicht. So weit genealogisch ›gereift‹, so scheinbar bewusstlos durch Bewusstsein war sie in ihrer Lauterkeit noch nicht. 329 Christoph Menke sieht in der Antike die erste künstlerische Reflexionsform einer politischen Metastruktur, die von dort an – als Keim der Moderne – den Menschen als Rechtswesen, und d. h. als Wesen in der Spannung mit einer symbolischen Ordnung, von der es seine Legitimität erfährt, nicht mehr loslassen wird. Die Tragödie erweist sich als die »Urszene der Moderne«. 330 Die hier dargelegte Lektüre unterscheidet sich von Menkes unter der Rücksicht, dass die Tragödie im Sittlichen nicht nur tragisch ist, weil die Spannung zwischen Individuum und Öffentlichkeit besteht, sondern weil das Individuum die Öffentlichkeit von deren falschem Bewusstsein zu befreien sucht. Partikularität will nicht nur partikuläre Verwirklichung. Sie kämpft von ihrer Perspektive aus mit dem Ziel, das Allgemeine struk329 Der von Hegel wiederholt kommentierte Auftritt »großer Individuen« markiert in diesem Kontext zwar kein Auftauchen einer neuen Tragik, aber hier gesteht Hegel eine analoge Struktur der Nicht-Koinzidenz zwischen einem partikulären Einzelwillen und einem Kollektiv ein. Er kann diesen Konflikt nicht tragisch nennen aufgrund einer gegenseitigen Verkennung, aber er kann ihn als Konflikt dennoch beschreiben. Es sei noch darauf hingewiesen, dass Hegel in der Rechtsphilosophie noch eine weitere eher primitive und bisher noch nicht explizit erwähnte Rechtsform aufführt: das Heroenrecht (vgl. Rph, Bd. 7, § 93). Er nennt es absolut »legitim«, insofern es noch keine Legitimität gibt, die ihm widersprechen könnte. Die Kontingenz, mit der der Heros sich einen Berg als seinen einverleibt, ist die Bedingung der Möglichkeit nachkommender Rechtsstrukturen. Das Heroenrecht ist Hegels Tribut an die Theorien des Naturzustandes. Von ihm leiten sich indirekt alle Rechtsstrukturen ab. 330 Menke, Tragödie im Sittlichen, 73. Antigone inszeniert diese Urszene anhand einer dargestellten Reflexivität, die sich selbst zuschaut. »Hegel rekonstruiert die Tragik schöner Sittlichkeit aus einem modernitätstheoretischen Interesse […]. Im Drama sieht Hegel […] den Beginn der Moderne« (ebd., 53). Insofern muss man die Tragödie der Antigone gerade nicht als einen historisch überkommenen Konflikt verstehen, sondern als einen, der sich als »die tragische Erfahrung einer immanenten Gewalt des Rechts« (ebd., 13.) auch in der Welt des bürgerlichen Individuums fortsetzt. Menke geht somit von der Beobachtung aus, dass – entgegen Hegels Andeutungen in der Rechtsphilosophie – auch die Moderne von einer inneren Zerrissenheit zwischen individueller Selbstverwirklichung und dem allgemein etablierten Recht geprägt ist und sein wird. Vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, Kap. 6 und 7.

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Die Tragödie der Antigone: Antigones Akt

turnotwendig durch den Negativpunkt des eigenen Gewissens neu zu formatieren. Die Souveränität des gelungenen Lebens bleibt bei Menke scheinbar in der Tradition von Foucault und Nietzsche, und damit indirekt an den Privatier gebunden, an ein bestimmtes Motiv autokreativer Rettung auf der Ebene des Partikulären. Wir wollen daher das Drama der Antigone weniger als eine Urszene der Moderne lesen, wo sich der tragische Konflikt zwischen individueller Freiheit und Öffentlichkeit um die Entfaltung der eigenen Authentizität, des einen Rechtsstreits um Anerkennung entrollt. Antigone soll den Konflikt als einen etablieren, in dem die individuelle Freiheit nur Bedeutung hat, wenn ihr partikuläres Recht als normativ allgemeinverbindlich für die Polis angesehen wird. Es geht um einen ›parallaktischen‹ Blickwechsel, der die »doxa« selbst bekehrt in einen neuen Raum der »Gewissheit«, den sie, die Doxa, vorher nicht betreten kann.

Die Tragödie der Antigone: Antigones Akt Während Hegel in seiner Jenaer Theorie von der »Tragödie im Sittlichen« von einem Kompromiss zwischen dem »Bourgeois«-Geist und dem modernen Staat ausgeht, der dadurch zustande kommt, dass der Bourgeois-Geist als anerkannt und aufgehoben den ökonomischen Unterbau (als einen vom idealtypischen Überbau unabhängigen) verantworten darf, so ist diese Hegel’sche Version einer für das 19. Jahrhundert geschriebenen Moderne-Theorie als Ökonomietheorie in der Phänomenologie nicht vorherrschend. 331 Die Orestie des Aischylos wird in der Phänomenologie von ihrer Deutungshoheit für die antike Sittlichkeit durch die unversöhnlich ausgehende Antigone des Sophokles ersetzt. Die Antigone legt den Untergang von Rechtsansprüchen offen, wo die »beiden Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben« (Ästhetik III, Bd. 15, 523). Sie beschreibt nicht – wie es die Orestie tut – eine Versöhnung in Ungleichheit zwischen Göttern der Familie / Unterwelt (Erinnyen – Eumeniden) und Göttern der Polis (Apollon und Athene). Hegel interes-

331 Michael Schulte interpretiert die »Tragödie im Sittlichen« aus dem Naturrechtsaufsatz als »asymmetrisches Tragödienmodell«, da hier der Bourgeois-Geist ähnlich wie die Eumeniden in Aischylos’ Tragödie nur als beherrschter Teil der Polis angesehen wird (vgl. Michael Schulte, Die ›Tragödie im Sittlichen‹ : Zur Dramentheorie Hegels, München: Wilhelm Fink 1992, 56).

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

siert gerade nicht eine »asymmetrische« (M. Schulte) Versöhnung als Konfliktlösung zwischen Rechtsansprüchen. Ihn interessiert der Untergang der antiken Sittlichkeit durch eine strukturimmanente Aporie, die das Allgemeine mit sich selbst austrägt und im Durchgang seiner eigenen Niederlage zu einer neuen Formation »aus der Asche« zwingt. Das staatliche Gemeinwesen bekommt in der Phänomenologie ein Anderes gegenübergestellt. Dieses befindet sich als »göttliches Gesetz« nicht außerhalb der Sittlichkeit. Während noch im Naturrechtsaufsatz das Gemeinwesen auf sein Anrecht auf die Einzelheit und den Tod des Einzelnen für den Staat als einen legitimierten und für das Allgemeine tugendhaften verweisen kann, tritt in der Phänomenologie das Recht der Familie auf. Dessen »positive[r] Zweck [… ist] der Einzelne als solche[r]« (PhG, Bd. 3, 331). Warum aber verwirft Hegel die Auflösung der Tragödie im Sittlichen, wie er sie im Naturrechtsaufsatz konzipierte, obwohl er doch einen – wenn auch nur metaphorisch bleibenden – Versöhnungsvorschlag zwischen verschiedenen Gemeinschaftskräften in der modernen Gesellschaft artikulieren konnte? Es ist anzunehmen, dass er dies tat, weil er erkannte, inwiefern eine ethische Lebensform erst durch die Unversöhnlichkeit des provozierten Konfliktes sich »aus der Asche« zu einer neuen Gestalt erheben kann. Frei ist nicht erst das Subjekt der Moderne. Frei ist auch der Orientale, wenn auch nur als Einzelner. Bei den Griechen ist dann bekanntlich gemäß einer weitverbreiteten Denkfigur des 18. und 19. Jahrhunderts die Freiheit als »Bewußtsein der Freiheit aufgegangen« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 31). Unabhängig aber davon, wie viele je nach den Bestimmungsformen der Weltgeschichte frei sind, ist entscheidend, dass sich das vorerst rein abstrakt bleibende Prinzip der Freiheit nur durch die Kontingenz von Handlung bzw. Tat verwirklicht. Hegel versteht die subjektive Freiheit von einer Tat 332 abhängig und von deren – aus ihr sich durch Veräußerungen reflexiv zu ihr selbst verhaltenden und erkennenden – Effekten. Diese Freiheit hat unterschiedliche Reflexionsstufen, aber sie ist als »Leidenschaft« für Hegel spätestens seit den Griechen immer ein Agieren, wo das Subjekt – wie 332 Hegel unterscheidet in der Rechtsphilosophie verschiedentlich zwischen Tat, Handlung und Ausagieren, wobei die Begriffe nicht ganz präzise voneinander getrennt sind.

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Die Tragödie der Antigone: Antigones Akt

auch immer verblendet – als monadologische Inhaltsform im Ausbruch seines Agierens die Gestalt einer paradoxal zukünftigen Nachträglichkeit des Gewesen-werden-Seins passiv/aktiv erfährt. Die Verschränkung von Inhalt und Form, die das Subjekt in seiner Potenzialität verwirklicht, setzt etwas Ewiges frei, die Idee, und zwar in dem Moment, in dem es sich in seiner Kontingenz verwirklicht als das, was es auf der Ebene der Idee retrospektiv-virtuell immer schon war. Wenn Hegel z. B. in der Einleitung seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von der Freiheit als »Bei-sichselbst-Sein« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 30) spricht, so nicht in dem Sinne, dass die Freiheit mit statischer Ruhe zu verwechseln ist, mit Materie, welcher die Eigenschaft des In-der-Schwere-Ruhens zukommt. Freiheit als »Bei-sich-selbst-Sein« meint nicht genügsame Befriedigung meditativer Selbstversenkung. Freiheit ist in dem Sinne »Beisich-selbst-Sein«, insofern sie aus Affekt und radikaler Selbstgewissheit (mag sie reflektiert oder unreflektiert sein) es wagt, aus sich herauszutreten, um in Veräußerung ihrer selbst durch Handeln eine Transsubstantiation ihres »Bei-sich-selbst-Seins« als das nachträglich immer schon Dagewesene zu erfahren. Erst durch die Tat und ihre Folgen kann die Freiheit sich zurückschauend erkennen als das, was sie immer schon »bei-sich-selbst« gewesen ist. Versteht man dieses »Bei-sich-selbst-Sein« nur als gefahrenlose Umwandlung von Potenzialität in Aktualität, dann entgleitet das Paradox, um das Hegel hier in seiner Theorie der Tat ringt und das er in seiner Antigone-Interpretation vorbringt. Denn was Antigone auszeichnet, ist ja gerade, dass hier eine Einzelheit hervortritt, die als Teil der sittlichen Substanz dieselbe durch ihre frevelhafte »Tat« in einen Zwiespalt bringt. 333 333 Der Wille der Antigone mag den Anschein erwecken, ein Wille aus »reiner Unbestimmtheit« zu sein. Unbestimmt wäre Antigones Wille in dem Sinne, dass ihr Rechtsbewusstsein in einem »Unbewussten« der rechtlichen Bestimmungen verborgen liegt und ihre Freiheit der Wahl evtl. immer eine durch unbewusste Kräfte bedrängte ist. Im § 5 der Rechtsphilosophie spricht Hegel von »Unbestimmtheit« als eines von zwei Momenten des Willens. Er nennt das erste Moment »Freiheit der Leere«. Die Freiheit der Leere steht für einen Moment des Willens, einen Nullpunkt zu setzen. Es ist die »Flucht aus allem Inhalte als einer Schranke« (Rph, Bd. 7, § 5). In einem gewissen Sinne könnte man dies Antigone und Sokrates ›vorwerfen‹. Die Hartnäckigkeit ihrer Position wirkt aus der Perspektive der ihnen gegenüberstehenden Gegenseite wie »Leidenschaft« und »Fanatismus«, ein Fanatismus, der auch die »Zertrümmerung der Ordnung« nicht ausschließt. Diese Seite des Willens steht für die »absolute Möglichkeit, von jeder Bestimmung, in der Ich mich finde, oder die Ich in

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

In Analogie zu Kants Theorie vom moralischen Akt als Akt spontaner Freiheit artikuliert Hegel hier eine Unbedingtheit, die als solche von der Tat, die sie zur Verwirklichung braucht – wenn sie erst verwirklicht ist – auch wiederum unabhängig ist, unabhängig vom Moment der kontingenten Verwirklichung, denn sie ist je schon gewesene Idee. So kann das Subjekt sowohl von Kontingenzen bedingt und doch als Verkörperung der Idee unbedingt sein. Hegel sieht deswegen ähnlich wie Kant das Unbedingte zwar von Kontingenz durchdrungen, aber er betont ebenso, dass diese Kontingenz nicht Bedingung der Idee und die Idee nicht Bedingung des kontingenten Momentes im Sinne einer gegenseitigen Kausalität sein darf. Die Idee braucht die Kontingenz der materiell-geschichtlichen Wirklichkeit, insofern ihre Bestimmungen in der Materie nur durch Materie sich artikulieren können, die, wie Hegel in der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte schreibt, »nach Idealität [strebt]« (ebd.). Wäre Jesus von Nazareth beispielsweise nicht dem kontingenten Faktum unterworfen gewesen, Jude im ersten Jahrhundert seiner eigenen Prinzip- und Idee-Werdung als der Christus zu sein, dann hätte die Kontingenz der Existenz dieses Wanderpredigers auch nicht dessen eigene Geburt zu einer zwischen den Jahren sieben und vier post Christum natum machen können. Idee und Kontingenz bedingen sich bei gleichzeitigem Hinweis auf eine nicht-hinreichende Bedingungsstruktur beider Momente. Gewesen, vorgängig, ist Freiheit – die Freiheit der Einzelheit, wie sie Antigone verkörpert – nach ihrem Schritt aus sich heraus. So verwirklicht Freiheit ihre Potenzialität in einer Schleife retroaktiver Performanz, wo sich die Kontingenz einer Handlung als Notwendigkeit eines »Bei-sich-selbst-Seins« etabliert haben wird. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von »Tätigkeit«. Als »Tätigkeit« ist sie, die Tat, »Mitte des Schlusses, dessen eines Extrem das Allgemeine, die Idee ist, die im inneren Schacht des Geistes ruht, das andere ist die Äußerlichkeit überhaupt, die gegenständliche Materie. Die Tätigkeit ist die Mitte, welche das Allgemeine und Innere übersetzt in die Objektivität« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 44).

mich gesetzt habe, abstrahieren zu können, die Flucht aus allem Inhalte als einer Schranke« (ebd.). Dennoch gehen Antigones und Sokrates’ Wille nicht in dieser Unbestimmtheit unter. Denn beide handeln ebenso aus der im § 6 der Rechtsphilosophie entfalteten Bestimmung ihrer selbst. Nur so kann Antigone für Hegel dann auch Teil der Substanz der griechischen Sittlichkeit sein und Sokrates Teil der Polis.

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Die Tragödie der Antigone: Antigones Akt

Wäre Freiheit nur Idee als Allgemeinheit ohne Materie, dann wäre sie analog zur Materie vollkommen unbestimmt und leer. Hegel würde die Freiheit verlieren in dem Moment, wo er sie von Kontingenz loslöste. Bliebe Kontingenz (die Kontingenz des Ausagierens) aber die die Idee der Freiheit bedingende Kausalität, dann wäre die Allgemeinheit und Unbedingtheit der Idee und damit die Freiheit erneut gefährdet, weil die Idee durch die Kausalität der Kontingenz nicht mehr bedingungslos allgemein sein könnte. Sie wäre durch Kontingenz ihrer Allgemeinheit beraubt. Wenn Hegel im Kontext seiner Antigone-Interpretation auf die Handlung als Akt der Freiheit zu sprechen kommt, dann tut er das, um die Bedeutung des Agierens für die Freiheit des Individuums als Ausdruck gerade des sittlichen, griechischen Freiheitsbegriffes zu betonen. Er hatte die »Tat« auch schon im Vernunft-Kapitel hervorgehoben als Ausbruch aus einem in epistemologischen Fragestellungen sich verwickelnden Selbstbewusstsein, das aus sich heraustreten muss (PhG, Bd. 3, 243). Die Tat im Kontext griechischer Sittlichkeit geht aber einen Schritt weiter. Sie überwindet nicht nur die Introversion selbstreflexiven, epistemologischen Bewusstseins. Sie ist auch Ausdruck einer Bewusstseinsstufe der Freiheit im Bereich des Gemeinwesens und riskiert – wie Antigone zeigt – zum Wohl des Allgemeinen der sittlichen Substanz den Preis einer Katastrophe des Gemeinwesens. 334 Die Tat kennt hier kein Abwägen, keine Willkür. In einem Kant’schen Sinne ist sie Pflicht, weil sie als Wollen ein absolutes Müssen ist. Die Tat Antigones kann hier deshalb auch nicht, wie Hegel in Anspielung auf Kant sagt, als »Kollision von Leidenschaft und Pflicht« (PhG, Bd. 3, 342 f.) auftreten, weil sie »kein Kampf« (PhG, Bd. 3, 342), sondern »die einfache reine Richtung« (ebd.) ist. In der sittlichen Pflicht ist keine »Unentschiedenheit«. Beim Kant’schen moralischen Willen ist die absolute Zwingkraft des mora-

334 Die Tat »ist das wirkliche Selbst« (PhG, Bd. 3, 342), schreibt Hegel, und durch sie geht die einstige Ordnung »zu einem Übergange [e]ntgegengesetzter« (ebd.) Kräfte. Aber der Grund dieser »Entgegengesetzte[n]« ist immer noch das »Reich der Sittlichkeit« (ebd.). So ist die Tat Teil dieser Sittlichkeit und als solche »Pflicht«, die das Sittliche gegen sich aufruft. Deshalb gibt es in dieser Tat »keine Unentschiedenheit« (ebd.).

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lischen Gesetzes in der Achtung desselben von jeder Neigung als unabhängig erkannt. Die Pflicht der griechischen Sittlichkeit aber braucht keine Zwingkraft der praktischen Vernunft, da das Sittliche hier eins mit dem Selbstbewusstsein ist. Und hier ist es ganz unerheblich, auf welcher Seite die »Pflicht« steht. Sie kann sowohl »dem göttlichen oder dem menschlichen Gesetze angehören« (PhG, Bd. 3, 343). 335 Die Regierung vertritt die offen in der Sonne zu Tage liegenden Gesetze, die »Befehle der Regierung« (ebd.). Die Seite des innerlichen Fürsichseins steht für Gesetze, die »unterirdisch«, »ins Innre verschloss[e]n« (ebd.) sind. So entsteht ein Gegensatz zwischen »Gewußte[m]« und »Nichtgewußte[m]«, und das menschliche Gesetz des sittlichen Gemeinwesens kommt mit dem »göttlichen Rechte des Wesens in Streit« (ebd.). 336 Hegel legt Antigone in indirekter Abgrenzung zu seiner ÖdipusInterpretation aus, um deutlich zu machen, wie Antigone durch die Tat, ihren Bruder zu beerdigen, eine ausgeprägte Autonomie verkörpert, während Ödipus nur passiv die Autonomie als von Blindheit Geschlagener erduldet (Rph, Bd. 7, § 117). Ödipus, der seinen Vater erschlägt, wird unschuldig schuldig, indem er versucht, seinem Schicksal zu entkommen und sich dadurch des Hochmuts anklagbar macht. Er folgt seinem Schicksal entgegen seiner Intention als passiv Beteiligter. Antigone aber erkennt ihren »Frevel«. Ihre Tat bleibt nicht mit Blindheit und Passivität beschlagen, sondern ist wirkliches Tun einer Einzelheit, die ihre Freiheit wagt. 337 Deshalb kann ihr sitt335 Deswegen erscheint auch der Konflikt zwischen Antigone und Kreon als »unglückliche Kollision der Pflicht nur mit der rechtlosen Wirklichkeit« (ebd.). Jede Seite sieht auf der »andern Seite« je nur entweder »menschliche zufällige Gewalttätigkeit« (PhG, Bd. 3, 344) oder eben den »Eigensinn und den Ungehorsam des innerlichen Fürsichseins« (ebd.). 336 Die Wirklichkeit des sittlichen Gemeinwesens steht gegen den Widerstand des exzessiven Einzelwillens »mit der Wahrheit im Bunde gegen das Bewußtsein« (PhG, Bd. 3, 344). Die Wahrheit ist die gegenständliche Wirklichkeit, wie sie allgemein »am Tage liegend[]« öffentlich allen zugängig ist. Das sittliche Bewusstsein agiert auch aus der Sittlichkeit, aber von einer der Öffentlichkeit und der »Sonne« abgewandten Seite. 337 Man könnte dagegen einwenden, dass Antigone Gesetze nur als Seiende versteht, und nicht als Gesetze, die sie in ihrer Autonomie im kantischen Sinne selbst setzt. Wie kann sie dann aber gerade Freiheit verkörpern? Die Gesetze, das sagt jetzt Hegel in Rekonstruktion von Antigones Rechtbewusstsein, »sind« und weiter nichts. »So gelten sie der Antigone des Sophokles, als der Götter ungeschriebenes und untrügliches Recht: nicht jetzt und gestern, sondern immerdar lebt es und keiner weiß, von wannen es erschien« (PhG, Bd. 3, 322).

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liches Bewusstsein auch »seine Schuld anerkennen; weil wir leiden, anerkennen wir, daß wir gefehlt« (PhG, Bd. 3, 348). 338 Hegel unterstreicht dennoch, dass Antigone die von ihr bis zum Tod verteidigten Normativität der Beerdigungsgesetze nicht »bewusst« durchdringt. Die Tochter des Ödipus handelt zwar vollkommen verantwortlich für ihre frevelhafte Tat, aber im eigentlichen Sinne ist das, wofür sie kämpft, ihr nur intuitiv einsichtig. Deshalb schreibt Hegel, das sittliche Bewusstsein, das Antigone verkörpert, hätte »aus der Schale der absoluten Substanz die Vergessenheit aller Einseitigkeit des Fürsichseins, seiner Zwecke und eigentümlichen Begriffe getrunken, und darum in diesem stygischen Wasser zugleich alle eigene […] selbständige Bedeutung der gegenständlichen Wirklichkeit ertränkt« (PhG, Bd. 3, 344). Weil dieses sittliche Bewusstsein selbst als bewusstloses noch eins mit der sittlichen Substanz ist, kann es das nicht zu relativierende Gesetz der Familie einfordern. Daher ist die Tat der Antigone, ihr unnachgiebiges Insistieren »nichts anderes […] als das sittliche Tun« (PhG, Bd. 3, 345), das aber dennoch »durch die Tat zur Schuld« (PhG, Bd. 3, 346) wird. Denn »als einfaches sittliches Bewußtsein hat es sich dem einen Gesetze zugewandt, dem andern aber abgesagt, und verletzt dieses durch seine Tat« (ebd.). Antigones Tat ist dann, wie Hegel betont, das »wirkliche Selbst«, das den Untergang der griechischen Antike schon andeutet. Durch sie setzt das sittliche Bewusstsein, das Antigone vertritt, »die Trennung seiner selbst, in sich als das Tätige und in die gegenüberstehende für es negative Wirklichkeit« (PhG, Bd. 3, 347). 339 338 Menke betont diese zu unterscheidende Wertigkeit der tragischen Tat von Ödipus und Antigone als Beweis einer reflexiven Dezentrierung des heroischen Subjekts (Vgl. Menke, Tragödie im Sittlichen, 94). 339 In den folgenden Paragraphen dieses Kapitels unterstreicht Hegel schließlich, inwiefern Antigone Gesetze vertritt, die »in den Wässern der Vergessenheit« versunken sind und dennoch ihren Teil an der sittlichen Substanz haben. Als »Gesetze der Schwäche und der Dunkelheit« (PhG, Bd. 3, 351) unterliegen sie den Gesetzen des Tages, wie sie die Polis prägen. Aber indem die Oberfläche der Wirklichkeit »dem Innerlichen seine Ehre und Macht« (ebd.) genommen hat, d. h. in der Verweigerung der Beerdigung des Polyneikes der Familie das ihr eigene Recht bestreitet, hat sie auch ihr eigenes Wesen aufgezehrt. Und so erfährt die Polis, dass ihr »höchstes Recht das höchste Unrecht«, ihr Sieg über die Familie und die Einzelheit vielmehr ihr »eigener Untergang ist« (ebd.). Antigones exzessive, unbewusste Gewissheit, die selbst die Normativität ihrer Handlungsmaximen nicht ›an die Sonne‹ bringen kann, hat ihrer Gegenmacht den eigen Substanzmangel der Wirklichkeit offenbart. Ihre Gewissheit ist – obwohl »unbewusst« – mächtig genug, das »bewusste« Gesetz des Gemeinwesens zu untergraben. Ihr Konflikt wird als einer dargestellt, der an keiner Stelle eine

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Übrigens ist auch Heidegger vom nichtpropositionalen Wissen am Ursprung von Antigones Handeln fasziniert. Er betont in seiner Freiburger Vorlesung von 1942 über Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone, 340 dass darin die ursprüngliche Gegensätzlichkeit zum politischen Gemeinwesen und die Unheimlichkeit der Antigone liegen. Heidegger entfaltet eine phänomenologische Studie der Nicht-Koinzidenz von Antigones unheimlichem und nicht-heimischem Wesen. Seine Macht liege darin, dass es sich nicht in die Welt des Seienden integriere. »Weil […] die Erklärer dieser Tragödie noch immer danach schnappen, im Wort der Antigone eine Erklärung ihres Handelns zu finden, d. h. eine Aussage über das Seiende, das ihr Tun verursacht, trachtet man nur danach, den Hinweis auf Seiendes zu finden, sei es der herrschende oder alte Totenkult, sei es die familienhafte Blutsverbundenheit. Man verkennt, daß Antigone in ihrem Wort weder von jenem noch von dieser spricht. Man kann noch nicht sehen, daß sie überhaupt nicht von einem Seienden spricht.« 341

Heidegger übersetzt die sowohl Hegel als auch Hölderlin fasziniert habenden Verse 450 ff. wie folgt: »Antigone: Nicht nämlich irgend Zeus wars, der mir geboten dies, / noch auch, die heimisch bei den unteren Göttern Dike / wars, die unter Menschen setzten dies Gesetz […] Nicht nämlich irgend jetzt und auch nicht gestern erst, doch ständig je / west dies. Und keiner weiß, woher es eh’ erschienen.« 342

Heidegger schließt daraus etwas mystisch, Antigone sei »un-heimisch« (so Heideggers Übersetzung von »deinon«), »weil sie das Unheimlichste in der höchsten Weise eigentlich ist.« 343 Das Unheimliche, bzw. etwas moderner ausgedrückt, das Nicht-Propositionale bekommt hier bei Heidegger ähnlich wie bei Hegel eine eigene, seinsoffenbarende Gewalt. Sowohl Hegel als auch Heidegger interessiert Lösbarkeit durch einen Bereich des tertium datur verspricht und dennoch im Untergang der Polis einen ethischen Ursprung entstehen lässt. 340 Vgl. Martin Heidegger, »Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone«, in: ders., Hölderlins Hymne ›Der Ister‹, Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 1984, 63–152. 341 Heidegger, »Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone«, 144. 342 Heidegger, »Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone«, 145. 343 Heidegger, »Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone«, 146.

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eine ›Leerstelle‹, die als eine Art ontologische Kluft bewusstseinserweiternde und d. h. auch normativitätserweiternde Dimensionen hat. Antigone artikuliert in sich ein Gegenspiel »zwischen dem Unheimischen im Sinne des ausweglosen Umtriebes im Seienden und dem Unheimischen als dem Heimischwerden als der Zugehörigkeit zum Sein.« 344 Mit Hegel könnte man sagen: Antigone steht für eine Kluft im Sein, in der sich dasselbe in seiner eigenen Nicht-Koinzidenz erkennt – zugunsten seiner neuen Form, die sich durch ein Verweilen beim Negativen ergeben haben wird. Der Rechtsanspruch der Antigone kann sich auf keinen »scorekeeper« berufen als Garanten eines Gebens und Nehmens von Gründen, da ihre eigene Gewissheit im »stygischen Wasser« schlummert, bzw. in den »Wässern der Vergessenheit« die Gesetze der Unterwelt verborgen liegen. Was aber hier geheimnisvoll und mythisch klingt, kann auch systemisch interpretiert werden im Sinne von zwei aneinander grenzenden Teilmengen, deren jeweilige Kohärenz durch die Grenze der Gegenmenge bedingt ist. Die Vergessenheit und Unbewusstheit der von Antigone vertretenen Normativität steht dann für eine, deren Argumente überhaupt nicht in der Wirklichkeit der Polis Geltung haben dürfen. Jedoch nicht, weil der propositionale Inhalt der Normativität im geheimnisvollen Geflecht der Überlieferung verloren ist, sondern weil er unter den Prämissen ›der etablierten Wirklichkeitsrepräsentanz‹ per se schon »unterweltlich« ist, per se schon in »Vergessenheit« zurückgedrängt werden musste. Die Möglichkeit der Existenz eines politischen Differenzsystems hängt eben von der Existenz seiner Grenzen ab, die nicht Teil des Differenzsystems selbst sein können. Die Antigone des Sophokles steht so als systemische Allegorie von zwei politischen Teilmengen für sich, deren jeweilige Kohärenz die Grenze der anderen braucht und wo erst der Einbruch beider Teilmengen durch die politische Katastrophe eine neue ethische Gründungsfigur provoziert: den römischen Rechtszustand. Es kommt daher gar nicht darauf an, ob hier Rechte, Normativitäten »in den Wässern der Vergessenheit« liegen oder nicht. Selbst wenn sie der Antigone bewusst (d. h. selbstreflexiv von ihr begriffen) wären, wären sie für die Polis nicht automatisch verstehbar. Die Rede von »den 344 Heidegger, »Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone«, 147.

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Wässern der Vergessenheit« verweist auf eine Versenkung alter Prämissen, die das Gemeinwesen als modernes überhaupt erst – aufgrund des Vergessens – hat etablieren lassen. Die Notwendigkeit einer Verkennung steht für die Geburt einer neuen Lebensform aus einer ethischen-katastrophalen Gründungsgeste, die die Einzelheit in ein neues Verhältnis mit dem Allgemeinen bringt. Das Tun des Individuums hat dabei den »Schein der Zufälligkeit« (PhG, Bd. 3, 352), aber die Bewegung, die es als Konflikt zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz zum Ausdruck bringt, ist wiederum eine (vorzukünftige) Notwendigkeit bzw. drückt das wirkliche Dasein und die Bewegung »an dem wirklichen Volke« (ebd.) aus. 345 Man könnte die exzessive Subjektivität der Antigone auch als einen »akratischen Akt« im Sinne von Donald Davidsons »MedeaPrinzip« verstehen. 346 Der Überschuss einer »alien force« bahnt sich den Weg und bestimmt die Handlungstat des Subjekts. Diese »Kraft« insistiert selbst dann, wenn im praktischen Konflikt durch den Aufweis logischer Widersprüche die Willensmotivation besänftigt sein sollte. Davidsons These der Irrationalität beruht auf der Annahme, dass es einen mentalen Handlungsursprung geben kann, der im strikten Sinne kein Handlungsgrund ist. Er erklärt dies durch eine an Freud ausgerichtete Entzweiung des Bewusstseins in verschiedene Teilbereiche. Bernard Williams zeigt seinerseits in dem Artikel »Widerspruchsfreiheit in der Ethik«, dass ein Unterschied zwischen praktischen und kognitiven Konflikten dort aufweisbar ist, wo die unterlegene Seite im ersten Falle nicht aufhört, ihre Willenskraft zu behaupten, selbst wenn ihr Handlungsgrund im Verhältnis zu anderen Gründen geschwächt ist. 347 Der Konflikt wirkt dann gerade wei345 Vgl. ebenso Allen Speight. Er untermalt, dass Hegels Theorie retrospektiver Normativität am Beispiel der Antigone nicht das »first-person element« der Handlung in Frage stellt. »Hegel’s account of agency will […] incorporate an intentional or firstperson element of action, but it will be one that is not determined by an incorrigible content to which the agent has exclusive access; rather, what can be taken as intentional is something shaped by a process of revision in which an agent’s account of what he did and why he did it, is necessary part of an ongoing dialectic between impersonal and personal sides of agency« (Allen Speight, »Tragedy and Retrospectivity«, in: ders., Hegel, Literature, and the Problem of Agency, Cambridge: Cambridge University Press 2001, 56). 346 Davidson entwirft dieses Prinzip in seinem Artikel »Two Paradoxes of Irrationality«, 289–305. 347 Vgl. Bernard Williams, »Widerspruchsfreiheit in der Ethik«, in: ders., Probleme des Selbst. Philosophische Aufsätze 1956–1972, Stuttgart: Reclam 1978, 263–296.

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ter, weil er nicht ausschließlich auf logische Verhältnisse reduzierbar ist. Wie Dirk Setton wiederum in seiner erhellenden Analyse der Ansätze von Davidson und Williams offenlegt, entspricht dieses Insistieren einer Willenskraft jenseits ihrer logischen Entmachtung der Gestalt eines »syllogistischen Bastards«. Aristoteles lege dies am Beispiel des »thymos« offen. Setton schreibt: »Die Unentscheidbarkeit des Konflikts, d. h. das ›Sowohl-als-auch‹ (im Gegensatz zur ›Entweder-Order‹-Logik der prohairesis [Wahl / Entscheidung, D. F.]) bleibt untergründig erhalten, und hier, in der Latenz des Willens, kann sich eine Gegen-Entscheidung ereignen – eine Entscheidung, die nicht in der Selbstgegenwart der Ausübung des rationalen Willens stattfindet, sondern in dessen Schatten, als gleichsam virtueller Akt, den das seiner selbst bewusste Subjekt sich weder zuschreiben noch nicht zuschreiben kann.« 348

Einen solchen »akratischen Akt« interpretiert Setton am Beispiel der Medea, wobei er diesem Akt – ähnlich wie wir es hier am Beispiel von Hegels Antigone tun – zwei Alternativen zuweist: den »Weg des irrationalen Scheiterns und de[n] Weg einer künftigen Rationalität.« 349 Martha Nussbaum sieht im Chor des Antigone-Dramas eine Kompromissinstanz zwischen den Gewalt-Parteien »in being faithful to or harmonious with one’s sense of worth by acknowledging the tension and disharmony«. 350 Der Chor stehe als Instanz für einen auf Harmonie ausgerichteten Umgang mit Wertepluralität. Dagegen sieht Menke zu Recht in seiner Kritik an Nussbaum den Chor nur als »Zeichen resignativer Kraftlosigkeit«. 351 Verglichen damit ist die Intoleranz der Antigone gerade politisch kraftvoll in der Provokation der Kollision. Erst durch die Tat als negative Verstörung eines Gleichgewichts kann sich die sittliche Substanz verwirklichen, was ohne die Verstörung als »unwirklicher Schatten« nicht einmal Potenzialität war. Was aus der Perspektive Kreons noch wie ein absurdes Festhalten an Kulten der Unterwelt und wie eine Reise Antigones in die Vergangenheit aussieht, ist für Hegel tatsächlich ein Weg in die Zukunft. 348 Dirk Setton, »Das ›Medea-Prinzip‹. Vom Problem der Akrasia zu einer Theorie des Un-Vermögens«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 57, Nr. 1 (2009), 97– 117, hier: 116. 349 Setton, »Das ›Medea-Prinzip‹«, 117, Hervorhebung D. F. 350 Martha Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press 1986, 81. 351 Menke, Tragödie im Sittlichen, 87.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

Ähnlich werden wir bei Lacan sehen, wie dieser das Unbewusste in der Tradition Freuds als in einer Zeitform stehend offenlegt, durch die das Unbewusste mit seinen Verdrängungen aus der Vergangenheit sich erst von der Zukunft her offenbart. Die unbewusste Vergangenheit (und dafür stehen ja sinnbildlich die Götter ein, deren Normen Antigone bewahrt) kommt von der Zukunft her zur Geltung. Nur von der Zukunft wird das Unbewusste, wie Lacan schreibt, »gewesen sein«. 352 Der Sinn der Gegenwart wird dem Unbewussten nachträglich konstruiert. Die Verkennung ist Bedingung der nächsten Bewusstseinsform. (In seiner Sokrates-Interpretation wird Hegel dann nicht nur die Einzelheit als die eigentliche Bruchstelle der Antike ausfindig machen, sondern auch das Prinzip der Subjektivität.) Der Übergang zum römischen »Rechtszustand« ist somit gemäß dem Narrativ der Phänomenologie geebnet. Von jeder weiteren in der Zukunft liegenden Bewusstseinsstufe erscheint die »sittliche Welt« als zum Scheitern verurteilt durch eine exzessive Subjektivität, an der sich die Tragik artikuliert. »Die sittliche Welt zeigt den an ihr nur abgeschiedenen Geist, das einzelne Selbst, als ihr Schicksal und ihre Wahrheit« (PhG, Bd. 3, 441). Individualität war »abgeschieden«. Aber als solche machte sie die nächste Entwicklung möglich. Hegel schreibt zu Beginn des Bildungskapitels daher treffend: »Aber das Dasein dieser Welt so wie die Wirklichkeit des Selbstbewußtseins beruhen auf der Bewegung, daß dieses seiner Persönlichkeit sich entäußert, hierdurch seine Welt hervorbringt und sich gegen sie als eine fremde so verhält, daß es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat« (PhG, Bd. 3, 363).

Tragik und Tragödie im Kontext von Wissen und Wahrheit Der Konflikt, den Antigone artikuliert, betrifft die Opposition von Besonderem und Allgemeinem. Während die sittliche Substanz diese Opposition noch zu Beginn ihres Zeitalters als Einheit in Zwietracht zusammenfassen kann (Ödipus / Orestie), geht sie im Auftauchen der ›frevelhaften Tat‹ Antigones – eine neue Form der Freiheit vertretend – notwendig unter. Der Konflikt von Besonderem und Allgemeinem, den die Phänomenologie thematisiert, ist auch innerhalb einer epistemologischen Metatheorie verortet. Sie betrifft das Ver352 Jacques Lacan, Das Seminar I. Freuds technische Schriften, Berlin / Weinheim: Quadriga 1990, 204.

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Tragik und Tragödie im Kontext von Wissen und Wahrheit

hältnis von Wissen und Wahrheit von ihren ersten Bewusstseinsstufen bis hin zu ihren letzten. Der prinzipielle philosophiepraktische Konflikt, der die Antigone als einer zwischen Besonderem und Allgemeinem prägt, geht so auch mit einem Widerstreit von Wissen und Wahrheit einher, wie Tilo Wesche überzeugend nahelegt. 353 Wissen und Wahrheit stehen für gleichberechtigte Ansprüche und bilden einen notwendigen Gegensatz in der Entwicklungsgenealogie des Begriffs. »Die Einheit von Wissen und Wahrheit hat hierbei die Form wechselseitiger Anerkennung. Wissen wird auf der Grundlage allgemeiner Standards als wahr anerkannt, die wiederum vom Wissen müssen anerkannt werden können.« 354 Kann man den Konflikt der Antigone in das genannte Verhältnis der Dichotomie von Wissen und Wahrheit verorten? Ja, wenn die Antigone als politische Kollision zwischen Besonderem und Allgemeinem ebenso auf die Verwobenheit von Werten, Normen und Fakten hinweist, die in jüngeren philosophiepraktischen und epistemologischen Diskussionen immer wieder thematisiert wurden. Zu nennen wäre hier z. B. die Debatte zwischen Jürgen Habermas und Hilary Putnam, die ihrerseits wiederum auf die erste Generation des amerikanischen Pragmatismus, James und Dewey, rekurriert. 355 Der Kampf der Antigone ist nicht nur ein Kampf um Lebensformen zwischen Mythos und Polis, sondern als solcher betrifft er – wie alle Bewusstseinsformen der Phänomenologie – immer auch epistemologische Erkenntnismomente der Wahrheit in den dialektischen Wendungen des Hegel’schen Begriffs. Hegel untermalt in seiner Phänomenologie ja gerade, wie die Teilbereiche der theoretischen, praktischen und ästhetischen Philosophie nicht im Kant’schen Sinne als getrennte Hoheitsbereiche der Vernunft untersucht werden können. Die Phänomenologie entfaltet immer schon eine Theorie, die eine strikte Trennung von Fakten, Normen und Werten für eine Verkennung hin zu einer falsch verstandenen Vernunft hält. Dies ist wichtig zu betonen, um in der Antigone nicht nur den Konflikt von Vgl. Wesche, »Wissen und Wahrheit im Widerstreit«, 299. Wesche, »Wissen und Wahrheit im Widerstreit«, 300. 355 Siehe: Hilary Putnam, »Werte und Normen«, in: Klaus Günther / Lutz Wingert (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, 280–313; Jürgen Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung; Hilary Putnam, »Antwort auf Jürgen Habermas«, in: Marie-Luise Raters / Marcus Willaschek (Hg.), Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 306–321. 353 354

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

mehr oder weniger beliebigen Lebensformen, sondern die Frage nach Objektivität zu erkennen. Exzessive Subjektivität, wie Antigone sie vertritt, verkörpert in diesem Kontext ein Wissen, das sich von einem Allgemeinen als wahr anerkannt erfahren muss, weil erst durch dieses Allgemeinen das Wissen sich vergewissern kann, dass seine Überzeugungen in die Gesamtheit von Überzeugungen integriert werden können. 356 Weil dies bei Sophokles nicht gelingt, erleben wir eine Tragik, die bis zum momentanen Kollaps des gesamten Verhältnisses von Wahrheit und Wissen führt. Das Wissen als Instanz des Besonderen bzw. des »Für-es-Seins« weiß, dass es die Instanz für Rechtfertigung und Geltung braucht, die Instanz des »An-sich-Seins«. Diese ist keine außersprachliche, abstrakte Entität, sondern für Hegel die der Intentionalität des Bewusstseins eingeschriebene Verwiesenheit von Subjekt und Objekt als Entwicklungsgeschichte des Geistes. Das Wissen braucht zur Prüfung seiner eigenen Inkonsistenz ein Allgemeines, das in der Entwicklungsgenealogie, die die Phänomenologie ist, sich als historischer Selbstlegitimations-Prozess entfaltet. In diesem stehen sich Besonderes und Allgemeines – oder auf unsere Thematik bezogen: exzessive Subjektivität (verkörpert durch Wissen, Gewissen, Gewissheit) und die etablierte Allgemeinheit in einem Konflikt um Anerkennung – sich bedingend gegenüber. Tragisch ist dieser Konflikt, weil gemäß Hegels Definition der Tragödie hier unversöhnlich zwei gegensätzliche Rechtsansprüchen einander in Frage stellen. 357 Exzessive Subjektivität provoziert durch Nicht-Anerkennung des Geltungsbereiches des Allgemeinen die »Entzweiung des Begriffs«. Sie braucht zeitgleich für ihre eigene Geltung das Allgemeine, welches das Besondere überschreitet. Dieses Allgemeine muss sich jedoch, wie Tilo Wesche bemerkt, »gegenüber dem Wissen legitimieren können, obwohl es dasselbe überschreitet.« 358 Diese krisenträchtige Dichotomie konkretisiert sich in politischen Konstellationen zwischen normativ-etablierten und um Legitimierung ringenden Praktiken. Und der Konflikt Pippin sieht in der Antigone die strikte Dichotomie zwischen Normen und Werten hinterfragt (vgl. Robert B. Pippin, »The Conditions of Value«, in: Joseph Raz / R. Jay Wallace (Hg.), The Practice of Value (Berkeley Tanner Lectures), New York / Oxford: Oxford University Press 2005, 86–105). 357 Hegel: »Die Wahrheit […] der gegeneinander auftretenden Mächte des Inhalts und Bewußtseins ist das Resultat, daß beide gleiches Recht und darum in ihrem Gegensatz, den das Handeln hervorbringt, gleiches Unrecht haben« (PhG, Bd. 3, 539). 358 Tilo Wesche, »Wissen und Wahrheit im Widerstreit«, 301. 356

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Tragik und Tragödie im Kontext von Wissen und Wahrheit

um die Beerdigungspraktik der Antigone ist für Hegel in diesem Sinne auch epistemologischer Widerstreit zwischen Wissen und Wahrheit. Antigone tritt zuerst scheinbar nur im Gewand einer bestimmten historischen Verblendungsstruktur auf, einer Verblendung von Besonderem und Allgemeinem, wobei beide Instanzen – im vorwissenschaftlichen »Nichtwissen« verwoben – noch nicht ihre Gegensätze mit rationalen (modern gesagt: konsensorientierten) Mitteln haben klären können. Was dem Bewusstsein durch Negativitätserfahrung geschieht, verweist auf keine Auflösung der Negativität durch einen Rationalitätsbegriff, der diese Negativität nun durch Legitimationspraxen unbeschadet auflösen könnte. Die Negativität ist etwas, das jeder Bewusstseinsformation als Bedingung ihrer Möglichkeit, von einer neuen überschrieben zu werden, entgeht. 359 Auf ein bestimmtes Beerdigungsritual zu verzichten, ist für das Wissen auf der Ebene des Besonderen keines von vielen unbedeutenden Werturteilen. Aus Antigones Perspektive werden Welt, Lebenswelt und Wirklichkeit in der Vernachlässigung des Rituals in ihrer Objektivität eines normativen Raumes für das Geben und Nehmen von Gründen absolut und nicht nur kavaliersdelikthaft verletzt. Ein Verbot, den Bruder zu beerdigen, ist ein propositionales Urteil, das aus der Perspektive des Besonderen (aus der Perspektive der Antigone) nie und nimmer ein »An-sich-Sein« auf sich beziehen darf. Damit würde der Begriff der Wahrheit entzweit, der als transzendentale Voraussetzung Wissenschaft, Kultur und Politik und damit die Objektivität des ganzen Raumes des Politischen betrifft. Antigone kämpft also nicht um einen Ritus, sondern um eine normativ zu verteidigende Wahrheit, in der sich eine Polis für sie als Polis notwendig zu verWie Hegels Rede vom »absoluten Wissen« am Ende der Phänomenologie zu verstehen ist, die doch ganz explizit ein in Absolutheit sich einnehmendes Wissen evoziert, prägt bis heute eine sehr kontroverse Debatte. Charles Taylor behauptet, das letzte Kapitel habe »meaning only as a recapitulation of the rest« (Charles Taylor, Hegel, Cambridge: Cambridge University Press 1975, 214). Donald Verene nennt die Seiten »among the dullest [Hegel] ever wrote« (Donald Verene, Hegel’s Absolute: An Introduction to Reading the Phenomenology of Spirit, Albany: State University of New York Press 2007, 74). Žižek schreibt wiederum: »Absolute Knowing is the final recognition of a limitation which is ›absolute‹ in the sense that it is not determinate or particular, not a ›relative‹ limit or obstacle to our knowledge that we can clearly see and locate as such. It is invisible ›as such‹ because it is the limitation of the entire field as such – that closure of the field which, from within the field itself (and we are always by definition within it, because in a way this field ›is‹ ourselves) cannot but appear as its opposite, as the very openness of the field« (Žižek, Less Than Nothing, 388).

359

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orten hat. Für die Beerdigung des Bruders einzutreten heißt, die Objektivität der Welt als Bedingung der Möglichkeit propositionaler Urteile im Ganzen zu verteidigen. Weil aber die Vernunft sich hier im Konflikt zwischen Antigone und Kreon notwendig verkennt, ist exzessive Subjektivität der Vernunft potenzielles Medium einer möglichen Transformation hin auf das noch nicht im Jetztzustand vor der Tragik Verstandene. Eine Trennung von Wert-, Normen- und FaktenUrteilen ist nicht möglich. Antigone will mit ihrem Kampf die Legitimität einer Allgemeinheit als Bedingung des Gebens und Nehmens von Gründen retten. Aber sie braucht dazu ihrerseits das Allgemeine, um sich in dessen Licht als wahr anerkannt zu finden. Ebenso braucht das Allgemeine die Anerkennung des Besonderen, um sich von dem – wenn auch normativ ohnmächtigeren Besonderen – als legitimiert angesehen zu wissen. Und dieses Allgemeine sieht nun seine Infragestellung als Bedrohung des Gebens und Nehmens von Gründen. Tilo Wesche bringt das auf den Punkt, wenn er schreibt: »Zerfall und Fortschritt politischer Institutionen und sozialer Gemeinschaften sind Ausdruck einer janusköpfigen Dynamik.« 360 Man kann Antigone zwar keine Erstperspektive moralischen Handelns zusprechen, aber nicht weil, wie eventuell Christine Korsgaard sagen würde, Antigone sich ihrer Handlungsmaxime nicht »gewiss« wäre, sondern weil – wie anzunehmen ist – ihre Handlungsmaxime selbst vom etablierten Gesetz aus (aus der Dritt-Perspektive) eine Unterbrechung der Sittlichkeit bedeutete, von der aus ihre Gründe nicht anders als »private« angesehen werden könnten. Wenn man mit Korsgaard argumentiert, die in Anlehnung an Wittgenstein die Privatheit von Gründen ebenso ablehnt wie Wittgenstein eine Privatheit der Bedeutung von Wörtern, dann verpasst man den Konflikt. 361 Robert Pippin macht dies deutlich, wenn er in Bezug zur Antigone schreibt: »The painfulness and unresolvability of their [Creon and Antigone’s D. F.] disagreement […] indicates that there is […] something basically wrong Wesche, »Wissen und Wahrheit im Widerstreit,« 301. Siehe zu Korsgaards Wittgenstein-Rezeption besonders: »The origin of value and the scope of obligation«, in: dies., The Sources of Normativity, 131–166. Zu diesem Thema siehe auch Joshua Gert, »Korsgaard’s Private Reason Argument«, in: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. 64, No. 2 (2002), 303–324. 360 361

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with the roles of the divine and human, private and public boundaries. […] There are breakdowns and failures in ethical life of a sort that reveal the limitations and inconsistencies in a value claim itself«. 362

Die sich feindlich gegenüberstehenden Sittlichkeiten treten nicht als Zerreißprobe für den Geist auf, sondern sie zerreißen den Geist als notwendiges Moment für seine Neugeburt »aus der Asche«. So steht Antigone amoralisch (nicht unmoralisch) zum Sittlichkeitsverständnis der Polis. 363 Sie verweist den Menschen darauf, dass er immer schon in einem Befreiungsprozess steht, der ihm vorausgeht, und der ihn – wie Antigone – zur Autonomie beruft. Autonomie zeigt sich auch durch Bruch in der Matrix der Gesetze zugunsten einer noch unabsehbaren Zukünftigkeit, wo das Subjekt erst im Akt – selbst wenn dieser Akt »Frevel« ist – zu sich selbst gelangen kann.

Das Rationale, das sich verwirklicht haben wird Hegel gesteht zu Beginn seiner Enzyklopädie-Logik, dass sein berühmtes Diktum aus der Vorrede der Rechtsphilosophie – »was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig« – viel Widerspruch provoziert habe. Aber wie er im § 6 der Enzyklopädie-Logik schreibt, darf man diesen Satz nicht so verstehen, als fülle das Vernünftige der Aktualität des »lebendigen Geistes« diesen Geist in Gänze aus. Durch die Spaltung einer jeden Gegenwart in einen ihr die Selbstpräsenz raubenden Teil ihrer rationalen Verwirklichung (er ist Ergebnis ihrer Vorgeschichte als Freiheitsgeschehen) und in einen Teil ihrer noch ausstehenden Verwirklichung einer ihr erst retrospektiv zugänglich gewordenen Zukunft wird Gegenwart für Hegel als das »Rationale, das wirklich ist« – weiterhin Rationalität umschließend – in den Horizont seines monistischen Verständnisses einer Ziel-Idee, eines Absoluten hineingezogen. (Dieses Absolute darf man hierbei nicht als eine Endstation missverstehen. Es verbürgt nur die Totalität der Erscheinungen. Würden wir durch alles Endliche schauen, schreibt Hegel, so dass

Pippin, »The Conditions of Value«, 103, Hervorhebung D. F. Man könnte das mit Honneth ihr persönliches »Leiden an Unbestimmtheit« nennen. 362 363

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»nur das Absolute durch sich hindurchblicken läßt, [dann D. F.] endigt [das Endliche, D. F.] in gänzliches Verschwinden; denn es ist nichts am Endlichen, was ihm einen Unterschied gegen das Absolute erhalten könnte; es ist ein Medium, das von dem, was durch es scheint, absorbiert wird«. 364)

So schreitet die Wahrheit der Substanz durch je neue reflexive Momente zeitlich sukzessiv zu ihrem Grund vorwärts im Prozess ihres Werdens. Mit Robert Brandom gesprochen könnte man sagen: Das Vernünftige wird historisch immer »expliziter«, ohne jemals ganz explizit werden zu können. 365 Zur Explikation dieses Prozesses und dessen Beeinträchtigung durch Kontingenz unterscheidet Hegel in der Enzyklopädie-Logik zwischen der Existenz eines »Zufälligen« und der Existenz »eines Wirklichen« (Enzykl.-Logik, Bd. 8, 48). Der Existenz des Zufälligen kommt »kein […] größere[r] Wert als de[r] eines Möglichen« zu. Das klingt minderwertig. Trotzdem möchte Hegel dadurch dem Umstand gerecht werden, dass das, was zufällig existiert, möglich ist, eben: durch seine Existenz. Und er schreibt: Die Existenz des Zufälligen hat als Mögliches eine Existenz, »die so gut nicht sein kann, als sie ist« (ebd.). Zufällig mag z. B. sein, ob eine Ernte in einem Jahr gut oder schlecht ausgefallen ist. Ebenso mag die Krankheit, die jemand durch einen ansteckenden Virus bekommt, zufällig sein, oder der Ausbruch einer kollektiven Epidemie, die ein Dorf bedroht. Die Außenpolitik eines Königs mag schlecht sein, das römische Recht mag in der Konstruktion des »pater familias« schlecht sein verglichen mit dem eigentlichen Rechtsfortschritt, den es repräsentiert. Diese Wirklichkeiten sind als mögliche schlicht und einfach, weil sie sind. Als solche hängen sie aber auch von kontingenten Umständen (z. B. der persönlichen Beschränktheit oder mentalen Gesundheit eines Souveräns) ab. Demgegenüber versteht Hegel das Wirkliche anders. Die Existenz des Wirklichen überragt die Existenz des Zufälligen in dem Sinne, dass das Vernünftige sich in ihr hat zum Ausdruck bringen lassen. Das mag z. B. eine Verfassung sein, die den Rechten ihrer Bürger mehr Freiheitsräume gibt als es die Gestalt einer alten Verfassung 364 Hegel, »Die Wirklichkeit«, in: ders., Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen, Bd. 6, 190. 365 Gegen Brandom müsste man aber wahrscheinlich mit Hegel sagen: es wird aufgrund eines Unvernünftigen in der Vernunft immer nur im Rücken der Vernunft »explicit«.

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erlaubte. Ebenso mag ein Wirtschaftssystem »vernünftig« sein, indem es, wie Hegel in der Rechtsphilosophie ausführt, Freiheitsstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft schafft. Das bedeutet nicht, dass die Existenz des Wirklichen die ganze Wirklichkeit umschließt. Gerade in Bezug auf die Kapitalstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft muss Hegel beispielsweise eingestehen, dass ein Teilbereich der Gesellschaft, »der Pöbel«, gleichzeitig mit der Entstehung einer Gesellschaftsschicht entsteht, die im Luxus schwelgt. 366 Auch der Pöbel ist in diesem Sinne »vernünftig«, wenn auch Hegel ihn in seinem Konzept der Kooperationen als Kollateralschaden in seinem Staat marginalisiert. Das Rechtssystem der Judikative einer Gesellschaft mag gut sein, aber das schließt nicht aus, dass zeitgleich das Rechtssystem der Exekutive noch den Charakter eines »Zufälligen«, d. h. nur »Möglichen« hat. 367 Hegel sagt eben explizit, dass das »Zufällige […] doch auch Existenz hat« (ebd.), schlicht und einfach, weil es ist, z. B. in einer überholten Rechtsstruktur. Das Wirkliche hat mehr historischen Grund, weil sich in ihm das Freiheitsgeschehen der Vergangenheit konzentrierter ausdrückt als im nur Zufälligen und Möglichen. Aber nur durch die Spaltung einer jeden Gegenwart in einen ihr die Selbstpräsenz raubenden Teil ihrer rationalen Verwirklichung und in einen Teil ihrer noch ausstehenden Verwirklichung wird Gegenwart für Hegel als das »Rationale, das wirklich ist« weiterhin Rationalitätumschließend dem Horizont seines monistischen Verständnisses einer Ziel-Idee, eines Absoluten, das kommen wird, ausgesetzt. Existenzen von Zufälligkeit und Wirklichkeit können, ja müssen immer auch zeitgleich existieren. Das betrifft auch unser Motiv exzessiver Subjektivität als ein strukturelles Kontingenz-Moment zwischen den Hegel’schen Modalitätskategorien von Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, ZuSiehe zu der Thematik die Studie von Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹, Konstanz: Konstanz University Press 2011, besonders Kapitel 4–7. Unter anderem im Anschluss an Jacques Rancières Buch Das Unvernehmen. Politik und Philosophie (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002) interessiert Ruda der Pöbel bei Hegel als »Un-Stand«, ein Stand, dem es nicht gelingt, seine eigene Gesinnung zu entwickeln. 367 Hegel kritisiert die Rechtsstruktur des »pater familias«. Das römische Recht ist Ausdruck der römischen Sittlichkeit, was nicht heißt, dass es innerhalb seiner selbst nicht Momente gibt, die hinter die eigenen Errungenschaften zurückfallen (vgl. Rph, Bd. 7, § 180Z). 366

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fälligkeit. Dadurch, dass exzessive Subjektivität für etwas eintritt, das aufgrund seiner Nichtrepräsentation weder wirklich ist, noch möglich erscheint, steht sie mit der Kategorie der Zufälligkeit in einem Verhältnis. Denn der nicht verhandelbare Anspruch exzessiver Subjektivität wird neben der Provokation, die er im »gesunden Menschenverstand« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 435) auslöst, normativ kontingent wirken, ja sogar erschreckend beliebig. Die solipsistische Gewissheit kann dann beispielsweise weder ihre Notwendigkeit noch die Möglichkeit ihres normativen Anspruchs begründen, da die Möglichkeit des Normativen erst durch eine Verschiebung der Doxa-Prämissen als Option erschiene. Das Auftreten der Gewissheit wirkt so vorerst radikal beliebig. Zufälligkeit versteht Hegel als unbegründete Aktualität, die aber – weil sie aktual ist – mehr ist als das, was er rein »formale Möglichkeit« nennt. Exzessive Subjektivität tritt ja wirklich fordernd in den Bereich des Politischen. Sie bleibt nicht formale Möglichkeit, wie man es eventuell der »schönen Seele« zusprechen könnte. Daher steht dann auch Zufälligkeit/Kontingenz in einer Beziehung zur Kategorie der Notwendigkeit. 368 Das ist einer der tiefgreifenden Gedankengänge, die Hegel in seinem Kapitel »Die Wirklichkeit« am Ende des zweiten, Wesens-Logik genannten Hauptteils in der Wissenschaft der Logik entfaltet. 369 Hegel definiert verschiedene Modalitäts-Katego368 Dieter Henrich hält Hegel für den einzigen Philosophen, der den »absoluten Zufall« als Bestandteil von Wirklichkeit gedacht hat (vgl. Dieter Henrich, »Hegels Theorie über den Zufall«, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, 157– 186). Er schreibt: »Das wirklich gewordene Mögliche ist nicht zufällig, sondern notwendig, weil es sich selbst seine eigenen Bedingungen setzt. Damit ist der Begriff der Zufälligkeit durch diese höhere Kategorie aufgehoben. Man könnte nun in der Tat meinen, daß dadurch der Begriff des Zufalls seine Bedeutung in der Realität verloren hat, die ja von Hegel als die der absoluten Idee mit Hilfe des Begriffs der unbedingten Notwendigkeit definiert ist. Was zunächst Zufall zu sein schien, erwiese sich in Wahrheit als Notwendigkeit. Und die Analyse der Modalitätenkategorien in der Jenenser Logik ist auch so zu verstehen. Doch in der Logik von 1813 ist der Gedanke ein anderer: Die Notwendigkeit setzt sich wohl selbst die Bedingungen, aber sie setzt sie als zufällige. Als notwendig erweist sich eine Wirklichkeit gerade darin, daß sie aus jeder beliebigen Bedingtheit hervorgeht; und so sind die Bedingungen, die solche Notwendigkeit sich selbst setzt, ebenfalls je beliebige, willkürliche« (ebd., 163). Über den Bezug auf das Verhältnis des Zufalls zu Sittlichkeit und Moralität schreibt Henrich: »[W]ahrhafte Sittlichkeit kann nur im Ablassen vom je Besonderen sich begründen, so wie der abstrakte Begriff der Notwendigkeit sich nur im Selbstsetzen des Zufälligen konstituieren kann« (ebd., 174). 369 Vgl. Hegel, »Die Wirklichkeit«, Bd. 6, 186–240. Ich verdanke diesen Hinweis Leo-

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rien und erklärt, wie die Aktualität der Wirklichkeit sich von formaler Aktualität und Möglichkeit abgrenzt, wie sie andererseits aber auch Zufälligkeit in ein Verhältnis zur Notwendigkeit stellt. Das, was kontingent ist, ist begründet und nichtbegründet zugleich. Begründet ist es im schlichten Faktum, dass es da ist, aktual. Darin ist es mehr als »formale Aktualität« oder »Möglichkeit«. Unbegründet ist es darin, dass diese Aktualität nicht oder, im Kontext unserer Thematik gesagt, noch nicht in sich reflektiert ist. 370 Denn das ist für Hegel das eigentliche Charakteristikum des Kontingenten. Exzessive Subjektivität verstehen wir in Bezug auf Hegels Verhältnisbestimmung von Zufälligkeit und Notwendigkeit daher als zukünftige Notwendigkeit in der Suspension der Kontingenz. Das Zufällige ist, wie Karen Ng treffend sagt, eine »einseitige Determination der Aktualität« 371, die (noch) daran scheitert, ihren eigenen reflektierenden Charakter einzufangen. 372 Exzessive Subjektivität wäre dann eine (scheinbar) einseitige Determinierung – sie wirkt kontingent, nicht nachvollziehbar, nicht verallgemeinerbar –, und dennoch wird ihre zweite reflektierte Hälfte sich nachträglich erwiesen haben. In der Kontingenz (als potenzieller Leerstelle des Nichtrepräsentierten) artikuliert sich analog zu unserem Kant-Kapitel die Freiheit des Ethischen. In einer (scheinbar) kontingenten Wahl der Modalität (z. B. der Kant’schen Gesinnung, psychoanalytisch gesagt: in der Neurosenwahl), durch die wir das kontingente Reale symbolisieren, stülpen wir ein die Aspektwahrnehmung bedingendes Raster über die Wirklichkeit (ein Narrativ), durch das die Wirklichkeit dem Subjekt exzessiver Subjektivität dann nach der Wahl / Setzung als Bedingung seiner selbst begegnet. (Dieses Procedere wird im V. Kapitel zu Lacans Psychoanalyse noch deutlicher erklärt.) In Bezug auf Antigone könnte man beispielsweise behaupten, dass sie den Appell der ungeschriebenen, letztlich enigmatisch bleibenden, nicht näher reflexiv einholbaren Gesetze der Unterwelt als nard Weiß und seinem Text »Die subjektive Wendung der Substanz bei Hegel« (unveröffentlichtes Manuskript). 370 Karen Ng schreibt zum Thema der Kontingenz im »Wirklichkeits«-Kapitel: »Hegel is not attempting to eradicate the contingent, but to think through its contradiction as both groundless and grounded, exposing contingency as one-sided determination of actuality that fails to truly grasp its reflected character« (Karen Ng, »Hegel’s Logic of Actuality« in: The Review of Metaphysics, Vol. 63, No. 1 (2009), 139–172, hier: 159). 371 Ng, »Hegel’s Logic of Actuality«, 159. 372 Sie ist scheinbar kontingent von einer Dritt-Perspektive aus betrachtet.

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Ausgangspunkt ihrer Gesinnung, ihrer Aspektwahrnehmung auf die griechische Polis nimmt. Ismene tut dies nicht. Antigone tut dies, weil sie Antigone ist, bzw. weil sie sich als diese Antigone setzt. (Sie wählt eben nicht den kooperativen Weg ihrer Schwester.) Damit ordnet sich ihre Lebenswelt nach dieser Setzung nach einem ›Gesichtspunkt‹. 373 Welche Konsequenzen so eine Setzung haben kann, legt Žižek nahe, der Gesinnungs- und Neurosenwahl als perspektivische Verzerrung der Lebenswelt am Beispiel einer marxistischen Geschichtsteleologie veranschaulicht. Er schreibt: »If, for example, we are Marxists, the entire past is perceived as one long narrative whose constant theme is the class struggle and whose plot strives towards that classless society […]; if we are liberals, the past tells the story of the gradual emancipation of the individual from the constraints of collectivity and Fate […] And it is here that freedom and the subject intervene: freedom is stricto sensu the contingency of necessity – that is, it is contained in the initial ›if …‹, in the (contingent) choice of the modality by means of which we symbolize the contingent real or impose some narrative necessity upon it. ›Substance as subject‹ means that the very necessity that sublates contingency by positing it as its ideal moment is itself contingent.« 374

In der Aspektwahrnehmung, oder mit Heidegger gesagt, in der Annahme eines »Gesichtspunkts«, fallen bestimmte Momente der Aktualität kaleidoskopartig in Notwendigkeit, andere in Möglichkeit, andere wiederum in Zufälligkeit. Zahlreich sind die Beispiele, die dafür angeführt werden können. Eines der berühmtesten ist die von Žižek gerade erwähnte Marx’sche Interpretation der Geschichte als antagonistischer Kampf der Gesellschaftsklassen. Aber man könnte auch jüngeren Datums Steven Pinkers dem Naturalismus verschriebene Interpretation des Fortschritts der Menschheitsgeschichte im Gesichtspunkt eines »maximizing human flourishing« 375 nehmen. Eine solche Perspektive verdrängt eine Vielzahl von Antagonismen, z. B. die Frage, wie man überhaupt eine allgemeingültige Definition von »human flourishing« aufstellen könnte. Gesichtspunkte bzw. Blickpunkte verdrängen andere Aspektwahrnehmungen und bedrängen uns gleichzeitig, ihre Perspektive (beispielsweise Pinkers) auf die 373 Der Begriff des »Gesichtspunkts« ist Heideggers Sein und Zeit § 13 entlehnt, wo er einen analogen Gedanken veranschaulicht. 374 Slavoj Žižek, Metastases of Enjoyment. On Women and Causality, London / New York: Verso 1994, 36. 375 Steven Pinker, The Better Angels of Our Nature. Why Violence has Declined, London: Penguin Viking Adult 2011.

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Das Rationale, das sich verwirklicht haben wird

Wirklichkeit als normativ abgesicherte, und damit den »Geist« unserer Zeit bestimmende anzunehmen. Exzessive Subjektivität ließe sich mit den Worten von Utz im Kontext von Hegels Auslegung des Zufalls als Vorfall definieren, der »in einem ingressiven Zusammenhang in negativer Bezüglichkeit zu einem Gegebenen steht« 376. Aspekte der Unbestimmtheit, der scheinbaren Illegalität und Nicht-Ableitbarkeit / Unfundiertheit, mit denen sie hervortritt, haben »immer Momentcharakter und zeig[en] sich aspekthaft.« 377 Dass ein Glas von einem Tisch fällt, mag, wie Utz sagt, zufällig sein, aber dann nicht mehr der Umstand, dass es vorher auf einem Tisch stand. Dass ein Ast von einem Baum auf ein Spaziergänger im Park fällt, ist hinsichtlich der Ursache, dass der Spaziergänger im Moment unter dem Ast ist, als er bricht, zufällig. Dass er aber bricht, ist nicht zufällig »bezüglich der Kausalbestimmung« 378, die das Brechen verursacht und Fallhöhe und Fallrichtung des Baumstamms bestimmen. Rosa Parks’ negative Bezüglichkeit der Auslegung der etablierten Normativität mag zufällig sein. Hinsichtlich des normativen Rahmens, der sich dann von ihrem Blickwechsel aus kaleidoskopartig verändert, ist er dies dann nachträglich aber nicht mehr. Exzessive Subjektivität steht hier der »Altklugheit« entgegen, die, wie Hegel sagt, die »Ideen, Ideale« der Philosophie als »Schimären« und »Hirngespinste« ansieht. Der Altklugheit ist eine verstandesmäßige »Abtrennung der Wirklichkeit von der Idee« (Enzykl.Logik, Bd. 8, 48) eigen, was den Umkehreffekt produziert, dass die »Träume seiner [des Altklugen] Abstraktionen für etwas Wahrhaftes« (ebd.) gehalten werden. Hegel sieht hier nur eine Eitelkeit am Werk, die letztlich geschichtsohnmächtig bleibt. Ihr Traum eines »Sollens« von einer besseren Welt kann nie Wirklichkeit werden, da sie jedes Ideal nur als Hirngespinst deklariert. Altklugheit erscheint hier wie die verbitterte und griesgrämig gewordene Altersversion der »schönen Seele«. 379 Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls, 305. Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls, 305. 378 Utz, Die Notwendigkeit des Zufalls, 305. 379 »Der Wirklichkeit des Vernünftigen stellt sich schon die Vorstellung entgegen, sowohl daß die Ideen, Ideale weiter nichts als Chimären und die Philosophie ein System von solchen Hirngespinsten sei, als umgekehrt, daß die Ideen und Ideale etwas viel zu Vortreffliches seien, um Wirklichkeit zu haben, oder ebenso etwas zu Ohnmächtiges, um sich solche zu verschaffen. Aber die Abtrennung der Wirklichkeit von der Idee ist besonders bei dem Verstande beliebt, der die Träume seiner Abstraktionen 376 377

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Das Vernünftige ist für Hegel immer auch die noch nicht ganz verwirklichte und immer sich potenziell verwirklichende Idee. D. h. das Vernünftige ist immer auch an der Grenze, sich noch verwirklichender in die Wirklichkeit auszugießen. Das Rationale umschließt hier die Idee als die Virtualität, die sich noch mehr verwirklicht haben wird, wenn es so weit gekommen ist. Es ist also unpassend zu behaupten, Hegel sehe jede Gegenwart mit Rationalität uneingeschränkt durchtränkt. Wäre dies der Fall, würde seine durch Negativitäten geprägte Geschichtsgenealogie kategorialer Umbrüche von Erkenntnisprozessen überhaupt nicht voranschreiten. Er hätte dann auch die von ihm viel kritisierte SubstanzMetaphysik Spinozas nicht überwunden, sondern nur variationsreich fortgeschrieben. Da Vernünftigkeit immer noch »expliziter« gemacht werden kann, kann dies gerade auch in Gestalt von exzessiver, scheinbar kontingenter Subjektivität geschehen. 380 Wenn wir nach Hegels Ausführungen aus § 6 der Logik also annehmen dürfen, dass »Zufälliges« und »Wirkliches« immer durchmischt sind, dann stellt sich auch die Frage, wer wann etwas als ›wirklich‹ anerkennt, während andere dasselbe als ›zufällig‹ wahrnehmen. Oder anders formuliert: Braucht es nicht in bestimmten politischen Situationen Subjekte, die das, was viele nur als »Zufälligkeit« deklarieren, als eine »Wirklichkeit« setzen und durch dieses Setzen eine Tat verwirklichen? Antigones Haltung kann so interpretiert werden. Aber auch diejenige von Sokrates steht in Hegels Interpretation dafür. Auf diese wollen wir im Folgenden eingehen. Sie setzt sich besonders in Hegels Analysen des »Gewissens« noch einmal von der unbestimmten, ja nahezu »leeren« Gewissheit der Antigone ab.

für etwas Wahrhaftes hält und auf das Sollen, das er vornehmlich auch im politischen Felde gern vorschreibt, eitel ist, als ob die Welt auf ihn gewartet hätte, um zu erfahren, wie sie sein solle, aber nicht sei; wäre sie, wie sie sein soll, wo bliebe die Altklugheit des Sollens?« (Hegel, Enzykl.-Logik, Bd. 8, § 6 / S. 48). 380 Durch exzessive Subjektivität wird das, was Hegel mit »Idee« (Enzykl.-Logik, Bd. 8, 48) als den unmöglich-möglichen Verwirklichungsraum der Zukunft meint, gerade nicht »als Chimäre«, als »ohnmächtig« belassen. Die Idee von der Wirklichkeit als nur abstrakte abzulösen, ist für Hegel die Tendenz eines die Potenzialität des Geistes nicht erkennenden Verstandes.

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Hegels Sokrates-Interpretation

Hegels Sokrates-Interpretation Das Schicksal der Antigone verweist den Menschen darauf, dass er immer schon in einem Befreiungsprozess steht. Dieser geht ihm voraus und beruft den Menschen zu einer sich in Taten artikulierenden und riskierenden Autonomie. Den einzelnen Akten der Selbstbestimmung ist so immer eine Ambivalenz eingeschrieben, eben weil das Subjekt seiner inneren Natur erst in der Konfrontation situativer Vollzüge habhaft wird. 381 Die Autonomie der Antigone offenbart sich in ihrem »Frevel« einer die Polis herausfordernden Handlungstat. Ihr Akt eröffnet eine noch am Beginn der Provokation unabsehbare Zukünftigkeit von Handlungskonsequenzen. Des Ödipus Tochter als politisch-revolutionäre Figur »erscheint« dann sprichwörtlich erst in dieser Freiheit ihres Frevels als die personifizierte Inkarnation der Eröffnung eines – mit Alain Badiou gesprochenen – Nicht-Ortes (franz.: »hors-lieu«) im Politischen. 382 Diese Eröffnung kann man als Ereignis deuten, das mit den Worten von Martin Seel einer »gedeuteten Welt« Risse versetzt. 383 Politische Handlungstat als Ereignis impliziert auch – im radikalsten Sinne ihrer Potenzialität – die Grenzvermischung von Wirklichkeit und Möglichkeit und die einer nicht repräsentierbaren Alternative, die im Akt einer Setzung »legitim« gewesen sein wird. Ereignisse »machen sich bemerkbar« schreibt Seel, »indem sie zugleich das Merken und Bemerken verändern«. 384 Den Akten der Selbstbestimmung, die darüber entscheiden, was dem Subjekt seine ihm unzugängliche innere Natur gewesen sein wird, 381 Diese Thematik von Selbstbestimmung durch Selbstvollzug wird im 20. Jahrhundert sowohl von Heidegger, Lacan, Plessner als auch George H. Mead analysiert. Hier sei nur auf Mead expliziter verwiesen. Dieser schreibt: »Die Identität ist nicht etwas, das zuerst existiert und dann in Beziehung zu anderen tritt. Sie ist sozusagen ein Wirbel in der gesellschaftlichen Strömung und somit immer noch Teil dieser Strömung. [… W]enn man eine gesellschaftliche Situation sofort, ohne Reflexion beantworten könnte, gäbe es keine Persönlichkeit« (George H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, 225 f.). Siehe auch das Unterkapitel »Das ›Ich‹ und das ›ICH‹«, 216–221. 382 Vgl. Badious Rede vom Nicht-Ort (franz.: »hors-lieu«) in: »Subjectivization and Subjective Process«, in: ders., Theory of the Subject, 241–274, hier: 261. 383 Martin Seel schreibt: »Ereignisse […] sind ein Aufstand der Gegenwart im Fluss der historischen Zeit« (in: ders., »Von Ereignissen«, in: ders., Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, 11–26, hier: 18. Seel nimmt auch explizit Bezug auf Nine/Eleven (vgl. ebd., 20). 384 Martin Seel, »Von Ereignissen«, 18.

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was es sein will, und was es schließlich ist, ist eine Ambivalenz eingeschrieben. Diese wiederum beschreibt Plessner anthropologisch (und nicht philosophiepolitisch wie wir es tun) als »exzentrische Positionalität« des Menschen, als eine »fundamentale Spaltung« zwischen »geschehender und vollziehender Existenz«. 385 Die Gewissheit der Sterblichkeit ist für die sich vollziehende Existenz zentral. Hegel legt Grundzüge dieses heute eher Heidegger zugesprochenen Gedankens schon im Naturrechtsaufsatz nahe. Denn durch diese Gewissheit der Sterblichkeit gelangt das Bewusstsein unter die Bedrängnis, dass seine Daseinsweise keine in einer Unendlichkeit aufgehobene, wahre ist, sondern eine unwahre Bestimmung darstellt, die sich in der Tat entäußern muss. Erst mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit erfährt der Mensch seine Freiheit als eine ihn mit Bedrängnis angehende Frage nach seinem eigenen Wesen. 386 Exzessive, sich durch die Bedrohung einer todesverfallenen, unwahren Bestimmung vollziehende Existenz erweist für Hegel immer wieder die Kluft zwischen Sein und Sollen als temporär überbrückbar (eine Kluft, die nach seiner Meinung Kants Moralphilosophie offen ließ). Dies geschieht dann, wenn das, was Hegel Begriff nennt, für einen Moment von einem überholten »gesunden Menschenverstand« in seine neue historische Form springt. Das geschieht besonders auch durch sich-vollziehende Existenz, durch Einzelne, und nicht durch »geschehende Existenz« der Vielen. Deswegen stellt Hegel im Gegensatz zu Kant, Schelling und Fichte überhaupt herausragende Einzelne in der Phänomenologie wie in Experimentalsituationen vor. Sie fordern als fragile, teils verblendet wirkende Statthalter des Partikulären die Stabilität des Allgemeinen, der homogenen Matrix etablierter Sittlichkeit heraus. 387 Mit ihnen kann er seinem totalisierenden Begriff – als die Helmuth Plessner, Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart: Reclam 1982, 13. Siehe ebenso: ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York: De Gruyter 1975, 299. 386 Was Hegel Fichte im Naturrechtsaufsatz vorwirft, ist ein auf gegenseitiger Anerkennung beruhendes totalitäres Rechtssystem, das »Gewalt« nur in der Perspektive der Regierung denken könne. »Die wirkliche Gewalt wird allerdings als eine und in der Regierung vereinigt gesetzt« (Naturrechtsaufsatz, Bd. 2, 474). Fichte sehe nicht, inwiefern sich die Freiheit nur in Bezug zum Risiko des eigenen Todes verwirklicht. Freiheit braucht Todesbewusstsein. Genau einen solchen Exzess denke Fichte nicht in seiner totalitären Gesellschaftstheorie absoluter, gegenseitiger Anerkennung. Siehe zu dieser Thematik auch Schmidt, Anerkennung und absolute Religion, 290 f. 387 In der »Vorrede« zur Rechtsphilosophie kritisiert Hegel wiederum eine Partikula385

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Hegels Sokrates-Interpretation

Gesamtheit genealogisch aufeinanderfolgender, dialektischer Umbrüche – »Persönlichkeit« zuschreiben. So beschreibt er in der Logik den Begriff als »atome Subjektivität« (Logik II, Bd. 6, 549). Genau diese Verschränkung macht Hegel gegen Spinoza stark, wenn das Absolute nicht nur als Substanz, sondern auch als Subjekt zu verstehen ist. 388 Der »praktische, an und für sich bestimmte objektive Begriff« sei als »Person undurchdringliche, atome Subjektivität« (ebd.). Gleichzeitig schränkt Hegel diese Bestimmung ein, wenn es heißt: dieser, der Begriff, ist »aber ebensosehr nicht ausschließende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen«. Er hat »in seinem Anderen seine eigene Objektivität zum Gegenstande« (ebd.). Die Einzelnen als Teil des Begriffes »Anderes« holen im Laufe ihrer Schicksale eine noch epistemisch unmögliche Wahrheit ins momentum einer zu verwirklichenden Universalisierbarkeit des Ausgeschlossenen, sowohl philosophiepraktisch wie auch philosophietheoretisch. 389 Bei Antigone ist dies, wie wir gesehen haben, die Verteidigung von Ansprüchen politisch unbedeutend gewordener Götter. Bei Sokrates ist es, wie wir im Folgenden zeigen werden, eine utopische Theorie ›anundfürsichseiender Allgemeinheit‹. Dieser Prozess kann bei diesen Figuren nur beginnen, weil er für Hegel immer schon begonnen hat. Und dieser Prozess reicht zurück bis in die Befreiung aus der Natur. In der Anthropologie beschreibt Hegel in verschiedensten metaphorischen und begrifflichen Umschreibungen das Heraustreten der »Seele« aus der Natur. »Der Geist ist als die Wahrheit der Natur geworden« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 388). Die Nicht-Koinzidenz der jeweils durch die (Anti-)Subjekte verkündeten ›Offenbarungen‹ mit ihren Lebenswelten führen zu Skandalisierung und politischer Krise. Da die Mehrheit der sie jeweils umgebenden Mitmenschen transzendental keine Potenzialität für den Verwirklichungsraum des Neuen, das sie verkünden, sieht oder aber glaubt, dass dieses Neue das wertvoll Berität, die in der Selbstverblendung ihrer Selbstgerechtigkeit nicht erkennt und nicht sieht, inwiefern die strukturlose Struktur des Allgemeinen die Bedingung ihrer selbst ist. 388 Und Subjekt meint hier nicht ein Ganzes, das die Summe seiner Einzelteile, die Gesamtheit von epochal existierenden Subjekten ist, sondern gerade mehr ist als diese Einzelteile. Es generiert eine Überdeterminierung, die die Substanz selbst immer wieder mit ihrer eigenen Potenzialität in Krisensituationen konfrontiert. 389 Catherine Malabou interpretiert dies herausragend in der Entfaltung des Begriffes der Plastizität bei Hegel. Siehe dies., The Future of Hegel: Plasticity, Temporality and Dialectic, London / New York: Routledge 2005.

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stehende vertilgt, werden sie nahezu reflexionslos ausgeschlossen. Denn worüber sollte reflektiert werden? Was sie verkünden, kann oft nicht begriffen, oder besser, ergriffen werden. Als Persönlichkeiten sind die Einzelnen, die Hegel interessieren, sinnbildlich gesprochen Kippunkte des Begriffs. Bei Sokrates ist es ein Freiheitsverständnis »subjektiver Reflexion«, das sich mit den Sophisten entfaltet und bei ihm, Sokrates selbst, wie Hegel nahelegt, eine neue objektive Wertigkeit und Normativität erfährt. 390 Hegel durchdringt diesen Aspekt einer Gewissheit des Sokrates, die dieser mit seinem Leben verteidigt, unter anderem in Anlehnung an Kant und Fichte mit seiner Rede von »Moralität« und »Gewissen« in der Phänomenologie und in der Rechtsphilosophie. Und Hegels Theorie des »Gewissens« soll daher auch in unserer Untersuchung von Hegels Sokrates im Zentrum stehen.

Hegel und das Gewissen Hegel nennt Sokrates eine »welthistorische Person«, die sich aus der »Kontinuität mit seiner Zeit« entwickelt hat (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 441). In ihr sieht er einen »Hauptwendepunkt des Geistes in sich selbst« in dem auch viele philosophische Fragen seiner eigenen Zeit, der des 19. Jahrhunderts, vorstrukturiert sind. So erscheint Sokrates sowohl als Gegner der romantischen Ironie als auch als Vorreiter von Kants transzendentalem Ich der Apperzeption (»[das Ich] soll schlechthin gegenwärtig, dabeisein in allem, was ich denke« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 442)). Die Hauptleistung von Sokrates bestand darin, »die Wahrheit des Objektiven aufs Bewußtsein, auf das Denken des Subjekts zurückgeführt« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 442 f.) zu haben. Bei Sokrates ist dies »Eigentümliche, daß er dies Prinzip im Gedanken, in der Erkenntnis aufgefaßt und für dieselbe […] geltend gemacht [hat]« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 515). Er verbindet zwei in sich unhaltbare Positionen des Anaxagoras und des Protagoras. Ist bei Anaxagoras der Gedanke der »allmächtige Begriff«, die »negative Gewalt über alles Bestimmte« und bei Protagoras das Ich »das Sich-Erhaltende«, 390 Die Befreiungstat impliziert das Befreiungsgeschehen aber auch eine eruptive Negativität. Sokrates’ »Gewissheit« eines neuen Freiheitsbewusstseins der Reflexivität kann als eine solche eruptive Negativität von der athenischen Polis nicht absorbiert werden.

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aber nur als »negative Einheit, nicht in sich reflektiertes Allgemeine [s]« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 441), so bekommt das Ich bei Sokrates eben die Wertigkeit eines reflektierten Allgemeinen. 391 Hegel spricht Sokrates in einer mit Kant-Anspielungen durchtränkten Analogie den welthistorischen Erkenntnispunkt zu, an dem das Gute »als substantieller Zweck von mir [d. h. vom Ich als Instanz wahrer Urteilsfähigkeit, D. F.] erkannt werden muß« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 442). Und er behauptet: »Die unendliche Subjektivität, Freiheit des Selbstbewußtseins ist im Sokrates aufgegangen« (ebd.). Was Kant zur Erkenntnis des Objektiven als eines durch die Erkenntnisstrukturen des Subjekts Mitgewirkten sagt, wird auf Sokrates’ Erkenntnis des Guten angewendet. 392 Platon habe das Gute als »eine Form« verstanden. Bei Sokrates wird das Gute bestimmend für das Handeln (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 444), und insofern hatte er – so Hegel – Erkenntnistheorie mit praktischer Philosophie immer schon vermittelt. Dabei ist es besonders das kantische Moralitätsprinzip, das Sokrates’ praktische Philosophie prägt. 393 Hegel definiert diese Moralität (die sich im Begriff des Gewissens spiegeln wird) als eine »mit Reflexion verbundene Sittlichkeit« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 445), d. h. als eine, in der das Ich sich in ein zu prüfendes Verhältnis zur etablierten Sittlichkeit bringt und sich ein Urteil anmaßt über die Außenwelt. Das Ich wird bei Sokrates moralische Instanz durch die Autonomie des eigenen Denkens. Er führt die Wahrheit des Objektiven aufs Bewusstsein, auf »das Denken des Subjekts« zurück. 394 Diese

391 Hegel: »Sokrates hat die Lehre des Anaxagoras aufgenommen: Das Denken, der Verstand ist das Regierende, Wahre, sich selbst bestimmende Allgemeine« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 442). 392 »Sokrates ist das Bewußtsein aufgegangen, daß das, was ist, vermittelt ist durch das Denken« und »daß nämlich das Setzen und Produzieren des Denkens zugleich Produzieren und Setzen eines solchen ist, was nicht gesetzt ist, was an und für sich ist« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 444, Hervorhebung D. F.). 393 Während das »Ethische« um Sokrates herum nur den Bereich der Sittlichkeit als Lebensform geteilter Maximen betrifft, die definieren, was gesunder Menschenverstand war (»Der gesunde Menschenverstand enthält die Maximen seiner Zeit«), tritt mit Sokrates der Anspruch der Moralität auf. »Die Athenienser vor Sokrates waren sittliche, nicht moralische Menschen« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 445). 394 Hegel spricht Sokrates den welthistorischen Erkenntnispunkt Kants zu, an dem das Gute »als substantieller Zweck von mir [d. h. vom Ich als Instanz wahrer Urteilsfähigkeit, D. F.] erkannt werden muß« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 442). Und er behauptet: »Die unendliche Subjektivität, Freiheit des Selbstbewußtseins ist im Sokrates aufgegangen. Ich soll schlechthin gegenwärtig, dabeisein in allem, was ich denke« (ebd.).

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Subjektivität ist nicht relativ. Sie meint nicht Partikularität oder die Willkür des Einzelnen. Wäre dies so, dann wäre Sokrates in Hegels Lesart nicht über die Sophisten hinausgekommen. Bei Hegel meint die Individualität und Subjektivität des sokratischen Ichs »anundfürsichseiende Allgemeinheit«. Wahrheit wird in der Erkenntnis des Guten »als gesetzt durch das Denken« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 443) verstanden. 395 Den Sophisten war zwar auch schon das »Prinzip der subjektiven Reflexion« freier Innerlichkeit gegeben, aber als ein von »Zweideutigkeit« und »Unbestimmtheit« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 430) geprägtes. »[D]as Prinzip [trat] nur als Eigentum eines Individuums auf« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 512). Der Mensch war den Sophisten Maß aller Dinge, aber es war »der zufällige Mensch« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 430), mit dem sie maßen. Der Mensch war »das Unbestimmte und Vielseitige« (ebd.). Dagegen ist für Sokrates der Mensch nicht nur in der Lage, »zu erkennen […], was das Rechte und Gute ist« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 329), sondern auch zu begreifen, dass »dies Rechte und Gute seiner Natur nach allgemein« sein müsse. 396 Seine »Gedankenwelt« überbrückt die Kluft zwischen etablierter, aber schwankend gewordener Sittlichkeit und Sophistik. Trotz allem konnte Sokrates die Maximen der athenischen Lebenswelt und ihr Festhalten an den alten, von Aristophanes verspotteten Göttern nicht mehr verteidigen. Die »Zweideutigkeit« in seinem eigenen Denken ist dafür mitverantwortlich. Schließlich enden viele der sokratischen Dialoge in einer Verwirrung über den zu deWar der Wahrheitsanspruch in der Dialektik der Sophisten, der Hegel seine Hochachtung ausspricht, noch individuell-beliebiges Konstrukt, so bekommt das Denken bei Sokrates eine Objektivität, die sich die sophistische Dialektik noch nicht zutraute. So kristallisiert sich in Sokrates die »Freiheit des Bewußtseins« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 443). Sokrates trägt dem Menschen auf – ähnlich wie Kant – dass »er zur Wahrheit durch sich selbst gelangen müsse« (ebd.). 395 Hegel: »In Sokrates ist es dann, daß zu Anfang des Peloponnesischen Krieges das Prinzip der Innerlichkeit, der absoluten Unabhängigkeit des Gedankens in sich, zum freien Aussprechen gelangt ist. Er lehrte, daß der Mensch in sich zu finden und zu erkennen habe, was das Rechte und Gute ist, und daß dies Rechte und Gute seiner Natur nach allgemein sei. […] Der moralische Mensch ist nicht der, welcher bloß das Rechte will und tut, nicht der unschuldige Mensch, sondern der, welcher das Bewußtsein seines Tuns hat« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 328 f.). 396 »Daß die Realität der Sittlichkeit in dem Volksgeiste schwankend geworden, dies kam in Sokrates zum Bewußtsein; er steht darum so hoch, weil er eben das Bewußtsein dessen hatte, was war, er seine Zeit ausspricht« (Phil. d. Gesch., Bd. 12, 476).

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finierenden Begriff. Auch wenn die Mäeutik »zum wahren Gut, zur allgemeinen Idee« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 461) führen soll, kann sie keinen positiven Gehalt ihrer Gesprächsgegenstände geben. Sokrates’ Freiheit ist daher leider doch nur eine negative. Sie bleibt in ihrer Hinterfragung des Geltenden an eine »Zufälligkeit des Charakters« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 490) gebunden. 397 Und dennoch erfüllt sie für Hegel freie Individualität. Und sie tut dies in einer solchen Vollkommenheit, dass sie paradoxerweise als Krönung griechischer Kultur mit deren Untergang zusammenfällt. Deswegen kann Hegel behaupten, dass die Tragödie des Sokrates gleichzeitig die »Tragödie Athens, die Tragödie Griechenlands« ist (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 447). Den Griechen war Individualität Teil der Sitte im ganzen »Zusammenhang eines Systems der Wirklichkeit« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 488), wo der Einzelne das »Rechte«, wie Hegel sagt, »unbewußt tut« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 473) und nicht wie Sokrates »bewußt«. Der sittliche Mensch »ist so«, »ohne daß er vorher Betrachtungen darüber anstellt«, wie bzw. was er ist, und ohne dass er sich wie Sokrates auf dieses Sein selbstreflexiv verhält von der Begrifflichkeit des Denkens aus objektiv sich zu ›beleuchten‹ versucht. Bei Sokrates tritt genau dieses »Moment der Individualität« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 489) hervor: autonomes Denken als tätige Bestimmtheit gegen alles »unbewusst« Sittliche. 398 »Denn Gewissen ist die Vorstellung allgemeiner Individualität, des seiner selbst gewissen Geistes, der zugleich allgemeine Wahrheit ist« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 491). Und so ist, wie Hegel schreibt, »die Anklage gegen Sokrates ganz richtig« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 503). »Exzessiv« wird Sokrates’ Subjektivität strikt gesehen erst, wo er sich der Verurteilung Athens nicht unterwirft. Freiwillig ins Exil zu gehen, lehnt Sokrates ab, weil er »die Anerkennung der richterlichen Gewalt des Volkes schmähte« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 509). 399 Siehe dazu auch Rebentisch, Der Kunst der Freiheit, 100 ff. »Im wahrhaft Tragischen müssen berechtigte, sittliche Mächte von beiden Seiten es sein, die in Kollision kommen; so ist das Schicksal des Sokrates« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 447). 399 Wie »sicher« kann die Gewissheit sein, mit der Sokrates seinen Anspruch vertritt? Robert Pippin legt dar, inwiefern bei Hegel die Tat des Subjekts selbst zwar aus einer absoluten Gewissheit gesetzt werden kann, aber dennoch den Effekt brauche, ihre Ankunft im sozialen Raum, um derselben Gewissheit eine nachträgliche Objektivität 397 398

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So provoziert (und verkörpert) er, ähnlich wie Antigone, eine Art ›Todestrieb‹ als ein Insistieren, das den Tod um eines höheren normativen Wertes willen in Kauf nimmt. 400 Sokrates’ Affront ist »eine moralische Selbständigkeit« (ebd.), die sich ihres Rechtes bewusst ist. In diesem Kontext erwähnt Hegel den Begriff des Gewissens. »Sokrates hat«, so schreibt Hegel, »dem richterlichen Ausspruch sein Gewissen entgegengesetzt« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 510). Wie wir oben sagten, tritt bei Sokrates das »Moment der Individualität« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 489) hervor. Was Hegel hier über das Gewissen des Sokrates schreibt, steht in einem leichten Kontrast zu dem, wie er das Gewissen in dem Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie behandelt. Auf diese Anmerkungen Hegels wollen wir zuerst eingehen, um anschließend den Gewissens-Begriff in der Sokrates-Interpretation genauer zu entfalten.

Sokrates’ Gewissen Der Verbrecher, der weiß, dass er mit seiner Tat Unrecht begeht, tut Unrecht. Sein Unrecht ist nicht böse, wie die Unantastbarkeit des Gewissens aufgrund seiner Selbstimmunisierung böse sein kann. Hier liegt die Kollisionsursache zwischen einer moralisch-formellen Gewissheit und welthistorischen Ereignissen. »Böse« ist hier kein Attribut eines Unrechts, wie ein Mundraub ein Unrecht ist oder ein Vertragsbruch als Rechtsverletzung im »abstrakten Recht« es sein kann. »Böse« verweist uns hier eher in einem zu Kant analogen Sinne auf das »teuflisch Böse«, jedoch nicht als Ausdruck eines freien Willens, der absichtlich eine Maxime des Bösen angenommen hat. Das Gewissen ist gerade dadurch böse, dass es sich als »das an und für sich Allzu geben. Pippin schreibt: »What Hegel attempts to show in a variety of contexts [in the Phenomenology, D. F.], against a variety of inner-oriented positions is that we cannot determine what actually was a subject’s intention or motivating reason by relying on some sort of introspection […]. Only as manifested or expressed in a social space […] can one (even the subject himself) retrospectively determine what must have been intended« (vgl. Robert B. Pippin, »Recognition and Reconciliation«, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus, Bd. 2, Berlin / New York: De Gruyter 2004, 249–268, hier: 261). 400 Hegel: »Im allgemeinen hat er wohl die Souveränität des Volkes, der Regierung anerkannt, aber nicht in diesem einzelnen Falle; aber sie ist nicht nur im allgemeinen, sondern in jedem einzelnen Falle anzuerkennen. Sein [des Sokrates] Los war also der Tod« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 509 f.).

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gemeine« (Rph, Bd. 7, § 139) gar nicht mehr durch einen anderen Maßstab hinterfragen lassen kann. 401 Hegel interpretiert die moralische Gewissheit beispielhaft als ein Moment der Heftigkeit der Französischen Revolution. Wenn sich der Freiheitsbegriff des moralischen Willens nicht in der Ausführung einer bestimmten Lebensform für ein sittliches Gemeinwesen erschöpft, dann produziert dieses Verständnis der Selbstverwirklichung die Gefahr einer »unendlichen Verletzung«. Der Terror der Französischen Revolution galt Hegel als Ausgeburt einer solchen der Freiheit sich verpflichtenden kontextlosen Vernunft. Hegel sieht hier eine strukturelle Tragik der Moderne. Der Standpunkt des Moralischen unterbestimmt die Geschichtlichkeit der Sitte selbst. Dennoch gesteht Hegel dem Individuum das Recht ein, das Netz sozialer Normen und Verhaltensweisen immer wieder notwendig vor dem »Recht des subjektiven Willens« zu hinterfragen. Denn das »höchste Recht des Subjekts« ist dasjenige, »nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe« (Rph., Bd. 7, § 132A). 402 Wenn Hegel in der Rechtsphilosophie das Gewissen am Ende des Moralitäts-Kapitels ansiedelt als radikale Stufe einer solipsistischen Der Einzelne kann »in guten Gründen, für sich selbst eine Berechtigung zum Bösen finden, indem er durch sie [die Berechtigung, D. F.] es für sich zum Guten verkehrt« (Rph, Bd. 7, § 140, S. 268). Als »Spitze der Subjektivität« verkörpert das Gewissen auch die Abgründigkeit romantischer Ironie einer nahezu spielerischen Freiheit (Georg W. F. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 4, hrsg. von Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1973, 390). »Nicht die Sache ist das Vortreffliche, sondern Ich bin der Vortreffliche, und bin der Meister über das Gesetz und die Sache, der damit, als mit seinem Belieben, nur spielt« (Rph, Bd. 7, § 140 / S. 279). Grundlage der Hegel’schen Gewissenskonzeption ist der absolute Wille Kants. Auf der Höhe seiner Unbedingtheit ist er so unbedingt wie die romantische Ironie sich frei wähnt. Der Wille erscheint als »Herr über das Gute, Rechte, Böse, Wahre« (Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 4, 389.) Als Subjektivität in Reinform ist er »bestimmungslos«: »Diese Bestimmungslosigkeit aber ist vielmehr das Gegenteil zur Willkür, – es ist das Sichselbstgleiche, das Allgemeine des Willens« (Rph, Bd. 7, § 141Z / S. 288). 402 Hegel kritisiert Kants moralphilosophische Sein-Sollen-Differenz, wenn sie den Begriff einer teleologischen Natur zwar anerkennt, aber die Teleologie als unendliche auf ein in einem Jenseits lokalisiertes Ziel ausrichtet, von dem das moralisch handelnde Subjekt notwendig immer als unvollkommenes und pathologisches abgeschnitten ist. Vgl. Karl Ameriks: »Probleme der Moralität bei Kant und Hegel« in: Christel Fricke / Peter König / Thomas Peterson (Hg.), Das Recht der Vernunft: Kant und Hegel über Denken, Erkennen und Handeln, Stuttgart-Bad Cannstatt: FrommannHolzboog 1995, 263–289. 401

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Selbstgesetzgebung, dann ist angedeutet, inwiefern nach ihm das Gewissen seine Formalität und Selbstgesetzgebung überwinden und in den Bereich des lebendigen Guten übertreten muss, gerade weil in ihm die Gefahr der Blindheit in kontextloser selbstreflexiver Selbstgewissheit am größten ist. Es muss sich mit der Lebenswelt identifizieren können, um in sittliche Gesinnung umzuschlagen. Wenn aber Hegel gleichzeitig das Gewissen auf Sokrates anwendet als denjenigen, dessen Bewusstheit eine neue Bewusstseinsstufe der athenischen Gesellschaft im Moment ihres Verkanntwerdens artikuliert, dann ist das Gewissen wiederum unentbehrlich, um Sittlichkeit je in eine neue Form hineinzuprovozieren. Es ist daher nicht einfach, das Gewissen so in die Sittlichkeit zu integrieren, dass es je in Freiheit tut, was es in Freiheit immer schon tun wollte. Und es ist diese Spannung zwischen Moralität und Sittlichkeit, die zu den vielkommentierten Unversöhnlichkeiten in Hegels Werk mit beiträgt. Sie sind symptomatisch für die in der Forschung umstrittene Frage, wie sehr Hegel den Begriff der Moralität im Begriff der Sittlichkeit überhaupt vernichtet (Ruge, Tugendhat, Theunissen) 403, als Einspruch gegen die Sittlichkeit bestehen lässt, ihn in ihr konstruktiv aufgehen lässt (Siep, Taylor, Schnädelbach, Neuhouser) 404 oder in starker Analogie dazu ihn als ständig neu zu konzeptualisierendes »Ideal« versteht (Rosenkranz, Peperzak, Ottmann, Wood). 405 Wir vertreten die zweite Alter403 Vgl. Arnold Ruge in seinem Aufsatz »Die Hegelsche Rechtsphilosophie und die Politik unserer Zeit (1842)«, in: Manfred Riedel (Hg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, 323–349. Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, besonders: 307 ff. Vgl. Michael Theunissen, »Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts«, in: Dieter Henrich / Rolf-Peter Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart: KlettCotta 1982, 317–381. 404 Vgl. Ludwig Siep, »Kehraus mit Hegel?«; Charles Taylor, Hegel, Cambridge: Cambridge University Press 1975, 428–464. Herbert Schnädelbach: »Dem möglichen Gedanken, bei wirklich gelebten Institutionen könne es sich um durch und durch unsittliche Institutionen handeln, scheint sich Hegel völlig zu verschließen; und zwar durch Definitionen der Art: Was ›Sitte‹ ist und als ›zweite Natur‹ gelebt wird, muss darum, weil es nicht bloße, erste Natur ist, ›Geist‹ und ›Dasein der Freiheit‹ sein« (in: ders., Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 250). Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory, 225 ff. 405 Vgl. Karl Rosenkranz, »Apologie Hegels gegen Dr. R. Haym«, in: Manfred Riedel (Hg.), Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, 395–410. Adriaan Peperzak, »Hegels Pflichten- und Tugendlehre«, in: HegelStudien, Bd. 17 (1982), 97–117. Henning Ottmann, Individuum und Gemeinschaft

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native. Denn wenn Hegel dem im zwanzigsten Jahrhundert gegen ihn wiederholt vorgebrachten Vorwurf, seine Metaphysik verkörpere eine auf Totalität ausgerichtete Dialektik, entgehen kann, dann wohl nur, wenn man aufzeigt, wie und an welchen Stellen sein Werk die Moralität, wie sie durch das Gewissen z. B. eines Sokrates vertreten wird, als einen nicht aufzuhebenden Einspruch gegen alle Einverleibungstendenzen der Sittlichkeit bestehen lässt. Und Sokrates scheint in diesem Kontext ein gutes Beispiel zu sein, da hier Hegel mehrmals die Thematik des Gewissens anklingen lässt, die bei Antigone noch wenig berücksichtigt wurde. Wir sehen den Konflikt, den das Gewissen provoziert, als einen dauerhaften, der Teil dessen ist, was Hegel das Allgemeine nennt. Hebt sich exzessive Subjektivität im Hegel’schen Staat auf? Rechtsphilosophisch scheint Hegel diesen Gedanken immer wieder im Kontext seines – sein gesamtes Werk durchziehenden – Holismus’ nahezulegen. Aber schon Rosenkranz verwies darauf, inwiefern Hegel z. B. den Staat als eines der scheinbar zentralen holistischen Versöhnungstheoreme seiner praktischen Philosophie in seiner Konzeption an keinem Ort in der Welt zu seiner Zeit verwirklicht und ihn deshalb nur als Ideal sah. 406 Wie verhält sich aber nun Hegels Rede vom Gewissen zu Kants Moralphilosophie, wenn er wiederholt darauf hinweist, dass er den Gewissensbegriff aus dieser Tradition herleitet? Nach Christine Korsgaard distanziert sich Hegel von diesem ›Internalismus‹, wenn er Sittlichkeit an lebensweltliche Gebräuche rückbindet. 407 Aber widerspricht Hegels Rede vom Gewissen nicht diesem Vorwurf? Rückt die Rede vom Gewissen ihn nicht zurück in die Tradition Kants? Für viele Interpreten ist dies deshalb nicht der Fall, da der Gewissens-Begriff nicht für eine positive Ethik Hegels im Sinne eines rationalen Internalismus’ in Anspruch genommen werden könne. Gewissen werde von Hegel, in der Ambivalenz solipsistischer Überzeugungsethik thematisiert und nicht positiv bewertet. Frederick Neuhouser versteht so das Gewissen als Zugeständnis an das Individuum, das eine fortge-

bei Hegel. Hegel im Spiegel der Interpretationen, Berlin / New York: De Gruyter 1977. Wood, Hegel’s Ethical Thought. 406 Vgl. Karl Rosenkranz, Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, 152. 407 Vgl. Korsgaard, Creating the Kingdom of Ends, 65.

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schrittene Gesellschaft sich im Sinne eines entwickelten Toleranzbegriffes erlauben könne. 408 Ludwig Siep interpretiert es als eine Etappe, die die Konfrontation zwischen solipsistischer Überzeugung und sozialer Normativität durch einen »Schritt von beiden Seiten« her überwindet. 409 Und Christoph Halbig sieht im Gewissen wenig mehr als eine denkbar primitive Form spekulativer Vermittlung, die in der »sinnlichen Gewißheit« ihre Äquivalenzform hat. Hegel wolle das Gewissen disqualifizieren als eine primitive Stufe ethischen Handelns. 410 Dean Moyar weist dagegen auf, dass das Gewissen bei Hegel eine positiv ethische Dimension bekommt, wenn es in Verbindung mit Hegels Schlusslehre aus der kleinen Logik der Enzyklopädie gebracht wird. 411 Dieser Interpretation wollen wir uns im Folgenden anschließen, da sie Gewissheit am Grund von exzessiver Subjektivität nicht einfach nur als primitiv oder als auf Versöhnung hin angelegte Negativität zu denken hilft. Moyars Ausgangspunkt ist Hegels Diskussion des Schlusses in der Logik, von der Hegel sagt, dass man traditionell darunter Syllogismen versteht. 412 Wenn jedoch, so Hegel, die eigentliche Lehre des Schlusses wahrhaft verstanden ist, dann kann behauptet werden: »Alles ist ein Schluß« (Enzyklopädie I, Bd. 8, § 181 / S. 332). Vgl. Neuhouser, Foundations of Hegel’s Social Theory, 225, 230, 241. Ludwig Siep: »Das auf sein Gewissen pochende Individuum muß die Einseitigkeit und den möglichen Irrtum seiner Entscheidung bekennen. Und das allgemeine moralische Bewußtsein muss seinerseits die einzelne Entscheidung […] anerkennen« (Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, 214). 410 Christoph Halbig: »Was den Grund der Verpflichtung des Handelnden ausmacht, ist nichts anderes als eben dessen Gewißheit, verpflichtet zu sein« (ders., »Zur Wahrheit des Gewissens,« in: Klaus Vieweg / Wolfgang Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, 489– 503, hier: 492). Halbig behauptet, dass Hegel das Gewissen disqualifiziert als eine primitive Stufe ethischen Handelns. »Anstatt zu versuchen, ohne Rüstzeug von moralischen Regeln die holistische Struktur, in der die konkreten Merkmale der Handlungssituation je neu zusammenwirken, zu erfassen, wendet das Gewissen seinen Blick in umgekehrter Richtung nach innen« (Halbig, »Zur Wahrheit des Gewissens«, 494). Nun sehen wir am Beispiel von Antigone aber gerade, dass sie ihren Blick nicht nach innen wendet. Denn im Inneren wird sie die Gesetze der Familie nicht entdecken. Die Verbindlichkeit des Gewissens ist also gerade nicht an die Metaphorik einer Gewissensschau als Introversion gebunden. Die Gesetze Antigones sind vielmehr gewiss, weil sie sind. 411 Vgl. Dean Moyar, »Urteil, Schluß und Handlung: Hegels logische Übergänge im Argument zur Sittlichkeit«, in: Hegel-Studien, Bd. 42 (2007), 51–79. 412 Vgl. Moyar, »Urteil, Schluß und Handlung«, 62. 408 409

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Sokrates’ Gewissen

Hegel entwickelt seine Schlusslehre aufgrund eines durch Hölderlin und Fichte vererbten erkenntnistheoretischen Problems aus dem Kontext der Urteilslehre. Hölderlin hatte durch seine Ausführungen in Urtheil und Seyn darauf verwiesen, dass jede Art von Urteil ein absolutes Sein voraussetze, um einem Subjekt die auf Objektivität zielende Konklusion im Prädikat zusprechen zu können. Dabei zeigt sich aber, inwiefern die Form des Urteils, wie Georg Sans schreibt, »unlöslich mit dem Schema von Substanz und Akzidenz oder Ding und Eigenschaft verbunden« ist. »Sobald wir urteilen, können wir nicht umhin, uns die Wirklichkeit als eine Menge von Substanzen vorzustellen, denen gewisse Bestimmungen inhärieren.« 413 Im Urteil werde das Subjekt vereinzelt und im Prädikat demselben ein allgemeines Merkmal zugesprochen. Das führt dazu, dass wir im Urteil von den Einzeldingen abstrahierend Bestimmungen machen, die der Wirklichkeit des Einzeldinges nicht mehr absolut gerecht werden. Die Schlusslehre soll dieses Ur-Teilen im Urteil, das Separieren von Subjekt und Prädikat, beheben, ohne ein von Hölderlin gefordertes absolutes (Antagonismus-freies) Sein vorauszusetzen. Hegels Schlusslehre versucht genau dies durch einen Wirklichkeitsbegriff, der als Totalität zu erfassen ist. Diese Totalität der Schlusslehre bezieht Moyar auf Hegels Theorem des Gewissens in Abgrenzung zur Struktur eines moralischen Urteils. Denn das Gewissen verkörpert den Anspruch einer Totalität, ohne zu ›ur-teilen‹. Wenn Hegel schreibt »Alles ist ein Schluß«, verweist er nach Moyars komplexer Verbindung zwischen Schlusslehre und Hegels Theorie des Gewissens darauf, inwiefern Schließen in einem lebensweltlichen Kontext so eingebunden ist, dass uns Objektivität nicht z. B. durch syllogistische Urteilsketten zuteilwird, sondern z. B. durch bestimmte Ausschlüsse von Handlungsoptionen. Von ihnen behauptet Moyar, dass sie wesentlich etwas über das Funktionieren des Schließens in Bezug auf das Gewissen sagen. Hierbei werden Begriffe durch Ausschlüsse vereinzelt und auf ihren Inhalt festgelegt. »A ist entweder B oder C oder D, / A ist aber B, / also ist A weder C noch D.« 414 Moyar 413 Georg Sans, »Hegels Schlusslehre als Theorie des Begriffs«, in: Andreas Arndt / Christian Iber / Günter Kruck (Hg.), Hegel-Forschungen. Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, Berlin: Akademie Verlag 2006, 216–232, hier: 219. 414 Moyar, »Urteil, Schluß und Handlung«, 64. Moyar hätte die Formel besser so formulieren sollen: »A ist entweder B oder C oder D. A ist weder C noch D. A ist also B.«

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sieht dieses Schließen nach dem Ausschlussverfahren als Moment des Gewissens. Und er schreibt: »Der Schluß ist dem Urteil gegenüber ein Fortschritt, denn er trennt nicht nur die Momente oder zeigt die Unterschiede des Begriffs (und empirischer Urteile), sondern verbindet sie in einer Weise, die bestimmter ist als das bloße ›ist‹ des Urteils«. 415 Das Gewissen steht bei Hegel für eine Gewissheit, die es jenseits einer Erklärbarkeit stellt und dieser Umstand betrifft unser Thema exzessiver Subjektivität. Das haben zwar auch schon andere Interpreten (kritisch) aufgewiesen, aber für Moyar ist entscheidend, dass das Gewissen schon Gründe angeben könnte für sein Handeln, aber dass es eben nicht aufgrund dieser Gründe agiert – wie in der Folgestruktur z. B. eines moralischen Urteils. 416 Die im Gewissen anwesende Subjektivität lässt sich nicht von Weltbeschreibungen als Weltdeutungen aufzehren. Sie hilft Hegel, eine Instanz zu konzeptualisieren, die einen Geltungsanspruch kundtut, der nicht abgeleitet ist von Weltzusammenhängen. Wenn A, B und C die Alternativen sind, dann gibt es innerhalb des Gewissens unmittelbare Ablehnungen. Übrig bleibt dann z. B. A. Aber dieses Ergebnis A ist nicht die Folge eines Urteils, in der das Gewissen das ganze Gerüst einer inferentialistischen Welt- und Wertdeutung unthematisch im Gepäck hat und jederzeit auspacken könnte. Ein solches Ausschlussverfahren kann sich gerade nicht auf ein allgemeines Urteil als Prämisse berufen, aber auf Gewissheit. Nun könnte man das Gewissen von der Form des reflektierenden Urteils her ableiten, wie dies Will Dudley tut. Ein Individuum findet im reflektierenden Urteil »die einzigartige Kombination von Besonderheiten« als »letzte Rechtfertigung« seines Urteils. 417 Moyar reicht das nicht aus. Was er zeigen möchte, ist, »daß das Urteils-Modell auf keiner Stufe in der Lage ist, das Gewissen vollständig zu erfassen, denn das Gewissen ist eine Figur autonomen Handelns und nicht lediglich das bewußte Urteil, eine Handlung X sei dieser oder jener Merkmale wegen gut.« 418 Das Ziel, das Hegel im Gewissen anvisiert,

Moyar, »Urteil, Schluß und Handlung«, 63. Gewissheit ist nicht auf Gründe angelegt. Gewissen ist die formale Voraussetzung dafür, dass es eine Urteilstheorie geben kann. 417 Vgl. Will Dudley, Hegel, Nietzsche, and Philosophy. Thinking Freedom, Cambridge: Cambridge University Press 2002, 61. 418 Moyar, »Urteil, Schluß und Handlung«, 62. 415 416

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ist nicht Verweigerung von Begründungen zugunsten eines primitiven Gefühls, und doch sind es auch nicht Nicht-Begründungen. Es handelt sich um Übergangsfiguren bzw. Übergangsdarstellungen. 419 Auch wenn man nicht ausschließen kann, dass das Gewissen für seine Haltung Gründe anführen könnte, sind diese in der Gewissheit nicht präsent. Daher ist das Gewissen sinnbildlich ›leer‹. Gründe sind Teil eines anderen inferentialistischen Bestimmungssystems, einer anderen – mit Wittgenstein gesprochen – Lebensform, der das Gewissen nicht verpflichtet ist. Von daher kann Hegel auch nicht von seinem Gewissens-Theorem in eine Außenperspektive (third-person perspective) übergehen, damit aus einer unmittelbaren Gewissheit eine verwirklichte Allgemeinheit werden möge in der Handlung. Das ist unmöglich – und darauf beruht ja der Umstand, dass das Gewissen einen aberwitzigen Anspruch geltend macht, über den man fast lachen könnte, wenn er nicht immer auch wieder tragisch wäre oder tragisch endete. Begründungen und Rechtfertigungen haben Teil an der Rationalität einer ethischen Handlung, behauptet Hegel, nicht am Gewissen. Durch ein negatives Ausschlussverfahren hat es gegenüber dem Urteil eine Unmittelbarkeit. Erklären kann es sich nur negativ. Wenn es sich positiv erklären könnte, wäre es Teil einer Sozialität und könnte dieselbe nicht mehr von einem Nicht-Ort aus erweitern. Aber genau um diese Erweiterung von Sozialität gegen Sozialität geht es hier im Kontext unserer Thematik. Das Gewissen ist leer, in dem Sinne, dass es keine in seinem Urteil verankerte Weltdeutung enthält. 420 Die mit dem Gewissen verbundene Subjektivität ist dann zwar allgemein, aber eben, was entscheidend ist, nicht verallgemeinerbar. Sie ist höchstens zu spät verallgemeinerbar. In Bezug auf Kants heftig umstrittenes Beispiel eines Vermeinte [n] Recht[s,] aus Menschenliebe zu lügen von 1797, würde Hegel sicher nicht Kant in der Meinung widersprechen, dass Lügen unmoralisch und verwerflich sei. Hegel würde Lügen nicht weniger ablehnen als Kant. Ebenso wäre es falsch, wollte man Hegel in Bezug auf Kants Beispiel so interpretieren, als sei er für eine utilitaristische Beurteilung des Sachverhalts und würde im Lauf einer GüterabwäIch verdanke diese Erkenntnis Urs Espeel. Es enthält zwar die Urteile »A ist entweder B oder C oder D«, ebenso wie »A ist weder C noch D«, aber das Urteil »A ist B« ist nicht Ergebnis einer verallgemeinerbaren Gewissheit. 419 420

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gung das Lügen-Verbot außer Kraft setzen. Hegels Rede vom Gewissen, vor deren und nur vor deren Hintergrund wir dieses Beispiel beurteilen, meint das nach unserer Lesart nicht. Das Gewissen kann nur, in Bezug auf Kants Beispiel, durch Ausschluss dem Mörder nicht die Wahrheit über den Verbleib des Freundes sagen. In diesem Sinne ist das Gewissen leer, leer insofern es nicht durch eine Urteilsfähigkeit im kantischen Sinne ausgestattet ist und mit Hilfe des kategorischen Imperativs eine Handlungsmaxime als absolut sittliches Gesetz aufstellt. Das Partikuläre (die konkrete Situation mit einem Mörder an der Tür) und das Allgemeine (die Pflicht, nicht zu lügen) treten für Hegel im Gewissen nicht in Konflikt. Aber gerade deshalb treten im Gewissen Partikularität und Allgemeinheit auch nicht auseinander. (Und dieser Gedanke ist zentral für unser Verständnis von exzessiver Subjektivität.) Diese Vorstellung einer konkreten Bestimmung von Partikularität und Allgemeinheit geht von einer, für das Gewissen im Sinne Hegels, falschen Fragestellung aus. Wenn Sokrates, wie Hegel schreibt, »dem richterlichen Ausspruch sein Gewissen entgegengesetzt« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 510), dann könnte man dies so interpretieren, dass für ihn Partikularität und Allgemeinheit urteilsfrei zusammenfallen und es keine andere Alternative für ihn gibt, als seine Freiheit »anundfürsichseiender Allgemeinheit« zu vertreten, selbst wenn dies seinen Tod bedeuten würde. Hegels Argumente legen sogar nahe, die hier in Sokrates’ Schicksal verortete Tragik als eine Bedingung des Politischen zu denken. Denn erst durch die Tragik erhebt sich, was Hegel das »Prinzip« nennt, »zu seiner wahrhaften Gestalt« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 512). Sofort im Anschluss verweist er auf die Nachträglichkeit desselben, wenn es heißt: »dieses Prinzip ist die allgemeine Weise, wie es nachher auftrat« (ebd., Hervorhebung D. F.). »Nicht seine Welt kann den Sokrates fassen, sondern die Nachwelt, insofern sie über beiden steht« (ebd.). Die Vorstellung, Sokrates’ Lehre als eine Sammlung abstrakter, verallgemeinerbarer Sätze hätte auch einfach nur als Lehre (d. h. von Sokrates abgelöst) und durch seine Schüler verbreitet werden können, weist Hegel damit indirekt zurück. Denn dem »Prinzip«, dem Partikulär-Allgemeinen, für das Sokrates eintrat, ist »erst durch diese Art des Ausgangs [von Sokrates’ Leben, d. h. durch seinen Tod, D. F.] seine eigentliche Ehre widerfahren« (ebd.). Erst die zu spät erkannte Normativität zeigt, dass dieses Prinzip »Totalität« ist und als solches »in direkter Beziehung auf die Wirklichkeit« steht, »nicht 226 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

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bloß als Meinung und Lehre usw.« (ebd.). Zum Prinzip als Wirklichkeit kann nur das »seine wahrhafte Stellung« (ebd.) einnehmen, was sich »gegen das Prinzip des griechischen Geistes« (ebd.) in einer ganz konkreten Persönlichkeit verkörpert, die die Liebe ihrer Jünger auf sich versammelt und durch ihren Tod beweist, dass es diesem, ihrem Willen tatsächlich um Alles oder Nichts ging. Die Jünger sind ihrerseits diejenigen, die vom Horizont der Persönlichkeit ihres Meisters aus dessen Lehre von dem Ort aus rezipieren, von dem aus sie durch ihn vorerst artikuliert wurde. Eine Lehre braucht eben die kontingent-existenzielle Verkörperung eines Subjekts. So spricht Hegel einerseits den Athenern die »Ehre« zu, ihn, Sokrates, zum Tode zu verurteilen, und sagt anderseits im gleichen Atemzug, dass »die Athener nachher diese Verurteilung des Sokrates« sozusagen zurecht »bereut und seine Ankläger teils selbst mit dem Tode, teils mit Verweisung bestraft« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 513) haben. In beiden Fällen haben sie rechtmäßig gehandelt. Die Reue der Athener impliziert für Hegel gerade nicht den Schluss, dass »es nicht hätte geschehen sollen.« Erst die tragische Tötung exzessiver Subjektivität und die Gewissheit, ihre enigmatischen Anrufungen nicht mehr hören zu können, lässt durch die damit einhergehende Lücke ein neues Bewusstsein gewahr werden in den Nachkommenden, das zuvor keine Normativität hatte im Reich des »gesunden Menschenverstandes« etablieren können. Es wäre falsch, würde man das »Prinzip des Sokrates« nur auf das Individuum Sokrates beschränken, z. B. als Fähigkeit des Denkens, für Allgemeinverbindlichkeitsansprüche Gründe zu fordern. Auch wenn dies für Sokrates zutrifft, ist Hegels Rede vom »Prinzip« nicht mit einem konkreten ethischen, philosophischen Inhalt gefüllt. Das »Prinzip« als Totalität ist für Hegel generell an geschichtsmächtige, exzessive Subjektivität gebunden, die zeitgenössische Ethiken oftmals nicht zu denken wagen. Über Sokrates hinausgehend schreibt Hegel: »[D]ie Heroen erscheinen also als gewaltsam, die Gesetze verletzend. Sie finden individuell ihren Untergang; aber dies Prinzip dringt selbst, wenngleich in anderer Gestalt, durch und untergräbt das vorhandene« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 512). Dies impliziert, dass das Prinzip, sobald es in die Wirklichkeit eingetreten ist, sich notwendig verliert. Es wird unbewusste Maxime einer neuen Epoche. Das Auftreten des Prinzips ist ein temporäres, immer wieder verschwindendes Moment im Bereich des Politischen. Es braucht dazu exzessive 227 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

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Subjektivität, denn ein »großer Mensch will schuldig sein, übernimmt die große Kollision« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 513 f.).

Allgemeines und Besonderes Wie wir des Öfteren erwähnt haben, versteht Hegel den »Geist eines Volkes« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 475) als den epistemisch-normativen Rahmen, in dem konkrete Handlungen situativ gemäß allgemeinen Anwendungspraktiken ihre Gültigkeit haben. Dieses Allgemeine des Volksgeistes gibt das Einheitsprinzip sittlicher Pflichten vor und subsumiert die Besonderheiten unter seine Autorität. Der Volksgeist lässt sich dabei mit dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in Hegels Logik vergleichen. Dort wird das Allgemeine als die Größe interpretiert, die tautologisch sie selbst ist, aber zeitgleich auch noch im Übergreifen auf ihr »anderes« (Logik II, Bd. 6, 277) sie selbst bleibt. Das Allgemeine tut dies »aber nicht als ein Gewaltsames« sondern ist »in demselben«, d. h. in diesem Übergreifen, »ruhig und bei sich« (ebd.). Das Allgemeine verkörpert, indem es das Einzelne in sich, in seine Allgemeinheit einbezieht (Logik II, Bd. 6, 279 f.), eine »freie Macht«. In den Worten von Klaus Düsing: »[I]n ihr [der Einzelheit] liegt ›das Prinzip der Individualität und Persönlichkeit.‹ Die Einzelheit ist also die Begriffsbestimmung der Subjektivität. […] Sie ist die konkrete Allgemeinheit selbst.« 421 Das Allgemeine kann die »freie Macht« des Einzelnen integrieren, aber krisenlos und »ruhig« geht dieser Prozess für das einzeln existierende Subjekt, welches das Allgemeine von seinem konkreten Leben aus erst allgemein sein lässt, nicht immer vonstatten. Das Allgemeine kann die freie Macht des Einzelnen nur deshalb in sich einbeziehen, weil es in der Zeit und so in dem Horizont seiner sich immer wieder neu gestaltenden Idee situiert ist. Diese Idee wird ihm von Ewigkeit an eingeschrieben sein vor seiner je neuen und zukünftigen Gestalt. So ist das Allgemeine als »Geist des Volkes« durch seine Zeitlichkeit immer auch Bedingung des Auftretens eines Besonderen, das nicht nur das Allgemeine bestätigt, sondern als konkrete Allgemeinheit es auch – zumindest aus der Perspektive der in 421 Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik (Hegel-Studien, Beiheft 15), Bonn: Bouvier 1976, 250.

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der Allgemeinheit (der Sittlichkeit) Lebenden – gefährden kann. Ein solches Auftreten verkörpert Sokrates. Als Verkörperung neuen Bewusstseins ist er mehr als nur eine dem Allgemeinen untergeordnete Einzelheit. Als bedrohliche, weil ›enigmatisch‹ bleibende Einzelheit (enigmatisch deshalb, weil viele seiner Lehrdialoge den zu bestimmenden Begriff verfehlen), wird er von der athenischen Sittlichkeit verkannt. In diesem Verkanntsein bestätigt er die Trägheit des überkommenen Bewusstseins. Während zur Zeit der Orakel das Entscheidungsmoment außerhalb des Individuums lag, begründet es Sokrates im Selbstbewusstsein. Hegel beschreibt in der Rechtsphilosophie § 279A die Entscheidungskraft des Sokrates in Bezug auf dessen »Dämon«. Sie ist »reine Einsicht«. Hegel entfaltet diesen Gedankengang im Kontext seiner Anmerkungen zur Dezisionsmacht des Monarchen im staatlichen Gemeinwesen. Von der individuellen Spitze her, dem Monarchen, sieht Hegel die Einheit eines Gemeinwesens garantiert. 422 Die Dezision beendet das Schwanken zwischen Argumenten. In Bezug auf Sokrates stellt er dessen »Dämon« als Bewusstseinsstufe dar, die die mythische Entscheidung überwindet. Die »reine Entscheidung« aus den Anfängen menschlicher Gesellschaftsbildung, die aus dem orakelnden Vogelflug und aus »Eingeweiden der Tiere« herausgelesen wurde, wird von Sokrates überwunden. Hegel sanktioniert dennoch 422 Eine Nicht-Integrierbarkeit von Einzelwillen in einen geteilten Kommunikationsraum sieht Hegel in den Staaten am Werk, denen er keine zukunftsvisionäre Versöhnung in der Rechtsphilosophie zuspricht. Deshalb stellt er am Ende der Rechtsphilosophie die These auf, dass der Naturzustand nie ganz entschwindet und es kein prognostizierbares Geschichtsziel im Verhältnis von Staaten untereinander gibt. Was Hegel daher innerhalb des Staates sehr wohl möglich erscheint, eine utopische Versöhnung zwischen Subjektivität und Institutionenobjektivität, sieht er nicht auf zwischenstaatlicher Ebene. Damit setzt er sich deutlich von der Idee eines »ewigen Friedens« im Völkerbund ab. Dieser Aspekt ist verblüffend, da Hegel insofern sein Konzept der »Idee« hinter dem Staats-Ideal sozusagen abbrechen lässt. Einen wahrhaft vernünftigen Zustand auf zwischenstaatlicher Ebene lehnt er ab, weil es »keinen Prätor, höchsten Schiedsrichter und Vermittler zwischen den Staaten« gibt (Rph, Bd. 7, § 333A). Der Krieg bekommt eine Erneuerungsfunktion für das Leben der Staaten zugesprochen (Rph, Bd. 7, § 334). Hegels Geschichtsphilosophie wird über den Staat hinaus nicht den Naturzustand verlassen. Diese Wendung mag zeigen, dass Hegel sich auch gegenüber seiner eigenen Teleologie vor einem metaphysischen Abschluss verwahrt hat. Diese Verweigerung, den Naturzustand letztlich zu überwindenden, drückt sich gemäß der hier dargelegten Theorie exzessiver Subjektivität auch im Insistieren von Moralität und Gewissen aus. In diesem Sinne erfährt auch innerhalb des Staates die Idee immer wieder ihre Zusammenbrüche.

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diese vorsokratischen Dezisionsrituale als Ausdruck, dass alle »Wirklichkeit […] ihren Anfang und ihre Vollführung in der entschiedenen Einheit« einer Dezision hat. Er schreibt hierzu: »Im Dämon des Sokrates […] können wir den Anfang sehen, daß der sich vorher nur jenseits seiner selbst versetzende Wille sich in sich verlegte und sich innerhalb seiner erkannte – der Anfang der sich wissenden und damit wahrhaften Freiheit« (Rph, Bd. 7, § 279A). Für Hegel kristallisiert sich in Sokrates ein dem Weltgeist in seiner genealogischen Ausrichtung entsprechenderes Bewusstsein. Als solches taucht es notwendig retrospektiv durch das Untergegangen-Sein der griechischen Polis auf. Die Athener »vor Sokrates« haben »das Vernünftige ihrer Verhältnisse getan, […] ohne zu wissen, dass sie vortreffliche Menschen waren« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 445, 477). Mit Sokrates hält ein Wissen Einzug, das gegen »dies [athenische] Wissen«, das nichts »von seinem Inhalte« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 486) weiß, eine neue Bewusstheit verkörpert. Es ist dabei eine »Allgemeinheit«, die aber, so das Dilemma ihrer fehlenden Rettungskraft für die athenische Kultur, nur in subjektiver Gewissheit verankert ist. Aristophanes hat das bei Sokrates erkannt: »[D]ie Seite des Dialektischen […] als eines Negativen […]. Denn die Entscheidung wird beim Verfahren des Sokrates immer in das Subjekt« – als eine teils kontingente Instanz – »in das Gewissen gelegt werden« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 485). Bei Sokrates kann die Anwendung eines Allgemeinen auf der Ebene des Gewissens zwar »bewusster« sein als es die »unbewusst« gebliebene athenische Kultur zustande gebracht hat. Problematisch bleibt aber eine Bewusstheit, die keine »allgemeingültigen« Kriterien ihrer Anwendung von Bestimmungen vorbringen kann. Viele der sokratischen Begriffsbestimmungen laufen, wie gesagt, ins Leere und verbleiben im Unbestimmten. Sokrates’ Ausnahme ist aber trotzdem berechtigt. Auch in der Rechtsphilosophie verwirft Hegel nicht die »Ausnahmen« vom gesellschaftlich vorgegebenen Allgemeinen, selbst wenn sie der etablierten Sittlichkeit widersprechen (vgl. Rph, Bd. 7, § 150A). Klaus Erich Kaehler erklärt treffend in Bezug zu Hegels Logik eine ähnliche Struktur der Toleranz bei Hegel. Er schreibt: »Zur sittlichen Aufgabe gehört […] auch, das Zufällige und Besondere sein zu lassen. […] Wie aber jenes Wollen und Tun in der konkreten Existenz des Individuums immer wieder neu zu vollbringen sei, das muß ihm [dem einzelnen Individuum, in unserem Falle Sokrates, D. F., …] überlassen bleiben«.

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Allgemeines und Besonderes

Und Kaehler fährt fort: »[I]m System der spekulativen Philosophie lässt sich darüber [d. h. über diese partikuläre Ausnahme, D. F.] konsequenterweise nichts sagen. Diesem zufolge handelt es sich ja hier gerade um die Sphäre der Differenz von Substanz und Subjekt.« 423

Wenn ein Volksgeist seine Idee der Sittlichkeit verkörpert, aber durch seine genealogische Verankerung in der Zeit des Weltgeistes in dieser jeweiligen Verkörperung Momente der Differenzierung und Stufen von Wertigkeiten ermöglicht (das Zufällige und Besondere sein lässt), so ist das Allgemeine des Volksgeistes trotz der Realpräsenz der Idee in ihm immer von einer unabgeschlossenen Zukunft her mit neuer Legitimität (via des Zufälligen und Besonderen) überschreibbar. Der »Geist des Volkes« als ein »wahrer Grund« der etablierten Normen und Werte kann durch Einzelne in Krisenzeiten durchbrochen werden. Das Auftauchen von Einzelnen in der Weltgeschichte als retrospektiv-wirkende Instanzen des Besonderen im Allgemeinen bringt den nur erst an sich seienden Weltgeist »zum Bewußtsein und Selbstbewußtsein und damit zur Offenbarung und Wirklichkeit seines an und für sich seienden Wesens« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 549 / S. 347). »Sokrates’ Allgemeinheit« hat die Kraft, die »Nichtigkeit der Gesetze des bestimmten Guten« (Gesch. d. Phil., Bd. 18, 484) zu durchschauen, insofern seine Dialektik das bestimmte Gesetzliche umzustoßen fähig ist. Nach der hier vorgeschlagenen Lesart verkörpert exzessive Subjektivität generell für Hegel eine »Einzelheit«, eine »Besonderheit«, die dem Allgemeinen »nicht von außen dazu genommen« ist, sondern die »[a]ls Negativität überhaupt oder nach der ersten, unmittelbaren Negation […] die Bestimmtheit überhaupt als Besonderheit an ihm«, an dem Allgemeinen, ist (Logik II, Bd. 6, 277). Der »allgemeine Begriff« spezifiziert sich aus immanenter Notwendigkeit durch das konkrete Allgemeine, das zuerst als Zufälligkeit, als Ereignis und dann als »Ausnahme in ethischer Bedeutung« 424 auftreten mag. Hegel geht aber über Sokrates nicht dadurch hinaus, dass er, wie Smail Rapic ver423 Klaus Erich Kaehler, »Das Kontingente und die Ausnahme im spekulativen Denken«, in: Claus Dierksmeier (Hg.), Die Ausnahme denken. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus-Michael Kodalle in zwei Bänden, Bd. 1, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, 63–71, hier: 68. 424 Kaehler, »Das Kontingente und die Ausnahme im spekulativen Denken«, 69.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

tritt, die »Gewissensentscheidung einer intersubjektive[n] Kontrolle« 425 unterzieht. Die sokratische Methode sei, so Rapic, »gemäß Hegels Selbstverständnis der Begriffstheorie seiner Logik insofern unterlegen, als mit der Logik die Struktur des Volksgeistes als gemeinschaftlicher Orientierungsrahmen für die Anwendung abstrakter ethischer Regeln auf Einzelfälle rekonstruiert werden könne.« 426 Wäre dies der Fall, dann spielte das Besondere ja nur je unter der Oberherrschaft des Allgemeinen seine Rolle und könnte es nicht auf ein Anderes seiner selbst hin durchbrechen. Aber genau die Eruption des Ethischen in einer illegitimen Gründungstat ist es, was Hegel immer wieder an Figuren wie Sokrates betont. Deswegen ist es ebenso unzutreffend zu behaupten, dass das ethische Grundprinzip als Begriff im Sinne der Logik nur dadurch zu verstehen ist, dass die »Forderung, die an einen ethischen Begründungszusammenhang zu richten ist« nur möglich ist, wenn sie »den Geltungsanspruch ethischer Regeln zugleich« rechtfertigt und »in einem kontrollierbaren Sinne auf[]heb[t].« 427 Hegel geht über Sokrates’ subjektiv-bleibende Allgemeinheit deshalb hinaus, weil er das Besondere in das Allgemeine erheben kann unter der Berücksichtigung, dass dieses Allgemeine eben durch eine Genealogie seiner unabgeschlossenen Zukunft bestimmt werden wird.

In Abgrenzung zur schönen Seele Hegel etabliert sein Verständnis der »schönen Seele« im MoralitätsKapitel der Phänomenologie. Nach den Entzweiungen der Bildung konzipiert er sie als eine von der (zerrissenen) Außenwelt sich abkehrende Innerlichkeit moralischer, quasi ›ganzheitlicher‹ Reinheit. Das Bewusstsein ist nicht mehr wie im Vernunft-Kapitel mit einer Welt konfrontiert, von der aus es versucht, vernünftige Prinzipien zu ergreifen. Stattdessen ist es mit einer niederschwelligen Moralphilosophie aus autopoietisch versponnen-selbstreflexiver Reinheit konfron-

425 Smail Rapic, Ethische Selbstverständigung. Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und der Rechtsphilosophie Hegels, Berlin / New York: De Gruyter 2007, 377 f. 426 Rapic, Ethische Selbstverständigung, 378. 427 Rapic, Ethische Selbstverständigung, 378.

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In Abgrenzung zur schönen Seele

tiert. Die Welt wird im Kontext der Moral eigener Ideale gedeutet und nicht mehr in abstrakten Denkbestimmungen. Die grundsätzliche Tragik der schönen Seele besteht darin, dass sie ihre eigene inkommensurable Reinheit als einen Zweck gegen die Welt hält und dabei die Welt verkennt. Entweder sind es Jacobis Romangestalten Woldemar und Allwill, die als schöne Seele dargestellt werden, oder Hegel bezieht sich auf die Romantiker Novalis, Schlegel und Hölderlin. Die schöne Seele artikuliert sich als das von der moralischen Weltanschauung ins Gewissen übergegangene Bewusstsein. 428 In der gegenseitigen Überzeugung guter Absichten bei gleichzeitig fehlenden Taten in der Außenwelt artikuliert sich die romantische Gemeinschaft guter Gewissen als Sozialität schöner Seelen. 429 Ein Leben in der Unschuld guter Absichten kann nur eine Übergangsfigur von kurzer Dauer sein, da die Singularität, die sich die schöne Seele zuschreibt, nicht in eine Vermittlungsbewegung mit dem Allgemeinen (wie es in Fakten und Normen teilwirklich ist) treten will. In der Überzeugung, das Allgemeine im Extrem des Fürsichseins schon immer zu verkörpern, muss die schöne Seele bzw. die romantische ›Gemeinschaft guter Gewissen‹ in der Entsagung das Allgemeine als Moment eines Anderen in der Welt, eines dem solipsistischen Fürsichsein nicht Zugänglichen, verkennen. Fichtes Tathandlung ist Hegel hier ein Beispiel für extremen Solipsismus. Wie Sebastian Soppa schreibt: »Die Welt wird dem absoluten Ich zum bloßen Widerhall seiner selbst.« 430 Damit verkennt das absolute Selbstbewusstsein das Bewusstsein in der Art und Weise, wie es sich durch prekäre Vermittlungen von Welt-und Selbstbezügen in diesen artikuliert. Bewusstsein ist das Ergebnis je neuer Gegenstandsbezüge durch Vorstellen, Erkennen, Wissen und Verkennen derselben. Die Zerrüttung des Gegenstands durch das Verkennen (der wie ein Gesetz auch moralischer Art sein kann) ist immer Teil der sich übersteigenden Konstitution des sich aktualisierenden neuen Gegenstands. Deshalb ist Bewusst428 Vgl. Terry Pinkard, »The ›beautiful soul‹ as ironist and as moralist«, in: ders., Hegel’s Phenomenology: The Sociality of Reason, 214 ff. 429 Hegel schreibt mit Ironie: »Der Geist und die Substanz ihrer Verbindung [die Verbindung der ›guten Gewissen‹, D. F.] ist also die gegenseitige Versicherung von ihrer Gewissenhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das Laben an der Herrlichkeit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher Vortrefflichkeit« (PhG, Bd. 3, 481). 430 Sebastian Soppa, Scheiternde Subjektivität. Das unglückliche Bewusstsein bei Hegel und Kierkegaard, Berlin: Logos 2010, 90.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

sein der Prozess eines »sich vollbringenden Skeptizismus« (PhG, Bd. 3, 72). Das Subjekt kann nur durch Entäußerung, Verkennung und Verfehlung in der Lebenswelt sich wiederfinden und muss sich der Wirklichkeit als das Andere seiner Welt immer wieder aussetzen. Die »schöne Seele« verweigert sich diesem belastenden Kontakt mit dem Anderen und verweilt stattdessen lieber bei sich. 431 Was die »schöne Seele« von exzessiver Subjektivität unterscheidet, ist, dass letztere nicht in einer Abkehr der Innerlichkeit von der Welt verharrt, sondern sich im Akt einer Freiheitstat setzt. Sokrates und Antigone stehen beide je in einem Konflikt, den sie riskieren. Ihre Freiheit ist eine, die sich veräußert um den Preis der Tragik der verlorenen (persönlichen) Zukunft durch den in Kauf genommenen Tod. Beide haben »das Bewußtsein des reinen Übersetzens seiner selbst aus der Nacht der Möglichkeit in den Tag der Gegenwart, des abstrakten Ansich in die Bedeutung des wirklichen Seins und die Gewißheit« geholt (ebd.). Dadurch wurde aus dem, was in der Möglichkeit »vorkommt, nichts anderes […], als was in jener schlief« (ebd.). In einem gewissen Sinne kann man dann auch sagen, dass ihre Tat die Wirklichkeit des Politischen als eines Bereiches gewürdigt hat, um dessen Erweiterung zu kämpfen nötig ist. Selbst wenn ihre Tat auf die Legitimität des Politischen zielt, ist hier das Selbst eines der Freiheit. Die schöne Seele in ihren verschiedenen Gestalten, unter denen sie nach Hegels Meinung bei Rousseau, Pascal, Jacobi hervortritt, geht nicht diesen Weg. Ihre Distanz zur Wirklichkeit raubt ihr die Motivation, durch die Freiheit des Willens zur Tat dem eigenen Selbst Wirklichkeit zu geben. Diese könnte sie nur im Konflikt mit der harten Schale der Außenwelt erfahren. Antigone aber verwirklicht sich in ihrem Wagnis einer Tat unabsehbarer Folgen und artikuliert nachträglich die Gestalt, die sie in diesem Wagnis erst hat verwirklichen können. Die schöne Seele bleibt vor der Tat. Sie ergreift keinen Moment von Freiheit, weshalb ihre Freiheit des Rückzugs nur eine scheinbare ist.

431 Um »die Reinheit seines Herzens zu bewahren« flieht die schöne Seele »die Berührung mit der Wirklichkeit und beharrt in […] eigensinnige[r] Kraftlosigkeit« (PhG, Bd. 3, 483).

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Verrücktheit und Dissoziabilität der menschlichen Seele

Verrücktheit und Dissoziabilität der menschlichen Seele In den beiden erwähnten Fällen exzessiver Subjektivität von Antigone und Sokrates tritt das Motiv eines nahezu solipsistischen Insistierens auf, das auch als Verrücktheit interpretiert werden kann. Verrücktheit mag dann als Verrückt-Sein in einem – durch das Festhalten einer idée fixe – verzerrten Selbst- und Realitätsverhältnis begründet liegen. Sie mag aber ebenso im Gegenteil eine Verrückung zwischen Individuum und Allgemeinheit markieren, wo die Allgemeinheit durch den Rahmen der Gewohnheiten normativ die Definitionsmacht von normal und anormal (zu unreflektiert und zu undistanziert sich selbst totalisierend) innehat. Diese Verrückung betrifft in der Folge auch das Selbstverhältnis des Subjekts, da es durch die Hinterfragung der Allgemeinheit sich wie von einer ihm gegenüberstehenden Korrektur-Instanz beraubt erfährt. Im letzten Falle verweist die Verrückung darauf, dass die in ihrer Gewissheit verharrenden Individuen sich als autonom positionieren gegenüber einer sie nicht mehr in ihrem Selbstverhältnis korrigieren könnenden Instanz des Allgemeinen (die Gemeinschaft). Das ›Außen‹, vertreten durch die Polis (in der Antigone) oder den herrschenden common sense (in Hegels Sokrates-Interpretation), begegnet als Jenseits unabdingbarer Gewissheiten, was nicht impliziert, dass das Subjekt im selben Moment, sozusagen psychopathologisch aus der Gesamtheit geteilter Wirklichkeitswahrnehmung herausgefallen ist. Das exzessive Subjekt ist, wie Hegel an Antigone und Sokrates zeigt, nicht einfach pathologisch verrückt. Es mag an seiner den Tod mit in Kauf nehmenden idée fixe festhalten und deshalb als verrückt angesehen werden. Aber letztlich provoziert seine Gewissheit eine neue Erkenntnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, die ohne das Risiko der Tat dem Hoheitsbereich eines zukünftigen scorekeepers verloren gegangen wäre. Hegel legt in seiner Anthropologie, die er im »subjektiven Geist« innerhalb der Enzyklopädie (1830) entfaltet, einige wichtige Bemerkungen zur Verrücktheit dar, die unser Thema im Kontext von Hegels verblüffenden Anmerkungen zur Genealogie der Seele betreffen. Seine Analysen bestimmen das oben mehrmals beschriebene Verhältnis der Abhängigkeit der Innerlichkeit des Subjekts von der Welt des Allgemeinen als Medium seines, des Individuums, Selbstverhältnisses. Hegels Anmerkungen zeigen, inwiefern die Trennlinie zwischen Ver235 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

rücktheit und selbstergreifendem Bewusstsein nicht als eine scharf zu ziehende Grenze verstanden werden muss. Dies liegt an einer – wie wir dann auch noch bei Lacan sehen werden – der menschlichen »Seele« selbst zukommenden Exzentrizität, die aufweist, wie »Seele« nicht synonym mit einer cartesischen res cogitans verstanden werden kann. Hegels Anmerkungen sind außerdem besonders dem Ziel verpflichtet, die Seele nicht als Teil einer Weltseele zu verstehen, sondern als eine Größe, die ihre »wirkliche Wahrheit nur als Einzelnheit, Subjektivität hat« (Enzyklopädie, Bd. 10, § 391). Die Einzelseele ist nicht derivativer Herkunft einer kosmischen Seelensubstanz. Ihre moderne Rolle ist ihre Eigenständigkeit. Hegel entfaltet seine Anthropologie als eine generative Entwicklung emotiver Zustände. Sie stehen je mit der Objektivität einer sie umfassenden natürlichen Umgebung in einer gegenseitigen Verwiesenheit mit dieser. Die Zunahme bewusster Subjektivität aus reiner Emotivität wird als prozedurales Sich-Mausern verstanden. Das fühlende, noch molluskenartige Seelen-Ich entzieht sich im Wechselverhältnis mit einer immer schon im Allgemeinen sich befindenden, institutionalisiert-vermittelten Außenwelt der Einmischung seiner Gefühlsnatur (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 409–410). 432 In der Gewohnheit erfährt sich dann das Selbst der Seele mit den treffenden Worten von Rometsch: »als das im durch Wiederholung strukturierten Wandeln seiner Gefühlsinhalte Gleichbleibende. […] Das Selbst hat sich nicht nur einfach an etwas gewöhnt, es erschließt sich ihm auch tendenziell, woran es sich gewöhnt hat, und woran nicht. Durch das Ordnen der Gefühlsinhalte beim Einbilden tut sich das gesamte Gefühlsleben als Horizont des Erlebbaren auf.« 433

Am Ende dieser Reifung-durch-Entfremdung, mit der Hegel seine dem Zeitgeist des Mesmerismus und des Magnetismus verpflichtete Antwort zum Leib-Seele-Problem andeutet, kann sich das Bewusst-

Hegels Kommentare zur Seele fallen nicht hinter Kants Kritik am Begriff einer cartesischen Seelensubstanz als Paralogismus zurück. So versteht er die Immaterialität der Seele nicht wie der Platonismus als Eigenschaft einer bestimmten metaphysischen Substanz. Seine Ausführungen entsprechen Aristoteles, der die Seele in De Anima (412b5–6) als erste Entelechie eines organisch physischen Körpers auslegt. 433 Jens Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts. Systematische Untersuchungen zur enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, 114. 432

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sein im Reflexionsverhältnis als Bewusstsein ergreifen. 434 Phänomene wie der animalische Magnetismus und die Verrücktheit werden als Stadien in diesem Selbstentfremdungsprozess der Seele zu ihrer in Gewohnheitsprozessen angeleiteten Befestigung dargestellt. Die emotive Verfassung des Menschen ist nicht einfach nur die passive Grundlage eines rationalen Vermögens, welches sich als Bewusstsein dieser passiven Grundlage eines Tages ermächtigt. Hegels Verständnis der emotiven Seele verweigert sich gerade einer präzisen Grenzklärung zwischen emotiven und rationalen Teilen im Bewusstseinsvermögen, wenn auch die rationalen Teile im Gewöhnungsprozess die angebliche Herrschaft übernehmen. 435 Indirekt nimmt Hegel daHegel: »Die wirkliche Seele in der Gewohnheit des Empfindens und ihres konkreten Selbstgefühls ist an sich die für sich seiende Idealität ihrer Bestimmtheiten, in ihrer Äußerlichkeit erinnert in sich und unendliche Beziehung auf sich. Dies Fürsichsein der freien Allgemeinheit ist das höhere Erwachen der Seele zum Ich, der abstrakten Allgemeinheit, insofern sie für die abstrakte Allgemeinheit ist, welche so Denken und Subjekt für sich, und zwar bestimmt Subjekt seines Urteils ist, in welchem das Ich die natürliche Totalität seiner Bestimmungen als ein Objekt, eine ihm äußere Welt, von sich ausschließt und sich darauf bezieht, so daß es in derselben unmittelbar in sich reflektiert ist, – das Bewußtsein« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 412). Inwiefern hier Hegel wirklich den Umschlagpunkt der Seele aus ihrem Naturzustand in den Kulturzustand aufweist, ist umstritten. Dieter Sturma verweist berechtigterweise darauf, dass Hegel den Geist oder das Bewusstsein der Seele immer schon monistisch voraussetzen muss (vgl. Dieter Sturma, »Philosophie der Psychologie«, in: Journal für Psychologie, Bd. 10, Nr. 1 (2002), 18–39). Markus Gabriel liest Hegels Anmerkungen zur Seele als eine »discovery of the pathological structure of representation as such: for Hegel there is no subjective space of presentation, that is, no judgmental or logical space in which something can be distinguished from something else, without the psychic monad having moved through a process of pathological splitting« (Markus Gabriel, »The Pathological Structure of Representation as such: Hegel’s Anthropology«, in: ders., Transcendental Ontology. Essays on German Idealism, London / New York: Continuum 2011, 49 f.). Emotivität wird von Gabriel als Ursprung der Repräsentation verstanden. »When the soul has a sensation (Empfindung) of something, it finds (finden) this sensation in itself. […] This internalization is the minimal psychic structure of reference. […] The soul finds before itself what it senses as something, which is part of it« (ebd., 52). 435 Wie Dieter Sturma treffend schreibt: »Die unbewußte Formierung von Personalität ist nach Hegel nicht einfach eine lebensgeschichtliche Durchgangsstation, sondern ein beständiges Hintergrundphänomen personaler Einstellungen. In diesem Sinne trete das Unbewußte als Instanz genereller Verhaltensdeterminierungen auf. Es bestehe keine Möglichkeit, diese unbewußten Formierungen in wie auch immer gearteten Selbstfindungsprozessen analytisch aufzuklären« (vgl. Dieter Sturma, »Philosophie der Psychologie«, 25). Sturma verdeutlich sehr nachvollziehbar, inwiefern Hegel das Leib-Seele Problem nicht im Sinne eines eliminativen Reduktionismus auslegt und sich dadurch von Schelling zu unterscheiden scheint (vgl. Dieter Sturma, »Hegels 434

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mit eine Debatte über das Freud’sche Erbe vorweg, die besonders von Marcia Cavell und Sebastian Gardner um den Status nicht propositionaler Gehalte des menschlichen Bewusstseins im Kontext der Frage einer »heterogeneity of the mental« geführt wurde. 436 Für Hegel ist das Erwachen der Seele kein Auftreten eines in sich schon per se selbstreferentiellen und selbstreflexiven Bewusstseins. Andererseits wächst die Seele auch nicht einfach »aus« der Natur. Die Seelentätigkeit ist »Schlaf des Geistes« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 389). Wenn Hegel die Seele als eine in Strömen von Unbewusstem sich – im prozessualen Hineinwachsen in die »identitäts- und kontinuitätsstiftende Instanz der gesellschaftlichen Existenz der Menschen« 437 – herausgestaltende beschreibt, dann sagt er, wie die Seele sich in ihrer eigenen Selbstreflexivität gerade nicht allein auf sich selbst beziehen kann. Seele ist Selbstreflexivität, deren Ursprung immer auch in einer Auslagerung an Instanzen gesellschaftlicher Existenz gebunden ist. Sie ist nur insofern »bei sich«, insofern sie »im Anderen« ist. Die Seele ist das »magische Verhältnis«, als fühlende in einem Anderen auf bzw. in ein Anderes überzugehen. Dafür steht auf der niedrigsten Verkörperungsstufe das Verhältnis von Embryo und Mutterleib ein. Die schließlich zur Selbstsetzung und Selbstentfaltung wachsende Kraft der Seele kann dann auch wieder verloren werden. In diesem Fall sprechen wir von Krankheit oder, moderner, von Psychopathologie. Die Krankheit greift nicht die Substanz der Seele an, sondern sie wird von Hegel als Rückfall auf eine eigentlich schon durch die bewusste Selbstinstanziierung überholt geglaubte Dezentrierung verstanden. Hegel nennt Verrücktheit in den entsprechenden Paragraphen der Enzyklopädie einen Zustand, in dem die aus der Subjektivität entsprungenen Visionen nicht mehr durch eine Außenwelt auf ihre intersubjektivitätsfähige Objektivität hin überprüft werden (können). 438 Wenn Hegel von Verrücktheit spricht, meint er nicht Theorie des Unbewussten. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und philosophischer Psychologie«, in: Heinz Kimmerle / Wolfgang Levèvre (Hg.), Hegel-Jahrbuch 1990, Bochum: Germinal Verlag 1990, 193–201, hier: 197). 436 Vgl. Marcia Cavell, The Psychoanalytic Mind. From Freud to Philosophy, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1993; Gardner, Irrationality and the Philosophy of Psychoanalysis. 437 Sturma, »Hegels Theorie des Unbewussten«, 199. 438 Teilvernünftig kann dann diese Seele für Hegel immer noch sein, weil sie z. B. weiß, dass andere sie für verrückt halten und daher etwas mit ihr nicht stimmen kann.

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exklusiv das uns geläufige Verständnis von Wahnsinn, sondern auch eine die Lebenswelt besonders stark und unreflektiert ›färbende‹ Gefühlslage. Sie als Verzerrung im Gegensatz zu einer verzerrungsfreien Wahrnehmung zu beschreiben, suggeriert fälschlich, dass Seele ihr Fürsichsein des Gefühlslebens ablegen könnte und es ein ›neutrales‹ Erleben und eine gefühlsfreie Lebenswelt der Seele gäbe. 439 Aber das lehnt Hegel ab in seiner Genealogie. 440 Wenn die Seele der Verrücktheit verfällt, trennt »sich die Subjektivität der Seele […] von ihrer […] mit ihr identischen Substanz.« Sie kommt »in direkten Gegensatz gegen diese, – in völligem Widerspruch mit dem Objektiven, und wird dadurch zur rein formellen, leeren, abstrakten Subjektivität – und maßt sich in dieser ihrer Einseitigkeit die Bedeutung einer wahrhaften Einheit des Subjektiven und Objektiven an« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 408Z / S. 164). Lacan nennt diesen Zustand einen der Psychose nahen Wahn im Register des Imaginären. Das Imaginäre als phantasievolles Selbstverhältnis des Subjekts wird nahezu absolut und erfüllt die Außenwelt, weil es durch die Welt Dritter unter Dritten (bei Lacan ist es die Welt des Symbolischen) nicht mehr zur Justierung gebracht werden kann.

Hegel sagt zu diesem Punkt:»[S]ie [die Irren, D. F.] wissen zum Beispiel, daß sie im Irrenhaus sind« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 408Z / S. 165). 439 Christa Hackenesch verweist darauf, dass Hegel Verrücktheit nicht als eine Krankheit des Körpers versteht, sondern als eine Verrückung zwischen einer individuellen Gestalt des Bewusstseins und einem historisch Allgemeinen. Die Verrücktheit erscheint als eine »in der Entwicklung der Seele notwendig hervortretende Form oder Stufe. Verrücktheit bezeichnet im dialektischen Denken den Moment einer krisenhaften Entgegensetzung bevor eine neue Synthese, eine neue Gestalt des Bewusstseins geboren wird« (Christa Hackenesch, »Der subjektive Geist. Hegels Begriff des Menschen«, in: Karol Bal / Henning Ottmann (Hg.), Hegel Jahrbuch 2002 (Teil 2), Berlin: Akademie Verlag, 40–43). »Der ›Verrückte‹, das ortlose Individuum ist eine Gestalt des Geistes, Teil seiner Selbstwerdung, statt dass man ihn aus dem Raum des Geistes verbannen könnte. Tatsächlich spricht Hegel vom ›Vorrecht‹ des Menschen zur Verrücktheit, weil einzig der Mensch die Fähigkeit besitzt, über die ›Möglichkeit‹ verfügt, sich radikal von seiner Welt zu distanzieren, ›sich in jener vollkommenen Abstraktion des Ich zu erfassen‹. Und er beschreibt den Wahnsinn als ›Abwerfen des Jochs der sittlichen Gesetze‹, – also als eine Gestalt der Freiheit« (ebd., 41). 440 Siehe Barbara Merker, »Jenseits des Hirns. Zur Aktualität von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes«, in: Barbara Merker / Georg Mohr / Michael Quante (Hg.), Subjektivität und Anerkennung, Paderborn: Mentis 2004, 157–184, hier: 164. Siehe ebenso Gerhard Gamm, Der Wahnsinn in der Vernunft. Historische und erkenntniskritische Studie zur Dimension des Anders-Seins in der Philosophie Hegels, Bonn: Bouvier 1981, 108 ff.).

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Das Allgemeine hat keinen Zugriff mehr auf eine Partikularität, die sich in der Gewissheit ihrer selbst gerade als letzter Garant des Allgemeinen ergreift. (Erinnerungen an das Gewissen werden wach.) »Um zu dieser vollkommenen Trennung zu gelangen«, oder im Vokabular der Psychoanalyse gesagt: um letztlich eine Ich-Funktion auszudrücken, »muss die fühlende Seele ihre Unmittelbarkeit, ihre Natürlichkeit, die Leiblichkeit überwinden« (ebd.). Sie muss sich »ideell setzen, sich [sich selbst, D. F.] zu eigen machen, dadurch in eine objektive Einheit des Subjektiven und Objektiven umbilden, und damit sowohl ihr Anderes aus dessen unmittelbarer Identität mit ihr entlassen, als zugleich sich selbst von diesem Anderen befreien« (ebd.). Verrücktheit ist nun bzw. erscheint nun wie eine Regression aus diesem Entfremdungsprozess in seine gefühlsbetonten, partikularisierenden, auf Partialtriebe sich reduzierenden Einzelmomente. Indem das Subjekt gerade kein Allgemeines im Außen als für die eigene Ich-Funktion bestimmend anerkennt, ist es in der Gefahr, seine nur noch von ihm selbst, vom Ich her als legitim zu deklarierende Wirklichkeit zu wirklich zu nehmen. Die Seele kann sich so in ihrem eigenen Gefühlshaushalt verlieren. Aber das, was hier als Krankheit und »Verrücktheit« verstanden wird, ist für Hegel immer Bedingung der zunehmenden Reflexivität der Seele. Nur weil sie in Verrücktheit geraten kann, kann die Seele sich auch selbst setzen. Nur weil sie in »magischen Verhältnissen« – wie bei »nervenschwachen Freundinnen« zu sehen – sich bei sich im Moment der Auslagerung ihrer selbst beim anderen finden kann (und die absolut empathische Bindung ist eine Auslagerung), kann sie sich auch aus diesen Verhältnissen zu sich selbst als »gesetzt« bestimmen. Die Selbstergreifung ist – wie wir auch schon bei Kant sahen – magische Auslagerung der eigenen Fremdheit ins Eigene. Gewohnheit ist ein Zeichen dafür, dass die Seele durch eine fundamentale Exzentrizität Gewohnheiten braucht. Hegel nennt den Leib das »Zeichen« der Seele (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 411 / S. 192). Gewohnheit ist das Korsett, das der fühlenden Seele hilft, sich zu ergreifen, wobei sie sich nie ganz habhaft werden kann. 441 Wäre dies der Fall, dann könnte sie sich auch nicht in Verrücktheit verlieren. Hegels Verweis auf die Verrücktheit unterstreicht seine Abgrenzung von einer ungebrochenen Ich-Setzung bei Fichte bzw. vom Kon441 Siehe auch Hegels diverse Anmerkungen zur Gewohnheit in der Rechtsphilosophie (beispielsweise §§ 197, 211).

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zept des transzendentalen Ichs bei Kant. Das Ich ist für Hegel immer schon fragiler und abhängiger von normativen Rahmenbindungen, gesellschaftlichen Verhältnissen und eigenen – den Gefühlshaushalt auf der Ebene individuellen Erlebens bestimmenden – Momenten. Damit entfaltet er in der durch die Modeerscheinungen des Mesmerismus und des Magnetismus geprägten Zeit sehr viel fragilere IchFormationen, als die transzendentalen Ich-Theorien von Kant und Fichte sie haben vorlegen können. 442 So verkörpert die Seele eine Potenzialität, die Catherine Malabou als die Größe einer die Seele immer schon unterminierenden Differenzialität und Potenzialität als »Plastizität« interpretiert. 443 Dieses »selbst« im Selbstverhältnis, das sich setzt, zu dem sich das Subjekt »ergreift«, ist immer auch ein »magisches Verhältnis«. Die Spannung, in die die Seele geraten kann – von einerseits »Verrücktheit«, magisch emphatischen Dualitätsverhältnissen und andererseits gewohnheitsbedingter autonomer Selbstbestimmung durch Einbindung in identitätsstiftende Instanzen – zeigt, dass das ›fundamentum‹ der Seele ein nicht kausal präzise zu bestimmendes ist. 444 Deshalb kann auch Hegel nicht den Ursprung der Seele markieren oder ihn durch Gewohnheitsstrukturen der Sittlichkeit für ewig in der etablierten Doxa arretieren. Sie ist im »Subjektiven Geist« der Enzyklopädie immer schon da. Jens Rometsch scheint daher in seinem präzisen Kommentar zum »subjektiven Geist« die »Verrücktheit« in Hegels Seelenkonzeption etwas zu unterschätzen, wenn er sie als »Einbrechen der Leiblichkeit und damit der Natürlichkeit in den Geist« 445 interpretiert. Er schreibt: »Anstatt der Vernunft zu gehorchen, gehorcht der Verrückte einer bestimmten emotionalen Disposition.« 446 An der entscheidenden Stelle, an der Hegel Verrücktheit thematisiert, unterbewertet Rometsch, dass Hegel im Geist selbst etwas Nicht-Geistiges lokalisiert, das verkannt wird, wenn man es in 442 Siehe zum historischen Kontext, aus dem heraus Hegel seine Interpretation der Seele entwirft, den Artikel von Michael John Petry, »Systematik und Pragmatik in Hegels Behandlung von animalischem Magnetismus und Verrücktheit«, in: Franz Hespe / Burkhard Tuschling (Hg.), Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1991, 250–268. 443 Vgl. Malabou, The Future of Hegel, 70–75. 444 Siehe auch Malabous Ausführungen zur Seele bei Hegel, The Future of Hegel, 32 f. Dort schreibt sie: »Subjectivity does not reside in its own being, it ›haunts‹ itself. The soul is possessed by the possession of itself« (ebd., 35). 445 Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts, 104. 446 Rometsch, Hegels Theorie des erkennenden Subjekts, 104.

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

der Frage einer Hierarchisierung, d. h. in der Perspektive einer »Subordination unter die Vernunft« interpretiert, so als sei die Vernunft von der Emotivität der Seele unabhängig. Daher erscheint Gerhard Gamms Interpretation treffender, der in seiner schon aus dem Jahr 1981 stammenden Studie zum Wahnsinn in der Vernunft aufzeigt, inwiefern Hegel in der Betonung der Azeitlichkeit der fühlenden Seele im Gegensatz zur Zeitlichkeit des Bewusstseins beide – Seele und Bewusstsein – nicht wie Wasser in Wasser aufgehen lassen kann. 447 Für Gamm lebt im Bewusstsein der Vernunft das Andere der Vernunft der fühlenden Seele fort, und zwar wie in einem der Zeit nicht unterworfenen Bereich des Unbewussten. (Freud verstand das Unbewusste als eine der Zeitlichkeit der Ich-Funktion nicht zu unterwerfende Identitätsdimension.) Verrücktheit ist nicht ein Einbrechen der Leiblichkeit. Leiblichkeit durchtrennt den Geist / die Vernunft selbst in seinem Ursprung, wenn er auf den Plan tritt. Noch einmal zu Antigone: Warum sollte im Vokabular von Hegels »Subjektivem Geist« eine Seele – wie die von Antigone – nicht deshalb zurückfallen in die Verkörperung des eigenen Gefühlsinhaltes als letzte Schutzburg, wenn die Außenwelt sich in einer Weise verändert hat, dass kein Selbstbezug mehr von dieser – sich nun verkehrt habenden – Außenwelt möglich ist? Stigmatisiert dieser angebliche Rückfall Antigone schon zur Verrückten, weil er »emotive« Symptome wie Gefühlsausbrüche beinhaltet? Man könnte Antigone als unter einer Form von Schizophrenie leidend diagnostizieren; eine Form, wie sie Marianne Krüll in ihrem Buch Schizophrenie und Gesellschaft als Hereinnahme von Antagonismen der Gesellschaft in den Gefühlshaushalt des Subjekts definiert. 448 Krüll zeigt, wie das verrückte, schizophrene Subjekt sich durch mangelhafte Verdrängungsfähigkeiten von gesellschaftlichen Widersprüchen auszeichnet. Als psychisch gestört mag dann gerade derjenige erscheinen, der zu viel Wirklichkeit in seiner Wirklichkeitswahrnehmung aufnimmt und nicht den kollektiv eingeübten Verdrängungsmechanismen bzw. Verdrängungssemantiken folgt. Hegels Definition von Verrücktheit ist dieser modernen Diagnose von Krüll analog. Im Anthropologie-Abschnitt der Enzyklopädie beschreibt er die Seele als einen fragilen Zustand in ihrer langsamen Vgl. Gamm, Der Wahnsinn in der Vernunft, 140 f. Vgl. Marianne Krüll, Schizophrenie und Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. 447 448

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Emanationsgenealogie aus sich immer zentralperspektivischer formierenden Gefühlskonstellationen. Gewohnheit ist in diesem Prozess verschiedener Formationen von Gefühlsmomenten im Wechselspiel mit einer noch ebenso amorph erscheinenden Außenwelt diejenige Repetitionsstruktur, die der fühlenden Seele allmählich das Korsett der »Ich-Funktion« anlegt. Ist die Seele in ihren einzelnen Etappen zunehmend in diese Ich-Funktion gebettet, kann sie sich sich selbst setzend bewusst und d. h. zeitlich erfassen. Während die fühlende Seele ihre Momente räumlich nebeneinander wie unkoordinierte Partialtriebe innehat, die wie in einem azeitlichen Raum nicht in der Zeit geordnet werden können, ist das Bewusstsein als die durch Gewohnheit wie zu einem Heuhaufen zusammengebundene Seele eines, das wesentlich sich als in der Zeit stehend erfährt. 449 Verrücktheit ist in Hegels Seelen-Genealogie die Gefahr, zurückzusinken in die molluskenähnliche Undifferenziertheit und raumdominierte Partikularität von Einzeltrieben und Einzelemotionen. Die Verdrängungsmechanismen der Gewohnheit versagen – vielleicht im Anblick einer nicht mehr zu verstehenden Außenwelt. Dann kann diese auch nicht mehr hilfreich in der Konstitution von Selbstbild und Selbstgefühl des Individuums sein. 450 Wenn Antigone aus der Perspektive der Polis als verkörperte »Verrücktheit« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 406) dasteht, weil sie den »Widerspruch [… ihrer in ihrem, D. F.] Bewußtsein systematisierten Totalität« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 408) verkörpert, wird verkannt, 449 Gamm verweist darauf, dass Hegel die Azeitlichkeit der Seele nicht aufheben kann in der Zeitlichkeit des Bewusstseins. So bleibt für Gamm ein Unbewusstes übrig in Hegels Seelenkonstellation, das gerade, weil es nicht in der Zeit zähmbar ist, wesentliche Aspekte von dem vereint, was Freud und Lacan auf das Unbewusste subsumieren. Vgl. Gamm, Der Wahnsinn in der Vernunft, 142 ff. 450 Hegel beschreibt aus der eigenen Leidensgeschichte mit seiner psychisch kranken Schwester Christiane Luise Hegel in einem Brief an Karl Joseph Windischmann die Überwindung der eigenen Gefahr, an lebenswidrigen Umständen verrückt zu werden. Er spricht von »Kontraktion« als Schutz davor, in einen Zustand der Verrücktheit emotiv sozusagen auseinander-zu-diffundieren. Hegel: »Ich habe an dieser Hypochondrie ein paar Jahre bis zur Entkräftung gelitten; jeder Mensch hat wohl überhaupt einen solchen Wendepunkt im Leben, den nächtlichen Punkt der Kontraktion seines Wesens, durch dessen Enge er hindurchgezwängt und zur Sicherheit seiner selbst befestigt und vergewissert wird, zur Sicherheit des gewöhnlichen Alltagslebens, und wenn er sich bereits unfähig gemacht hat, von demselben ausgefüllt zu werden, zur Sicherheit einer inneren edleren Existenz« (Georg W. F. Hegel, Briefe von und an Hegel, Bd. 1, hrsg. von. Johannes Hoffmeister, Hamburg: Meiner 1952, 313 f., Hervorhebung D. F.).

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Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

dass die dem Bewusstsein entgegenstehende »systematisierte Totalität« der Polis sich selbst aufgrund ›kollektiver Illusionen der anderen‹ (Pfaller) 451 ebenso als paranoid erweisen kann. In diesem Sinne ist dann das einzelne Subjekt »irre«, weil es die »ideologische Landkarte« der Gesunden, »die [ihm, D. F.] durch Erziehung und Kulturbetrieb übermittelt wird«, 452 nicht mehr annehmen kann oder sich auf dieser Landkarte nicht mehr gemäß den eingezeichneten Straßen verortet. So verkennen die »Gesunden« ihrerseits aus einer systembedingten Blindheit ihrer Gesundheit (der Doxa ihrer Gewissheit), dass die Widersprüche, die das Subjekt verkörpert, die Widersprüche der Gesellschaft, wie Krüll sagt, sind. Das sich emotiv aufregende und hysterisch gebärdende Subjekt scheint dann umso mehr seiner Gewissheit zu schaden gegenüber der Außeninstanz Dritter, die im Schutzapparat geteilter Allgemeinheit gegen die exzessive Subjektivität ruhig und gelassen bleiben und in der Aufregung des Einzelnen umso mehr noch die Bestärkung ihrer eigenen Rechtschaffenheit erkennen kann. Antigone kann die Verdrängung des Beerdigungsrituals aus der Polis zugunsten der kollektiven Illusion, dass diese Verdrängung nötig sei, nicht teilen, so wie der Chor als das schwankende Moment der öffentlichen Meinung dazu fähig ist. Aus der Perspektive der Gesellschaft ist diese Verdrängung aber die Bedingung der öffentlichen Gesundheit (die auch die Gesundheit der Illusionen der anderen ist), welche die exzessive Subjektivität als wahnhaft und wirr dastehen lässt. Deswegen ist exzessive Subjektivität vom Blickwinkel der »Gesunden« aus gesehen (vertreten in der Antigone durch den Chor) notwendig nur »Gefühl«, in die Irre gegangenes Bewusstsein, ein in Gefühls-Verdinglichung geratener und zur Außenkorrektur durch den Bereich des Normativen nicht mehr fähiger Solipsismus. Hegel legt in seinen Anmerkungen zur Verrücktheit offen, dass es Gewohnheit ist, welche das Ich zur Festigkeit bringt, eine Gewohnheit, die das Ich aber nur von außen, von schon in Praktiken lebenden Institutionen ableiten kann. Damit ist über die Frage der Legitimität oder der Moralität derselben Praktiken noch kein Urteil gefällt. In einem Wahn wie demjenigen Antigones, so scheint es von der Drittperspektive des Kollektivs aus, fällt die Seele dann einfach zurück in ihre »Unmittelbarkeit« und »Natürlichkeit« und »LeiblichVgl. Pfaller, Die Illusionen der anderen. Hans und Shulamith Kreitler, Cognitive Orientation and Behavior, New York: Springer 1976, zitiert nach Gamm, Der Wahnsinn der Vernunft, 135. 451 452

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Verrücktheit und Dissoziabilität der menschlichen Seele

keit« (Enzyklopädie III, Bd. 10, § 408 / S. 164). Sie tut dies scheinbar, obwohl sie den von Hegel in der Enzyklopädie beschriebenen Abstraktionsprozess, auf dem diese Stadien eigentlich überwunden werden, schon durchlaufen hatte. Der Entfremdungsprozess, in dem die Seele sich durch Vermittlung der Außenwelt veräußert hatte und so von der gefühlten Seele schließlich zu Bewusstsein gekommen ist, kann in bestimmten Konstellationen einer Krise zwischen dem Einzelnen und der Außenwelt dann sozusagen eine Schubumkehr erfahren. Und Antigones Schicksal ist ein Beispiel dafür, wie die Instanz, die dieser Seele in ihrem Abstraktionsprozess gegenüber sich selbst geholfen hatte, Bewusstsein im langsamen Trennungsprozess von Natürlichkeit und Leiblichkeit zu erlangen, plötzlich selbst als fallible, verzerrte, dem cartesischen Betrügergott ähnelnde Entität dastehen kann. Antigone kann nicht verstehen, wieso die Beerdigung ihres Bruders vernachlässigt wird, wo sie doch absolutes Gesetz ist. Wenn das Subjekt die Verrücktheit auf der Seite der institutionalisierten Praktiken der Polis sieht – in Praktiken, die den ungeschriebenen Gesetzen widersprechen – so wird im systembedingten Umkehrschluss »Verrücktheit« im partikulären Subjekt von den Institutionen diagnostiziert. Aber der Sinn unserer Herleitung liegt darin, dass man auch die Diagnose mit anderem Schwerpunkt ausstellen könnte: Verrücktheit ist dann der Ausdruck dafür, eine Verdrängung im Kollektiv von »Illusionen der anderen«-Lebenden im inferentiellen Netzwerk des Normativ-Etablierten nicht in die eigene Ich-Funktion aufnehmen zu können, zu wollen, oder zu dürfen. Nach dieser Lesart erscheint Antigone selbst schuld, aus ihrer »Ratio« in die »fühlende Seele« regrediert zu sein aufgrund eines Zu-Viels an Wirklichkeitsbezugs, der auch als Ausdruck von zu wenig Wirklichkeitsbezug auf Seiten der Polismitglieder angesehen werden kann. Indem »die Gesunden« die Verrückte als fühlende Seele beschreiben, beweisen sie (auch) ihre epistemische Armut in der Hinterfragung der den Rahmen ihrer Gewissheit gebenden Prämissen. Fassen wir unsere Erkenntnisse in diesem Kapitel abschließend noch einmal zusammen: Exzessive Subjektivität, wie Hegel sie am Beispiel von Antigone und Sokrates vorstellt, artikuliert eine Leerstelle im politischen Signifikationssystem politischer Differenzialität. Hegel zeigt, wie diese Differenzialität erst von einem radikalen Außen herausgefordert ist, wenn die eigenen Grenzen teilweise durch die Unterrepräsentation dieses Außen in einer durch ein Subjekt als »kon245 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Hegel: Die gespaltene Sittlichkeit und das Subjekt

kretes Allgemeines« ausgelösten politischen Krise erschüttert werden. Exzessive Subjektivität legt in diesen Fällen offen, dass die Existenz des politischen Differenzsystems in der Etablierung ihrer Signifikationsstrukturen auf einem Anderen aufruht, das zur Etablierung der eigenen Position gerade nicht als Teil des Differenzsystems erkannt werden darf. Dieses Andere bricht dann ein und zwingt bestenfalls das Differenzsystem zur Neujustierung seiner Prämissen. Hegels Theorie exzessiver Subjektivität erweitert sein eigenes Modell gegenseitiger Anerkennung im Aufweis, dass diese Anerkennung nicht alles ist, auf dem die Systematizität eines politischen Gemeinwesens aufruht. Sie ruht auf einem nichtrepräsentierten Außen auf. In diesem Sinne nimmt er Ernesto Laclaus Theorie eines radikalen Antagonismus des Sozialen indirekt voraus. 453 Gerade der mögliche Einspruch des Außen (das Nichtrepräsentierte) ist Bedingung der Möglichkeit einer zukünftigen Überschreibung bestehender Signifikationsstrukturen, die den Bereich des Sozialen ausgestalten.

453 Vgl. Ernesto Laclau, New Reflections on the Revolution of Our Time, London / New York: Verso 1990, 94 f.

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V. Lacan: Die Begründung autonomineller Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

Wir erfassen eines ums andere, und haben wir etwas erfasst, so besitzt es uns quasi. Nicht wir besitzen es, sondern im Gegenteil, was wir scheinbar zu unserem Besitz gemacht haben, herrscht dann über uns … Das Gesetz, das befiehlt, der Zwang, der nötigt, und die vielen unerbittlichen Vorschriften, die uns die Richtung und den Geschmack angeben: das ist das Große, und nicht wir, wir Eleven. R. Walser, Jakob von Gunten

Metapsychologie und ihre politische Dimension Subjekte erscheinen oftmals, sinnbildlich gesprochen, ›Antworten‹ verschiedenster Appelle zu sein, die aus gesellschaftlichen Institutionen kommend auf sie von frühester Kindheit eingewirkt haben. Kant und Hegel interpretierten diese Appelle je in verschiedenen Zusammenhängen. Kant beispielsweise in der Pädagogik und Anthropologie, (wenn man den ›Appell‹ des Schrecken einflößenden moralischen Gesetzes hier einmal beiseitelässt) und Hegel u. a. mustergültig in seiner Herr-Knecht-Dialektik der Phänomenologie. Lacan interessieren die Prozesse der Anrufung, weil er als Arzt in der psychiatrischen Heilklinik Centre hospitalier Sainte-Anne im 14. Arrendissement von Paris erkannt hatte, was passiert, wenn es zu Komplikationen z. B. in frühkindlichen Anrufungsprozessen während der Subjektbildung kommt. Der Verweis auf den Freud’schen Begriff des Unbewussten ist hier und in den folgenden Abschnitten zentral, da die Anrufungen, wie sie gesellschaftliche Institutionen von den Eltern bis zum Polizisten auf der Straße aussenden und ebenso von jedem Werbeplakat aus auf uns einwirken, immer auch für Lacan das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst betreffen. Innerlichkeit erweist sich 247 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

aufgrund eines inhärenten Mangels und einer fundamentalen Exzentrizität von einem Anderen, einem Fremden invadiert, das für Lacan einem semantischen Feld entstammt, welches den Menschen – weil es überdeterminiert ist – immer überfordert und ihn besonders beim Nachlassen der von Freud genannten Sekundärprozesse in der Nacht in Träumen nicht zur Ruhe kommen lässt. Diese inhärente Fremdheit begleitet für Lacan das Subjekt sein Leben lang. Sie betrifft auch die politische Ordnung. In dieser lebt das Subjekt als zoon politikon, da es u. a. von dieser eine Kompensation seines eigenen Mangels erwartet. Das Subjekt wird vom Insistieren eines unerfüllbaren Begehrens nach seiner Einschreibung in die politische Ordnung heimgesucht, die ihrerseits sich immer wieder aufgrund eines eigenen, sie betreffenden Mangels verunmöglicht. Um diesen Umstand in seiner die praktische Philosophie betreffenden Bedeutung nachvollziehen zu können, ist es wichtig, Lacans Theorie der Rechtssubjektivität in den Blick zu nehmen. Dies soll in den folgenden Abschnitten geschehen. Kant und Hegel erweisen sich dabei von großer Bedeutung für Lacan, wie im Folgenden immer wieder deutlich werden wird, weil ihre Werke entscheidende Einsichten der Psychoanalyse vorausnehmen. Gerade in Bezug auf Hegel sagt Lacan von sich explizit in seinem Seminar X. Die Angst, dass, wenn jemand seiner Generation die Bedeutung der Phänomenologie des Geistes erkannt habe, er derjenige sei. 454 Lacans Analysen helfen uns auf dieser letzten Etappe der Untersuchung, sowohl das Motiv der Subjektkonstitution im Kontext sozial-gesellschaftlicher Alterität zu durchdringen als auch die verschiedenen bei Kant und Hegel erörterten Motive von Anrufung, Inkommensurabilität und ›gespaltener Identität‹ mit dem begrifflichen Instrumentarium der Psychoanalyse zu durchleuchten. Sie geben Einsicht in die Gesellschaftsrelevanz der individualpsychologiJacques Lacan, Das Seminar X. Die Angst, Wien / Berlin: Turia & Kant 2010, 35. Hegels Phänomenologie ist gerade für Lacans Begehrenstheorie immer wieder eine bedeutende Referenz. Lacan schreibt im Seminar X: »Bei Hegel ist der Andere derjenige, der mich sieht, und das für mich allein löst gemäß den Grundlagen, auf denen Hegel die Phänomenologie des Geistes einführt, den Kampf auf der Ebene dessen aus, was er das reine Prestige nennt, und auf dieser Ebene ist mein Begehren betroffen. [… W]eil es für mich keinen anderen Ausweg gibt [als den Anderen, D. F.], um das zu finden, was mir als Objekt meines Begehrens fehlt. […] Dieser Andere ist […] der Andere als Ort des Signifikanten. Im Hegel’schen Sinne ist das Begehren nach Begehren Begehren, das ein Begehren auf den Ruf des Subjekts antwortet« (ebd. 37).

454

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Metapsychologie und ihre politische Dimension

schen Verortung von Subjektivität als sekundärem Effekt von normativen und immer auch enigmatisch bleibenden Anrufungen. Wenn wir von »autonomineller Rechtssubjektivität« im Zusammenhang mit dem Werk Lacans sprechen, so, um durch Lacans Philosophie einen theoretischen Unterbau dafür zu bekommen, wie exzessive Subjektivität nicht nur für die Entfaltung der Freiheit des Einzelnen bedeutsam ist, sondern auch die mit anderen Subjekten geteilte, symbolische Lebenswelt strukturimmanent bedingt. Im ersten Kapitel zur Aporetik der Moralität Kants war in unseren Ausführungen mit Lacans Rede vom »gespaltenen Subjekt« eine solche ausschweifende Subjektivität schon präsent. Die eigenwillige Aporetik der moralischen Handlung erwies sich als eine, die von einem sich je retrospektiv selbst-entdeckenden Subjekt ausgeht, welches sich im moralischen Akt sowohl selbst entzieht als auch zugleich vorausentwirft. Anschließend haben wir in einer zum Kant-Kapitel analogen Manier die Philosophie Hegels in einer Analyse sogenannter »gespaltener Sittlichkeit« erörtert. Bei Lacan nun lassen sich die beiden zuvor in Bezug auf den Idealismus verfassten Theoriemomente (das gespaltene Subjekt bei Kant, die gespaltene Sittlichkeit bei Hegel) psychoanalytisch begründen, was hilft, exzessive Subjektivität sowohl fundamental gesellschaftsrelevant als auch unter speziellen Prämissen der Philosophie der Psychoanalyse als eine eigene Form der Ethik zu verstehen. Lacan zeigt, dass das Verständnis des Subjekts von sich und der es umgebenden Wirklichkeit durch kollektiv verbürgte Virtualitäten, Idealisierungen und verdrängte Paradoxien geprägt ist. Die von ihm rezipierten Analysen Jeremy Benthams zu virtuellen Momenten des Sozialvertrags 455 sind für ihn ebenso mitverantwortlich für die Wirklichkeitswahrnehmung des Subjekts wie es auch Hegels Theorie der Anerkennung ist. Subjekte erweisen sich als Nutznießer der Virtualitäten des Sozialvertrags wie auch als Energiespender ihrer Aufrechterhaltung. In diesen Virtualitäten zu leben produziert ein Unbehagen. Freud hatte dies lange vor Lacan schon 1930 mit dem Schlagwort vom »Unbehagen der Kultur« beschrieben. Wie Lacan dieses Unbehagen im Detail strukturalistisch analysiert und dabei unsere Theorie exzessiver Subjektivität bereichert, ist hier das Thema. 455 Vgl. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 20–23; ebenso: Das Seminar XX. Encore, Berlin / Weinheim: Quadriga 1986, 8 f.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel für die gerade angeführte Rede von Virtualitäten, die Rechtssubjektivität bedingen und Unbehagen produzieren können. Ein solches Beispiel begegnet uns vorbildlich im Alltag, prominent im Geldschein. 456 Er hat bekanntlich einen symbolischen und indirekt auch normativen Wert durch die darauf gedruckte Zahl seines Tauschwerts. Dieser ist nicht mit dem Wert von, sagen wir, hundert Brötchen vergleichbar, die man mit ihm erwerben kann. Die Brötchen haben Gebrauchswert in empirischer Reinform. Der Geldschein ist keine empirische Reinform in analoger Manier bzw. als solche Reinform wäre er nur Papier. Das hindert ihn nicht, einen empirischen Effekt zu zeitigen, nämlich zum Kauf der Brötchen zu dienen. Wenn in der kollektiven Übereinstimmung des Glaubens an die Inkarnation des Wertes durch bedrucktes Papier Zweifel auftauchen, dann bricht die Erkenntnis kollektiver Phantasie als Illusion über den Wert dieser oder anderer Papierstücke (z. B. Wertpapiere) hervor. Kurseinbrüche an internationalen Börsen zeigen regelmäßig das virtuelle Anerkennungs- und Verkennungs-Spiel von Vertrauen in das Vertrauen anderer, die wiederum anderen vertrauen. 457 Aber auch politische Umbrüche mögen dafür stehen, wobei wir beim eigentlichen Grund sind, dieses Beispiel im Kontext unserer bisherigen Analysen zu Kant und Hegel, zu Moralität, Gewissen, Sittlichkeit, Revolution und/oder Reform zu erwähnen. Dergleichen kann nämlich schlagartig passieren. Das kann dazu führen, dass ein politisches Gemeinwesen plötzlich – durch das Hervortreten innerer Antagonismen – sich zu spät für etwas verantwortlich erkennt, für das es eventuell schon seit geraumer Zeit verantwortlich war. An Stelle des entwerteten Geldscheins könnte man von der Autorität eines Parlaments sprechen oder vom Glauben an einen Rechtsstaat. So wie an einem Tag Kunden der Meinung sind, dass ihr Geldschein hundert Brötchen eintauschen kann und sie dafür nur noch fünfzig erhalten, mag auch der rechtschaffene Bürger eines Tages nicht mehr seiner Rechtschaffenheit unter der Regierung und Beurteilung von »denen da Oben« sicher sein. Wer trägt nun aber dafür die Verantwortung, wenn die Frage der Verantwortung sich als not-

456 Vgl. Georg Simmel, »Der Substanzwert des Geldes«, in: ders., Philosophie des Geldes, Leipzig: Duncker & Humblot 1907, 101–196; Žižek, The Sublime Object of Ideology, 31 f.; 457 Vgl. Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Berlin: Diaphanes 2010.

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wendig zur Neujustierung des Rechts erweist und nicht einfach verdrängt werden kann? Um diese Art von Mechanismen kollektiver Virtualitäten, die die Bereiche der Alltagswelt und der Politik ausmachen, geht es in vielen von Lacans Analysen zum symbolisch-imaginären Netzwerk, in dem Subjektivität und Rechtssubjektivität zugleich als Antworten imaginärer Autopoiesis durch Anrufungen normativer Gemeinschaftsstrukturen auf den Plan treten. Die virtuelle Welt von Symbolen strukturiert empirische Realität bis in die Tiefen des Alltags und bis in die Abgründe der Psyche hinein. Daher ist es übereilt zu behaupten, dass nach dem Untergang der sogenannten »großen Erzählungen« respektive »Ideologien« im 20. Jahrhundert das gegenwärtige 21. Jahrhundert ein unideologisches Zeitalter sei. Auf jeder Ebene sind wir als Subjekte für Lacan ›Subjekte ideologischer Anrufung‹ in einer Matrix von Bestimmungen, die des Menschen zweite Natur sind. Für Lacan ist diese zweite Natur nicht Inbegriff einer dem Inferentialismus eingeschriebenen Wahrheitsfähigkeit menschlicher Vernunftbegabung im Kontext einer inferentiell-normativ strukturierten Lebenswelt, wie McDowell es beispielsweise vertritt. Für Lacan steht die zweite Natur im Gegenteil für das Eingebundensein des Subjekts in eine sich letztlich der Vernunft immer entziehende und sie permanent in Aporien verwickelnde Inferentialität. Dies kann die Psyche wieder und wieder zur Verwerfung ihrer evidentesten Überzeugungen und autopoietischen Selbstbeziehungen bringen. Und doch kann sich kein Subjekt dem Ideologiekorsett seiner »zweiten Natur« und den ihm zugehörigen Idealisierungen und rechtstheoretischen Phantasmen auf Dauer verweigern. Wenn dies aus bestimmten Gründen trotzdem geschieht, verpasst das Individuum notwendig sein »lebensweltliches Hintergrundwissen« 458 (Habermas) und erweist sich wohl bald als psychisch krank. Der Mensch ist für Lacan ähnlich wie für Hegel das Wesen, das aber auch innerhalb seiner »zweiten Natur« noch der kuriosesten Autorität phantasmatisch verfallen kann durch einen ihm eingeschriebenen Mangel an Sein. Dieser treibt ihn um auf der Suche nach seiner Identitätsfülle. Kultur und Politik eines Gemeinwesens bilden ein semantisches Feld, das den Mangel im Menschen beheben möchte, um im Wettstreit der Begehren innerhalb der Gemeinschaft Sta458

Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988,

90.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

bilität zu garantieren. Aber die Mangelstruktur im Subjekt überträgt sich auch auf die soziale Ordnung, die ihrerseits nur wieder ihren Mangel verdecken und nicht aufheben kann. Lacans polyvalente Rede vom »Realen« 459 als der Markierung einer Abgründigkeit, die die symbolische Ordnung nicht abbilden kann, auf der sie aber aufruht wie die Psyche auf dem Unbewussten, kennzeichnet Strukturmomente von antagonistischen Konflikten / Nicht-Koinzidentien. Dies zeigt sich sowohl innerpsychisch (durch das Unbewusste als Hort verdrängter Identitätsaspekte) als auch intersubjektiv im Bereich der politischen Doxa. Letztere kann nie alle Begehren ihrer Subjekte repräsentieren. Das Subjekt versucht dem Lacan’schen Realen durch Einschreibung in eine phantasmatische Realität zu entgehen. Diese hat immer einen konstruktivistischen oder, mit Louis Althusser und Slavoj Žižek gesagt, ideologisch-interpellativen Charakter. 460 Das, was Lacan dann das Phantasma nennt, verdeckt die Missverhältnisse der Sinnkonstruktionen jenseits des Realen. Das Phantasma wehrt das Reale ab, vernichtet es jedoch nicht. Das Lacan’sche Reale ist im geborgten Vokabular Kants als das »transzendentale Objekt x« und folglich als Bedingung und Korrelat zum Ich der reinen Apperzeption zu verstehen. Dies deutet schon auf die Künstlichkeit des Begriffes des Realen hin, einem Begriff, der sich für unsere Theorie exzessiver Subjektivität als zentral herausstellen wird. Das Reale kann als der »transzendentale Gegenstand, d. i. der gänzlich unbestimmte Gedanke von etwas überhaupt« (KrV, IV, 165 (A 253)) gedeutet werden. Ohne diesen paradoxen ›Gegenstand‹, der für Lacan wie das Loch des 459 Lacan beschreibt »das Reale« als eine nicht repräsentierbare Größe, die jeglicher symbolischen Form vorausgeht und dazu führt, dass der Bereich des Symbolischen (Sprache, Gesetze, Erkenntnisse etc.) ›nie alles‹ ist. Siehe Lacans Vortrag von 1953, der den Begriff erstmals einführt: »Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale«, in: ders., Namen-des-Vaters, Wien / Berlin: Turia & Kant 2006, 11–61. Siehe ebenso: Jacques Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Berlin / Weinheim: Quadriga 1996, 59–66. Bruce Fink schreibt treffend zum Realen: »Indem es [das Symbolische, D. F.] das Reale aufhebt, erschafft [… es] die ›Realität‹, Realität verstanden als das, was durch die Sprache benannt wird und worüber sich somit nachdenken und sprechen lässt« (Bruce Fink, Das Lacan’sche Subjekt. Zwischen Sprache und Jouissance, Wien / Berlin: Turia & Kant 2006, 46). Die Kategorie des Realen ist eine der zentralsten Kategorien in der Philosophie Lacans. In der Forschung ist sie immer wieder besprochen worden. Eine aus der Menge an Kommentaren herausragende Studie jüngeren Datums stammt von Tom Eyers: Lacan and the Concept of the ›Real‹, New York: Palgrave Macmillan 2012. 460 Vgl. Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«; Žižek, The Sublime Object of Ideology, 87–130.

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Metapsychologie und ihre politische Dimension

Mahlstroms nur von seinen Effekten her verstanden werden kann und durch Sprache und symbolische Ordnung verdrängt wird, würde das Subjekt sich nicht als es selbst, wie auch die Gesellschaft sich nicht als normativ strukturierte Gemeinschaft von Subjekten immer wieder neu konstituieren können. Es gäbe keine ›Welt‹ vor dem Hintergrund konstruktivistischer Exzentrizität des durch die Welt der Symbole von sich selbst entfremdeten und manchmal in seinen Wahnvorstellungen gefangenen Subjekts. Insofern werden wir bei Lacan den für unsere Frage zentralen Aspekt entdecken, dass eine als performative Freiheitstat zu verstehende »Verzerrung« des phantasmatischen Rahmens der Subjektkonstitution im Durchgang durch das Reale exzessive Subjektivität bekunden und für die symbolische Ordnung heilbringende Wirkungen haben kann. Diese performative und autonominelle Freiheitstat, die auch Kants Theoreme der Charakterwahl und der Gesinnungsrevolution durchdringt, ist das Medium einer transgressiven Selbstsetzung. Sie leitet für Lacan eine Neujustierung des Individuums in den Koordinaten seiner Anrufung ein und bedingt dabei natürlich auch den Lacan’schen ›großen Anderen‹. 461 Wenn beispielsweise ein Subjekt wie Martin Luther nach den verschiedenen Etappen seiner Bekehrung am 18. April 1521 auf dem Reichstag zu Worms sagt »Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen.«, dann kann eine solche, nahezu psychotisch anmutende Setzung als Verschiebung oder Durchbruch eines phantasmatischen Rahmens gelesen werden, der epochemachende Konsequenzen hat. Die Kultur und die Politik eines Gemeinwesens müssen darauf bedacht sein, eine solche Selbstsetzung zu verhindern und als illegal auszuschließen. Sie sind einer unendlichen Schleife kompensatorischer Kompromisse überantwortet, die das politisch-libidinöse Begehren des Einzelnen nach seinem Mandat aufrechterhalten und zeitgleich Exzesse desselben Begehrens minimieren muss. Der politische Disput instanziiert eine immer wieder neu sich generierende Schleife des Begehrens nach innerer Kohärenz und Stabilität. Der Bereich der Politik zirkuliert dabei als Konglomerat historisch vermittelter Begriffe immer um einen nicht symbolisierbaren traumatischen Kern, einen inneren Antagonismus. Mythen, Narrative und politische 461 Vgl. dazu auch Felix Ensslin, »Accesses to the Real: Lacan, Monotheism, and Predestination«, in: European Journal of Psychoanalysis (Special Issue: Lacan and Philosophy: The New Generation), No. 32 (2011), 49–91.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

Rituale etablieren um diesen traumatischen Kern ein scheinbar stabiles Netz von Autorität, in dem Subjekte sich erkennen müssen. So ist der politische Diskurs der Gemeinschaft der sich ständig verfehlende Prozess, Immanenz mit Transzendenz abschließend zu versöhnen. Er ist der kreative wie auch kreationistische Prozess, der das Trauma seiner Zwietracht zu verdecken versucht und es doch nicht kann. Für Lacan wächst folglich das Subjekt nie harmonisch in seine Umwelt hinein. Im Gegensatz zu Marcia Cavells Ausführungen in ihrem Buch The Psychoanalytic Mind. From Freud to Philosophy glaubt er nicht, dass prä-linguistische Exzessmomente des Unbewussten durch die Psychoanalyse in ein kohärentes Gesamtbild des Ich mit seiner Umwelt integriert werden und das Subjekt nach einer kognitiven Klärung von seinen verdrängten Wünschen, Begehren, Traumata etc. gereinigt in ein authentisches Selbstverhältnis mit sich und seiner Umwelt treten kann. 462 Für Lacan ist das Subjekt je dazu verdammt, sich vorauszueilen, sich zu verpassen und letztlich nie mit sich und seiner Umwelt in eine verzerrungsfreie Beziehung zu treten. Gerade aber hier, in der Verkennung / Verzerrung, verortet Lacan auch eine ethische Kraft, weshalb er überhaupt dazu kommt, die Psychoanalyse mit einer Ethik zu kombinieren und dabei auch immer wieder auf Kant und Hegel rekurriert. Das Subjekt erscheint ihm weniger als »Krönung der Schöpfung«, als edelstes Stück in der Kette des Seins. Es ist das instabile Glied in dieser Kette, oder besser noch: die Lücke und Kluft im Sein, das diese scheinbar braucht, um auf unerkannte Alteritäten seiner selbst als zukünftige neue Welten zu treffen. 462 Vgl. Cavells The Psychoanalytic Mind. Cavell versucht in ihrer Entfaltung der Psychoanalyse im Rekurs auf die Werke Ludwig Wittgensteins und Donald Davidsons, den wissenschaftlichen Anspruch Freuds durch einen linguistischen Rückbezug der Psychoanalyse auf eine Common-sense-Psychologie zu fundieren. Damit nimmt sie eine Position ein, die Lacan sehr in Frage stellt. Cavell scheint Freud ähnlich zu domestizieren, wie dies die oben erwähnten Interpreten bei Kant und Hegel in einer Favorisierung von Ethik gegenüber dem exzessiv Ethischen tun. Bei Cavell ist das Unbewusste nach Freud’scher Theorie potenziell immer schon linguistisch entzifferbar, während Lacan die These vertritt (ebenso wie Melanie Klein und Sebastian Gardner), dass dem Unbewussten nach Freud kein klar propositionales Wissen zugeordnet werden kann, was die Spaltung des Subjekts und damit dessen eigene Abgründigkeit unüberwindlich macht. Vgl. Sebastian Gardner, Irrationality and the Philosophy of Psychoanalysis. Zur Kritik an Cavell siehe auch David Snelling, Philosophy, Psychoanalysis and the Origins of Meaning: Pre-Reflective Intentionality in the Psychoanalytic View of the Mind, Burlington: Ashgate 2001, besonders: 1–22.

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Lacans Rechtstheorie in Bezug zu Kant und Hegel

Zum weiteren Verlauf: Es sei darauf hingewiesen, dass Lacans Rechtstheorie der Subjektivität in den folgenden Unterkapiteln in der Zusammenführung auf unsere Thematik eingehender entfaltet werden wird als es die rechtstheoretischen Fragestellungen bei Kant und Hegel wurden. Die Anschlussfähigkeit Lacans an die Subjektphilosophie des deutschen Idealismus, wie sie die Repräsentanten der Ljubljana Lacan Schule in zahlreichen Veröffentlichungen gezeigt haben, offenbart sich in den vielen Verweisen Lacans auf Kant und Hegel. Diese erklären sich erst in der Offenlegung ihrer komplexen Verwindungen mit der Linguistik, der Phänomenologie, mit mengentheoretischen Analysen und dem Strukturalismus Lévi-Strauss’. Themenbereiche werden so eröffnet, die auf den ersten Blick in Bezug auf Kant und Hegel fremd erscheinen mögen, während sie bei näherer Betrachtung die erhellenden Verbindungen zum Idealismus und Lacans Begeisterung für Kant und Hegel umso deutlicher erkennbar machen.

Lacans Rechtstheorie in Bezug zu Kant und Hegel Die Psychoanalyse Freuds und deren explizite Entfaltung durch Lacan ist – verglichen mit der modernen Psychologie und den modernen Neurowissenschaften – nicht am biologischen Leben interessiert. Sie konzentriert sich auf die symbolische Bezogenheit, in der die Psyche sich zu ihrer Umwelt verorten muss. Dabei stellen sich in ihrer intentionalen Bezogenheit Fragen von Normativität und Autorisierung. Die Psychoanalyse entdeckt dabei, wie stark die Frage nach Autorisierung im Rahmen einer Ordnung durch das Rätsel der Anrufung und das Rätsel der Legitimität bedrängt ist. Diese Fragen stellen sich auch im deutschen Idealismus. Bei Kant analysierten wir z. B., wie das Subjekt des moralischen Willens gleichzeitig das In-Frage-stehende-Subjekt ist. Dessen Gespaltenheit ist durch einen intentional nicht-assimilierbaren, fremden Kern Bedingung der eigenen Unbedingtheit. Die Berufung des moralischen Subjekts nach Kant bestand darin, dem erschallenden Ruf des nicht weiter abzuleitenden Gewissens so zu folgen, dass der reine moralische Wille über den intersubjektiven Rahmen des Legalen hinausgehend in einer unendlichen Annäherung das mysteriöse Ideal seiner eigenen Unbedingtheit (Kant spricht von Heiligkeit) erfüllt. Warum dieser Ruf erschallt und bindend sein soll, kann Kant nicht erklären, sondern nur als Prämisse vorausset255 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

zen. Er legt nahe, die Quelle dieses Rufes als eine fremde Instanz des ganz Anderen im neigungsorientierten und pathologischen Egoismus des Menschen zu verorten, wobei er diese Instanz sowohl als bedrohliche Fremdheit 463 wie auch als eigentlichen Kern des Menschen Unbedingtheit beschreibt. Die Psychoanalyse wiederum, so kann man sagen, entstand gerade in Konfrontation mit einer solchen bedrohlichen, nicht ableitbaren Fremdheit, genauer, deren unbändigem Insistieren, noch genauer ihrem Befehlen und Begehren, das sich in extremen Fällen in pathologischen Zwangsstörungen oder psychopathologischen Symptomen (s)einen Weg bahnt. Die Psychoanalyse ist so auch die Wissenschaft dessen, was im Menschen der Befriedigung bzw. inneren Pazifizierung entgeht und gemäß Freud und Lacan nicht einfach auf die menschliche Triebnatur als deren animalischen, von der Vernunftkraft des Menschen noch ungereinigten Rest reduziert werden kann. 464 Lacan schreibt in seinem Seminar VII: »Die Ethik der Psychoanalyse ist keine Spekulation über das Reglement, die Einrichtung dessen, was ich den Dienst an den Gütern nenne. Sie impliziert […] die Dimension, die sich in der sogenannten tragischen Erfahrung des Lebens ausdrückt.« 465 Kant habe, so Lacan, in der Ethik das unlösbare Zusammenspiel von Jüngstem Gericht, unstillbarem Begehren und permanentem Scheitern durchdrungen. Während die »traditionelle Moral«, wie Lacan im Rekurs auf Aristoteles ausführt, »ein Handeln nach Maßgabe des Möglichen« verlange, entlarve Kant, dass die Dimension des Möglichen gerade »die Topologie [… des menschlichen, D. F.] Begehrens« nicht berührte. 466 463 Kant spricht von der bedrohlichen Stimme des moralischen Gesetzes, die »auch den kühnsten Frevler zittern macht, und ihn nötigt, sich vor seinem Anblicke zu verbergen« (KrV, III, 80 (A141)). 464 Was die Psychoanalyse interessant macht, ist ihre Zwischenstellung zwischen einem Naturalismus und einem Kulturalismus: Sie ist nicht reiner Biologismus (wie es die Neurowissenschaften sind) und sie ist auch kein reiner Kulturalismus. Sie ist folglich weder deterministisch orientiert, in dem Sinne, dass sie sagt, es sei im Menschen alles vorherbestimmt. Noch ist sie einfach Freiheits-optimistisch, wie philosophische Theorien, die den Menschen vom Glauben an seine vernunftgeleitete Selbstbestimmung her auslegen. Die Psychoanalyse versucht einen Zwischenraum zu konzeptualisieren, in dem Spielräume der Autonomie da sind, aber keine beliebige Verfügbarkeit derselben besteht. 465 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 373. 466 Lacan: »Die Überschreitung ist uns durch Kant gegeben durch seine Setzung, dass der moralische Imperativ sich nicht darum zu kümmern habe, was möglich ist oder

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Lacans Rechtstheorie in Bezug zu Kant und Hegel

Die Psychoanalyse widmet sich diesem Begehren, aber, wie gesagt, auch immer wieder im Licht der paradoxalen Erkenntnis, dass dieses Begehren nicht befriedigt werden möchte, dass es sich strukturell (d. h. ohne intentionales Bewusstsein einer Absicht) als resistent erweist gegenüber der Option vom tugendhaften oder vernunftgelenkten Leben. 467 Das Insistieren eines solchen Fremden, Realen, eines Eigenen, »dessen Zentrum abwesend« 468 ist, war ja die Entdeckung gewesen, die die Psychoanalyse auf den Plan rief. Es war diese Konfrontation mit der Rätselhaftigkeit von psychosomatischen Symptomen, von der die Psyche in Bezug auf eine Lust-am-SchmerzÖkonomie nicht ablassen konnte und die sich der kognitiven Reflexion eines intentionalen Bewusstseins entzog und schlicht und einfach absurd erschien. Die Psychoanalyse suchte darauf eine Antwort zu geben mit Hilfe des Unbewussten als einer hinter der Intentionalität sich verbergenden, nicht propositional definierbaren Entität. 469 Dies war schon am Ursprung der Psychoanalyse der Grund dafür, dass Freud seit 1895, d. h. seit seiner im Austausch mit Wilhelm Fließ vernicht. Das Zeugnis für die Pflicht, sofern uns diese auf die Notwendigkeit einer praktischen Vernunft verweist, ist ein bedingungsloses Du sollst. Dieses Feld nimmt seine Bedeutung genau aus jener Leere an, der es die kantische Definition durch die ganze Strenge der Anwendung überantwortet. Diesen Ort können wir, wir Analytiker, als den Ort erkennen, der vom Begehren besetzt ist. Die Umwertung, die aus unserer Erfahrung folgt, stellt ein inkommensurables, ein unendliches Maß in den Mittelpunkt, das sich das Begehren nennt« (vgl. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 376.) 467 Das Insistieren des unerfüllbaren Begehrens nach seiner Einschreibung in eine Ordnung, die selbst nie absolut ist und immer wieder sich verunmöglicht, steht für die innere Sperre eines Fremden (Lacan nennt es das »Reale«) sowohl in der Unmöglichkeit von Einheit und Identität des Subjekts als auch in der kollektiv verbürgten politischen Lebenswelt, die nie alles ist. Vgl. dazu die Studie von Bernard Baas, der Lacans Begehrens-Begriff mit Kants Konzept des »höchsten Guts« in einen komparatistischen Vergleich bringt: Das reine Begehren, Wien / Berlin: Turia & Kant 1995. 468 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 284. 469 Lacan radikalisiert Freuds Rede vom Unbewussten, indem er es in der Rede vom »Subjekt des Unbewussten« zu personalisieren scheint (vgl. beispielsweise Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 43). Das »Subjekt des Unbewussten« ist als Hort eines nicht-propositionalen Wissens zu verstehen, das auch ohne eine lexikalisch verbürgte Sprache oder eine klare chronologische Erinnerungsstruktur kommuniziert. Verschiedene Studien zum Verhältnis von Psychoanalyse und Philosophie widmen sich der Frage, wie ein vorpropositionales Wissen im Unbewussten verstanden werden kann. Siehe dazu besonders die Studien von Snelling, Philosophy, Psychoanalysis and the Origins of Meaning; Lear, »The Heterogeneity of the Mental« und Gardner, Irrationality and the Philosophy of Psychoanalysis.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

fassten Entwurfsschrift, 470 immer die Konsistenz eines nicht-semantischen Kerns innerhalb der Dynamiken der Symptombildung unterstrichen hatte. 471 Wir sprechen dabei in der Regel zwar von lebenserschwerenden, durch z. B. Traumata ausgelösten Pathologien, aber verkörpert Kants Ideal des moralischen Willens nicht – wie Béatrice Longuenesse und Sebastian Gardner überzeugend zeigen 472 – bis zu einem gewissen Grad eine solche Pathologie unter der transzendentalen Bedingung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein? Das verdeutlicht noch einmal, wie die Subjektphilosophie der Psychoanalyse uns in die Tiefenstrukturen des Kant’schen moralischen Willens blicken lässt und dessen strukturbedingte Abgründigkeit und psychointerne Aporetik offenlegt. Kant fehlte die durch die Psychoanalyse in mühsamer Thesenbildung verarbeitete Entdeckung verschiedener Tiefenschichten der Psyche, so dass er nie sein Ideal einer am Autonomie-Gedanken ausgerichteten psychischen Selbstidentität direkt hinterfragte. (Indirekt tat er es schon, wie das erste Kapitel zu beweisen versuchte.) Für Kant gab es eben kein Subjekt des Unbewussten als eine Art kybernetischer Maschine der Reizmengenverarbeitung, an die der Mensch angeschlossen ist und auch kein Über-Ich. 473 Was es gab, war eine Fremdheit der Unbedingtheit im Innern des Subjekts. 470 Vgl. Sigmund Freud »Entwurf einer Psychologie«, in: ders., Aus den Anfängen der Psychoanalyse: Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1962, 305–385. 471 Lacan verweist als Beispiel eines solchen nicht-semantischen Kerns auf Freuds Rede vom »Nabel des Traums« in der Traumdeutung (vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: ders. Studienausgabe, Bd. II, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1982, 503). Freud meint damit eine Verdichtung im Traumgewebe, die undurchdringbar ist, einen blinden Fleck, den, wie Freud nahelegt, der Traum braucht, um sich selbst nicht ganz durchschaubar zu werden. Dieser »Nabel« des Traums ist eine strukturnotwendige Nullstelle des Traumrebus, aus der Lacan auch seine Aporie der Subjektivität entfaltet. 472 Vgl. Longuenesse, »Freud and Philosophy. Kant’s ›I‹ in ›I Ought To‹ and Freud’s Superego«; Sebastian Gardner, »Freud and Philosophy. Psychoanalytic Theory: A Historical Reconstruction«, in: The Aristotelian Society. Supplementary Volume, Vol. 86, No. 1 (2012), 41–60. 473 Lacans Faszination an der Kybernetik kommt besonders im Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds zum Ausdruck, 373–390. Das Unbewusste ist für ihn nicht ein Individuelles im Menschen, sondern eine Informations-Zirkulation symbolischer, der Außenwelt entstammender Zeichen. Lacan lässt im Unbestimmten, welche Beziehung das Subjekt zu dieser Maschinerie des Unbewussten hat. Es wirkt einerseits eingeschlossen in diese, andererseits als etwas ihr Äußerliches. Auf jeden Fall vertritt Lacan keinen eliminativen Reduktionismus. Die Rede von der Maschinerie des Unbe-

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Lacans Rechtstheorie in Bezug zu Kant und Hegel

Im dritten Hauptstück der Kritik der praktischen Vernunft entdeckt Lacan bei Kant den »Schmerz« im reinen moralischen Willen als »Extrem der Lust« 474, ein Gefühl, das gemäß Lacans Kant-Lektüre in einer korrelativen Beziehung zum Moralgesetz in seiner Reinheit steht. Es lässt ihn zu der Konklusion kommen, dass »Kant einer Meinung mit de Sade« 475 sei, insofern alle »Schleusen des Begehrens« 476 im Versuch, die phantasmatische Grenze des Unerreichbaren zu streifen (z. B. der Heiligkeit bei Kant), das moralische Subjekt in den Horizont des Schmerzen-Genießens führen. 477 Lacan vertritt hier nicht, wie oft vermutet wird, dass Kants Ethik in ihrem angeblichen Formalismus mit de Sades katalogisierten Perversionen und Menschenquälereien auf einer Ebene stehe. Er sieht beide Autoren aber in analoger Weise an einen exzessiven Mehrwert bzw. an einen Genuss am Schmerz gebunden, der psychoökonomisch auch im Phantasma einer Unerreichbarkeit von sexuell multiperverser Befriedigung oder Moralität verankert liegt. »Alles in allem ist Kant einer Meinung mit de Sade«, schreibt Lacan. »Denn […] um alle Schleusen des Begehrens zu öffnen, zeigt de Sade uns am Horizont was? Wesentlich den Schmerz. Den Schmerz der anderen und auch den eigenen Schmerz des Subjekts, denn das ist hier ein und dieselbe Sache.« 478 Für Kant steht der moralische Akt mit seiner Beziehung auf »Glückseligkeits«-Verzicht in Kombination mit der Rede von der unwussten schließt nicht Lacans Rede vom »Subjekt des Unbewussten« aus. Das Unbewusste kann maschinell-anonymen Charakter haben und zeitgleich als Begehrensmaschine seine eigenen Ziele. 474 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 100. 475 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 100. 476 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 100. 477 Jacques-Alain Miller schreibt dazu treffend: »Das Über-Ich fordert nicht nur die Entsagung gegenüber der Förderung der Triebe nach Befriedigung, sondern es nährt sich heimlich von der entsagenden Befriedigung« (vgl. ders., »A Reading of Some Details in Television in Dialogue with the Audience«, in: Newsletter of the Freudian Field, Vol. 4, No. 1 u. 2, 4–30, hier: 14). Miller legt außerdem offen, inwiefern für Lacan das moralisches Subjekt in seinem Opfern des eigenen Genusses, des eigenen Begehrens einen Beweis für die Präsenz des Anderen sucht. Das moralische Subjekt entkommt dementsprechend nicht einer pathologischen Triebfeder, da es noch in der Entsagung des Pathologischen dieses pathologisch genießt im intellektuellen Gefühl der Kant’schen ›Achtung für das Gesetz‹. Vgl. dazu auch: Jacques-Alain Miller, »A Discussion of Lacan’s ›Kant avec Sade‹«, in: Richard Feldstein / Bruce Fink / Maire Jaanus (Hg.), Reading Seminars I and II. Lacan’s Return to Freud, New York: State University of New York Press 1996, 212–240. 478 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 100.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

endlichen und unendlich mühsamen Annäherung an das Reich der Zwecke (im immer wieder betonten Scheitern, der Heiligkeit gerecht zu werden) in der Beziehung zum Schmerz. Für Lacan ist dies nicht per se pathologisch. Es ist im Gegenteil lebensbejahend und lebensbedingend, weil an eine eigentümliche Form von Genießen – von Lacan jouissance genannt 479 – gebunden, die das Begehren betrifft. Lacan hilft uns, im Kontext der Theorie exzessiver Subjektivität die Aporien des Begehrens durch psychologisch verstehbare Rechtsstrukturen herzuleiten, an deren Grenzen der Einzelne seinen Ort zu finden hat. Wie wir sahen, thematisierte auch Hegel diese Grenzen als Orte, wo individuelle Begehren in ihrer Unbändigkeit und teilweise bedingungslosen Verblendung den Prozess des Weltgeistes in neue Erkenntnisetappen bringen, ohne sich der eigenen Rolle als verschwindende Vermittler selbstreflexiv bewusst zu sein. Hegel thematisiert immer wieder Begehren, Exzess, Wahn und Kraft als unbändige Gewalten, die der Geist in seiner zunehmenden Selbstdurchdringung genealogisch braucht wie einen lebensnotwendigen Treibstoff. Wenn dann für Lacan Kultur, politische Gemeinschaft und die politische Doxa dieser Gemeinschaft als instabile »Signifikantenketten« selbst nie alles sind, dann kann für ihn ähnlich wie für Hegel gerade auch die Mangelhaftigkeit des Subjekts, dessen mögliches Getriebensein durch die eigene normativ nicht einholbare und pazifizierbare Exzessivität seines Begehrens (nach z. B. fragwürdigen Beerdigungsgesetzen der ›Vorzeit‹) die anti-normative Kraft sein, die aus der bestehenden Mangelstruktur des Politischen etwas neues herausholt. Dieses kann in der phantasmatischen Realität der Allgemeinheit nur als anstößig, undenkbar, ketzerisch oder als illegal auftreten. Das, was Lacan selbst das Reale nennt, bricht dann als Entblößung der Grenzen des Sinns in den politischen Raum ein durch ein unstillbares Begehren, wie es auch für ihn, Lacan, ähnlich wie für Hegel, beispielhaft Antigone verkörpert. Mit jouissance meint Lacan ein Die-Lust-am-Schmerz-Genießen, das dem Dasein zur Konstitution der eigenen Exzentrizität eingeschrieben ist und Freuds Begriff des Todestriebs weiterentwickelt. Die Sehnsucht nach voller jouissance bei gleichzeitiger Beschränkung derselben durch die symbolische Ordnung (Sprache, Gesetze etc.) hält das Subjekt in einer letztlich neurotischen Illusion eines absoluten Genusses und in einer hysterischen Sehnsucht durch dessen Verunmöglichung. Zum Verhältnis von jouissance und Kultur: Siehe den erhellenden Artikel von Frédéric Declercq: »Lacan’s Concept of the Real of Jouissance: Clinical Illustrations and Implications«, in: Psychoanalysis, Culture & Society, Vol. 9, No. 2 (2004), 237–251, besonders 247 ff. 479

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Lacans Rechtstheorie in Bezug zu Kant und Hegel

Da das Subjekt für Lacan dazu aufgerufen ist, seine eigenen destruktiven Begehrensmomente in Form von Abwehrmechanismen zu besänftigen, sucht es in den symbolischen Identifikationen von Sprache und Kultur Halt. Aber die Mangelstruktur im Subjekt und der sozialen Ordnung kann nur verdeckt, nicht absolut aufgehoben werden. Dabei sind sowohl die symbolischen Sinnordnungen der Kultur als auch das traumatische Ereignis ihres permanenten Entzugs (durch das Reale) nach Lacan für die Subjektwerdung gleichursprünglich. In diesem Sinne ist das Subjekt notwendig sowohl ein rechtssubjektives und politisches, als es dieses auch nie absolut und als selbst zu verantwortendes sein kann. Lacans Rede vom Realen markiert hier die Strukturmomente von antagonistischen Konflikten / Nicht-Koinzidentien, sowohl innerpsychisch als auch intersubjektiv. Wenn Lacan vom Realen spricht, verweist er auf eine Kategorie, die dem »Realitätsprinzip« sowie dem Versuch, dieses mit dem »Lustprinzip« zu verbinden, vorausgeht. Das Reale ist externer zu uns als die externe Welt selbst es ist, insofern wir unser eigenes Selbstbild ebenso wie die intersubjektiv strukturierte und durch Zeichen vermittelte Außenwelt nur dadurch als ein harmonisches Ganzes etablieren können, indem wir das Reale ausschließen. Es ist ebenso die libidinöse Kraft selbst, der der Mensch nicht aus dem Weg gehen kann. In diesem Sinne glaubt die Psychoanalyse sich etwas zu widmen, das den Begriffen wie Tugend, Pflicht und Nutzen vorausgeht. Der Begriff des Realen ist so eines von Lacans sogenannten drei »Registern«, in denen Rechtssubjektivität entsteht und zu denen auch das Symbolische und das Imaginäre gehören. Das Reale markiert innerpsychisch eine Art Wunde, die wir durch unsere Vertreibung aus einem ›präödipalen Eden‹ erfuhren und die das Subjekt wie (s)eine Ursünde mit sich trägt: z. B. die Schuld, nicht wahrhaft man selbst sein zu können, weil der Ort des Selbst eine Phantasma-Markierung der Wunde ist, die das Subjekt in der Konstitution seiner Ich-Funktion aufreißt und notwendig nicht mehr schließen kann. Das Reale markiert den Mangel im Moment einer notwendigen Loslösung vom sogenannten ›Mutter-Ding‹. Es ist das Trauma des in der Genealogie der menschlichen Ich-Funktion nicht präzise auffindbaren paternalen Verbots: Die kastrierende Kraft von auferlegten Gesetzen, Worten, Begehren und Begehrensverdrängungen, die das Unbewusste formatieren. Letzteres ist als Bedingung von Subjektivität, die sich selbst nicht durchschauen darf, jener Ort, »dessen Zentrum abwe261 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

send« 480 ist bzw. jene »fundamentale Auslassung, in der das Subjekt sich einrichtet«. 481 Gesetze verlangen die Separation von der Mutter und die Übernahme eines Nicht-Eigenen (Sprache, Normen, Werte) als Medien des Eigenen. Auch hier sitzt das Reale wie die nie ganz verheilten Narben in der Emanationsgeschichte des Ichs. Es betrifft auch den in Bezug auf Kant erwähnten »fremden Körper in mir«, der als Teil von »Geltung« ohne »Bedeutung« mehr ist, als reflexiv im Selbstbild der auf Sekundärprozessen aufruhenden Ich-Funktion untergebracht werden kann. Es ist die Kraft eines aufstörenden Anderen im Eigenen, das sich im Begehren kundtun mag. 482 Denn wie Lacan aufweist, ist das Begehren des Menschen nicht etwas Persönliches. Als »Begehren des Anderen« ist es Effekt eines – von einem Außen – Bedrängtwerdens, das wir als Fremdheit im Eigenen mit uns tragen. In diesem Sinne wäre das Reale auch dieses ›Begehren eines Fremdbegehrens in mir‹. Es ist, wie Lacan in einer Nachschrift zu seinem Seminar VII treffend sagt, der Ort einer felix culpa, 483 »puisque c’est d’elle que proviendrait la loi originelle«. 484 Ähnlich wie Hegels Begriff des Negativen markiert das Reale eine strukturelle Form von Umkehrung, die zusätzlich zu den von Freud und Lacan thematisierten Erkenntnis- und Selbsterfahrungsmomenten auch in sozialen Strukturen auftauchen kann. 485

Ursprünge: Freuds Lustkoordinaten der Anrufung In seinem Seminar Die Ethik der Psychoanalyse untersucht Lacan, ob die Psychoanalyse – ähnlich wie philosophisch-moralische Weltentwürfe – eine Ethik begründen kann, und, wenn ja, wie diese aussehen müsste. Er wählt als Einstieg in diese Frage den von Freud im AusLacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 284. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 284. 482 Wie Žižek treffend schreibt: »The real is impossible in the sense that it is a traumatic encounter that does happen but which we are unable to confront« (vgl. Slavoj Žižek / Glyn Daly, Conversations with Žižek, Cambridge: Blackwell Publishing 2003, 71). 483 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 12. 484 Jacques Lacan, »Compte rendu avec interpolation du séminaire de l’éthique«, in: Ornicar ? Revue du Champ freudien, Nr. 28 (1984), 7–18, hier: 8. 485 Vgl. Lorenzo Chiesa, »The Subject of the Real«, in: ders., Subjectivity and Otherness: A Philosophical Reading of Lacan, Cambridge/Mass. / London: MIT Press 2007, 104–139. 480 481

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Ursprünge: Freuds Lustkoordinaten der Anrufung

tausch mit Wilhelm Fließ verfassten Text Entwurf einer Psychologie aus dem Jahr 1895. 486 Man kann diesen Entwurf den Ursprungstext der Psychoanalyse nennen, da er die Frage von Rechtssubjektivität mit der Genese der Psyche aus Spannungsprozessen innerer und äußerer Energetik(en) verbindet. (Ähnliches hatten wir in Hegels Anthropologie gesehen.) Eine These, die Lacan aus diesem Text zieht und die ihn zu immer neuen Interpretationen animieren wird, ist, dass das Subjekt als psychosomatische Kompromissstruktur verschiedener, nicht positivistisch herleitbarer Kräfte hervortritt. Rechtssubjektivität wird unter der Bedingung eines »anderen Schauplatzes« denkbar, der dem Ich eine Nicht-Koinzidenz zuschreibt. Bei Kant hatten wir diese als eine Struktur kreationistischen Selbstentwurfs des Subjekts im moralischen Akt beschrieben. Bei Lacan sehen wir, wie diese Nicht-Koinzidenz das Subjekt noch sehr viel grundlegender als nur im Kontext der Moralität betrifft. Freud behauptet in seinem neurowissenschaftlichen Entwurf, dass die Wahrnehmung der Außenwelt im Horizont von Lusterfahrungen stattfindet, weil die Außenwelt notwendig durch den sinnlichen Wahrnehmungsapparat des Körpers vermittelt ist. Der menschliche Körper ist nicht Medium zwischen sinnlicher Anschauung und autonomen Verstand, sondern für Freud ist der Verstand / die Psyche Resultat einer kompromissartigen Symptombildung durch abgelenkte, gespeicherte oder weitergeleitete Energetikspuren. Freud beschreibt die Energetikspuren als Quantitäten verschiedener Stärken. 487 Aus der chaotischen Vielzahl von Sinneseindrücken strukturiert sich der kognitive Apparat als eine Kompromiss- bzw. Symptomstruktur. Energiequanta treffen auf neuronale Kontaktstellen. Letztere lassen diese durch, lenken oder wehren sie ab, oder speichern sie in sich zu Erinnerungsschichten zusammensetzenden mentalen (noch) vorpropositionalen Konstanten. Lacan spricht treffend von »Lustkoordinaten« 488, in denen die Genese der Psyche sich entwickelt. Diese Umschreibung expliziert, wie hier nicht einfach ein neutraler Mechanismus der Verbreitung von Informationsquanta wie auf Halbleiter-Bahnen von Computerchips stattfindet. Vorgänge von Abfuhren, Vorratsspeicherungen und Umlenkungen von Quantität sind 486 487 488

Vgl. Freud, »Entwurf einer Psychologie«, 305–385. Vgl. Freud, »Entwurf einer Psychologie«, 321 ff. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 67.

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als körperliche Prozesse durch Lust- und Unlustempfindungen je Libido-imprägniert oder Libido-begleitet. Neben diesen Umständen ist noch ein weiterer Aspekt für Lacan herausragend. Freud erklärt, wie die Energetikflüsse in der Präsenz und unter der Bedingung dessen stattfinden, was er den »Nebenmenschen« nennt. Lacan schreibt: »[D]as Befriedigungserlebnis des Subjekts hängt gänzlich ab […] vom anderen, [… den Freud] den Nebenmenschen nennt«. 489 Freud erwähnt diesen Nebenmenschen abrupt in einer kaum Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Beiläufigkeit im letzten Teil seiner Entwurfsschrift. 490 Lacan entfaltet ihn als Zentrum seiner Begehrenstheorie. Man könnte bei der Rede vom »Nebenmenschen« zuerst an die Eltern des Kleinkindes denken. Da Freud aber gerade nicht von Eltern spricht, ist es naheliegend, dass die Rede vom Nebenmenschen auf der Ebene der psychischen Entwicklung, mit der Freud hier ringt, noch eine Instanz von Fremdheit verkörpert, die keine Familiarität mit der Mutter oder dem Vater verbürgt und doch ganz notwendig ein Außenpunkt der Referenz ist. Die Psyche ist prekär abhängig davon, Halt zu finden an einer Anerkennungskoordinate. »Am Nebenmenschen lernt darum der Mensch erkennen.« 491 Der Nebenmensch ist eine Außeninstanz des Subjekts, die dessen Exzentrizität als Bedingung von Subjektivität unterstreicht. Freud spricht dann auch vom ›Ding am Nebenmenschen‹, »Ding« 492 hier verstanden als ein nicht-propositionales Moment, das den Nebenmenschen noch einmal fremd macht, wobei er, der Nebenmensch, selbst in der »Erinnerungsarbeit« 493 nicht ganz verstanden werden kann. Lacan leitet das Hervortreten des Subjekts als fremdbestimmtes aus seinem Nervenapparat im Kosmos der Kreuzungen von exogenen und endogenen Reizen ab. 494 Die Kreuzungen stehen immer schon im Bann dieses Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 51. Freud, »Entwurf einer Psychologie«, 337 f. 491 Freud, »Entwurf einer Psychologie«, 337. 492 Freud, »Entwurf einer Psychologie«, 338. 493 Freud, »Entwurf einer Psychologie«, 338. 494 Hintergrund von Lacans Auseinandersetzung sind auch zeitgenössische Analysen des Bewusstseins als Maschine verschiedener Reizmengen, die im Kontext der Entdeckung der Turing-Maschine und der Kybernetik auch in psychoanalytischen Kreisen rezipiert wurden. In seinem Seminar II (Das Ich in der Theorie Freuds, 373–390) spricht Lacan wiederholt vom Unbewussten als Maschine. Vgl. dazu auch Nicolas Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, 158 f. 489 490

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Ursprünge: Freuds Lustkoordinaten der Anrufung

Anderen. Die Bezugnahme zur Außenwelt ist je immer schon von einer Mittler-Instanz libidinös geprägt, einer Instanz, die noch nicht anders als in ihrer unerklärbaren, teils aufdringlichen, teils libidinöse Momente bewirkenden Präsenz absorbiert werden kann. 495 Den Nebenmenschen als notwendiges Moment in der Genese des Subjekts liest Lacan als Hinweis auf die Exzentrizität des Subjekts. Sie steht im Zentrum seiner Theorie der dann auch philosophiepolitisch auszulegenden exzessiven Subjektivität, die nur von dieser Exzentrizität aus verstanden werden kann. Das Subjekt hat keinen selbstreflexiven Zugang zu sich und zur Außenwelt, ohne diesen Nebenmenschen, so fremd, so opak, so »Ding«-haft er auch vorerst erscheinen mag. Der Nebenmensch ist erste Quelle psychosomatischer Erfahrungen von Taktilität und d. h. für Freud, von libidinöser Energetik. Er ist gleichzeitig, wie gesagt, in seiner Unzugänglichkeit »das Ding«, von dem Lacan – Freud auslegend – sagen wird, dass die Welt des Menschen um dieses Ding sich aufbauen wird »als abhängig von solcher grundlegenden Halluzination, ohne die es keinerlei verfügbare Aufmerksamkeit gäbe.« 496 Der Mensch tritt an dem Ort hervor, »wo sich das ganze halluzinatorische Phänomen der Wahrnehmung produziert, der falschen Realität, für die der menschliche Organismus in summa vorherbestimmt ist«. 497 Lacan enttarnt den Anderen als strukturnotwendige Koordinate für die »Halluzinationen«, die falsche Realität, für die der menschliche Organismus bestimmt ist. Die gesellschaftliche Konsequenz von Rechtssubjektivität zeigt sich schon hier und zwar im unsicheren Status der Wirklichkeit. Die Realität ist prekär. Sie verbürgt zwischen einzelnem Subjekt und intersubjektiv verbürgter Metastruktur der »symbolischen Ordnung« Falschheiten, die nicht einfach aufgedeckt werden können, weil dann die Realität als Ganze, als Bereich inferentieller Begründungen dessen, was ist, verloren gehen mag. Vorherbestimmt ist dem Menschen, in »Halluzinationen«, d. h. in Realitäten mit virtuellem Wirklichkeitsstatus zu leben. Damit ist ihm aber auch vorherbestimmt, gegen die Halluzinationen des Anderen und der an495 Aus dem Begriff vom »Ding« als der transzendentalen Bedingung der nicht enden wollenden Begehrensstruktur und der sich nie ganz erschließenden Wirklichkeit des Subjekts in Bezug auf seine Legitimität (Che vuoi?), wird Lacan später im selben Seminar seine Ding-Theorie des (Fremd-) Begehrens machen, die später noch kurz erwähnt wird, aber für unsere Theorie exzessiver Subjektivität nicht entscheidend ist. 496 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 67, Hervorhebung D. F. 497 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 54.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

deren auszuschlagen. Der Andere als Ding ist ebenso für Lacan immer auch Quelle eines Begehrens, das dem Kind als enigmatisches von Geburt an unter die Haut gejagt wird. Lacan: »Das Ding ist das Element, das im Ursprung durch das Subjekt isoliert wird in seiner Erfahrung des Nebenmenschen als eines von Natur aus Fremden.« 498 Der Nebenmensch als Quelle psychosomatischer Erfahrungen ist immer Quelle eines Begehrens, auf das die Psyche reflexhaft ihrerseits wie in einer enigmatischen Anrufung reagiert. Slavoj Žižek betont treffend, wie der Nebenmensch durch Übernähe dem Kind sich aufdrängt. »It is this intrusive presence which is then interpreted as an ›enigma,‹ as an obscure ›message‹ from the other who ›wants something‹ from me. In this sense, the ›Neighbor‹ refers not primarily to the abyss of the Other’s desire […] but to an intruder who is always and by definition too near.« 499

Wenn man nun fragt, wo das Subjekt für Freud seinem neurowissenschaftlichen Entwurf gemäß ›ist‹, wo es sich – wie für Descartes in der Zirbeldrüse – lokalisieren lässt, so kommt Freud zu der Antwort, dass es als Zweites ohne ein Erstes sekundärer Effekt von Resistenz-Kompromissen an neuronalen Kontaktstellen ist, wo ein fremdes Begehren – im Nebenmenschen enigmatisch bleibend – immer schon Phantasmagorien auslösend mitwirkt. 500 »Alle Bedürfnisse« des Menschen, schreibt Lacan, »sind kontaminiert durch die Tatsache, eingeschlossen zu sein in einer anderen Befriedigung […,] der nicht nachzukommen ih[m, dem Subjekt, D. F.] möglich ist.« 501 Oder überspitzt formuliert: Das Subjekt ist durch Neuronen organisiertes Ressentimentfeld, das in Abhängigkeit vom Ding, d. h. in Abhängigkeit von einem enigmatisch begehrenden und absolut Anderen steht, den es – wie Lacan dann sagen wird – je wiederzufinden gilt. Man ist hier an die HerrKnecht-Dialektik aus der Phänomenologie als an eine Abhängigkeit gegenseitiger Anerkennungen erinnert. Sowohl Herr als auch Knecht Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 66. Žižek, Less Than Nothing, 543. 500 Im Ansatz sind diese Motive auch bei Kant und Hegel präsent. Kants Pädagogik verweist die moralische Befähigung des Subjekts, d. h. den Ort seiner Autonomie, an die Zwangsstruktur der Erziehung. Kant würde nur die Vorstellung einer gespaltenen Psyche ablehnen als transzendentalphilosophischen Widerspruch innerhalb seines Menschenbildes. Hegels teils phänomenologische Untersuchungen in der Anthropologie zeigen ihrerseits, wie die Psyche aus Spannungsprozessen mit der Außenwelt sich entfaltet. 501 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 57. 498 499

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Ursprünge: Freuds Lustkoordinaten der Anrufung

sind darauf verwiesen, sich im Anderen (als dem Statthalter der eigenen Selbstvergewisserung) und durch den Konflikt mit dem Anderen Selbstbewusstsein zuzufügen, wobei dieses Selbstbewusstsein keine feste Universalie ist, die, einmal erworben, dem Individuum sein Leben lang zu eigen bleibt. Mein Selbstbewusstsein erscheint immer auch dort seinen Hort, seinen/meinen Reichtum zu verbergen, wo gerade nicht ich bin, sondern der Andere an meiner statt ist und genießt. Selbstbewusstsein kann infolgedessen auch einbrechen. Es kann hinter dem Rücken des »Herren«, wie Hegel zeigt, sich als Effekt der Arbeit gerade im unterlegenen Knecht durch eine Einverleibung der Außenwelt entfalten. Es kann sich aber auch, wie die medizinische Psychoanalyse weiß, psychotisch in Traumata verlieren oder sich betrogen finden von Begehren, Wünschen, Hoffnungen, die vielleicht nie die meinen waren. Politische Implikationen sind hier immer präsent. Man denke nur an Karl Marx, der Hegels Anerkennungsdialektik auf seine Geschichtsmetaphysik umdeutet und zum Sturz der als halluzinatorisch denunzierten, durch Mehrwertanreicherung definierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufruft, die auf Kosten der Arbeitsklasse den Mehrwert genießt. Man könnte die Energiequanta, die sowohl auf die Psyche von außen einströmen wie sie auch von innen aus den Triebstrukturen des Körpers kommen, als die noch ungefilterten Effekte der Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke im Sinne Kants verstehen. Als solche sind sie Basismaterial symbolischer Ansprüche. Sie streuen auch dann ihre die Psyche prägenden und Normativierungen produzierenden Wirkungen aus, wenn die Psyche des Kindes weder propositional noch selbstreflexiv schon auf Zeichen bzw. Signifikanten reagieren kann. 502 Energiequanta legen durch Abfuhr, Speicherung und Ablenkung Geltungsspuren an – Freud spricht von Bahnungen – ohne natürlicherweise von der Psyche schon in Bezüge propositionaler Bedeutungen integriert werden zu können. Eine rudimentäre Theorie von Rechtssubjektivität ist hier in diesem Ursprungstext der Psychoanalyse folglich schon allpräsent. 503 502 In diesem Sinne sprechen wir in einem noch näher zu bestimmenden Verweis auf Walter Benjamin und Gershom Scholem von ›Geltung ohne Bedeutung‹. Denn genau durch Geltung ohne Bedeutung bzw. ›Geltung vorerst ohne Bedeutung‹ erscheinen diese Energiequanta von Freud qualifiziert zu sein, die die Psyche zu einem immer Libido-abhängigen Kompromiss ihrer Feinstruktur im Verhältnis zur Außenwelt bestimmen. 503 Zu einer ähnlichen Erkenntnis, wenn auch in einem anderen philosophischen und

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

Dass die Energiequanta als Basismaterial immer schon auf neuronaler Ebene einen für die Psyche entscheidenden enigmatischen Aspekt haben, ist für Lacan wichtig und für ihn der Kern von Freuds Rede vom Ding am Nebenmenschen. Vom Ding am Nebenmenschen grenzt der Mensch sich ab, wie er diesem Ding gleichzeitig verfallen ist als Quelle (s)eines fremden Begehrens. Der Nebenmensch ist mitverantwortlich für die »Bahnungen«, die sich ergeben haben. Das Ding am Nebenmenschen als »Fremdes, gelegentlich sogar Feindliches, jedenfalls als das erste Außen, ist das, woran sich der ganze Weg des Subjekts orientiert.« 504 Aber weil Lacan davon ausgeht, dass diese Orientierung eine ist, die das Subjekt in die »Welt seiner Begehren« 505 führt, ist das Subjekt an die Halluzination als Fundament der menschlichen Wahrnehmung gebunden und damit dazu bestimmt, »zu einer Bezugnahme auf jene Welt von Wünschen und Erwartung« immer schon ausgerichtet zu sein. Zu versuchen »an das Ding zu gelangen« 506, das der Nebenmensch bzw. die Gesamtheit der Gattung Mensch immer schon mehr hat als der Einzelne selbst, ist daher immer schon des Menschen Schicksal. 507 fachspezifischen Kontext (dem analytischer Ethik), kommt Hilary Putnam in seiner Auseinandersetzung mit Richard M. Hare. Eine Dichotomie von Tatsachen- und Werturteilen hält er in Anlehnung an Wittgenstein für unmöglich, da der Mensch immer schon Sprache durch Wertvermittlungen z. B. seiner Eltern erlernt. Vgl. Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, 192 ff.; Richard M. Hare, Die Sprache der Moral, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 19 ff. 504 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 67. 505 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 67. 506 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 67. 507 Es sei hier erwähnt, dass das »Ding« nach Lacan auch für das Phantasma einer unaussprechlichen Genussfülle jenseits der ›Realität‹ steht. Es repräsentiert eine Pseudo-Fülle des Genießens, die der Einzelne in Form einer erzwungenen Wahl opfern musste im Moment seiner Subjekt-Werdung. Das Ding liegt phantasmatisch jenseits der Mauer der Sprache und des libidinösen Begehrens, so wie in Kants Erkenntnistheorie das »Ding an sich« als Bedingung der Erkenntnis der Erscheinungen als deren Außerhalbsentität fungiert. Lacan nennt das Ding explizit das »SignifikatsAußerhalb« (Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 69). So wie für Kant das »Ding an sich« die Erkenntnisgrenze als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Welt von Erscheinungen als eine »objektivierbare« eröffnet (ohne selbst ein zu Objektivierendes zu sein), so steht für Lacan das Ding phantasmatisch für die Bedingung der Möglichkeit eines sich permanent aufschiebenden libidinösen Begehrens nach mehr. Lacan bezieht den Begriff des Dinges nicht auf einzelne Objekte, »sondern dehnt ihn«, wie Peter Welsen schreibt, »auf die Gesamtheit des Seienden aus«, wobei es dem »Gesetz der Sprache das Merkmal der uneinholbaren Andersheit verleiht« (Peter Welsen, »Die Ethik des rechten Sprechens. Zur Frage der Verantwor-

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Das Subjekt, seine Subjektivierung und der erhabene Signifikant

Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal zusammen: Subjektivität ist für Lacan gemäß Freuds Entdeckungen in einem Raum enigmatischer Begehrens- und Legitimitäts-Strukturen etabliert. Die Psyche muss auf »Energiequanta« (von außen und von innen) reagieren und wird gerade dadurch doppelbödig bzw. in ihrem Selbstverhältnis ›löchrig‹ – durch fremde Begehren, Geltungen, Ansprüche, Anrufungen und Botschaften. Da diese Energiequanta nie restlos von der Psyche kognitiv metabolisiert werden können, sind sie entscheidend in der Entwicklung des Unbewussten sowohl gemäß Freuds erstem topischen Strukturmodell der Psyche aus der Traumdeutung, wie auch gemäß dem zweiten aus dem Jahr 1923 in Das Ich und das Es. Dort, wo sie die Psyche verletzen oder enigmatisieren können, zeitigen sie das Leben stark beeinträchtigende, kaum zu bändigende neurotische Symptome. Diese Symptome sind einerseits Kompromiss, den die Psyche etabliert hat, um nicht dauerhaft zu kollabieren. Sie stehen andererseits jedoch auch für das Insistieren eines Nicht-Geistigen, Nicht-Intentionalen, das die Psyche einst überfordert hatte und sie nun durch diese ehemalige Überforderung nicht mehr aus dem Bann lässt. Diese Bann-Struktur kann auch politisch-ideologisch genutzt werden und zwar besonders durch ideologische Appelle, die teils umso stärker ihre Unterwerfungskraft gebrauchen, je – und das mag vorerst paradox klingen – enigmatischer sie sich gebärden.

Das Subjekt, seine Subjektivierung und der erhabene Signifikant Subjektkonstitution ist durch Anrufung geprägt, von der her bestimmte Wirklichkeitskoordinaten mit halluzinatorischen Momenten dem exzentrischen Subjekt ›unter die Haut‹ injiziert werden. In einer durch den Nebenmenschen vermittelten Irritation baut sich das Subjekt die Realität auf. Dass in dieser Thematik der Anrufung immer auch eine rechtlich-normative Dimension anwesend ist, war ein zentrales Argument, die Subjektphilosophie der Psychoanalyse als eine Kant und Hegel explizierende Theorie zur Thematik exzessiver Subjektivität anzuführen. Mit einem weiteren Schüler Lacans, Louis Althusser, dringen wir tiefer in diesen Bereich vor. tung bei Jacques Lacan«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 42, Nr. 4 (1988), 682–693, hier: 689).

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

Althusser vergleicht die »Ewigkeit der Ideologie« mit der Zeitlosigkeit des Unbewussten bei Freud. Er schreibt: »Wenn unter ›ewig‹ verstanden wird, nicht jede (zeitliche) Geschichte transzendierend, sondern allgegenwärtig, transhistorisch, also der Form nach unveränderlich über die gesamte Geschichte sich erstreckend, dann begreife ich den Freud’schen Ausdruck Wort für Wort auf und sage: Die Ideologie ist ewig.« 508 Althusser bezieht sich seinerseits auf eine These von Marx, der in der Deutschen Ideologie schreibt, dass Ideologie keine Geschichte habe. 509 Die Rede von der Ewigkeit der Ideologie ist vor dem Hintergrund unserer bisherigen Interpretation der Psychoanalyse zu verstehen. Denn was Althusser hier artikuliert, ist ein nicht schwer zu verstehender Einspruch gegen die Annahme, dass es je ein unideologisches, neutrales Weltverhältnis des Subjekts geben könnte. 510 Wenn die Ideologie, wie Althusser schreibt, »die Individuen als Subjekte an[ruft]«, 511 so wie für Marx der ökonomische Unterbau deren Bewusstsein bestimmt, so deshalb, weil »die Kategorie des Subjekts nur insofern konstitutiv für jede Ideologie ist, als jede Ideologie die (sie definierende) Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu

Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, 133. Karl Marx, »Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten […] nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens« (vgl. Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz Verlag 1969, 26 f.). 510 Schon Hegel kritisiert einen solchen Glauben an ein ›weltneutrales‹ Subjekt, wenn er in der Phänomenologie im Bezug auf die Autoritätsstruktur des Schüler-LehrerVerhältnisses die Unterscheidung von Aktualität und Potenzialität und die darin zur Geltung gelangende notwendig ideologische Prägekraft der Lehre erwähnt. Slavoj Žižek interpretiert das treffend in seinem Buch Tarrying with the Negative: »[… T]he example here is of Hegel himself, to say that a pupil at the beginning of the process of education is somebody who potentially knows, somebody who, in the course of his development, will realize his creative potentials, equals saying that these inner potentials must be present from the very beginning in external actuality as the authority of the Master who exerts pressure upon his pupil. […] We can see, now, why Hegel is as far as possible from the evolutionist notion of the progressive development of initself into for-itself: the category of ›in itself‹ is strictly correlative to ›for us‹, i. e. for some consciousness external to the thing-in-itself« (Žižek, Tarrying with the Negative, 142). 511 Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, 140. 508 509

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Das Subjekt, seine Subjektivierung und der erhabene Signifikant

›konstituieren.‹« 512 Der Ideologie gelingt dies durch ein von Althusser präsentiertes Begriffspaar: »Evidenz« und »Wiedererkennung/Verkennung.« Das Subjekt ist eine solche Evidenz, denn es ist »der fundamentale ideologische Effekt« 513 selbst. Althusser: »Wir behaupten, dass die Ideologie in einer Weise ›handelt‹ oder ›funktioniert‹, dass sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹.« 514 Terry Eagleton baut auf den Erkenntnissen von Althusser auf und verweist dabei in seinem Buch The Ideology of the Aesthetic auf die Parallele zwischen Althussers Verständnis von Ideologie und Kants Analyse ästhetischer Erfahrung. So wie für Kant die ästhetische Erfahrung auf geheimnisvolle Weise den Graben seiner ersten beiden Kritiken zwischen Äußerlichkeit (Notwendigkeit) und Innerlichkeit (Freiheit) überbrückt, so überbrückt nach Althussers Verständnis die Ideologie die Kluft zwischen der von außen auferlegten »Anrufung« und der inneren Freiheit des Individuums, sie anzunehmen, dadurch, dass die Annahme der Anrufung dem Subjekt als freie Entscheidung (von innen heraus) suggeriert wird. Eagleton glaubt mit seiner Wechsellektüre von Kant und Althusser ein Erklärungsmodell gefunden zu haben, das ihm Natur und Funktion der Ideologie per se offenlegt. Was ästhetische Erfahrung und ideologische Anrufung gemeinsam haben, kann mit einem Begriff von La Boétie als »servitude volontaire« benannt werden. Ästhetische Erfahrung in ihrer Kombination aus Unmittelbarkeit und Intuition, gesetzmäßiger Ordnung und sinnlichem Genuss steht bei Eagleton als Modell für die Art, wie ein neuer Typ hegemonialer Autorität idealiter das Subjekt ›anruft‹ : »in a condition where neither civil society nor the political state would seem to provide (uniting) values with a particularly plausible foundation.« 515 Das für Eagletons Ideologie-Interpretation entscheidende Moment in Kants Analytik des Schönen betrifft nicht das Harmoniegefühl in der ästhetischen Erfahrung des Subjekts anlässlich des für schön gehaltenen Objekts. Entscheidend ist die die Individuen übergreifende Dimension, welche die ästhetische Erfahrung als subjektive und allgemeingültige deklariert. Kant drückt das in seinem

512 513 514 515

Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, 140. Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, 141. Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate«, 142. Terry Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, Oxford: Blackwell Publishing 2000,

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

viel diskutierten Begriff des sensus communis aus. Er entfaltet ihn in seiner zweiten und dritten Definition des Schönen. 516 Wenn wir behaupten, etwas sei schön, dann, so Kant, verlangen wir eine universelle Übereinstimmung über dieses, was wir für schön halten. Wir sind davon überzeugt, ein universelles Recht zu haben, auf diesen Gegenstand das Urteil »x ist schön« anzuwenden. Der bedeutsame Umstand, den Eagleton interessiert, ist gerade, dass es sich dabei genau um eine »subjektive« und letztlich »gefühlte« Universalität handelt. Und genau diesen Aspekt einer »gefühlten« Universalität habe Althusser freigelegt, als er das Problem der Ideologie »from a cognitive to an affective theory of ideology« 517 umdefiniert hat. Nach diesem Wechsel der Untersuchungsperspektive könne die Frage nach der propositionalen ›Wahrheit‹ oder ›Falschheit‹ einer partikulären ideologischen Behauptung nicht länger als entscheidendes Kriterium beurteilt werden. Entscheidend ist der Umstand, wie Ideologien Subjekte in die Welt situieren und das in einem emotionalen Kontext der »Stimmung« / des Gestimmtseins oder, in direktem Bezug zu unserem Kapitel zuvor, durch Lustkoordinaten. In Anlehnung an John L. Austin sagt Eagleton, ideologische Behauptungen »[are] primarily a matter of performative utterances«. 518 Sie evozieren eine Naturalisierung von Umständen, die als common sense vorausgesetzt werden. Der Erfolg der Ideologie erweist sich daran, wenn sie nicht erkannt, sondern nur intuitiv gefühlt wird als das, was man so tut. Kants Analyse des Geschmacksurteils über das Schöne ist für Eagleton die beste analytische Matrix, die uns hilft, diesen nicht kognitiven, sondern »emotiven« Mechanismus von rechtstheoretischer Subjektivierung zu formalisieren. Ideologie zielt nicht auf Kompromiss oder Dialog. Sondern sie zielt auf ein »jeder weiß doch, dass …«. Es ist offenkundig, dass Eagletons emotiv-libidinöse Ideologie-Analyse, die er von Althusser übernimmt, auch Lacans Subjekt-Theorie nahe kommt. Denn darin liegt für Lacan der Wert von Freuds Entwurf einer Psychologie. Dieser zeigt, wie Bewusstsein sich in emotiven Koordinaten von Anrufung und Irritation entfaltet. Die Rede von »der Ideologie« kann man schließlich auch in Lacans Rede von der »symbolischen Ordnung« des großen Anderen übersetzen. Diese 516 517 518

Kant, KU, V, 295. Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, 17. Eagleton, The Ideology of the Aesthetic, 21.

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Ordnung steht mit dem Unbewussten als diejenige Außenstelle im Inneren des Ich – außerhalb der Zeit – in Beziehung. Der große Andere wäre dann in der Zeitlosigkeit der Primärprozesse des Unbewussten präsent, bevor das Ich der Sekundärprozesse sich als Erscheinung im Zeitfluss seiner Entwürfe begegnet. Was Althusser in seiner ideologietheoretischen Analyse als imaginäre Verzerrung beschreibt, ist grundlegend für Lacan. Denn es gibt kein Rechtssubjekt, das nicht in einer bestimmten phantasmatischen Verzerrung zu seiner Umgebung stehend sich von dieser imaginär auf sich zurückgespiegelt findet. Man könnte dies einen Teil des Hegel’schen Erbes nennen, den Lacan von Alexandre Kojèves Hegel-Vorlesungen aufgenommen hat. 519 Lacan wendet auf diesen Prozess seinen Term des Phantasmas an als Ergebnis eines phantasmagorischen Lückenfüllens in den immer auch enigmatisch bleibenden Momenten der Subjektivierung. 520 Wir werden später sehen, dass eine als performative Freiheitstat zu verstehende Verzerrung des phantasmatischen Rahmens durch exzessive Subjektivität bedingt wird. Diese performative Freiheitstat, die auch in Kants Theorem der Charakterwahl und der Gesinnungsrevolution anklingt, ist das Medium der uns bei Lacan besonders interessierenden transgressiven Selbstsetzung, die für ihn eine Neujustierung des Subjekts in den Koordinaten der Anrufung einleitet und die Gesellschaft, den großen Anderen bzw. das Allgemeine von der 519 Ein Zitat Kojèves verdeutlicht dieses Erbe: »Die menschliche […] Begierde [durch die und als die das Subjekt sich in Differenz zum Objekt konstituiert, D. F.] richtet sich nicht auf ein reales, ›positives‹ gegebenes Objekt, sondern auf eine andere Begierde. So ist zum Beispiel in der Beziehung von Mann und Frau die Begierde […] nur dann menschlich, wenn der eine Teil nicht den Körper, sondern die Begierde des anderen begehrt, wenn er die Begierde [des anderen] als Begierde ›besitzen‹ […] will, das heißt wenn er ›begehrt‹ oder ›geliebt‹ […] werden will. […] Eine Begierde begehren heißt aber, sich selbst an die Stelle des von dieser Begierde begehrten Wertes setzen wollen. Denn ohne diese Substitution würde man den Wert, das begehrte Objekt, und nicht die Begierde selbst begehren. Die Begierde eines anderen begehren, heißt also letztlich begehren, daß der Wert, der ich bin oder den ich ›repräsentiere‹, der von diesem anderen begehrte Wert sei: ich will, daß er meinen Wert als seinen Wert ›anerkennt‹, ich will, daß er mich als selbständigen Wert ›anerkennt‹« (Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, hrsg. von Iring Fetscher, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 1970, 14 f.). 520 Das Phantasma vollzieht aus innerpsychischer Spontaneität die eigentliche Vernähung zwischen dem Subjekt und der symbolischen Ordnung als der dem Subjekt evident erscheinenden Lebensform. Siehe dazu: Jacques Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten«, in: ders., Schriften II, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga 1991, 165–204.

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Ebene der Partikularität aus zu transformieren versucht. Trotz der Ähnlichkeit der Ansätze Lacans und Althussers steht Lacans Theorie an entscheidender Stelle der Ideologie-Konzeption Althussers entgegen. Für Lacan ist das »Fehlgehen« der Anrufung zentral, die die ideologische Vernähung bestimmt. 521 Lacan exemplifiziert dies in seinem »Graph des Begehrens« 522 (Abb. 1), den wir bis zu seiner sogenannten zweiten Stufe abbilden.

Abbildung 1: Graph des Begehrens

Das gespaltene Subjekt (rechts unten im Diagramm) muss die symbolische Ordnung des »großen Anderen« (A = Gesellschaft, Sittlichkeit, Kultur, die anderen etc.) so durchkreuzen, dass es am Ende dieser Durchkreuzung die Idealisierungen, die von (A) und seinem semantischen Autoritätsfeld (s(A)–A) auf dieses gespaltene Subjekt eingewirkt haben, hat verinnerlichen können. 523 In den Worten Žižeks:

521 Lacan vertritt die These, dass die Subjektivierung nicht Subjekte ›schafft‹, sondern das genau das Subjekt der Subjektivierung sozusagen entflieht. Was Althusser »Subjekt« nennt als Effekt der ideologischen Anrufung in Abgrenzung zur Rede vom Individuum, nennt Lacan das Procedere der Subjektivierung, dem es nie gelingt, das Subjekt ganz in der ideologischen Anrufung aufgehen zu lassen. Das Subjekt als Effekt der Ideologie umfasst nicht den Menschen in seiner Inkommensurabilität. 522 Vgl. Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens« (Graphik: 183.) 523 Vgl. Philipp van Haute, Against Adaptation. Lacan’s Subversion of the Subject, New York: Other Press 2002. Siehe ebenso Bruce Fink, Lacan to the Letter. Reading Écrits Closely, Minnesota: University of Minnesota Press 2004, 106–128.

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Das Subjekt, seine Subjektivierung und der erhabene Signifikant

»To refer to the terms of speech-act theory, the illusion proper to the process of interpellation consists in the overlooking of its performative dimension: when I recognize myself as the addressee of the call of the ideological big Other (Nation, Democracy, Party, God, and so forth), when this call ›arrives at its destination‹ in me, I automatically misrecognize that it is this very act of recognition which makes me what I have recognized myself as – I don’t recognize myself in it because I’m its addressee, I become its addressee the moment I recognize myself in it.« 524

Als Mangelwesen ist das gespaltene Subjekt ($) die verkörperte Frage seiner selbst. Es ist abhängig von anderen bzw. von dem sogenannten großen Anderen als Wissensfülle, der das Mangelwesen über sich selbst zur Teil-Aufklärung bringt. Dem gespaltenen Subjekt gegenüber steht der große Andere (A). Er ist – für das Kleinkind in den Erziehern repräsentiert – Hort der symbolischen Ordnung, wie er besonders durch die Sprache als Geflecht von Signifikanten (die Ausdrucksseite sprachlicher Zeichen) verkörpert wird. 525

Abbildung 2: C’est un message

Der große Andere steht nicht ausschließlich für die Sprache auf einer grammatikalischen Ebene von dem, wie man zu sprechen hat. Er steht Slavoj Žižek, Enjoy your Symptom! Jacques Lacan in Hollywood and Out, London / New York: Routledge Classics 2008, 14. 525 Die Abbildung enstammt der Sitzung vom 21. Januar 1959 von Lacans VI. Seminar. Vgl. Jacques Lacan, Le séminaire VI. Le désir et son interprétation, Paris: Editions de la Martinière / Le Champ Freudien 2013, 192. 524

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für das Wort in seiner monistischen Dimension als kreationistische Gesamtheit von Sinn und Bedeutung. Ebenso steht der Hort des großen Anderen neben der Sprache für das inferentielle Geflecht der Normen des »Man«, in dem das Subjekt – wie wir im Kant-Kapitel sahen – sich rückwirkend erkannt haben muss, um z. B. als legitim Handelndes im Lauf seiner Erziehung sich – wie von einer Außenperspektive des sozialen Feldes sehend – selbst spiegeln zu können. Der große Andere steht weder allein, noch ist er auf ein einzelnes Subjekt reduzierbar. Er ist dies auch dann nicht, wenn er sich in einzelnen Subjekten inkarniert (Eltern, Lehrer, Richter), da er Effekt eines Machtbereiches und Wissensfeldes der symbolischen Ordnung ist, welche Lacan in die Abhängigkeit vom Kreuzungspunkt s(A) als »dem Signifikanten des Anderen« stellt. Lacan unterstreicht im Vektor s(A)–A mit seiner dazugehörigen Vektorrichtung von links nach rechts bei gegenläufiger Durchkreuzung des Vektors $–I(A) von rechts nach links, dass die Bedeutung, oder sagen wir die Wissensfülle, die sich in A konzentriert, erst rückwirkend vom gespaltenen Subjekt begriffen sein wird. 526 Mit Hegel könnte man hier vom »Geist eines Volkes« sprechen, der »der wahre Grund« der sittlichen Pflichten des Subjekts sei. Oder mit einem Zitat aus der Berner Zeit Hegels: »Sein ist die Synthese des Subjekts und Objekts, in welcher Subjekt und Objekt«, aber auch Sollen und Wirklichkeit »ihre Entgegensetzung verloren haben.« 527 Der partikuläre Willensanspruch erscheint als kulturbedingter legitimiert, da er rückwirkend immer schon Teil lebenspraktischer und faktischer Wirklichkeit ist. Das Teilsein einer Praxis heißt, wie auch Pippin in Bezug zu Hegel darstellt, 528 einen bestimmten Status in dieser Praxis zu haben und durch diesen in seiner eigenen Innerlichkeit kognitiv ›formatiert‹ zu sein. Erst wenn das gespaltene Subjekt in die Welt des großen Anderen eingetaucht ist und – durch sie galvanisiert – wieder auftaucht, 526 Lacan entfaltet den gesamten Bogen A–s(A) mit seiner rückwirkenden Bedeutungssetzung in seinem ersten »Graphen« (vgl. Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten«, 178 f.) im Rückgriff auf die Sprachbewegung in der Artikulation eines Satzes (erste Stufe des Graphen). Erst vom Satzende her kann sich definitiv der Satzanfang und damit das Prädikat erschließen. Das Satzende definiert rückwirkend, worauf der Satz (vielleicht am Anfang noch vollkommen unbestimmt) ›hin getaumelt‹ ist. Bedeutung konstituiert sich retrospektiv als endliches Produkt des abgeschlossenen Satzes unter dem Bogen s(A)–A. 527 Hegel, »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«, Bd. 1, 274–418, hier: 326. 528 Vgl. Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, 97 ff.

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wird es begriffen haben, aus welchem normativen Geflecht der große Andere (bei Kant stünde hier beispielsweise das moralische Gesetz) seine Macht immer schon gerechtfertigt haben wird. Brandom beschreibt dies, wie wir sahen, analog. Der Mensch wird solange im Geben und Nehmen von Gründen trainiert, bis er gelernt hat, die »richtigen Spielzüge« autonom und scheinbar selbstverantwortlich in der symbolischen Ordnung, die sich um A herum strukturiert, zu vollziehen. Im selben Moment wird sowohl bei Brandom, als auch bei Hegel und schließlich auch bei Lacan das Subjekt erfahren haben, wie die Macht des Normativen im Rücken der Anerkennung seiner selbst immer schon anwesend gewesen ist als diejenige, die, zumindest für Freud und Lacan, als Teil seines Unbewussten ihm immer schon näher war als sein intentionales Bewusstsein hatte begreifen können. 529 In Bezug auf Lacan könnte man daher sagen, dass das Subjekt den großen Anderen A so gemäß der Subjektivierungsthese des Graphen rückwirkend erschlossen haben wird, wie es ihn dabei unbewusst gesetzt hat und wie das moralische Subjekt bei Kant sich eines Tages verantwortlich gefühlt haben wird für eine Unmündigkeit, für die es immer schon zu spät verantwortlich war. 530 Beim Eintritt in die symbolische Ordnung erlernt das Subjekt nahezu mechanisch »Gewissheiten«, die sowohl Anwendungskriterien als auch -vollzüge in einem sind. Der Mensch erlernt bestimmte Sprachspiele, z. B. das Rechnen. Diese erlernt er aber, ohne dass er auch lehrt und lernt, dass dieses Rechnen absolut gewiss ist. 531 Das Subjekt lehrt 529 Freud hält diesen Umstand in seiner Rede vom Über-Ich fest. Es ist die Rechtssubjektivität bedingende, im Rücken des intentionalen Bewusstseins stattfindende Hineinnahme der Elterninstanz in den Haushalt der Psyche (vgl. Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1982, 273– 330, speziell 302 f.). Béatrice Longuenesse hat in dem oben schon erwähnten Artikel »Kant’s ›I‹ in ›I Ought To‹ and Freud’s Superego« nachvollziehbar die Verwandtschaft von Freuds Über-Ich mit der Befehlsinstanz des moralischen Gesetzes in der Psyche des Kant’schen Subjekts aufweisen können. 530 Dass der große Andere auch gerade dann seine Autorität ausgeübt haben wird, wenn er sexuell übergriffig, unberechenbar, furchterregend oder hohl / machtlos ist, zeigen die verschiedenen Psychopathologien, denen sich Freud widmet: beim Rattenmann, beim kleinen Hans, bei Schreber, beim Wolfsmann. 531 Lacans Faszination an der Thematik von Regelbefolgung war auch in den Forschungen der Kybernetik seiner Zeit verwurzelt (vgl. Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds, 373–390). Sprechen war ihm prominentes Beispiel eines maschinellen Geschehens, in dem das »Subjekt des Unbewussten« als Regel-gelernte Sprechmaschine

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und lernt auch, worauf Heidegger im § 17 von Sein und Zeit hinweist, das Lesen von Zeichen und was es heißt, ein Zeichen aus einer Praxis der Rezeption zu verstehen. 532 Aber das Subjekt lernt dies, ohne dass es auch Gewissheit und Sicherheit lehrt und lernt, die dann erst das Verstehen von Zeichen in der Außenwelt verständlich machen. Wie Heidegger wiederholt betont, sind die faktische Praxis der Gewissheiten seiner Wahrnehmungs- und Sprachpraxis dem Subjekt die Praktiken selbst. Die symbolische Ordnung ist mit den Worten von Wilhelm Lütterfelds »Anwendungskriterium und erhält doch durch die Anwendung selbst erst ihren (neuen) kriteriellen Gehalt, so dass sie ihren Kriteriumscharakter verliert.« 533 Gewissheit ist für Lacan ähnlich wie beim späten Wittgenstein und bei Heidegger eine pragmatische Funktion von durch Sprachspielen vermittelten Praktiken. Diese Grundlagen einer Lacan’schen Epistemologie hier aufzuführen führt uns ins Zentrum der Thematik exzessiver Subjektivität. Denn diese Umstände zu verstehen, hilft uns alle Implikationen in Lacans Epistemologie zu umfassen, von der aus er die Selbsttranszendierung des Subjekts als Selbstsetzung im Durchbruch seiner Anrufungskoordinaten als neue Phantasmenwahl darstellt. Das Subjekt ist der Hort von Regelbefolgungen, z. B. in der Adaptation bestimmter Sprachspiele oder Praktiken. Aber es ist auch potenziell der Ursprung von Regelsetzung gegen Regelbefolgung. Die Sprachhandlungen, wie sie die symbolische Ordnung verbürgt, sind gemäß Lacans scheinbar antirealistischer Position primär. Ihnen liegt nichts voraus. (Lacan differenziert hier nie zwischen der Notwendigkeit der Rechtfertigung eines Sprachspiels durch seine Praxis und der wahrheitsfähigen Begründung desselben durch praxisunabhängige Wahrheitsbedingungen.) Innerhalb der Signifikantenketten gibt es nur Ähnlichkeit von Anwendungssituationen. Die Suche nach einer Notwendigkeit und Begründbarkeit hinter den Anwendungssituationen impliziert für Lacan die Sehnsucht nach dem Ich der Ich-Funktion voraus war. Im Seminar II und III geht er wiederholt auf die Thematik der Kybernetik ein. Wenn er dort behauptet, dass die »Sprache völlig unabhängig von uns existiert« (Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds, 361) so impliziert dies ein Verständnis vom »Unbewussten«, das gerade nicht auf sich die Eigenschaft von Privatheit vereinen kann. Das Unbewusste ist eine Fremdheit von außen ins Ich implantiert. 532 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 76–82. 533 Vgl. Wilhelm Lütterfelds, »Ich und Welt«, in: Revista Portuguesa de Filosofia, Bd. 58, Nr. 3 (2002), 581–604, hier: 589.

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einer Fundierung, die der Sprachhandlung als primärer Urgrund, der die Notwendigkeit verbürgt, vorausliegt. Lacan würde weder behaupten, hier einem Cartesianismus noch einem Skeptizismus zu folgen. Die Sprachhandlungen sind für ihn Teil ein und derselben Kommensurabilität und Inkommensurabilität, die Sprache als das Medium einer immer schon im großen Anderen verwurzelten phantasmatischen Selbstreflexion des Subjekts notwendig in sich trägt. Gerade dadurch aber spricht er dem Subjekt eine eigenmächtige subversive Performanzkraft der Normen- und Wert-Setzung zu, deren Begründung noch genauer in seiner linguistischen Sprachphilosophie weiter unten hervortreten wird. Dass Anrufungen nie in ›Reinform‹ stattfinden, d. h. ohne Bedeutungsreste von der Psyche verarbeitet werden, ist Lacan nicht nur bewusst. Er entfaltet den Graph des Begehrens in seiner scheinbaren Idealform der Subjektivierung vornehmlich mit dem Ziel, die Rechtssubjektivität gerade – im Gegensatz zu Althusser – auch von den Lücken der Anrufungen, von den inhärenten verstörenden Verzerrungen offenzulegen, die wiederum gerade die Unterwerfung / Subjektivierung betreffen und exzessive Subjektivität als das Strukturmerkmal einer jeden Subjektivierung ausmachen. 534 Die Lücken, Verzerrungen, enigmatischen ›Überbleibsel‹ haben eine Doppelfunktion: Sie zwingen das Subjekt, mit Phantasmen in einem vorauseilenden Gehorsam die Verzerrungen zu glätten, um sich so gegenüber einem Gesetz, das nicht immer ganz deutlich anruft, dennoch konkret zu positionieren. Und gleichzeitig markiert der »stain of traumatic irrationality« (Žižek), der aus der ideologischen Anrufung wie ein Fremdkörper herausragt, das Subjekt so, dass es sich auch durch diesen »stain« aus der Anrufung wiederum herauslösen kann. Von dieser Lücke, diesem »stain« und »leftover« her, kann das Subjekt trotz seines notwendigen Durchgangs durch die Subjektivierung sich auch wiederum lossagen, weshalb, wie Lacan Žižek interpretiert dies treffend: »[T]here is always a residue, a leftover, a stain of traumatic irrationality and senselessness sticking to it [= the ideological experience of Meaning and Truth, D. F.], and […] this leftover, far from hindering the full submission of the subject to the ideological command, is the very condition of it: it is precisely this non-integrated surplus of a senseless traumatism which confers on the Law its unconditional authority: in other words, which – in so far as it escapes ideological sense – sustains what we might call the ideological jouis-sense […] proper to ideology« (Žižek, The Sublime Object of Ideology, 43 f.). 534

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sagen wird, das Subjekt nicht ganz in der Anrufung aufgeht. 535 Dieser Umstand wird zentral für Lacans Theorie der Selbstsetzung und Selbsttranszendierung des Subjekts in seiner Rede von »la traversée du fantasme«. 536 Dieses Nicht-Aufgehen in der symbolischen Anrufung beschreibt Hegel explizit am Beispiel der symbolischen Rollen von »Vatersein« und »Sohnsein«. In der Wesenslogik heißt es: »Vater ist das Andere des Sohnes und Sohn das Andere des Vaters, und jedes ist nur dies Andere des Anderen; und zugleich ist die eine Bestimmung nur in Beziehung auf die andere«. 537 Hegel akzentuiert hier den antagonistischen Umstand symbolischer Identifizierung und zwar genau am Vater-Sein für den Sohn und am Sohn-Sein für den Vater. Was wie eine Tautologie anmutet, wird erhellend, wo in dieser Wechselbeziehung von Vater und Sohn in der Symbolisierung des Vaterseins und des Sohnseins eine Jenseitigkeit im »Für-sich«-Sein aufkommt. Hegel: »Der Vater ist außer der Beziehung auf den Sohn auch etwas für sich, aber so ist er nicht Vater; sondern ein Mann überhaupt […]. Die Entgegengesetzten enthalten insofern den Widerspruch, als sie in derselben Rücksicht sich negativ aufeinander beziehende oder sich gegenseitig aufhebende und gegenseitig gleichgültige sind.« 538

Auf die Evozierung einer Lücke im Moment der Versymbolisierung (Vater-Sein vs. »für sich«-Sein) verweist, wie gesagt, auch Lacan: Das Subjekt ist im Netz der symbolischen Beziehung etwas für den anderen – seine symbolische Bestimmung als Sohn oder Vater. Aber es ist gleichzeitig dasjenige, was es an sich ist, »abstrahiert von [… der] Beziehung zu anderen«. 539 Oder noch einmal anders von Žižek aus535 Žižek »Das Subjekt ist die Unmöglichkeit seiner signifikanten Einschreibung, es ist der retroaktive Effekt des Fehlgehens seiner signifikanten Repräsentation. Das ist das zeitliche Paradoxon des Subjekts des Signifikanten: Es wird durch einen Signifikanten repräsentiert, von diesem Signifikanten verfehlt, und dieses Fehlgehen ist das Subjekt. Das ist die Hegelsche Differenz von Substanz und Subjekt, der wahre Einsatz der These, wonach die ›Substanz als Subjekt aufzufassen‹ sei« (Slavoj Žižek, Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Wien / Berlin: Turia & Kant 2008, 96). 536 Siehe dazu besonders Lacans Seminarsitzung vom 24. Juni 1964: »In Dir mehr als Dich«. Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 277–290. 537 Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen, Bd. 6, 77. Das Zitat verdanke ich Žižek, der es in Verweilen beim Negativen (ebd., 110) auslegt. 538 Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen, Bd. 6, 77. 539 Žižek, Verweilen beim Negativen, 110.

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gedrückt: Erst in der Welt der symbolischen Formen kommt »der Widerspruch zwischen der Leere des reinen ›Fürsichseins‹ des Subjekts und den signifizierenden Merkmalen, die es für andere repräsentieren« 540 zum Vorschein. Es ist »meine ›Entfremdung‹ im symbolischen Mandat – in S1 – […], die retroaktiv $ – die Leere, die sich dem Zugriff des Mandats entzieht – aus meiner rohen Realität entstehen lässt«. 541 Von dieser Erkenntnis des eigenen Für-sich-Seins kann nun auch die Selbsttranszendierung des Subjekts in seiner Freiheitstat herkommen. Lacan entfaltet diesen Gedanken in einer von ihm im Seminar IX (L’identification) angeführten Differenzierung zwischen der indexikalischen Verwendung eines Begriffs bei gleichzeitiger symbolischlinguistischer Verwendung desselben. »Wenn ich sage: ›Mein Großvater ist mein Großvater‹ sollten Sie […] darin deutlich erfassen, dass das ganz und gar keine Tautologie ist: dass der erste Begriff ›mein Großvater‹ ein indexikalischer Gebrauch des zweiten Begriffs ›mein Großvater‹ ist, der wiederum nicht spürbar verschieden ist von seinem Eigennamen, z. B. Émile Lacan […]. Das betrifft alle Tautologien […], weil es sich hier um eine Frage der Beziehung zwischen dem Realen und dem Symbolischen handelt. Wenn ich behaupte, dass es eine Tautologie unmöglich gibt, dann ist dies nicht in dem Sinne so, dass das erste A und das zweite A zwei verschiedene Dinge sagen wollen. Das meine ich nicht, wenn ich sage, dass es keine Tautologie gibt. Es ist im Status selbst von A, dass darin eingeschrieben steht, dass A nicht gleich A sein kann.« 542

A ist als Symbol in der Identitätsgleichung A = A je schon von der Gleichung unabhängig in sich gespalten als Teil der Signifikantenkette. Das betrifft die Rechtssubjektivität der Psyche. Das Subjekt muss subjektiviert werden, aber gerade durch das Netz symbolischer BezieŽižek, Verweilen beim Negativen, 100. Žižek, Verweilen beim Negativen, 110. 542 Hervorhebung, D. F. Der Originaltext lautet: »Si je dis : ›Mon grand-père est mon grand-père‹ … Vous devez tout de même bien saisir là qu’il n’y a aucune tautologie, que ›mon grand-père‹, premier terme, est un usage d’index du deuxième terme ›mon grand-père‹, qui n’est sensiblement pas différent de son nom propre, par exemple Émile Lacan […] Ceci s’applique à toutes les tautologies […] car ici il s’agit d’un rapport du réel au symbolique. […] Si je pose qu’il n’y a pas de tautologie possible, ce n’est pas en tant que A premier et A second veulent dire des choses différentes que je dis qu’il n’y a pas de tautologie : c’est dans le statut même de A qu’il y a inscrit que A ne peut pas être A« (Jacques Lacan, Le séminaire IX. L’identification, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/ S9/S9.htm, Sitzung vom 6. Dezember 1961). 540 541

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hungen wird das Ich auf sich zurückgeworfen als das, was sich durch Selbstbezug zu dieser Ordnung auch in eine Distanz des Vorbehalts bringen kann. Das Subjekt kann bestimmen, wie die anderen es – sozusagen hinter seinem Rücken und bis in die Schichten seines Unbewussten hinein – bestimmt und geprägt haben. 543 Das hat politische Konsequenzen, die an Hegels Beschreibungen des Gefahrenpotenzials des Kant’schen freien Willens erinnern, der zu allem fähig sein, über alles sich hinwegsetzen kann. Von dem Bewusstsein dieser Lacan’schen Differenz aus kann das Subjekt es dazu gebracht haben, sich in den alten Koordinaten sozusagen ›abzuschalten‹ und sei es nur, weil sich die erwähnte Differenz verstörend in psychosomatischen Symptomen, neurotischen Ticks oder in nicht enden wollenden Albträumen zu Wort meldet. Axel Honneth sieht dies beispielsweise im Lebensweg von Ulrike Meinhof geschehen. 544 Aber auch Bernward Vespers auf seine Frau Gudrun Ensslin bezogene Rede von »Notstandsgesetzen von Deiner Hand« 545 drücken dieses Moment eines Sich- Abspaltens von den Koordinaten der ehemaligen Subjektivierung aus. Das Subjekt wird hier überformt als Instanz eines partikulären Ausnahmezustands. Diese Differenzierung bei Lacan markiert den Unterschied zu Althussers Theorie von Rechtssubjektivität durch »Evidenz« und »Wiedererkennung / Verkennung«. Subjektivierung ist bei Lacan nicht wie bei Althusser als die totalitäre Transformation vom »Individuum« zum in der symbolischen Form sich schließlich wiedererkannt habenden »Subjekt« zu verstehen. Subjektivierung bindet das Subjekt in die Normativität ein bei gleichzeitiger Evozierung eines Selbstentzugs, der dem Ich sein eigenes »für sich« erst deutlich macht. Und dieses Ich kann dann radikal die Subjektivierung durch den großen Anderen in Frage stellen und sich in diesem Prozess einer Lossagung vom vorgegebenen phantasmatischen Subjektivierungsrahmen in eine Gegenposition bringen, die das Ich als politischen und gefährlichen Außenseiter dastehen lässt. Gerade weil das Subjekt Žižek: »What, then, divides the subject? Lacan’s answer is simple and radical: its (symbolic) identity itself – prior to being divided between different psychic spheres, the subject is divided between the void of its cogito and the symbolic features which identify it in or for the big Other (the signifier which represents it for other signifiers)« (Žižek, Less Than Nothing, 555). 544 Vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit, 218. 545 Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, »Notstandsgesetze von Deiner Hand«: Briefe 1968/1969, Berlin: Suhrkamp 2009, 201. 543

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außerhalb der sozialen Beziehung scheinbar »nichts« ist, kann »nichts« hier zu einem »Nichts« substantiviert werden. Im »Nichts der reinen Selbstbeziehung« 546 kann sich eine Potenzialität entfalten, die die Welt des großen Anderen vor eine extreme Herausforderung stellen mag. Hegels große welthistorische Individuen (Caesar, Napoleon) können dafür nur zum Teil angeführt werden, da sie den situativen Kontext der hier entfalteten Theorie exzessiver Subjektivität nicht ganz treffen. Denn die welthistorischen Individuen sind oftmals mit Insignien symbolischer Wirkkraft ausgestattet, während exzessive Subjektivität vom Nichts der reinen Selbstbeziehung aus d. h. von einem Repräsentationsmangel ausgehend nach dieser Wirkkraft strebt. Besonders betrifft exzessive Subjektivität daher den politischen Kampf, in dem der Mangel von symbolischer Bedeutung und radikalem Selbstbezug zu einem politischen Effekt wird. Man denke beispielsweise an Martin Luther. Indem er den phantasmatischen Rahmen der römisch-päpstlichen Heilstheologie verwirft, fällt er sinnbildlich aus der soteriologischen Anrufungsstruktur des aristotelisch-thomistischen Weltbildes des 16. Jahrhunderts in einen Abgrund gottloser Häresie. Konfrontiert mit diesem in Kauf genommenen Schritt ins Nichts, tritt er in einem gewissen Sinne auch in das oben erwähnte »Nichts der Selbstbeziehung«. Dies bringt ihn in den Zugzwang, von dieser Selbstbeziehung aus einen neuen universellen Subjektivierungsrahmen und eine neue Theologie mit ihren bekannten und besonders auch Walter Benjamin fasziniert habenden kosmologischen Auswirkungen für das 16. Jahrhundert zu entwerfen. 547 Diesen Rahmen untergliedert Felix Ensslin im Vokabular Lacans in folgende vier Einzelmomente: »since a.) I [Martin Luther, D. F.] am structured by the Other, and b.) I have no access to the Other, and c.) I can only exist in the Other, it is d.) fully my responsibility to articulate my place in the Other without recourse to knowledge (of the absolute, of what the Other wants from me).« Ensslin fährt fort: »Only a confrontation with the designified signifier and its ghostly productions allows for a new subject to emerge Žižek, Verweilen beim Negativen, 110 f. Vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, 203–430. Benjamin spricht dort prominent von einer »leeren Welt« (ebd. 318), in die Luther die Gläubigen hineinstellt. Sie ist leer, da kein weltliches Medium und kein menschliches Arbeitsprodukt mehr den Weg zur Gnade Gottes bahnt.

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in the process of working through by taking up a truly designified signifier from the rubble of the reservoir of the Other«. 548 An der Schnittstelle von s(A) im Graph des Begehrens wird das Subjekt eingewoben sein in die inferentiellen Signifikanten, d. h. bedeutenden Zeichenträger und etablierten Normen. Mit Robert Brandom könnte man sagen: Das Subjekt hat vor dem Hintergrund eines gegenseitigen Kontoführens den Umgang und den Gebrauch der in Praktiken und Pragmatiken als begründet angesehenen Signifikantenketten erlernt. Lacan spricht darüber hinaus im Rekurs auf Hegels Herr-Knecht-Dialektik von einer normativen Wirkmächtigkeit vom Herrensignifikanten bzw. Herrschaftssignifikanten. Durch die Rede vom Herrensignifikanten unterstreicht er im Rekurs auf LéviStrauss’ Untersuchungen zu elementaren Strukturen der Verwandtschaftsbeziehungen, 549 dass das Geben und Nehmen von Gründen überhaupt nur dann eingeklagt werden kann, wenn es ein soziales Netz gibt, das unter Normen, wie z. B. dem von Lévi-Strauss analysierten Inzesttabu steht und von dem aus dann der ›Austausch von Worten‹ überhaupt erst stattfinden kann. In Bezug auf das von LéviStrauss analysierte Inzesttabu schreibt Lacan: »Hinreichend deutlich ist zu erkennen, dass dieses Grundgesetz mit einer sprachlichen Ordnung identisch ist. Denn keine Macht außer der sprachlichen Benennung von Verwandtschaftsgraden ist imstande, das System von Präferenzen und Tabus zu institutionalisieren […].« 550

Mit der Rede vom Herrensignifikanten hebt Lacan den Umstand hervor, dass das Spiel der Signifikanten nicht seinen eigenen Ursprung setzen kann und von einem nicht zu hinterfragenden Zentrum der Signifikation (»point de capiton« 551 genannt) ausgehen muss. Es braucht das Unterwerfungsmoment von Signifikation selbst unter ein Anderes ihrer selbst, das nicht wiederum Teil der Signifikation Felix Ensslin, »Accesses to the Real: Lacan, Monotheism, and Predestination«, 86 f. Siehe dazu Lacans Kommentare in: Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 83 ff.; Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 26 f., 159; Le séminaire XIV. La logique du fantasme, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/S14/S14.htm, Sitzung vom 25. Januar 1967. 550 Lacan, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders., Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga 1990, 71– 169, hier: 118. 551 Jacques Lacan, Écrits II, Paris: Éditions du Seuil 1999, 285. 548 549

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sein kann. 552 Da jede Rechtsordnung auf einer bestimmten Verflechtung von Signifikanten basiert, zeigt Lacan, wie sich das Subjekt in ein normatives Referenzfeld miteinander verbundener Inferentialitäten einbindet. Aber außerdem zeigt er, wie die symbolische Struktur der Signifikantenkette ihrerseits auf einem konkreten Ausgangspunkt aufruht, nämlich dem gerade erwähnten Herrschaftssignifikanten. Lacan nennt ihn auch in der symbolischen Funktion, aus der heraus dieser Signifikant seine Wirkungen ausbreitet, den phallischen Signifikanten oder auch den »Namen-des-Vaters«. 553 Das daran anschließende Wortspiel von »nom du père« und »non du père« veranschaulicht, wie für Lacan ganz in der Tradition Freuds die Rechtsstruktur aus der Familienkonstellation hinüber transgrediert in die soziale der Gesellschaft und so auf einem verdrängten Ursprung, besser: dem inneren Antagonismus am Ursprung der illegalen Rechtssetzung aufruht. Man denke hierbei z. B. an die Rede vom »Gesellschaftsvertrag« (Hobbes, Locke), an den Mythos von der »volonté générale« (Rousseau) oder, moderner, an die Theorie eines »veil of ignorance« (Rawls). Diese Theoreme strukturieren das Feld des Sozialen in normativen Setzungen. Lacans Rede vom »nom du père« steht nach der Meinung von Peter Welsen als »non du père« für jene Negation, »kraft derer die symbolische Ordnung das Sein der sich gegenüberstehenden Subjekte aus sich ausschließt.« 554 Welsen sagt hier, dass Subjekte überhaupt nur dann auftreten, wenn die symbolische Ordnung das ›wahre Sein‹ des Einzelnen (man denke an Freuds lakonische Rede von »His Majesty the baby«) vernichtet. Das Subjekt muss durch den Ödipuskomplex wie durch einen Flaschenhals, wenn es überhaupt Subjekt werden möchte. Das Gesetz der Signifikantenkette, das selbst seinen Ursprung setzt, »spaltet« zeitgleich auch das ›authentische Subjekt‹ vom Subjekt des Bewusstseins ab. Demzufolge besteht die eigentliche Bedeutung des – den Namen-des-Vaters einsetzenden – Ödipuskomplexes darin, den Menschen vermittels der »Metapher des Vaters als Prinzip

552 Žižek definiert den »point de capiton« treffend: »a word, on the level of the signifier itself, unifies a given field [and, D. F.] constitutes its identity: it is, so to speak, the word to which ›things‹ themselves refer to recognize themselves in their unity« (Žižek, The Sublime Object of Ideology, 105). 553 Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens«; Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 77. 554 Welsen, »Die Ethik des rechten Sprechens«, 688.

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der Trennung« 555 in die symbolische Ordnung (selbstentfremdend zu Gunsten von Identität) einzuführen. 556 Übrigens thematisiert auch Kant, zumindest indirekt, dieses Tabu des »non du père« am Ursprung der Rechtsordnung, wenn er verbietet, über den Ursprung des Gesetzes selbst zu »vernünfteln«. 557 So bestätigt er, was Lacan als die Verdrängung von S1 als die Begründungsautorität der Welt der Signifikantenketten, S2 genannt, bezeichnet, dass nämlich keine Begründung, sondern eine Setzung am Ursprung der Rechtsordnung liegt. 558 S1 ist Grund ohne Begründung. Eine Illustration dieses Gedankens mag der schlichte Hinweis deutlich machen, dass dem neugeborenen Kind Sprache als Hort des Wortes die Gesamtstruktur sinnvoller Bedeutungen (= S1 im Vokabular Lacans) ist. S1 ist in der Macht der Eltern, die dem Kind ihre Sprache auferlegen, schlicht und einfach nicht zu erschüttern. Es ist unbegründbar und doch Grund. In diesem Sinne wird S1 in seiner Allmacht notwendig abgeblendet und strukturell verdrängt. Wittgenstein artikuliert seinerseits diesen Gedanken, wenn er in seinen prominenten Anmerkungen zu Regelfolgen und den darin verborgenen aporetischen Beziehungen von allgemeiner Norm und individueller Anwendung derselben in einer unvergleichbaren Anwendungssituation in den Philosophischen Untersuchungen (§ 201) darauf hinweist, dass Regelfolgen nicht Urteilen beinhaltet. Wenn der Mensch urteilt, er sei beim Urteil über einen Sachverhalt dieser Regel oder einer anderen Regel gefolgt, dann folgt er im Urteilsbezug auf diese oder die andere Regel ja wieder einer Urteilsregel – und so Lacan, Schriften II, 229. Vgl. Welsen, »Die Ethik des rechten Sprechens«, 688. 557 Kant: »Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich: d. i. der Untertan soll nicht über diesen Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht (ius controversum), werktätig vernünfteln« (Kant, Die Metaphysik der Sitten: Rechtslehre, VI, 318). 558 Siehe Lacans Ausführungen zu seiner Rede von S1 und S2 in: Jacques Lacan, Le séminaire XVIII. D’un discours qui ne serait pas du semblant, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/S18/S18. htm, Sitzung vom 20. Januar 1970. In seinem Seminar XX. Encore definiert Lacan S1 als diejenige Entität, die »unter allen Signifikanten der Signifikant ist, von dem es kein Signifikat gibt, und der, bezüglich des Sinns, das Scheitern symbolisiert. Das ist der mi-sens, der indé-sens par excellence oder, wenn Sie noch wollen, der réti-sens« (Das Seminar XX. Encore, 87). Siehe auch Lacans Ausführungen im Abschnitt »Für Jakobson« (vgl. Das Seminar XX. Encore, 19–29). 555 556

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ad infinitum. Deshalb legt uns Wittgenstein nahe, die Sprache so aufzufassen, dass das mit ihr verbundene Urteilen an einem Punkt nicht mehr im Paradigma des Regelfolgens zu verstehen sei. Es gibt somit eine strukturell notwendig anzunehmende Inkommensurabilität in der Sprache in ihrer diskursiven Struktur, die wir Menschen als durch Sprache erkennende Wesen, nicht wiederum erfassen können, da diese Erfassung unter den Bedingungen eines immer schon endlichen Diskurses steht. In diesem Sinne ist – im Vokabular Lacans – S1 zu verstehen als Bedingung der Möglichkeit der Funktion des Sprechens, die notwendig strukturell abgeblendet ist. Das ist für die Thematik exzessiver Subjektivität bedeutsam, weil die Erkenntnis des Mangels der Rechtsgründung der etablierten Rechtsordnung ein politisches Subjekt (man denke noch einmal an Martin Luther) zum Aufstand gegen die bestehende Ordnung und deren phantasmatischen Rahmen bringen kann, einen Aufstand, den Kant als Bedrohung der Bedingung des Gemeinwillens für absolut inakzeptabel hält. Gerade weil keine Rechtsordnung einen zureichenden Grund für ihre Begründung vorbringen kann, weder ein Königtum von Gottes Gnaden noch eine »volonté générale«, ist überhaupt exzessive Subjektivität als moralischer Einspruch gegen das Etablierte immer und überall zu denken möglich. Der Herrschaftssignifikant hat die operative Aufgabe, das Feld der Signifikanten, das Feld der Hegel’schen Sittlichkeit und das Feld der kantischen Rechts- und Tugendlehre überhaupt als ein Kohärenz gebendes zu ›verankern‹, oder besser zu ›vernähen‹. Lacan spricht explizit von »suture«, Vernähung. 559 Mit dem Herrschaftssignifikanten erlernen wir, mit den Worten Wittgensteins ausgedrückt, nicht die »Praxis des empirischen Urteilens […], indem wir Regeln lernen«, sondern mit ihm (S1) wird »[e]in Ganzes von Urteilen […] uns plausibel gemacht«. 560 S1 ist theologisch gesprochen das Wort am Anfang der Schöpfung, welches die Vielzahl von Wörtern und Sprachen ermöglicht. Für die Etablierung dieses Ganzen, über dem ›das Licht nach und nach aufgeht‹, 561 steht bei Lacan der Herrensignifikant.

559 Der Begriff ist zentrales Thema in Lacans Seminar: Le séminaire XII. Les problèmes cruciaux de psychanalyse (auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/S12/S12.htm). 560 Wittgenstein, Über Gewißheit, 149 (§ 140). 561 Wittgenstein, Über Gewißheit, 149 (§ 141).

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Die Etablierung dieses Ganzen ist uns neben religiösen Ursprungsnarrationen auch aus politischen Gründungsgesten bekannt. Ein politisches Gemeinwesen zählt sich wie bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in einer mythischen Ursprungsformel »auf Eins« mit den Worten: »We the People«. Es hofft, eine Einheit deklarativ ›zu vernähen‹ mit dieser exzessiven Geste einer Art von Notstandsgesetz von eigener Hand und mit einem im Akt der Performanz letztlich nicht mehr zu hinterfragenden – und damit die Hinterfragung selbst abblendenden – Herrensignifikanten (S1). Die neue Einheit erschafft Subjekte einer selbstreferentiellen Anrufung, die in der Deklaration »We the People« performativ subjektiviert werden. Das »Spiel der Signifikanten« (S2), das Kultur und Sittlichkeit ist, nimmt vom Ursprung dieser Setzung dann seinen Lauf. Die Vor»Legalität«/Illegalität der Vernähung (bzw. mit Badiou gesagt der »Zählung-als-Eins« 562) muss abgeblendet, verdrängt werden. S1 fällt als Bedingung der Möglichkeit von S2 heraus aus dem Spiel der Signifikanten, das S2 ist. 563 Ins Konkrete übersetzt heißt das: Nur weil z. B. das politische Staatswesen der Vereinigten Staaten sich eines Tages deklarativ als »We the People« formiert hatte, konnten sich Individuen im Prozess der Subjektivierung als US-Amerikaner darin hinterrücks vom phantasmatischen Blickpunkt einer Zukunft aus wiedererkennen, der sie – für einige zumindest – mehr sein ließ als nur ein Kolonie des britischen Empires. 564 Diese »US-Amerikaner« waren erst US-Amerikaner im performativen Akt einer phantasmatischen Idealform ihrer politischen Repräsentierbarkeit, also nachträglich durch den Exzess ihrer Selbstdeklaration. Unter der Schirmherrschaft dieser »Vernähung« von »We the People« konnten sich anschließend im Vokabular Lacans verschiedene Semantikketten entfalten (S2a, S2b, S2c) austauschen (S2a + S2b = S2ab) und fortentwickeln (S2a1, S2a2 etc.). Die Stabilität jeder Einzelformation ist daBadiou, Das Sein und das Ereignis, 38 f. Vgl. Lacan, Das Seminar XX. Encore, 87. 564 Im Jahr 2011 fand in Philadelphia eine vom Temple American Inn of Court organisierte Konferenz von britischen und amerikanischen Rechtsgelehrten statt, die über die Legalität (oder Illegalität) der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung diskutierten. Diese war nach einem Medienbericht der BBC (mit dem Titel »Is the US Declaration of Independece illegal?«) »totally illegitimate and illegal. At least that was what lawyers from the UK argued«. Vertreter der Vereinigten Staaten vertraten, wen wundert es, die Gegenthese. Autoren des Berichts: Matt Danzico und Kate Dailey, erschienen am 19. Oktober 2011, http://www.bbc.co.uk/news/magazine-15345511. 562 563

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bei immer schon Teil des differenziellen Geflechts, das S2 als inferentielles Normengeflecht von Signifikanten ist und das so lange zu tolerieren ist, solange das, was S1 in seiner Performanz an seinen Ursprung stellt, nicht in Frage gestellt wird. Die Vernähung von »We the People« ist sowohl – wie Kant explizit in seiner Kritik an jeder Form revolutionärer Umbrüche sagt – unmöglich, weil sie außerhalb einer denkbaren, vernünftigen Normativität des gemeinen Willens steht. (Sie ist ja deklarativ S1. Wie sollte sie jenseits davon noch letztbegründet werden?) Gleichzeitig ist sie, wie Lacan ausführt und wie auch Kant im Anblick der Menschheitsgeschichte eingestehen muss – scheinbar nicht zu vermeiden. Weder kann man das momentum der Vernähung – übrigens von Lacan »count-as-one« in seinem Baltimore-Vortrag von 1966 genannt 565 – vernünftig letztbegründen jenseits seiner dezisionistischen Performanz, noch kann man sich der empirischen Wirklichkeit dieser Momente in der Geschichte entziehen, für die auch immer wieder scheinbar exzessive Subjekte einstehen (Paulus, the Founding Fathers, Lenin, Mao etc.). In diesem Akt der Setzung von S1 begegnen sich Ganzes und Ausnahme, Inneres (Inhalt) und Äußeres (politische Form) auf derselben Fläche, am selben Ort. 566 So wird, überspitzt formuliert, aus einem paradoxen Element oder, mit Hegel gesprochen, aus einem »sinnlose[n …] Laut« (PhG, Bd. 3, 27), welcher in seiner einfachen Identität als pure Glossolalie erscheinen mag, wie die Lautfolge »We the People«, der Beginn eines Neuen in der expliziten »Bewegung des Sichselbstsetzens« (PhG, Bd. 3, 23). S1 entspricht so der Bedingung der Möglichkeit fortfolgender Zeichenfolgen innerhalb einer sich je neu ausdifferenzierenden Systemstruktur. Oder mit Kant gesagt: S1 ist die Bedingung der Möglichkeit des Sozialvertrags, weil es Rechtssubjektivität eröffnet, ohne Subjekte ganz in sich vereinen zu können. Die verbleibende Mangelhaftigkeit des Subjekts, sein mögliches Getriebensein durch die eigene normativ nicht einholbare und pazifizierbare Exzessivität, kann dann auch die anti-normative Kraft sein, die aus der bestehenden Mangelstruktur des Politischen etwas herauszuholen vermag, was in der phantasmatischen

565 Vgl. Jacques Lacan, »Über Struktur als ein Einmischen einer Andersheit als Voraussetzung eines Subjekts«, in: ders., Struktur, Andersheit, Subjektkonstitution, hrsg. von Dominik Finkelde, Köln: August Verlag Berlin 2015. 566 Siehe zu dieser Thematik auch Jacques-Alain Millers Artikel: »Suture. Éléments de la logique du signifiant«, in: Cahiers pour l’analyse, Nr. 1 (1966), 37–49.

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Realität der Allgemeinheit nur als anstößig, ketzerisch oder als illegal auftreten kann. Das Reale bricht hier als Entblößung der Grenzen des Sinnes in den politischen Raum. Exzessive Subjektivität artikuliert diesen Einbruch des für die etablierte politische Doxa nicht Repräsentierbaren in die Grenzen des Repräsentierten. Dabei ist eben offenkundig, dass die Prämissen der herrschenden Wirklichkeits-»Halluzination« bzw. Repräsentation nicht alles abdecken konnten, was sie versucht hatten, durch Subjektivierungen zu leisten. Ein exzessives Subjekt wie Martin Luther, der selbst beispielsweise sein Gewissen zu einem übermächtigen Signifikanten deklariert (»Hier stehe ich und kann nicht anders«) und dem es gelingt, die »Gottesfurcht« zu einem neuen Signifikanten werden zu lassen, welcher eine ganze aristotelisch-scholastische Ontologie in die »Brennnesseln« 567 wirft, wie Lacan im Seminar VII sagt, mag dann in der Verteidigung der Reformation den Hegel’schen Weltgeist in eine neue Gestalt bringen, für die das ancien régime mit einem der Moderne inkompatiblen Heilsverständnis keinen Erweiterungsraum innerhalb seiner theologischen Prämissen sah. Lacan bezieht sich wiederholt im Seminar VII auf Luther. Ihn interessiert dessen Rede von der Nichtigkeit des Subjekts, welches – wie Luther in seiner Heidelberger Disputation von 1518 und in seiner Magnificat-Auslegung von 1521 verkündet 568 – kein Anrecht auf die Gnade Gottes hat. Luther werfe, so Lacan, die Tradition der klassischaristotelischen Ontologie in die »Brennnesseln«. So gelinge es ihm, den »ewige[n] Hass Gottes auf die Menschen, nicht allein auf die Schwächen und auf die Werke des freien Willens« zu richten, sondern auch einen göttlichen Hass zu evozieren. Dieser war »sogar vor der Erschaffung der Welt da«. 569 Über diese von Luther evozierte Gottesfurcht führt Lacan in seinem Seminar III aus: Man müsse »Poet oder Prophet« sein, um »von diesem wichtigen und ursprünglichen Signifikanten [der Gottesfurcht, D. F.] Gebrauch [zu] machen.« 570 Seinen Schülern rät er:

Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 155. Vgl. Felix Ensslin, Die Entbehrung des Absoluten. Das Subjekt der Nichtigkeit in Luthers Magnificat-Auslegung, Dissertation Universität Potsdam 2008. 569 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 155. 570 Jacques Lacan, Das Seminar III. Die Psychosen, Berlin / Weinheim: Quadriga 1997, 315. 567 568

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»Lesen sie ein wenig Luther, Sie werden sehen, wie weit die Macht der Bilder reicht, Bilder, die uns die vertrautesten sind, weil sie mit jener wissenschaftlichen Authentifizierung versehen wurden, die ihnen unsere analytische Alltagserfahrung gibt. Auf sie eben bezieht sich das Denken eines Propheten, der dermaßen mächtig ist in seiner Wirkung und die christliche Lehre von Grund auf erneuert, indem er unsere Bindungslosigkeit zum Ausdruck zu bringen versucht, unseren Sturz in eine Welt, in der wir verlassen sind. […] Luther sagt wörtlich – Ihr seid der Abfall, der aus dem Hintern des Teufels auf die Welt fällt.« 571

Von Freuds und Breuers Studien über Hysterie übernahm Lacan die Vorstellung, dass von der Psyche aufgenommene Erinnerungen sich gegenseitig überschreiben können. Freud und Breuer hatten gezeigt, wie die Latenzzeit zwischen einem potenziell traumatischen Ereignis und ihrer tatsächlich traumatischen Erfahrung für die Psyche von akzidenteller Natur sein kann. 572 Dies hat einen paradoxalen Wandel von Kausalstrukturen in zeitlicher Sequenz zur Folge, der auch unsere Hegel-Interpretation im zweiten Kapitel thematisierte. Auch im Bereich der Hegel’schen Sittlichkeit spielt Latenzzeit eine Rolle bzw. die Nachträglichkeit einer Kausalität. Ereignisse können die Erinnerungsschichten so umgestalten, dass das Lacan’sche Ich ebenso wie der Hegel’sche »Geist eines Volkes« sich akzidentell plötzlich in anderen Narrationszusammenhängen der eigenen Emanationsgeschichte vorfinden. 573 So wie es die Sozialstruktur in ihrem Ursprungsmoment tut (S1 = »We the People« / »Hier stehe ich und kann nicht anders«), zählt sich auch das Subjekt in Lacans Spiegelstadium als eine »virtuelle« Einheit in der notwendig sein Dasein verzerrenden Projektion auf eine sich erst nachträglich erfüllende Zukunft hin. 574 Die imaginär-phantasmatische und narzisstische Überhöhung seiner selbst verdrängt in der Zukünftigkeit seiner Einheit die zeitgleiche Erfahrung eines tatsächlich noch fragmentarischen Körpers und lädt das Subjekt mit einer Visions-»Gestalt« auf (Lacan erwähnt absichtlich

Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 115. Vgl. Freud, Studien über Hysterie, 184–195. 573 Freud und Breuer nehmen hier im Konzept der Nachträglichkeit eine These von Michael Dummett vorweg, die letzter in seinem Artikel »Can an Effect Precede its Cause?« aufstellt (in: ders. (Hg.), Truth and Other Enigmas, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1978, 319–332). 574 Vgl. Jacques Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: ders., Schriften I, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga, 61–70. 571 572

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

die Gestalttheorie), die es für Lacan wie einen inneren Ansporn, sein Ideal asymptotisch einzuholen, nicht mehr los wird. Dass sowohl im Spiegelstadium als auch im oben erwähnten Beispiel von »We the People« und in Luthers »Hier stehe ich und kann nicht anders« die Rechtsfunktion auf einer performativen Setzung beruht (wie es auch Hegel in Bezug auf das Heroenrecht, in Bezug auf seine welthistorischen Individuen und in den Leitfiguren exzessiver Subjektivität – Antigone und Sokrates – thematisiert), ist die eigentliche Pointe von Lacans Analyse der Strukturierung von Signifikanten in Abhängigkeit von einer Setzung, die sich jenseits ihrer Performanz einer metaphysisch-rechtlichen Letztbegründung entzieht. Das Setzungsmoment führt dann ebenso dazu, dass auch Erinnerungen sich gegenseitig umgestalten. Es unterstreicht gleichzeitig, dass es keinen Herrensignifikanten des Herrensignifikanten gibt, so wenig wie es eine Metasprache aller Sprachen gibt, die die Bewegung der Signifikanten durch feststehende »truth-maker« arretieren könnte. Über das Moment einer solchen Performanz schreibt Hegel an prominenter Stelle: »Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt, oder was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens, oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität […,] nicht eine ursprüngliche Einheit als solche, oder unmittelbare als solche, ist das Wahre. Es ist das Werden seiner selbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfang hat, und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist« (PhG, Bd. 3, 21).

Versucht eine performative Setzung das Diskursfeld für sich einzunehmen und es gemäß seiner Performanz zu totalisieren, mag diese Setzung wie ein »sinnlose[r …] Laut« (PhG, Bd. 3, 27) klingen. Sie, die Setzung, ist dann ein Lacan’scher Steppunkt, der die Struktur des Diskursfeldes mit einem überzähligen Element markiert. 575 Dieses Element ist dann zwar ein Element zu viel, aber als solches darauf ausgerichtet, über die Leere hinwegzutäuschen. Es deutet darauf hin, dass ein Feld seinen fundamentalen Antagonismus als »articulation of the inconsistency of the One« 576 nicht überwinden kann. Und doch 575 Diesen Hinweis verdanke ich Rosina Ziegler (unveröffentlichtes Manuskript). Zu Lacans Rede vom Steppunkt siehe beispielsweise: Das Seminar III. Die Psychosen, 316–324. Siehe ebenso: Schriften II, 180 f. 576 Žižek, Less Than Nothing, 771.

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Zeichen und »Gesetzeskraft«

ändert sich die Realität grundlegend, sobald dieses Element auftritt und seine Wirkung hinterlässt, sobald mit einem »Blitz« (PhG, Bd. 3, 19), wie Hegel sagt, eine neue Ordnung in Kraft tritt, z. B. durch die Formel: »We the People.«

Zeichen und »Gesetzeskraft« Der Herrensignifikant ist für Lacan, wie wir gesehen haben, in jeder Signifikantenkette derjenige Signifikant, der aus einer abgeblendeten Wirkung die Signifikantenkette gleichsam wie aus dem Hintergrund totalisiert. 577 Seine Funktion in der Signifikation markiert seine Abwesenheit. Er ordnet das zerstreute Feld, in dem sich die unzähligen Ketten von Gründen bewegen, durch einen nicht letztzubegründenden Akt der Setzung, den mehrere Philosophen des 20. Jahrhunderts wiederholt unter dem Terminus »Gesetzeskraft« als grundlegendes Gewaltmoment im Herzen des Normativen thematisiert haben. 578 Lacan erklärt diesen Prozess der Performanz einer Setzung gerade als Übersprung des Abgrunds der Grundlegung in der Verkehrung von Ferdinand de Saussures Verhältnis von Signifikat und Signifikant. 579 Während Saussure seinem Cours de linguistique générale gemäß 577 Lacan: »Um diesen Signifikanten [den Herrensignifikanten, D. F.] herum strahlt, gestaltet sich alles, in der Art jener an der Oberfläche eines Gewebes mit seinen durch den Steppunkt gebildeten kleinen Kraftlinien. Das ist der Konvergenzpunkt, der erlaubt, rückwirkend und vorauswirkend alles zu situieren, was sich in diesem Diskurs abspielt« (Seminar III. Die Psychosen, 316 f. Übersetzung leicht abgewandelt). 578 Vgl. Judith Butler, »Deconstruction and the Possibility of Justice: Comments on Bernasconi, Cornell, Miller, Weber«, in: Cardozo Law Review 11 (1990), 1715–1718; Jacques Derrida, Gesetzeskraft: der ›mythische Grund der Autorität‹, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. 579 Žižek sieht hierin Lacans Lösung des Dilemmas der Auflösung von Bedeutung durch eine Umkehrung der zeichentheoretischen Äquivalenz von Signifikanten gemäß Saussure durch die Theorie des Herrschaftssignifikanten. Žižek: »One can ascribe to every signifier a neverending series of ›equivalences‹, of signifiers which represent for it the void of its place of inscription; we find ourselves in a kind of dispersed, non-totalized network of links, every signifier enters into a series of particular relationships with other signifiers. The only possible way out of this impasse is that we simply reverse the series of equivalences and ascribe to one signifier the function of representing the subject (the place of inscription) for all the others (which thereby become ›all‹ – that is, are totalized): in this way, the proper Master-Signifier is produced« (Žižek, For They Know Not What They Do. Enjoyment as a Political Factor, London / New York: Verso 2002, 23).

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vom Zeichen als einer dichotomischen Verschränkung von Signifikat und Signifikant ausgeht, und dem Signifikat eine Vorrangstellung innerhalb dieser Dichotomie zuspricht, interessiert Lacan gerade die Nicht-Ableitbarkeit des Signifikats. Das Signifikat ist ihm ein sekundärer Effekt innerhalb eines durch Signifikanten und Herrensignifikanten abgesicherten Diskursfeldes. 580 Lacan sieht in der Inhaltsseite der Bedeutung keine Referenz auf einen jenseitig vom Netz der Sprache sich befindenden Wahrheitswert. Er sieht darin einen (flüchtigen) Effekt auf einer immer unabschließbar bleibenden Signifikantenkette. Der Terminus »Signifikat« bezeichnet nicht etwas Tatsächliches außerhalb der Sprache, sondern er ist ein Signifikant eines weiteren, ad infinitum. Dies ist von politischem Belang. Ideologische Anrufung, die ohne Sprache nicht auskommt, kann nie einen unbeschränkten Erfolg in der Unterwerfung von Subjekten aufweisen, da es schlicht und einfach auf für sie nicht den Herrensignifikanten des Herrensignifikanten oder – im Vokabular des Frege’schen referenziell-semantischen Realismus gesprochen – nicht »das Wahre« als absoluten Letztbezug zur Definition des Wahrheitswertes von Imperativen gibt. 581 So wie eine jede Erkenntnis nie ohne Teil-Abblendungen innerhalb ihres eigenen Erkenntnisbezugs vonstattengeht und somit – wie auch schließlich der mathematische Formalismus der frühen analytischen Philosophie erkannte – immer erkenntnisresistente Überschüsse zurücklässt, so gibt es auch im übertragenen Sinne in der ideologischen Anrufung immer einen »stain of traumatic irrationality and senselessness sticking to it.« 582 Dieser birgt eine dialek-

580 Siehe zu Lacans Saussure-Rezeption besonders: Jacques Lacan, »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud«, in: Schriften II, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga 1991, 15–55, speziell: 20–21. 581 Lacan nennt den ›Ort des Wahren und Einen‹ im Seminar XX. Encore das Phantasma einer »prä-diskursiven Realität«. Sie verkörpert, wie er schreibt »einen Traum, den Traum, dass an diesem Ort der Grund, die eigentliche ›Idee von Erkenntnis‹« liegt (Lacan, Das Seminar XX. Encore, 36). »Aber […] es gibt keine prä-diskursive Realität. Jede Realität gründet sich und definiert sich aus einem Diskurs« (ebd., 36 f.), wobei der Signifikant dieses Diskurses an seinem Ursprung »zuerst Imperativ [ist]« (ebd., 35). Diesen Gedanken summierend schreibt er: »Jede Dimension des Seins produziert sich im Kurrenten [besser: Verlauf, D. F.] des Diskurses des Herren, desjenigen, der, den Signifikanten vortragend, davon erwartet, was einer seiner nicht zu vernachlässigenden Bindungseffekte ist, der an dem hängt, daß der Signifikant kommandiert. Der Signifikant ist zuerst Imperativ« (ebd., 36). 582 Žižek, The Sublime Object of Ideology, 43.

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tische Doppelkraft. Er kann verhindern, dass sich das Subjekt ganz und gar dem Anderen an die Hand gibt (denn er verkörpert immer auch »senselessness« / Mangel an Sinn); aber er vermag auch das Gegenteil zu evozieren und das Subjekt besonders hörig und anhänglich machen. Žižek untersucht den letzten Umstand und er zeigt, dass gerade durch das Enigma des Anrufs via Herrensignifikant (präsent in den verschiedenen Offenbarungen, die im Namen von »Gott«, »König«, »Vaterland«, »Demokratie« etc. verkündet werden) das Subjekt verleitet sein kann, die Rätselhaftigkeit seiner Berufung, wie sie der »stain of traumatic irrationality and senselessness« bedingt, durch eigene Phantasmen und durch vorauseilenden Gehorsam zu überbrücken. Dies kann dazu führen, dass das Subjekt sich gerade umso mehr zu unterwerfen und sich bedingungslos dem großen Anderen gegenüber auszuliefern willig ist. 583 Die Problematik von Selbstreferenzialität, die in den Imperativen von Herrensignifikanten verborgen liegt (»Ich bin der ich bin«, Ex 3,14), hatte Bertrand Russell auf dem Feld der Logik in seiner von uns später noch zu analysierenden Kritik an Gottlob Freges Grundlegung der Mathematik im Aufweis des berühmten Mengenparadoxes nur mit einem axiomatischen »Denkverbot« des Selbstein-

583 Das Motiv vorauseilenden Gehorsams bei enigmatischer Anrufung exemplifizieren für Žižek und Eric Santner besonders mustergültig Franz Kafkas Romane. (Žižek und Santner beziehen sich dabei ihrerseits wiederum auf eine Debatte zwischen Walter Benjamin und Gershom Scholem aus den 1930er). Obwohl später auf diese Thematik noch genauer eingegangen wird, sei hier Folgendes schon erwähnt: Kafkas Romane inszenieren für die genannten Autoren die Paranoia auslösenden Konsequenzen nicht-dechiffrierbarer Anrufungen. Wie in Versuchskonstellationen zeigt Kafka, wie die Fragilität von Rechtssubjektivität zur Zeit der klassischen Moderne als Zeit gesellschaftlicher Umbrüche zu Tage tritt. Verschiedene Romanhelden Kafkas erfahren sich dadurch irritiert, nie genau zu wissen, was der große Andere und es selbst, das Subjekt, von sich – im verinnerlichten Blick des großen Anderen in ihm – sieht (vgl. Žižek, The Sublime Object of Ideology, 44 f., 181 f.). Siehe auch Eric Santner, Psychotheology of Everyday Life, darin das 2. Kapitel, 24–44. Jay Bernstein interpretiert die Moderne als das Verlorengehen eines sensus communis. Die moderne Kunst verarbeite, so Bernstein, diesen Verlust mit Hilfe der Form einer Trauer-sublimierender, Trauer-verarbeitender Kreativität (vgl. Jay M. Bernstein, The Fate of Art. Aesthetic Alienation from Kant to Derrida and Adorno, Cambridge: Pennsylvania State University Press 1992). Siehe auch die Analysen von Andreas Reckwitz besonders zum 20. Jahrhundert als einer Epoche der Ent-Universalisierung: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist-Metternich: Velbrück 2006, besonders Kap. 3.

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schlusses von Mengen in ihre eigenen Grenzen entschärfen können. Lacan hält dieses Denkverbot in Bezug auf die Sprache für vergeblich. Sprache kann nicht anders, als immer auch ihren Selbsteinschluss anzustreben, selbst wenn sie das in Paradoxa führt. Für Sprache gibt es Metasprache, jedoch keine jenseitige, sondern diejenige, die sie in ihren Faltungen in sich trägt, so wie die Klein’sche Flasche ihren Inhalt in ihrer Außenform umfängt. Sprache entfaltet sich in sich selbst. Sie ist immer auch Medium von pseudo-begründeten Selbstreferenzialitäten, die mangelhaft bleiben wie eine jede ideologische Anrufung auch. Sprache kreist um eine nicht einholbare Leerstelle, wie Lacan sagt. Unendlich neue Bedeutungsemergenzen entfalten sich um diese, wobei einige dieser emergierenden Bedeutungen dann auch durch eine sich selbst bezeichnende und das Russell’sche Denkverbot des Selbsteinschlusses beiseite schiebende exzessive Subjektivität eingefordert werden. Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal zusammen: Das sogenannte gespaltene Subjekt ($) muss die symbolische Ordnung des großen Anderen (A) an seinen neuralgischen Machtkoordinaten (Herrensignifikanten / points de capiton) durchkreuzen, um eine Ich-Identität zu entfalten. Durch die damit einhergehende ›symbolische Kastration‹, für die der von Lacan linguistisch gedeutete Freud’sche Ödipuskomplex steht, wird gleichzeitig ein Objektverlust des Ich sichtbar, oft psychoanalytisch sinnbildlich mit dem Verlust der Mutter als das Andere des Eigenen assoziiert. Dieser Verlust bindet das Subjekt in seiner Mangelerfahrung umso mehr an die Bedingungen der kulturell vermittelten Sinnordnungen. Wenn Mutter ›nicht alles‹ ist und Vater das Begehren zu ihr durchkreuzt, muss das Begehren durch die Sinnordnung der Gesellschaft (Sprache, symbolische Ordnung, Riten, Wissen), d. h. mit Hilfe eines Aufschubs auf ein Anderes (z. B. auf die Kultur als Sublimationsschauplatz) pazifiziert werden. Das Subjekt als traumatisch-unmögliches und weiterhin begehrendes entsteht dann gleichursprünglich mit der symbolischen Sinnordnung, die sich zeitgleich für dieses Subjekt aufgebaut hat. Eine Dialektik des Begehrens setzt ein, in der das Subjekt sowohl der Exzess von mehr ist, als die politische Ordnung kompensierend abdecken kann, als es auch gleichzeitig das Medium ist, das die symbolische Welt mit eigener Lebenskraft aufrechterhält. Nur durch den Einbruch dessen, was Lacan das Reale nennt, einen Einbruch, der innerpsychisch wie auch intersubjektiv möglich ist, können die tendenziell konservativen 296 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Antigone, Rosa Parks und der »Diskurs des Hysterischen«

Ordnungsstrukturen auf imaginäre und illegale Visionen / Horizonte hin überschritten werden. (Alain Badiou wird hierauf sein ganzes philosophisches Projekt als Philosophie des Exzesses aufbauen.) In diesem Sinne kann das pathologische Begehren eines Subjekts, man denke an Antigone, an Martin Luther, selbst ein Reales für die symbolische Ordnung werden und diese in einen Umbruch ihrer inferentiell scheinbar ewig abgesicherten Sinnbezüge ziehen. Indirekt ›profitiert‹ dann das inferentielle Normensystem der Gesellschaft von Exzessen des Subjekts zum Teil. Diese Zusammenhänge sind bei Kant und Hegel, wie wir aufgewiesen haben, immer schon angelegt. Dennoch liefert Lacan dazu sehr viel tiefer gehende Erklärungen im aufgewiesenen Zusammenspiel von Sprache, Signifikantenketten, phantasmatischem Durchbruch von Anrufungsbedingungen, aus denen ein ethisch-exzessives Begehren auftritt. Die Instanz des Lacan’schen Realen kann eine der Subjektivierung entgegenstehende Dimension markieren, wie es auch Subjektivierung wiederum befördern kann. Es kann das Individuum gegen sein Mandat und die Mandatsinstanzen im Überbau des großen Anderen aufbegehren lassen. Es braucht dazu nicht zwangsläufig inferentiell abgesicherte und wie von einem neutralen Beobachter aus nachvollziehbare Gründe, sondern Selbstreferenz und Selbsttransgression.

Antigone, Rosa Parks und der »Diskurs des Hysterischen« Welche Setzung schafft es, zur Voraussetzung zu werden? D. Henrich

Wie wir sahen, interpretiert Lacan das Subjekt als Kluft zwischen einem ihm nicht uneingeschränkt zugreifbaren Selbst-Sein und den symbolischen Rollen, die es auch als Kompensationen der mangelnden Zugriffsfähigkeit auf sich selbst einzunehmen versucht. Die symbolische Ordnung hat als ihrerseits differentielle Signifikantenkette eine Mangelstruktur, so dass auch die Mandate, die sie einfordert, fragile, zu hinterfragende Gebilde bleiben. Aus der Zwangslage einer nicht zu besänftigenden Differenz zwischen dem partikulären Anund-für-sich-Sein und den Mandaten im Fremden eröffnet sich eine unstillbare Dialektik des Begehrens. Sie drückt aus, inwiefern nur der 297 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

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›Speer die Wunde schließt, die er schlug‹ (Wagner). 584 Wundheilung durch das Medium der Verwundung (den Speer) nährt aufschiebend den Mangel im Subjekt, welches sein Dasein immer schon aus der Wunde erfährt. Lacan veranschaulicht diese Begehrensschleife in seinem sogenannten »Diskurs des Hysterischen«, der an unsere Anmerkungen zum Begehren der Antigone bei Hegel wie auch an den oben analysierten Graphen des Begehrens anknüpft. Dieser Diskurs, den Lacan in den Seminaren XVII (L’envers de la psychanalyse), XX (Encore) und XXI (Les non-dupes errent) erläutert, ist einer von vier Diskursbeispielen, mit denen er Begehrensformen der Psyche nach ihrem Mandat in Abhängigkeit von der symbolischen Ordnung durch vier verschiedene Koordinatenpunkte lesbar macht. 585 Alle Diskurse bedingen das Subjekt als zoon politikon, da sie jeweils das nicht harmonisierbare Zusammenspiel von symbolisch-inferentiell normativem Überbau (die symbolische Ordnung des großen Anderen) thematisieren, wie sie auch das durch eine Nicht-Koinzidenz gespaltenen Subjekt und dessen Begehren nach phantasmatischer Fülle der eigenen »Berufung« im Verhältnis zu Lacans Objekt klein a strukturell abbilden. Für die Stabilität politischer Doxa gefährlich kann von diesen vier Diskursen besonders der an dritter Stelle erwähnte »Diskurs des Hysterischen« werden. Er fordert nämlich das reflexive Selbstverhältnis von autonomineller Rechtssubjektivität durch eine Brüskierung heraus. Er ist von den drei anderen Diskursen (dem »Diskurs des Herrn«, dem »Diskurs der Universität«, dem »Diskurs des Analytikers«) für Lacan durch die Ahnung geprägt, dass der große Andere aufgrund eines in ihm verborgenen fundamentalen Mangels hochstapelt und dieses Hochstapeln dem hysterischen Subjekt, es und sein eigenes Mandat aufreizend, offenkundig geworden ist. Dieser Diskurs beschreibt treffend das Schicksal der Antigone, denn wenn der große Andere keine Schnittstelle des Verbürgens von Sinn ist, dann ist das Subjekt auf einer radikalen Suche an das phantasmatische Ob-

584 Der von Žižek vielzitierte Vers (vgl. zum Beispiel Žižek, Less Than Nothing, 231) entstammt Wagners Parsifal (3. Aufzug). »[D]ie Wunder schließt / der Speer nur, der sie schlug.« 585 Siehe besonders Jacques Lacan, Le séminaire XVII. L’envers de la psychanalyse, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http:// staferla.free.fr/S17/S17.htm, die Sitzungen 2 bis 5.

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jekt der eigentlichen, noch zu entdeckenden Sinnfülle gebunden – Objekt klein a. Um den »Diskurs des Hysterischen« zu verstehen, ist es hilfreich, als Einstieg mit Lacans Anmerkungen zum ersten Diskursmodell, dem »Diskurs des Herren« (Abb. 3), zu beginnen. Er liefert die Ursprungsform der für Lacan entscheidenden vier Koordinaten, die im Uhrzeigersinn ihre Variablen auswechseln. Der »Diskurs des Herren« beschreibt die Grundstruktur eines unstillbaren Begehrens des Subjekts bei gleichursprünglicher Abhängigkeit von einem phantasmatischen Objektrest: Objekt klein a. 586 S1 S2 ! $ a Abbildung 3: Diskurs des Herren

Das Schaubild liest sich wie folgt: S1 markiert bei Lacan die Totalität des Wissens, das als ein ›ganzes Systems von Sätzen auftritt, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen‹. 587 Dem gegenüber steht S2 für die Propositionen, die in diesem System als Ganzem artikuliert werden. Lacan spricht hier vom Wissen bzw. von der Batterie des Wissens. Das gespaltene Subjekt steht unterhalb von S1, weil das ›Ganze von Urteilen‹ trotz seiner axiomatischen Totalität das Subjekt nicht einfängt, abbildet oder vollkommen repräsentiert. Das Subjekt kann nie ganz subjektiviert werden aufgrund der abgründigen Wirkkraft seines Unbewussten. 588 Deshalb ist das Subjekt für Lacan auf 586 Lacan sieht Objekt klein a in Hegels Anerkennungs-Dialektik auftreten. »Es ist auf die artikulierteste Weise bei Hegel angezeigt, dass es [das Subjekt] ihn [den Anderen] braucht, damit der Andere es anerkennt, um von ihm die Anerkennung zu erhalten. Das heißt was? Dass der Andere etwas stiften wird, bezeichnet durch a, welches das ist, worum es auf der Ebene des Begehrenden geht. Darin besteht die ganze Sackgasse« (Lacan, Das Seminar X. Die Angst, 37). 587 Ich übernehme hier eine berühmte Formulierung von Ludwig Wittgenstein aus Über Gewißheit, 149 (§ 141). 588 Lacan drückt sein Verständnis des Subjekts als Spaltungseffekt des Symbolischen und folglich als Nicht-Identität reflexiver Selbstbeziehung im Rückgriff auf seinen »Rom-Diskurs« sehr präzise in seinem Seminar XI aus. Das cartesische Subjekt des Zweifels ist ihm hierbei Vorbild, weil dieses Subjekt durch den Mangel fundamentalster Gewissheiten in der Spannung seiner selbst hängt. »Das Unbewusste ist die Summe der Wirkungen, die das Sprechen auf ein Subjekt übt, auf jener Ebene wo das Subjekt sich aus den Wirkungen des Signifikanten konstituiert.« Lacan fährt fort: »Damit ist festgelegt, dass wir mit dem Terminus ›Subjekt‹ – und deshalb habe ich ihn auf den Ursprung zurückgeführt – nicht das lebendige für die subjektive Erschei-

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einen Rest verwiesen (Objekt klein a), einen Rest, der eine strukturelle Leerstelle verbürgt, die wiederum durch den »écran« 589 (›Screen‹ / Bildschirm) einer phantasmatischen Fülle des Seins überdeckt ist. Objekt klein a taucht auf, wo die Nicht-Koinzidenz mit S1 das Subjekt selbst phantasmatisch an ein Begehrensstreben seines zu erlangenden Selbstseins bindet. Phantasmatisch ist Objekt klein a, weil das Ich in Konfrontation mit seinen symbolischen Rollen (Vatersein, Tochtersein, Richtersein, etc.) notwendig erfährt, mehr zu sein, als das, was andere in ihm sehen. 590 Das Subjekt ist sowohl in dieser Spannung wie es auch diese Spannung ist. Es ist die Lücke zwischen fremden Rollen und unbestimmter Identität. Das Objekt klein a biegt phantasmatisch die immer wieder auflauernde Möglichkeit eines Zusammenbruchs von den Sinngebungen meiner symbolischen Rollen ab, wie es durch das Ereignis des Realen geschehen kann. Dies tut es, indem es die Abgründigkeit des Realen, dessen Negativität wie auf einem Fotonegativ positiv ins Weiße, ins scheinbar abschließende, Begehren-stillende Identifizierbare verkehrt. Das Phantasma verzerrt das Nichts, das die Sinngebungen des Subjekts bedrohen, zu einem ›Etwas‹, das dann als imaginäre Sinnkonstruktion zur Verfügung steht und ganz konkret begehrt wird: in einem Autor, in einem neuen Partner, in einem neuen Beruf. 591 Wenn, wie der Soziologe Yong Wang in seinem an die Studien von Jeanne Schroeder anknüpfenden Artikel »Agency: The Internal nung erforderliche Substrat meinen, auch nicht irgendwelche Substanz, oder ein Sein der Erkenntnis in Pathie, zweiter oder ursprünglicher, nicht einmal den Logos, der irgendwo Fleisch würde, sondern das cartesische Subjekt, das in dem Augenblick erscheint, wo der Zweifel sich als gewiss erkennt. Es zeigt sich also in unserem Vorgehen, dass die Grundlagen dieses Subjekts sehr viel breiter, zugleich aber viel unfreier sind bezogen auf die Gewissheit, die es verfehlt. Da, das ist das Unbewusste« (Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 132 f.). 589 Jacques Lacan, Télévision, Paris: Éditions du Seuil 1974, 19. 590 Dieses Mehr-Sein kann sich selbst nicht definieren. Dies hindert das Subjekt aber nicht, dennoch danach zu streben, wohlwissend, Objekt klein a markiert das Phantasma von Umrissen hinter einem Vorhang, ohne dass sich hinter dem Vorhang ein positiver Gegenstand zeigt. 591 Žižek vergleicht Antigones »monstrosity« mit ihrer Kompromisslosigkeit einer »direct identification of her particular/determinate desire with the Other’s (Thing’s) injunction/call« (Slavoj Žižek, Interrogating the Real, London / New York: Continuum 2006, 347). Antigone stehe für »the unconditional fidelity to the Otherness of the Thing that disrupts the entire social edifice. From the standpoint of the ethics of Sittlichkeit, of the mores that regulate the intersubjective collective of the polis, her insistence is effectively ›mad‹, disruptive, evil« (ebd., 344).

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Split of Structure« 592 darauf hinweist, wie beispielsweise ein homosexueller Mann oder eine homosexuelle Frau der heterosexuellen Norm der Gesellschaft dadurch entfliehen, indem sie – wie es im Englischen heißt – »in the closet« verweilen, dann erfahren sie von diesem Rückzugsort, inwiefern sie mehr als das sind, was die anderen in ihnen sehen. Der Wandschrank ›präsentiert‹ eventuell im noch Verborgenen eine identitäre Normativität vor ihrem Repräsentiertwerden in der etablierten Doxa. Erst wenn dieser Nicht-Ort, diese Leerstelle aus dem Jenseits des Ausgeschlossenseins tritt, kann eine um diese Leerstelle erweiterte soziale Ordnung entstehen. 593 Damit es dazu kommt, muss das Subjekt das Nichtrepräsentierte als Repräsentation notwendig setzen wollen. Oder anders gesagt: Das Subjekt muss wissen, dass das, was (für es selbst) vorerst ›nur‹ nicht-repräsentiert ist, im eigentlichen Sinne immer schon Repräsentation gewesen ist vor dem Horizont einer Zukunft seiner siegreichen Setzung. Es braucht eine Gewissheit, die mit dem eigenen phantasmatischen »Ding« zusammenhängt, dem Ding, von dem man eventuell auch gegen alle überzeugt ist, dass es wirklich ist, eine absolut gewisse objektive Maxime verkörpert: z. B. die eigene sexuelle Orientierung als objektive Norm des Allgemeinen oder, in Bezug auf Antigone, das Beerdigungsritual des Bruders, das vollzogen werden muss, weil es einfach unbedingt vollzogen werden muss. Wenn das Nichtrepräsentierte wirklich normativ vertreten wird, ohne dafür zeitgleich in Kontoführungen eine Bestätigung auf der Ebene der Repräsentation zu haben, dann könnte man sagen, dass es zur Kraft der Selbstsetzung als Umkehrung von Nichtrepräsentation zur Repräsentation bis zu einem gewissen Maße eine paranoide Verzerrung und einen Exzess des Setzenden braucht. Denn von welchem »Kontoführungsbuch« sollte der / die Setzende sich im Wissen bestärken können durch die Frage, ob die Norm, die er bzw. sie verteidigt – die eigene sexuelle Orientierung beispielsweise oder die Beerdigung des Bruders – wirklich Gültigkeit auf der Repräsentationsebene haben wird. Bei Antigone entdecken wir eine solche, gleichermaßen Lacan wie Hegel faszinierende Verzerrung. Aber wie wir auch schon im dritten Kapitel aufzuzeigen versuchten, ist auch schon Kant sich dieser Verzerrung bewusst, wenn er im Zentrum des moralischen Willens die Verzer592 Yong Wang, »Agency: The Internal Split of Structure«, in: Sociological Forum, Vol. 23, No. 3 (2008), 481–502. 593 Vgl. Wang, »Agency: The Internal Split of Structure«, 489.

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rung aller Verzerrungen, nämlich die Gesinnungsrevolution als den Ort einer Kluft im durch Reform trainierten Bewusstsein erwähnt. Gerade am Ort seiner Gesinnungssetzung ist das Bewusstsein an seiner scheinbar erhabensten Stelle eine von Kant bewusst offen gelassene Lücke. Die Gesinnungsrevolution ist eine paranoide Verzerrung einer Alltagssituation, in der ohne diese Verzerrung permanent die pathologischen Neigungen Oberhand hätten. Sie ist eine selbst ableitende und sich selbst performativ transgredierende Setzung, die das Subjekt überkommt. Wie Hegel aufwies, können die Gesetze, für die Antigone objektive Gültigkeit beansprucht, nur unzureichend Kontoführungen »im Licht des Tages« der Polis aufweisen. Die Mehrheit der Polis ist ja aus guten Gründen, d. h. aus Begründungen gegen Antigone. Das hindert letztere nicht, an ihrem Begehren nahezu paranoid festzuhalten und zwar gerade weil Antigone – gemäß dem »Diskurs des Hysterischen« – Gewissheit (und nicht nur Wissen) darüber hat, dass dem großen Anderen der verankernde Mittelpunkt seiner Legitimität mangelt. Bedeutsam ist für Lacan der Umstand, dass Antigones Haltung gegenüber Kreon sie jenseits eines rationalen Diskurses führt, in dem kollektive Normen der Polis vertretbar vorgebracht werden könnten. Das Stück transzendiert die binäre Alternative einer Antithese von Freiheit des Einzelnen und dem Recht auf die rituellen Familientraditionen auf der einen Seite, und Tyrannei und nüchterner Staatsraison auf der anderen. Antigone lässt sich nicht von ihrem »Ding«, von ihrem Begehrensobjekt abbringen, selbst, wenn dieses außerhalb der symbolischen Ordnung als ein undefinierbares »Gut« zu stehen scheint. Antigone ist unfähig, sich objets petit a als alternative und metonymisch zum eigentlichen »Ding« fungierende Begehrensobjekte aufdrängen zu lassen, die das Leben doch so angenehm machen können. Für Lacan ist »das Ding« eine Mischung aus Kants »Ding an sich« und Freuds Rede vom Ding am Nebenmenschen. Es ist dasjenige, das – für immer von uns getrennt – erst die symbolische Ordnung entstehen lässt in dieser Trennung. So wird die Tochter des Ödipus für Lacan zum Muster einer psychischen Krankheit, die so wesensmäßig zur exzessiven Dimension menschlicher Existenz gehört, wobei darin die eigentliche Tragik allen Lebens zum Ausdruck kommt: letzteres nicht zu umfassen. Man könnte auch mit einem anderen Wort von Lacan sagen: Antigone will das Reale. Mit dem Begriff des Realen verweist er, wie gesagt, auf eine nicht repräsentierbare und doch die Erscheinungswelt konstituierende Unterseite, die 302 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Antigone, Rosa Parks und der »Diskurs des Hysterischen«

so etwas wie ihr Abgrund und gleichzeitig Teil ihres Seinsgrundes ist. Antigones Begehren markiert einen nicht verhandelbaren, ja geradezu blind-radikalen Anspruch, die Realität unilateral auf ihren Sinnhorizont hin zu überdehnen. Antigone hat für Lacan eine eigenwillige tragische Vollmacht aufgrund ihres exzessiven Begehrens. Wenn wir bei Lacan den Terminus des Begehrens lesen, ist es wichtig, in diesem Kontext die Freud’sche Unterscheidung zwischen Trieb und Instinkt zu berücksichtigen. Nur der Trieb bildet eine Schnittmenge mit dem Begriff des Begehrens bei Lacan. Instinkte sind biologische Bedürfnisse wie Hunger und Durst. Sie verweisen auf ein relativ feststehendes und angeborenes Verhältnis zum begehrten Objekt. Triebe sind nicht unmittelbar an bestimmte Objekte gebunden. Freud schreibt in Abriß der Psychoanalyse: »Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen Triebe«. 594 Und in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse heißt es: »Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.« 595 Für Lacan ist Antigone eine große tragische Figur, weil sie sich nicht von diesem ihrem Begehren abbringen lässt. Indem sie dieses kompromisslos verfolgt, trennt sie sich von der symbolischen Ordnung Thebens. Wie Freud in seinen kulturphilosophischen Texten (Das Unbehagen in der Kultur, Totem und Tabu) offenlegt, birgt Kultur ein Gesetzesgeflecht, das versucht, diesen Trieb zu bezwingen. Bei Antigone greift dieses Korsett im eigentlichen, ihren Exzess disziplinierenden Sinne nicht mehr. Warum? Lacan sagt, weil ihre Position die Vorstellung eines obersten, aus der Sicht der symbolischen Ordnung vertretbaren Gutes transzendiert hat. Antigones Position legt offen, dass ihr Begehren als Geste des Exzesses, als Haltung, die nicht reintegriert werden kann in die symbolische Ordnung, eigentlich nicht von dieser Welt ist. Antigones Begehren zielt über die Grenzen menschlichen Begehrens, »über die ἄτη [das Unglück] hinaus«. 596 Das griechische Wort ἄτη versteht Lacan in einem weiteren Sinne als Unglück und Klage. Antigone stellt sich jenseits des Lustprinzips. Die Bevor-

594 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse: einführende Darstellungen, Frankfurt/ M.: Fischer Verlag 1970, 11. 595 Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders., Studienausgabe, Bd. I, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1982, 447–608, hier: 529. 596 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 316.

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zugung eines Totseins im Leben wird zur singulären Apotheose tragischer Transgression. Lacan: »Antigone zeigt sich als αὐτόνομος, reines und einfaches Verhältnis des menschlichen Wesens zu dem, als dessen Träger dieses sich wunderbarerweise vorfindet, nämlich jenes signifikanten Einschnitts, der ihm die unübersteigbare Macht gibt, allem entgegen zu sein, was es ist. […] Antigone treibt die Erfüllung dessen, was man das reine Begehren nennen kann, bis an die Grenze, das reine und einfache Todesbegehren als solches.« 597

Antigones Tat geht über eine Ethik des guten Lebens im aristotelischen Sinne hinaus. Was ihre Handlung für Lacan ethisch macht, ist, dass sie ihrem Begehren treu bleibt und die durch die symbolische Ordnung verbürgten Sinn-strukturierenden Verhaltensschemata außer Kraft setzt. Dabei nimmt sie eine paradoxe Position ein, die Lacan als eine Position »entre-deux-morts« 598 in seinem Seminar VII beschreibt. Zwar lebt Antigone in dem zeitlichen Abstand zwischen ihrer Entscheidung, sich dem Willen Kreons nicht zu unterwerfen und ihrem Selbstmord am Ende des Stückes, doch gerade dieses Leben, das sie zwischen diesen beiden Punkten führt, ähnelt für Lacan eher einem Leben, das wie von einem außer-symbolischen Ort geführt wird. Gerade dieses, ihr Leben zwischen-zwei-Toden, ist dasjenige, was ihr eine erhabene, damit aber auch für das Publikum eigentlich nicht fassbare und, wie Lacan sagt, schreckliche Schönheit verleiht. Aus kantischer Perspektive könnte man Antigones Handlung in dem Sinne verteidigen, dass sie sehr wohl für ihre Handlung »Kontoführungen« aufweisen könnte, selbst wenn die Gesetze aus den Urgründen archaischer Vorzeit stammen und sie, Antigone, offensichtlich dem Befehl der obersten Autorität in der Verteidigung dieser Urgründe zuwider handelt. Antigone könnte dabei für sich 1.) Neigungs- und Pathologieabstinenz beanspruchen im Verweis darauf, dass das Beerdigungsritual als verallgemeinerbare Handlungsmaxime getestet wurde, welche der Vernunft zufolge und nicht Kraft einer religiösen oder politischen Autorität (ius quia iustum und nicht quia iussum) allen Menschen zustehen sollte. Ebenso könnte Antigone 2.) Kreon nicht als König, sondern als Tyrannen anerkennen. Demnach wäre des Tyrannen Ziel nicht das allgemeine Gut der Stadt (und des Staates), sondern sein eigenes Interesse: Rache an einem politi597 598

Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 338 f. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 299, 324–343.

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schen Gegner. Gemäß dieser Auslegung könnte man behaupten, Antigone leiste zivilen Widerstand gegen ein frevelhaftes Tyrannengesetz und darin sei ihr moralisch recht zu geben. 599 Inwiefern sie aber neben zivilrechtlicher Kritik an Kreon auch zivilrechtlich berechtigt ist, aktiven Ungehorsam zu begehen, ist nicht ganz eindeutig mit Kants Ethik aufweisbar. 600 (Die Frage führt in zahlreiche Problematiken, die in der Sekundärliteratur thematisiert werden. 601) Unabhängig davon kann man Antigone dahingehend verteidigen, dass die tragischen Folgen des Verbots von Kreon und die Reihe von Toten, die daraus entstehen, letztlich beweisen, dass die Vernunft keineswegs Gehorsam einem Frevler wie Kreon schuldig ist. Kreon hatte kein Recht, Antigone zu verbieten ihren Bruder zu begraben, und Antigone hatte die Pflicht, Kreon ihren Gehorsam zu kündigen. Gegen eine solche kantische Interpretation könnte man einwenden, dass nicht eindeutig gesagt werden kann, wann der Souverän der Definition des Tyrannen entspricht. Braucht diese Definition nicht die Setzung einer Aspektwahrnehmung, einer Gesinnung? Angenommen, der Souverän wäre als Tyrann überführt, dann ist nicht eindeutig, welche Form von zivilem Ungehorsam Kant der Bevölkerung oder einzelnen politischen Aktivisten in diesem Fall zuspricht. Jeder Form von revolutionärem Aufruhr entsagt er kategorisch. Entscheidend aber bleibt die Frage, wer entscheidet, wann der König, Führer, Ministerpräsident etc. Tyrann und Verräter des Gemeinwillens ist? 602 Polyneikes war zweifellos Feind der Polis und hatte sein Bürgerrecht dadurch verloren. Verrätern der Stadt-Staaten das BeIch verdanke diese Hinweise Giovanni Pietro Basile. Im »Beschluss« der Rechtslehre weist Kant das Widerstandsrecht zurück: Vgl. MS, VI, 371 f. 601 Für einen Einblick in die Debatte und zur Verteidigung eines Widerstandrechts bei Kant siehe: Kenneth Westphal, »Kant’s qualified Principle of Obedience to Authority in the Metaphysical Elements of Justice«, in: Gerhard Funke (Hg.), Akten des VII. internationalen Kant-Kongresses, Bonn: Bouvier 1991, 353–366. Siehe ebenso Otfried Höffes Position in: Kant’s Cosmopolitan Theory of Law and Peace, 9 ff. 602 Die politischen Unruhen im Nahen Osten in den Jahren 2011 und 2013 haben die scheinbare Unmöglichkeit einer klaren Beantwortung dieser Frage aktualisiert. War Hosni Mubarak Verbündeter des Westens und Garant des Friedens, wie die damalige Außenministerin der Vereinigten Staaten Hillary Clinton verkündete, oder war er ein von den Vereinigten Staaten finanzierter Tyrann und Unterdrücker seines Volkes, wie der amerikanische Präsident Barack Obama zeitgleich nahelegte? Der Widerspruch in ein und derselben US-Regierung ermöglichte es dieser, jeweils auf der Seite der ›Sieger‹ zu stehen. Hillary Clinton erwähnt den Konflikt mit dem amerikanischen Präsidenten in ihrem Buch Hard Choices, New York: Simon & Schuster 2014, 331–362. 599 600

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gräbnis zu verweigern war rechtens. Daher ist der Chor gegenüber Antigone auch der Meinung, dass dem Gesetz zu gehorchen kein Zuwiderhandeln gegen das allgemeine Gut der Stadt bedeuten würde. Eine parallaktische Lücke eröffnet sich zwischen der richtigen Beurteilung von moralischer und legaler Pflicht, die vom Idealmodell einer »third-person perspective« 603 abweicht. Phantasmatisch ist das Modell des neutralen Beobachters, da es einen Ort außerhalb des Konfliktfeldes konstruiert, wobei – von dieser Perspektive nun – der Konflikt als solcher gar nicht mehr in seiner Aporetik, die Hegel und Lacan interessiert, in Erscheinung tritt. Die parallaktische Lücke mag belegen, inwiefern es eine oftmals durch Praktiken und Traditionen abgeblendete »Setzung« braucht (die von Antigone und die von Kreon), die dem Konflikt das Potenzial zuspricht, als solcher wirklich vor dem Risiko einer noch nicht normativ eroberten Zukunft ausgetragen werden zu können. 604 In einem gewissen Sinne wettet man hier um die Frage, wer der Sieger der Geschichte sei und von seinem Sieg und der damit einhergehenden normativen Hoheitsmacht aus die Geschichtsbücher schreiben darf, die anschließend die Prämissen der Perspektive aus seinem »Gesichtspunkt« bestimmen. 605 Ebenso könnte man in Bezug zur Französischen Revolution fragen, ob die Erstürmung der Bastille eine Form der Zivilcourage gegen ein tyrannisches ancien régime war oder nicht doch ein illegaler Angriff auf die herrschende Souveränitätsmacht, die als oberste Autorität Bedingung der Möglichkeit des politischen Austausches war. Wie Kant in der Rechtslehre betont (MS, VI, 214, 225, 220) gibt es keine legitime Form der Zivilcourage, wenn sie Staat und Sozialvertrag in Gefahr 603 Prominent vertreten durch Korsgaard in: »The Reasons We Can Share: An Attack on the Distinction Between Agent-Relative and Agent-Neutral Values«, in: dies., Creating the Kingdom of Ends, 275–310. Die Debatte zwischen »first-«, »second-« und »third-person perspective« ist komplexer als sie hier aus Platzgründen in Kürze dargelegt ist. 604 Vgl. diese Thematik auch in einem sehr viel größeren Untersuchungsrahmen, nämlich den der abendländischen Rechtsgeschichte bei: John M. Parrish, Paradoxes of Political Ethics: From Dirty Hands to the Invisible Hand, Cambridge: Cambridge University Press 2007. 605 Ein zeitgenössisches Beispiel konfliktueller Gesichtspunkte von Katastrophennarrationen, betrifft Israel und die besetzten Gebiete der Westbank, wo das Narrativ von Recht und Unrecht in Lehrbüchern von Palästinensern und Israelis die Unmöglichkeit eines gemeinsamen »neutralen« Narrativs verdeutlicht. Siehe den Artikel von Fouad Moughrabi, »Battle of the Books in Palestine«, erschienen in der Zeitschrift The Nation am 13. September 2001.

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bringt, da beide Bedingung einer jeden politischen Auseinandersetzung sind. 606 Daher ist anzunehmen, dass Kant Antigones Handlung als ungehorsam und staatsgefährdend verurteilet hätte. 607 Ebenso kann man fragen, ob die Gründung der Vereinigten Staaten ein Terrorakt gegen das Britische Empire oder eine souveräne Freiheitstat war. 608 Wir erwähnen diese Fälle, um die Beurteilung einer Situation noch einmal an den von Lacan hervorgehobenen Anrufungsrahmen von Subjektivität zurückzubinden. Von ihm aus können bestimmte Prämissen einer Beurteilungssituation entscheiden darüber, wie sich das Subjekt positioniert, Prämissen, die durch die psychoindividuelle Verankerung des großen Anderen im Unbewussten, in den Begehren-erzeugenden Anrufungen eine »neutrale« Beobachtung verunmöglichen und das Subjekt eben zur Anpassung oder zum Aufruhr bringen können. Denn, wie gesagt, das Subjekt geht nie ganz in seiner Subjektivierung auf. Antigone hat – wie wir schon bei Hegel zeigten – die Gewissensrevolution auf sich genommen und sich dafür entschieden, ihr Leben in den »Gesichtspunkt« / in die »Aspektwahrnehmung« einer aus der Zukunft herkommenden Normativität zu stellen. Lacan hat für diese eigene exzessive Form des Festhaltens des Subjekts an seinem Begehren bei gleichzeitiger Infragestellung des ›ganzen Systems von Sätzen, worin sich Folgen und Prämissen gegenseitig stützen‹, wie gesagt ein eigenes Formular entfaltet, das er den »Diskurs des Hysterischen« nennt (Abbildung 4). $ S1 ! a S2 Abbildung 4: Diskurs des Hysterischen

Die ersten beiden Koordinaten $ – S1 illustrieren, inwiefern das gespaltene Subjekt das ›System des Ganzen von Sätzen‹ (S1) nicht restVgl. Korsgaard, »Taking the Law into Our Own Hands«. Zu diesem Ergebnis kommt Brent Adkins, »Kant and the Antigone: The Possibility of Conflicting Duties«, in: International Philosophical Quarterly, Vol. 39, No. 4 (1999), 455–466. 608 Siehe Jacques Derridas Interpretation von sprachlich-performativen Rechtssetzungen in seinem Artikel: »Unabhängigkeitserklärungen«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, 121–128. 606 607

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los annimmt. Wenn das gespaltene Subjekt den Initiationspunkt links oben in der Graphik markiert, so weil es hier für Lacan trotz seiner Spaltung zum eigentlichen Agenten des Diskurses wird. 609 Im »Diskurs des Hysterischen« hat das Subjekt eine Stimme. S1 wird als mangelhaft erfahren. S1 mag »Geltung«, aber keine »Bedeutung« haben, um eine Formulierung von Gershom Scholem aufzugreifen, der in einem Brief an Walter Benjamin im Verweis auf Romanfiguren Franz Kafkas eine hysterische Verzweiflung derselben in Konfrontation mit Anrufungen bürokratischer, sich nicht rechtfertigen wollender Instanzen von der Statur S1 beschreibt. 610 S1 ›gilt‹ zwar, aber das Subjekt hat Illegitimität am Ursprung der Performanz seiner Macht erkannt und bevorzugt, mit einer Formulierung Hegels, sein Verweilen beim Negativen wie bei einer »Zauberkraft« (PhG, Bd. 3, 36). Das hysterische, gespaltene Subjekt $ rezipiert die performativen Machtgesten als ungenügend. 611 Wenn man den großen Anderen mit dem positiven, herrschenden Recht gleichsetzt, wie es Jeanne L. Schroeder tut, 612 dann wird dem gespaltenen Subjekt im Stande seiner Hysterie bewusst, dass dem positiven Recht ein wichtiges Objekt, Lacans Objekt klein a, fehlt. Schroeder nennt dieses treffend das moralische Moment, das vom positiven Recht nicht abgedeckt wird. 613 Nach Lacans Definition markiert Objekt klein a den konstitutiven Entzug einer Leerstelle innerhalb des Subjekts am Urgrund seines Begehrens. Dieser Entzug kann weder vom Ich, noch von der sozialen Ordnung zu einem das Begehren abschließenden Objekt gemacht werden. 614 Das Subjekt entfaltet ein eigenes Wissen aus der Bedrängnis 609 Der »Diskurs des Herren« unterwarf es einst unter die Gesamtheit seiner Wissensmacht. Im sogenannten zweiten »Diskurs der Universität« unterrichtet die Batterie des Wissens das Subjekt in den etablierten Wissenschaften und im »Diskurs des Analytikers« wird es nach seinem Begehren befragt. 610 Vgl. Gershom Scholem: 20. September 1934, in: ders. (Hg.), Walter Benjamin – Gershom Scholem. Briefwechsel 1933–1940, Frankfurt/M: Suhrkamp 1985, 175. 611 In den Worten von Žižek formuliert: »The hysterical subject is the subject whose very existence involves radical doubt and questioning, her entire being is sustained by the uncertainty as to what she is for the Other« (Slavoj Žižek, »Four Discourses, Four Subjects«, in: ders. (Hg.), Cogito and the Unconscious (sic 2), Durham: Duke University Press 1998, 74–113; hier: 81). 612 Vgl. Jeanne L. Schroeder, The Four Lacanian Discourses, London / New York: Routledge 2008, 149. 613 Vgl. Schroeder, The Four Lacanian Discourses, 149. 614 Schroeder: »In the case of positive law, the missing little a is nothing but the morality (content) that positive law has barred. In this case, however, the object of desire is not necessarily the collective goals of society identified in the university’s

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eines Leidens am Mangel im großen Anderen. Es wird von S2 repräsentiert und kann selbst zu einem positiven Gesetz werden. »In this discourse S2 is the barred subject’s own knowledge which now, for the first time, becomes accessible.« 615 Was hat das für Konsequenzen im Falle von Antigone? Man könnte sagen, dass Antigone von Sophokles als ein Subjekt des Zwiespalts inszeniert wird zwischen der symbolischen Ordnung (die ihr Rollen zuspricht als Mutter, Schwester, Frau, Polis-Mitglied) und ihrem Phantasma: notwendig mehr zu sein als diese Rollenzuschreibung: Trägerin eines Gesetzes der Unterwelt, das so unfassbar und undefinierbar ist, wie Objekt klein a phantasmatisch ist und auf das sie sich trotzdem verpflichtet fühlt. Für den eigentlichen Inhalt ihres ›Phantasmas‹ kann Antigone, wie wir schon bei Hegel sahen, keine propositionale Rechenschaft geben. Die Gesetze verflüchtigen sich in der Vorzeit der modernen Polis und sind im Paradigma der Staatsraison als nur ›intuitiv gefühlte‹ nicht anerkennungswürdig. 616 Antigone erkennt die Leerstelle im positiven Gesetz Kreons, das die Verdrängung ihres Begehrensobjekts zur Bedingung des eigenen Staatsverständnisses macht. So inszeniert Sophokles den Konflikt zwischen S1 als positivem Recht und dem hysterischen Willen, der an seinem mit Gewissheit erkannten Begehrensobjekt a kompromisslos festhält. Es markiert als Platzhalter eine universelle Identität gerade als Ausgeschlossenes. Und auch wenn der Streit um ein Beerdigungsritual die Bedeutung einer kontingenten Nichtigkeit hat – besonders gegenüber einer sich gerade als kriegerisch erfolgreich bewiesen habenden Polis – wird durch die Unnachgiebigkeit der hysterischen Antigone diese Partikularität im Laufe des Stückes zu einem immer bedeutungsträchtigeren Universellen. Am Ende der Tragödie ist es als Beweis der Illegitimität des positiven Rechts im Ganzen als objektivitätswürdig repräsentiert und auch ›kontoführungswürdig‹ geworden. Sophokles macht dies explizit, indem Kreon am Ende des Stückes verzweifelt seine Handlungen bediscourse. It is the subjective desire of the barred subject. In other words, the agent speaks from the position of the pain of this barring and her truth is that which is barred« (Schroeder, The Four Lacanian Discourses, 149). 615 Schroeder, The Four Lacanian Discourses, 150. 616 Um diesen Gedanken noch einmal zu erläutern: Niemand kann argumentativ unter der Diskursprämisse der Polis begründen, warum auch einem Staatsfeind die Beerdigung gebührt. Kreon möchte nicht das Beerdigungsrecht ganz abschaffen. Nur einem Feind der Polis steht es nicht zu.

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dauert und den Göttern der Unterwelt die von ihnen im Beerdigungsritual eingeforderten Ansprüche zuspricht. Zuvor aber stellte Antigone im phantasmatischen Festhalten an ihrem Objekt klein a die Gesamtheit des positiven Rechts in Frage und bereitete für Hegel durch ihre lebensbedrohliche Alles-oder-Nichts-Radikalität den Übergang zur nächsten Geistesstufe. Auch Rosa Parks’ Handlung, auf die wir im Kant-Kapitel wiederholt eingegangen sind, kann dem »Diskurs des Hysterischen« gemäß ausgelegt werden. 617 Auch sie hinterfragt die Anrufung der symbolischen Ordnung. Diese Infragestellung kann nach Lacans Formular, wie Žižek zeigt, wie folgt artikuliert werden. »Warum bin ich das, was Du mir sagst, dass ich bin?«: »›Why am I what you are telling me that I am?‹ – that is, which is that surplus-object in me that caused the Other to interpellate me, to ›hail‹ me as … [king, master, wife].« 618 Durch das Beharren auf der Position des gespaltenen Subjekts, kann das Handeln des Hysterischen als eines gelesen werden, das eine bestimmte Identität und die daran gebundenen sozialen Pflichten ablehnt. 619 Vgl. Wang, »Agency: The Internal Split of Structure«, 497–499. Žižek, The Sublime Object of Ideology, 113. Auf diese Weise schiebt der Hysteriker den »Herren« »into the point where he or she can find the master’s knowledge lacking« (Bruce Fink, The Lacanian Subject. Between Language and Jouissance, Princeton: Princeton University Press 1995, 134). S1 ist hier nicht Ausgangspunkt eines Weges, an dessen Ende das gespaltene Subjekt in seiner phantasmatischen Anbindung an Objekt klein a steht. Sondern das gespaltene, hysterische Subjekt beginnt die Aufeinanderfolge der Diskursmomente. Es destabilisiert das »etablierte Wissen« und produziert einen fundamentalen Mangel im großen Anderen selbst. 619 Terry Lovell konzentriert in seiner Analyse des Falls Rosa Parks ihre Aufmerksamkeit auf das Faktum, dass die Handlung, die Rosa Parks vollbracht hatte, selbstverständlich auch hätte ignoriert werden können. So war es ähnlichen Handlungen zuvor geschehen (vgl. Terry Lovell, »Resisting with Authority«, 1–17). Damit wird für Lovell deutlich, inwiefern historische Kontingenzen entscheidend sein können. Wang versucht seinerseits, Rosa Parks’ Handlung in der Abhängigkeit von einem zweiten Herrensignifikanten zu etablieren, der immer noch auf der Ebene einer Wandlung von Nicht-Repräsentation zu Repräsentation stehengeblieben ist. Er schreibt: »This second moment requires establishing another symbolic order with a new master signifier, that is to say, a Laclauian hegemony, a competing discourse« (Wang, »Agency: The Internal Split of Structure«, 498). Wang schlussfolgert anschließend: »These are the two moments of agency: first, as possibility manifesting itself in contingent acts and, second, the agentic potentiality is only actualized (as necessity) through a retroactively established discourse. Such a two-moment conception of agency rejects historicist reduction of a significant social and political event to its historical and situational circumstances and by doing so opens a space for social 617 618

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Die Selbstbenennung des Subjekts aus (s)einer Leerstelle

Die Selbstbenennung des Subjekts aus (s)einer Leerstelle (Lacan über Russell und Frege) Bisher wurde analysiert, wie Rechtssubjektivität genealogisch für Lacan in seinen verschiedenen Registern und in verschiedenen Appellstrukturen situiert ist. Dabei wurde sowohl die Abhängigkeit des Subjekts von »enigmatischen Signifikanten« erörtert als auch die Reflexartigkeit des Subjekts thematisiert, auf Appelle mit einer Haltung überstürzten Vorauseilens zu reagieren. Die paradoxale, vom Subjekt selbst unthematisch gesetzte Anerkennungsstruktur vor dem eigentlich mit Selbstreflexivität verbundenen Gestaltwerden seines Daseins in dieser Struktur hat sich für das Selbstverhältnis als entscheidend erwiesen. Ebenso haben wir im Verweis auf Lacans Graph des Begehrens gezeigt, wie dem Subjekt die symbolische Ordnung sowohl Anwendungskriterium z. B. seiner Sprache, seines reflexiven Selbstverhältnisses ist, wie sie auch durch die Anwendung selbst erst ihren kriteriellen Gehalt erhält. Das Subjekt ist von semantischen Autoritätspraktiken bestimmt, von denen es – sich galvanisierend – wie in einer erzwungenen, selbstentfremdenden Wahl die Anwendungskriterien seines eigenen Selbstverhältnisses entgegennimmt. 620 Ebenso haben wir wiederholt den für unsere Analyse einer Begründung exzessiver Subjektivität wichtigen Umstand offengelegt, dass das Lacan’sche Subjekt immer auch die Schwachstelle einer jeden symbolischen Ordnung ist. So kann es in einer Art exzessiver Selbstsetzung versucht sein, sich einen neuen phantasmatischen Rahmen der eigenen Rechtssubjektivität auch gegen die scheinbar unerschütterlich erscheinenden Prämissen der sich immer begründen könnenden herr-

transformational agency« (Wang, »Agency: The Internal Split of Structure«, 498 f.). Gegen Wang kann man einwenden, dass es nicht notwendig ein Zusammenspiel mit einem zeitgleich etablierten Herrensignifikanten geben muss. In Antigones Drama sieht man sehr wohl, dass Antigone sich auf keinen »großen Anderen« (im Sinne einer propositional verbürgten Gültigkeit) beziehen kann und dennoch – zumindest in Hegels Lektüre – einen Normativitätssprung einleitet, der erst nach der Tragödie erkennbar wird. 620 Was Lacan psychoanalytisch interpretiert, ist in der Soziologie unter der Rede von Verhaltenserwartungen und soziologischer Rollentheorie analysiert. Selbstbestimmung erweist sich durch relationales Handeln nach sozial auferlegten Praktiken konstituiert. Vgl. Diana Jeske, Rationality and Moral Theory. How Intimacy Generates Reasons, London / New York: Routledge 2008. Ebenso: Michael O. Hardimon, »Role Obligations«, in: Journal of Philosophy, Vol. 91, No. 7 (1994), 333–363.

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schenden Rechtsordnung zu verschaffen. Selbstreferentialität und Selbsttransgression erscheinen hier auf ein und derselben Ebene. Im Folgenden werden wir den zuletzt genannten Aspekt von Selbstreferentialität und Performanz, der auch bei Kants Gesinnungsrevolution eine bedeutende Rolle spielte, im Subjekt noch einmal konkreter auslegen. Selbstreferentialität und Performanz ist nicht nur im Hintergrund kollektiver Subjektkonstitutionen Teil der symbolischpolitischen Matrix (unser Beispiel war die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten: »We the People«), sondern für Lacan betrifft eine solche Selbstreferentialität auch das einzelne Subjekt (Martin Luther war hierfür ein Beispiel). Der Mensch ist trotz seiner Abhängigkeit von einer Welt der anderen bzw. des großen Anderen zur Selbstreferentialität berufen. Um das ethische und exzessive Moment in dieser Selbstreferentialität soll es hier noch einmal vertiefend gehen und zwar in Bezug auf Lacans Rezeption einer Problematik aus dem Kontext der frühen analytischen Philosophie. In den Texten Lacans finden sich wiederholt Kommentare zum mathematischen Formalismus, besonders in Bezug zu den Werken von Bertrand Russell und Gottlob Frege. 621 Diese arbeiteten bekanntlich mit David Hilbert und Kurt Gödel an einer in der Logik verankerten Begründung der Mathematik. Ein Grund für Lacans Interesse an diesem Begründungsversuch liegt in dem unser Thema exzessiver Subjektivität im Kern betreffenden Motiv der Selbstreferentialität. Er erkannte, wie seine im Verlauf dieses Kapitels noch zu bestimmende Ethik performativer Selbstreferentialität von frühen Grundlagendebatten über die Universalisierung axiomatischer Wissenschaftsmodelle in der analytischen Sprachphilosophie betroffen war. In dem, was Russell prominent in einem Brief an Frege 622 und dann in den Principles of Mathematics als Mengenparadox entfaltete, 623 sah Lacan einen Hinweis für seine eigene Philosophie, dass »Signifikan621 Lacan setzte sich mit dem mathematischen Formalismus und der Mengenlehre unter anderem durch den Einfluss der Mathematiker-Gruppe um Nicolas Bourbaki auseinander. Vgl. François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Hamburg: Junius 1996, 133–145. 622 Vgl. Bertrand Russell, »Letter to Frege«, in: Jean van Heijenoort (Hg.), From Frege to Gödel: A Source Book in Mathematical Logic. 1879–1931, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 1967, 124–125. 623 Vgl. Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, London / New York: Routledge 1992, § 106.

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Die Selbstbenennung des Subjekts aus (s)einer Leerstelle

tenketten« zur Instanziierung von universellen Rechtfertigungs- und Begründungsansprüchen je auf ihr Axiom und nicht auf metasprachliche oder idealsprachliche, platonische Universalien verwiesen sind. Ebenso erkannte er, dass »Signifikantenketten« auf Imperativen, Selbstreferentialitäten und Ausschließlichkeitsansprüchen beruhen, die ein Sprachspiel auf seinen Gebrauch verweisen, ohne die Vergewisserung eines hinreichenden Grundes in Anspruch nehmen zu können. Lacan war nie an der Etablierung einer eigenen Sprachphilosophie oder einer Epistemologie auf Augenhöhe der orthodoxen analytischen Philosophie interessiert. Ihn interessierte Sprache auch nur marginal unter axiomatischen, idealsprachlichen oder formalistischen Fragestellungen. Sprache interessierte ihn hauptsächlich als Strukturmedium des Unbewussten. Für ihn waren Psychopathologien der Beweis für die innere Zerrissenheit der Psyche, die sich durch verschiedene, auch epistemologisch freizulegende Funktionsrollen ergibt; Funktionsrollen, die die Psyche zu einer Kompromissstruktur innerhalb ihres eigenen aporetisch bleibenden Selbstverhältnisses zwingen. Unter einer solchen Rücksicht von Sprache als Strukturmedium des Unbewussten sah er in den Analysen verschiedener sprachphilosophischer Aporien, wie sie in den Werken Freges, Russells, aber auch in denen des späten Heidegger 624 geleistet wurden, Hinweise auf Inkonsistenzen, die nach seiner Meinung auch das in sprachlich strukturierten Semantiken lebende Subjekt / »Subjekt des Unbewussten« prägten. Diese Prägung hat ihrerseits Auswirkungen auf die Thematik transgressiver Rechtssubjektivität, weil diese durch die aporetisch bleibenden, sprachlich bedingten Selbstverhältnisse immer in einem prekären Zustand verweilt. Wie wir noch zu begründen versuchen werden, steht Lacans eigene Ethik für eine performativ-exzessive Selbstergreifung des Subjekts, eine Selbstergreifung, wie er sie in den Thematiken paradoxaler Selbstreferentialität innerhalb der analytischen Sprachphilosophie als epistemologisches Vehikel seines eigenen Gedankenganges entdeckte. Eine solche Selbstreferentialität ist zentral in unserem Erklärungsgang einer psychoanalytischen Fundierung exzessiver Subjektivität, die immer wieHeideggers Texte Unterwegs zur Sprache und Wegmarken stehen hier beispielhaft. Giorgio Agamben liefert dazu eine treffende Auslegung in seinem Buch Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, siehe besonders das Kapitel »Sechster Tag«, 91–103.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

der aus der noch näher zu bestimmenden Kraft der eigenen »AufEins-Zählung« ohne zureichenden Grund die normativen Wertigkeiten zwischenmenschlicher Sittlichkeit aufs Spiel setzt und doch gleichzeitig den Bereich etablierter Doxa auf neue Sinnhorizonte überdehnen kann. Da die Sprache, wie Lacan durch Debatten der analytischen Philosophie erfuhr, Momente einer Aporetik als Bedingung ihres (performativen) Gelingens aufweist, so schien es offensichtlich, dass auch das Subjekt bzw. das »Subjekt des Unbewussten« von diesen Aporien betroffen ist. Schließlich ist Sprache das Bewusstsein bedingende Medium selbstreflexiver Autopoiesis. Lacan legt dies in verschiedenen Anmerkungen zum Lügner-Paradox offen. 625 Sie stehen mit dem Mengenparadox Russells in der Problemverwandtschaft einer aporetischen Nichtzugehörigkeit im Akt einer Benennung, die Lacan zu verstehen half, wie das Subjekt in der Sprache an einer Grenze seiner selbst steht und diese Grenze es aufforderte, diese selbe auch – und das ohne Rückgriff auf einen großen Anderen – eventuell neu zu ziehen. Die Mengenlehre diente den Vertretern der frühen analytischen Sprachphilosophie als Modell einer Formalisierung sprachlicher Operationen. Frege nahm (u. a.) in den Grundlagen der Arithmetik (1884) an, dass jedem bedeutungsvollen Begriff ein bestimmter Gegenstand korrespondiere, wobei dessen Klasse bzw. Menge dessen Extension sei. 626 Er entwickelte dieses Klassen- bzw. Mengenmodell in seinem dem Logizismus verschriebenen Bestreben, die Arithmetik in der Logik zu begründen. Damit verbunden war der Versuch, in mathematischen Operationen primär antipsychologische sprachliche Operationen mit Wahrheitswerten in formalisierten Zeichenschriften zu sehen. So sollte offengelegt werden, inwiefern eine Proposition nicht durch ein Urteil erst seinen Wahrheitswert erhielt, sondern diese Wahrheit in der Proposition instanziiert wurde. Logische Gesetze seien nicht Gesetze eines psychologisch verstandenen subjektiven Denkens, sondern, wie Frege in seinem Artikel »Der Gedanke« schrieb, »die Gesetze des Wahrseins«. 627 Die schließlich durch Russells Men-

625 Vgl. Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 145–148; Lacan, Le séminaire IX. L’identification, Sitzung vom 15. November 1962. 626 Vgl. Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, Stuttgart: Reclam 2011, § 68. 627 Gottlob Frege, »Der Gedanke«, in: ders., Logische Untersuchungen, hrsg. von Günther Patzig, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, 30–53, hier: 30.

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Die Selbstbenennung des Subjekts aus (s)einer Leerstelle

genparadox im berühmten Brief an Frege und in den Principles of Mathematics offengelegte Unmöglichkeit der Selbstergreifung / Letztbegründung der Sprache jenseits ihrer Performanz und die sich daraus ableitende operative Legitimität sprachlicher Referenz in nicht logizistisch reduzierbaren Sprachspielen 628 schien Lacan analog auf die Unmöglichkeit der Selbst-Ergreifung / -Begründung des Subjekts in seiner von Sprachperformanz abhängigen Existenzweise zu verweisen, eine Performanz, die von Lacan – der Unmöglichkeit der Selbstergreifung zum Trotz – als Assertion antizipierter Gewissheit (bei gleichzeitigem Mangel an Gewissheit) verstanden wurde. Ein Grund, warum Russell überhaupt die Problematik einer »class of all those classes which are not members of themselves« 629 analysierte, war, wie erwähnt, die Hinterfragung des Unternehmens Freges, der die Arithmetik unter eine begrenzte Anzahl universal gültiger Gesetze der Logik zu subsumieren versuchte. Darin lag der später auch von Gödel, von Quine und dem späten Wittgenstein grundsätzlich hinterfragte Anspruch, widerspruchsfrei eine axiomatisch-begründete, formalistische Metaphysik philosophieanalytisch zu konzipieren. Bei Frege führte diese teilweise in einen platonischen Logizismus. Das Russell’sche Paradox legte dann jedoch zu Freges Schrecken offen, inwiefern diese Subsumption als Bedingung der Referenz selbst nicht unter einen generellen Begriff fiel. Das besagt schließlich das Paradox: wie hinter der Möglichkeit der Zugehörigkeit von Einzeldingen zu einer universellen Menge, unter welche diese subsumiert werden, eine paradoxale Nichtzugehörigkeit der Menge zu sich nach ihrer eigenen Benennung impliziert ist. Bei einer »Menge von Menschen« tritt dies nicht auf, da sie nicht selbst ein Mensch ist. Und der Selbsteinschluss mag nicht immer unmöglich und paradoxal sein, wie das Beispiel einer »Klasse von Ideen« 628 Bertrand Russells Entfaltung des Mengenparadoxes bezieht sich auf das von der Mengenlehre betonte Verfahren, dem gemäß Prädikate sich auf abstrakte Entitäten beziehen. Über einen singulären Term / Gegenstand (x) wird etwas Generelles, ein Begriff ausgesagt (F), der in einem Prädikat als Eigenschaft oder Relation festgehalten wird: F(x) = Es existiert ein x, welches die Eigenschaft F hat. Diese Art der Subsumption von partikulären Objekten (alle roten Gegenstände fallen unter die Menge der roten Gegenstände) aber auch von Eigenschaften und Relationen kann als ursprüngliche Operation sprachlicher Referenz angesehen werden. Konkrete Entitäten instanziieren abstrakte Entitäten. Eigenschaften existieren unabhängig von ihrer Instanziierung. 629 Bertrand Russell, »Mathematical Logic as Based on the Theory of Types«, in: American Journal of Mathematics, Vol. 30, No. 3 (1908), 222–262, hier: 222.

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verdeutlicht. Sie mag sehr wohl selbst als eine »Idee« verstanden werden. Russell entdeckte jedoch, dass, wenn die die Selbstreferentialität betreffende Rede auf die »Menge aller Mengen« fiel, »die sich selbst nicht enthalten«, eine Aporie auftrat. Enthält diese sich nun selbst, dann »enthält sie sich« im Widerspruch zum Kriterium der definitorisch festgelegten Nichtenthaltung. Und enthält sie sich nicht, dann ist sie nicht die »Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten«, denn eine Menge – nämlich sie selbst – ist nicht eingeschlossen. Da aus Freges Klassenbegriff somit ein Widerspruch entstand, schien die Ableitung der Arithmetik aus einem logischen System nicht haltbar. 630 Lacan schreibt dazu nahezu amüsiert in seinem Seminar IX (L’identification) in der Sitzung vom 24. Januar 1962: »Und es ist hier, dass die Logiker sich den Kopf zerbrechen, um zu begreifen, was sie sich sagen: enthält sich nun diese Menge aller Mengen, die sich selbst nicht enthalten, selbst oder enthält sie sich nicht? Im ersten wie im zweiten Fall gerät man in einen Widerspruch. […] Das mag ihnen ziemlich kindsköpfig anmuten [sembler … bébé] aber die Tatsache, dass das die Logiker – bis an den Punkt, wo sie aufgeben – umtreibt und diese Art von Menschen, die nicht vor einer dummen Schwierigkeit innehalten, hier spüren auf einen Widerspruch zu stoßen, der ihr ganzes Gebäude zum Einsturz bringen kann, das alles kommt daher, weil hier etwas gelöst werden muss. Und das betrifft […] nichts anderes als die einzige Sache, die die hier in Frage stehenden Logiker nicht ganz im Blick haben: sie wissen nicht, dass der Buchstabe, den sie für sich anwenden, etwas ist, das Kräfte in sich trägt, eine Antriebskraft, die ihnen, den Logikern, ganz und gar nicht bekannt / gewohnt ist.« 631

Die Logiker und allen voran Russell begreifen nicht, so Lacan, dass der Buchstabe als Signifikant per se eine Kluft aufreißt, die alle Zeichen schon immer als Effekt eines holistischen Zeichensystems, in dem sie Teil sind, betrifft. Die Benennung birgt (in selbstverständlich Vgl. Russell, Principles of Mathematics, § 106. Lacan, Le séminaire IX. L’identification, Sitzung vom 24. Januar 1962, Hervorhebung D. F. Lacan schreibt anschließend: »Car- si nous illustrons ceci en application de ce que nous avons dit qu’il ne s’agit de rien d’autre que de l’usage systématique d’une lettre –, de réduire, de réserver à la lettre sa fonction signifiante pour faire sur elle, et sur elle seulement, reposer tout l’édifice logique, nous arrivons à ce quelque chose de très simple, que c’est tout à fait et tout simplement, que cela revient à ce qui se passe quand nous chargeons la lettre A par exemple, si nous nous mettons à spéculer sur l’alphabet, de représenter comme lettre A toutes les autres lettres de l’alphabet« (ebd.).

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nur bestimmten Fällen) sowohl Anwendungskriterium als auch Anwendungsfall in einem und kann daher Form und Inhalt separat selbst instanziieren. Eine ›Begründung‹ des Buchstabens hinter der Performanz seiner Setzung, d. h. ›hinter‹ der Signifikantenkette, die er notwendig als holistisches Ganzes, ohne dass dieses letztbegründet sei, aufreißt, gibt es für Lacan nicht. Mit einem Querverweis zu Hegel könnte man sagen: So wie für den Idealisten der Begriff als in sich gefaltete Form genealogischer Reflexionsprozesse durch seine Faltungen und Windungen wie die Klein’sche Flasche Inhalt und Form in einem ist, ist dies auch schon für Lacan beim singulären Signifikanten der Fall. Und so wie der Hegel’sche Begriff die Inhalt-Form nie abschließen, nie in einem sich zuzählenden Einschluss obendrein selbst ganz umfassen kann, liegt auch für Lacan im Nichtabschluss des Signifikanten die »Antriebskraft« 632 des Buchstabens. Insofern gibt es auch nicht den Signifikanten als ein von der Inhalt-Form ablösbares Abstraktum in einem ›Jenseits‹ der Semantik, z. B. in einem Frege’schen Wahrheitswert des Wahren. Die Semantik verkörpert diese Jenseitigkeit in sich. Das scheint Lacan auszudrücken, wenn er schreibt: »[L]a lettre […] c’est quelque chose qui a en soi-même des pouvoirs.« 633 Hegel hat diesen nicht abschließbaren Begehrensprozess in der Ausprägung sich immer wieder überholender Kategorien eindringlich in seiner Logik ausformuliert. Die Bezeichnung der Menge ist für Lacan primär, ihr geht keine Notwendigkeit voraus. Die Beziehung von Regel und Fall ist, sozusagen, analytisch und synthetisch in einem. Paradox und Aporie sind Teil der Sprache. 634 Die der Sprache dabei eigen-seiende ›holistisie632 Die »Antriebskraft« interpretiert Lacan nicht nur zeichentheoretisch gemäß seiner Differenzphilosophie. Er interpretiert sie auch psychoanalytisch, wenn er den Signifikanten als Medium des »Subjekts des Unbewussten« interpretiert. Das Unbewusste eignet sich ja Signifikanten auf eine eigene Art und Weise an und legt somit seinerseits eine Begehren-bedingende Antriebskraft offen. Lacan schreibt in »Die Wissenschaft und die Wahrheit«: »Die Psychoanalyse definiert den Signifikanten als etwas zunächst wie getrennt von der Bedeutung Agierendes. Darin besteht der Zug der Buchstäblichkeit, der den kopulatorischen Signifikanten, den Phallus, spezifiziert, wenn er, außerhalb der Grenzen der biologischen Reifung des Subjekts aufstehend, wirksam sich einprägt, ohne doch das Zeichen sein zu können, welches das Geschlecht des Partners repräsentieren würde, d. h. dessen biologisches Zeichen sein zu können« (Jacques Lacan, »Die Wissenschaft und die Wahrheit«, in: ders., Schriften II, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga 1991, 231–257, hier: 254–255). 633 Lacan, Le séminaire IX. L’identification, Sitzung vom 24. Januar 1962. 634 Alain Badiou erwähnt in seiner Adaptation der Mengenlehre, dass ihr Begründer

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rende‹ Absolutheit, die dem Sprechenden die verinnerlichte Gewissheit gibt, mehr oder weniger ununterbrochen Tatsachen abzubilden, ist immer auch wieder in ihren Setzungen und den sich daraus ergebenden Sprachpraktiken zu erkennen. Und diese Setzungen zu erfassen, ist, um es noch einmal zu betonen, entscheidend zum Verständnis des politischen Potenzials exzessiver Subjektivität. 635 Denn exzessive Subjektivität ist wesentlich an Setzungen gebunden, an Regelgründungen bezüglich dessen, was begründet-unbegründet Normativität verkörpern wird in einer diesen Setzungen zuträglichen Zukunft. Jenseits des Procederes von Semantikketten und Sprachspielen nach einer metasprachlichen oder idealsprachlichen Letztbegründung zu suchen, hält Lacan für vergeblich. Die Problematik der Russell’schen Antinomie kann also nicht dadurch behoben werden, dass neue metasprachliche Ebenen auf der Suche nach einer absoluten Referenz erfunden werden. Die Russell’sche Antinomie soll stattdessen erkennen lehren, dass es eine solche Referenz der Sprache, die ihre Wahrheitswerte metaphysisch garantiert, nicht gibt. 636 Georg Cantor die Thematik der Aporie, wie sie Russells Paradox ausdrückt, nicht aus dem Bereich der Sprache ganz verdrängt, sondern ihr einen Ort der ›Denkbarkeit‹ in Gott zuweist. Cantor tut dies in seiner Rede von »inkonsistenten Vielheiten« in Abgrenzung zu »konsistenten Vielheiten«. Badiou: »Wenn Vielheiten nicht ohne Widerspruch [zu einer Menge] zusammengezählt bzw. ›als Einheit gefasst‹ werden können, erklärt er [Cantor], dann sind sie ›absolut unendlich‹ und nicht ›transfinit‹ (das heißt mathematisch fassbar). Cantor weicht vor der Assoziation zwischen der Absolutheit und der Inkonsistenz nicht zurück. Wo die Zählung-als-Eins versagt, befindet sich Gott« (Badiou, Das Sein und das Ereignis, 58). Badiou zitiert Cantor, der in einem Brief an Dedekind vom 28. Juni 1899 schreibt: »›Eine Vielheit kann nämlich so beschaffen sein, dass die Annahme eines ›Zusammenseins‹ aller ihrer Elemente auf einen Widerspruch führt, so dass es unmöglich ist, die Vielheit als eine Einheit, als ein ›fertiges Ding‹ aufzufassen. Solche Vielheiten nenne ich absolut unendliche oder inkonsistente Vielheiten‹« (ebd., 59 f.). 635 Auf die Begründungsthematik dieser konstruktivistischen Position Lacans können wir an dieser Stelle nicht eingehen. Es ist aber offensichtlich, dass Lacan sich mit seiner Position zahlreiche Probleme einhandelt, die die analytische Philosophie teilweise mit ihrer Rückkehr zum Realismus zu eliminieren versucht hat. 636 Vgl. auch Lacan: »Über Struktur als das Einmischen einer Andersheit als Voraussetzung eines Subjekts«. In Le Séminaire XII. Les problèmes cruciaux pour la psychanalyse schreibt Lacan kritisch: »Bertrand Russell conçoit le langage comme une superposition, un échafaudage, en nombre indéterminé, d’une succession de métalangages, chaque niveau propositionnel étant subordonné au contrôle, à la reprise de la proposition dans un échelonnement supérieur, où elle est, comme proposition première, mise en question. […] Je pense que cet ouvrage, comme d’ailleurs n’importe lesquels de ceux de Bertrand Russell, est exemplaire en ceci que, poussant à son dernier

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Hier, d. h. in einer paradoxalen Nichtzugehörigkeit im Akt einer Benennung, ist Lacans Interesse für die Verbindung von paradox-autonomineller Rechtssubjektivität und der vorerst scheinbar abwegig weit weg liegenden Mengenlehre zu verorten. Daran knüpft er, was er die erwähnten »Mächte« [pouvoirs] des Buchstaben nennt, mit denen – wie er oben sagt – die »Logiker nicht bekannt sind«; das exzessive Subjekt, oder präziser: exzessive Subjektivität sehr wohl. Ein jeglicher Versuch, diese Macht des Buchstabens in einem metasprachlichen System zu begründen, wie Russell dies in seinem Buch An Inquiry into Meaning and Truth 637 versucht, sieht Lacan als einen Irrtum an. Zu diesem lädt die Sprache aber ihrerseits transzendental, d. h. als Bedingung ihrer Möglichkeit, paradoxerweise ein. In seinem Text »Die Subversion des Subjekts« schreibt Lacan über die Konzeption des großen Anderen als Ort des Signifikats: »Keine Aussage von Autorität kann hier anders garantiert sein als in ihrem Aussagen selbst, vergeblich würde sie ihre Garantien in einem anderen Signifikanten suchen, der unter keinen Umständen anderswo erscheint als an diesem Ort. Unsere Formel dafür: Es gibt keine Metsprache, die man sprechen könnte, oder aphoristischer: Es gibt keinen Andern des Andern.« 638

Was die gesamte Auseinandersetzung mit Russell für unser Thema exzessiver Subjektivität aufschlussreich macht, ist die für Lacan darin offengelegte Erkenntnis, dass kein axiomatisches System seine eigene Begründung in Universalien verankern kann, die nicht wiederum durch Setzungen von Individuen, symbolischen Ordnungen, Diskursen des Herren, Diskursen der Universität, Diskursen von Hysterischen verbürgt sind. (Lacan nennt Hegel »le plus sublime des hystériques« 639). Weil es keine universale Begründung der symbolischen terme ce que j’appellerai la possibilité même d’une métalangue, il en démontre l’absurde, précisément en ceci que l’affirmation fondamentale d’où nous partons ici et sans laquelle il n’y aurait en effet aucun problème des rapports du langage à la pensée, du langage au sujet, est ceci, qu’il n’y a pas de métalangage. […] Bertrand Russell, pour composer son langage fait de l’échafaudage, de l’édifice babélique des métalangues les unes sur les autres, il faut bien qu’il ait une base! Alors il a inventé le langage-objet, il doit y avoir un niveau – malheureusement personne n’est capable de le saisir – où le langage est en lui-même pur objet. Je vous défie d’avancer une seule conjonction de signifiants qui puisse avoir cette fonction!« (Sitzung vom 9. Dezember 1964). 637 Vgl. Bertrand Russell, An Inquiry into Meaning and Truth, London: Allen & Unwin 1956. 638 Lacan, Schriften II, 188. 639 Lacan, Le séminaire XVII. L’envers de la psychanalyse, Sitzung vom 26. November 1969.

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Ordnung gibt, keinen »Anderen des Anderen«, inkorporiert exzessive Subjektivität die Potenzialität eines Einbruches der etablierten Semantiken und Diskurse durch eine im Diskurs des Symbolischen nicht repräsentierte, aber in ihr hervortretende Alterität. Durch die Unbegründbarkeit des Buchstabens in absoluten »truth-maker« jenseits der Performanzen, in denen er sich ausgestaltet, kann dann auch durch neue und teils exzessive Performanzen schöpferischer Autonomie Neues als Häretisches sich im Rücken des Allgemeinen ereignen.

Es gibt keine Metasprache. Das Paradox der Mengenlehre steht nach Lacan für die Nichtableitbarkeit der Sprache durch eine Metatheorie oder, wie er es ebenso nennt, durch eine »Metasprache«. Von hier aus entwickelt er die im oben erwähnten Zitat schon anklingende These von der Macht (»le pouvoir«) des Buchstabens. Sprechen ist auf Praktiken beruhendes Deuten und retrospektives Ergreifen von Gedeutetem als Erkanntem. Das »Wesen« der Sprache liegt nicht jenseits ihres Gebrauches, derart, dass wir die Anwendung der Sprache nach ihren jeweiligen Sprachregeln erst nach dem Erschließen dieses Wesens begreifen würden. Sprache trägt in ihrem Ausdrucksgebrauch die Anwendungskriterien in einer Kommensurabilität und Inkommensurabilität vereinenden Paradoxalität von Sprachpraktiken. Für Lacan prägt sie die »Signifikantenkette« als solche und ermöglicht erst dadurch schöpferische Autonomie eines hysterischen Subjekts. Sein berühmter Ausspruch »Es gibt keine Metasprache« 640 meint, dass dem Sprachgebrauch bzw. der Einbindung in »Signifikantenketten« nichts vorausliegt. Begründungen und Rechtfertigungen zur Klärung, inwiefern ein Sprachgebrauch mit Notwendigkeit angewendet werden soll, verbürgt die Sprache in der Praxis. Die Bedeutung der Sprachpraxis hat Lacan besonders im Bereich der Linguistik in Bezug auf Personalpronomen interessiert, da hier eine eigentümliche, von Émile Benveniste analysierte Verzahnung von partikulärem Sprechakt, sprachlicher Repräsentation und Performanz besteht. Das sei hier kurz erwähnt: Noch bevor John L. Austin 640 Lacan, »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten«, 188.

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seine Sprechakttheorie entfaltete, exemplifizierte Benveniste die Performanz des sprechenden Subjekts anhand von Personalpronomen (»du«, »ich«) in Propositionen. Auf Roman Jakobsons Theorie der »shifter« aufbauend, beschreibt er die linguistische Funktion der Personalpronomen als eine, die einer anderen Kategorie zugeordnet werden muss als Begriffe von objektiven Gegenständen wie »Baum«, »Tisch«, »Haus«. Letztere sind lexikalisch klassifizier- und fixierbar in den kollektiven Sprachpraktiken, was bei Personalpronomen gerade nicht möglich ist. Statt auf ein Objekt zu referieren verweist das Personalpronomen »ich« auf das Individuum, das es in seinem Diskurs äußert. So verweist es, wie auch »die Indikatoren der deixis, Demonstrativa, Adverbien, Adjektive, welche die räumlichen und zeitlichen Beziehungen um das ›Subjekt‹ herum organisieren«, 641 auf eine spezielle und einzigartige Beziehung zum Faktum der Performanz des Diskurses. Benveniste: »Ihnen [den Personalpronomen, D. F.] ist das Merkmal gemeinsam, dass sie sich nur in Bezug auf die Diskursinstanz definieren, in der sie erzeugt werden, d. h. abhängig von dem ich [sind], das darin ausgesagt wird«. 642 Personalpronomen »verweisen weder auf einen Begriff noch auf eine Person. Es gibt keinen Begriff ›ich‹, der alle ich umfasste, die in jedem Augenblick auf den Lippen aller Sprecher entstehen, in dem Sinne, in dem ein Begriff ›Baum‹ existiert, auf den sich alle individuellen Anwendungen von Baum zurückführen lassen«. 643

Demonstrative Indikatoren helfen der Sprache das Problem der »intersubjektiven Kommunikation« zu lösen, insofern jedem Individuum die Möglichkeit gegeben wird, die rein formale Sprachstruktur mit seiner Subjektivität auszudrücken und so im Bereich des inter641 Émile Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München: List Verlag 1974, 292. 642 Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 292. 643 Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 291. Es sei hier angemerkt, dass Wittgenstein einen ähnlichen Gedanken artikuliert, wenn er im Blauen Buch schreibt: »Der Mund, der ›ich‹ sagt, oder die Hand, die erhoben wird, um anzudeuten, dass ich es bin, der sprechen will […], zeigt damit nicht auf irgendetwas. […] Wenn ich, indem ich ›ich‹ sage, auf meinen eigenen Körper zeige, dann bilde ich den Gebrauch des Wortes ›ich‹ dem Gebrauch des Demonstrativums ›diese Person‹ […] nach« (Ludwig Wittgenstein, Das Blaue Buch, in: ders., Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 108.) Wittgenstein sagt hier ähnlich wie Benveniste, dass das Personalpronomen sich im Sprechakt nicht selbst repräsentiert als Ziel der Referenz. Der Gebrauch des Personalpronomens »Ich« ist hier nicht deskriptiv oder referentiell zu verstehen, sondern expressiv.

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subjektiven Feldes der Kommunikation einen letztlich einzigartigen Ort einzunehmen. Nur von diesem aus ist eine Struktur exzessiver Subjektivität, wie sie Lacan entfaltet, zu denken. Diese Einzigartigkeit entgeht »dem Status aller anderen Zeichen der Sprache«: »[I]ch verweist auf den Vorgang der individuellen Rede, in der es ausgesprochen wird«. 644 Personalpronomen werden so in der erfolgreichen Sprechsituation ihre eigene, nicht durch eine Drittinstanz zu verobjektivierende Wirklichkeit. Indem sie gebraucht werden, ermöglichen sie eine »Konversion« der Sprache. Sie markieren »das Zusammenfallen des beschriebenen Ereignisses mit der es beschreibenden Diskursinstanz«. 645 Das synchronische System der Signifikanten (Saussures la langue) überführen sie in eine konkrete diachronische Realität der sich entfaltenden Diskurspraxis. Dabei ist die »Sprache […] derart organisiert, dass sie jedem Sprecher erlaubt, sich die ganze Sprache zu eigen zu machen, indem er sich als ich bezeichnet«. 646 Was diese Struktur der Diskurspraxis für unser Thema noch einmal akzentuiert, ist der Umstand, den wir schon in den performativen Formulierungen von »We the People« bzw. »Hier stehe ich und kann nicht anders« artikuliert haben. Indem Subjekte in diesen jeweils auch politischen Situationen Personalpronomen gebrauchen, nehmen sie einen für Benveniste und Lacan entscheidend einzigartigen Ort in der Sprache ein, von dem aus in diesen erfolgreichen Sprechsituationen eine nicht durch Drittinstanzen zu verobjektivierende Wirklichkeit performativ deklariert wird. Auch hier begegnen wir Sprache als einem Handeln, als einem Sich-Ereignen. Das Subjekt konstituiert sich in der Performanz, insofern es auf die Gesamtheit der Sprache zurückgreift und in dieser – gegen diese Gesamtheit als eine holistische Statik – seine Partikularität, seine Individualität in einer spezifisch uneingeschränkt universellen und doch nicht universalisierbaren Anwendungssituation ›ereignen‹ lässt. Das sprechende Subjekt ist dann sozusagen in der Performanz seines Sprechens Statthalter der »la langue«, der synchronen Sprachgesamtheit und gleichzeitig, wenn es im Namen seiner selbst spricht, dessen diachrone Brechung in einer performativen Aneignung und zeitgleich paradoxen Universalisierung seiner Partikularität. In dieser Strukturanalogie zu Benvenistes Theorie der Personalpronomen und zu Jakobsons 644 645 646

Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 291. Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 292. Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, 292.

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Es gibt keine Metasprache.

Analyse der »shifter« stellt Lacan seine unten noch genauer entfaltete Theorie des Aktes auf. Er radikalisiert die Theorien seiner Kollegen dahingehend, dass er das, was er mit dem Wort »Akt« als Tat einer Selbstermächtigung begreift, ans Unbewusste rückbindet, d. h. an eine Instanz, die sich z. B. im Durchkreuzen eines sie belastenden Phantasmas zur Neuerschaffung selbst ermächtigen kann. Der Akt ist die Performanz einer Partikularität, die von einem futur antérieur aus das Maß der eigenen Selbstermächtigung offengelegt haben wird. Wie deutlich geworden sein dürfte, steht der Term Signifikant bei Lacan für sehr viel mehr als nur für die Ausdrucksseite, den Zeichenkörper des sprachlichen Zeichens. Für Lacan ist der Signifikant Medium seines eigenen praxeologisch begründeten Gebrauchs. Die Inhaltsseite der Bedeutung ist Effekt seiner Ausdrucksseite. 647 Da der Bedeutungsinhalt nicht ohne die »Signifikantenkette« zur Repräsentanz gebracht werden kann, scheint die Inhaltsseite bei Lacan ganz vernachlässigbar, weil unzugänglich. Das Signifikat ist nur noch transzendental als Signifikanteneffekt der Signifikantenkette zu verstehen. In Saussures Cours de linguistique générale repräsentierte es noch den Wahrheitsreferenten im sprachlichen Zeichen. Die Referenz-Inhalt-Beziehung, die Sprache prägt, ist für Lacan nie – mit Frege gesprochen – auf »das Wahre« oder mit Saussure auf festlegbare Bedeutungsinhalte reduzierbar. »Der Signifikant als solcher bezieht sich auf nichts, wenn nicht auf einen Diskurs, das heißt auf einen Modus von Funktionieren, auf eine Verwendung der Sprache als Band. […] Das Band […] ist ein Band zwischen denen, die sprechen.« 648 Wir haben es so bei der Rede über die Welt nicht, wie es der Wiener Kreis vertrat, nur mit einzelnen Sätzen oder Klassen von einzelnen Sätzen zu tun, sondern mit einem holistischen Begriffssystem, das in seinem epistemischen Anspruch als Ganzes betrachtet werden muss. Wie wir noch sehen werden, ist dieses Sprachverständnis für Lacans Konzentration auf die Rolle des Subjekts sowohl im Sprechen als auch im Handeln entscheidend. Er legt uns nahe, dass der »Modus von Funktionieren« abhängig ist von der Wirklichkeitgestaltenden Performativität der Sprache, wobei es auch die kontingent wirkenden selbstreferentiellen Regelgründungen bzw. Regelset647 Lacan setzt sich von dem Saussure’schen Zeichen-Schema ab, indem er die Hierarchie des Saussure’schen Zeichen so verkehrt, dass das bei Saussure noch essentiell verstandene Signifikat nur noch ein Signifikationseffekt des Signifikanten wird. 648 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 35.

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zungen eines Subjekts sein können, welche definieren, worüber Sprache alles sprechen kann (z. B. wenn das Subjekt ausgestattet ist mit dem Imperativ eines »maître«). Lacan etabliert den Referenzbezug als Effekt des Diskurses, als Effekt der »Signifikantenkette«. 649 Im Verweis auf die Linguistik Jakobsons spricht er vom nichtEinhalt-zu-gebietenden Bedeutungsfluss der Rede. Er schreibt, dass »die Signifikatswirkungen [der Sprache, D. F.] dem Anschein nach nichts zu tun haben mit dem, was sie verursacht.« 650 Es ist »nicht das Wort, das den Signifikanten begründen kann. Das Wort hat keinen anderen Anknüpfungspunkt, eine Kollektion zu bilden, als das Wörterbuch, wo es aufgenommen werden kann.« 651 Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in Lacans Frage: »[W]as ist das ein Signifikant?« Und er kommt auf die unmittelbar auf das Mengenparadox anspielende Antwort: »Ich muss bereits einhalten, wenn ich die Frage in dieser Form stelle. Ein, vor den Term gestellt, ist als unbestimmter Artikel verwendet. Es unterstellt bereits, dass der Signifikant kollektiviert werden kann, dass man daraus eine Kollektion bilden kann, davon sprechen kann als von etwas, das sich totalisieren lässt. Indessen hätte der Linguist sicher Mühe, scheint mir, diese Kollektion zu begründen, sie zu gründen auf ein der, denn es gibt kein Prädikat, das dieses erlaubte.« 652 649 Er tut dies, weil er darin die eigentliche performative Macht der Sprache sieht, wie sie nur die Psychoanalyse würdigen und als Heilungsmedium einer kranken Psyche ansehen kann (ohne darin nur einen Ausbruch paranoider Irrationalität zu sehen). 650 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 24. 651 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 23, abgewandelte Übersetzung. 652 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 23. Das zentrale Verständnis von Wahrheit als festlegbare Universalie im Sinne von Freges »Gedanken« denkt Lacan nur transzendental als Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation. »Was im Zentrum bleibt, das ist diese liebe Gewohnheit, die macht, daß das Signifikat schlußendlich immer den gleichen Sinn bewahrt. Dieser Sinn ist gegeben durch das Gefühl, das jeder hat, weil er Teil seiner Welt ist, das heißt, seiner kleinen Familie und alles dessen, was sich darum dreht. Jeder von Ihnen [… ist] hier mehr, als Sie glauben, dem verhaftet« (Lacan, Das Seminar XX. Encore, 47, leicht abgewandelte Übersetzung). Man kann Lacans Position hier in Analogie zu Brandom – wenn auch mit für uns entscheidenden Differenzen – einen sozialen Holismus nennen, oder einen inferentiell-semantischen Holismus. Überzeugungen haben eine bestimmte Bedeutung nur innerhalb eines Ganzen von Überzeugungen und ihren Rechtfertigungsoptionen innerhalb dieses Ganzen. Auf die von diesem Holismus ausgehenden Probleme normativer Letztbegründungen, die die bis heute andauernden Debatten um das Erbe Wittgensteins, Quines und Heideggers betreffen, könne wir nicht eingehen. Unser Ziel ist hier die Offenlegung der Position Lacans als psychoanalytische Basis exzessiver Subjektivität.

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Es gibt keine Metasprache.

Wenn Lacan hier schreibt, »es gibt kein Prädikat, das die Kollektion aller Sprachformen umfasst«, so sagt er, dass es keine Metasprache, kein metasprachliches Signifikat als außersymbolischen Wahrmacher der Proposition gibt. 653 Was es gibt, ist eine supplementäre Lücke, die das Netz der Sprache je neu strukturiert. Lévi-Strauss spricht von »einem symbolischen Nullwert«, der als Zeichen »die Notwendigkeit eines supplementären symbolischen Inhalts markiert, der zu dem bereits auf dem Signifikanten liegenden Inhalt hinzutritt und der ein beliebiger Wert sein kann«. 654 Die Sprache als Erkenntnismedium der Außenwelt wie auch als Erkenntnismedium ihrer eigenen selbstreferentiellen Performanz ist unrepräsentierbar, was nicht heißt, dass diese Unrepräsentierbarkeit der Sprache in ihren eigenen Selbstbezügen dem Gebrauch der Sprache im Wege stünde. Vielleicht könnte man eher mit Wittgenstein sagen, dass sie immerhin mit einer unverhohlenen Mystik auf etwas hindeuten kann, gerade auch dann, wenn ihre Grenzen aufgewiesen werden. Für Lacan ist aber das, worauf die Sprache hindeutet, nicht »das Mystische«, sondern eher das Walten des nicht positivistisch einholbaren Unbewussten, von dem es heißt, dass es wie »eine Sprache strukturiert« sei. Von Jakobson übernimmt er die These, dass die metasprachliche Funktion eine ist, die allen Sprachen gleichermaßen zukommt, insofern die Funktion immer schon in ihnen ist. Lacan: »Jegliche Sprache impliziert eine Metaspra653 Mit seiner Rede davon, dass es »keine Metasprache« gibt setzt sich Lacan von der Vorstellung ab, dass man die Welt gemäß einer Einzeldingontologie (wie z. B. im Sinne von G. E. Moores Rede vom »physical fact«) als ein Aggregat physikalischer Objekte im Ideal des »Blicks von Nirgendwo« betrachten könnte. Jegliche metatheoretische Bezugnahme artikuliert sich für Lacan vor einem lebensweltlichen Hintergrund. Von der Welt können nicht, mit Frege gesagt, »Sinn«-Bezüge abgezogen werden, in der Hoffnung, so die verzerrungsfreie Referenz auf reine »Bedeutungen« dem Menschen freigelegt zu haben. Erst lebensweltliches Hintergrundwissen ermöglicht ins Phantasma eines logischen Raums einzutreten, über dessen Gegenstandsbereich dann wiederum quantifiziert werden kann (vgl. Lacan, Le séminaire XII. Les problèmes cruciaux pour la psychanalyse, Sitzung vom 9. Dezember 1964). 654 Claude Lévi-Strauss, »Einleitung in das Werk von Marcel Mauss«, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. 1, Frankfurt/M.: Ullstein 1978, 7–41, hier: 40. Lévi-Strauss erwähnt Mauss’ Kommentar zum melanesischen und polynesischen Wort »Mana«, das gemäß verschiedenen Kulturen eine übernatürliche Anrufungskraft in Ritualen verkörpert. Mana ist nicht nur ein mythologisch-holistischer Versöhnungs-Signifikant, Mana hat nicht nur – wie Althusser wohl sagen würde – eine ideologische Funktion. Mana ist strukturell immer schon Teil eines jeden Diskurses als Bedingung des Diskurses, der nicht anders als auf diese Weise holistischen Anspruch auf Wirklichkeitsrepräsentanz haben kann.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

che, sie ist schon Metasprache von ihrem eigenen Register her.« 655 Metasprachlich ist Sprache in ihren nicht einholbaren Verwindungen. Ihre Unrepräsentierbarkeit in einer Kollektion, die die Sprache axiologisch benennt – wie sie selbst inklusiv in die Kollektion gehört – entpuppt sich für Lacan als paradoxale Bedingung ihres Gebrauchs. Wittgensteins Philosophie arbeitet ebenso an dieser These, wenn er in den Philosophischen Untersuchungen unterstreicht, dass die Regelanwendung der Sprache in ihrem Gebrauch, in ihrer Praxis vollkommen verdrängt werden muss, damit sie überhaupt als Sprache gelingen kann. Für Lacan könnte man analog sagen: Die Unmöglichkeit einer Metasprache muss ebenso wie das Walten des Unbewussten in der Sprache verdrängt werden, vergessen werden, damit der Sprechende in der Assoziationskraft seines (immer auch den paradoxalen Selbsteinschluss implizierenden) »Geredes«, umso mehr das, »was sich darin zeigt«, offenlegt. Ebenso wie die Sprache scheinbar notwendig in Konflikt mit ihren eigenen Anmaßungen der Beschreibung der Außenwelt gerät, scheint Sprache auch die Frage »Was ist das, ein Signifikant?« nur indirekt, mit halber Erkenntnis und halber Verkenntnis beantworten zu können. 656

Sprache als Ereignis des Unbewussten Wir sind auf die sprachphilosophischen Implikationen von Lacans Philosophie eingegangen, weil sie seine Theorie autonomineller Rechtssubjektivität mit ihren Auswirkungen für exzessive Subjektivität in der Linguistik seiner Zeit verorten. Sprache ist für Lacan auf allen bewussten und unbewussten, individualpsychisch-imaginativen und gesellschaftlich-symbolischen Ebenen am Werk. Sie spricht im

Lacan, Das Seminar III. Die Psychosen, 268. Das erinnert erneut an Wittgensteins Thematik des Tractatus, wenn dort einerseits metasprachlich die Sprache thematisiert wird (Bildtheorie der Sprache, Theorie der Elementarsätze) und gleichzeitig die Sätze des Tractatus als unsinnig offengelegt werden am Ende des Sprachgebrauchs zur Offenlegung des Unsinns selbst. (Der berühmte Satz 6.54 »Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinaufgestiegen ist« (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, 85). Wittgenstein bittet seinen Leser am Ende der Schlussfolgerungen seines Textes, den Tractatus selbst als unsinnig zu deklarieren. Wie aber kann man eine Leiter hinaufsteigen, die letzten Endes keine war?

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Subjekt nicht nur, wenn es eine Proposition äußert oder ein Urteil fällt. Sprache treibt das Subjekt permanent um, weil das Unbewusste es umtreibt und dieses, wie Lacan in seinem Baltimore-Vortrag von 1966 sagt, »immer denkt«. 657 Weil dieses Unbewusste an einem ›anderen Schauplatz‹ denkt, egal ob wir schlafen oder wachen, vor uns hinträumen oder über philosophische Themen nachdenken, ist immer Sprache am Werk. Lacan: »Die Frage, die die Natur des Unbewussten uns stellt, ist kurz gesagt diejenige, dass da immer etwas denkt.« 658 Aber dieses, was da denkt, kann eben mit dem auf propositionaler Ebene sich abspielenden Denken nicht in eine eliminative Kausalrelation gebracht werden. »[Das Unbewusste] ist ein Denken mit Worten, mit Gedanken, die sich [… unserer, D. F.] Wachsamkeit, [… unserem, D. F.] Zustand der Achtsamkeit entziehen. […] Die Frage ist, einen genauen Status für dieses andere Subjekt zu finden, welches genau die Art eines Subjekts ist, wie wir es bestimmen können, wenn wir unseren Ausgangspunkt bei der Sprache nehmen.« 659

Gerade der letzte Satz dürfte klären, warum unsere Analyse exzessiver Subjektivität im Rahmen der Psychoanalyse so sehr Lacans sprachphilosophischen Analysen folgen muss. Wenn Russell und Whitehead versuchen, das Mengenparadox mit einem Verbot der Rede von »›all propositions‹ referred to some already definite collection« 660 zu umgehen, weil diese Rede in den Widerspruch ihres universellen Selbsteinschlusses gerät, verdrängen sie dadurch den Umstand, dass die Alltagssprache nicht nur gebraucht wird, um die Welt in Form von Klassen, Relationen, Urteilen etc. in Bezug auf Wahrmacher zu beschreiben. Zumindest in besonderen Kontexten referieren wir schon im Alltag metasprachlich und univer-

657 Lacan, »Über Struktur als ein Einmischen einer Andersheit als Voraussetzung eines Subjekts«, 16. In seinem Seminar XI schreibt er: »[D]ank Freud [wissen wir], dass das Subjekt des Unbewussten sich zeigt und dass es denkt, bevor es zur Gewissheit wird« (Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 43). 658 Lacan, »Über Struktur als ein Einmischen einer Andersheit als Voraussetzung eines Subjekts«, 16. 659 Lacan, »Über Struktur als ein Einmischen einer Andersheit als Voraussetzung eines Subjekts«, 17. 660 Bertrand Russell / Alfred North Whitehead, Principia Mathematica, Cambridge: Cambridge University Press 1962, 37. Siehe ebenso Russell, »Mathematical Logic as Based on the Theory of Types«, 224 f.

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sell auf die Grenzen und Effekte und die Regeln und Auswirkungen des Sprechens und auf den darin sich entfaltenden Wirklichkeitsbezug trotz verschiedener Aporetiken und Paradoxa. Die Sprache steht für den Sprechenden immer auch als Medium des selbstreflexiven Hinterfragens ihrer eigenen Medialisierung im Wirklichkeitsbezug trotz der sich darin verbergenden Aporie zur Verfügung. 661 Mit Wittgensteins berühmten Ausspruch »So handle ich eben« 662, könnte man abgewandelt sagen: »So spreche ich eben.« Der Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen analysiert die letztlich auch politisch zu interpretierende Eigenart der Sprache, wenn er eine eigentümliche, scheinbar dem Skeptizismus zuzuschreibende Verbindung von Spontaneität, Regelfolge und Regelbegründung sprachpragmatisch an den Sprachgebrauch rückbindet und jede metasprachliche Reduktion der natürlichen Sprache als vergeblich verwirft. Regel und Anwendung, Begriff und Gehalt sind von einem spontanen und selbstreferentiellen Begriffsgebrauch nicht zu trennen. Wir wählen beim Sprechen nicht eine Regel losgelöst von dem, was wir tun oder sagen wollen. Wie Wittgenstein in der Philosophischen Grammatik schreibt: Die Definition eines Sprachspiels »kann nicht in die Ferne wirken. Sie wirkt nur soweit sie angewendet wird«. 663 Damit möchte er sagen, dass das Sprachspiel sich nicht noch einmal selbst transzendiert jenseits seiner Anwendung. In den Philosophischen Untersuchungen schreibt er: »[E]ine Regel könnte keine Handlungsweise bestimmen, da jede Handlungsweise mit der Regel in Übereinstimmung zu bringen sei«. 664 Eine fundamentale Spontaneität des Gebrauchs kann nicht logisch begründet werden. Gerade dadurch kann aber Spontaneität Ursprüngliches schaffen, was nicht ausschließt, dass das Geschaffene dann wiederum in Regeln wiederholt wird. Die Wirkmächtigkeit des Regelgesetzten ist nicht abhängig von Regelbefolgungen der Vergangenheit.

661 Alain Badiou beschreibt das treffend: »Das Denken ist da, damit die quantitative Uferlosigkeit des Seins ein Ende findet, und sei es nur für den Moment, um zu zeigen, dass dieses Ende in Wahrheit nicht erreichbar ist. […] Das Denken ist im eigentlichen Sinne dasjenige, was das ontologisch bewahrheitete Über-Maß nicht befriedigen kann« (Badiou, Das Sein und das Ereignis, 318). 662 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 217. 663 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Grammatik, in: ders., Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, § 39. 664 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 201.

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In den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik untermalt Wittgenstein diese auch für Lacan zentrale und letztlich politisch zu verstehende Beziehung von Spontaneität, Regelfolgen und Regelbegründungen im Dialog mit einem fiktiven Gesprächspartner: »›Aber bin ich also in einer Schlußkette nicht gezwungen, zu gehen, wie ich gehe?‹ – Gezwungen? Ich kann doch wohl gehen, wie ich will! – ›Aber wenn du im Einklang mit den Regeln bleiben willst, mußt du so gehen.‹ – Durchaus nicht; ich nenne das ›Einklang‹. – ›Dann hast du den Sinn des Wortes ›Einklang‹ verändert, oder den Sinn der Regel.‹ – Nein; wer sagt, was hier ›verändern‹ und was ›gleichbleiben‹ heißt? Wieviele Regeln immer du mir angibst – ich gebe dir eine Regel, die meine Verwendung deiner Regel rechtfertigt.« 665

Die Regel ist die Performanz der Anwendung ihrer selbst, ohne dass dies weiter begründet werden könnte. Regel und Anwendung, Begriff und Gehalt sind immer auch von einem spontanen und selbstreferentiellen Begriffsgebrauch nie ganz zu trennen. 666 Die Sprache offenbart eine Jenseitigkeit ihrer selbst, wo sich in ihr z. B. eine neue Regel, eine neue Denkweise spontan ›ereignet‹. Und gibt es diese spontanen Ereignisse in der Welt der Politik, der Philosophie, der Kunst nicht immer wieder? Genau an den Orten, wo sich in Sprache, Denken und Bewusstsein ein neues Sprachspiel ereignet, oder, mit Heidegger, gesagt »lichtet«, lokalisiert Lacan Rechtssubjektivität. Für ihn entsteht exzessive Subjektivität genau in einem solchen Moment, wo sich Spontaneität, Regeldurchbruch und Regelbegründung artikulieren, ohne dass ein Bewusstsein sich hier immer klar als Verursacher finden könnte. Agamben sagt in seiner sprachmetaphysischen Meditation Die Sprache und der Tod, dass aufgrund des Scheiterns der Sprache an ihren totalitären Ansprüchen in ihrem Kern ein »leerer Platz« liegt, den sie nicht umschließen kann. 667 Diesen Ort der verdrängten Nicht-Koinzidenz in der totalitären Struktur der Sprache interpretieren Agamben, Badiou wie auch Lacan gleichermaßen als Ort einer Rettung. 668 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: ders., Werkausgabe, Bd. 6, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, § 113. 666 Zur Thematik von Spontaneität und Begriffsgebrauch siehe Wilhelm Vossenkuhls Artikel »Spontaneität«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 48, Nr. 3 (1994), 329–349, besonders: 338 ff. 667 Vgl. Agamben, Die Sprache und der Tod, 74–84. 668 Siehe dazu den herausragenden Artikel von Paul Livingston, »Agamben, Badiou, and Russell«, in: Continental Philosophy Review, Vol. 42 (2009), 297–325. 665

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Wir erwähnen das Thema von Spontaneität und Regelfolge an dieser Stelle so ausführlich, weil es noch einmal die Ablehnung einer »Metasprache« verdeutlicht im auch von Lacan eingenommen Blick auf die Sprache als »Modus von Funktionieren […] zwischen denen, die sprechen.« 669 Es verdeutlich das Lacan prinzipiell interessierende Moment der Sprache als Ereignismedium zur Schaffung von Sinnhorizonten, die das Subjekt nahezu ex nihilo (wie eine neue Regelbegründung) aufreißen kann. Wenn es überhaupt einen Sinn und eine Ethik der Psychoanalyse gibt, so liegt diese für Lacan ja gerade darin, dass das Subjekt sich – ähnlich wie wir es bei Kant im ethischen Akt sahen – von einem Nicht-Ort seiner eigenen Nicht-Koinzidenz aus noch einmal in einen neuen Rahmen seiner Rechtssubjektivität hinein ›einberufen‹ kann. 670

Imperative Lacan betont in der Rede vom Signifikanten (und in der Vermeidung der Rede vom Saussure’schen Zeichen), wie ein Subjekt für ein anderes Subjekt durch die Signifikantenkette repräsentierbar ist; mit Brandom gesprochen: Ich begegne dem anderen in dieser »Signifikantenkette« im Geben und Nehmen von Gründen. Für Lacan ist »Kontoführung« keine eindeutig letztzubegründende »Signifikatswirkung« 671 der Sprache. Die Rede von der »Kontoführung« täuscht eine Statik vor, die zwar Brandom praxeologisch als eine je neu zu verhandelnde denken möchte, aber für Lacan geht die Virtualität einer solchen Verhandlung von Kontoständen als zu sprachstatisch gedacht zu weit – schon allein, weil für ihn das Missverständnis die Grundlage des Sprechens ist. Scorekeeping zerrinnt sowohl dem Subjekt im eigenen Selbstverhältnis aufgrund seiner inneren Gespaltenheit, wie es auch im Verhältnis zum Anderen nicht aporiefrei auszulegen ist.

Lacan, Das Seminar XX. Encore, 35. »Jede Dimension des Seins produziert sich im Konkurrenten des Diskurses des Herren, desjenigen, der, den Signifikanten vortragend, davon erwartet, was einer seiner nicht zu vernachlässigenden Bindungseffekte ist, der an dem hängt, dass der Signifikant kommandiert. Der Signifikant ist zuerst Imperativ« (Lacan, Das Seminar XX. Encore, 35). 671 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 24. 669 670

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Noch entscheidender ist für ihn aber die libidinöse Dimension von Sprache. Lacan: »Ich werde sagen, dass der Signifikant sich situiert auf der Ebene der genießenden Substanz.« 672 Jede Abstraktion der Sprachspiele auf ein klar definierbares scorekeeping oder auf universelle Entitäten sieht Lacan »voll von Risiken«, 673 die libidinöse Dimension von Sprache und Subjektivierung zu verkennen. Zu einer solchen Abstraktion rechnet er die von ihm kommentierte Isolierung und Substantivierung der Kopula als Signifikant bei Aristoteles. Sie evoziere das »Flackern« 674 einer Bedeutung zwischen Sinn und Unsinn. »Sein« – substantiviert – spricht sich aus im Sinne von »es ist was es ist [c’est ce que c’est], und es könnte sich ebensogut schreiben esiswasesis [seskecé]«. 675 Lacan will mit dieser lächerlich wirkenden Wortverdrehung illustrieren, dass die Performanz des »c’est ce que c’est« so inhaltsvoll ist wie »seskecé«, als auch so »blöd« wie die von ihm kritisierte Rede des Parmenides vom »Sein [, das] sei und [… dem] Nichtsein [, das] nicht sei«. 676 Die Substantivierung der Kopula (d. h. die Rede von dem Sein) mache trotzdem, so Lacan, Sinn im exzessiven Imperativ eines Autors, der glaubt, davon sinnvoll sprechen zu können. Lacan hält dies für möglich, aber nur unter der Rücksicht, dass zeitgleich – zumindest in Fällen wie diesen – erkannt wird, dass die Objektivität, Begründbarkeit von Sprachspielen, von Sprachregeln immer auch auf eine nicht unwesentliche Art an dem im Subjekt verankerten Ort hängen, von dem aus sie geäußert werden. Damit verweist Lacan indirekt auf den Themenbereich der Entwurfsschrift, wo Subjektivität immer im Begehrens- und Irradiationsbereich eines Nebenmenschen in eine transzendental zu ver672 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 28. Es sei angemerkt, dass Lacan Urteilstheorien der Wahrheit in ihrer fundamentalen Abhängigkeit von psychosomatischen Begehrensprozessen versteht. Die menschliche Psyche als Organ der Ratio ruht als Symptomkompromiss verschiedener libidinöser Energiequanta auf diesen Triebprozessen als eine Abstraktionsform, ohne sich dessen in der Regel Rechenschaft zu geben, dass die Triebprozesse dieser Abstraktion vorhergehen. Lacan beschreibt deshalb den »Signifikant als die Ursache des Genießens« (Lacan, Das Seminar XX. Encore, 28). 673 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 36. 674 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 36, veränderte Übersetzung. Im französischen Original heißt es: »On n’y verrait, si je puis dire que du feu« (Le séminaire XX. Encore, Sitzung vom 9. Januar 1973). 675 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 36. 676 Lacans Kommentar dazu: »Ich weiß nicht, was das Ihnen sagt, jedenfalls ich, ich finde das blöde. Und man soll nicht glauben, es mache mir Spaß das zu sagen« (Lacan, Das Seminar XX. Encore, 27).

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stehende Ex-Zentrizität überdehnt wird. Die Wirkung des Imperatives einer Setzung des Sprechens durch ein Subjekt ist Teil der Bedingung für die zugleich totalitäre und antitotalitäre Substruktur der Sprache und ihre je neue Offenheit für die Anschlussfähigkeit von Bedeutung durch andere Subjekte. 677 Die Substantivierung von »Sein« führt nicht hin zur Spezifizierung einer außersymbolischen Wahrheit, zum wahren Sein. In dem von diesem Reden aus sich neu entfaltenden axiomatischen Denken führt sie nur wieder einmal zur Frage des menschlichen Begehrens zurück, wie wir sie aus dem Graphen des Begehrens her kennen, nämlich: was es denn nun sei, das Sein? Was es mit dem Menschen zu tun habe? Was das Begehrenswerte an ihm sei? Lacans »Che vuoi?« klingt in diesen Fragen an. Diese das Zusammenspiel von Begehren, Sprache und Signifikantenfluss betreffenden Fragen markieren die Abhängigkeit von dem, was »ist« und doch nur aufschiebend sich – paradox gesagt – entfüllt. ›Was ist es, das Du willst, dass ich bin, tue, denke, an wahrheitsfähigen Propositionen in Bezug auf deine Rede vom Sein erkenne, Meister Aristoteles?‹ Lacan untermalt hier die Fehlbarkeit und Unfehlbarkeit, aber wohl auch die Unentscheidbarkeit von Fehlbarkeit und Unfehlbarkeit des »Signifikanten, der kommandiert« 678 – den »Modus vo[n] Funktionieren«. 679 Und ein Signifikant, der kommandiert, betrifft ja nicht nur die philosophische Frage des Seins bei Aristoteles, sondern auch den politischen Kampf wie den von Wladimir I. Lenin, der, wie Lacan sagt, »Signifikanten auf die Welt wirft« 680 und die Unterwerfung unter diese Signifikanten verlangt. Der Sig677 Lacan macht hier leider keinen Unterschied zwischen so gegensätzlichen Sprachspielen wie z. B. Kunst und Naturwissenschaft, die nicht in ähnlicher Art und Weise eine Objektivität an den Imperativ einzelner Subjekte rückbinden können. Die Begründung, warum ein Kunstwerk schön sei, hat andere Rechtfertigungsstrukturen als die Begründung einer naturwissenschaftlichen These. Auf die Vielzahl von Einwänden, die Lacan mit einem solchen Konstruktivismus von Seiten der verschiedenen realistischen, antirealistischen und konstruktivistischen Philosophieschulen evoziert, kann hier nicht eingegangen werden. Es ist jedoch offenkundig, dass Lacans Antirealismus durch seine Konzentration auf Problemstellungen der Psychoanalyse zu undifferenziert bleibt, um fruchtbarer erkenntnistheoretisch rezipiert werden zu können. 678 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 36. 679 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 35. 680 Jacques Lacan, Le séminaire XXIV. L’insu, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/S24/S24.htm, Sitzung vom 17. Mai 1977.

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nifikant betrifft auch Antigone, die bereit ist für ihn, der ihr Begehren bestimmt, zu kämpfen und zu sterben. Lacans Rede vom »Phantasma« ist diesem Gedanken verschrieben. Das Phantasma ist das, was Sprache für das Gelingen ihres eigenen Zeichenaustausches evoziert. Man könnte auch eine Parallele zu Kants oben erwähnten transzendentalen Ideen ziehen, die den prekären Status der Realität regulativ mit Virtualitäten stützen. Lacans Rede vom Phantasma erfüllt diese kantisch-transzendentale Bestimmung einer im focus imaginarius verankerten Virtualität als Bedingung der phänomenalen Erscheinungsweise von Objektivität. Lacan schreibt: »Die Sprache […] ist so, dass in jedem Augenblick […] ich nicht umhin kann, zurückzugleiten […] in dies Unterstellte einer Substanz, die sich durchtränkt findet von der Funktion des Seins.« 681 Das Sein ist, wie Lacan in Télévision sagt, der »Bildschirm« der Sprache: »l’être fait écran«. 682 Ebenso unterstreicht er, dass es das Schicksal des Menschen ist, auf allen Ebenen verschiedener Sprachspiele dem Sein als Substanzeffekt der Sprache nicht zu entkommen, schlicht und einfach »durch das Gefühl, das jeder hat, weil er Teil seiner Welt ist.« 683 Obwohl der Begriff des Seins scheinbar mehr als ein Signifikant sein möchte, die inferentialistische Gesamtheit, die »Menge aller Mengen« sozusagen, bleibt auch er nur ein Signifikant, ohne sich metasprachlich einholen zu können. Lacan ist hier nahe an Hegels Wissenschaft der Logik. Ohne im strikten Sinne Erkenntnistheorie zu betreiben, verweisen seine Ausführungen in den Seminaren auf die auch Hegels Philosophie prägende Dynamik der Kategorien als einerseits ausgerichtet auf einen letzten Bezugspunkt, den allerdings einzuholen eine immer neue, die Erfüllung begehrende Aufgabe darstellt. So er gibt sich die Transzendierung der jeweils gewonnenen Kategorien, des jeweils gewonnen Signifikanten, des jeweils politisch etablierten Bewusstseins einer Episteme je neu. Die Ausdrücke »Drängen« oder »Begehren« prägen sowohl Hegels Wissenschaft der Logik (das Drängen der Kategorien im Begriff als »Bewegung desselben in sich« 684) als auch, selbstverständlich, Lacans eigene Analysen innerhalb seiner Philosophie des Geistes. Klassisch 681 682 683 684

Lacan, Das Seminar XX. Encore, 49. Lacan, Télévision, 19. Lacan, Das Seminar XX. Encore, 47. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Wesen, Bd. 6, 217.

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heißt das »Streben« (orexis, appetitus) 685, das einerseits vom Unendlichen angezogen wird, ihm aber andererseits in unabschließbarer Schrittfolge nur durch Nicht-Entsprechung entsprechen kann. Ein erstes Fazit: Die oben vorgestellten, teils epistemologischen, teils sprachphilosophischen Themen in Lacans Philosophie bergen eine heilsbringende Dimension für die Psychoanalyse, von der aus Lacan seine Ethik exzessiver Subjektivität bzw. seine Theorie autonomineller Rechtssubjektivität entfaltet. Denn so, wie die Signifikanten sich je neu einholen können, so kann es für Lacan auch das Unbewusste. Da es wie eine Sprache strukturiert ist, verkörpert es eine Potenzialität, von der aus das Subjekt sich neu ereignen, sich neu wählen kann; eben von der Unabschließbarkeit der sprachlichen Struktur des Unbewussten aus. Darin liegt ein Exzess, den Antigone auch für Lacan beispielhaft verkörpert und der politisch gefährliche, aber auch generativ positive Konsequenzen innehat. Der Signifikant, der »zuerst Imperativ [ist]« 686, dann aber doch als Kategorie seine Vorläufigkeit offenbart, verweist darauf, dass er das untergebene Subjekt (Kleinkind, Schüler, Jünger) scheinbar nicht präzise genug angeleitet hat, trotz des Imperativs. D. h., auch wenn die Sprache versucht – wie am oben erwähnten Beispiel Freges deutlich werden sollte – wissenschaftlich der natürlichen Sprache eine metatheoretisch-universelle und nicht nur selbstreferentiell auftretende Begründung ihrer Wahrheitswerte zu verschaffen, so täuscht für Lacan dieser Imperativ nur die Performanz seines Geltung-haben-Wollens vor, ohne eine letztbegründete Rechtfertigung dieses Anspruchs liefern zu können. Der große Andere ist, wie Lacan sagt, immer auch »fracturé. De la même façon que nous le saisissons dans le sujet lui-même.« 687 »Les non-dupes errent«, die Nicht-Betrogenen, die sich dieser Spaltung nicht unterwerfen möchten, irren sich. 688 Diesen Hinweis verdanke ich Josef Schmidt (unveröffentlichtes Manuskript). Lacan, Das Seminar XX. Encore, 36. 687 Jacques Lacan, Le séminaire XV. L’acte, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/S15/S15.htm, Sitzung vom 15. Februar 1967, Hervorhebung D. F. 688 Lacan drückt seine dem Konstruktivismus verschriebene Position in einem das griechische Wort »pará« (neben, entlang, vorbei) verwendenden Gedanken im Seminar XX aus. Er schreibt »Woran wir uns gewöhnen müssen, ist, jenem Sein, das fliehen würde, das par-être zu substituieren als das Sein para, das Sein daneben. Ich sage, das par-être und nicht das paraître, wie man’s seit jeher gesagt hat, das Phänomen, dieses, jenseits dessen es dieses Ding geben soll, Noumenon. […] Jenseits der 685 686

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Wenn Lacan vom Mangel an »Anleitung« des »maître« spricht, so zeigt das, dass jeder Diskurs – der der strengen Wissenschaft (Freges und Russells), der der Politik (z. B. Lenins und Maos), der der Religion (von Paulus bis Hubbard) – einer ist, der den Menschen je neu umtreibt. Vom Imperativ des Signifikanten gerät das Subjekt aber, wie hoffentlich deutlich geworden ist, gerade nicht in eine Ruhe der Weisheit, sondern je zurück zur Frage »Che vuoi?«. Weisheit, die diese Frage nicht kennt, vergleicht Lacan spöttisch mit dem »blöden Lächeln« von Engelsstatuen. »Ein blödes Lächeln, wie jeder weiß – man braucht nur in die Kathedralen zu gehen, ist ein Engelslächeln. […] Und wenn der Engel ein so blödes Lächeln hat, dann deshalb, weil er im höchsten Signifikanten schwimmt. Ein wenig aufs Trockene zu kommen, das würde ihm wohltun – kann sein, dass er nicht mehr lächeln würde.« 689

Ein lächelnder Engel wird – es sei denn, er fliegt aus seiner Kathedrale heraus – keine exzessive Subjektivität hervorbringen, da er, wie Lacan sagt, in einer Totalität des Signifikanten, des Sinnes schwimmt und gerade nicht – wie es die uns hier interessierenden und unter exzessiver Subjektivität leidenden Individuen tun – diesen Sinn erst in seiner normativen Gewalt aus seiner Illegalität in die Zukunft zu gebären versucht. Wenn vergessen wird, dass die Sprache sowohl »Diesseits und Jenseits« 690 ist und darauf reduziert wird, das »Unterstellte einer Substanz zu sein«, ist Rechtssubjektivität in Gefahr. Dahinter sieht Lacan die Tendenz, die von ihm als nicht arretierbar ausgelegte Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant anzuhalten und »jenes Sein«, das flieht, das durch einen inneren Antagonismus ein Sich-je-neu-Einzuholendes ist, in ein Jenseitiges und Ewiges zu verkehren. Das impliziert die Verdrängung dessen, was Lacan eine fundamentale Trennung / Nicht-Koinzidenz (franz. la barre) des Sinnes nennt. Was solche verdinglichenden Strukturen nicht zeigen, ist, dass die Sprache

Sprache, dieser Effekt, der sich produziert, indem er sich allein auf die Schrift stützt, ist sicherlich das Ideal der Mathematik […]. Und gleichwohl, diese Unterstellung [eines Jenseits der Sprache, D. F.] ist uneliminierbar, da die Sprache in ihrem Signifikatseffekt je nur neben dem Referenten ist. Folglich, ist es nicht wahr, daß die Sprache uns das Sein auflädt und uns als solche dazu nötigt zuzugeben, daß, vom Sein, wir je nichts haben?« (Lacan, Das Seminar XX. Encore, 49, Hervorhebung D. F.). 689 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 25. 690 Lacan, Das Seminar XX. Encore, 49.

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selber, wie erwähnt, auf einem Paradox aufruht. Es verbürgt die »enunziative Kraft«, die performative Kraft der Sprache und die eigentliche Potenzialität exzessiver Subjektivität. Ebenso wie Heidegger, Agamben und Badiou versucht Lacan deshalb, das Sprechen des Subjekts von seinem Paradox her auf andere Dimensionen zu entbergen. Er sieht in der Psychoanalyse als Philosophie und in der Psychoanalyse als therapeutischer Ethik einen Weg, die Sprache an ihre enunziative Kraft rückzubinden, die wesentlich im Unbewussten liegt. Lacan unterstreicht dies, wenn er das »Gerede« des Analysanden innerhalb einer psychoanalytischen Sitzung als den Zugang zum »Subjekt des Unbewussten« anführt. Lacan: »Das Subjekt ist eigentlicherweise der, den wir anhalten […], alles zu sagen – man kann nicht alles sagen – sondern Blödheiten zu sagen, darauf kommt es an. Mit diesen Blödheiten werden wir dann die Analyse machen und eintreten in das neue Subjekt, das das des Unbewussten ist. Es ist gerade in dem Maße, als er geruht, nicht mehr zu denken, der gute Mann [der Analysand, D. F.], dass man vielleicht ein klein wenig mehr wissen wird, dass man einige Konsequenzen ziehen wird aus dem Gesagten […]. Daraus taucht ein Sagen auf, das nicht immer so weit geht, ex-sistieren zu können zum Gesagten. […] Es ist da die Probe, wo, in der Analyse irgendeines, er mag noch so blöde sein, ein gewisses Reales berührt werden kann.« 691

Was hat der Verweis auf das Gerede, das ein »gewisses Reales berührt«, für Konsequenzen? Es hat zur Konsequenz, dass Sprache – mit dem späten Wittgenstein, mit Heidegger und Agamben gesagt –, auch für Lacan wesentlich ein überhaupt exzessive Subjektivität erst ermöglichendes »Geschehen« ist und kein Abbilden. Sie verdrängt als Geschehen notwendig die grundlegende Unmöglichkeit ihrer eigenen Absolutheit / Totalität und drängt doch dazu, immer wieder aus ihrer Totalität zu einem Neuen zu treten. Das entspricht dem Drängen des Begriffs und der Dynamik der Kategorien als ausgerichtet auf einen letzten, phantasmatisch bleibenden Bezugspunkt bei Hegel. Diesen einholen zu wollen, stellt eine immer neue, die Erfüllung begehrende, und manchmal dafür auch exzessive Subjektivität in Kauf nehmende Aufgabe dar.

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Phantasmatische Abwehr der Anrufungen

Phantasmatische Abwehr der Anrufungen Wie wir oben im Rekurs auf den Graphen des Begehrens sahen, versteht Lacan das Subjekt als einen Effekt der Signifikantenkette. In diese tritt es als seine – mit Hegel, McDowell und Brandom gesprochen – zweite Natur wie in einen inferentiell-normativen, nie ganz abgeschlossenen Rahmen seiner Sittlichkeit. Sie hat den Freud und Lacan interessierenden Nebeneffekt einer Spaltung des Bewusstseins in einen bewussten und unbewussten Teil. Das Unbewusste erfährt zwar schon eine erste Markierung im Moment der Abspaltung von der Mutterbrust als einem später phantasmatisch imaginierten extimen Teil seines (des Subjekts) Selbst. Vertieft aber wird es durch die Einkleidung und Einverleibung der Psyche in normative Signifikanten des großen Anderen. Der Freud’sche Ödipuskomplex steht für diese Hineinnahme einer normativen Außeninstanz (z. B. des Vaters) in die psychische Innenstruktur des Subjekts. Die Signifikanten als Strukturform des »Gesetzes« des Vaters rufen das Subjekt an und gestatten seinen Begehren eine limitierte Ausgestaltung. Triebregungen, phantasmatische Momente narzisstischer Selbstimagination, auf die »His Majesty the baby« 692 (Freud) von Geburt an absoluten Anspruch erhebt, müssen verdrängt werden. Die Spaltung des Subjekts ist, wie gesagt, der Effekt. Wie wir dann ebenso im Kontext der Frage ideologischer Anrufung aufgewiesen haben, bleiben von frühester Kindheit an Anrufungen gesellschaftlicher, mit symbolischer Prägekraft ausgestatteter Instanzen (Vater, Mutter, Lehrer etc.), immer auch notwendig enigmatisch verzerrt als nicht zu übersetzende und d. h. legitimierende Größen in der Psyche zurück. Fantasie ›bindet‹ diese Verzerrungen dann ihrerseits. Sie liefert nach Lacans Definition Antworten im Rätsel des großen Anderen, um enigmatische Reste signifikanter (ideologischer) Anrufung zu entschärfen. Wie Jean Laplanche zeigt, prägen diese Reste in Form von nicht metabolisierten Signifikanten das Unbewusste von früher Kindheit an. 693 Diese Überreste, die in den Symbolisierungsprozessen von Institutionen nicht aufgehen und symbolisch unverarbeitet ›herausfallen‹, richten sich Sigmund Freud, Zur Einführung in den Narzißmus, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1982, 37–68, hier: 57. 693 Vgl. Jean Laplanche, »Der Trieb und sein Quell-Objekt; sein Schicksal in der Übertragung«, in: ders., Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze, Tübingen: edition diskord 1988, 121–148. 692

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an das Subjekt, wie es überfordernde Anrufungen tun. Diese Anrufungen kennen wir aus den Psychopathologien des Alltags zur Genüge. Jemand hat uns beispielsweise einen irritierenden Blick zugeworfen, der einen ganzen Erklärungsdiskurs in unseren Gedanken darüber auslöst, was dieser Blick wohl bedeutet haben könnte. Fantasie füllt nun für Lacan im großen Anderen dessen – aus der Perspektive des Subjekts – immer auch zurückbleibende enigmatische Lücken, um die Kohärenzen im normativen Überbau als Bedingung der eigenen reflexiven Selbstergreifung des Egos zu garantieren. 694 Da der Mensch von seiner Kindheit an gezwungen ist, sich zu legitimieren, dies aber nie ganz gelingen kann, da schon die Eltern, durch eine innere Alterität bedrängt, selbst einen Mangel an Legitimität verkörpern, braucht es die Fantasie als Verteidigungsstrategie gegenüber den Mängeln und als eine Form der Bewältigung von Kontingenz. 695 Fantasie ist nicht diejenige Größe, mit der wir die kosmische Ordnung durcheinander bringen, sondern sie ist, wie Eric Santner sagt, »[the] violent singular excess that sustains every notion of such an order.« 696 Žižek betont, dass Fantasie eine paradoxale Verschränkung des Begehrens aus Sollen und Wollen generiert. Sie antwortet auf die Appelle des großen Anderen und setzt in einer an Kants Begriff der Spontaneität der Einbildungskraft erinnernden Reaktionsweise die Koordinaten, in denen das Subjekt sich sowohl anerkannt findet, wie es auch die erschreckende Grundlosigkeit im fremden Begehren des Anderen durch diese selbstgesetzte Anerkennung überwindet. 697 Fan694 Das erinnert an Kants teleologische Urteilskraft, die zur Kohärenz des Erkenntnisprozesses »Als-ob«-Prinzipien zum Beweis einer zweckvollen Natur annehmen darf. Auch hier kann man sagen, dass Kant die Lücken im ›Weltgebäude‹ phantasmatisch füllt als transzendentale Bedingung von Erkenntnis überhaupt. Z. B. darf die teleologische Urteilskraft annehmen, »als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige)« die Gesetzmäßigkeiten der Natur »zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte« (KU V, 180). 695 Eric Santner schreibt: »Fantasy organizes or ›binds‹ the surplus into a schema, a distinctive ›torsion‹ or spin that colors/distorts the shape of our universe« (Psychotheology of Everyday Life, 39). 696 Santner, Psychotheology of Everyday Life, 40. 697 Žižek schreibt: »Fantasy appears […] as an answer to ›Che vuoi?‹, to the unbearable enigma of the desire of the Other, of the lack in the Other; but it is at the same time fantasy itself which, so to speak, provides the co-ordinates of our desire – which constructs the frame enabling us to desire something. The usual definition of fantasy (›an imagined scenario representing the realization of desire‹) is therefore somewhat misleading, or at least ambiguous: in the fantasy-scene the desire is not fulfilled,

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tasie hilft dem Subjekt im scheinbar verinnerlichten Blick des großen Anderen auf sich seinen scheinbar angestammten Platz in diesem zu finden. Der große Andere ist hier nicht nur eine Instanz, der das Subjekt gegenüber steht und der gegenüber es seine Unterwerfung erfährt. Er ist, wie Freud bereits in seiner Genese des Über-Ich durch den Ödipuskomplex erklärt, im libidinös strukturierten Dasein des in der Erziehung disziplinierten Menschen immer schon da. 698 Das psychoanalytische Theorem der Fantasie wird hier erwähnt, weil Lacan im Seminar XI von der Überwindung bestimmter Fantasien in seiner Rede vom »Durchstreichen des Phantasmas« spricht. Und wie wir oben schon mehrmals andeuteten, ist das Durchstreichen des Phantasmas ein zentraler Theoriebaustein in unserem Verständnis exzessiver Subjektivität. Dieses Durchstreichen ist sowohl vergleichbar mit der Geste, wie sie Kant in der moralische Handlung konzeptualisiert (als das plötzliche und akzidentelle In-Kauf-Nehmen der Nicht-Koinzidenz des Subjekts mit seiner eigenen Unbedingtheit), als die Rede vom Durchstreichen des Phantasmas auch die Gestik von Antigone und Sokrates verstehen lehrt, mit der beide sich durch politische Handlungstaten in der Abspaltung von der politischen Doxa als politische Subjekte neu setzen.

»La traversée du fantasme« In seinem Seminar II vergleicht Lacan die Befreiungsgeste am Ende der psychoanalytischen Therapie mit dem Befehl: »Mange ton Dasein!« 699 Und am Ende seines Artikels Proposition sur le psychana›satisfied‹, but constituted (given its objects, and so on) – through fantasy, we learn ›how to desire‹. In this intermediate position lies the paradox of fantasy: it is the frame co-ordinating our desire, but at the same time a defense against ›Che vuoi?‹, a screen concealing the gap, the abyss of desire of the Other« (Žižek, The Sublime Object of Ideology, 118). 698 So bleibt der Mensch notwendig immer in der Frage seiner Selbst, in der hysterischen Frage gefangen, was der Andere von ihm will. Žižek: »The subject does not know why he is occupying this place in the symbolic network. His own answer to this ›Che vuoi?‹ of the Other can only be the hysterical question: ›Why am I […] [a teacher, a master, a king …]?‹ Briefly: ›Why am I what you [the big Other] are saying that I am?‹« (Žižek, The Sublime Object of Ideology, 113). 699 Lacan, Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds, 260 f. Was hier sinnbildlich ›aufgegessen‹ werden und woraus das Subjekt ›herausfallen‹ soll sind die libidinös das Dasein aufladenden Koordinatenpunkte, in denen das Subjekt sich in der Anbindung

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lyste de l’École beschreibt er als Ziel der Transferenzbeziehung zwischen Analytiker und Analysanden den Moment, in dem das Subjekt aus seiner Fantasie herausfällt: »[L]a relation du transfert […] le fait déchoir de son fantasme et le destitue comme sujet.« 700 Da es in einer psychoanalytischen Therapie in der Regel darum geht, das Unbewusste zu überzeugen, dieses sich aber der Intentionalität des Bewusstseins entzieht und im eigentlichen Sinne nicht mit den traditionellen Mitteln eines rationalen Diskurses überzeugt werden kann, markiert Lacan mit der Rede vom Durchkreuzen des Phantasmas kein argumentatives Abwägen von Möglichkeiten und Verhaltensoptionen. Lacan meint einen nicht anders als mystisch zu verstehenden dialektischen Umschlagpunkt oder dezisionistischen Schnitt, wo dem Subjekt seine neue Selbstverortung passiv zuteilwird oder ihm wie eine religiöse Bekehrung zustößt. Das Durchstreichen des Phantasmas steht für einen ersten signifikanten Akt. Er ist eine strukturell übereilte Aktion, welche aufgrund ihrer eigenen Nichtableitbarkeit aus gegebenen Informationen des Ichs über sich selbst, letztlich in einem vorauseilenden Sprung dazu führen soll, zu sich zu kommen. Lacan beschreibt den Akt daher auch als »Hast« und bezeichnet letztere als eine »dritte Dimension« der Zeit. 701 Zur Erinnerung: Auch bei Kant wurde die Charakterwahl bzw. die Gesinnungsrevolution von einem nicht ableitbaren dezisionistischen Umschlag expliziert. Bruce Fink beschreibt die Durchkreuzung des Phantasmas als einen Akt der Trennung von der jouissance 702 des großen Anderen, an die Normen des großen Anderen vom Blick des großen Anderen aus stehen sieht. Diese Koordinaten verankern das Unbewusste, wo für Lacan der große Andere dem Subjekt immer schon näher ist, als es sich auf der Ebene seines Bewusstseins nahe sein kann. 700 Lacan, »Proposition du 9 octobre 1967 sur le psychanalyste de l’École«, in: ders., Autres écrits, Paris: Éditions du Seuil 2001, 243–260, hier: 252. 701 Lacan: »Es gibt eine dritte Dimension der Zeit, die ihnen [den Maschinen, D. F.] unstreitig nicht angehört und die ich Ihnen bildlich darzustellen versuche durch das Element, das weder der Verzug noch der Vorsprung ist, sondern die Hast, die eigentliche Bindung des menschlichen Wesens an die Zeit, an den Karren der Zeit, der da ist, ihm auf den Fersen zu folgen« (Lacan, Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds, 369 f.). Lacan exemplifiziert das Moment der Hast als signifikanten Akt, der dem Schwanken für und wider bestimmte Dezisionsoptionen ein Ende bereitet, in seiner Explikation des sogenannten Gefangenenparadoxes in seinem Text »Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewissheit«, in: ders., Schriften III, Berlin / Weinheim: Quadriga 1994, 101–121. 702 Jouissance ist für Lacan, wie erwähnt, ein libidinöses Genießen, das auch ein masochistisches und leidendes Moment umfasst.

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der die immer auch libidinöse Art und Weise des Anerkanntseins des Subjekts durch den großen Anderen in ihm betrifft. 703 Was als Hindernis dem Akt der Trennung bzw. des Durchstreichens im Wege steht, ist die libidinöse Bindung des Betroffenen am und im Genießen des großen Anderen. Wenn Fink im Verweis auf die Durchkreuzung des Phantasmas davon spricht, das das Individuum das Begehren des Anderen so auf sich nehmen kann, dass aus diesem Begehren ein für es selbst rechtfertigbarer und zureichender Grund wird (losgelöst vom großen Anderen), dann meint dies, dass der Betroffene sich von dem lossagt, was die ehemaligen Bedingungen seiner Subjektivierung gewesen sind. Eine Neubestimmung der Unterwerfungsgeste des Subjekts gegenüber dem Anderen ist dann der Moment, wo das Begehren vom Subjekt als Grund der eigenen libidinösen Fremd-Investitur auf sich zurückgespiegelt wird. Fink: »Die Subjektivierung ist das Ziel der Analyse: die Subjektivierung der Ursache, d. h. des Begehrens des Anderen als Ursache.« 704 Mit Kants sehr weitem Begriff des Pathologischen könnte man die Schwierigkeit oder besser Unmöglichkeit dieses Schrittes so beschreiben: Die Pathologien des Menschen von seinem Wesen und seinem Charakter abzustreifen, verlangt von diesem eine übermenschliche Anstrengung (eine Gesinnungsrevolution), da diese Pathologien – seine Interessen, Neigungen, sein Verständnis von neurotischer Glückseligkeit in Abhängigkeit von seiner im großen Anderen verankerten Lebenswelt – das sind, was das Subjekt ist. 705 703 Fink schreibt: »The subject who refuses to ›sacrifice his or her castration to the Other’s jouissance‹ […] is the subject who has not undergone the further separation known as traversing fantasy […]. The subject must renounce his or her more or less comfortable, complacently miserable position as subjected by the Other – as castrated – in order to take the Other’s desire as cause upon him or herself. The traversing of fantasy thus involves a going beyond of castration and a utopian moment beyond neurosis« (Fink, The Lacanian Subject, 72). 704 Bruce Fink, Eine klinische Einführung in die Lacan’sche Psychoanalyse: Theorie und Technik, Wien / Berlin: Turia & Kant 2010, 85. 705 Wenn beispielsweise Marcel Prousts Romanheld Swann im Romanzyklus À la recherche du temps perdu die nicht erwiderte Liebe zu Odette unerträglich geworden ist, so möchte er nicht mehr mit diesem Leid der Liebe leben. Es ist aber auch der pathologische Andere in Swann selbst, der im Genießen seines Symptoms nicht erwiderter Liebe in der Gestimmtheit dieses Daseins sein Dasein ist. (vgl. Zupančič, Das Reale einer Illusion, 22). Swann kann, wie Proust beschreibt, weder mit seinem Symptom, noch ohne dieses leben. »[A]us dem Grunde seines krankhaften Zustandes heraus fürchtete er wie den Tod eine solche Heilung, die in der Tat das Ende von allem bedeutet hätte, was er im Augenblick war« (Marcel Proust, Auf der Suche nach der

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Mit Zupančič gesagt: Was das Subjekt noch mehr fürchtet als dieses oder jenes Leiden, ist der Verlust des Rahmens, »innerhalb dessen es [das Subjekt] überhaupt Lust (oder Schmerz) empfinden kann.« 706 Das macht gerade die scheinbare Unmöglichkeit des »Durchkreuzens des Phantasmas« als Durchkreuzung meiner libidinösen (Fremd-)Investitur im großen Anderen aus. Er ist es doch, der mir in meiner Umwelt eines Gemeinwesens Selbstwert als guter Bürger gibt, der meine Lebenskompromisse absegnet, den Heidegger’schen »Ruf des Gewissen-haben Wollens« auf kleiner Flamme hält und meine Mogeleien beim alltäglichen Scheitern am moralischen Gesetz gutheißt. Diesen großen Anderen durchkreuzen? Warum sollte ich das wollen, wenn das Pathologische das kleinere Übel ist als das kantische moralische Gesetz? Antigones trauervolle Aufzählung der sozialen Rollen (als Ehefrau und Mutter), denen sie durch ihr Festhalten an ihrem Begehren entsagt, 707 kann auch als ein Durchkreuzen des Phantasmas in Abhängigkeit vom großen Anderen in Form einer rituellen Rückerstattung ihrer symbolischen Investitur verstanden werden. Dies ermöglicht ihr, in den von Lacan benannten Bereich »zwischen zwei Toden« einzutreten. Diese Rückerstattung hilft Antigone, ihr Begehren zu autonomisieren, 708 um so die sophokleische Antigone zu werden, die – wie Lacan sagt – in den Bereich der Ate vordringt. Selbst wenn das Subjekt nie den phantasmatischen Rahmen seiner Lebenswelt ganz verlassen kann (streng genommen nur zum Preis einer Psychose), markiert das Durchkreuzen des Phantasmas, dort wo es im großen verlorenen Zeit, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 468). Das ›Ende vom allem zu bedeuten, was das Subjekt im Augenblick ist‹ markiert die Rede vom »Durchstreichen des Phantasmas.« 706 Zupančič, Das Reale einer Illusion, 22. Bruce Fink erwähnt Hamlets Schicksal als das einer Psyche, die zur Handlung unfähig ist, weil sie sich von der phantasmatischen Unterfütterung des Rahmens der Lebenswelt, in Hamlets Beispiel ist es die Anrufung seines Blutrache einfordernden Vaters, nicht lossagen kann. Fink erwähnt Hamlet in The Lacanian Subject, 65 f. 707 Antigone drückt dies in ihrer langen Trauerklage gegenüber Kreon und dem Chor im dritten Akt der Tragödie aus. Vgl. Sophokles, Antigone, in: ders., Tragödien, Weimar: Volksverlag 1959, 85 f., (besonders die Verse 916–920). 708 Die Durchkreuzung des Phantasmas ist nicht als Entscheidung nach einem Abwägungsprozess verschiedener Optionen gemeint, wo das Subjekt autonom sich wählt. Lacan versteht das Durchkreuzen des Phantasmas als Akt, für den das Subjekt der IchFunktion letztlich sich zumindest nicht direkt im Sinne einer Autonomie verantwortlich zählen kann.

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Anderen seine Verankerung hat, einen Weg »über die Neurose hinaus«, 709 wie Fink schreibt. Es ergibt eine Neujustierung der Strukturen, in denen das Subjekt sich als anerkannt setzt. Das Durchstreichen des Phantasmas markiert eine dezisionistische Veränderung des Rahmens der Subjektivitätsbeziehungen. Dies kann – wie wir wiederholt betont haben – radikal politische Effekte heraufbeschwören. 710 Auch vor dem Hintergrund dieser Auswirkungen ist Lacans Kant- und Hegel-Rezeption zu verstehen. Das Subjekt, das seine Phantasmen durchkreuzt, hat auch seine Lebenswelt und durch seine eigene modale Neueinschreibung in das symbolische Feld auch sein Verhältnis zu den anderen verändert. Der Ort, von dem aus das Subjekt diszipliniert wurde, wird in der Charakter-, Gesinnungsbzw. Neurosenwahl dezisionistisch auf es selbst in einer dialektischen Kehrtwendung zurückgespiegelt als derjenige, von dem aus das Subjekt – in einer paradoxen Zeitschleife – diese Disziplinierung immer schon zumindest mitzuverantworten hatte. Das Subjekt ergreift in der Wahl seiner Autonomie zeitgleich und notwendig die Genealogie seiner Disziplinierung als die Bedingung der Neubestimmung und des nun von ihm in neuer Art und Weise verantworteten Seins seiner selbst. Die Charakterwahl wie auch die »Durchkreuzung des Phantasmas« folgen als dialektische Umkehrungen der Logik der Re-Markierung nach Lacan – und genau diese Zeitform der Vorzukunft sah er ebenso als Wesensmerkmal des Unbewussten an. Das Unbewusste ist dasjenige, was »vermöge des symbolischen Prozesses in der Analyse gewesen sein wird« 711, schreibt Lacan. Er hatte, wie schon erwähnt, Fink, Eine klinische Einführung in die Lacan’sche Psychoanalyse, 273. Das Durchstreichen des Phantasmas kann verbunden werden mit Lacans Register des Imaginären. Das Subjekt entwirft sich ähnlich wie das Kleinkind im Spiegelstadium als Idealimagination voraus auf eine symbolische Ordnung, die es in einer neuen Rechtsstruktur anerkannt haben wird. Das hinterfragt nicht den Akt in seiner Unableitbarkeit, weil die symbolische Ordnung gerade nicht den Entschluss begründen kann. Langlitz schreibt dazu sehr treffend: »Den Antrieb zu Handeln gewinnt das Subjekt nicht aus dem Symbolischen, sondern aus dem Bild, das es sich von sich selbst macht. Es stellt sich vor, welche Rolle ihm in der symbolischen Ordnung zukommt bzw. in welcher Rolle es von den anderen gesehen wird, und bemüht sich, dieser fiktiven Identität gerecht zu werden« (Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse, 204 f.). Lacans Register des Imaginären bestimmt hier die phantasmatische Verzerrung innerhalb exzessiver Subjektivität. Diese phantasmatische Verzerrung rechnet mit dem, was es noch gar nicht gibt. Sie hofft darauf, von der Zukunft anerkannt zu werden. Das Durchstreichen des Phantasmas zielt auf ein »nicht Realisiertes« (Lacan, Seminar XI, 36), auf einen Mangel im großen Anderen. 711 Lacan, Das Seminar I. Freuds technische Schriften, 204. Lacan weiter: »Vergessen 709 710

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von Freud die Erkenntnis übernommen, dass in der Psyche Erinnerungen sich durch gegenseitige Überschreibungen beeinflussen. Kausalitätsstrukturen geraten dabei in paradoxale Verkehrungen ihrer Zeitlichkeit. Das Gedächtnis, schreibt Lacan, ist »jeden Augenblick einsatzbereit. Aber im nächsten Augenblick kann es sehr wohl überhaupt nicht mehr dasselbe sein.« 712 Die Außenwelt des Subjekts selbst verändert sich in seiner Unmittelbarkeit nicht. Was sich verändert, ist, wie Žižek sagt, »die Modalität [… der] Einschreibung [des Subjekts] ins symbolische Netz.« 713 Für Lacan wird das Subjekt im Durchstreichen des Phantasmas Träger seines Realen, einer inneren Paradoxie, aus der es ›entsteht‹. Das Subjekt arbeitet seine Geschichte nicht auf, es »schreibt sie noch einmal« 714 und zwar als Herr der Signifikanten. 715 Dieser Akt verkörpert das Zentrum der Ethik der Psychoanalyse, die deshalb auch »Ethik des Realen« zu nennen ist. Das Reale markiert dann zwar eventuell einen Ort des persönlichen Scheiterns, es markiert einen Destruktionswillen zugunsten von etwas anderem insoweit, wie Lacan sagt, alles in Frage gestellt werden kann »von der Funktion der Signifikanten aus«, 716 d. h. von der – mit Robert Brandom gesprochen – Funktion der implizit inferentiellen Charakteristik begrifflicher Zusammenhänge, die die Lebenswelt des

Sie dies nicht – Freud erklärt die Verdrängung zunächst als eine Fixierung. Aber im Augenblick der Fixierung gibt es nichts, das die Verdrängung wäre. Die des Wolfsmanns stellt sich erst nach der Fixierung her. Die Verdrängung ist eine Nachdrängung. Und wie dann die Wiederkehr des Verdrängten erklären? So paradox das scheinen mag, es gibt nur eine Art, sie zu erklären – das kommt nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft« (ebd., 205). 712 Lacan, Das Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds, 236, Hervorhebung D. F. Und Lacan weiter: »Es kann sein, dass es den Inhalt, das Zeichen, die Struktur gewechselt hat. […] Nicht das, was danach kommt, wird modifiziert, sondern alles Vorherige. Wir haben eine nachträgliche Wirkung – wie Freud das ausdrückt –, die spezifisch ist für die Struktur des symbolischen Gedächtnisses« (ebd.). Vergleiche dazu auch Friedrich Kittlers Rede von der »Zeitachsenmanipulation« in seinem Buch Draculas Vermächtnis, Leipzig: Reclam 1993, 182–206. 713 Žižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun, 88. 714 Lacan, Das Seminar I. Freuds technische Schriften, 22. 715 Diesen Hinweise verdanke ich Nicolas Langlitz, der schreibt: »Herr des Signifikanten zu sein, wie Lacan das Ziel der Analyse beschrieben hatte, bedeutet, sich aus der Fixierung an die identitätsstiftenden Bilder der eigenen Vergangenheit zu befreien, aus der zwanghaften Wiederholung der immer gleichen Worte, des immer gleichen Verhaltens auszuscheren und die Signifikantenkette, denen das ganze Leben unterworfen ist, umzuschreiben« (Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse, 192). 716 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 256 f.

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Subjekts und sein psychisches Innenleben immer schon normativ im Verhältnis zu anderen Subjekten betreffen. Aber eben damit sieht Lacan auch die Möglichkeit zum Neubeginn gegeben. Lacan spricht von einer »kreationistische[n] Sublimierung, die an das Strukturelement [der Destruktion] gebunden ist.« 717 Sie zeigt, »dass, sowie wir es mit irgendetwas in der Welt zu tun haben, das sich in Form der Signifikantenkette präsentiert, es irgendwo, mit Sicherheit aber außerhalb der Welt der Natur, das Jenseits dieser Kette gibt – das ex nihilo, auf das sie sich gründet und sich als solche artikuliert.« 718

Das Reale und keine metaphysische Substanz ist dieses Jenseits der Signifikantenkette. Dieser Ort eines ex nihilo ist nicht repräsentierbar und dennoch sendet er seine Effekte aus, z. B. durch das Unbewusste, welches »vermöge des symbolischen Prozesses in der Analyse gewesen sein wird.« 719 Lacans Rede vom Realen hat sich im Lauf seiner Karriere in Etappen entwickelt. Während in seinen frühen Werken der Begriff sich auf das Eigenleben der Triebe des Körpers als Teil eines genüsslichen, das Selbstverhältnis des Subjekts aufbrechenden Leidens richtete, so steht in seinen späteren Werken das Reale für die größere Bedeutungsfülle eines inneren, seine beiden anderen Register (das Symbolische und des Imaginäre) aufbrechenden Antagonismus. Wie John Rajchman treffend schreibt, verweist das Reale darauf, inwiefern der »Eros im Argen mit unserem Ethos« 720 liegt. Das Reale birgt für Lacan das unverfügbare Potenzial der Enttarnung diverser Sinnkonstruktionen des Individuums und der Gesellschaft. Es steht ähnlich wie Hegels Begriff der Negativität für ein subversives Potenzial, für welches das Subjekt selbst kein propositionales Wissen, sondern eventuell nur ein absurd-symptomartiges Insistieren und Begehren aufbringen kann. 721 Das Reale markiert dann in dieser Spannung, in der Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 257. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 257. 719 Lacan, Das Seminar I. Freuds technische Schriften, 204. 720 John Rajchman, Truth and Eros: Foucault, Lacan, and the Question of Ethics, London / New York: Routledge 1991, 70. 721 Lacan zeigt, wie der beschriebene Grundkonflikt der Subjektwerdung im Horizont einer politischen Ontologie immer wieder auftaucht als der Konflikt zwischen phantasmatisch intersubjektiv gespeisten Sinnkonstruktionen und dem Insistieren von Subjektivität, für das das Subjekt selbst propositional nicht immer Gründe vorweisen kann. 717 718

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Lacan seine Ethik des Realen entfaltet, einerseits die kastrierende Kraft von aufgezwungenen Gesetzen, Worten, Begehren und Begehrensverdrängungen, die das Unbewusste formatieren. Aber es markiert auch die Durchkreuzung von aus diesen Unterwerfungsgesten gespeisten Phantasmen. Das Subjekt verkörpert Überschuss, Exzess, der auch von der Ideologie nicht metabolisiert werden kann. Von dieser Nicht-Koinzidenz zwischen Eros und Ethos sind Lacans schwer definierbare Begriffe wie das »Ding«, »Objekt klein a«, »jouissance« durchzogen. Mit ihnen versucht er, phänomenologische Effekte der Psyche zu klären wie die Rastlosigkeit des Begehrens, die erwähnten autodestruktiv sich erweisenden Verhaltensweisen und das eigenwillige Genießen seelischen Leidens und neurotischer Ticks. Inwiefern diese ›Psychopathologien‹ überhaupt etwas mit Ethik zu tun haben können, mag schwer verständlich sein. Aber für Lacan ist entscheidend, dass in diesen Symptomen die Ich-abgewandte Seite der autonominellen Rechtssubjektivität insistiert und über den Umweg scheinbar pathologischer Fixierungen und Resistenzen ihr »Recht« gegen das Etablierte (die Ich-Funktion und ihre gesellschaftlichen Koordinaten im großen Anderen) geltend machen kann. Und die Ethik der Psychoanalyse spricht gemäß Lacans Verständnis genau diesem Insistieren als einer transgressiven, tragischen, aber auch rechtlichen Größe Legitimität zu, ohne sie den überlieferten Kategorien der humanistisch-ethischen Tradition, wie »der Schmälerung des Begehrens«, der »Bescheidenheit, Mäßigung«, 722 dem »Dienst an den Gütern« 723, unterordnen zu wollen.

Nicht repräsentierte Signifikanten Lacan macht eine zeitgleiche Aufdringlichkeit von Signifikanten geltend für den uns hier im Kontext unseres Theorems exzessiver Subjektivität interessierenden Prozess der Durchkreuzung des Phantasmas. Er nennt ihn in abgewandelter Form im Seminar XIV (Die Logik der Fantasie) sowohl »Akt« als auch »passage à l’acte«. 724 In der SitLacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 375. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 387. 724 Die Signifikanten, die Lacan hier interessieren, haben für das Subjekt eine Bedeutung, für die es in den »Kontobüchern« des großen Anderen vorerst keine Äquivalenzen zu geben scheint. Das hängt damit zusammen, dass der große Andere zwar als Bedingung der Entfremdung des Subjekts, wie Lacan sagt, nahezu allmächtig ist. Aber 722 723

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zung vom 15. Februar 1967 bestimmt er den erfolgreichen Abschluss einer Analyse – von ihm selbst »le savoir analytique« genannt – als einen Schritt und Übergang ins Reale, als »[la, D. F.] passe dans le réel«. 725 »Damit dieses [Wissen der Psychoanalyse, D. F.] ins Reale fortschreitet [qu’il passe dans le réel] – so behaupten wir – muss das Ich nach dem Maß seines gewachsenen Anspruchs sich als fons et origo des Seins affirmieren.« 726 Und wenn Lacan anschließend schreibt »l’acte est signifiant« 727 und das Subjekt sei »transformé par l’acte,« 728 dann meint dies, dass der Akt einen Bedeutungshorizont schafft, in dem das Subjekt sich auf neue Art und Weise in einer Autonomination und Selbstergreifung angegangen findet. »Der Akt ist der einzige Ort, wo der Signifikant den Anschein hat – die Funktion hat er auf jeden Fall – sich selbst zu bezeichnen. D. h. außerhalb seiner Möglichkeiten zu funktionieren.« 729 Wie Kants Gesinnungsrevolution setzt der Akt Bedeutungen in der Performanz seines Geschehens. Lacan: Der Akt ist die »instauration du sujet comme tel«, 730 die autonominelle Einsetzung des Subgleichzeitig sind er und seine Wahrheit gespalten und zwar auf »dieselbe Art und Weise wie wir sie [die Spaltung, D. F.] im Subjekt selbst begreifen.« »L’Autre comme tell est … si je puis dire, si vous permettez ce mot à mon improvisation fracturé. De la même façon que nous le saisissons dans le sujet lui-même« (Lacan, Le séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 15. Februar 1967). 725 Ed Pluth definiert drei Aspekte aus Lacans Verständnis eines Aktes in dessen Seminaren XIV und XV: 1.) Der Akt tut etwas mit Worten (er hat Auswirkungen auf Worte, Bedeutungen) 2.) Er verändert die Koordinaten der Subjektivierung des Subjekts. 3.) Er ist transgressiv. Vgl. Ed Pluth, Signifiers and Acts. Freedom in Lacan’s Theory of the Subject, New York: State University of New York Press 2007, 102 f. 726 »Cela – n’est-ce pas ? – ›qu’il passe dans le réel‹, nous posons que cela se produit toujours plus, à mesure de la prétention toujours croissante du ›je‹ à s’affirmer comme ›fons et origo‹ [source et origine] de l’être. C’est ce que nous avons posé« (Lacan, Le Séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 15. Februar 1967). 727 Lacan, Le séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 22. Februar 1967. 728 Lacan, Le séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 15. Februar 1967. 729 Und Lacan schreibt weiter: »[… A]us einem wahrhaftigen Akt bricht das Subjekt differenziert hervor. Aufgrund der Unterbrechung ist seine Struktur modifiziert.« (Le séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 15. Februar 1967, Hervorhebung D. F., eigene Übersetzung). 730 »C’est-à-dire que d’un acte véritable le sujet surgit différent : en raison de la coupure sa structure est modifiée« (Lacan, Le séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 22. Februar 1967). Gerade die Ahnung der inneren Gebrochenheit des großen Anderen und trotz seiner angeblich allmächtigen Wissensfülle kann das Subjekt zum Akt befähigen. Der Akt ist etwas, das dem Subjekt geschieht, das sein Schicksal erst nach dem Akt betrifft und das sich als Akt erwiesen haben wird, wenn die

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

jekts als solches. Eine Handlung wird ein Akt gewesen sein, wenn die Konsequenzen in einer Durchkreuzung des großen Anderen oder in einer neuen Ausrichtung desselben im Verhältnis zur Subjektivierung bestanden haben. »Ist es wirklich dort am Ursprung oder haben wir es nur in den Ursprung hineingelesen?« 731 Der ›Wahn‹ des »historischen Materialisten« in Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen kommt dem, wovon Lacan hier spricht, sinnbildlich nahe. Dessen Begehren zielt darauf, Geschichte retrospektiv »zitierbar« zu machen, aber nicht so, dass »Bilder […] losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen«. 732 Die konstruierten Geschichts-›Bilder‹ sollen dementgegen einen geradezu psychotischdringlichen Appell artikulieren. Für diesen Appell hat der große Andere auch nach Benjamin keinen klar vorzeigbaren Eintrag, den er in seinem Kontobuch bzw. in seiner aus Torsi bestehenden Galerie vorweisen könnte. 733 Schließlich ist dieses Kontobuch als Kulturprodukt immer dasjenige der Sieger der Geschichte. Darauf beruht Benjamins mystischer Messianismus: auf dem Einbruch eines akzidentellen Anrufs aus der Unterdrückungsgeschichte, die die Kulturgeschichte ist. Der historische Materialist ist mit geradezu paranoider Eindringlichkeit dazu berufen, die Dokumente der Geschichte gegen die in den herrschenden Signifikantenketten etablierten Genealogien zu rezipieren. (Die Dokumente sind immer die der Sieger der Geschichte, wie Benjamin behauptet). Benjamin zitiert in seiner 12. These das Schießen auf die Pariser Turmuhren während der Julirevolution von 1830 als einen – dem Lacan’schen Durchstreichen des Phantasmas analogen – Bruch mit einem Zeitverständnis, das als Kontinuität der Tradition, als Fortschreibung der immer gleichen Klassenstrukturen im

Rätselhaftigkeit eines Signifikanten plötzlich schicksalhaft eine Bedeutung dem Subjekt und seinem Unbewussten zuträgt. Retrospektivität ist hier entscheidend wie wir es auch bei Hegel gesehen haben. Zum Thema der Retroaktivität des Akts siehe auch: Jacques-Alain Miller, »L’acte entre intention et conséquence: intervention à la dernière soirée du séminaire politique lacanienne première série, le 27 mai 1998«, in: La Cause freudienne, No. 42 (Mai 1999), 7–16. 731 Miller, »L’acte entre intention et conséquence«, 11. 732 Walter Benjamin, »Ausgraben und Erinnern« (Denkbilder), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Herrmann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, 400 f. 733 Vgl. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, 691–704.

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Nicht repräsentierte Signifikanten

Bewusstsein der Revolutionäre angehalten werden soll. 734 Geschichte muss umgeschrieben werden, so wie im Durchkreuzen des Phantasmas für Lacan das Unbewusste in seiner neuen Gesinnungswahl zugleich entborgen und konstruiert werden soll als das, was es gewesen sein wird. Die Appelle, die die Leiden der Vergangenheit dann nach Benjamin im Moment einer Jetztzeit für die Gegenwart rezipierbar machen, kommen, mit Lacan gesagt, »nicht aus der Vergangenheit« wie aus einer Urzeit der Authentizität, sondern als Konstruktionen bzw. Akte einer autonominellen paranoiden Selbstsetzung »aus der Zukunft.« 735 Und sind nicht solche Akte des Durchstreichens immer in politisch-revolutionären Umbrüchen von Bedeutung (das Niederbrennen des Staatspalais, das Stürzen der Führerskulpturen), um eine Rückkehr in alte Zeiten unmöglich zu machen? Für Benjamin drückt sich das neue Bewusstsein der Juli-Revolutionäre bezüglich der Diskontinuität der Zeit in der Einführung eines neuen Kalenders aus. Ehemals unbedeutende Signifikanten werden dem historischen Materialisten, aber auch den Revolutionären (paranoid?) bedeutsam. Und ist dies nicht ein Umstand, der heute noch Revolutionäre umtreibt an den wenigen Orten, wo es sie noch gibt? Zuvor vernachlässigbare, verdrängte Umstände können plötzlich mit normativem Recht dann auch allen anderen vor Augen stehen. 736 Lacan versteht den Akt einer Re-Markierung nicht wie Benjamin geschichtstheologisch, sondern in erster Linie in Beziehung zur psychoindividuellen Ebene des Analysanden, der versucht, sich von einem bestimmten Leiden, geprägt durch eine verquer-libidinöse Investitur in das symbolische Netzwerk, zu befreien. Dennoch kann diese individuelle Ebene – wie Lacan eingesteht – sehr wohl kollektive Auswirkungen mit revolutionärem Charakter haben. Lacan erwähnt Lenin und Paulus als Subjekte, deren teils paranoid erscheinende Neu-Einschreibung ins symbolische Netzwerk den Weltverlauf beeinflusst hat. 737 Vgl. Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte«, 702. Lacan, Das Seminar I. Freuds technische Schriften, 205. 736 Benjamin glaubte, seine Geschichtsphilosophischen Thesen in einer expliziten Abgrenzung zur Geschichtsteleologie Hegels zu entwerfen. Er unterschätzte dabei Hegels Geschichtsphilosophie, die ihm näher steht als er zu sehen vermochte. 737 Vgl. z. B. Lacan, Das Seminar III. Die Psychosen, 104, 119, 207; Le séminaire IX. L’identification, Sitzung vom 14. März 1962; Le séminaire XXIV. L’insu, Sitzung vom 17. Mai 1977. Die vielleicht berühmteste literarische Figur, die sich den genannten politischen Figuren beigesellt, ist Kleists Michael Kohlhaas. In Kohlhaas’ Versuch, 734 735

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

In Situationen der Erwählung und Berufung ›sprechen‹ dann Signifikanten regelrecht in ihrer normativen Bedeutung so zu dem Subjekt, dass es in der Anrufung wie neu geschaffen hervorbricht. Man denke an die scheinbar Paranoia evozierenden Appelle der alten Beerdigungsgesetze, die Antigone ›anrufen‹. (Natürlich ist sie die Schwester des Polyneikes, aber das ist Ismene, die der Polis Gehorchende, auch.) Man könnte aber auch Paulus’ Bekehrungserlebnis auf dem Weg nach Damaskus 738 oder Kaiser Konstantins ›göttliches Vorzeichen‹ bei der Schlacht an der Milvischen Brücke zu solchen paranoiden Wahrnehmungssituationen zählen, wo Signifikanten aus dem Bereich des Lacan’schen Realen auftauchen und das Subjekt in eine neue Ausprägung des Selbstseins befördern. Wie Ed Pluth treffend schreibt: »In an act, signifiers are used quasi-autonomously, and their use amounts to a repetition and an extension of a signifying impasse, converting an enigmatic tension into some kind of satisfaction.« 739 Wie aber kann das sein? Wie können Signifikanten das Subjekt eine »bessere[] Ordnung der Dinge« zu errichten, deklariert er sich in Form einer performativen Selbstbenennung zum »Statthalter Michaels, des Erzengels, der gekommen sei, an allen, die in dieser Streitsache des Junkers Partei ergreifen würden, mit Feuer und Schwert […] zu bestrafen« (vgl. Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hrsg. von Helmut Sembdner, München: Hanser Verlag 1993, 41). Es ist umstritten, wie Kohlhaas’ Rechtskampf zu interpretieren ist, ob als eine »exzeptionelle Verabsolutierung des Rechtsgedankens« und als ein »persönlicher Rachefeldzug« (vgl. Honneth, Das Recht der Freiheit, 161) oder als »law-making violence«, die eine bessere Ordnung der Dinge anvisiert (Slavoj Žižek, Did Somebody Say Totalitarianism? Five Interventions in the (Mis)Use of a Notion, London / New York: Verso 2001, 33). Ernst Bloch sieht in ihm einen Don Quijote in Gestalt kantischer Moralität (in: »Über Rechtsleidenschaft innerhalb des positiven Gesetzes (Kohlhaas und der Ernst des Minos)«, in: ders., Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1961, 93–102). Terry Eagleton beschreibt ihn als einen modernen Terroristen (in: ders., Trouble with Strangers: A Study of Ethics, Oxford: Wiley-Blackwell 2008, 183 ff.). Wolf Kittler interpretiert ihn als einen Rechtsvertreter, der vor seiner eigenen Gewalt nach dem Niederbrennen von Wittenberg und Leipzig seinen moralischen Anspruch verliert (in: ders., Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg: Rombach 1987). 738 Die Bekehrung des Paulus ist in den letzten Jahren im Kontext der politischen Philosophie der Gegenwart wiederholt als eine politische Exzessgeste verhandelt und im Kontext der Befragung einer universalistischen Rechtssetzung untersucht worden. Vgl. dazu Dominik Finkelde, Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou, Agamben, Žižek, Santner, Wien / Berlin: Turia & Kant 2006. 739 Pluth, Signifiers and Acts, 98.

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Nicht repräsentierte Signifikanten

zu einem Akt drängen, wenn dieselben mit ihren normativen Ansprüchen scheinbar aus dem Bereich des Lacan’schen Realen kommen und gerade vom großen Anderen nicht mit derselben Aufdringlichkeit von Gewissheit anerkannt werden? Liefe das nicht auf eine bestimmte Form von privatsprachlicher Phantasie, oder, wie die Beispiele selbst nahelegen, auf zumindest kurzzeitigen geistesgestörten Wahn hinaus? Für Lacan mag das Durchstreichen des Phantasmas notwendig ein wahnhaftes Moment haben. Das heißt für ihn jedoch nicht, dass das Subjekt zeitgleich psychotisch in einen Zustand abstürzt, wie ihn Daniel Paul Schreber in seinen von Freud und Lacan interpretierten Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) manifestiert. Das Symbolische (als die kollektiv verbürgte Rechtfertigungsstruktur von Wahrheitsansprüchen in ihren verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen) und das Imaginäre (als das virtuelle Idealbild von Subjekt und Gesellschaft) sind immer mit dem Realen verwoben, was erst garantiert, dass sie nie alles sind. Keine Sinnstruktur, weder innerpsychisch noch intersubjektiv, kann ohne das Reale auskommen. Das Subjekt löst im Durchstreichen des Phantasmas nicht ganz den Borromäischen Knoten des Symbolischen, Imaginären und Realen, in den seine Psyche eingebunden ist. Es verrückt die Verbindungsbeziehungen zwischen Imaginärem und Symbolischem durch eine – es eher passiv als aktiv – beikommende Konfrontation mit dem Realen. 740 Das Reale drückt ihm die Signifikanten ebenso auf, wie das Subjekt diese Signifikanten in dem Moment, in dem diese sich ihm aufdrücken, paradoxerweise auch autopoietisch und autonominativ ›kreiert‹ und als seine setzt. 741 Shoshana Felman hat in ihrem Buch The Literary Speech Act 740 Vgl. Shoshana Felman, The Literary Speech Act: Don Juan with J. L. Austin, Or Seduction in Two Languages, Cornell: Cornell University Press 1983, 83. 741 Die Anrufung von Signifikanten thematisiert Lacan auch im Rückgriff auf Freuds Analyse des Witzes im Verhältnis zum Unbewussten. Das »Subjekt des Unbewussten« bricht für Lacan im Witz hervor als die Instanz, die sich plötzlich von Signifikanten, die der Witz transportiert, herausgerufen sieht. Lacan schreibt: »Das Subjekt taucht erst dann zwingend auf, wenn es in der Welt Signifikanten gibt, die nichts sagen wollen und die entziffert werden müssen. […] Wenn wir dem Signifikanten diese Vorherrschaft über das Subjekt einräumen, so tragen wir damit nur der Erfahrung Rechnung, die Freud uns eröffnet hat: Dass der Signifikant spielt und gewinnt, wenn wir so sagen können, bevor das Subjekt das merkt, und zwar so, dass er das Subjekt im Spiel des Witzes zum Beispiel überrascht. Durch seinen flash beleuchtet er [der Witz, D. F.] die Teilung des Subjekts mit sich selbst« (Lacan, »Die Stellung des

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

darauf hingewiesen, dass der Akt bei Lacan in der autokreativen Performanz seines eigenen Geschehens der Form nach John L. Austins Sprechakt-Theorie nicht unähnlich ist. 742 Austin entwickelt seine These der Performativität im Gegensatz zu konstativen Äußerungen. Letztere beschreiben Sachverhalte und / oder konstatieren Tatsachen, die wahr oder falsch sein können. Demgegenüber vollziehen performative Äußerungen eine Handlung. In diesem Sinne können sie gelingen oder nicht gelingen, nicht aber, wie z. B. Urteile, wahr oder falsch sein. Der Akt, wie ihn Lacan konzipiert, verkörpert eine solche Performativität. 743 Aber er tut dies nur bis zu einem bestimmten Grad. Ed Pluth macht gegen Felman überzeugend geltend, wie der Akt bei Lacan in einer ersten Instanz seiner Performanz nicht auf einem Signifikantenfeld ritueller Anerkennung gründet. Die Autorität, die den Akt beglaubigen kann, ist das Subjekt in seiner Gewissheit bezüglich von es invadierenden Bedeutungen. 744 Wie kann aber im Akt sich eine Unbewussten«, in: ders., Schriften II, hrsg. von Norbert Haas, Berlin / Weinheim: Quadriga 1991, 205–230, hier: 218 f.). 742 Vgl. Felman, The Literary Speech Act, 92 ff. 743 Siehe auch Lacans Ausführungen in seinem XIV. Seminar. Er betont dort, inwiefern der Akt einer Autogenese, einer Selbstbegründung des Subjekts aus seiner eigenen Dezision gleicht. Lacan schreibt: »Der Akt ist grundlegend / der Grund für das Subjekt. Der Akt ist das genaue Äquivalent der Wiederholung durch sich selbst. Er ist in sich selbst die verdoppelte Schleife des Signifikanten [double boucle du signifiant]. Wenn es zu denken auch unmöglich ist, so könnte man dennoch behaupten, dass in diesem Fall das Zeichen / der Signifikant sich selbst bezeichnet. Dies kommt der Operation am nächsten. Das Subjekt, sagen wir in seinem Akt, ist Äquivalent seines Zeichens. Dennoch bleibt es gespalten.« »L’acte est fondateur du sujet. L’acte est précisément l’équivalent de la répétition, par lui-même. […] Il est en lui-même: double boucle du signifiant. On pourrait dire, mais ce serait se tromper, que dans son cas le signifiant se signifie lui-même. Car nous savons que c’est impossible. Il n’en est pas moins vrai que c’est aussi proche que possible de cette opération. Le sujet, disons dans l’acte est équivalent à son signifiant. Il n’en reste pas moins divisé« (Lacan, Le séminaire XIV. La logique du fantasme, Sitzung vom 15. Februar 1967). Der Akt entspricht einer letztlich paradoxal bleibenden Selbstbegründung. Das Subjekt ›gebiert‹ sich sozusagen, indem es seinen Inhalt zu seiner selbstgesetzten Form der Selbstbezeichnung hinzufügt. 744 Ed Pluth schreibt: »The conditions for the success of an Austinian speech act largely depend upon the existence of social guarantees and rituals. Marriages, for example, are only successfully accomplished when performed under very specific circumstances, and by the proper authorities. According to Lacan’s conception, however, an act transforms a subject, and even though it occurs with signifiers, it does not happen by following a reestablished ritual or code« (Pluth, Signifiers and Acts, 101).

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»Das Losbrechen der Signifikanten«

Signifikation ereignen, die in der Loslösung vom großen Anderen, d. h. mit Wittgenstein gesprochen, im Bruch mit den etablierten Sprachspielen stattfindet? Die Schärfe der Fragestellung kann gemildert werden. Die Neubewertung von Signifikation ist nicht als solipsistische Neuschöpfung einer Sprache zu verstehen. Das Subjekt entdeckt – ähnlich wie Benjamins historischer Materialist – neue Bedeutungsebenen, für die es nach der dezisionistischen Distanzeröffnung zu seiner bisherigen Subjektivierung in den Strukturen des großen Anderen aufmerksam geworden ist. Die inferentiellen Verweisungen haben sich innerhalb etablierter Sinnbezüge verschoben. Mit demselben Netz der Sprache werden zuvor nicht-repräsentierte Bedeutungen aus dem Hintergrund wie bei einem Kippbild in den Vordergrund gehoben. Wittgensteins Anmerkung zur Regelfolge und Regelbegründung können hier helfen. 745 Eine Regel(be)gründung ist ein Geschehen, das die Binnenstruktur der Semantik verschiebt, ohne dass für diese Verschiebung in der Semantik vorab die dazugehörigen Scharniere zu finden sein müssen. So wie Wittgenstein die Regelgründung als ein »Geschehen« denkt, 746 das in der Sprache durch die sprechenden Subjekte auftaucht, so ähnlich denkt Lacan den Akt als etwas, das mit dem Subjekt geschieht.

»Das Losbrechen der Signifikanten« 747 Freuds vielrezipierte Anmerkungen in Jenseits des Lustprinzips zum sogenannten Fort-Da-Spiel seines Enkels sollen uns am Ende unserer Ausführung zu Lacan genauer erklären helfen, wie die Evokation neuer Signifikanten mit dem Akt zusammenhängt. Denn diese Evokation scheint weiterhin schwer nachvollziehbar und leicht als ausschließlich paranoide Wahnvorstellung disqualifizierbar. Das FortDa-Spiel ist für Lacan ein wichtiges Erklärungsmodell von Signifikationssetzung im Moment einer Subjektentfaltung in Distanz zum großen Anderen. Ausgangspunkt ist Freuds Beobachtung seines eineinhalbjäh-

Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 138–155, 179–280. Vergleiche dazu die treffenden Ausführungen von José Medina, The Unity of Wittgenstein’s Philosophy: Necessity, Intelligibility, and Normativity, Albany: State University of New York Press 2002, 100–107. 747 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 375. 745 746

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

rigen Enkels, der bisher wenig verständliche Worte spricht und sich über die Abwesenheit seiner Mutter mit einer Bindfaden-Spule spielend hinwegtröstet. 748 Freud erwähnt, dass das Kind vom Verlust seiner Mutter »passiv« erwischt wurde. Konfrontiert mit dieser Erfahrung zieht es sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus den Tiefen der Negativität und erschafft eine symbolische Welt, die von einem einzigen Signifikanten – der Holzspule – und der durch Wegwerfen und Zurückziehen inszenierten An- und Abwesenheit derselben bestimmt wird. Das Spiel ist Sublimation und selbstverbürgtes Wiederholungsspiel des als bedrohlich erlebten Fortgehens der Mutter. Das Kind eröffnet hier eine Welt, in der es als Subjekt sich gegenüber der erlittenen Distanz zum großen Anderen (in diesem Falle ist es die abwesende Mutter) autonomisiert. Ihm wird die Spule ein Bedeutungsträger, der die ursprüngliche Negativität in ein linguistisches Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit verkehrt. Jonathan Lear zufolge war die ursprüngliche Erfahrung des Verlusts noch keine symbolisierte, da sie keinen zeichenvermittelten Ausdruck hatte. 749 Das untermalt unseren Theorieaspekt dahingehend, dass mit der Eröffnung des Spiels auch das Subjekt des Spiels in seiner Auslagerung an einen Signifikanten auftritt. Die Spule ist für Lacan eine Schimäre der Außeninstanz des großen Anderen, deren Bedeutungsaufladung durch Abwesenheit und Anwesenheit geprägt nur stellvertretende Funktion hat. Wendet man diese Fort-Da-Dialektik auf Hegels Interpretation der Antigone an, so könnte man sagen, dass der Riss zwischen Antigone und der Polis als sozialer Gemeinschaft dazu führt, dass sie (Antigone) sich als ein politisches Subjekt gerade aus die Negativ-Erfahrung der Unversöhnbarkeit mit ihrer angestammten sozialen 748 Freud: »Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing« (Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1982, 212–272, hier: 224–227). 749 Jonathan Lear schreibt dazu:»If we are trying to respect the child’s point of view we cannot even say that the game is prompted by loss. For it is only after the game is installed that the child will begin to have the concept of loss or absence. Only when the game is established will the loss be a loss for him. The child had been inhabiting a less differentiated field of ›mother-and-child‹ : it is this field that is disturbed by the mother’s absence« (Jonathan Lear, Happiness, Death, and the Remainder of Life, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2002, 92).

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»Das Losbrechen der Signifikanten«

Gemeinschaft autonomisiert. Es ist selbstverständlich nicht der Fall, dass Antigone die Bedeutung des Beerdigungsrituals erst nach Kreons Verbot ›setzt‹, so wie Freuds Enkel die Spule in der Abwesenheit der Mutter als Signifikanten zur eigenen Autonomisierung evoziert. Es ist aber der Fall, dass erst von Kreons unnachgiebigem Verbot her, d. h. der Verwerfung des Beerdigungsrituals für Polyneikes, sich Antigone im Festhalten an diesen Signifikanten als ein politisches Subjekt jenseits der politischen Doxa autonomisiert. Sie entkernt dadurch für Hegel unabsichtlich den Geist der Sittlichkeit der griechischen Antike und bereitet den Übergang zum römischen Recht. Ihre Tragik artikuliert sich für Lacan in einem Begehren, das seinem Objekt in ein Jenseits der innersymbolischen Werte folgt. Indem das Beerdigungsritual den absoluten Anspruch an Antigone richtet, den nur sie zu hören scheint, autonomisiert sie sich von den sie umgebenden Umständen von diesem Anspruch her wie Freuds Enkel sich im Spiel eines linguistischen Zeichens eine Reflexionsbeziehung zu sich und zur Außenwelt (unabhängig von der Mutter) erschafft. Man kann die Spule in Freuds Beispiel einen Signifikanten nennen, der dem Kleinkind wie eine unerwartete Antwort aus dem Lacan’schen Realen zufällt. Lacan erwähnt das Reale im Zusammenhang mit dem Auftreten eines neuen Signifikanten in seinem Seminar III. Damit gibt er uns ein wichtiges Verbindungsstück, um sowohl den Akt und dessen damit verbundener Signifikation einzelner, paranoid erscheinender Signifikanten zu verknüpfen als auch die Thematik von Bekehrung und Revolution damit zu verbinden. Lacan schreibt: »Verkörpern wir ein wenig diese Gegenwart des Signifikanten im Realen. Das Auftauchen eines neuen Signifikanten, mit allen Auswirkungen, die das bis ins Intimste der Verhaltensweisen und der Gedanken mit sich bringen kann, das Erscheinen eines Registers wie dasjenige einer neuen Religion zum Beispiel, ist nicht etwas, das wir leicht manipulieren können. Die Erfahrung beweist es. Es gibt da Umschwung der Bedeutungen, Wandlung des Allgemeingefühls, der sozial bedingten Verhältnisse, aber es gibt auch allerlei offenbarend genannte Phänomene, die in hinreichend störender Weise in Erscheinung treten können, dass die Ausdrücke, derer wir uns bei den Psychosen bedienen, nicht völlig unangebracht sind. Das Erscheinen einer neuen Struktur in den Beziehungen zwischen den Grundsignifikanten, die Schöpfung eines neuen Terms in der Ordnung des Signifikanten, haben etwas Verheerendes an sich.« 750 750

Lacan, Das Seminar III. Die Psychosen, 238, Hervorhebungen D. F.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

Lacan vergleicht hier den Einbruch von Signifikanten aus dem Bereich des Realen in den des Symbolischen explizit mit der Psychose. Er extrapoliert eine individualpsychische Bewusstseinserschütterung hin auf den sozialen Raum, um die Eruption einer neuen Modalität des symbolischen Feldes aufzuzeigen. So entsteht unter anderem von der Ebene des Partikulären ausgehend das Allgemeine in einem neu geknüpften gordischen Knoten des Symbolischen, Imaginären und Realen. Lacan spricht in dem Zitat indirekt vom Christentum als einer Bekehrungsbewegung, die zwar keine neue Sprache setzt, aber doch fundamentale Regelneugründungen und Bedeutungsemergenzen von Signifikanten generiert. 751 Das hat den Effekt eines neuen Sprechens entgegen dem etablierten »Allgemeingefühl, der sozial bedingten Verhältnisse«. Und in seinem Seminar XXIV spricht er explizit von einer »l’invention d’un signifiant«, 752 die nicht zu vergleichen ist mit einer Form der Anamnese. Im Seminar XV wiederum macht er einen Bezug, wie Ed Pluth entdeckt, zur Russischen Revolution. Lacan schreibt: »Ist der Akt nicht der Moment in dem Lenin einen oder einen anderen Befehl gibt, oder der Moment, wo die Signifikanten, die auf die Welt losgelassen wurden, einen oder einen anderen Erfolg in der Strategie den Sinn eines Anfangs geben, der schon angedeutet ist?« 753

Im Verweis auf Lenin hält er den Akt im Bild des »Loslassens« und »Auswerfens« von Signifikanten auf die Welt fest. Der Akt eröffnet performativ mit dem Loslassen von Signifikanten auf die Welt seine in der transgressiven Geste der Verkündigung bestehende Macht. Hier liegt wohl auch unter anderem die in exzessiver Subjektivität verankerte »Kraft« (»pouvoir«) des Buchstabens, die Lacan in dem oben erwähnten Zitat benennt, wenn er Russell und seinen Kollegen metasprachlicher Theorien vorhält, nicht die regelbegründende Performanzmacht und Imperativwirkung von Worten zu kennen. Deren Konzentration auf einen an den Naturwissenschaften ausgerichteten, mathematischen Wahrheitsbegriff bedingt ihre Verkennung. Vgl. Pluth, Signifiers and Acts, 107 f. Lacan, Le séminaire XXIV. L’insu, Sitzung vom 17. Mai 1977. 753 »L’acte est-il au moment où Lénine donne tel ordre, ou au moment où les signifiants qui ont été lâchés sur le monde, donnent à tel succès précis dans la stratégie, son sens de commencement déjà tracé: quelque chose où la conséquence d’une certaine stratégie pourra venir prendre sa place d’y prendre sa valeur de signe?« (Lacan, Le séminaire XV. L’acte, Sitzung vom 10. Januar 1968). 751 752

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»Das Losbrechen der Signifikanten«

Wenn wir noch einmal auf Antigone oder das Beispiel von Freuds Enkel schauen, dann offenbart sich, dass der Akt in der Konfrontation mit einem als inkonsistent erfahrenen großen Anderen auftritt. Dies ist eine Bedingung, wie wir sie auch im »Diskurs des Hysterischen« als Wahrnehmung eines Mangels analysiert hatten. Der Akt ist dann von Inkonsistenz-Erfahrungen aus ein »Losbrechen« von Signifikanten auf die Welt, wobei dem agierenden Subjekt keine über seine eigene Gewissheit hinausgehende Autorität zukommt. Jegliche Autorität im Feld des Anderen kann die Signifikation, die der Akt trägt und provoziert, (noch) nicht verstehen. »Die Realität ist prekär«, schreibt Lacan. »Und eben in dem Maße, wie der Zugang zur Realität prekär ist, sind die Gebote, die seinen Weg bahnen, tyrannisch.« 754 Freuds Enkel und Antigone erleben in Konfrontation mit einem mangelhaften großen Anderen den prekären Modalcharakter der Wirklichkeit. Es bringt sie dazu, Signifikanten zu begehren, zu evozieren und an ihnen festzuhalten, was die Welt in ihrem gesamten Verhältnis von Wahrheit und Wissen nicht unbeeinflusst lässt. Wie wir in Bezug auf Hegels Antigone aufzuweisen versuchten, betrifft der Konflikt um das Beerdigungsritual ja für Antigone die Frage nach der Kohärenz der Gesamtheit von Überzeugungen. Wenn Lacan vom »prekären« Status der Realität spricht, einem Status, der von der Psyche durch ihr Eingebundensein in die Register des Symbolischen und des Imaginären aufrecht erhalten wird, und der sich sowohl durch die »Abwehr« des Realen als auch durch die »Annäherung ans Reale« definiert, dann zitiert für ihn der Akt genau das Moment, das die symbolische Ordnung des großen Anderen, wie auch die Welt der vom Individuum solipsistisch produzierten Fantasien durchkreuzen kann. Der Akt ist dasjenige, was den bisher wirksamen minimalen Anteil an regulativen Ideen, der nötigt war, um die Realitätserfahrung als Gleichgewicht zwischen Realitätsprüfung und PhantasmaRahmen aufrechtzuerhalten, kurzzeitig aussetzt. Nach einer solchen Unterbrechung / Durchkreuzung kann sowohl das einzelne Individuum sich wie in einer ›neuen Welt‹ lebend erfahren als auch die Welt 754 Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 41. Das Zitat geht wie folgt weiter: »Noch das Fortschreiten desselben vollzieht sich zunächst nur auf dem Weg einer primären Abwehr. Die tiefe Ambiguität der vom Menschen geforderten Annäherung ans Reale schreibt sich zunächst in Termen der Abwehr ein. Abwehr, die da ist, noch bevor sich die Bedingungen der eigentlichen Verdrängung formulieren« (ebd., 41).

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

des Symbolischen sich durch eine vielleicht dialektische Umkehrung aller Verhältnisse neu (selbstreflexiv) erkennen lernen. 755 Während das Symbolische und das Imaginäre sich gegenseitig als stabil erscheinen (im Imaginären erscheint sich das Selbst als Zentrum ungebrochener Autonomie, im Symbolischen schirmen die Regeln und Normen der Sittlichkeit das Reale ab), so ist das Reale eine Erfahrung des Zerreißens der Patina, die gemeinhin als Wirklichkeit anerkannt schien. Das Reale ist dann ein Movens des Hegel’schen Geistes, da es jeder Kategorie ihm die Unfähigkeit aufzuzeigen fähig ist, stabil und allumfassend zu sein. Es ist ein auftauchender »status naturalis«, eine Kluft in der Patina des Symbolischen. Es legt dann mit den Worten Žižeks offen, dass »die ultimative Garantie unseres ›Realitätssinnes‹ dann gegeben ist, wenn das, was wir als ›Realität‹ erfahren, sich diesem Rahmen [dem Phantasma-Rahmen, D. F.] einpasst«. 756 Aber es zeigt auch, dass genau dieser Realitätsrahmen, der »durch die Reste des halluzinatorischen Phantasmas vorstrukturiert« 757 ist, in der Begegnung mit dem Realen wie bei einer kaleidoskopartigen Drehung in eine neue Form stürzen kann. Und es mag exzessive Subjektivität sein, die diese Drehung auslöst. Exzessive Subjektivität erscheint gemäß Kant, Hegel und Lacan als formallogisches Strukturmoment, wo Partikularität und Universelles in einer Gleichsetzung von Form und Inhalt darüber entscheiden, von welchem Gesinnungspunkt aus das Subjekt (aber auch ein Kollektiv, eine Jüngergemeinschaft, eine Kirche, eine Sekte, eine Gesellschaft) auf seine Lebenswelt schaut und dadurch neue Beurteilungen mit unerwartbaren Konsequenzen provoziert. Dieser Ort kann dem Subjekt unzugänglich sein. Dort erfährt es sich gemäß der Lacan’schen Theorie des Akts erst nach dem Akt stehend. Eine permanent lauernde Nicht-Koinzidenz zwischen dem notwendig individualpsychischen Erleben von »Realität« und dem Symbolischen als einem kollektiv aufrecht erhaltenen Glauben an den großen Anderen 755 Einen solchen Umschlag sieht Hegel in der Rechtsform des römischen Reiches nach dem Untergang der griechischen Antike geschehen. Antigone ist hier in der Funktion des Geistes bei Hegel eine verschwindende Vermittlerin. Ihr Akt lässt hinter dem Rücken aller Beteiligten ihres Dramas, inklusive ihr selbst, eine neue Bewusstseinsform entstehen. 756 Žižek, Tarrying with the Negative, 89. Dort heißt es: »[T]he ultimate guarantee of our ›sense of reality‹ turns on how what we experience as ›reality‹ conforms to the fantasy-frame.« 757 Žižek, Tarrying with the Negative, 89.

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Bedeutung ohne Geltung

zeigt, inwiefern die Ununterscheidbarkeit von Paranoia auf gesellschaftlich-kollektiver Ebene und/oder auf subjektiver Ebene nicht immer klar zu bestimmen ist. Auch Hegel thematisiert diese NichtKoinzidenz im Verhältnis seiner beiden Begriffe des Allgemeinen (»Substanz«) und des Besonderen (»Subjekt«). »Geist« und »Bewusstsein« können nahezu unbemerkt aus einer Gesellschaft ›herausfallen‹. Dann mögen es scheinbar Auserwählte wie Jesus von Nazareth, Bekehrte wie Paulus von Tarsus oder Martin Luther, Provokateure wie Nietzsches ›toller Mensch‹ oder Walter Benjamins historischer Materialist sein, die dies eventuell erkennen, während die Praktiken selbst noch ihr Erfülltsein im Procedere ihres unwirklich gewordenen Funktionierens propagieren.

Bedeutung ohne Geltung Wie hoffentlich deutlich geworden ist, kommt den gerade erwähnten Subjekten exzessive Subjektivität zu, weil sie in einzelnen Fällen eine normative Wertigkeit ausschütten, die in der teils (scheinbar) paranoid auftretenden Weltverzerrung, mit der sie auf bestimmte politisch-gesellschaftliche Situationen oder einfach auf ihr eigenes (vielleicht elendes) Leben schauen, den Raum ihres eigenen Ereignisgewesen-Seins hat eröffnen können. Wir hatten in diesem Zusammenhang oben bereits thematisiert, dass die Rede von »exzessiven Subjekten« im Gegensatz zu »exzessiver Subjektivität« das Paradox der retrospektiven Anerkennung verharmlost. Exzessive Subjektivität ist als Strukturmoment interpretiert, gerade weil ein exzessives Subjekt ohne seine nachträgliche Integration der Normativität auf seinen Exzess kein Anrecht haben kann. Dies führt dazu, dass wir heutzutage zwar Bürgerrechtlern wie Rosa Parks den berechtigten Exzess ihres Aufbegehrens durch einen normativen Anspruch anrechnen – dass wir dergleichen aber (noch?) nicht im Fall von Ulrike Meinhof tun können. Das wäre eventuell erst nach einer Umkehrung der bürgerlich demokratischen Werte möglich, wie sie heute unsere Rechtssubjektivität als Bürger definieren. Exzess selbst kann keine Norm sein. Es braucht die Einbindung ins futur antérieur. Das exzessive Subjekt tritt notwendig – mit Manfred Schneider gesagt – als Vertreter »paranoischer Vernunft« 758 auf und muss von der Gemein758

Vgl. Schneider, Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, 5–25.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

schaft ausgeschlossen werden. Exzessive Subjektivität ist dagegen als Strukturmoment in der Genese von Normativität zu verstehen und kann nicht durch einen aporiefreien Vernunftbegriff und ohne die Verortung im futur antérieur begriffen werden. Nun leben die Repräsentanten exzessiver Subjektivität selten solipsistisch wie es (scheinbar) Antigone zwischen ihrem Leben »entredeux-morts« tut. Sie leben in Gesellschaften und bilden nicht selten sektenähnliche Kleingruppen von Jüngern und Jüngerinnen um sich. Man denke nur an die schon erwähnten Figuren: Jesus, Paulus, Martin Luther, Rosa Parks etc … Ihnen kommt nicht selten eine eigentümliche Form von Autorität zu, die auf andere einwirkt. Diese Autorität scheint ihrerseits mit dem Exzess der von ihnen verkündeten Botschaft und ihrer semantischen Überdeterminierung zusammenzuhängen. Dass die Überdeterminierung semantischer Gehalte eine eigene Bindungskraft innerhalb der Psyche durch Suspension von Bedeutung bei zeitgleicher Geltung entfalten kann, ist eine Grundeinsicht Freuds, die Lacan und Althusser auf den gesellschaftlichen Bereich als prekären Virtualitätsraum beziehen. Sie findet sich individualpsychisch bei Laplanche 759 ausgelegt und gesellschaftlich in Žižeks Auslegung von »erhabenen Signifikanten« 760 gedeutet. Wie Laclau und Žižek darlegen, ist der Bereich des Politischen strukturnotwendig von »enigmatischen Signifikanten«, »leeren Signifikanten« 761 und »erhabenen Objekten der Ideologie« strukturiert. Gerade auch Sinngehalte, die sich von der Psyche nicht eindeutig in semantischen Erklärungsstrukturen inferentiell eingliedern lassen, halten die Psyche kraftvoll in Bann. Žižek konstatiert in diesem Zusammenhang, dass gerade das »Gebannt-sein« durch z. B. erhabene Objekte der Ideologie, in denen das Subjekt in einem gewissen Sinne eine Antwort sucht auf die es betreffende Frage ›Che vuoi?‹, das Subjekt dazu veranlassen kann, der Ideologie immer einen kleinen Schritt voraus zu sein. Diesen vorauseilenden Gehorsam beschreibt Kafka eindringlich in einer Skizze zu seiner sich im Prozeß befindenden Parabel Vor dem Gesetz. Diese

759 Jean Laplanche, »Séduction, persécution, révélation«, in: Psychanalyse à l’Université, Bd. 18, Nr. 72 (1993), 3–34. 760 Vgl. Žižek, The Sublime Object of Ideology, 87 ff. 761 Vgl. Ernesto Laclau, »Why do Empty Signifiers Matter to Politics?«, in: ders., Emancipation(s), London / New York: Verso 1996, 36–46.

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fängt besonders gut die Frage nach dem politisch-theologischen Erbe von normativer »Geltung ohne Bedeutung« in Kafkas Werk ein, mit der sich Walter Benjamin und Gershom Scholem brieflich auseinandersetzten. 762 Kafka inszeniert nämlich den Türhüter in der erwähnten Parabel als makellosen Repräsentanten des Gesetzes, des Herrensignifikanten, der höchsten symbolischen Ordnung. Als solcher ist er Wächter auf einer diffusen Schwelle der Interpellation, die nicht unmittelbar erklärt, was er dort eigentlich zu suchen hat. Bewacht er, versperrt er, kontrolliert er das Gesetz? Ist er gefährlich? Hält er den ›Mann vom Lande‹ vom Zugang zum heilsversprechenden Gesetz ab? 763 Hier begegnet uns die literarische Umsetzung des von Lacan in seinem Graph des Begehrens festgehaltenen Anruf ›Che vuoi?‹ in Reinform. Dieser Anruf, der eben auch dann noch interpelliert, wenn er nicht erschallt, provoziert bei Kafka eine panische Hast. Diese bricht hervor, weil der Türhüter – wie Kafka in einer Vorstudie seines Textes schreibt – weder verbietet noch befiehlt. »Ich überlief den ersten Wächter«, heißt es bei Kafka, »[n]achträglich erschrak ich, lief wieder zurück und sagte dem Wächter: ›Ich bin hier durchgelaufen, während du abgewendet warst.‹ Der Wächter sah vor sich hin und schwieg. ›Ich hätte es wohl nicht tun sollen‹, sagte ich. Der Wächter schwieg noch immer. ›Bedeutet dein Schweigen die Erlaubnis zu passieren?‹« 764

Ähnlich beschreibt Kafka die Verhaftung von Josef K. zu Beginn des Romans Der Prozeß als einen Zusammenbruch des imaginären Selbstbildes K.s angesichts einer Außenkoordinate, deren fehlende Bedeutung bei gleichzeitiger Geltung ihn neurotisiert. 765 (Hier liegt Kafkas Moderne-Theorie als Strukturanalyse zunehmender Neurotisierung.) K. verwickelt sich in seinem Zaudern darüber, ob er die absurde Anklage, welche die beiden »Wächter« gegen ihn eines Morgens vorbringen, akzeptieren oder sie vielmehr ignorieren und seine Wohnung einfach verlassen sollte. Der Umstand, dass er dann im weiteren Verlauf des Romans seinem Rechtsstreit nahezu hinterherScholem, Walter Benjamin – Gershom Scholem Briefwechsel, 175. Vgl. dazu meine Ausführungen in: Dominik Finkelde, Slavoj Žižek zwischen Lacan und Hegel. Politische Philosophie, Metapsychologie, Ethik, Wien / Berlin: Turia & Kant 2009, 101 f. 764 Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, hrsg. von Max Brod, Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 1980, 260. 765 Vgl. Franz Kafka, Der Prozeß, hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt/M.: Fischer 1990, 7–16. 762 763

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laufen muss, weil ihm keine konkrete Anklage und keine definierbare Anklageinstanz gegenübertreten, macht gerade letztere, die Instanz der Anklage als Hort bürokratischer Macht in Josef Ks Augen nahezu übernatürlich. Žižek deutet das so: »Die kafkaeske Illusion eines allmächtigen Dings, das uns keine Beachtung schenkt, […] ist der umgekehrt-symmetrische Kontrapunkt zu der Illusion, die die ideologische Interpellation definiert – nämlich die Illusion, dass der Andere immer schon auf uns blickt«. 766

Der Andere muss hier auch verstanden werden als das Feld des gesellschaftlich anerkannten Wissens, das auch dann noch ›wirkt‹, wenn alle Individuen in diesem Feld ahnen, dass der große Andere lügt, sich irrt, verrückt geworden ist und seine Autorität auf einem kollektiven Missverständnis basiert. Auf diesem abwesenden Blick ruht zu einem wesentlichen Teil das Gefüge des vorauseilenden Gehorsams, den die Interpellation im Menschen verursacht und die uns in den gewöhnlichsten Alltagssituationen begegnet. 767 Der Mensch ist kontingenten Interpellationen ausgesetzt, die als Notwendigkeit interpretiert werden, da dem Subjekt eine fundamentale De-Legitimität seines Daseins eingeschrieben ist. Was das Subjekt in diesen Momenten der Interpellation versäumt, ist, wie es den Anderen setzt und dabei das Moment der Kontingenz, welches Teil der Interpellation ist, annihiliert. Josef K. erfasst intuitiv die Willkür seiner Verhaftung. Dennoch bleibt er unfähig, den Appell des Schuldig-Seins, der sich darin entäußert, als nicht-zwingend zu explizieren. So treibt er, der Dramatik des Prozesses Gestalt gebend, das Procedere des Prozesses an. Kafkas Prosa inszeniert die Tragik, dass Josef K. sich dem vorauseilenden Gehorsam gegenüber einem undefinierbaren, aber deshalb umso mächtiger wirkenden Appell nicht entziehen kann. Lacan behauptet nicht, dass das Subjekt sich gegenüber verstörenden Anrufungen dieser oder einer ähnlichen Art und Weise restŽižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun, 118. »Wenn wir uns als Interpellierte erkennen, als die Adressaten eines ideologischen Aufrufs, verkennen wir die radikale Kontingenz davon, dass wir uns am Ort der Interpellation befinden […]. Wir erkennen uns nicht selbst im ideologischen Aufruf, weil wir gewählt wurden, im Gegenteil: wir verstehen uns selbst als Auserwählte, als Adressaten eines Aufrufs, weil wir uns in ihm erkannten – der kontingente Akt der Rekognition bringt retroaktiv seine eigene Notwendigkeit hervor« (Žižek, Denn sie wissen nicht, was sie tun, 118). 766 767

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los abschirmen kann. Aber das utopische Moment seiner Ethik des Realen, die eine Ethik des Durchstreichens des Phantasmas ist, unterstreicht, dass er die Möglichkeit sieht, diesen vorauseilenden Gehorsam zeitweilig zu unterbrechen. Ein ideologisches Gemeinwesen ist nämlich strukturell seiner Effektivität zuliebe abhängig von Gehorsamshast und zwar mehr als es selbstkritisch eingestehen dürfte. Kafkas ›Mann vom Lande‹ ebenso wie Josef K. sind zu einer solchen Unterbrechung nicht fähig. Žižek kritisiert in seiner an Lacan ausgerichteten Analyse von »sublime objects of ideology«, dass die erhabenen Objekte als glaubenseinflößende Medien semantischer toomuchness das Subjekt oftmals dazu verleiten, seine eigene aktive Kapazität und das phantasmatische Moment in der Realitäts- und Rechts-Konstitution zu verkennen. 768 Nicht nur können die »erhabenen Objekte« der Ideologie die Aktivität des Subjekts, wie von Kafka in seiner Parabel Vor dem Gesetz dargelegt, lähmen, sondern sie provozieren auch den von Kafka beschriebenen vorauseilenden Gehorsam, der die Freiheit des Subjekts noch unerschütterlicher durch selbst auferlegte Scheinüberzeugung einschränkt. Dieser Gehorsam führt nach Žižek dazu, dass das Subjekt sein eigenes Potenzial unterschätzt: die uns hier betreffende exzessive Geste, die fähig ist zu der von Ernst Bloch im Rückgriff auf ein chassidisches Märchen erwähnten ›minimalen Verrückung‹ 769 von Umständen, Tatsachen, Rahmenbedingungen, die ›Sein‹ sein lassen. Während Kafka den negativen Unterwerfungs-Prozess des vorauseilenden Gehorsams angesichts von Geltung ohne Bedeutung gegenüber bürokratischen und staatlich-ideologischen Institutionen thematisiert, so beschäftigt Kierkegaard der positive Effekt eines solchen Gehorsams. Er wird, wie Kierkegaard darlegt, gegenüber einer sich (noch) nicht propositional eröffnenden Wahrheit evoziert. Eine solche mag ein – mit Lacan gesagt – hysterischer Meister verkünden. Kierkegaard exemplifiziert das anhand einer von ihm philosophisch analysierten religiös inspirierten Gefolgschaft durch Adepten und Jünger. Sie tragen den Appell der wahrheitsfähigen Botschaft ihres herausragenden Meisters in die Zukunft, gerade weil die darin ent-

Žižek, The Sublime Object of Ideology, 87 ff. Vgl. Ernst Bloch, »Die glückliche Hand«, in: ders., Spuren, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, 198–202. 768 769

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haltene Wahrheit propositional (noch) nicht einzuholen ist. Der Meister ist hierbei als ein Träger exzessiver Subjektivität zu verstehen. Kierkegaard entfaltet die paradoxalen Momente von Autorität in exzessiver Subjektivität in seinem 1847 veröffentlichten Text »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel.« 770 Er tut dies aufgrund seines Wissens um die Bannkraft von Anrufungen durch deren inferentielle Unabschließbarkeit und noch ausstehende Bestimmtheit eines normativen Gehalts. Auf diesen Text soll im Folgenden in Kombination mit Žižeks sich darauf beziehende Kommentare in seinem Artikel »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?« 771 eingegangen werden. Beide Autoren helfen zu verstehen, inwiefern Jüngerschaft in Einzelfällen exzessiver Subjektivität auch auf einem »Ruf« bzw. auf einer »Berufung« basieren kann, die sich darin ausdrückt, in den noch nicht ganz erkennbaren (propositional eingrenzbaren) Sinnhorizont des unter exzessiver Subjektivität ›leidenden‹ Meisters hineinzuspringen, gerade weil die Botschaft seiner Offenbarung (betreffe sie Kunst, Religion, Geistes- oder Naturwissenschaft) noch nicht propositional begründbar ist. Dieses Moment des Springens grenzt die Figur des Jüngers von der Figur des Schülers ab. Wenn der Jünger in den Sinnhorizont seines Meisters und Apostels wie beim Kierkegaard’schen Glaubenssprung getreten ist, eröffnet sich ihm ein Zugang zur Autorität seines Führers, Meisters, Philosophieprofessors etc. Auf diesen Aspekt einzugehen macht für unsere Analyse exzessiver Subjektivität Sinn, weil wir so deren politische Kraft in der Erörterung bestimmter Autoritätsparadoxien freilegen können. Wir können offenlegen, wie exzessive Subjektivität auf kollektiver Ebene ganz neue Paradigmen des Politischen nicht trotz kognitiver, sondern gerade aufgrund kognitiver Resistenzen und Inkommensurabilitäten entfalten kann. Von Kants gespaltenem Subjekt moralischer Handlungstat waren wir zu Hegels Rede von der inneren Zerrissenheit der Welt der Sittlichkeit durch Anerkennungskämpfe einer noch nicht repräsen-

770 Sören Kierkegaard, »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel«, in: ders., Gesammelte Werke: Kleine Schriften, 1848/49, Düsseldorf / Köln: Eugen Diederichs Verlag 1960, 115–134. 771 Slavoj Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, in: ders., Grimassen des Realen. Jacques Lacan und die Monstrosität des Aktes, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, 63–137.

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Zum Paradox exzessiver Autorität

tierfähigen Normativität gekommen. Bei Lacan haben wir die psychosomatische Binnenstruktur des in Bewusstseinsschichten und Schichten des Unbewussten gespaltenen menschlichen Geistes analysiert. Wir haben erkannt, wie das Subjekt sich von seiner eigenen Gespaltenheit her noch einmal zu der nie stabilen Außenwelt (seiner Lebenswelt) verhalten und mit teils solipsistisch bedeutsamen Signifikanten die alte Ordnung zum Einsturz bringen kann. Mit Kierkegaards Einblick in die nicht assimilierbare »Autorität des Apostels« können wir noch einen Schritt weitergehen und erklären, warum eine Autorität sich um den Mangel ihrer Bedeutung gerade als autoritativ entfalten kann.

Zum Paradox exzessiver Autorität 772 Kierkegaard entwickelt in dem genannten Text eine Definition des Apostels in Abgrenzung zu dem, was er das Genie nennt und er schreibt: »Der Apostel verhält sich paradox, insofern er eine spezifische Qualität hat, welche keine Immanenz in die Gleichheit der Ewigkeit zurückholen kann; die Qualität des Apostels ist paradox und steht hinter dem Denken (nicht dem Denken voraus), wider das Denken.« 773

Kierkegaard vergleicht die »Qualität« der Rede des Apostels mit derjenigen eines die Massen begeistern könnenden Genies. Im Gegensatz zu diesem spricht der Apostel mit einer Vollmacht, die sich nicht in der Immanenz auflöst, denn das, was der Apostel verkündet, kann nicht im Begreifen absorbiert werden. Die Autorität seines Sprechens beruht auf der Performativität seiner Rede »wider das Denken«. Kierkegaard: »Das Genie kann […] wohl etwas Neues zu bringen haben, aber dies schwindet in der allgemeinen Aneignung durch das [Menschen-]Geschlecht wieder dahin […]. Der Apostel hat paradox etwas Neues zu bringen, dessen Neuheit, eben weil sie wesentlich paradox ist – und nicht etwa eine bloße 772 Die folgenden Ausführungen vertiefen Erkenntnisse meines Artikels »Die Wahrheitsethik des Apostels und die Diskursethik des Genies: Lacan, Kierkegaard und Žižek«, in: Sabine Bibl / Clemens Pornschlegel (Hg.), Paulus-Lektüren. Religiöse Ordnungsmodelle der Moderne, München: Wilhelm Fink 2013, 33–44. 773 Kierkegaard, »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel«, 126.

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Vorwegnahme im Hinblick auf die weitere Entwicklung des Geschlechts darstellt – auf […] Dauer bestehen bleibt.« 774

Die hier anklingende Thematik von Propositionen, die Begründungen ihrer Wahrheitswerte scheinbar ausschließen und offenbar nur ›zeigen‹, was sie nicht aussagen können, taucht auch in Kierkegaards Unwissenschaftlicher Nachschrift auf. Wiederholt thematisiert dort der Autor Climacus den Mehrwert von Verständnis-»Schwierigkeiten«, die »man gar nicht verstehen kann« im Gegensatz zu solchen, welche »ungemein leicht zu verstehen« 775 sind. Sein Programm: »Wenn dann die Mitteilung, bei einer solchen Sachlage der Dinge, nicht darauf ausgeht, die Schwierigkeit noch leichter zu machen, so wird die Mitteilung […] ein Wegnehmen.« 776 James Conant vergleicht diese Strategie mit Wittgensteins Tractatus und dessen berühmter Rede vom Unsagbaren, das sich »zeigt« durch den Aufweis der Grenze des Sagbaren. 777 Conant glaubt nicht an diese Strategie. 778 Er stellt die These auf, dass Wittgenstein besonders den Gestus der Autorschaft von Kierkegaard kopiert; genauer: die Inszenierung eigener Genialität mit einem überdeterminierten Text, der gerade in seiner »elusiveness« (Conant) und Inkommensurabilität Jüngerschaft provoziert. Ebenso behauptet Stanley Cavell, das Ziel beider Autoren, Kierkegaard und Wittgenstein, liege darin, die Grundfesten des Wissens ihrer Leser zu demaskieren. Dabei beanspruchten sie jeweils auch das Motiv des Schweigens als Stilmittel für sich, so als läge gerade dort, im Schweigen, ein enigmatisches, nicht-propositionales Fundament eigentlicher Sinnvermittlung. 779 774 Kierkegaard, »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel«, 118. 775 Sören Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. 1, Düsseldorf / Köln: Eugen Diederichs Verlag 1957, 272 Fußnote. 776 Kierkegaard, Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift, 272 Fußnote. 777 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 85 (Nr. 6.522). 778 Vgl. James Conant, »Kierkegaard’s Postscript and Wittgenstein’s Tractatus: Teaching How to Pass from Disguised to Patent Nonsense«, in: Wittgenstein Studies 2 (1997), http://sammelpunkt.philo.at:8080/519/1/11–2–97.TXT 779 Das Ziel beider Autoren sei, so Cavell, »to unmask the audience. […] And the effort to unmask requires a few masks or tricks of its own […]. And in both writers the cure seems no cure. All we are given is the obvious, and the silence« (Stanley Cavell, »Existentialism and Analytic Philosophy«, in: ders., Themes out of School: Effects and Causes, Chicago / London: Chicago University Press 1984, 195–234, hier: 218). Conant kommentiert Cavell in dem Artikel »Must We Show What We Cannot

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Zum Paradox exzessiver Autorität

Diesen letzten Aspekt untersucht nun Žižek dezidiert als Strategie der Autorität und geht in seinem Artikel »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?« auf die Kierkegaard’sche Unterscheidung von Genie und Apostel ein. Dabei geht er aus von der Frage, wie sich eine mit universalistischem Anspruch auftretende und doch scheinbar ganz der Innerlichkeit des Subjekts verschriebene Wahrheit überhaupt – zumindest dem Anschein nach – begründen lassen kann. Und er behauptet in diesem Zusammenhang, dass die Rede vom Wahrheitsanspruch des Apostels bei Weitem kein Thema der Religion allein sei. Sie kann immer auch dann in einem sehr viel größeren Kontext Bedeutung bekommen, wenn es um die Entstehung neuer philosophisch-spekulativer Epistemologien oder um die mühsame Erschließung neuer Gedankenhorizonte geht. Um diese (zumindest indirekt) an Kuhn und Friedman erinnernde These nachvollziehbar zu machen, behauptet Žižek in einem nur als beispielhaft zu verstehenden Bezug auf Marx, Freud und Lacan, dass diese Autoren am Ursprung ihrer investigativen Begriffsentfaltungen weniger eine Autorität aufgrund der Vermittlung abstrakter Inhalte entfalteten, in deren Zentrum eine auch für Dritte mit Hilfe wissenschaftlicher Kriterien eindeutig begründbare positivistische Wahrheit steht, sondern dass es sich bei den Werken dieser (bis heute umstrittenen) Autoren um Lehren handelt, die überspitzt formuliert nur dann zu verstehen sind, wenn man sie als vom Ort der Persönlichkeit der Autoren nicht ablösbare erkennt. Und in einem ähnlichen Sinne verbindet dieser Aspekt auch Kierkegaard und Wittgenstein. Repräsentiert das Genie bei Kierkegaard in einer nicht zu übersehenden reduktionistischen Interpretation am Beispiel von Platon die Verlautbarung einer Wahrheit in ihrem universellen abstrakten Sinn, die von der Persönlichkeit des Lehrmeisters, so Kierkegaard, abgelöst werden kann, so kommt dem Apostel eine Autorität zu, aufgrund deren er primär durch den an seine Person gebundenen performativen Akt der Aussage etwas als wahr verkünden kann. Neben Paulus, auf den Kierkegaard hier mustergültig referiert, könnte man auch auf den wiederholt erwähnten Martin Luther verweisen. Dagegen könnte man vorbringen, dass Platons Dialoge gemäß seiner Philosophie abstrakter Entitäten zwar eine Wahrheit in ihrem universellen Sinne als Bedingung prädikativer Urteilsfähigkeit über Say?«, in: Richard Fleming / Michael Payne (Hg.), The Senses of Stanley Cavell, Pennsylvania: Bucknell University Press 1989, 242–283.

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objektive Sachverhalte freizulegen versuchen, dass aber sehr umstritten ist, wie und ob ihm dies gelungen ist. Kierkegaard, der um diesen Einwand sicher weiß, sieht dennoch eine Differenz gegenüber der »Wahrheit« des Apostels: Sie muss für ihn nicht in einem dialektisch-philosophischen Gespräch als vergessene Wahrheit freigelegt werden. Sie setzt sich primär als Wahrheit allein in der Abhängigkeit von einer ›Anrufung‹ (= Berufung) und dann erst in Abhängigkeit von Rechtfertigungen von Wahrheitsansprüchen. Paulus ist für Kierkegaard kein Genie, welches eine zeitlose Wahrheit verkündet. Er repräsentiert den »›Skandal‹ des Flecks der kontingenten Individualität, der das neutrale Feld des Wissens verwischt«. 780 Christus verlangt keine Treue zu seiner Botschaft als einer Lehre theoretisch verallgemeinerbarer Aussagen (wie man dies Sokrates in den platonischen Dialogen unterstellen könnte), sondern er verlangt eine Treue zu seiner aus der Perspektive griechischer Philosophie vollkommen menschlichen, ja skandalös ›allzu menschlichen‹ persona. Für Kierkegaard ist diese Kombination zwischen einer Botschaft und der Bindung an die sie überbringende Person, nicht an eine allgemeine Lehre, entscheidend. Žižek schreibt in Bezug auf den von Paulus verkündeten christlichen Universalismus: »Das Paradoxon des Christentums besteht in diesem Band, das die ewige Wahrheit mit einem historischen Ereignis verknüpft.« 781 »Die ewige Wahrheit selbst hängt an dieser kontingenten, materiellen Äußerlichkeit – in dem Augenblick, in dem wir dieses ›kleine Stück des Realen‹ (die historische Tatsache der Menschwerdung Christi) verlieren, in dem Augenblick, in dem wir unsere Verbindung zu diesem materiellen Fragment durchtrennen (indem wir es beispielsweise als Gleichnis für die Verwandtschaft des Menschen mit Gott reinterpretieren), bricht das gesamte Gebäude des christlichen Wissens zusammen.« 782

Das betrifft das im Hegel-Kapitel analysierte Verhältnis von Partikulärem und Allgemeinen, wie es Hegels Diktum von der »Substanz« ausdrückt, die »Subjekt« ist. Nun mag dies im Kontext religiöser Welterklärungsmodelle so sein. Von Kant bis zu Wittgenstein trägt sich die Ansicht durch, dass der religiöse Glaube keinen erkenntnistheoretischen Ansprüchen genügen müsse. Aber dass das für die Philosophie zutreffen solle, wirkt 780 781 782

Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 117. Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 104. Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 118.

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Zum Paradox exzessiver Autorität

irritierend, da das mit der Epoche der Aufklärung verbundene Ziel der Philosophie doch die Loslösung von jeder Art nicht zu hinterfragender Autorität war, sei diese staatlich, religiös oder akademisch. Wenn aber Žižek behauptet, dass Marx, Freud und Lacan als »Apostel« zu verstehen seien und nicht als Genies, so deshalb, weil die Wahrheiten, die sie in ihren Schriften vertreten, wesentlich auch an dem Ort hängen, von dem aus sie verkündigt worden sind. Die Frage nach einer positivistischen Verifizierung der Wahrheitsgehalte einer Lehre lässt dabei folgenden Umstand unbeachtet: Diejenigen Studenten, Wissenschaftler und Rezipienten, die z. B. Marx, Freud und Lacan folg(t)en, tun dies, weil sie von einem Vertrauen in eine Autorität ausgehen, die sie in Bezug auf das, was die Autorität sich selbst Autorität verleihend verkündet, gerade nicht (oder noch nicht) umgreifen können. Sie haben erkannt oder vielmehr ahnen sie, dass die ›apostolische Botschaft‹ ihrer Lehrer – um Kierkegaards Opposition von Genie und Apostel wieder aufzunehmen – sich eventuell nur mit dem historischen Ereignis verknüpft, das diese einzelnen, in zahlreichen begrifflichen Unstimmigkeiten sich vortastenden (paranoiden?) Wissenschaftler auch wirklich widerspruchsvoll verkörpern. Zahlreiche Thesen Freuds über den Einfluss des Unbewussten auf die Psyche des Menschen, Marx’ Analyse von Warenform und Warenfetischismus, Heideggers Rede von »Seinsvergessenheit« oder seine späte »Ereignis«-Theorie, Derridas Theorem der »différance«, Lacans Mythos vom Spiegelstadium bzw. seine Theorie des Akts etc. artikulieren nicht unbedingt Wahrheiten, die in einem universell-analytischen Sinne auf klare Wahrheitswerte zu beziehen sind. Sie widersetzen sich oft einer an den hard sciences ausgerichteten positivistischen Verifikation. Das Unbewusste kann man beispielsweise nicht ausschließlich in Beobachtungskoordinaten des Behaviorismus durch die Beschreibungen Dritter bringen. Man kann zwar, wie dies Marcia Cavell mit beeindruckender Präzision getan hat, die Entdeckungen der Psychoanalyse an eine an Donald Davidson ausgerichtete Theorie linguistischer Praktiken rückbinden und so die Psychoanalyse auf Grunderkenntnisse der Alltagspsychologie zurückführen, 783 die wichtigste, sich dem Positivismus entziehende Erkenntnis Freuds aber, wie diejenige eines vorpropositionalen Unbewussten, geht dabei jedoch tatsächlich verloren. David Snelling hat dies an Cavells Ansatz zu Recht kritisiert und Sebastian Gardner aus einem ähnlichen Grund 783

Vgl. Marcia Cavell, The Psychoanalytic Mind, 27–41, 196–205.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

eine alternative, unter anderem an Melanie Klein ausgerichtete Freud-Lektüre vorgelegt. 784 Gerade philosophische Analysen, wie diejenigen der genannten Autoren, Marx, Freud, Heidegger, Lacan, Derrida (zu denen man auch noch Hegel, Schelling, Fichte, Nietzsche und viele andere zählen könnte) haben u. a. zahlreiche Vertreter der sogenannten analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts auf den Plan gerufen, die Untersuchungsfragen dieser Autoren und die dazugehörigen Antworten nicht mehr unmittelbar als wissenschaftliche gelten zu lassen. Scheinbar würden sie, so der Vorwurf, nach Maßgabe des Paradigmas der Naturwissenschaften – also unter den Ansprüchen einer an der Logik und den empirischen Wissenschaften ausgerichteten Wahrheitstheorie – allzu oft zu sinnlosen Sätzen führen. 785 Ähnlich erscheinen politisch-philosophische Lehren, wie die von Mao Zedong oder Wladimir I. Lenin, widerlegt, weil das derzeitige, ebenso positivistische Beurteilungsparadigma der westlich demokratischen, liberalwirtschaftlichen Gesellschaft generell auf dem Ausschluss dieser einst für überzeugend gehaltenen Gewissheiten beruht. Was den Lacanianer Žižek in diesem Zusammenhang interessiert, ist das Paradoxon dieser seltsamen Autorität von scheinbar antiwissenschaftlichen Wissenschaftlern, die – wie wir bei Lacan schon entdeckten – eventuell ihre einzige und zentrale Stütze in ihrem »eigenen Akt des Aussagens« 786 haben, im Akt einer Setzung. Dies heißt für Žižek mit leicht übertreibender Emphase: »Eigentliche Autorität ist auf ihrer radikalsten Ebene immer machtlos, sie ist immer ein gewisser ›Ruf‹, der ›uns nicht wirklich zu etwas zwingen kann‹, und doch fühlen wir uns durch eine Art inneren Zwang genötigt, ihm bedingungslos zu folgen.« 787 784 Vgl. Snelling, Philosophy, Psychoanalysis, and the Origins of Meaning, 9 ff.; Gardner, Irrationality and the Philosophy of Psychoanalysis. 785 Vertreter einer sich ausschließlich an den Naturwissenschaften ausrichtenden analytischen Philosophie beanstanden in einem gewissen Sinne zu Recht, inwiefern auf zahlreiche Begriffe in der Tradition von Autoren wie Hegel, Heidegger, Derrida et al. keine Propositions- und Begriffsanalysen anwendbar sind, mit denen die analytische Philosophie ihren Status als wissenschaftliche Disziplin (in Abgrenzung zur Literaturwissenschaft z. B.) zu festigen hofft. Ein Nebeneffekt dabei ist die Tendenz, dass die Philosophie dieser Richtung eine sehr sterile Spezialwissenschaft wird, deren Analysen in vielen Fällen nicht das Erfahrungsspektrum abdecken (Kultur, Ästhetik, Politik), das oftmals die continental philosophy mit in ihren Analysen einbeziehen kann. 786 Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 106. 787 Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 106.

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Zum Paradox exzessiver Autorität

Das stellt nicht in Frage, dass es sehr wohl Begründungen der theoretischen Wahrheitsansprüche der erwähnten Autoren gibt. Aber nur im naturwissenschaftlichen Paradigma auf die Wahrheitsbedingungen, die Begründungen und Rechtfertigungen dieser Ansprüche zu schauen, lässt den ›Sprung‹ übersehen, von dem aus sich eine Erklärungsperspektive der Epistemologie erst eröffnen mag als eine, die ›mich‹ und mein Begehren nach ihren Vernunftschlüssen angeht. Žižek interessiert die Frage, worauf sich diese Autorität unabhängig vom Charisma der Person dann aber gründet. In diesem Zusammenhang hilft ihm Kierkegaard, die Lacans Theorie exzessiver Subjektivität im Kern betreffende Paradoxie der Autorität zu entfalten. Denn bei Kierkegaard ist angeblich eine Lücke in seiner ChristusInterpretation aufweisbar. Žižek hält sie für konstitutiv für das Verständnis von Autorität einer exzessiven Subjektivität, denn sie generiert sozusagen als Kollateraleffekt eine weitere exzessive Subjektivität der Jünger, oder, genereller ausgedrückt, der Jüngerschaft. Diese Lücke zeigt sich wie folgt: Wenn Kierkegaard behauptet, dass die Autorität Christi nicht im Inhalt seiner Lehre besteht, er aber gleichzeitig als »Sohn-Gottes« Medium / Mittelsmann des Zugangs zur Wahrheit Gottes ist, dann stellt sich die Frage, »worin [… seine Autorität] dann begründet [ist]?« 788 Christus ist weder auf seine vereinnahmende Persönlichkeit reduzierbar noch auf eine bestimmte Botschaft, so sozial gerecht sie geklungen haben mag. Was macht ihn aber für Kierkegaard zur Autorität, wenn es letztlich weder seine exklusive Persönlichkeit, noch seine exklusive Botschaft ist? »Die einzige mögliche Antwort lautet: [Die Autorität des Apostels, die auch die Autorität Christi ist, gründet … D. F.] in dem leeren Raum des Durchschnitts der beiden Mengen, der Menge seiner persönlichen Eigenschaften und der seiner Lehre.« 789

In diesem Zusammenhang druckt Žižek folgende Zeichnung ab (Abbildung 5): persönl. Beschreibung a

Lehre

Abbildung 5: Zum Paradox der Autorität 788 789

Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 108. Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 109.

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Lacan: Autonominelle Rechtssubjektivität und ihre Konsequenzen

In der Schnittmenge der beiden Ellipsen lokalisiert Žižek jenes nicht definierbare »unergründliche X, welches ›in Christus mehr ist als er selbst‹.« 790 Es entspricht dem, »was Lacan Objekt klein a bezeichnet«. 791 Was in der Schnittmenge mit klein a bezeichnet ist, ist für Žižek eine Verdrängung. Was in dieser Lücke zwischen Persönlichkeit und Lehre in der Nachfolge bestimmter Wahrheitsansprüche verdrängt wird, ist so etwas wie das nicht eingestandene Bekenntnis, dass man das, was man für wahr hält, nur von dem Ort aus für wahr hält, von dem es selbst schon artikuliert wurde. Was verdrängt wird, ist folglich ein reines Performativ. Mit anderen Worten: man folgt nicht aufgrund einer kognitiven Filterung der beeindruckenden Lehre der Autorität, sondern man folgt der Autorität après coup, nach dem Sprung in den Sinnhorizont, den diese aufgerissen hat. Und es ist diese Geste, die für Žižek »das Subjekt konstituiert« und zwar deswegen, weil die Realität »subjektiviert« wird. Dies geschieht, »wenn das Subjekt das, was ihm aufgezwungen wird […] als seine freie Wahl setzt.« 792 Das ist eine treffende Definition dessen, was Jüngerschaft ausmacht. Hierin ausschließlich die Struktur eines blinden Gehorsams zu erkennen, unterschätzt, dass wir schon auf der Alltagsebene elementarster Lebenspraktiken ohne diese Jüngerschaft gar keine Subjektivität entfalten könnten. Gerade die Verzahnung von Lebenspraktik und Normativität war schon für Hegel, wie wir sahen, ein zentraler Bestandteil von Sittlichkeit. Das von Kierkegaard und Žižek analysierte Paradox der Autorität spitzt dies nur noch einmal auf politische, aber auch wissenschaftliche Umbrüche zu, wo erst die Praktik bzw. der Sprung in die Praktik (die einer Theorie oder die einer politischen Lehre) sich als die Bedingung ihrer normativen Begründung artikuliert haben wird. Die Autorität eines Apostels – welcher Fachdisziplin auch immer (religiöser, philosophischer, aber auch teilweise naturwissenschaftlicher Provenienz) – setzt so die sich aus dieser Autorität herleitenden Kognitionen vor einer Abwägung derselben als Bedingung voraus, um auf dem Weg ihrer Wahrheit in der performativen Zelebrierung ihrer selbst voranzuschreiten. Es sei noch erwähnt, dass Žižek in seiner Kierkegaard Exegese auch die These vertritt, es gebe die Möglichkeit, an den nicht anders als mystisch zu nennenden Punkt zu gelangen, von dem aus das Sub790 791 792

Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 109. Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 109. Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 113.

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jekt den Eintritt in das Symbolische noch einmal erleben und setzen kann. Dieser Gedanke ist für Žižek auch vor dem Hintergrund der Ausführungen Kierkegaards zur Jüngerschaft zentral. Der Sprung in die Autorität des Meisters kann ja auch so gedeutet werden, dass das Subjekt zu einem Sprung in das Nichts seiner eigenen negativen Selbstbeziehung ansetzt. Dann ist dies der Sprung in meinen Glauben an mich in Bezug zum Glauben an meinen Meister, wobei der Sprung in seiner Geste der Performativität auch die Distanzierung gegenüber dem etablierten normativen Außenbereich der sozialen Umwelt bewirkt. Ähnlich ist Žižeks Theorie des politischen Akts zu verstehen, in der es analog um eine Durchkreuzung herrschender Prämissen im Bereich des Politischen geht. Diese entwickelt er in direktem Austausch mit Badious Ereignis-Philosophie, wie auch im Rückgriff auf Lacans oben erwähnte Rede vom »passage à l’acte«. Der politische Akt eröffnet für das Subjekt die Möglichkeit, einen neuen Sinnhorizont zu betreten, der auch erst durch den Akt der Selbstüberwindung eröffnet werden kann. Noch einmal in anderen Worten: Žižek möchte Kierkegaards berühmte Rede vom Glaubenssprung auch als politische Geste der Selbstsetzung des Subjekts verstanden wissen. Wie wir sahen, ist dieses Theorem zumindest im Ansatz bei Lacan allpräsent in seiner philosophiepolitisch nicht zu unterschätzenden Lehre vom »Durchkreuzen des Phantasmas«. Der politisch-ethische Akt (Beispiel Antigone) ist für Lacan immer so ein Kierkegaard’scher Glaubenssprung über die etablierte Doxa hinweg. Lacans Ethik des Aktes sollte dabei nicht einfach als Verwirklichung einer Potenzialität interpretiert werden, die immer schon abrufbar war, sondern als quasi-transzendentaler Kollaps der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Es ist die Psyche, die die Modalität ›ihrer Welt‹ wie in Form einer Fichte’schen Tathandlung als Medium der (neuen und) in die Zukunft hinein-gewetteten Ich-Funktion setzt. Lacan weist in mehreren Schriften und besonders in seinem Rekurs auf Jeremy Benthams Theory of Fictions darauf hin, 793 inwiefern der Zugriff des Subjekts auf die Gewissheit seiner intersubjektiv vermittelten Lebenswelt permanent durch Virtualitäten aufrechterhalten wird, deren Medium das Subjekt immer auch schon unthematisch selbst ist. Gerade diese Virtualitäten, Fiktionen, noblen Lügen – die die symbolische Ordnung garantieren und damit zahlreiche Gewissheiten unseres Alltag regeln – sind nicht Me793

Vgl. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 20 f.; 275–277.

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dien der Korruption, sie sind, wie auch Hegel in seiner Rede von der zweiten Natur des Menschen offenlegt, das Medium unserer Gewohnheiten und dadurch der Möglichkeitsbereich unserer Freiheit. Gerade weil virtuelle Momente sich in unserer Realitätskonstitution notwendig beimischen, können wir ab und zu die ›Realität‹ suspendieren, z. B. durch eine Neubestimmung unseres Selbstverhältnisses, das unsere Realitäts-Koordinaten versorgt. Ludwig Wittgenstein erforscht diesen Umstand übrigens ebenso in einer prägnant mit Lacans Überlegungen konformgehenden sprachphilosophischen Analyse. In den Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik schreibt er: »Die Grenze der Empirie – ist die Begriffsbildung.« 794 Im Tractatus heißt es ähnlich über die Grenze der Empirie: »Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern ist eine Grenze der Welt«. 795 Für Wittgenstein besteht die logische Aufgabe von Begriffen in der Unterscheidung differenzierbarer Sachverhalte. Zur Verwirklichung dieser Zweckerfüllung muss ein Begriff eine sprachlich formulierte und geschichtlich bedingte Vorstellung sein, mit der den Menschen ihre Außenwelt als begrifflich vermittelte in Erscheinung tritt. 796 Je nachdem, ob die darin artikulierten Vorstellungen sich dann als zutreffend erweisen oder nicht, können Begriffe richtig sein oder falsch. Während folglich Begriffe selbst Teil der Welt sind, ist dementgegen die Begriffsbildung für Wittgenstein eine Art Überdehnung der Welt über ihr etabliertes Vokabular. 797 Die Begriffsbildung geht nicht so radikal vonstatten, dass dem erkennenden Subjekt die ganze Wirklichkeit verloren geht. Was jedoch sehr wohl geschehen kann, ist eine grundlegende Transformation seiner historisch vermittelten und eventuell als unerschütterlich angesehenen etablierten Begründungsformen. Die neue Grenzziehung durch Begriffsbildung gehört dann im Moment ihrer Performanz im strikten Sinne, wie

Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, 237. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 68 (Nr. 5.632). 796 Siehe dazu auch meine Ausführungen in dem Artikel: Dominik Finkelde, »Politische Logik. Zum Subjekt als Grenze bei Badiou und Wittgenstein«. 797 Vgl. Vossenkuhl, »Spontaneität«, 329–349. Joachim Schulte schreibt zur Begriffsbildung bei Wittgenstein: »We get the impression, Wittgenstein says, that conceptformation conducts our experience into particular channels, so that one experience is now seen together with the new one in an hitherto unfamiliar way« (Joachim Schulte, »Philosophy of Psychology. A Criticism of a young Science?«, in: Pirmin StekelerWeithofer (Hg.), Wittgenstein: Zu Philosophie und Wissenschaft, Hamburg: Meiner 2012, 224–235, hier: 230). 794 795

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Wittgenstein nahelegt, nicht zur Welt, da sie aus dem Zwischenbereich zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt, in dem sie aufgehängt ist, erst in ihre eigene, durch die Spontaneität des Denkens ausgelöste Form kommt. In seinen Anmerkungen über Gründe und Lebensform spricht Wittgenstein in Analogie zu dem gerade Gesagten von einem Vorgang, dem gemäß das gesamte »Flußbett der Gedanken sich verschieb[t]«. 798 Wenn Sätze als Bedingung von Gewissheit »zu einer Art Mythologie gehören«, 799 dann können auch ganze Beurteilungszusammenhänge sich wie diese abwechseln: »Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben.« 800 Damit ist kein psychotischer Weltverlust gemeint, aber doch eine Veränderung des etablierten Begründungsrahmens, von dem her die Psyche sich bisher in ihrer Welt hat stehen sehen. 801 Die Begriffsbildung ist strikt genommen nicht wahrheitsfähig, weil es für sie noch keine Regel der Begründung und der Beurteilung gibt. 802 Daraus folgt, dass der gründende Begriffsgebrauch als spontane Setzung auch nicht in seiner Spontaneität schon reflexiv auf sich Bezug genommen hat. Von dieser Einsicht ist Lacan nicht weit entfernt. Er verweist u. a. in seinem Begriff des Realen darauf, dass, sinnbildlich gesprochen, in der Realität immer ein unergründliches Mehr an ›Platz‹ und Potenzialität verborgen ist als es das Subjekt in der etablierten Doxa, die es umgibt, generell für propositional ergründbar und beschreibbar hält.

798 Wittgenstein, Über Gewißheit, § 97. Im § 105 heißt es: »Alle Prüfung, alles Bekräften und Entkräften einer Annahme geschieht schon innerhalb eines Systems. Und zwar ist dieses System nicht ein mehr oder weniger willkürlicher und zweifelhafter Anfangspunkt aller unserer Argumente, sondern es gehört zum Wesen dessen, was wir ein Argument nennen« (Wittgenstein, Über Gewißheit, § 105). 799 Wittgenstein, Über Gewißheit, § 95. 800 Wittgenstein, Über Gewißheit, § 97. Es ist wichtig nicht zu verkennen, dass Wittgenstein hier keinen radikalen Konstruktivismus verteidigt. Die Regeln des Begründens sind immer schon vorgegeben, was nicht heißt, dass sie immer auch wieder sinnbildlich über die ›Ufer‹ ihrer etablierten »Flußbetten« treten können. 801 Wittgenstein spricht gerade nicht in seiner Theorie der Spontaneität davon, dass die Begriffsbildung ein Akt einer Gemeinschaft sei, der sich aus den etablierten Begriffen ableitet. Die Begriffsbildung ist ein Akt, der die Begriffe unilateral auf eine neue Grenze hin erweitert. 802 Wie Vossenkuhl treffend sagt: »Die Tätigkeit, streng genommen ihr Vollzug, ist nicht Teil der Welt, sondern Grenzziehung, Abgrenzung, Differenzierung.« Diese Tätigkeiten »gibt es nicht als objektivierte Teile der Empirie. Was es gibt, sind ihre Ergebnisse« (Vossenkuhl, »Spontaneität«, 344).

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Kognitive Stressreduzierung ist hierbei eine wichtige Motivation der Psyche. Dagegen steht Lacans Theorie des Akts sinnbildlich für die politisch exzessive Gestik einer Wirklichkeitsdurchbrechung zugunsten des gerade erwähnten, noch unergründlichen Platzes ein. Er entdeckt die Kraft dazu u. a. bei Antigone, Paulus, Luther und Lenin wieder. Das Ich kann sich zwar im Akt, im Ereignis nicht gottgleich in eine Außenperspektive flüchten, aber es kann sich getrauen, den Rahmen seiner Subjektivierung bzw. mit Wittgenstein gesagt das ›Flussbett seiner Gedanken‹ und damit auch das, was der Fall ist, neu zu bestimmen. Lacans Ethik des Realen ist, wie unschwer erkennbar sein dürfte, in diesem Sinne eine Ethik des Extrems, der Transgression. Als solche ist sie vergleichbar mit der oben genannten illegalen Sprachperformanz dessen, was ein »Ich« glaubt, auf jeden Fall »im Imperativ« des Signifikanten begriffsbildend verteidigen zu müssen, ohne wirklich immer die propositional begründbare Berechtigung dafür in einer »Kontoführung« zu haben. Das Ich kann sich hier in seinem Ereignis der Selbstperformanz nicht in eine neutrale Perspektive flüchten (z. B. in den Glauben an eine Metasprache als Garanten einer moralischen »Kontoführung«). In einigen extremen Fällen – und nur um diese geht es hier – ist der einzige Garant es selbst. Braucht es im Bereich des Politischen nicht immer wieder solche scheinbar solipsistischen Setzungen, die, wie die Beispiele von Rosa Parks bis hin zu Lenin zeigen, letztlich neuen Paradigmen den Weg bereiten? Lacan scheint dies ebenso wie Hegel nahezulegen, wenn er die Ethik der Psychoanalyse zwar individualpsychologisch auslegt und dennoch ebenso um die kreationistische Wirkkraft von psychischen bzw. (scheinbar) psychotischen Setzungen einzelner Subjekte für den Bereich des Politischen weiß. Paulus ist ihm wiederholt ein Mustersubjekt politisch-ethischer Setzungsmacht. 803 In Lacans Ethik geht es vorerst – so antiethisch es klingen mag – um das partikuläre Begehren des Subjekts und »seine Wahrheit«, die es auch als Wahrheit des »Subjekts des Unbewussten« nicht immer propositional einfangen kann. Lacan schreibt im Seminar VII zur Antigone: »Antigone zeigt sich als αὐτόνομος, reines einfaches Verhältnis des menschlichen Wesens zu dem, als dessen Träger dieses sich wunderbarer803 Vgl. Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 105 f.; Lacan, Le séminaire IX. L’identification, Sitzung vom 14. März 1962.

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weise vorfindet, nämlich jenes signifikanten Einschnitts, der ihm die unübersteigbare Macht gibt, allem entgegen zu sein, was es ist.« 804

Lacans transgressive Rechtssubjektivität verdeutlicht die vom Subjekt zu verbürgende Tat der Auslegung der Handlung und die Unmöglichkeit einer neutralen Beobachtung / Beurteilung der betreffenden politischen Situation vor der Handlungstat. Das Subjekt bewegt sich hier in der Macht von S1 – der Totalität der Sprache, die ihre Nicht-Koinzidenz verbergen muss. Es kann dann auch von einem Exzess ›überrollt‹ werden. Es kann, wie Daniel Dennett am Beispiel von Abraham Lincoln zeigt, 805 erkennen, dass es erst nach einem Sprechakt die propositionale Intention annimmt, die sich im Sprechakt artikuliert hatte. Erst die Handlungstat und teilweise ihre Folgen legen diese Aporie des moralisch-legalen Widerstreits irritierend offen und zwingen dann eventuell den »Geist eines Volkes«, d. h. die etablierte Sittlichkeit, zu einer Gegenreaktion. So gibt es eine Retroaktivität, die darauf hinweist, dass das Subjekt nicht ständig ›bei sich‹ sein muss, um sich zu ergreifen. Das Nicht-Aufgehen des Subjekts (bzw. des »Subjekts des Unbewussten«) in seiner Subjektivierung z. B. durch die Sprache etablierter Normativität ist dann für Lacan Beweis dafür, dass das Individuum auf der Ebene seiner Singularität eine zukünftige Universalität (re)präsentieren kann. Das, was Badiou seinerseits mit Lacan die ›Autonomination‹ 806 nennt, kann das Subjekt leisten.

Lacan, Das Seminar VII. Die Ethik der Psychoanalyse, 338 (leicht abgewandelte Übersetzung). Im französischen Original heißt es: »Antigone se présente comme αὐτόνομος, pur et simple rapport de l’être humain avec ce quelque chose dont il se trouve être miraculeusement porteur, à savoir la coupure signifiante, ce pouvoir infranchissable d’être envers et contre tout ce qu’il est« (Lacan, Le séminaire VII. L’éthique de la psychanalyse, auf der Grundlage der Version der École lacanienne de psychanalyse, URL: http://staferla.free.fr/S7/S7.htm, Sitzung vom 8. Juni 1960). Lacans Position hat scheinbar eine Beziehung zum Intuitionismus in der Tradition von Luitzen E. J. Brouwer, so als könne das Bewusstsein die Außenwelt gleichsam konstruieren. Der Geist kann scheinbar neue, künstliche Entitäten schaffen, indem er bloß Elemente verknüpft. In diesem Sinne ähnelt Lacans Ethik des Realen der Ethik des Ereignisses von Alain Badiou. Ihm zufolge ist die »Selbstzugehörigkeit […] für das Ereignis konstitutiv. Das Ereignis ist Element der Vielheit, die es ist« (Badiou, Das Sein und das Ereignis, 539). 805 Vgl. Daniel Dennett, Consciousness Explained, New York: Little, Brown 1991, 238 ff. 806 Badiou spricht vom »reinen Akt der Benennung«. Der Name der »Benennung« ist »der Name der Leere ein reiner Eigenname […]: Er zeigt sich selbst an, er markiert in 804

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Eine solche Ethik hat offensichtlich wenig mit einer normativen Begründung von Maximen innerhalb eines Gemeinwesens zu tun. Eine »Ethik des Realen« betrifft das partikuläre Selbst und dessen Begehren als eine tragisch transgressive Begegnung mit dem Eigenen in Form eines Fremden, das gerade aus der eigenen Fremdheit herkommend umso mächtiger auftreten mag. Ein nicht zu übersehendes Problem dieser Intensität der Transgression bei Lacan ist zweifellos die permanente Potenzialität bzw. Aktualität des ›Pathologischen‹, wie man es auch Rosa Parks hätte zusprechen können. Individuen wie ihr eine Pathologie des Überempfindlich-Seins gegenüber politischer Realpolitik vorzuwerfen oder die Pathologie des ›Probleme-Sehens, wo es keine gibt‹, ist nahezu unvermeidlich. Man begegnet diesen Vorwürfen wieder im Zusammenhang mit den zeitgenössischen »Verrätern« nationaler Interessen wie Julian Assange, Bradley (Chelsea) Manning und Edward Snowden. Für Lacan ist aber die Haltung des Hysterischen dort ethisch, wo er den großen Anderen immer von dessen Mangel her befragt. Man könnte sagen: das ethisch-transgressive, hysterische Subjekt ist für ihn in einer paradoxalen Konstellation gegenüber der Gesellschaft immer exklusiv und inklusiv zugleich.

»Je dis toujours la vérité!« Kehren wir noch einmal zu Kierkegaard und der Thematik von einer starken Autoritätsgeltung bei einem zeitgleichen Mangel an propositionalisierbarer Autoritätsbedeutung zurück. Die Vollmacht des Apostels, von der Kierkegaard spricht, birgt wie gesagt das Moment einer paradoxalen Autorität, die Žižek in Kombination mit Lacans Ethik des Aktes denkt. Die Wahrheit der verkündeten Botschaft erfährt wesentlich ihre Geltungskraft auch durch ein nahezu absurdes Vertrauen in die menschlich-allzumenschliche (charismatische) persona, von der aus die Wahrheit verkündet wird. Die Botschaft des Paulus ist – überspitzt formuliert – wesentlich durch seine Person, nicht durch (s)eine Lehre verkündbar. Dasselbe trifft nach Lacans Luther-Interpretation auch auf den Mitbegründer der Reformation zu. Luther gelang es als Poet und Prophet, die Gottesfurcht als einmalidem, auf das er sich bezieht, keine Differenz und er deklariert sich selbst« (Badiou, Das Sein und das Ereignis, 59).

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gen Signifikanten mit gewaltiger Appellationsmacht zu etablieren. Dies glückte jedoch nur, weil Luther selbst sich zum eigentlichen Bürgen wie auch zum Opfer der von ihm verkündeten Gottesfurcht stilisierte. Lacan: »Die Gottesfurcht ist ein Signifikant, der nicht überall herumgeistert. Es hat jemanden geben müssen, um ihn zu erfinden und den Menschen als Heilmittel für eine aus mannigfaltigen Schrecken bestehende Welt vorzuschlagen«. 807 Dieser von der Person aus verkündete Text steht »in einem radikalen Sinne ›jenseits der Kritik‹«, da er selbst »den Horizont des Wahren darstell[t]«, von dem aus Kritik ihre Parameter beziehen könnte. 808 Aus einem solchen Einblick in die Appellkräfte von Individuen, die ganze Menschengruppen in ihren Bann ziehen können, nennt Žižek, wie gesagt, Marx, Freud und Lacan nicht Genies, sondern »Apostel« im Sinne Kierkegaards. Sie müssen sich als Begründer eines neuen theoretischen Feldes (noch) nicht mit den Wahrheitskriterien auseinandersetzen, mit denen ihre historisch-kritischen Exegeten gemessen werden. Das betrifft wie erwähnt Freuds Begriff des Unbewussten, aber auch Heideggers Rede von abendländischer »Seinsvergessenheit« oder Derridas Theorie der »différance«. Žižek schreibt: »[W]enn es in ihren Texten [in den Texten von Marx und Freud, D. F.] etwas zu widerlegen gibt, so sind das einfach Äußerungen, die dem ›epistemologischen Bruch‹ vorausgehen, d. h. die nicht zu dem Feld gehören, das durch die Entdeckung des Begründers eröffnet wurde.« 809

Als Begründer neuer Wissenshorizonte haben sie folglich die Autorität radikaler Kreativität. Von einer solchen manchmal wahnhaft wirkenden Kreativität, der man jedoch auch wiederum eine politische Dimension zusprechen kann, zeugen Jacques Lacans späte Seminare und seine exzentrischen Auftritte im Französischen Staatsfernsehen. Lacans Lehrveranstaltungen der 1970er Jahre und seine Auftritte vor laufenden Kameras gleichen einem theatralisch-magischen Sprechen, 807 Lacan, Das Seminar III. Die Psychosen, 315, Hervorhebung D. F. Lacan fährt fort: Es hätte jemanden geben müssen, der die Menschen lehrt, »ein Wesen zu fürchten, das letztlich seine Misshandlungen nur durch die Übel ausüben kann, die da sind, vielfach gegenwärtig im menschlichen Leben. Die unzähligen Befürchtungen durch die Furcht eines einzigen Wesens zu ersetzen, das über kein anderes Mittel verfügt, seine Macht kundzutun als durch das, was hinter den unzähligen Befürchtungen befürchtet wird, das ist stark« (ebd.). 808 Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 115. 809 Žižek, »Warum ist jeder Akt eine Wiederholung?«, 115.

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das sich nahezu losgebunden wähnt von jeglichen Zwängen eines positivistisch-wissenschaftlichen Diskurses. »Je dis toujours la vérité.« 810 Aus dem Grund lehnt es Lacan auch ab, sich – wie er sagt – als »Forscher [zu] betracht[en]« und er wendet Picassos Ausspruch »Ich suche nicht, ich finde« 811 auf seine eigene Arbeit an. Das schließt nicht aus, dass dieses Die-Wahrheit-Sprechen, dieses Finden-welches-ein-Setzen-ist teilweise dem Duktus heiliger Texte folgend auch eine Form bewusst praktizierter Glossolalie ist. Dieses Sprechen hat vorerst Geltung ohne propositional nachvollziehbare Bedeutung, könnte man sagen. Nichtsdestotrotz zeigt die Sekundärliteratur ihre Fähigkeit, das Zungenreden-ähnliche Sprechen des angeblichen »maître absolu« zurückzubinden an Kriterien wissenschaftlicher Forschung. Der vielrezipierte Begriff des Fetischcharakters der Ware bei Marx ist gerade auch der Begriff eines Streits darüber, was er genau besagen soll und ob er, wie Marx nahelegt, von einer Analyse industrieller Warenproduktion her tatsächlich abgeleitet werden kann. Ebenso ist das Unbewusste bei Freud weder anwesend noch abwesend. Es ereignet sich oder ›zeigt‹ sich, ebenso wie die Suche nach dem Gott, den niemand je gesehen hat, im Dialog zwischen den Gläubigen bzw. im Dialog zwischen Analysand und Analytiker. Wenn Žižek in Bezug auf Lacans sogenannte »retour à Freud« sagt, dass nur eine angeblich radikale Rückkehr zum ›authentischen Freud‹ paradoxerweise eine radikale Neuentdeckung dieser angeblich immer gleichgebliebenen Authentizität ermöglicht und bisher übersehene Schichten des Werkes zu Tage fördert, so verweist er auf die eigentliche Produktivität der Übertragungsbeziehung, die sich hinter dem Skandal, seinen Lehrer nicht nur verstehen, sondern auch »lieben« zu müssen, verbirgt. Žižeks Anmerkungen zu Kierkegaards Unterscheidung von Genie und Apostel sind wertvoll, wenn man sie als Annäherungsversuche versteht, zwei verschiedene Konzepte von Autorität herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen. Das eine ist – sehr verkürzt gesagt – gebunden an die angeblich »reine Lehre«. Das andere ist gebunden an einen nicht-assimilierbaren Kern menschlicher-allzumenschlicher Monstrosität – oder auf Lacan bezogen: Es ist gebunden an diese fruchtbare »Boshaftigkeit«, die er, wie Althusser beschreibt, gegenüber seinen ihn liebend verehrenden Schülern offenlegte. 810 811

Lacan, Télévision, 9. Lacan, Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 13.

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»Man muss gehört haben, wie er [Lacan] spricht […], um die glanzvolle Boshaftigkeit zu begreifen, in der er sich, durch den Surrealismus hindurchgegangen, als Individuum realisiert […]. Wenn Sie ins Seminar [von Lacan] gehen, werden Sie alle Arten von Leuten zu sehen bekommen, ins Gebet versunken vor einem unverständlichen Diskurs.« 812

Und es ist eventuell gerade diese nicht-assimilierbare, liebenswürdige Boshaftigkeit, die uns ab und zu im Bann des Diskurses von jemandem hält und uns etwas erkennen lässt, das wir sonst vielleicht nicht würden erkennen können. Darauf verweist Žižek wohl mit seiner immer auch kryptisch bleibenden Zeichnung der Strukturform paradoxaler Autorität aus den zwei Kreisen mit objet petit a in der Schnittmenge. Die beiden Bereiche von Persönlichkeit und Lehre überschneiden sich und bilden einen unassimilierbaren Kern, um den sich die Autorität des »Apostels« aufbaut. Der Bereich »a« soll darauf hinweisen, dass die Lehre nie ganz selbsttransparent werden kann, wobei Žižek, Kierkegaards Interpretation folgend, der sokratischen Philosophie unterstellt, sie sei wirklich, zumindest von ihrem Selbstverständnis her, auf Transparenz hin angelegt. Das muss sehr bezweifelt werden. Lacan betont wiederholt die Notwendigkeit der Liebe, die seine Anhänger ihm schenken mögen, 813 so als würde er die Worte »Liebst du mich?«, die Jesus im Johannes-Evangelium dreimal an Petrus richtet (Joh 21, 15–17), für sich in Bezug auf seine Anhänger bzw. Jünger beanspruchen wollen. Analog zu der Übertragungsbeziehung zwischen Analysanden und Analytiker betont er den pathologischen Aspekt der Liebe für den Erfolg der Entbergung und Fortentwicklung seiner Lehre, die er auch als »Diskurs der Wahrheit« etikettiert und besonders durch Kartell-ähnliche Strukturen von Gefährten-Gruppen verbreitet wissen wollte. Was diese Herleitung verdeutlichen mag, ist vielleicht der Grunderfahrung nicht unähnlich, die wohl nicht wenige Studenten der Philosophie im ersten Semester ihres Studiums machen. Es ist die Erfahrung, an einem Institut von nicht selten miteinander verfeindeten Professoren zu studieren, die sich genau deshalb nicht ge-

Zitiert nach Roudinesco, Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, 453. Vgl. Lacan, Das Seminar XX. Encore, 149–160. In einem Brief vom 26. Januar 1981, in dem Lacan die École de la Cause freudienne präsentiert, schreibt er: »Ceci est l’école de mes élèves, ceux qui m’aiment encore« (zitiert nach: Jean Allouch, Contre l’éternité. Ogawa, Mallarmé, Lacan, Paris: Epel 2009, 66). 812 813

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genseitig würdigen können, weil es das Ideal der abstrakten Weisheit, das ihre philosophischen Ansätze wie in einem tertium datur pazifizieren könnte, nicht gibt und die genau aus diesem Grund der Liebe ihrer Studierenden bedürfen. Žižek weist auf die Produktivität dieser auf dem Begriff der Liebe beruhenden Übertragungsbeziehung hin, die in einem gewissen Sinne den parallaktischen Ort zu besetzen sucht zwischen Persönlichkeit und ihrer Botschaft und gerade dadurch Neues entdecken kann. »Lacan war kein sokratischer Meister, der sich selbst vor dem erlangten Wissen auslöschte; seine Theorie rechtfertigt sich nur durch die Übertragungsbeziehung zu ihrem Begründer.« 814 So gesehen ist Lacans angeblich orthodoxe Rückkehr zum »Apostel« Freud nichts anderes als die eigentliche Geburt der Lehre Lacans, so wie die wahre christliche, exzessive Subjektivität erfordernde Nachfolge nach Kierkegaard nicht vornehmlich in der Befolgung sozialer Verhaltensweisen liegt, die Jesus verkündigt hat, sondern in der existentiellen Verwirklichung der Botschaft Christi wurzelt, für die die Heiligen einstehen. Die imitatio Christi, wie sie die Heiligen pflegten, kopiert nicht – ist nicht imitatio als schlechte Kopie, sondern schafft – der absurd menschlichen-allzumenschlichen Wahrheit oder Illusion folgend – wiederholt neue Ausnahmen. In diesem Sinne vergleicht Žižek den philosophischen Dialog, wie er unter dem Titel »retour à Freud« zwischen Lacan und Freud stattfindet, mit der psychoanalytischen Gesprächssituation. So wenig wie die Wahrheit eines Traumas im psychoanalytischen Gespräch einfach wie ein Schatz »entborgen«, sondern minuziös (re)konstruiert wird, entdeckt Lacan nicht einfach in seiner »retour à Freud« den wahren Freud. Das Trauma in der psychoanalytischen Gesprächssituation wird vielmehr (wieder-)geboren, es wird zwischen Analysanden und Psychoanalytiker ausagiert. Es kommt aus der Zukunft, nicht von der Vergangenheit her. Es »existiert« nachträglich, als das, was das Subjekt immer schon vorausgehend rückblickend belastet hatte. Und genau diese zeitliche Retorsion betrifft sowohl den Hegel’schen Geist wie auch Walter Benjamins geschichtstheologischen Messianismus. Die hyperbolischen Gebärden im Wahrheitsanspruch der hier verhandelten ›Apostel‹ – Paulus, Kierkegaard, Lacan und Žižek selbst – verkörpern die Performativität eines prophetischen Sprachgestus, der zerstörerisch und gleichzeitig – in seiner hyperbolischen Gebärde – Ausdruck transformativer Kraft sein kann. Der Wahrheitsanspruch 814

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»Je dis toujours la vérité!«

des Apostels verpflichtet den Zuhörer, auf diese Performativität, d. h. auf die Performativität eines Sprechens zu reagieren. Das macht es zwingend, dass der Apostel immer nur im eigenen Namen sprechen kann. Er muss (vorerst) in seiner exzessiven Subjektivität dieses Eigene als realen Beweis seines Sagens vorweisen. Gleichzeitig verlangt er von seinen Hörern, Lesern oder Jüngern, dass diese seine universellen Wahrheiten, dort wo sie sich der begrifflichen Klärung entziehen, von dem Ort aus erst einmal zu verstehen suchen, von dem aus sie geäußert werden.

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VI. Literaturverzeichnis (Werke der Autoren in alphabetischer Reihenfolge)

Abkürzungen Kant: Anthro. Gemeinspruch GMS KpV KrV KU MS Pädagogik Rel. Tugendlehre

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kritik der Urteilskraft Die Metaphysik der Sitten Pädagogik Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft Die Metaphysik der Sitten: Tugendlehre

Hegel: Ästhetik Enzyklopädie Enzykl.-Logik

Vorlesungen über die Ästhetik Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, darin die Wissenschaft der Logik (»Kleine Logik«). Gesch. d. Phil. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Glauben und Wissen Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität Logik Wissenschaft der Logik Naturrechtsaufsatz Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften PhG Phänomenologie des Geistes Phil. d. Gesch. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Rph Grundlinien der Philosophie des Rechts

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VII. Personenregister

Adorno, Theodor W. 42 Allison, Henry E. 48, 50, 65, 69–70, 89–90, 123 Althusser, Louis 105, 252, 269–270, 272, 274, 279, 282, 325, 360 Anscombe, Elizabeth 13, 175 Antigone 22–24, 27, 42, 118, 164– 166, 180–203, 207–208, 210–211, 218, 221–222, 234–235, 242–245, 260, 292, 297–298, 300–309, 311, 333–334, 339, 342, 350, 354–355, 357–358, 360, 373, 376–377 Aristoteles 19, 26, 53, 55, 113, 137, 169–170, 197, 236, 256, 331–332 Badiou, Alain 17, 21, 29, 40, 58, 84– 85, 112, 150, 160, 211, 288, 297, 317–318, 328–329, 336, 373, 377 Benjamin, Walter 41, 43, 267, 283, 295, 308, 348–349, 353, 359, 361, 382 Benveniste, Émile 320–322 Brandom, Robert 19–21, 60–62, 86, 96–102, 104–109, 111–112, 115, 120, 128, 131, 133, 148, 154–155, 160, 180, 204, 277, 284, 324, 330, 337, 344 Butler, Judith 149 Cavell, Marcia 238, 254, 369 Cavell, Stanley 28, 366 Conant, James 366 Davidson, Donald 180, 196–197, 369 Derrida, Jacques 153, 293, 307, 369– 370, 379 Eagleton, Terry 271–272, 350 Frege, Gottlob 100, 294–295, 311– 316, 324–324, 334–335

Freud, Sigmund 28–30, 196, 198, 238, 242–243, 247–249, 254–258, 262– 270, 272–273, 276–277, 285, 291, 296, 302–303, 337, 339, 344, 351, 353–355, 357, 360, 367, 369–370, 379–380, 382 Gabriel, Markus 89, 93, 237 Gardner, Sebastian 29, 238, 258, 369 Geiger, Ido 14–15, 165, 178 Habermas, Jürgen 20, 43, 56, 59, 62, 97, 101, 156–157, 164, 199, 251 Hamann, Johann Georg 12 Hegel, Georg W. F. 12–18, 22–28, 30– 32, 34–47, 54–55, 57, 59, 71, 84–86, 95, 98–99, 101, 105–106, 109, 114, 116–119, 144, 146, 150–151, 153, 156–251, 254–255, 260, 262–263, 266–267, 269–270, 273, 276–277, 280, 282–284, 287, 289, 290–293, 297–299, 301–302, 306–311, 317, 319, 333, 336–337, 343, 345, 348– 349, 354–355, 357–359, 364, 368, 370, 372, 374, 376, 382 Heidegger, Martin 17, 44, 117, 138, 149, 152–153, 194–195, 208, 211, 212, 278, 313, 324, 329, 336, 342, 369–370, 379 Honneth, Axel 11, 39, 50, 83–84, 156, 163–164, 172, 203, 282, 350 Höffe, Otfried 19, 55–56, 65, 142, 305 Horn, Christoph 66, 73 Kafka, Franz 295, 308, 360–363 Kant, Immanuel 11–32, 34–36, 38, 46–155, 158–159, 163–165, 167– 179, 190–191, 199, 207, 212, 214– 216, 218–219, 221, 225–226, 236,

407 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .

Personenregister 240–241, 247–250, 252–259, 262– 263, 266–269, 271–273, 276, 282, 286, 289, 297, 301–302, 305–307, 310, 330, 338–341, 343, 358, 368 Kierkegaard, Sören 45, 156, 363–368, 371–372, 378, 382 Kojève, Alexandre 30, 273 Korsgaard, Christine 11, 19–20, 52, 55, 59, 62, 143, 170, 202, 221, 306– 307 Kuhn, Thomas 94, 367 Lacan, Jacques 16, 28–32, 45, 53, 58– 59, 63, 94, 104, 106, 108–110, 117, 146, 198, 211, 236, 239, 243, 247– 283 Laclau, Ernesto 17, 29, 40, 160, 246, 360 Lear, Jonathan 29, 59, 89, 257, 354 Longuenesse, Béatrice 29, 89, 258, 277 Luhmann, Niklas 40, 107, 111 Mead, George Herbert 211 Makkreel, Rudolf A. 72, 92 Malabou, Catherine 213, 241 Marx, Karl 37–38, 267, 270, 367, 369–370, 379–380 McDowell, John 19–21, 60–62, 96– 97, 100, 106, 111, 113, 120, 128, 156, 163–164, 251, 337 Menke, Christoph 24–25, 36, 38, 46, 156, 186–187, 193, 197 Moyar, Dean 222–224 Nagel, Thomas 145, 149 Nussbaum, Martha 141, 197 Parks, Rosa 21, 115–119, 145–155, 209, 297, 310, 359–360, 376, 378 Pfaller, Robert 110, 151, 244 Pieper, Annemarie 57, 128–129, 131, 133 Pinkard, Terry 36–37, 116, 156, 170, 233 Pippin, Robert B. 20, 24, 36–37, 39,

45–46, 111, 116, 156, 164, 200, 202–203, 217–218, 276 Pistorius, Hermann Andreas 19, 53, 56, 78–79, 142 Plessner, Helmuth 211–212 Putnam, Hilary 199, 268 Rousseau, Jean-Jacques 18, 34, 51, 84, 105, 124, 171–172, 234, 285 Russell, Bertrand 295, 311–313, 315– 316, 318–319, 327, 329, 356 Sans, Georg 223 Santner, Eric 29, 295, 338, 350 Scholem, Gershom 267, 295, 308, 361 Siep, Ludwig 26, 157–161, 164, 177, 220, 222 Sokrates 22, 24, 27, 42, 46, 94, 118, 159, 164–166, 182, 184, 189–190, 198, 211–221, 226–227, 229–232, 234–235, 245, 292, 339, 368 Taylor, Charles 24, 156, 159, 201, 220 Tugendhat, Ernst 13, 19, 24–26, 56, 78–80, 220 Willaschek, Marcus 69, 132, 146 Williams, Bernard 13, 18, 56, 82–83, 196–197 Wittgenstein, Ludwig 25, 31, 35, 37, 45, 60–61, 85, 89, 91, 93, 109, 149, 202, 225, 268, 278, 286–287, 299, 315, 321, 325–326, 328–329, 336, 353, 366–368, 374–376 Wood, Allen 20, 53, 65, 133, 141, 170, 220 Žižek, Slavoj 16–17, 27, 29, 37–38, 40, 104, 107, 110, 153–154, 160, 174, 201, 208, 250, 252, 262, 266, 270, 275, 279–283, 285, 292–295, 298, 300, 308, 310, 338–339, 344, 350, 358, 360, 362–365, 367–373, 378–382 Zupančič, Alenka 16, 20, 70, 79–88, 96, 112–113, 125, 341–342

408 https://doi.org/10.5771/9783495807903 .