Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über eine Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel 9783787328499, 9783787310463

Dieses Buch bietet eine kritische, systematische Auseinandersetzung mit den Begriffen der Autonomie des Willens bei Kant

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German Pages 248 [266] Year 1996

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Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über eine Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel
 9783787328499, 9783787310463

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ANDREAS DORSCHEL Die idealistische Kritik des Willens

SCHRIFTEN ZUR TR ANSZENDENTALPHILOSOPHIE Band 10

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

ANDREAS DORSCHEL

Die idealistische Kritik des Willens Versuch über die Theorie der praktischen Subjektivität bei Kant und Hegel

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1046-3 ISBN eBook: 978-3-7873-2849-9 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1992. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALTSVERZEICHNIS

VII IX

Vorbemerkung . . . . Analytische Inhaltsübersicht

1

Kapitell. Kapitel II. Kapitel III. Kapitel IV. Kapitel V.

Das Prinzip der Autonomie(§§ 1 - 2) . Das Paradox der Autonomie (§§ 3 - 6) Kants Lösungsversuch(§§ 7 - 11) . . . . . . Kritik des Kautischen Lösungsversuchs(§§ 12 - 15) Ding an sich und Erscheinung (§§ 16- 19)

8 15 22 31

Kapitel VI.

Transzendentale Korrelation und moralischer Antagonismus(§§ 20- 23) . Die Moral des Willens ohne Metaphysik (§§ 24 - 28) .

39 47

Das Programm einer Aporetik des empirischen Willens(§§ 29 - 31) .

54

Kapitel VII. Kapitel VIII.

.

Kapitel IX.

Form und Materie des Willens (§§ 32- 39)

Kapitel X. Kapitel XI. Kapitel XII.

Die psychologischen Voraussetzungen der Moralphilosophie Kants (§§ 40- 42) . Die Theorie des stärksten Motivs (§§ 43 - 46) Huridans Esel(§§ 47- 5 1 ) . . . . . .

Kapitel XIII.

Noch einmal : Die Theorie des stärksten Motivs(§§ 52- 54) .

77 86 92 99

Kapitel XIV.

Kant und der Determinismus der Subjektivität (§§ 55 - 59) . Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen (§§ 60 - 7 1 )

103 114

Kapitel XV.

Kapitel XVI. Inhalt und Freiheit des Willens bei Hege! (§§ 72 Kapitel XVII. Dialektik des Ausschließens (§§ 77 - 82) . . . Kapitel XVIII. Hegels Kritik des wählenden Willens(§§ 83 - 88) Kapitel XIX. Das Argument aus dem Zwang (§§ 89- 99) . . Kapitel XX. Freiheit und "Auch anders können" (§§ 100 - 105) Kapitel XXI. Freiheit und Notwendigkeit (§§ 1 06 - 1 12) . Kapitel XXII. "Die Härte des logischen Muß" (§§ 113 - 1 1 6) Kapitel XXIII. Freiheit und Rational ität (§§ 1 17 - 120) Bibliographie Sachregister

60

.

76) . . .

.

.

.

134 143 154 168 191 20 1 220 229 237 245

VOR BEMERKUNG

Die idealistische Kritik des Willens: dieser Titel bezeichnet das von Kant und Hege! in verschiedener Weise ausgearbeitete Programm, den besonderen Inhalt, auf den es dem wählenden Willen ankommt, als Verstoß gegen das Prinzip des Willens, die Freiheit, zu erweisen. Es findet im Willen selber den einzigen Inhalt, der nicht gegen dies Prinzip verstoßen kann, weil er mit ihm zusammenfällt. Während jedoch Kant unterstellt, wenn das Subjekt den empirischen Inhalt aus der Willensbestimmung ausschließe, so könne ihm von dessen Seite her jedenfalls nichts mehr passieren, und also sei das Subjekt frei, erkennt Hege!, daß gerade das Ausgeschlossene vom Sub­ jekt nicht durchschaut und beherrscht wird. Die von Hege! vorgeführte Dialektik des Ausschließens besteht darin, d aß es als eine Befreiung veranstaltet wird, und sich als ein Sich-abhängig-Machen erweist. In einer eigentümlichen Wendung verknüpft He­ gel aber mit diesem Gedanken den Anspruch, er treffe nicht bloß ein moralisches Subjekt, wie Kant es denkt, sondern ebensosehr den wählenden Willen, dem es ge­ rade um seine Inhalte zu tun ist. Doch der Komplex von Argumenten, der diesen An­ spruch einlösen soll, ist nicht beweiskräftig. Wird die Dialektik des Ausschließens dahin gewendet, daß der Wille schlechtweg durch alles nicht Gewählte (Revers der Besonderheit des gewählten Inhalts) eingeschränkt und insofern von ihm abhängig erscheint - darauf nämlich hat Hege! es abgesehen -, so läuft sie nicht minder auf eine Desavouierung der unumgänglichen Intentionalität des praktischen Bewußt­ seins hinaus als jenes Kantische Ausschließen allen Inhalts, an dem sie sich kritisch entzündete. Das Interesse der vorliegenden Untersuchung des Programms der idealistischen Kritik des Willens ist in erster Linie ein systematisches, lediglich in zweiter Linie ein historisches. Die Autoren, die behandelt werden, kommen in ihr, von wenigen un­ vermeidlichen Erläuterungen abgesehen, nur als Vertreter ihrer Argumente vor. Be­ stimmend war hierfür der nicht unumstrittene Gedanke, sofern das Studium früherer Philosophen einen anderen Zweck habe, als "die übrige Kollektion von Mumien und · den allgemeinen Hauffen der Zufälligkeiten zu vergrößern" , müsse es im Nachvoll­ zug von deren Argumenten bestehen. Insofern die Reihenfolge, in welcher diese hi­ storisch aufgetreten sind, nicht notwendig derjenigen entspricht, in welcher sie in ei­ nem rationalen Austausch von Argumenten ständen, war von der ersteren abzuwei­ chen. Um welche Argumente es sich dem Inhalt nach handelt, ist der folgenden ana­ lytischen Inhaltsübersicht ungefähr zu entnehmen. Ihre Ausführlichkeit begründet sich aus der Darstellung des Gedankengangs in einer durchlaufenden Argumentation (gegliedert in 120 Paragraphen). Deren Verzahnung wiederum läßt eine Art der Lektüre angebracht erscheinen, die wissenschaftlichen Untersuchungen für gewöhn­ lich nicht zuteil wird: eine solche nämlich, die vorne anfängt, und hinten aufhört. Bezugnahmen auf die Literatur in den Fußnoten des Textes sind verkürzt; die vollen Titel finden sich in der Bibliographie am Ende der Untersuchung.

Hege!: Differenzschrift S. 9. - Vgl. Theodor Ebert: Zweck und Mittel. S. 39.

ANALYTISCHE INHALTSÜBERSICHT

1 . Ursprung der Moral der Autonomie: aufklärerische Kritik der Theologie. Frontstellung gegen Moral der Autorität. Die Aporie der letzteren. 2. Kants Programm, die Moral auf den freien Willen zu gründen, als Antwort auf den Mangel der traditionellen Lehre von der Iex naturalis. Enthaltensein des Autonomieprinzips im naturrechtliehen Schulbegriff der Moralität bloßer Schein. 3. Der "mißliche Standpunkt" der Kantischen Moralphilosophie. Das Paradox der Autonomie, freie Einsicht und Zwang zu sein. 4. Das Paradox der Autonomie, erst gesetzt zu werden und vorausgesetzt zu sein. Dilemma im Begriff der Selbstbeschränkung. 5. Hobbes' Lehre vom Souverän verweist auf die Schwierigkeit im Gedanken der Selbstbindung: man versteht nicht, wie das, was dem Bindenden erreichbar ist, dem Gebundenen entzogen sein könnte. Bestehen dieser Möglichkeit für die gegenständliche Bedeutung von Selbstbindung; ihr Entfallen für die übertra­ gene (moralphilosophische) Bedeutung. 6. Kritik der vorigen Argumentation durch Unterscheidung zwischen höherer Würde und größerer Macht. Mängel dieser Kritik. 7. Kants Versuch, die Widersprüche im Autonomiebegriff auszuräumen. Die Idee einer inneren Gewaltenteilung. 8. Darstellung von Kants Theorie der Selbstbezichtigung als Prolegomenon zu ei­ ner Analyse seiner Theorie der Selbstgesetzgebung. 9. Die Zweiweltenlehre als Versuch der Auflösung der Widersprüche im Autono­ miebegriff. 10. Zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Philosophie bei Kant. 1 1 . Abwehr gegen Kant gerichteter Schlußfolgerungen aus der Beschaffenheit die­ ses Verhältnisses. 12. Kritik der von Kant versuchten Lösung des Paradox der Autonomie. Wider­ sprüchliche Bestimmung des Willens bei Kant. Inkommensurabilität von Endli­ chem und Unendlichem vereitelt Maßstabfunktion des letzteren. Scheitern der Verteilung von Geben und Empfangen des Gesetzes auf homo noumenon und homo phaenomenon an der Unzugänglichkeit des Sinnenwesens für anderes als kausale Affektion. 13. Scheitern der Charakterisierung des homo noumenon als Gesetzesempfänger. Scheitern des Versuchs einer Kombination der beiden gescheiterten Lösungs­ versuche. 14. Zur Lehre vom "bösen Willen". 15. Verdeutlichung des Widerspruchs anband der Kantischen Theorie des Straf­ rechts. Kants Lösungen sind in dem Maße paradox, in dem in ihnen Einheit ge-

X

Analytische Inhaltsübersicht

dacht wird, und in dem Maße untauglich, Handlungsgründe bereitzustellen, in dem in ihnen eine Zweiheit gedacht wird. 16. Das Argument aus dem Kapitel "Von der Deduktion der Grundsätze der rei­ nen praktischen Vernunft". 17. Ausgangspunkt des Arguments: theoretische Unerkennbarkeit des Dinges an sich. Kritik dieser Lehre. 18. Untauglichkeit der Unterscheidung von Denken und Erkennen zur Rettung der Lehre vom Ding an sich. 19. Widerspruch der metaphysischen Letztbegründung der Moral als Grundgesetz einer "natura archetypa". 20. Abwiegelnde Interpretation der Kantischen Lehre: Konkurrenz zwischen moralischer Vernunft und sinnlichen Neigungen. Scheitern der Denkbarkeit ei­ nes solchen Verhältnisses an der Relation von An sich zu Erscheinung. 2 1 . Kritik eines Rettungsversuchs der Kantischen Lehre. Unvereinbarkeit der moralischen Intention: Autonomie statt Heteronomie, mit der Konsequenz der Zweiweltenlehre, daß alles immer autonom ist, und immer heteronom er­ scheint. 22. Zweifache Bedeutung von Ding an sich: unbekannter Vorstellungserreger und Inbegriff moralischer Subjektivität. 23. Abwehr apologetischer Bedenken. 24. Reformulierung des Kantischen Autonomieprinzips anhand des Kriteriums der Einwilligung. Aufweis des Paradox der Autonomie hieran. Versuch einer Ant­ wort durch nichtmetaphysische Umbildung der Kants Autonomieprinzip zu­ grundeliegenden Unterscheidung: vernünftiger vs. empirischer Wille. 25. Versuch einer Lösung mithilfe des Begriffspaars faktische vs. vernünftige Ein­ stimmung dilemmatisch : jene führt auf Fälle, die ausgeschlossen werden sollen, der Verweis auf diese gibt die Frage zurück. 26. Entstehen der selben Schwierigkeit für das Kriterium der Überzeugung. 27. Verdeutlichung der Schwierigkeit an Kants Grundlegung des Staatsrechts. 28. Verdeutlichung der Schwierigkeit an einem Problem der theoretischen Philoso­ phie. 29. Wechsel der Argumentationsstrategie vom Versuch der Auflösung des Paradox der Autonomie zur Aporetik des empirischen Willens, unter Bewahrung der nichtmetaphysischen Unterscheidung vernünftiger vs. empirischer Wille. 30. Zwei Beweisziele des Kantischen Unternehmens einer Aporetik des empiri­ schen Willens. 31. Bedeutung dieses Unternehmens für die Vermeidung einer weiteren Parado­ xie. 32. Kant über Form und Materie des Willens. Beziehung der Alternative von Frei­ heit und Unfreiheit auf das Begriffspaar.

Analytische Inhaltsübersicht

XI

33. Scheinwiderspruch der Rede von "der vernünftigen Natur" als "der Materie ei­ nes jeden guten Willens" gegen die gegebene Deutung. 34. Kritik der Kantischen Disjunktion der Bestimmung des Willens entweder durch seine Inhalte oder durch sich selbst. 35. Kants Unterscheidung von Objekt und Bestimmungsgrund des Willens. Bewäh­ rung der Kritik an Kant. 36. Rekurs auf den doktrinalen Teil der praktischen Philosophie Kants: der kategorische Imperativ verbinde den Pflichtbegriff mit dem eines Zweckes. 37. Tautologischer bzw. fehlschlüssiger Charakter des Arguments. 38. Kants Lehre vom "höchsten Gut" als der Materie eines freien Willens. Vorläu­ fige Kritik. 39. Untauglichkeit der Lehre vom "höchsten Gut", die früheren Einwände aus­ zuräumen. 40. Beziehung des Form-Materie-Arguments zur Zweiweltenlehre. Kants Sub­ sumption des empirischen Willens unter natürliche Kausalität. Determinismus in der Psychologie des 17. und 18. Jahrhunderts (Hobbes, Holbach). 41. Kants Theorie des Gefühls als Grundlage seiner These der Determiniertheit des empirischen Willens. Zirkularität dieser Theorie. 42. Zwei Versionen der Kantischen Theorie des Gefühls: Insuffizienz der einen, die Beweislast zu tragen; Falschheit der anderen. Reduktion von Interesse auf Gefühl fehlerhaft. Kant als Vertreter der Theorie des stärksten Motivs. 43. Exposition der Theorie des stärksten Motivs. Zweideutigkeit ihrer Stellung zur Naturwissenschaft. 44. Schopenhauers Explikation der Theorie des stärksten Motivs. Zusammenbruch der Analogie von "stärkstem Motiv" und "stärkster Kraft". Wahl wäre nicht durch das stärkste Motiv bestimmt, sondern entfiele, weil sich das stärkste Mo­ tiv direkt in der Handlung äußern würde. Unhaltbarkeit des Modells des Kräf­ teparallelogramms: Handlung kein Versuch, auf sämtliche Ziele nach Anteil ihrer "Stärke" gleichzeitig loszugehen. 45. Gegen Epiphänomenalismus. Differenzierungen bei Schopenhauer scheinhaft, durch Reduktion zurückgenommen; in der motivationspsychologischen Ver­ dächtigung zugleich aber unterstellt. 46. Die beanspruchte Stärke der Annahme eines einheitlichen Erklärungstyps, al­ les erklären zu können, ist in Wahrheit die Schwäche, die Unterschiede der zur erklärenden Phänomene nicht erklären zu können. 47. Das Argument des Huridanischen Esels als Aporetik des empirischen Willens. Korrekt, aber als Einwand untauglich: Gleichwertigkeit von Alternativen macht Entscheidungen insignifikant. Kritische Pointe: Richtet sich der Wille nach Qualität seiner Inhalte, folgt irrationales Resultat. 48. Das angebliche Problem auf der Grundlage des wählenden Willens, dem es um seine Inhalte geht, durch Erwägung der Situation faktisch gelöst.

XII

Analytische Inhaltsübersicht

49. Zwei Momente des vorigen Arguments: Gleichwertigkeit von Alternativen kommt tatsächlich vor; der Gedanke, daß das eine so gut ist wie das andere, führt aus ihnen heraus. Leibnizens Behauptung gegen das erste Moment. 50. Triftigkeit der Berufung auf Intelligenz als Moment der Willkür gegen das Ar­ gument des Huridanischen Esels. Notwendigkeit der Ablösung dieses Moments von der vorigen Kritik des Arguments des Huridanischen Esels. Bedeutung der Metapher der Waage. Falscher Analogieschluß in der deterministischen Argu­ mentation. 5 1 . Einwand: Irrelevanz des Moments der Intelligenz für die Kritik des Huridani­ schen Arguments zeigt sich an suspensio iudicii angesichts gleich starker Argu­ mente. Kritik der Irrelevanzthese. Differenzierung zwischen praktischem und theoretischem Raisonnement. Präzisierung der Relevanz des Moments der In­ telligenz für die Kritik des Arguments des Huridanischen Esels: in ihm Intelli­ genz erst zu-, dann abgesprochen. Gleichwertigkeit von Alternativen konstitu­ iert für intelligentes Wesen neue Alternative: einen Inhalt (egal welchen) oder gar keinen. 52. Zweideutigkeit der Rede von "stärkstem Motiv". Erstens: "das am stärksten ge­ fühlte". Zweitens: "Motiv, das sich tatsächlich durchsetzt". 53. Kritik der Theorie des stärksten Motivs in der ersten Interpretation. 54. Kritik der Theorie des stärksten Motivs in der zweiten Interpretation. 55. Differenz des Karrtischen Standpunkts zum kruden psychologischen Determi­ nismus besteht bei geteilten Prämissen. Trennung des Willens von seinen Inhal­ ten, Wille wird rein formales Willensvermögen, Inhalte gegen ihn selbständige Mächte. 56. Technik des Hinterfragens des Willens als Ausgangspunkt. Konzedierte Unbe­ greiflichkeil von Entscheiden und Handeln als Resultat bei Kant. Seine Erklä­ rung dieses Resultats durch Mängel der Vernunft. Zweifel an dieser Erklärung. 57. Alternative Erklärung des Karrtischen Resultats der Unbegreiflichkeil von Ent­ scheiden und Handeln durch seine Prämisse, frei sei der Wille nur, wenn er sich unter Weglassung allen Inhalts aus der Bestimmung betätigt. Die Prämisse ihrerseits abhängig von der Umdeutung der Willensinhalte qua Handlungs­ gründe via Motivationspsychologie in äußere Ursachen. Diese eine Hypostasie­ rung von entia rationis zu selbständigen Wesenheiten. 58. Fehlschlüsse in Kants Theorie des empirischen Willens. Aufklärung der Zwei­ deutigkeit des Ausdrucks "von empirischen Bedingungen unabhängig". 59. In einem bestimmten Sinne müssen Gründe auch Ursachen sein. Erläuterung dieses Sinnes. Keine Stütze der Kantianischen Argumentation. 60. 61.

Implizites Dementi der mechanistischen Deutung des inhaltlich interessierten Willens bei Kant. Zwei Theorien des inhaltlich interessierten Willens bei Kant. Die richtige Zweck nur, was einer sich selbst zum Zweck macht - scheint Beweislast nicht zu tragen. Ihr Enthaltensein in der Lehre von den hypothetischen Imperativen.

Analytische Inhaltsübersicht

XIII

Empirisch interessierter Wille hierdurch als denkender Wille charakterisiert. Zusammenhang der Revision mit der formalistischen Intention auf Ausschluß auch der vernünftig vorgestellten Inhalte. 62. Widerspruch des Unternehmens, einem Willen Denken zu-, Freiheit aber abzusprechen. Die Selbstwiderlegung des Determinismus. 63. Kants Lehre von den hypothetischen Imperativen als versuchter Nachweis der Unfreiheit des inhaltlich interessierten Willens, ohne Reduktion desselben auf ein Naturphänomen. Insofern auf seine Konsequenzen verwiesen, abhängig; moralischer Wille demgegenüber unabhängig. 64. Enthaltensein der Disjunktion der Bestimmung des Willens entweder durch seine Inhalte oder durch sich selbst in diesem Argument. 65. Hoffnungen des moralischen Subjekts verweisen dieses in anderer Weise gleichfalls auf etwas jenseits seiner; Kants Rekurs auf sie jedoch eventuell nur zufällige Inkonsequenz. Neuformulierung der Lehre von der Unabhängigkeit des moralischen Subjekts von den Konsequenzen. 66. Einwand: immanentes Bezogensein alles Praktischen auf Verwirklichung von Zwecken. 67. Das Argument aus der Selbstgenügsamkeit des guten Gewissens. Schwierigkei­ ten des Arguments. 68. Es trägt die Beweislast nicht. 69. Unzulässiger Rekurs auf das Paradox der Autonomie in der vorigen Kritik des Arguments aus der Selbstgenügsamkeit des guten Gewissens. Neuformulierung des Arguments aus der Logik hypothetischer Imperative. Unplausible Aspekte desselben. 70. Rekurs auf Mittel-Zweck-Beziehungen in hypothetischen Imperativen entschei­ dend für Kants Argument. Zweifache Einschätzung von Unmittelbarkeit und Vermittlung in Kants praktischer Philosophie. Weder die Eigenart von Mitteln noch der theoretische Aspekt hypothetischer Imperative Beleg von Unfreiheit. 71. Sich nach Naturgesetzen richten, die man nutzt, mit Freiheit vereinbar. Neues Indiz für Unfreiheit in der Logik hypothetischer Imperative: Restriktion auf Existenz eines funktionalen Zusammenhangs, ohne Rekurs auf Art und Weise desselben. Mängel dieses Arguments. 72. Kants Projekt einer Aporetik des empirischen Willens, als indirekter Beweis der Freiheit erst des moralischen Willens, bei Hege! aufgenommen; weiterge­ hende Intentionen Hegels. 73. Anknüpfung an Kants Autonomieprinzip bei Hege!. Erklärungsbedürftige Hegeische Wendung der Kantischen Entgegensetzung von Inhalt und Freiheit des Willens gegen Kant. 74. Hegels Anspielung auf den vorkritischen Rationalismus. Dessen Theorie des stärksten Motivs. 75. Hegels Wendung gegen Kant weiterhin erklärungsbedürftig. 76. Zurückweisung flacher Erklärungen.

XIV

Analytische Inhaltsübersicht

77. Hegels Argument gegen Kant: Die Dialektik des Ausschließens. 78. Zwei Stellungen des Willens in Hegels früher Darstellung. 79. Erster Aspekt der Dialektik des Ausschließens: Was den Inhalt auf die andere Seite setzt, setzt sich selbst zu einem Einseitigen herab. 80. Zweiter Aspekt der Dialektik des Ausschließens: Ausschließen als Sich abhän­ gig Machen. Kant: Die in die Willensbestimmung eingeschlossenen Inhalte ma­ chen unfrei, - Rettung durch Formalismus; Hege!: Die aus der Willensbestim­ mung ausgeschlossenen Inhalte machen unfrei, - Kritik des Formalismus. 8 1 . Kants Restriktion des Ausschlusses auf die Willensbestimmung entkräftet die Kritik an ihm nicht. Ausschluß der Folgenerwägung aus dem kategorischen Imperativ. Auseinanderdividieren von freiem Wollen und unfreiem Handeln als Rechtfertigung dafür. Undurchführbarkeit desselben. 82. Angewiesenheit interessierten Umgangs mit der Welt auf Folgenerwägung, also auf Intelligenz, kein Argument gegen ihn. 83. Hegels Versuch einer Anwendung der Dialektik des Ausschließens auf den wählenden Willen, dem es um seinen Inhalt geht, unhaltbar; es ist vielmehr dessen Gegensatz. 84. Kritik des vorigen Arguments: Wählen ist Ausschließen, denn wer sich für et­ was entscheidet, entscheidet sich gegen anderes. Fassung des Arguments im Naturrechtsaufsatz. Reductio ad absurdum der der Wahlfreiheit entgegenge­ setzten "absoluten Freiheit". 85. "Völliges Verwerfen" der Wahl im Naturrechtsaufsatz vs. relatives Recht derselben im reifen Werk. Infragestellung dieser Ansicht. 86. Wählender Wille nach Hege! auf der Stufe der Zufälligkeit. Konfusion der Be­ gründung zwischen 'etwas Zufälliges wollen' und 'etwas zufälligerweise wollen'. 87. Hege!: Der Wille, der etwas will, auf es beschränkt (ergo unfrei), insofern er alles andere nicht will. Kritik des Arguments. 88. Das Argument der Qual der Wahl. Einwand: diese nicht dem subjektiven Geist geschuldet. 89. Hege!: Zwang beweist dem Willen, gegen den er möglich ist, Unfreiheit. 90. Einwand: Zwang setzt gerade Freiheit voraus. 91. Replik: Einwand ist zirkulär, sein Wahrheitsmoment Hege! geläufig. Präzisie­ rung des Hegeischen Arguments. 92. Möglichkeit von Zwang in der Intention auf äußere Verwirklichung begründet. Diese kein vermeidbarer Fehler des Willens. 93. Erläuterung des Einwands anband der Hegeischen Kritik des geistigen Tiers. 94. Korrektur eines Mißverständnisses derselben. Analogie ihres Fehlers zum Argument aus dem Zwang. 95. Bestreitung dieser Analogie. Stoizismus als Preis einer gegen Zwang immunen Freiheit. 96. Epiktets Lehre vom gegen Zwang gesicherten Willen.

Analytische Inhaltsübersicht

XV

97. Daß alles auf den Willen ankommt, also nur er gilt, heißt am Ende, daß er gar nicht gilt, sondern die äußere Wirklichkeit total gegen sich gelten lassen muß, wenn das Programm, daß alles auf den Willen ankommt, so verwirklicht wer­ den soll, daß man die Auseinandersetzung mit dem Äußeren - wegen der möglichen Ansatzpunkte von Zwang - vermeidet. 98. Behauptung des relativen Rechts des Stoizismus in der Idee der Selbstbestim­ mung. Einwand: Diese Idee für sich leer, erhält je nach Theorie des Selbst gegensätzlichste Bedeutungen. Teils untauglich zur Kritik des empirischen Willens, teils früheren Einwänden unterliegend. 99. Verdeutlichung des Problems anband seiner Geschichte. 100. Kritik der Freiheit des "Anders handeln Könnens". Gründe für Hegels Zusam­ menstellung von Willkür und Moralität im Bezogensein auf Möglichkeit. 101. Zwei Momente im Freiheitsbegriff des unbefangenen Bewußtseins: eigene Autorschaft und "Auch anders können". 102. Gegensatz derselben. 103. "Auch anders können" in klaren Entscheidungen belanglos. 104. Befangenheit statt Freiheit als Resultat des Offenstehens von Alternativen. 105. Differenzierung des Bewußtseins der Freiheit: vor und nach der Handlung. He­ gels Kritik nur treffend gegen ein leeres Willensvermögen. 106. Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit als Gegenentwurf. Engels' Interpre­ tation derselben. Einwände. 107. "natura non nisi parendo vincitur". Hegel: Betrachtung der eigenen Lage als notwendige "Evolution seiner selbst" ein 'freies Verhältnis' . Kritik daran. 108. Ephemerer Charakter der kritisierten Lehre. Hegels Kritik abstrakter Freiheit. 109. Empirischer und moralischer Wille nach Hegel Formen abstrakter Freiheit. Das Wovon der Abstraktion bestimmt als "das Recht der Objektivität". 1 10. Bestimmung der Freiheit als Tun, wozu man Lust hat, abstrakt. 1 1 1 . Erkenntnis der Realität als immanente Anforderung des Handeins bei Hegel substituiert durch Anerkennung. 1 12. Substanz und Akzidenz in der praktischen Philosophie Kants und Hegels; Zu­ sammenhang mit Einschätzung des Individuellen. Kant unfähig einen Willen zugleich frei und individuell zu denken; er ist individuiert durch das Empiri­ sche, das seine Unfreiheit ausmacht. Hegel: Individuum Akzidenz der sittlichen Substanz. Selbstbewußtsein seiner Freiheit von Hegel als illusorisch denunziert und dennoch hochgehalten. Ableitung der sittlichen Institutionen aus einem Willen, der diesen schon subsumiert ist. 1 13. Haltbarer Sinn der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit nur Erkennen und sachkundiger Umgang mit Gestalten der letzteren. Zur Freiheit der Einbildungskraft. 1 14. Freiheit nur dann Einsicht in die Notwendigkeit, wenn Einsicht ein über Not­ wendigkeit Hinausliegendes induziert. Determinismus der Einsicht nach dem Bericht des Simplikios. Wittgenstein und "Die Härte des logischen Muß". Schei-

XVI

Analytische Inhaltsübersicht

tern der Umdeutung in subjektive Willkür an notwendiger Unterstellung von Bedeutungsidentität 1 15. Regelfolgen ein Deuten; doch Schluß auf Beliebigkeit der Deutung folgt nicht. Erklärung der logischen Notwendigkeit aus zufälliger sozialer Konvention. Scheitern dieser Erklärung. 1 16. Deutung der logischen Notwendigkeit als äußeren Zwangs nicht stichhaltig. 1 17. Logische Notwendigkeit ein Sonderfall der inneren Notwendigkeit von Grün­ den. Damit zusammenhängende Asymmetrie von Wahrheit und Falschheit. Sich etwas glauben machen Wollen, das man für falsch hält, alles andere als selbstverständliche Betätigung der Freiheit des Willens. 1 18. Argumentlose Insistenz auf dem eigenen Willen und seiner Freiheit gegen je­ des Argument. Zweideutigkeit von "Gedanken sind subjektiv". 1 19. Polemische Charakterisierung des Meinens. 1 20. Freiheit als Fähigkeit, sich von Gründen bestimmen zu lassen, in allem Streit u m einen adäquaten Begriff der Freiheit vorausgesetzt.

KAPITELl

Das Prinzip der Autonomie §1 Das bürgerliche Zeitalter, das jetzt zwei Jahrhunderte währt und sich, entgegen allen Erwartungen, die kaum jünger sind als es selber, keineswegs aufzuhören anschickt, hat der Idee, die Moral auf Befehle des christlichen Gottes zu gründen, von dessen Gnaden zu sein die Herren der vorausgehenden feudalen Ära beanspruchten, den Garaus gemacht, - wenngleich nur geschichtsphilosophisch, denn empirisch kommt sie noch vor1. Die Aufklärung, mit der die neue Epoche einsetzte, lancierte die For­ derung, nicht mehr gedankenlos gläubig zu verehren, was die kirchlichen und weltli­ chen Obrigkeiten der Devotion ihrer Untertanen empfohlen hatten, sondern die Subordination unter sittliche Notwendigkeiten autonom, durch Selberdenken zu vollziehen. Weder "im Himmel, noch auf der Erde" durfte dem hiermit begründeten theoretischen Skrupel zufolge fortan das Prinzip der Moralität "an etwas gehängt oder woran gestützt"2 werden: das erste nicht, weil die Moral einem aufgeklärten Verstand einsichtig sein sollte, das zweite aber darum nicht, weil es Moral, eine über das gemeine irdische Treiben, dem sie kritisch gilt, zugleich erhabene Instanz, sein sollte, die er einzusehen hatte. Hieraus ergibt sich die doppelte Stoßrichtung von Kants praktischer Philosophie: sie wendet sich ebensowohl dagegen, daß die Beant­ wortung der Frage, was zu tun sei, auf die Direktive himmlischer Mächte, wie dage­ gen, daß sie auf die Gegenstände, die die Erde dem Gebrauch und Genuß bietet, re­ kurriert. Was die erstere Distanzierung anlangt, so ist sie im Werk Kants bereits 1762, in der "Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral"3, vollzogen, insofern Kant in ihr die moralische Verpflich­ tung vom Willen Gottes, aus dem Crusius sie begründet hatte, ablöste, und als im­ manentes Gesetz des menschlichen Willens deutete. Mit dieser fundamentalen Revi­ sion des Begriffs der moralischen Verpflichtung zog Kant ein Interesse der ungemüt­ lichsten Art auf sich. Die Theologie, die das Programm, Unterordnung ausgerechnet im Namen der Freiheit des Willens zu fordern, aufs schärfste mißbilligte, war näm­ lich zugleich nicht unbedingt darauf angewiesen, sich mit theoretischen Mitteln ge­ gen es zu behaupten. Während einstweilen in der bürgerlich gewordenen Welt theologische Gegnerschaft wider die autonome Moral kaum mehr über die Staats­ gewalt als Mittel ihrer Durchsetzung verfügt, war der nämliche Standpunkt zu Zeiten Friedrich Wilhelms des II. von Preußen Anliegen der politischen Herrschaft und "landesväterliche lntention'14• Jener Dissens wurde darum üblicherweise praktisch, und zwar in Form polizeilicher Maßregelung ausgetragen - was Kant eine Kabinetts­ order des erwähnten Königs eintrug, der "schon seit geraumer Zeit mit großem Miß1 S. beispielshalber Josef Santeler: Die Grundlegung der Menschenwürde bei Immanuel Kant. S. 234: "Gott, die unendliche Vernunft und der unendliche Wille, ist so das allein genügende Fundament für eine absolut notwendige Verpflichtung''. S. 246: "Autonomie des Menschen gibt es nicht". 2 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 60. 3 A 96 - 99. Vgl. Josef Schmucker: Die Ursprünge der Ethik Kants. S. 87. 4

Friedrich Wilhelm der II. von Preußen, zit. n. Kant: Der Streit der Fakultäten A X.

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Kapitel I

fallen ersehen" hatte, "wie Ihr Eure Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der heiligen Schrift und des Christentums miß­ braucht"5. Dergleichen hatte tunliehst zu unterbleiben, "widrigenfalls Ihr Euch, bei fortgesetzter Renitenz, unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt"6. Die Rüge kann in Anbetracht von Kants ausdrücklicher Ablehnung des im Zeitalter der Aufklärung in der Philosophie einigermaßen verbreiteten Atheismus erstaunen, doch erging sie nicht ohne Grund. An dem Wort "Gott" ist bei Kant freilich bis zuletzt festgehalten; doch der so Bezeichnete konvergiert, Kants abschließender Präzisie­ rung im "Opus postumum" zufolge, mit dem "categorische[n] Imperativ im Princip der Pflicht"7: "Gott ist die moralisch/ /practische sich selbst gesetzgebende Ver­ nunft"8. In ihrer konsequentesten Gestalt ist daher der Kautischen Philosophie kein substantialistischer Begriff des höchsten Wesens mehr zu eigen: "Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir"9• Das heißt: "Gott ist nicht ein Wesen außer Mir sondern blos ein Gedanke in Mir"10• Mit dem Begriff Gottes, in welchem die positive Theologie sich negativ auf den Gedan­ ken der Autonomie des Willens bezog, suchte Kant dieser gerade die Ehre zu geben. "Der Satz: es ist ein Gott sagt nichts mehr als: Es ist in der menschlichen sich selbst moralisch bestimmenden Vernunft ein hochstes Princip welches sich bestimmt u. genöthigt sieht nach solchem Princip unnachlaslich zu handeln"11• Weit entfernt, daß die Moral aus dem Glauben an Gott abgeleitet würde, wird vielmehr auch noch die­ ser, mit jener zugleich, vom Willen abhängig gemacht, - sein Inhalt ist dessen Postu­ lat: "Ich will, daß ein Gott [ .. ] sei"12• Eine moralische Theologie, die freilich nun Gott vom Willen dependieren läßt, ist daher nach Kant die einzig mögliche: "So kann sich also der moralische Theist einen ganz präcis bestimmten Begriff von Gott machen, indem er ihn nach der Moralität einrichtet"13• Sein Verfahren ist dieses: "So leitet er aus der Moral die Theologie her"14. Umgekehrt aber ist nach Kant eine theologische Moral "unmöglich"15. Die ihr eigene Norm wäre von der folgenden Art: "Derjenige der das principium der Moralitaet in nichts anders sezt als in die Uebereinstimmung der Handlungen mit dem Göttlichen Willen, der sezt ein theologisches principium aller Moral zum Grunde. Das Theologische principium ist aber ganz unrichtig und falsch"16. Kants Bedenken gegen es lautet, daß auf eine höhere Instanz als Gesetzge­ ber zu rekurrieren schwerlich Sinn macht, sofern deren Anspruch nicht weniger zwei­ felhaft ist als der, den sie stützen soll: "Wenn Gott ein Gesezzgeber ist, so müßen wir erst einsehen, ob er Recht habe, Gesezze zu geben"17• Zwar folgt daraus, daß etwas .

5 Kant veröffentlichte diese Order in der Vorrede zum "Streit der Fakultäten", A IXff. Hier A IX.

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Ebd. A Xf. Opus postum um. Akad. XXI . 152. 8 Ebd. 145. 9 Ebd. 149. 10 Ebd. 145; 153: "mein eigener Gedanke". 1 1 Ebd. 146. 1 2 Kritik der praktischen Vernunft A 258. 1 3 Vorlesungen über die philosophische Religionslehre. S. 34. Vgl. S. 31f. 14 Ebd. S. 34. Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 819 B 847. Der Streit der Fakultäten A XVIII. 1 5 Kritik der Urteilskraft A 476 B 482. 16 Praktische Philosophie Powalski. Akad. XXVII/1. 135. 17 Ebd. 136. Vgl. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 24. 7

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nicht hinreichend begründet, nicht als wahr erwiesen ist, im allgerneinen noch nicht, daß es "unmöglich", "unrichtig", "falsch" ist. Das theologische Moralprinzip aber ist nicht bloß unbegründet, sondern weil unbegründet zugleich "unmöglich", "unrichtig", "falsch", - denn der Anspruch, mit dem es auftritt: der letzte Grund der moralischen Verbindlichkeit zu sein, besteht, des genannten Bedenkens halber, zu Unrecht. (Und wenn Nietzsche Kant später entgegenhielt, sein Programm, einen solchen G rund aufzuweisen, sei ohne Gott undurchführbar18, so steht arn Beginn dieses Programms gerade der folgende Nachweis dessen, daß es mit Gott undurchführbar ist.) Die theologische Moral - der Ausdruck in dem Sinne genommen, in welchem er zuvor gebraucht wurde - ist ein Standpunkt der Autorität. Eine Autorität ist nach jedem solchen Standpunkt ein Wesen, das Verbindlichkeiten auferlegen kann. MoraJen der Autorität gründen ihre Verbindlichkeit auf Befehle. Ein Befehl ist die Vorschrift ei­ nes anderen Willens; ein fremdes Urteil über das, was angeblich Pflicht sei. Der bloße Umstand, daß einer will, der andere möge etwas tun, macht dies etwas für die­ sen anderen nicht verbindlich. Um es als verbindlich erkennen zu können, müßte er einsehen, daß der Befehlende eine Autorität für ihn ist, d.h. daß seine Befehle Ver­ bindlichkeit für ihn haben. Dies wiederum kann er nur feststellen, indem er den er­ teilten Befehl mit dem vergleicht, was für ihn verbindlich ist. Denn es ist nicht zu se­ hen, wie sonst er den, der befiehlt, als Autorität erkennen sollte. Doch dies führt in einen Zirkel: die Moral der Autorität sucht die Verbindlichkeit auf die Befehle einer Autorität zurückzuführen, während einer, um eine Autorität als solche zu erkennen, schon wissen müßte, was für ihn verbindlich ist19• Von hier aus gelangte Kant im Hinblick auf die theologische Moral zu einer radi­ kalen Folgerung: Wenn der verpflichtende Charakter von göttlichen Befehlen aller­ erst davon abhängt, daß das Ich Gottes Autorität anerkennt, so ist die autoritative Instanz der Verpflichtung in Wahrheit das Ich, und nicht, wie behauptet, Gott. Was immer der von den Theologen als dem Willen gegenüber transzendente Macht be­ hauptete Gott dekretiert, gilt nur darum für den Willen, weil er selber es will. Doch wenn ohnehin nur gilt, was das Ich von sich aus will, braucht es sich dies nicht erst von einer übergeordneten Instanz vorschreiben zu lassen. Die unselbständige Autori­ tät Gott, die in dem Maße weniger Autorität ist, in dem sie unselbständig ist, kürzt sich gegenüber der selbständigen, dem Ich, gewissermaßen heraus. Sucht man nun, nachdem der auf das Ich angewiesene Gott sich als entbehrlich erwiesen hat, ihn wiederum als dem Willen gegenüber absolut selbständige, transzendente Macht zu denken, so sind seine Gebote ein dem Ich von außen Gegenübertretendes20, an denen nichts zu erkennen ist, um dessentwillen das Ich sie als etwas für sich Bedeut­ sames betrachten sollte. Wird hierzu bemerkt, dies ändere sich aber, sobald der Wille die Souveränität Gottes akzeptiere, so tritt wiederum die Abhängigkeit vorn Willen, die gerade vermieden werden sollte, ein. Als zusätzliche Instanz zum Willen erwies sich die göttliche Macht aber als überflüssig. Folglich ist die ''Autonomie des Willens" - "d.i. der Freiheit" - "das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und

1 8 Friedrich Nietzsche: Nachlaßfragmente 2 [165] u. 7 [6]. Werke. Bd. 12. S. 148,279. 19 Vgl. Leonard Nelson: System der philosophischen Ethik. S. 57.

"' Anspruch ""eines fremden Willens··, wie Kant formuliert ( Kritik der praktischen Vernunft A 233).

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Kapitel l

der ihm gemäßen Pflichten"21. Das moralische Gesetz "drückt [ . . ] nichts anders aus"22 als diese Autonomie. "Gesetze, die nicht die Vernunft ursprünglich selbst gibt, und deren Befolgung sie als reines praktisches Vermögen auch bewirkt", können darum nach Kant "nicht moralisch sein"23. Und insofern Autonomie, Selbstgesetzgebung, das Prinzip der Moral ist, gilt von dieser: "Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objektiv, was das Wollen, als subjektiv, was das Können betrifft) keineswegs der Re­ ligion, sondern, vermöge der reinen praktischen Vernunft, ist sie sich selbst genug"24• Dies soll besagen: "Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen, als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Ge­ setze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Geset­ zes selbst, um sie zu beobachten"25• (Die Kantische Rede vom "Menschen" ist freilich mißverständlich, insofern Kant, wenn er das Fungieren des moralischen Gesetzes als einziger Triebfeder zur Bedingung autonomen Handeins erkläre6, Frauen - denn: "Weibliche Tugend [ ] ist von der männlichen, [ .. ] der Triebfeder nach, sehr unter­ schieden"27 - die Fähigkeit zu autonomem Handeln abspricht. Doch dies ist ein Kapi­ tel für sich28.) .

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§2 Indem Kant von seiner "Tugendlehre" behauptet, sie bestehe "durch sich selbst (selbst ohne den Begriff von Gott)"29, macht er programmatisch den Anspruch gel­ tend, die Moral auf den freien Willen zu gründen, als dessen immanentes Gesetz er jene deutet. Die verwendete Formulierung: "die Moral auf den freien Willen grün­ den", ist gewiß reichlich unbestimmt, und in höchstem Maße auslegungsfähig. Kant meinte, sie müsse "(völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens"30 verbunden sein. Werde Freiheit des Willens vorausgesetzt, so folge die Moralität samt ihrem Prinzip, der Autonomie, analytisch: "Unter Voraussetzung der Freiheit des Willens einer Intelligenz aber ist die Autonomie desselben, als die formale Bedingung, unter der er allein bestimmt werden kann, eine notwendige Folge'm. "Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip daraus, 21 Ebd. A 58f.

22 Ebd. A 59. Kritik der Urteilskraft A 476 B 482. 24 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB Illf. Andererseits war Kant so kon­ ziliant, von der verworfenen theologischen eine akzeptable religiöse Moral zu unterscheiden: "Diesem ungeachtet ist das christliche Prinzip der Moral selbst doch nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondern Autonomie der reinen praktischen Vernunft für sich selbst, weil sie die Erkenntnis Gottes und seines Willens nicht zum Grunde dieser Gesetze" - der moralischen - "macht" (Kritik der praktischen Vernunft A 232). 25 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB III. 26 Kritik der praktischen Vernunft A 127, 133. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 167f. v Anthropologie A 292 B 290. 28 Vgl. Elisabeth Conradi: Die Kehrseite der Medaille. S. 92. :s Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft A 267 B 283. "' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 62. 3 1 Ebd. AB 124. Vgl. ebd. AB 109, Kritik der praktischen Vernunft A 56. 23

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durch bloße Zergliederung ihres Begriffs"32• Insofern Kant sich freilich die Argu­ mente des zu seiner Zeit gängigen Determinismus zu nicht unerheblichen Teilen zu eigen gemacht hatte, glaubte er, nicht von jener Voraussetzung ausgehen zu können. Und so sehr es ferner zutrifft, daß Kant aus weiteren Gründen zu dem Schluß kam, die Moral sei einer Begründung weder fähig noch bedürftig33, so wenig ist darum die Aussage falsch, er habe die Moral im freien Willen fundieren wollen, sofern dies nur in dem Sinne verstanden wird, er habe sie als dessen immanentes Gesetz gedeutet. Sie ist nach Kant, knapp formuliert, Inbegriff "wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für sich selbst"34• Diesen in der angegebenen Weise zur Theologie der Moral (freilich nicht nur zu ihr, wovon noch zu handeln sein wird) in Konkurrenz tretenden, und hierin an die frühere Aufklärung anschließenden35, Gedanken der Autonomie hat der junge Hege! im Geiste Kants pointiert ausgesprochen: "was der Mensch sein Ich nennen kan [ ... ], ist fähig sich selbst [zu] richten - es kündigt sich als Vernunft an, deren Gesezgebung von nichts mehr sonst abhängig ist - der keine andere Autorität auf Erden oder im Himmel einen andern Maasstab des Richtens an die Hand geben kan"36• Dies hiermit sehr konzis gefaßte Programm, das Ich als Quelle der Moral zu be­ greifen, verstand sich selbst als Bereinigung einer bis dahin im moralischen Denken stets unaufgelösten Schwierigkeit. Kant betrachtete es als ein Paradoxon, daß wir "uns als frei im Handeln betrachten, und uns dennoch für gewissen Gesetzen unter­ worfen halten sollen'm. Es werde zum manifesten Widerspruch, wenn diese Gesetze äußerliche Zumutungen seien, die das Subjekt doch zugleich als für sich selber von Belang ansehen solle. Der moralische Standpunkt habe daher der folgenden Anfor­ derung zu genügen: "Die Freiheit muß, wenn sie unter Gesetzen seyn soll, sich selbst die Gesetze geben"38• Die beiden Seiten jenes Paradoxons ließen sich nur unter der einzigen Bedingung vereinbaren, daß der Wille "nicht lediglich dem Gesetze unter­ worfen" sei, "sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen angesehen werden muß"39• "Als Gesetz sind wir ihm unterworfen", so Kant, "als uns von uns selbst auferlegt ist es doch eine Folge unsers Willens"40• Wenn dieses Gesetz in einer Auflösung der besagten Schwierigkeit zu fungieren vermöge, sei freilich präjudiziert, was es überhaupt nur noch verlangen könne. Sich als frei zu betrachten, und sich dennoch für einem Gesetz unterworfen zu halten, dies ist, wie 32

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 98. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 82. S.a. die entsprechende Bemerkung über das "'allgemei­ ne Rechtsgesetz" Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 34. - Margot Fleischer: Das Problem der Be­ gründung des kategorischen Imperativs. - Dieter Henrich: Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant. - Ders.: Die Deduktion des Sittengesetzes. 34 Kritik der praktischen Vernunft A 233. Hervorh. abweichend vom Original. 35 S. z.B. Paul-Henry Thiry d'Holbach: Briefe an Eugenie. S. 443: ''wir sollten die vernünftige Moral an die Stelle der religiösen Moral setzen". Die moralisierende Umdeutung des Gottesbegriffs, wie Kant sie betreibt, ist bei Holbach hingegen nicht intendiert; dieser ist vielmehr zu streichen. 36 Das Leben Jesu. S. 223. Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. S. 912. 37 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 104. 38 Naturrecht Feyerabend. Akad. XXVII/2/2. 1322. 39 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 71f. Vgl. Bruce Aune: Kant's Theory of Morals. S. 84. 40 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 16. 33

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Kant es dem von ihm formulierten Moralprinzip vindiziert, nur dann zugleich mög­ lich, wenn das Gesetz seinerseits nichts anderes fordert als wiederum Freiheit: "Der categorische Imperativ ist nur das Princip der Freyheit'"'1• An der Iex naturalis, von der rationalistischen Schulphilosophie als Moralprinzip propagiert, stand Kant der bemerkte Mangel vor Augen: daß sie als äußerliche Zumutung für den Willen keine Notwendigkeit besitzt. "Sie [die Freiheit] muß sich daher selbst Gesetz seyn. Das ein­ zusehen, scheint schwer zu seyn, und alle Lehrer des Naturrechts haben um den Punkt geirret, den sie aber nie gefunden haben"42• Sie hielten, schreibt Kant, den Menschen für durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, ohne in Betracht zu ziehen, daß er nur seiner eigenen Gesetzgebung unterworfen sei43. Darum erachtete Kant alle früheren Versuche, das Prinzip der Moralität zu eruieren, für gescheitert44, und verband mit dem Gedanken der Autonomie den Anspruch, der Kette dieser Fehl­ schläge ein Ende gesetzt zu haben: Da die alten Moralphilosophen allesamt die "unrechte[n] Wege" beschritten hätten, sei es ihm, Kant, vorbehalten geblieben, "den einzigen wahren zu treffen"45• Einer "weitläuftigen Widerlegung" traditioneller und zeitgenössischer Moralsysteme glaubte Kant in Anbetracht des fundamentalen Cha­ rakters des Defekts, den er ihnen nachsagte, "überhoben sein zu können": des De­ fekts, daß sie "überall nichts als Heteronomie des Willens zum ersten Grunde der Sittlichkeit aufstellen"46• So überzeugt Kant indes war, seine Lösung sei der vor ihm herrschenden Auffas­ sung von Moral entgegen, so leicht könnte der Anschein entstehen, der naturrechtli­ ehe Schulbegriff der Moralität enthalte längst das als autonome Moral gefeierte An­ tidot: "Homo ratione valens & utens sibimetipsi Iex est"47; etwas umständlicher auf Deutsch: "so brauchet ein vernünfftiger Mensch kein weiteres Gesetze, sondern ver­ mittelst seiner Vernunfft ist er ihm selbst ein Gesetze"48• Doch der Schein, dies kon­ vergiere mit Kants Prinzip der autonomen Moral, trügt. Die Formel der Schule stützt sich auf das seit der Antike geläufige Zwei-Klassen-Schema des Naturrechts, wonach der Freie aufgrund seiner Einsicht in die Natur und das Wesen der Dinge sich selbst das Gesetz gibt, während der Unfreie, der dieser Einsicht ledig ist, eines ihn von aus­ sen zwingenden Gesetzes bedarf. Und dieses Schema beseitigt nicht, sondern enthält gerade den von Kant diagnostizierten Mangel, daß die beanspruchte Verbindlichkeit 41 Opus postumum. Akad. XXI. 36. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 98. Kritik der praktischen Vernunft A 1 17. 42 Naturrecht Feyerabend. Akad. XXVII/2/2. 1322. 43 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 73. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 22. 44 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 73: "'Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bisherige Bemühungen, die jemals unternommen worden, um das Prinzip der Sittlichkeit ausfindig zu machen, zurücksehen, warum sie insgesamt haben fehlschlagen müssen". 45 Ebd. AB 89. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 71. 46 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 93. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 61 - 71. Naturrecht Feyerabend. Akad. XXVII/2/2. 1322. 47 Christian Wolff: Philosophia Practica Universalis. Pars Prior.§ 268. S. 212. 48 Ders.: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen. § 24. S. 18f. Vielleicht noch deutlicher scheint Kants Gedanke vorgebildet in der Stoa: Die Freiheit, sagt Epiktet, ist "etwas, das die Gewalt über sich selbst hat [AUtej oQ:tion] und sich selbst Gesetz ist [AUt@nOJLOn]" (Diatriben I. IV, c. 1, § 56), d.h. der Wille (DroAire:tiw) ist nur sich selbst unterworfen (Diatriben I. II, c. lO, § 1; I. I, c. 17, § 26; vgl. I. I, c. 29, § 12; I. III, c. 19, § 2). Vgl. § 96.

Das Prinzip der Autonomie

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des Naturgesetzes für den Menschen selbst keine Notwendigkeit hat49• Freilich ist es wahr, daß Kant im Übergang von der Moral zum Recht jenen Gedanken seinem Re­ sultat nach konserviert. Doch die autonome Moral selber, hierin der älteren Doktrin schroff entgegengesetzt, schließt die Anwendung äußeren Zwanges strikt aus50• Wäh­ rend im Schulbegriff der Moralität Freiheit und Gesetz auseinanderfallen, sucht Kant sie im Gedanken der Autonomie als Einheit zu fassen.

49 Manfred Riede): Moralität und Recht in der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts. S. 95. 50

Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 9.

KAPITEL II

Das Paradox der Autonomie §3 Freilich erreichte die Philosophie in Kants Lehre von der Moral auch bereits ein Bewußtsein davon, daß, was sich dergestalt als Lösung einer alten Paradoxie emp­ fiehlt, dem Verdacht ausgesetzt ist, teils diese nicht wirklich abgestreift zu haben, teils auch neue aus sich zu erzeugen. Unmißverständlich ist in ihr ausgesprochen, daß dem Unternehmen, dem Menschen einsichtig machen zu wollen, er tue gut daran, seine Interessen höheren Gesichtspunkten unterzuordnen1 und "sich durch sein Verhalten in dieser Welt, mit Verzichttuung auf viele Vorteile, zum Bürger ei­ ner besseren, die er in der Idee hat, tauglich zu machen"2, ein prekärer Status eignet: "Hier sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen mißlichen Standpunkt ge­ stellet"3. (Das von Kant gebrauchte Wort "mißlich" bedeutete im 18. Jahrhundert nicht, wie in etwa im gegenwärtigen Sprachgebrauch, "ungut", sondern, gemäß seiner Herkunft, dem "Missen", d.i. dem Mißlingen ausgesetzt, eben: prekär4.) Das Prekäre des Unternehmens ist unschwer erkennbar. Weil die Moral, die dem freien Willen zugemutet wurde, auf oder an nichts jenseits seiner im Himmel oder auf Erden ge­ hängt oder gestützt werden konnte, war die These zu begründen, daß Selbstbestim­ mung, die Betätigung des freien Willens, als solche Unterwerfung unter das morali­ sche Gesetz sei: Das "moralische Gesetz gründet sich auf der Autonomie seines [sc. des Menschen] Willens, als eines freien Willens, der nach seinen allgemeinen Geset­ zen notwendig zu demjenigen zugleich muß einstimmen können, welchem er sich un­ terwerfen soll"5• Dieser Gedanke "einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden" - wobei das Gesetz, das diese Un­ terwerfung zu Recht verlangen könne, "kein anderes, als das moralische"6 sei -, hat zwei Seiten, deren Stellung zueinander begreiflich zu machen das Geschäft darstellt, in welchem man die Philosophie in der Tat "auf einen mißlichen Standpunkt gestel­ let"7 sieht. Einerseits sei Freiheit als Gehorsam gegenüber Zwang, mithin als " Unter­ werfung"8 zu denken. Wir Menschen, schreibt Kant, stehen unter einer "Disziplin der Vernunft" und dürfen "der Unterwürfigkeit unter derselben nicht vergessen"9• "Jemehr der Mensch unterwürfig ist, desto freyer ist er"10• Andererseits müsse dies 1

Kritik der reinen Vernunft A 800f. B 828f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 71. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 18. Vgl. Refl. 6924. Akad. XIX. 208. Praktische Philosophie Powalski. Akad. XXVII/1. 99. 2 Kritik der reinen Vernunft B 426. 3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 60. 4 Rüdiger Bittner: Das Unternehmen einer Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. S. 26. 5 Kritik der praktischen Vernunft A 237. Vgl. Zum ewigen Frieden B 21f. 6 Kritik der praktischen Vernunft A 142f. 7 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 60. 8 Kritik der praktischen Vernunft A 143. 9 Ebd. A 147. 10 Praktische Philosophie Powalski. Akad. XXVII/1. 132. =

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Verhältnis als eines freier Einsicht gedacht werden. "Nur sofern sie" - die Sittenge­ setze - "eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze"11 • Der Zwang als ein vom Subjekt gegen sich selbst geübter beweise Freiheit. "Selbstzwang aber und die Un­ vermeidlichkeit desselben gibt doch die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit selbst zu erkennen"12• Freilich meint Kant damit nicht, daß eine Freiheit, die schon jenseits des und unabhängig von dem moralischen Zwang bestünde, bei dessen Ausübung nachträglich erkannt würde; vielmehr behauptet er im Begriff der Autonomie die Einheit von Freiheit und Unterwerfung unter das Sittengesetz13• Kant radikalisiert damit den Gedanken Rousseaus, daß der Mensch sich selbst auf das von ihm Ge­ wollte verpflichten muß, um sich dann befehlen zu können, das zu tun, was er will, woraufhin er "nur sich selbst gehorcht, und so frei bleibt wie zuvor"14• Nicht, wäre im Sinne Kants zu bemerken, bleibt einer, der den moralischen Zwang gegen sich kehrt, "so frei wie zuvor", denn bevor er dies tut, ist er nicht frei; er wird frei, wenn, weil und indem er den moralischen Zwang gegen sich kehrt; nicht bleibt die Freiheit durch den Gehorsam unbeeinträchtigt, wie die Rousseau-Stelle, isoliert betrachtet (denn eine Rousseau-Interpretation war nicht beabsichtigt15), nahelegt, vielmehr ist sie, wie zuvor formuliert wurde, als Gehorsam, mithin als "Unterweifung" 1 6 zu denken, welches Verhältnis zugleich eines freier Einsicht sein soll. Doch hiergegen scheint der Einwand auf der Hand zu liegen: Wenn Autonomie in der letzteren, entschei­ denden, an die Konstituentien des Begriffs Zwang rührenden Hinsicht von allem sonstigen Zwang differiert: warum wird sie dann wie dieser ein Zwang genannt? So sieht es Nietzsche (der freilich am Autonomiebegriff festhält, doch die Moralität aus ihm zu eliminieren sucht): "Den Gehorsam gegen den eigenen Willen nennt man nicht Zwang"17• Indes könnte man weiter gehen und sagen: was einer von sich aus tut, nennt man auch nicht Gehorsam. Mindestens aber ist, wenn jemand etwas frei, von sich aus annimmt, Zwang überflüssig. Umgekehrt: Wo immer Zwang ins Spiel kommt, ist etwas gegen jemanden gerichtet: was aber gegen ihn gerichtet ist, das würde er nicht von sich aus, und in diesem Sinne frei annehmen. Kurz: Entweder ist Moralität das Resultat freier Einsicht, "zwangsfreie praktische Vernunft"18, dann erübrigt sich die Unterwerfung, oder sie ist Resultat von Unterwerfung, dann erüb­ rigt sich die freie Einsicht.

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Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 8. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 3. Vgl. A 9. Praktische Philosophie Powalski. Akad. XXVII/1. 131f. 13 Hans Blumenberg: Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott". S. 557. 14 Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat social. Livre I. Chapitre 6: "n'obeisse pourtant qu'a lui-meme, et reste aussi libre qu'auparavant" (S. 360). 1 5 Bekanntlich antizipiert Rousseau die Kantische Identifikation im 8. Kapitel desselben Buches: "l'obeissance a Ia loi qu'on s'est prescritte est liberte" (S. 365). 1 6 Kritik der praktischen Vernunft A 143. Diese Identität besteht im strengsten Sinne nur in der Sphäre der Moralität. Vgl. Kants sinngemäße Aufnahme der Formel des 6. Kapitels des "Contrat social" in der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten A 168f. B 199 (bes. den dort gebrauchten Ausdruck "unvermindert") . 17 Friedrich Nietzsche: Nachlaßfragment 1 (44) . Werke. Bd. 12. S. 20. 1 8 Zum ewigen Frieden A 58 B 59. 12

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§4 Überdies erschöpft sich die prekäre Konstellation, die der autonomen Moral schein­ bar oder wirklich zugrundeliegt, nicht darin, als einerseits eine solche des Zwangs, andererseits eine solche freier Einsicht einander ausschließende Bestimmungen zu enthalten. Dies geht aus folgender Reformulierung hervor: Wie das Subjekt sich be­ tätigt, sei, so sagt der Gedanke der Autonomie, bestimmt durch ein Gesetz, das es "sich selbst gibt"19• Aber wenn es sich ein solches gibt, dann betätigt es sich bereits, und zwar ohne das Gesetz, denn dieses wird erst durch den Akt der Gesetzgebung gesetzt (wobei das Argument nicht supponiert, es handele sich um ein zeitliches, statt eines logischen Prius). Wird das Gesetz hingegen von anderswo vorausgesetzt, so kann das Subjekt sich zwar schon nach ihm betätigen, aber dann ist das Gesetz nicht von ihm gesetzt, und der Gedanke der Autonomie ist hinfällig. Autonomie ist "die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein"20• In Gestalt dieses Gesetzes tritt der Wille sich selbst beschränkend gegenüber. Als Idee der Selbstverpflichtung qua Selbstbeschränkung ließe sich Autonomie in dem Bild resümieren, jemand baue sich einen Zaun und verbiete sich darüberzusteigen. So­ gleich scheint ein den vorigen analoger Einwand zuzutreffen. Denn entweder jemand hat gar kein Interesse daran, innerhalb eines Bereiches zu bleiben: warum sollte er sich dann ein solches Verbot erlassen? Oder aber er hat ohnedies das positive Inter­ esse, sich nur in diesem Bereich zu betätigen; dann wäre, wie bereits Hobbes befand, ein selbstadressiertes Verbot, über ihn hinauszugehen, gegenstandslos. Im Bild ge­ sprochen: es ist nicht zu sehen, wozu der Zaun gut sein sollte, wenn man das fragli­ che Gebiet gar nicht verlassen will - er wäre ja (vom Vertreter der Idee der Autono­ mie, wenn er sich des Bildes vom Zaun bediente) nicht lediglich als Gedächtnisstütze gemeint.

§5 Der Hinweis auf Hobbes, der en passant fiel, ist aufschlußreich. Hobbes' Lehre prä­ figuriert zwar einerseits auf dem Felde der politischen Philosophie das Programm der autonomen Moral, insofern er, nach Hegels Worten, "die Natur der Staatsgewalt auf Prinzipien zurückzuführen versucht[ e ], die in uns selbst liegen, die wir als unsere eigenen anerkennen"21• Die Vertreter der modernen Idee des Gesellschaftsvertrages wurden mit dieser theoretischen Rückführung zu Kritikern ihrer Obrigkeiten: den Fürsten, die das gar nicht hören wollten, erklärten sie, inwiefern vor der Vernunft die Legitimation ihrer Gewalt als Ingrediens einer gottgewollten, natürlichen Ordnung keinen Bestand habe. Diese umstandslos-einfältige Form der Affirmation des absolutistischen Staatswesens störte Autoren wie Hobbes und Locke um 19 Metaphysik der Sillen Tugendlehre A 101. "Autonomie" bedeutet "eigene Gesetzgebung des Wil­ lens"' (Grundlegung zur Metaphysik der Sillen AB 104f.). >Jl Grundlegung zur Metaphysik der Sillen AB 98. 2 1 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. S. 226. Zu dieser Stelle vgl. Manfred Riede!: Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie. S. 112.

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dessentwillen, daß sie die Notwendigkeit von Herrschaft vielmehr einsehen wollten; sie wurden darüber zu Verfechtern der Prinzipien des bürgerlichen Staates, noch ehe es ihn gab. Der dabei in Anschlag gebrachte Gedanke, daß es auf den Willen ankommt, statt auf göttliche Autorität, fällt aber nicht ohne weiteres zusammen mit dem der Selbstverpflichtung. Diesen letzteren findet man bei Hobbes, in seiner Lehre vom Souverän, zwar erwogen, dann aber gerade als logisches Unding verworfen: "Da er [der Souverän] die Macht hat, Gesetze zu erlassen und zu widerrufen, kann er sich von ihrem Zwang befreien, wenn er die ihm lästigen Gesetze verwirft und sie in neue verwandelt, und folglich war er ihnen auch nicht verpflichtet. Freiheit besteht nämlich darin, daß man frei sein kann, sobald man es will"22• Das aber heißt: "wer niemandem als sich selbst verpflichtet ist, ist in Wirklichkeit niemandem verpflichtet - es steht in seiner Macht, eine Bindung einzugehen oder sich ihrer zu entledigen"23• Denn wer ein ideelles Moment selbst geben kann, kann es auch selbst nehmen. Von der politischen Sphäre, der Karrt den Terminus "Autonomie" - Selbstgesetzge­ bung - entlehnte24, abgelöst, ließe sich das Argument so formulieren: Der Überle­ gung zufolge, die in Frage steht, soll die Bindung, von der in ihr die Rede ist, das Werk desjenigen sein, welcher dann der Gebundene ist; kurz gesagt lautet der Ge­ danke, er binde sich selbst. Es ist jedoch einzuwenden, daß, wer sich bindet, sich auch lösen kann, und darum in Wahrheit nicht gebunden ist. Anders formuliert müßte das, was dem Bindenden erreichbar ist, dem Gebundenen entzogen sein, in­ des eben nicht einzusehen ist, wie dies möglich sein sollte. Denn der Bindende und der Gebundene sind nach der Voraussetzung ein und dieselbe Person, und sie sind das, was sie sind, in ein und derselben Hinsicht, in bezug auf den seihen ideellen Ge­ halt: das moralische Gesetz. - Allerdings besteht die Symmetrie des "Wer binden kann, kann auch lösen" nicht stets empirisch, sofern das Bild in seiner gegenständli­ chen Bedeutung genommen wird. Es könnte jemand einen Knoten knüpfen, den er nicht wieder zu lösen vermag. Noch drastischer ließe sich die Pointe darin bebildern, daß jemand sich in einen Käfig einsperrt und den Schlüssel herauswirft25• Doch das Unpassende dieses Bildes liegt darin, daß die Selbstbindung, von der der Vertreter der Moralität redet, sich gerade seiner Theorie zufolge nicht einem äußerlichen Mit­ tel verdankt, das das Subjekt unterwegs verlieren oder fortwerfen könnte. Just der Ethik der Autonomie zufolge entspricht am behaupteten Akt der Selbstbindung nichts dem Schlüssel in jenem Bild, das die Lehre von diesem Akt stützen sollte. Sowohl dieses wie das des Knotens, den man, einmal geschürzt, nicht wieder zu lösen 22 Thomas Hobbes: Leviathan. Part II. Chapter 26. S. 252: ''For having power to make, and repeal laws, he [the Soveraign ) may when he pleaseth, free hirnself from that subjection, by repealing those Lawes that trouble him, and making of new; and consequently he was free before. For he is free, that can be free when he will". 23 Ebd.: "nor is it possible for any person to be bound to himself; because he that can bind, can release; and therefore he that is bound to hirnself only, is not bound". Vgl. Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre. S. 216. 24 - und in bezug auf die er ihn, neben der moralphilosophischen Verwendung, auch selber noch gebrauchte: Zum ewigen Frieden AB 12, Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 172 B 202. 25 Rüdiger Bittner: Moralisches Gebot oder Autonomie. S. 104. Bittners bedeutender Untersuchung verdankt die vorliegende Abhandlung mehr, als durch die gelegentlichen Verweise angezeigt werden kann. =

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vermag, versuchen per Analogie den Gedanken einer Selbstbindung, die sich nicht wieder rückgängig machen ließe, zu begründen; aber der Umstand, auf den die Irre­ versibilität im Fall von Knoten und Schloß zurückgeht: daß nämlich eine Verände­ rung in der äußeren Welt physischer Gegenstände herbeigeführt wurde, so daß es kontingent ist, ob ein Subjekt wiederum eine Veränderung in der gegenteiligen Rich­ tung zustandebringen werde, ist gerade das Moment der Ungleichheit zu der Idee der moralischen Selbstverpflichtung. Nur dem dinglichen Widerstand eines dem Subjekt äußerlichen Zustands, der handgreiflich umgemodelt wurde, verdankt sich die Asymmetrie zwischen Verknoten und Lösen, Schließen und Öffnen in den empi­ rischen Beispielen, während hingegen das Auszeichnende an der moralischen Auto­ nomie präzise so bestimmt ist: Nichts als die allereigensten Leistungen des Subjekts sollen in ihr zum Tragen kommen: Leistungen, derer das Subjekt nicht ledig werden könne, weil sie konstitutiv für es selber seien, - d.h., in der Sprache der Metaphysik geredet: nicht Akzidenzien seiner, wie es irgendwelche äußeren Werkzeuge sind, sondern seine eigenste Substanz. Denn autonom sei einer eben nur, wenn er weder vom Zufall der Funktionsfähigkeit irgendwelcher Instrumente noch vom Zufall et­ waiger dem Verlernen oder Vergessen zugänglicher äußerer Fertigkeiten - denen die konstatierte Asymmetrie zuzuschreiben ist - abhängig sei, sondern das ideelle Pro­ dukt, das moralische Gesetz, im strengen Sinne selber setze. (Und in diesem strengen Sinne ist Kants Behauptung, der Mensch sei "das Subjekt des moralischen Gesetzes" 26, genauer: das "Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung"27, gemeint.) Gewiß enthält jede Analogie Ungleichheit, um eine sol­ che zu sein, wie sie auch Gleichheit enthalten muß, um eine Analogie zu sein. Be­ steht aber die Ungleichheit in dem für das, worauf geschlossen werden soll, entschei­ denden Punkt - wie im vorliegenden Fall -, so trägt der Analogieschluß nicht. Das Paradox der Autonomie ist demzufolge nicht auf der trivialen Ebene, auf der sich der zuletzt erörterte Hinweis bewegte, zu erledigen.

§6 Doch all das scheint irrelevant zu sein. Denn Hobbes, und die an ihn anknüpfenden Überlegungen, kritisieren, wie sich die Angelegenheit zunächst einmal ausnimmt, einen Gedanken, der nicht der Kantische ist. Sie weisen als paradox auf, daß etwas die Macht über etwas haben kann, wenn es dieses selbe etwas, oder etwas an ihm ist, mithin schon ex hypothesi nicht stärker sein kann. Kant - so besagt das Bedenken ge­ gen die vorigen Ausführungen - gehe es im Begriff der Autonomie jedoch um die höhere Würde, nicht um die größere Macht, und dies sei etwas anderes. Damit erle­ dige sich auch der folgende gegen Kant erhobene Einwand28: Kant führe die Idee ein, daß man sich selbst Gesetze gebe, was ebenso absurd sei, als wenn man im ge­ genwärtigen demokratischen Zeitalter, in welchem Mehrheitsentscheidungen Re­ spekt und Befolgung forderten, jeden überlegten Entschluß eines Menschen als Re"' Kritik der praktischen Vernunft A 237. n Metaphysik der Sitten Tugendlehre A lOO f. Ebenso Kritik der praktischen Vernunft A 156. "' Erhoben worden ist er von Elizabeth Anscombe: Modern Moral Philosophy. S. 2.

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sultat einer Abstimmung hinstellen würde, die mit einer überwältigenden Mehrheit, nämlich in jedem Fall mit 1 gegen 0 ausfiele. Der Begriff der Gesetzgebung setze eine Machtüberlegenheit29 seitens des Gesetzgebenden voraus. Hiergegen liegt es in der Tat nahe, einzuwenden, der Begriff der moralischen Gesetzgebung, im Unter­ schied zur juridischen, setze nach Kant gerade keine Machtüberlegenheit, sondern nur überlegene Würde voraus. Doch so einfach liegt die Sache nicht; tatsächlich im­ pliziert der Kantische Autonomiebegriff in einem bestimmten Sinne, und übrigens nicht anstelle, sondern neben überlegener Würde, auch überlegene Gewalt30• Nun scheint dies die Bemerkung, der Begriff der Gesetzgebung setze eine Machtüberle­ genheit des Gesetzgebenden voraus, die doch ein Einwand gegen Kant sein sollte, erst recht zu erledigen: Kant mache diese Voraussetzung und erfülle so die Bedin­ gung, die für den Fall gestellt worden sei, daß der Begriff der Autonomie als sinnvoll gelten könne. Doch so war die Bemerkung, der Begriff der Gesetzgebung setze eine Machtüberlegenheit des Gesetzgebenden voraus, selbstverständlich nicht gemeint. Sie zielte auf eine Frage quid iuris, nicht quid facti: nicht sollte darüber entschieden sein, ob Kant irgendwo dergleichen auch sage, sondern ob er es mit Recht von dem Verhältnis sagen könne, das er im Begriff der moralischen Autonomie fasse. Und zwar könne Kant dies darum konsistenterweise nicht sagen, weil es eben, wie ausge­ führt, ein Widerspruch sei, daß etwas die Macht über etwas haben solle, wenn es die­ ses selbe etwas, oder etwas an ihm ist3\ mithin schon ex hypothesi nicht stärker sein kann. Doch dieser Widerspruch kürzt sich zusammen auf den der Überlegenheit von Identischem, und darum ist es gleichgültig, ob überlegene Macht, überlegene Würde, oder, wie Kant es tut, beides zusammen behauptet wird. Freilich ist die Wendung "der Überlegenheit von Identischem" nicht einwandfrei: Kant sagt nicht, das Subjekt sei das Moralgesetz. Es soll sein Wille sein, und doch zugleich ein diesem mit überle­ gener Macht und Würde Gegenüberstehendes. Und der Aspekt der Gleichheit des Subjekts mit dem Moralgesetz läßt sich noch weiter dahingehend abschwächen, es verdanke sich dem Subjekt. Kants Formulierung ist, es würde "aus seinem Willen ent­ springen"32, oder zumeist, schlicht, es würde von ihm gegeben: dem "Subjekt der mo­ ralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt"33. Das Ich muß Quelle und Autor, "Urheber"34, wie Kant sagt, des Gesetzes sein, dem es unterworfen ist. Nun fragt es sich einerseits, ob das behauptete Paradoxon auch für diese abge­ schwächte Fassung der Gleichheit von Subjekt und Moralgesetz entsteht. Und ande­ rerseits fragt es sich, ob es entsteht, wenn die Überlegenheit eine der Würde, und nicht, oder nicht nur, der Macht ist. Beides ist der Fall. Man kann sagen: Der Auto­ nomiegedanke tritt als der manifeste Widerspruch auf, daß das, was den Interessen des Subjekts gegenüber die höhere Macht beansprucht, selber eine Leistung des Subjekts sei: es verdanke sich dem Subjekt - Autonomie -, aber das Subjekt soll eine 29

Ebd.: "superior power". Vgl. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 101. Zum ewigen Frieden AB 34f. 3 1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 98, 118. 32 Ebd. AB 76. 33 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 100f. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 155f., '237. 34 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 71. - Herber! James Paton: Der kategorische Impera­ tiv. S. 218. 30

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untertänige35 Stellung zu ihm einnehmen - Autonomie. Man kann aber auch sagen: Der Autonomiegedanke tritt als der manifeste Widerspruch auf, daß das, was den In­ teressen des Subjekts gegenüber die höhere Würde beansprucht, selber eine Lei­ stung des Subjekts sei: es verdanke sich dem Subjekt - Autonomie -, aber das Subjekt soll eine untertänige Stellung zu ihm einnehmen - Autonomie. Wenn die Gründe für die erste Fassung des Einwandes plausibel waren - und andernfalls wäre nicht auf dem Unterschied zwischen Macht und Würde zu bestehen, sondern das auf die Macht sich kaprizierende Argument direkt zu kritisieren gewesen -, so gelten sie sinngemäß auch für das zweite. Denn das Paradox ergibt sich nicht daraus, daß es Macht, und nicht Würde ist, worin die Überlegenheit besteht, sondern es liegt darin, daß eine Überlegenheit behauptet wird, die nach der Voraussetzung nicht sein kann ­ worin auch immer diese Überlegenheit ihrer Qualität nach bestehen mag. Die Vor­ aussetzung, die es entstehen läßt, ist diejenige der Urheberschaft des Subjekts. Auto­ nome Subjekte würden sich auf ein Ideal beziehen, das sie einerseits als ihren Willen, andererseits aber als Anforderung an ihren Willen, d.h. als ein ihm Gegenüberstehen­ des behaupten müßten. Ihr Ideal betrachteten sie als etwas, das von ihnen kommt, aber gegen sie gilt. Näher an der Sprache Kants formuliert: Das Gesetz sagt als Ge­ bot für den Willen ein Sollen und zugleich und ineins damit als Gesetz des Willens36 ein Wollen aus. Diese Behauptung aber führt, wie in der klassischen deutschen Phi­ losophie wohl von Fichte am prägnantesten ausgesprochen wurde, in ein Dilemma: "es soll sein. Wenn du es wolltest, so brauchte es nicht zu sollen und das Sollen käme zu spät und würde entlassen; umgekehrt, so gewiß du deines Ortes sollst und sollen kannst, willst du nicht"37• "Das Sollen käme zu spät" meint: Wenn einer schon wollte, was er soll, wäre das Sollen überflüssig. Das Sollen tritt nur darum als solches auf, weil sein Inhalt nicht das Handeln bestimmt, d.h. gewollt wird; würde es gewollt, wie die Rede vom "Gesetz des Willens" suggeriert, dann erübrigte es sich - die Moral kürzte sich gewissermaßen heraus -; wird es nicht gewollt, dann ist es folgenlos, un­ wirksam, erübrigt sich also auch. So konvergieren diese Erwägungen ihrem Resultat nach mit dem noch zu Lebzeiten Kants gezogenen Fazit eines Kantianers der ersten Stunde, Carl Leonhard Reinhold, dem zufolge Autonomie "nicht weniger un ver­ ständlich als unbegreiflich, und überhaupt auf keine andere Weise denkbar sey, als der viereckige Cirkel denkbar ist"38•

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Kritik der praktischen Vernunft A 147. "Gesetz seines [des Menschen) Willens" (ebd. A 163) nennt Kant das Prinzip der Moralität. 37 Johann Gottlieb Fichte: Die Anweisung zum seligen Leben. S. 114. 38 Carl Leonhard Reinhold: Ueber die Autonomie als Princip der praktischen Philosophie. S. 109. 36

KAPITEL III

Kants Lösungsversuch §7 Doch könnte eingewandt werden, Kant habe eine Antwort auf das Paradox der Au­ tonomie gewußt. Ihm sei klar gewesen, daß sich die besagten Schwierigkeiten nur auf der Grundlage eines dualistischen Systems lösen ließen; belegt werden könnte dies etwa mit seiner Frage: "Wie ist es moglich, daß man sich selbst tadeln kan, wenn das Selbst nicht so zu sagen zwiefach ist? Denn sonst kan man ia kein ander urtheil von sich selbst fällen, als was von sich selbst hergenommen ist und auch mit sich überein­ stimmt"1. Wenngleich diese Überlegung mit moralischer Selbstkritik, nicht mit mo­ ralischer Selbstgesetzgebung befaßt ist, und es sich ohne weiteres versteht, daß eine Analyse dieser nicht in einer Analyse jener enthalten oder das Resultat der ersteren Analyse auf Grundlage der letzteren Analyse trivial wäre, ließe sich Kant mit Grund auch die Auffassung zuschreiben, man könne sich selbst nicht ein Gesetz geben, wenn das Selbst nicht sozusagen zwiefach wäre. Denn Kants Theorie der Selbstge­ setzgebung folgt der seihen Logik wie seine Theorie der Selbstbezichtigung. Nicht nur nennt Kant die Instanz moralischer Selbstgesetzgebung, den inneren "Gesetz­ geber", in einem Zuge mit den Instanzen moralischer Selbstkritik, dem inneren "Ankläger" und dem inneren "Richter"2• Die moralische Autonomie als innere Le­ gislation war für Kant das erste von drei Momenten eines Begriffs praktischer Sub­ jektivität, der sich unmittelbar vom politischen Begriff staatlicher Selbstbestimmung, Autonomie in einem zugleich ursprünglicheren und weiteren Sinne, und dem zuge­ hörigen Ideal der Gewaltenteilung, herleitete. Der politische Begriff der Autonomie ist sowohl dem moralischen gegenüber der der Herkunft nach frühere, wie der um­ fassendere, weil er neben der legislativen auch die exekutive und judikative Gewalt enthält: "Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat"3• Kants theoretische Implementierung der staatlichen Gewalt in das Subjekt, die im folgenden zu analy­ sieren sein wird, leitete denn auch, neben den beiden erwähnten Momenten der Selbstgesetzgebung und der Selbstbezichtigung, folgerichtig auf ein, ungenau gespro­ chen, psychologisches Pendant der "executive[n] Gewalt'o4, also darauf, daß "der Mensch in sich [ ... ] regiert"5: "Es ist im Menschen ein gewißer Pöbel, der unter der Regierung stehn muß, und der ein wachsames Regiment unter der Regel erhalten muß, und wo auch Gewalt sein muß, diesen Pöbel der Anordnung und Regierung gemäß, unter die Regel zu zwingen. Dieser Pöbel sind die Handlungen der Sinnlich­ keit"6. 1 Refl. 3872. Akad. XVII. 320. 2 Refl. 8110. Akad. XIX. 650.

3 Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 172

=

B 202.

4 Moralphilosophie Collins. Akad. XXVII/1. 360.

s Eine Vorlesung über Ethik. S. 160. Moralphilosophie Collins. Akad. XXVII/1. 360. Ein dem Paradox der Autonomie korrespondie­ rendes Paradox der Selbstbeherrschung ist der philosophischen Tradition geläufig, vgl. Platon: Politeia 6

-

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§8 Die Architektonik des Kantischen Gedankens, Selbstgesetzgebung, Selbstbezichti­ gung und Selbstbeherrschung als Momente eines Systems innerer Gewaltenteilung zu verstehen, in welchem erst die Vollständigkeit aller drei Formen von Gewalt den Begriff praktischer Subjektivität erschöpfend bestimmt, macht die Analyse eines die­ ser Momente lehrreich für eine Analyse der anderen. Dies Verhältnis besteht in Sonderheit zwischen Kants Theorie der Selbstbezichtigung und seiner Theorie der Selbstgesetzgebung. Wie diese der Subjektivität die legislative Gewalt imputiert, so jene die judikative, als "[d]as Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen"7: "der Handel ist hier die Führung einer Rechtssache (causa) vor Gericht"8• Hier nun lauert nach Kant eine der bislang erörterten bemerkenswert ähnliche Paradoxie: daß der ''Angeklagte mit dem Richter als eine und dieselbe Person vorgestellt werde, ist eine ungereimte Vorstellungsart von einem Gerichtshofe ; denn da würde ja der An­ kläger jederzeit verlieren"9• Das Subjekt werde also "einen anderen" als Richter be­ mühen müssen, "wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen soll''10• Nun ging es aber gerade um eine Theorie der Se/bstbeschuldigung, und insofern ist der Widerspruch nach Kant nur zu vermeiden, wenn das Selbst "zwiefach ist"11: "Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, anderseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu ha­ ben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Wider­ spruch gerate. - Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch (numero idem), aber, als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt (homo noumenon), ist er als ein anderer als der mit Vernunft be­ gabte Sinnenmensch (specie diversus), aber nur in praktischer Rücksicht, zu betrach­ ten - denn über das Kausal-Verhältnis des lntelligibelen zum Sensibelen gibt es keine Theorie - und diese spezifische Verschiedenheit ist die der Fakultäten des Menschen (der oberen und unteren), die ihn charakterisieren. Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechtlicher Beistand des Verklagten (Sachwalter dessel­ ben) bewilligt ist. Nach Schließung der Akten tut der innere Richter, als machtha­ bende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische Folgen der Tat; in welcher Qualität wir dieser ihre Macht (als Weltherrschers) durch unsere Vernunft nicht weiter verfolgen, sondern nur das unbedingte iubeo oder veto vereh-

430e - 431b, bes. 430e - 431a: "Nun ist doch das 'stärker als er selbst' lächerlich. Denn wer stärker als er selbst wäre, wäre doch auch offenbar schwächer als er selbst, und der Schwächere stärker; denn es ist doch immer der selbe, der in allen diesen Redensarten auf beiden Seiten aufgeführt wird". Vgl. 436b. Die Platonische Lösung besteht bekanntlich in der Lehre von den Seelenteilen. 7 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 99. Vgl. Moralphilosophie Collins. Akad. XXVII/1. 354f. 8 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 100 . 9 Ebd. 1 0 Ebd. 11 Refl. 3872. Akad. XVII. 320.

Kants Lösungsversuch

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ren können"12• Kants Ausführungen, indem sie mit eherner Pedanterie den "inneren Gerichtshof' ausmalen und dabei dem Menschen nicht einmal die inneren Akten er­ sparen, sind gewiß von unfreiwilliger Komik nicht frei; indes war Kants Detailver­ liebtheit wohl die Bedingung seiner glanzvollen literarischen Leistung, dem neuen bürgerlichen Zeitalter eine komplette angemessene philosophische Metaphernwelt geschaffen, und die ältere, feudale, mit einigen spöttischen Reminiszenzen, wie der an den "Kampfplatz"13 der Metaphysik, verabschiedet zu haben14• Was nun das ange­ führte Zitat angeht, so bedarf die dunkle Bemerkung hinsichtlich der Unkorrigier­ barkeit des Gewissens, als des Ausspruchs des "Weltherrschers" "über Glückseligkeit oder Elend", an welchem man "nur das unbedingte iubeo oder veto verehren" könne, unmittelbar einer knappen Erläuterung. Nach Kant ist das Gewissen unfehlbar, mithin "ein irrendes Gewissen ein Unding"15• Herzuleiten scheint sich dies aus der Vorstellung vom Gewissen als der vox Dei im Menschen: "Der marternde Vorwurf des Gewissens ist die Stimme Gottes in der praktischen Vernunft"16• Nun ist Gott nach der konsequenten Fassung der Kantischen Philosophie nichts anderes als der Inbegriff moralischer Subjektivität17• Als "Weltherrscher", der, den Jüngsten Tag an­ tizipierend, dem Subjekt im Gewissen bereits seine Ratschlüsse "über Glückseligkeit oder Elend" desselben einflüstert, ist er jedoch eine diesem gegenüber transzendente Instanz. Dies ist, wenngleich einerseits inkonsequent in der angeführten Hinsicht, andererseits folgerichtig in bezug auf die Forderung, das Subjekt werde "einen ande­ ren" als Richter bemühen müssen, "wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch ste­ hen soll"18• Hier erscheint ein Dilemma: Entweder die übergeordnete Instanz ist wirklich ein anderer, der transzendente Gott, so rekurriert der Einwand der Hetero­ nomie, die Moral ist äußere Zumutung, und als solche nicht einzusehen, und es be­ dürfte eines eigenen Arguments, weshalb denn der Wille den Einflüsterungen Gottes folgen solle, während die Konstruktion doch gerade das Warum von Moralität be­ antworten sollte. Oder aber die religiöse Wendung hat nicht jene Bedeutung, und das als Stimme Gottes im Menschen Interpretierte ist nur die Stimme des Subjekts selbst. In diesem Fall ist die Anforderung an eine Lösung der Paradoxie nicht erfüllt, daß das Subjekt "einen anderen" als Richter · bemühen müsse, "wenn es nicht mit sich selbst im Widerspruch stehen" solle19. Freilich liegt es nahe, zu meinen, Kant habe mit der Einführung des göttlichen Weltherrschers an dieser Stelle die ihm gelungene Lösung des Paradox der Selbstbeschuldigung: daß nämlich das intelligible Ich seine Bezichtigungen an das empirische Ich adressiere, selber wieder verunklart. Und mit ihr lasse sich auch einwandfrei erklären, weshalb das Gewissen unfehlbar, "ein irren­ des Gewissen" mithin "ein Unding"20 sei: eben weil es die Stimme des intelligiblen Ich 1 2 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A lOO f. 1 3 Kritik der reinen Vernunft A 422f. = B 450f. 14 Vgl. Hans Vaihinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. S. 107 - 1 15. - Gerhard

Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik. S. 140. 15 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 38. 1 6 Opus postumum. Akad. XXI. 149. 17 S. § 1. 1 8 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 100. 1 9 Einen starken Anhaltspunkt hat solche Kritik an der Stelle: Über Pädagogik A 134. Vgl. a. §§ 67, 68. "' Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 38.

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sei, und in der in Frage stehenden Hinsicht Irrtum, wo er vorkomme, sich nur dem Schmutz des Empirischen verdanken könne21• Tatsächlich scheint genau dies die Lö­ sung gewesen zu sein, die Kant intendierte.

§9 Mit G rund, nicht nur dem bereits erwähnten, daß Kant dem Subjekt hier wie dort, nur in zweierlei Hinsicht, den Staat implementiert, sondern auch aufgrund des im angeführten Zitat enthaltenen Hinweises auf das Prinzip der Selbstgesetzgebung22, würde das Argument, das nun eine Lösung der Paradoxie des Sich-selber-Bindens verspricht, Kant die Auffassung zuschreiben, man könne gleichfalls sich nicht selbst ein Gesetz geben, wenn das Selbst nicht zwiefach wäre. Andernfalls, so konzediert dieses Argument, bestehe tatsächlich der behauptete Widersinn im Sichverbeugen des Subjekts vor etwas, das von ihm selbst gesetzt, also der Voraussetzung nach nicht höher als es selber sei. Auf der Linie der angedeuteten Lösung habe Kant jedoch eine definitive Antwort auf das Paradox der Selbstverpflichtung vorgelegt: eben seine Zweiweltenlehre. Indiz der Triftigkeit dieser Deutung ist neben der theoriearchitektonisch parallelen Behandlung der moralischen Selbstbezichtigung auch der allgemeinere Umstand, daß Kant in seiner Tugendlehre ein ums andere Mal damit befaßt ist, Paradoxien des moralischen Denkens auf diese Weise beizukommen. - Nach Kant liegt das Kriterium dafür, was richtig ist, im Willen des Subjekts. Dies soll implizieren, daß man keine Person als bloßes Mittel zum eigenen Zweck gebrauchen dürfe23• Doch mindestens in bezug auf sich selbst scheint es von vornherein unmöglich, sich zum bloßen Mittel zu machen in dem Sinne, daß man nicht selbst den Zweck der eigenen Handlungen enthielte. Denn wie immer einer handelt, so ist der Zweck, zu dem er handelt, stets sein Zweck. Mögen andere ihn sich ausgedacht haben, so muß er ihn doch zu seinem Zweck gemacht haben, um danach handeln zu können. In seinen Handlungen ist einer danach immer zugleich Zweck, niemals nur Mittel. Unmoral wäre demzufolge wenigstens in dieser Beziehung ex hypothesi ausgeschlossen. Kant nun erklärt demgegenüber den Gedanken der Übertretung von "Pflichten gegen sich selbst", der die seltsame Implikation hat, das Ich verletze die Rechte des Ichs, das es selber ist - "Daß der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint ungereimt zu sein (volenti non fit

21

Kritik der praktischen Vernunft A 30f. 22 Sc. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A lOOf.: "'als Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz untertan ist, das er sich selbst gibt (homo noumenon)"'. An diesem Hinweis ist freilich nur klar, worauf er sich bezieht, während nicht deutlich ist, ob er eine Lösung des Paradox der Autonomie bieten will. Insofern hier die Selbstgesetzge­ bung inklusive Unterwerfung nur innerhalb des '"homo noumenon'" stattzufinden scheint, drängt sich so­ gar der Eindruck auf, die Stelle sei mit Kants versuchter Lösung des Paradox der Autonomie in der '"Grundlegung zur Metaphysik der Sitten'" und der '"Kritik der praktischen Vernunft'" unvereinbar. Zu beiden Versionen der Kantischen Lehre wird sogleich Bestimmteres auszuführen sein. 23 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 64 - 67, 82; Kritik der praktischen Vernunft A 155f., 237.

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Kants Lösungsversuch

iniuria)"24 -, damit, der "homo phaenomenon" vergehe sich am "homo noumenon"25• (Nebenbei bemerkt ist die umrissene Einschätzung der Problemlage durch Kant nicht einmal auf seine praktische Philosophie beschränkt; vielmehr war Kant offenkundig der Auffassung, daß die - theoretische Selbsterkenntnis in analoger Weise paradox sei, und bot die selbe Lösung an26• Vergegenwärtigt man sich indessen, worin das Paradox der Autonomie genau bestand, so ist einem Schluß der Art, von der Selbsterkenntnis gelte entsprechendes, zu entnehmen, daß es nicht in seiner ganzen Schärfe erfaßt wurde. Tatsächlich läßt sich keiner der erhobenen Einwände ohne Gewaltsamkeit auf die Selbsterkenntnis übertragen; und keiner ist dahingehend zu resümieren, Reflexion sei überhaupt unmöglich.) Diese Indizien einer generellen, breit angelegten argumentativen Strategie Kants machen die aufgestellte Interpretationshypothese einigermaßen wahrscheinlich: Kant antwortet auf die umrissenen Schwierigkeiten im Autonomiebegriff7 mit der "Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt"28• Diese, auf die Lehre von der Autonomie bezogen, besagt: Der Mensch als Noumen gibt das Gesetz - er ist der "Gebieter in mir selbst"29 -, der Mensch als Phänomen empfängt es, so daß "die Per­ son also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen" - intelligiblen - "Persönlichkeit unterworfen ist"30• (Die Parenthese rechtfertigt sich dadurch, daß Kant erläutert: "Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur"31• Daß Kant "Persönlichkeit" im Sinne von "intelligibles Ich" verwendet, ist auch die Grundlage seiner Behauptung, "moralitaet" sei "die Übereinstimmung mit der Persohnlichkeit'm.) In der hiermit vollzogenen Anwendung der Lehre vom Intel­ ligiblen und Empirischen auf den Gedanken der Autonomie, so besagt die Interpre­ tationshypothese weiterhin, sei es Kant gelungen, theoretische und praktische Philo­ sophie aufeinander zu beziehen. -

§ 10 Die letztere Behauptung steht außer Frage� Ihr Mangel ist jedoch, daß sie das Klä­ rungsbedürftige des Verhältnisses, das da hergestellt worden ist: seine Beschaffen­ heit, im Dunkeln läßt, indem sie bei der Existenz des Verhältnisses stehenbleibt Insofern scheint es nicht überflüssig, nachzusehen, was für ein Verhältnis da besteht. 24 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 72. Mit dem Ausdruck "ungereimt" sucht Kant es unbe­ stimmt zu lassen, ob ein logischer Widerspruch oder eine Schwierigkeit anderen Typs vorliegt. Vgl. A

100 .

25 Ebd. A 73. In: Eine Vorlesung über Ethik, S. 165, steht hierfür, im Zusammenhang des selben Arguments, "Tierheit" und "Menschheit" (vgl. a. ebd. S. 53, 167; Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 10). 26 Kritik der reinen Vernunft B 155 - 159. Z7 §§ 3 - 6. 28 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 106. 29 Refl. 7319. Akad. XIX. 316. 30 Kritik der praktischen Vernunft A 155. Vgl. A 74f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 1 10, 1 13. 31 Kritik der praktischen Vernunft A 155. Vgl. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 22. 32 Refl. 6713. Akad. XIX. 139. Vgl. Refl. 7209 u . 7305. Akad. XIX. 286 u . 307.

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Kapitel III

Von seiner moralphilosophischen Argumentation sagt Kant, daß sie "von selbst an alle Momente der Kritik der theoretischen Vernunft anschließe"33. Der Zusammen­ hang der Resultate der Erkenntniskritik mit denjenigen der Moralphilosophie habe sich jedoch, wie Kant nachdrücklich betont, "auf unerwartete Weise" und "von selbst"34 ergeben. Die Übereinstimmung habe ihn selbst "überrascht" und "in Ver­ wunderung"35 gesetzt. Daß es sich tatsächlich um eine "auf keinerlei Weise gesuchte, sondern [ ... ] sich von selbst findende"36 Korrespondenz handelt, darf freilich bezwei­ felt werden. Denn schon in der ersten Auflage des Hauptwerks wird deutlich, daß Kant von vornherein die Absicht hatte, durch die Kritik der theoretischen Vernunft "den Boden" zu "majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen"37. Auch das in der Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" for­ mulierte Diktum Kants, daß er das Wissen habe aufheben müssen, um zum Glauben Platz zu bekommen38, begründet Zweifel daran, daß hier eine Übereinstimmung vorliegt, die nicht von vornherein konstruiert war, sondern, wie Kant suggerieren will, sich "von selbst" ergeben hat; der Glaube, von dem da die Rede ist, ist nämlich der nach Kant für die Moral essentielle Glaube an Freiheit, Gott und Unsterblich­ keit39. Den Zweck der transzendentalen Dialektik erklärt Kant folgendermaßen: "Wenn ich alle transzendentale Ideen, deren Inbegriff die eigentliche Aufgabe der natürlichen reinen Vernunft ausmacht, welche sie nötigt, die bloße Naturbetrachtung zu verlassen, und über alle mögliche Erfahrung hinauszugehen und in dieser Bestre­ bung das Ding (es sei Wissen oder Vernünfteln) was Metaphysik heißt, zu Stande zu bringen, so glaube ich gewahr zu werden, daß diese Naturanlage dahin abgezielet sei, unseren Begriff von den Fesseln der Erfahrung und den Schranken der bloßen Na­ turbetrachtung so weit loszumachen, daß er wenigstens ein Feld vor sich eröffnet sehe, was bloß Gegenstände vor den reinen Verstand enthält, die keine Sinnlichkeit erreichen kann, zwar nicht in der Absicht, um uns mit diesen spekulativ zu beschäfti­ gen (weil wir keinen Boden finden, worauf wir Fuß fassen können), sondern damit praktische Prinzipien, die, ohne einen solchen Raum vor ihre notwendige Erwartung und Hoffnung vor sich zu finden, sich nicht zu der Allgemeinheit ausbreiten könnten, deren die Vernunft in moralischer Absicht unumgänglich bedarf140• Und man geht daher wohl nicht fehl, wenn man vermutet, daß Kant, der die Unterscheidung zwi­ schen Dingen an sich und Erscheinungswelt für die notwendige Bedingung dessen hielt, Freiheit als möglich zu erweisen - "Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten"41 -, diese Unterscheidung unter anderem auch 33 Kritik der praktischen Vernunft A 190. 34

Ebd. A 191. Ebd. A 190. 36 Ebd. 37 Kritik der reinen Vernunft A 319 B 375f. 38 Ebd. B XXX . S.a. Refl. 2448 . Akad. XVI. 372. " - was nicht besagt, die Moral sei auf den Glauben an einen transzendenten Gott gegründet. Vgl. § 35

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1.

40 Prolegomena A 184f. 41 Kritik der reinen Vernunft A 536

B 564. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 180f.: "In der Tat: wären die Handlungen des Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen in der Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung, sondern als Dinges an sich selbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein". Hierzu Lewis White Beck: Kant's Strategy. =

Kants Lösungsversuch

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eingeführt hat, um jene Freiheit als möglich aufzuzeigen, "deren die Vernunft in mo­ ralischer Absicht unumgänglich bedarf'42•

§ 11 Indessen könnte entgegnet werden, dies alles sei zwar richtig, doch wenn man sich einbilde, es sei ein Einwand, liege man schief. Denn daß jemand an einem Gedan­ ken, etwa wegen seiner Verwendbarkeit in bestimmten Zusammenhängen, interes­ siert sei, und daß dieser selbe Gedanke wohlbegründet sei, schließe sich nicht aus. Man müsse sich schon ansehen, was Kant mit seiner theoretischen Unterscheidung des Intelligiblen und Sensiblen auf dem Gebiet der Moralphilosophie leiste, um zu einem Urteil zu gelangen, das Aussicht hätte, als Kritik überhaupt auch nur ernstge­ nommen zu werden. Die Bemerkung ist korrekt. Zwar ist es nicht überflüssig zu wis­ sen, daß, wenn Kant den Übergang von der theoretischen zur praktischen Philoso­ phie vollzieht, er es in Gestalt der ersteren mit etwas zu tun hat, das bereits auf be­ stimmte Beweisziele der letzteren hin entworfen ist. Aber daß eine Auffassung mit einem Interesse verbunden ist, erweist sie noch nicht als falsch. Über die Stimmigkeit von Kants moralphilosophischer Verwendung der Unterscheidung zwischen Noume­ na und Phaenomena ist nur zu entscheiden, wenn man sich die Mühe macht, sie selbst zu prüfen, statt lediglich ihre Herkunft, oder von Kant mit der Unterscheidung verbundene Absichten zu, wie ein untergegangener Jargon sagte, hinterfragen. Die Pointe von Kants moralphilosophischer Verwendung der Unterscheidung des Noumenalen und Phänomenalen war nun, daß der Mensch als Noumen das Gesetz gibt, der Mensch als Phänomen aber es empfängt. Dieser Gedanke trug sich vor als Klärung einer nun schon notorischen theoretischen Verlegenheit: Die Schwierigkeit, die darin liegt, zu verstehen, wie einer sich untertänig zu etwas stellen kann, obwohl er selber die Quelle der Autorität desselben ist, sucht Kant dahingehend aufzulösen, daß "die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen" - intelligiblen "Persönlichkeit unterworfen ist"43• (Dabei beruht die Behauptung, daß, wenn die Vernunft der Sinnlichkeit befiehlt, in einem ungeschmälerten Sinne "ich selbst" mir das Gesetz gebe, auf der Prämisse, daß jene das "eigentliche"44 Ich, kurz: sein Wesen sei.) Indem Kant dergestalt die Bestimmungen von Gesetzgeber und Gesetzesunter­ worfenem, oder, wie auch gesagt wurde, Bindendem und Gebundenem, auf zwei, lax gesprochen, verschiedene Rollen verteilt, scheinen die beschriebenen Widersprüche nicht zu entstehen. Denn was vorher in ein und derselben Hinsicht galt, gilt nun in zwei verschiedenen, und ergibt so keine Paradoxie.

42 Prolegomena A 185. Vgl. Vorlesungen über die Metaphysik. S. 207. 43 Kritik der praktischen Vernunft A 155.

44

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 118, 123.

KAP ITEL IV

Kritik des Kantischen Lösungsversuchs § 12 Der vorgetragene Gedankengang ist jedoch in Wahrheit nicht haltbar. Kant gelingt es nämlich nicht, die Verteilung in der Weise, die als Auflösung des Paradox der Au­ tonomie auftritt: als Nournenon sei der Mensch Gesetzgeber, als Phaenornenon Adressat des Gesetzes, vorzunehmen. Nicht nur gerät der Begriff des Willens, des Vereinigungspunktes von empirischer und intelligibler Sphäre, widerspruchsvoll: er sei "nichts anders als praktische Vernunft", aber "nicht an sich völlig der Vernunft gernäß"1: als ob, wenn der Wille partout Vernunft ist, er noch gegen sein Vernunft­ Sein verstoßen könnte. (Diese Inkonsequenz, das noch auseinanderhalten zu wollen, was einen Moment zuvor als identisch behauptet war - und die Annahme des Zu­ sarnrnenfallens von Vernunft und Wille bei gleichzeitiger Unterstellung ihrer Diffe­ renz ist in Kants praktischer Philosophie nahezu ubiquitär -, ist die spiegelverkehrte Iteration der von Hege! an Kant bemerkten, allem Dualismus eigenen Unstimmig­ keit, "das zu vereinen, was einen Augenblick vorher als selbstständig somit als unver­ einbar erklärt worden ist"2.) Auch vermag das Intelligible nicht, wie erforderlich, als Maßstab des Empirischen zu fungieren. Denn jenes ist unendlich, dieses endlich. Zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen gibt es jedoch keine Proportion3• Was aber zu etwas in keiner Proportion steht, steht zu ihm auch nicht im Verhältnis des Gemessenen zu seinem Maßstab4• Aus einem anderen G runde taugt ferner der horno sensibilis nicht zum Adressaten von Moral. Denn als Sinnenwesen ist der Mensch nach Kant ein Stück Natur. Eben damit aber ist er seiner Lehre zufolge nur kausaler Einwirkung zugänglich (wobei 'kausal' im Sinne von Naturkausalität zu ver­ stehen ist), und vermag die Sprache eines Sollens überhaupt nicht zu vernehmen. "Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkornrnt"6• Das von Kant verwendete "sonst" könnte nahelegen: außer im Falle der Unterworfenheit des "horno phaenornenon" unter das moralische Gesetz. Doch dies ist nicht gemeint. Der phänomenale Zu­ sammenhang muß nach Kant durchgehend kausal determiniert sein. Freiheit wird dabei nicht als Ausnahme von der Determination, sondern als das mit ihr kompatible intelligible Wesen hinter ihr verstanden. Gerneint sein kann daher nur, das Sollen 1

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 36f. Vgl. AB 89. Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 60 Anm . S. 73. Ausg. 1830. S. 143. 3 Nicolaus Cusanus: Docta Ignorantia I 3. S. 200 : "ex sc manifestum est infiniti ad finitum proportio­ nem non esse". 4 Diese Konsequenz seiner Einsicht ist freilich bei Cusanus nicht gezogen, der vielmehr die Idee ei­ nes "Messens" des Endlichen am Unendlichen - das Paradox einer "mensura" des ex hypothesi Inkom­ mensurablen - hochhält. Aber die hierfür angeführten Beispiele belegen gerade dessen Unmöglichkeit (vgl. ebd. I 13. S. 236) . Dreieck, Kreis und Kugel mögen ja "in Gott" zur Linie werden - für die Geome­ trie, die "Meßkunst" (und "mensurare" ist vorgeblich das Anliegen des Kusaners), sind sie damit ent­ wertet. Vgl. Joachim Ritter: Docta ignorantia. S. 48. 5 Kritik der reinen Vernunft A 549f. B 577f. Kritik der praktischen Vernunft A 177. 6 Kritik der reinen Vernunft A 547 B 575. Vgl. Rell. 6663. Akad. XIX. 127. 2

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Kritik des Kantischen Lösungsversuchs

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drücke eine Art von Notwendigkeit aus, die in der Natur überhaupt nicht vorkomme. "Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. Es ist unmöglich, daß etwas darin anders sein soll, als es in allen diesen Zeit­ verhältnissen in der Tat ist, ja das Sollen, wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, hat ganz und gar keine Bedeutung. Wir können gar nicht fragen: was in der Natur geschehen soll"7• Freilich könnte man annehmen, hinsichtlich des "homo phaenomenon" sei eben diese Frage von Belang: er handele doch, und sei somit für Kant wohl potentieller Adressat von Moral. Doch diesen Schluß läßt Kants Rede von Handlungen des "homo phaenomenon" keineswegs zu. Umgekehrt muß vielmehr aus seinen Bemerkungen über die Sinnlosigkeit einer moralischen Beurteilung der Natur gefolgert werden, daß auch in bezug auf "die menschlichen Handlungen", die als "Erscheinungen" schließlich, "eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit, nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt"8 sein müssen, nicht gefragt werden kann, wie sie ausfallen sollen. Bei aller Tristesse seiner Rolle als Resultante äußerer Ursachen verfügt der "homo phaenomenon" allerdings über eine empirische Subjektivität. Der natürlichen Kausalität, nach welcher er restlos zu erklären sei, subsumiert Kant, der eine reduktionistische Psychologie vertritt9, nämlich auch "bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen'o10. Doch auch dies macht das sensible Ich nicht zum geeigneten Empfänger moralischer Vorschriften. Denn Empfänglichkeit für den Appell moralischer Gesetze ist gerade auch nach Kants Theorie keine sinnliche Re­ zeptivität, wie etwa die Empfänglichkeit für Gerüche. Kant bemüht den Topos der Platonischen Tradition, der Mensch, sofern es ihm um die Befriedigung seiner Be­ dürfnisse zu tun sei, gleiche einem Tier11• "Wir müssen an dem Menschen unter­ scheiden das Thier, d.i. ihn nach den Gesetzen der Sinnlichkeit, und den Geist: nach Gesetzen der Vernunft"12• In dieser Konstellation nun wird Kant zufolge der letztere, "der Mensch als Geist" kritisch tätig, dergestalt nämlich, daß er "sich als Thier ta­ delt"13. Doch wenn es sich so verhält, entbehrt dieser Vorgang der Vernunft. Tiere sind rationaler Kritik unzugänglich ; es hat keinen Sinn, Einwände an sie zu adressie­ ren. Das sensible Ich kann nicht Adressat des Gesetzes sein, weil es dazu sittliches, nicht sinnliches Wesen sein müßte. Insofern es letzteres ist, läßt es sich, wie Kant einmal selber bemerkt, nicht durch moralische Imperative, sondern lediglich "patho­ logisch" (dies heißt bei Kant nicht: krankhaft, sondern: durch sinnliche Mfektion) beeindrucken: "Durch Bewegungsgründe der Sittlichkeit kan man nur den tu­ gendhaften, durch die der Klugheit den Klugen, durch die pathologischen den Emp­ findsamen zwingen"14• 7

Kritik der reinen Vernunft A 547

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B 575.

8 Idee zu einer allgemeinen Geschichte A 385. 9 Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 347 = B 405, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik

A 73, Über den Gemeinspruch A 224. Für eine der Kantischen weit überlegene Theorie der Sinnes­ empfindung und Wahrnehmung vgl. Hege): Enzyklopädie. Ausg. 1830. §§ 401, 402, 419, 420. S. 100 - 122, 208ff. 1 0 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 107. 11

Kritik der praktischen Vernunft A 108. Refl. 3872. Akad. XVII. 320. Ebenso Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 10. Eine Vorlesung über Ethik. S. 53, 165, 167. 13 Refl. 3872. Akad. XVII. 320. 14 Refl. 6663 . Akad. XIX. 127. 12

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Kapitel IV

§ 13 In der "Metaphysik der Sitten" nennt Kant daher das "Subjekt der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden, Gesetzgebung, wo der Mensch einem Ge­ setz untertan ist, das er sich selbst gibt", folgerichtig "homo noumenon"15• Bei diesem, als moralischem Wesen, ist die Moral, so scheint es, an der richtigen Adresse. Indem aber nach diesem Lösungsversuch das Verhältnis von Gesetzgebung und Unterwer­ fung innerhalb der Sphäre des Intelligiblen, des "homo noumenon", abgewickelt wird, ist mit dessen Unterschiedenheit vom "homo phaenomenon" keine einzige Schwie­ rigkeit mehr zu meistern; indem das intelligible Ich Unterwerfendes und Unterwor­ fenes ist, und dies in der seihen Hinsicht: unter das von ihm ausgehende Sittengesetz Unterwerfendes und unter das von ihm ausgehende Sittengesetz Unterworfenes, re­ produzieren sich an ihm der Struktur nach alle Paradoxien, die zuvor festgestellt wurden. Dies ist bereits der formellen Erwägung zu entnehmen: Wie die relative Nichtidentität verschiedener Gesichtspunkte verständlich machen sollte, in welcher Weise der unters Gesetz Unterwerfende zugleich unters Gesetz Unterworfener sein könne, beläßt die zitierte Identität das selbe Verhältnis im Unverständlichen. Kurz und schlecht: das intelligible Ich eignet sich nicht zum Adressaten des Gesetzes, weil es schon Gesetzgeber ist, und nur die Trennung von Gesetzgeber und Adressaten des Gesetzes Widersprüche vermeiden könnte. Freilich scheint die "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (merkwürdigerweise nur für das Paradox der Selbstbezichtigung auch die späte "Metaphysik der Sitten"16) dem hiermit implizite aufgemachten Dilemma begegnen zu können: Weil der Adres­ sat des Gesetzes sinnliches Wesen sein muß, behauptet sie um der Auflösung der Pa­ radoxie willen eben dies; weil aber ein sinnliches Wesen, und dies meint bei Kant: ein Naturwesen, nach seiner Lehre nur für kausale Einwirkung empfänglich ist (wobei kausal im Sinne von Naturkausalität zu verstehen ist), ergo die Sprache der Moral überhaupt nicht vernimmt, behauptet sie ebenso das intelligible Ich, den "Staatsbürger einer übersinnlichen Welt"17, als den Gesetzesunterworfenen: "denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig"18• Diese Lösung gilt gemeinhin als plausibel. Denn in ihr scheint Kant die Erwägung, das Gesetz zu befolgen, als einen Konflikt zwischen intelligiblem und empirischem Ich auszudeuten. Und schon mancher fand die Versuchung unwiderstehlich, in eben dieser Deutung etwas wiederzuerkennen, das er sich selbst als Kampf seiner moralischen Vorsätze mit dem, was er vulgo nur als seinen inneren Schweinehund zu apostrophieren wußte, zurechtgelegt hatte. Auf solche Übersetzungsleistungen gegründete Interpretationen Kants sind indes zumin15 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A lOOf. (Vgl. a. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 100, 102.) In diesem Sinne interpretiert auch Williams: "rational nature must not be merely" (folglich aber mindestens doch auch) "subject to law but must also enact this law" (T.C. Williams: The Concept of the Categorical Imperative. S. 102) . 16 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 101. 17 Zum ewigen Frieden AB 21. 18 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten B 1 10. Die erste Auflage enthält die unwesentlich abwei­ chende Lesart: "denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als gehörig zur Sinnenwelt und doch zugleich der Verstandeswelt" (A 1 10).

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dest vorschnell. Denn was einer so per Introspektion als gute Absicht und widerstre­ bende Animalität auszumachen wußte, stand, um es mit einer räumlichen Metapher zu sagen, auf ein und derselben Ebene seiner psychologischen Erfahrung gegenein­ ander, nicht auf den zwei Ebenen der Erscheinung und des Ansieh, d.i. wovon etwas Erscheinung ist, voreinander19• Eine gerechtfertigte Berufung auf Kant in dieser An­ gelegenheit ist nicht dergestalt billig zu haben, daß man nur "Pflicht und Neigung" in sich zu entdecken hätte. Denn in ihr wäre vielmehr vor allem zu vertreten, daß es sich bei diesen um Glieder eines unerklärbaren Kausalverhältnisses zwischen Ansich und Erscheinung handelt. Tatsächlich ist Kants Lösung zunächst nicht dem Bedürfnis der Plausibilisierung moralpsychologischer Annahmen geschuldet, sondern dem Interesse an der Auflö­ sung der zuvor ausführlich erörterten Aporien. Der Gedankengang, der sie aufdeckt, ist der bekannte: Autonomie besagt zunächst: Einheit des Bestimmenden und des Bestimmten. Sie besteht darin, sich selber Schranken zu setzen, als Wille Beschränk­ ter und selber Beschränkender zu sein. Das moralische Subjekt ist Souverän und Un­ tertan20. Dabei scheint die Eigenschaft der Souveränität seiner Folgsamkeit als Un­ tertan den Gmnd zu liefern: es tut als Gesetzesempfänger, was es selber als Gesetz­ geber will. "Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß"21 • Die Wendung "eben um deswillen" in diesem Satz spielt auf den zunächst einleuchtenden Vorteil der Identifikation des Subordinierten mit dem Sub­ ordinierenden an. Sie bringt zum Ausdruck, daß die Untertänigkeit des Willens ver­ nünftigerweise nur darum erwartet werden kann, weil er das, worunter er sich unter­ werfen soll, schon von sich aus will. Der Vorzug des Gedankens, daß ein und der­ selbe Wille die Rolle sowohl des Gebers der Gesetze, wie die des ihnen Unterworfe­ nen einnimmt, verwandelt sich jedoch in Anbetracht der von Kant selber angestell­ ten Überlegung, Gebote seien überflüssig, wenn sie nur das fordern, was man ohne­ hin tun wi1122, in eine Quelle von Paradoxien. Kants Antwort ist der Dualismus von Intelligiblem und Empirischem. Legislator muß das intelligible Ich sein. Gemäß der Logik des Problems, zu dessen Lösung es im vorliegenden Zusammenhang vom em­ pirischen Ich unterschieden wurde, kann es nicht zugleich Untertan des Gesetzes sein. Weil der Adressat des Gesetzes mithin sinnliches Wesen sein muß, behauptet Kant, wie festgestellt wurde, um der Auflösung der Paradoxie willen eben dies; weil aber ein sinnliches Wesen, und dies meint bei Kant: ein Naturwesen, nach seiner Lehre nur für kausale Einwirkung empfänglich ist, die Sprache der Moral überhaupt nicht vernimmt, behauptet er ebenso das intelligible Ich als den Gesetzesunterwor­ fenen. Diese Auskunft ist der Versuch des Zusammenzwingens zweier Beweisziele. Doch indem sie zwei Schwierigkeiten vermeiden will, ist sie beiden ausgesetzt: Inso­ fern das intelligible Ich die unters Gesetz unterwerfende und ihm unterworfene In19

Vgl. detaillierter §§ 20 - 22. "' Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 87. Kritik der praktischen Vernunft A 147. 2 1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 70f. 22 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 13. Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB XI.

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Kapitel IV

stanz ist, entsteht das Paradox der Autonomie, insofern das Sinnenwesen Adressat des Gesetzes ist, sieht man nicht ein, wie es dies sein kann, da es eo ipso nur kausaler Affektion zugänglich ist. Die Summe zweier unhaltbarer Gedanken ist kein besserer, sondern ein schlechterer Gedanke als jeder für sich23• Qua intelligibles Wesen kann das Ich nicht Adressat des Sittengesetzes sein, denn das Gesetz formuliert nach Kant nichts weiter als dessen Intelligibilität - jemandem aber als Vorschrift, als das, was er werden soll, dasjenige aufzudringen, was er notwendig ist, ist ein Widerspruch -, eben­ sowenig aber qua empirisches Ich aus dem besagten Grunde, daß dieses notwendig und unaufhebbar durch die Ursachenkonstellation in der Natur bestimmt ist24• An­ ders pointiert: Als Glied der intelligiblen Welt ist das Ich, so Kant, "reine Tätigkeit", ausschließlich etwas "für sich selbst Tätiges", "reine Selbsttätigkeit"25 und "reine Spontaneität"26, als Sinnenwesen hingegen ist es zwar empfangend, aber nur sinnlich "leidend"27; beides aber: reine Spontaneität wie bloß sinnliche Rezeptivität schließt, gerade nach Kant, den Status eines Empfängers moralischer Vorschriften aus. Zwi­ schen einer Erscheinung und dem, wovon etwas Erscheinung ist, dem An sich, kann es aber auch keine Mischung geben, aus der eine dritte Qualität hervorginge, wie diejenige des Wassers aus denjenigen von Wasserstoff und Sauerstoff. Was gar nicht auf der selben Ebene liegt, wie eben Erscheinung und An sich (das, wovon etwas Er­ scheinung ist), kann sich nicht in einem derartigen Sinne verbinden. Es versteht sich dies aus der nirgends, selbst nicht in der "Kritik der Urteilskraft", revidierten Prä­ misse Kants, daß "eine unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiete des Naturbe­ griffs, als dem Sinnlichen, und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs, als dem Übersinn­ lichen, befestigt ist"28• Da überdies alles einerseits an sich ist, und andererseits er­ scheint, wird, daß etwas zugleich beides sei, zu einer Feststellung von ubiquitärer Geltung, die nichts Spezifisches mehr, wie etwa die Eigentümlichkeiten moralischen Gehorsams, zu erklären vermag.

§ 14 Die Lehre vom autonomen Willen setzt Freiheit mit Pflichterfüllung identisch29; in diesem Sinne ist laut "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" "ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei"30• Konsequent muß Kant der Pflichtver-

23 Dieter Henrich: Ethik der Autonomie. S. 39.

,. Kritik der praktischen Vernunft A 72. 25 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 107f. Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 418 B 446. Refl. 4225. Akad. XVII. 464: "'die Freiheit [ist) eine vollständige Selbstthätigkeit des Willens". Refl. 5441. Akad. XVIII. 182: "reine Selbstthätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist" . .. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 108 . .Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 446 B 474. n Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 106, 108. ,. Kritik der Urteilskraft B XIX. 29 § 3. 30 AB 98. Ebenso AB 104f. Vgl. Carl Christian Erhard Schmid: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften. 2. Aufl. (1788). S. 62: "Frey, autonomisch und sittlichgut handeln, sind Synonimen". (In der 4. Aufl. von 1798, S. 84, ist dieser Satz durch den Druckfehler "automatisch" für "autonomisch" entstellt.) =

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/etzung die Qualität der Freiheit absprechen31. Doch dadurch verschwindet das Ver­ gehen als Handlung in ein Naturgeschehen. Ohne moralisch böses Handeln kann es aber auch kein moralisch gutes Handeln geben, weil die Unterscheidung zwischen diesen Begriffen entfällt. Ferner: Wenn Kant den Verstoß gegen das Gesetz als un­ frei charakterisiert, bedeutet dies: Bedingungen haben sich störend geltend ge­ macht32. Verhält es sich aber so, dann war auch die Pflichteifüllung nicht frei, son­ dern abhängig vom Ausbleiben der störenden Bedingungen. Der Wille ist demzu­ folge determiniert; die behauptete Identität von Freiheit und Pflichterfüllung gibt es nicht. Wenn die Pflichterfüllung frei sein soll, muß es die Pflichtverletzung auch sein. Doch in diesem Falle konvergieren Freiheit und Pflichterfüllung wiederum nicht. Kants Bewußtsein von dieser Dialektik beschränkt sich auf einen einzigen Aspekt: Wenn, gemäß der Lehre der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und der "Kritik der praktischen Vernunft", nur moralisch gutes Handeln frei wäre, moralisch böses dagegen nicht - vielmehr kausal determiniert -, so wäre das letztere nicht im strengen Sinne zurechenbar, weil diese Eigenschaft, und in ihrem Gefolge die Straf­ barkeit, nach Kant absolute Freiheit voraussetzt. Dieser Nachteil der Gleichung von Freiheit und Unterwerfung unter das Sittengesetz, daß - weil Freiheit im Wollen des Guten besteht - im Wollen des Bösen keine Freiheit bestünde, so daß niemand für das letztere haftbar gemacht werden könnte, veranlaßte Kant in seiner 1792 in der "Berlinischen Monatsschrift" publizierten Abhandlung "Von der Einwohnung des bö­ sen Prinzips neben dem guten; d.i. vom radikalen Bösen in der menschlichen Natur" einen "Vernunftursprung" des "Bösen"33 anzunehmen; es ist danach "intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar"34• Wenn demzufolge das Böse nicht das bloß Empirische ist, dann muß dem Intelligiblen auch die Qualität des Bösen zukommen. Zerlegte Kant in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" das Subjekt in seine "bessere Person" qua "Gliedes der Verstandeswelt" und "seinen bösen Willen" qua "Gliedes der Sinnenwelt"35, so erscheint nun die Möglichkeit, daß, umgekehrt, "der empirische Charakter gut, der intelligibile aber immer noch böse ist"36• Indes scheint Kant bemerkt zu haben, daß er sich mit dieser Lehre sein - wie anfechtbar dieses auch sein mag37 - systematisch zentrales, genaugenommen einziges Argument zugunsten der Moralität aus der Hand schlug; denn in der Einleitung in die "Metaphysik der Sitten" von 1797 ist die Revision der Freiheitslehre erneut revidiert - im Sinne einer Rückkehr zu der Doktrin, daß ein Gebrauch der Freiheit, der sich den Instanzen des Ge- und Verbotenen widersetzt, nicht mehr als Gebrauch der Freiheit, sondern gerade als deren Defekt zu betrachten ist: "Die Freiheit, in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft, ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit, von dieser ab-

31 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 113. Kritik der praktischen Vernunft A 59. 32 Kritik der praktischen Vernunft A 140. 33 Die Abhandlung wurde nachgedruckt als ""Erstes Stück"' von: Die Religion innerhalb der Grenzen

der bloßen Vernunft, dort A 37f. B 41f. 34 Ebd. A 23 B 26. 35 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 113. S. hierzu § 21. 36 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft A 31 37 s. § 19. =

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B 35.

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zuweichen, ein Unvermögen"38• Demgemäß befindet Kant nun wieder, daß man Handlungen "nur mechanisch" erklären könne, "wenn sie böse sind"39• Das systematisch bedeutsame Argument, das die Rücknahme erzwingt, ist dieses: "Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist, und also auch als solche gedacht werden muß, so werde ich mich als Intelligenz, obgleich andererseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d.i. der Vernunft, die in der Idee der Freiheit das Gesetz derselben enthält, und also der Autonomie des Willens unterworfen erkennen, folglich die Gesetze der Verstandeswelt für mich als Imperativen und diesem Prinzip gemäße Handlungen als Pflichten ansehen müs­ sen•>40. Nur insofern der Moral die Qualität des Intelligiblen eignet, so Kant, kann demjenigen, der sie als äußerliche Zumutung abtuen will, geantwortet werden, sie sei vielmehr das Ansich seiner eigenen Person. Das Sittengesetz ist verbindlich, "da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst, ent­ sprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet"4 1 • Dem ist einerseits zu ent­ nehmen: Die Dignität des moralisch Guten hängt ab vom Vorrang des Intelligiblen vor dem Empirischen; sie würde hinfällig mit der Lehre vom Bösen als "in­ telligibele[r] Tat'"'2• Diese Lehre wäre der Ruin von Kants moralphilosophischem Begründungsprogramm43• Andererseits aber führt der Verzicht auf sie wiederum in eben die Aporien der in der "Grundlegung" und der "Kritik der praktischen Ver­ nunft" entwickelten Theorie, zu deren Behebung Kant in der Abhandlung von 1792 den Begriff der Freiheit neu bestimmt hatte.

§ 15 Das Dilemmatische der theoretischen Situation zeigt sich auch in der Kantischen Rechtsphilosophie. Sie könnte freilich als für den gegebenen Zusammenhang irrele­ vant gelten, da der Begriff der Autonomie in ihr so gut wie absent ist. Insofern das Recht äußeren Zwang enthält, genügt es jenem in der Tat nicht. Andererseits stellt Kant an das Recht die Bedingung, daß es sich dem Willen des ihm Unterworfenen verdanken muß. Denn Recht vermöge etwas nur dann zu sein, wenn es "schlechter­ dings niemand Unrecht tun" kann44• "Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen an­ deren verfügt, immer möglich, daß er ihm unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria)'"'5• Also könne Recht nur das sein, 38

Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 28. Vorarbeit zur Einleitung in die "Metaphysik der Sitten". Akad. XXIII. 249. 40 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 111. " Ebd. AB 123. 42 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft A 23 : B 26. 43 Zum Scheitern der Lehre vom "radikal Bösen" s.a. Gerold Prauss: Kant über Freiheit als Autono­ mie. S. 83 100. Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 165 : B 195. "' Ebd. A 165 : B 195f. l9



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Kritik des Kantischen Lösungsversuchs

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was einer "über sich selbst beschließt". Daß dieser Grundsatz, der freilich zugestan­ denermaßen Kants Begriff des Rechts nicht erschöpft, eine Spezifikation des Prinzips der Autonomie ist, obgleich Kant ihn nicht als solchen kennzeichnet, ist etwa an der Behandlung der Schwierigkeit abzulesen, ihn an der Strafe zu bewähren. Denn diese Schwierigkeit ist eine Variante des Paradox der Autonomie, weshalb Kants Lösung auch im Rekurs auf die Zweiweltenlehre besteht. Einerseits muß Kant, wie es scheint, behaupten, daß einer seine Strafe wolle, während es anderer­ seits im Begriff der Strafe liegt, daß sie gegen seinen Willen gerichtet ist: "es ist keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen"46; Strafe "muß immer ein anderer auflegen", als selbstauferlegte ist sie "ein Widerspruch'"'7• Im Falle der Strafe ist es, wie bemerkt, äußerer physischer Zwang, nicht lediglich der innere moralische, den das Ich gegen sich wollen muß (wenngleich offenbar zugleich nicht wollen kann). Und obschon eben dies der Grund ist, weshalb Kant im gegebenen Zusammenhang nicht von Autonomie spricht, ist, was er als Lösung jenes Widerspruchs vorträgt, die Gesetzgebung des intelligiblen Ichs, das sich das empiri­ sche unterwirft: mithin das, was in der Moralphilosophie Autonomie hieß. Das Ich, als Gesetzgeber, das "das Strafgesetz diktiert, kann unmöglich dieselbe Person sein, die, als Untertan, nach dem Gesetz bestraft wird; denn als ein solcher, nämlich als Verbrecher, kann ich unmöglich eine Stimme in der Gesetzgebung haben (der Ge­ setzgeber ist heilig)"48• Wenn einer also, sagt Kant, ein Strafgesetz gegen sich, als einen Verbrecher, abfaßt, so ist es in ihm die reine "gesetzgebende" intelligible Per­ sönlichkeit ("homo noumenon"), die ihn als Verbrecher, "folglich als eine andere Person (homo phaenomenon)"49, unterwirft. Der Delinquent ist - denn gegen eine Regel kann einer im genauen Sinne nur verstoßen, insofern er ihr unterworfen ist das dem Gesetz unterworfene Ich; von ihm gilt, daß es keine "Stimme in der Gesetz­ gebung" hat. Kant bringt dies dem gesunden Volksempfinden nahe, wenn er sagt: "als Verbrecher [ ... ] kann ich unmöglich eine Stimme in der Gesetzgebung haben"; sy­ stematisch bedeutsam für die Frage, wer eine Stimme in der Gesetzgebung hat, und wer nicht, ist aber nicht die Opposition, ob einer de facto Verbrechen begeht oder nicht, sondern die von homo noumenon und homo phaenomenon; auf die letzteren verteilen sich die beiden Seiten der Alternative. Genau besehen reproduziert diese Lösung jedoch die Schwierigkeit, die sie bereinigen soll: denn Kant sagt, das Gesetz müsse sich demjenigen verdanken, der ihm unterworfen ist - sonst wäre nicht einzu­ sehen, warum es für ihn gilt -, aber das Gesetz könne sich nicht demjenigen verdan­ ken, der ihm unterworfen ist. Die Autonomie, wie Kant sie in seiner Lösung zu den­ ken sucht, enthält den Widerspruch einer Heteronomie im Subjekt, denn das empiri­ sche Ich muß ex hypothesi, als gar nicht an der Gesetzgebung beteiligt, das Gesetz, dem es subsumiert wird, als ihm äußerliche Zumutung erfahren. Dies Resultat ist ein notwendiges. Denn wenn der Vorzug der Autonomie gegenüber der Doktrin vom göttlichen Gesetzgeber darin lag, Einheit von Bestimmendem und Bestimmtem zu 46

Ebd. A 202

=

B 232.

47 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 177. 48

Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 202f. B 232f.

49 Ebd. A 203

=

=

B 232.

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Kapitel IV

sein, so verschwindet dieser Vorzug in eben dem Maße, in dem diese Einheit wieder in eine Zweiheit zerlegt wird. In genau diesem Sinne wurde die theoretische Lage zu­ vor eine dilemmatische genannt: in dem Maße, in dem die Einheit von Bestimmen­ dem und Bestimmtem ernst gemeint ist, läßt sich einsehen, warum das Gebot für den Unterworfenen gilt (es ist ja von ihm ausgegangen), doch resultiert das Paradox der Autonomie; in dem Maße, in dem eine Zweiheit von Bestimmendem und Bestimm­ tem angenommen wird, verschwindet das Paradox der Autonomie, doch zugleich der Grund, dem Gebot zu folgen. Kants Lösungen sind stets in dem Maße paradox, in dem in ihnen Einheit gedacht wird, und in dem Maße untauglich, Handlungsgründe bereitzustellen, in dem in ihnen eine Zweiheit gedacht wird. Daß der dem Gesetz Unterworfene das Gesetz, dem er unterworfen ist, will, ist etwas, das Kant einerseits denken müßte, andererseits aber nicht denken kann. Wenn die Unterwerfung unters Gesetz stattfinden soll, darf sie nicht "in einem und demselben Subjekte"50 stattfin­ den, und muß es doch, um Autonomie zu sein.

Sll

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 121.

KAPITEL V

Ding an sich und Erscheinung § 16 Indessen könnte eingewandt werden, die vorgetragene Kritik beziehe den Anschein von Plausibilität daraus, daß sie Kants Gedanken ganz obenhin erledige, statt sie zunächst in voller Ausführlichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Den Übergang von der Zweiweltenlehre zum Gedanken der Autonomie habe Kant schließlich in der "De­ duktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft" weitläufig begründet. Der Einwand ist bedenkenswert Die gemeinte Stelle vollzieht den in Frage stehenden Übergang in folgender Weise: "Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen, wurde der spekulativen Vernunft alles Positive einer Er­ kenntnis mit völligem Rechte abgesprochen. - Doch leistete diese so viel, daß sie den Begriff der Noumenen, d.i. die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, dergleichen zu den­ ken, in Sicherheit setzte, und z.B. die Freiheit, negativ betrachtet, anzunehmen, als ganz verträglich mit jenen Grundsätzen und Einschränkungen der reinen theoreti­ schen Vernunft, wider alle Einwürfe rettete, ohne doch von solchen Gegenständen irgend etwas Bestimmtes und Erweiterndes zu erkennen zu geben, indem sie viel­ mehr alle Aussicht dahin gänzlich abschnitt. Dagegen gibt das moralische Gesetz, wenn gleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnen­ welt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärli­ ches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese so gar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt. Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen Wesen betrifft), die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur ver­ schaffen, ohne doch jener ihrem Mechanism Abbruch zu tun. Nun ist Natur im all­ gemeinsten Verstande die Existenz der Dinge unter Gesetzen. Die sinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist die Existenz derselben unter empirisch bedingten Gesetzen, mithin für die Vernunft Heteronomie. Die übersinnliche Natur eben der­ selben Wesen ist dagegen ihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empirischen Bedingung unabhängig sind, mithin zur Autonomie der reinen Vernunft gehören. Und, da die Gesetze, nach welchen das Dasein der Dinge vom Erkenntnis abhängt, praktisch sind: so ist die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nicht anders, als eine Natur unter der Autonomie der reinen prakti­ schen Vernunft. Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz; wel­ ches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandes­ welt ist, deren Gegenbild in der Sinnenwelt, aber doch zugleich ohne Abbruch der Gesetze derselben, existieren soll. Man könnte jene die urbildliehe (natura arche­ typa), die wir bloß in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie die mögliche Wir­ kung der Idee der ersteren, als Bestimmungsgrundes des Willens, enthält, die nach­ gebildete (natura ectypa) nennen. Denn in der Tat versetzt uns das moralische Ge­ setz, der Idee nach, in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen

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Kapitel V

würde, und bestimmt unseren Willen, die Form der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu erteilen"1•

§ 17 Kants Argumentation beginnt mit der Übernahme von Resultaten seiner theoreti­ schen Philosophie. Insoweit diese die weitere Argumentation stützen sollen, scheint es angezeigt festzuhalten, daß nicht behauptet werden kann, sie hätten sich als über jeden Zweifel erhaben erwiesen. Zunächst verweist Kant auf seine Lehre von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich. Sie besagt, auf ihren im vorliegenden Zusam­ menhang bedeutsamen Kern gebracht, wir könnten nur erkennen, was die Dinge für uns sind, d.h., wie sie uns erscheinen; hingegen seien sie "nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt"2, d.h. wir wüßten nicht, was sie an sich sind3: "von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie un­ sere Sinne affizieren•o4. Gemeint ist indessen nicht lediglich, wie es in diesen Zitaten scheint, die Dinge seien nach dem, was sie an sich sind, unerkannt, sondern, wie be­ reits bemerkt, sie seien unerkennbar. In diesem Sinne behauptet Kant in der Trans­ zendentalen Ästhetik, "daß uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt sein, und, was wir äußere Gegenstände nennen, nichts anders als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sein [ ... ], deren wahres Correlatum aber, d.i. das Ding an sich selbst, da­ durch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann"5• Gegen die traditionelle, etwa Lockesche, Lehre von Wärme, Farbe, Geschmack usw. - doch nicht Form, Aus­ dehnung, Bewegung - als sekundären Qualitäten wendet Kant ein, er "finde, daß noch mehr, ja alle Eigenschaften, die die Anschauung eines Körpers ausmachen, bloß zu seiner Erscheinung gehören"6• (Daß, wie man sagen könnte, alle Qualitäten "sekundäre" sind - womit deren Bezeichnung, die sie von primären unterscheidet, freilich ihren Sinn verliert -, war bereits das Resultat Berkeleys7; von daher rührt es, daß Kant einige Mühe hatte, sich nicht mit diesem verwechseln zu lassen8.) Wenn Kant ausführt, an sich käme einem Ding gar kein Prädikat zu, so insistiert er freilich: "die Existenz des Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht [ .. . ] aufgehoben"9• Hierzu 1 Kritik der praktischen Vernunft A 73ff. 2 Prolegomena A 63. 3 S. z.B. ebd. A 52f.: daß "wir aber auch die Objekte nur erkennen, wie sie uns (unsern Sinnen)

erscheinen können, nicht wie sie an sich sein mögen". Ebd. A 80: "Das Objekt bleibt an sich selbst immer unerkannt ". 4 Ebd. A 63. s Kritik der reinen Vernunft B 45. Vgl. die Feststellungen in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 106, daß "sie uns niemals bekannt werden können", und wir, "was sie an sich sind, niemals wissen können". 6 Prolegomena A 64. 1 George Berkeley: A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge §§ 10, 15. S. 45, 47. 8 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 70f., 274. Zum anfechtbaren Charakter besagten Bemühens vgl. Artbur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I. S. 514f. - Colin Murray Turbayne: Kant's Relation to Berkeley. 9 Prolegomena A 64.

Ding an sich und Erscheinung

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ist zu bemerken, daß, wenn man von etwas alle inhaltlichen Bestimmtheiten weg­ denkt, eben nur noch übrigbleibt, daß es ein Ding ist - und daran ist dann allerdings auch nichts mehr zu erkennen10; das Wesentliche hieran - nämlich betreffs der von Kant behaupteten unüberwindlichen "Grenzen der Vernunft"1 1 - ist aber, daß, wenn dergestalt von allen Eigenschaften eines Dinges abgesehen wird, bis nur noch die leere Dingheit übrigbleibt, es das Denken selbst ist, das sich diesen Stein in den Weg legt. "Die Dinge heissen an-sich, insofern von allem Seyn-für-Anderes abstrahirt wird, das heißt überhaupt, insofern sie ohne alle Bestimmung [ ... ] gedacht werden. In diesem Sinn kann man freylich nicht wissen, was das Ding-an-sich ist. Denn die Frage: was? verlangt, daß Bestimmungen angegeben werden; indem aber die Dinge, von denen sie anzugeben verlangt würde, zugleich Dinge-an-sich seyn sollen, das heißt eben ohne Bestimmung, so ist in die Frage gedankenloserweise die Unmög­ lichkeit der Beantwortung gelegt"12•

§ 18 Nun ließe sich freilich einwenden, diese Kritik, indem sie Kants These der Uner­ kennbarkeit des Dinges an sich angreife, überspringe völlig die subtile Unterschei­ dung Kants, man könne das Ding an sich zwar nicht erkennen, aber wohl denken: "Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen, wurde der spekulativen Vernunft alles Positive einer Erkenntnis mit völligem Rechte abgespro­ chen. - Doch leistete diese so viel, daß sie den Begriff der Noumenen, d.i. die Mög­ lichkeit, ja Notwendigkeit, dergleichen zu denken, in Sicherheit setzte, und z.B. die Freiheit, negativ betrachtet, anzunehmen, als ganz verträglich mit jenen G rundsätzen und Einschränkungen der reinen theoretischen Vernunft, wider alle Einwürfe ret­ tete, ohne doch von solchen Gegenständen irgend etwas Bestimmtes und Erweitern­ des zu erkennen zu geben, indem sie vielmehr alle Aussicht dahin gänzlich ab­ schnitt"13. Unleugbar trifft Kant also die Unterscheidung zwischen Denken und Er­ kennen. Der Hinweis auf sie richtet sich zugleich gegen die mit der Hegeischen Kri­ tik systematisch zusammenhängende Frage, wie Kant erkannt haben kann, daß die 1 0 Insofern ist Kants These ironisch Recht zu geben. 11

Logik A 25. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 128. Verkündigung des nahen Ab­ schlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie A 503: "um dieser [sc. der Vernunft) ihre Schranken vor Augen zu legen". Kant unterscheidet zwischen Grenzen und Schranken. Schranken sind bloße Negationen, Grenzen verweisen zugleich auf etwas Positives, und dieses besteht hier in den Noumena, den Dingen an sich selbst, die Kant zufolge als außerhalb der Erfahrung liegend noch ge­ dacht werden m üssen, ohne erkannt werden zu können. Für das Erkennen sind daher die Grenzen bloße Schranken . S. Prolegomena A 106, 164 - 170, 174f., 180 - 183. - Zur Kritik der Rede von Grenzen bzw. Schranken der Erkenntnis: Willard van Orman Quine: The Limits of Knowledge. 12 Hegel: Wissenschaft der Logik I. Ausg. 1832. S. 109. Ausg. 1812/13. S. 64, vgl. S. 331. Daß in die Frage die Unmöglichkeit der Beantwortung gelegt ist, kann auch so gezeigt werden: die Bestimmung, daß etwas " an sich" ist, ist formuliert als Kontrast zu der Bestimmung, daß es "für jemanden"' ist, meint also: ohne alle Relation (vgl. Kritik der reinen Vernunft B 164) - aber Erkenntnis ist eine Relation zwischen einem Subjekt und einem Gegenstand. 13 Kritik der praktischen Vernunft A 73, Hervorh. abweichend vom Original. S.a. die Bemerkung der "Kritik der reinen Vernunft" (B XXVI), daß wir "Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen , doch wenigstens müssen denken können"; vgl. ebd. A 155 ; B 194f.

34

Kapitel V

Erkenntnis nicht an das Ding an sich heranreicht, und daß es überhaupt eine Diffe­ renz zwischen Denken und Ding gibt: woher sollte der Gedanke wissen, daß das Ge­ dachte mehr ist als das, was er, der Gedanke, davon weiß? (Die Antwort wäre eben: ein Erkannthaben und Wissen werde gar nicht beansprucht.) Jener Einwand, der sich auf Kants Unterscheidung von Denken und Erkennen beruft, ist indes nicht durch­ schlagend. Zum einen impliziert das Zitat, das sie belegt, ja gerade die These der Unerkennbarkeit des Dinges an sich. Und es ist nicht zu sehen, wie sich an dem Ein­ wand gegen diese etwas ändern sollte, weil Kant vom Erkennen das Denken unter­ scheidet. Das, was an dieser Unterscheidung richtig ist, spricht gerade gegen Kant; während Kants eigentliche Pointe untriftig ist. Auch der vorgetragene Einwand un­ terschied sehr wohl zwischen Denken und Erkennen, indem nämlich darauf hinge­ wiesen wurde, daß, wenn man von etwas alle inhaltlichen Bestimmtheiten wegpenke, eben nur noch übrigbleibt, daß es ein Ding ist, und daß daran dann allerdings nichts mehr zu erkennen sei. Das Ding an sich ist ein Produkt des Denkens, in Gestalt des Abstrahierens, das soweit der Bestimmtheit entleert ist, daß es an ihm nichts mehr zu erkennen gibt14• Insofern gilt in bezug auf es die Unterscheidung von Denken und Erkennen, aber sie spricht nicht für Kant. Dieser, insofern er das Ding an sich nicht, wie dann Hege!, als ein Produkt der Abstraktion durchschaute, präzisierte den Kon­ trast, den er im Sinne hatte, als "denken, obgleich nicht a priori bestimmen"15• Da sich nun Dinge an sich, weil nie empirisch gegeben, nach Kant erst recht nie a poste­ riori bestimmen lassen, ließe sich der gemeinte Kontrast als "denken, aber nicht be­ stimmen" resümieren. Daß das Auszeichnende des für unmöglich erklärten Erken­ nens vor dem Denken die Bestimmtheit sei, war auch bereits in dem Argument aus dem Kapitel "Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft" in der Wendung "ohne doch von solchen Gegenständen irgend etwas Bestimmtes [ ... ] zu erkennen zu geben"16 angezeigt. Doch insoweit das Ding an sich gedacht wird, ist es durchaus bestimmt, und zwar, entgegen Kants Versicherung, Kategorien fänden, da nur auf Erscheinungen, auf das Ding an sich keine Anwendung, kategorial be­ stimmt: "Ebenso einfach aber ist die Reflexion, daß dies caput mortuum selbst nur das Produkt des Denkens ist, eben des zur reinen Abstraktion fortgegangenen Den­ kens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstande macht. Die negative Bestimmung, welche diese abstrakte Identität als Gegenstand er­ hält, ist gleichfalls unter den Kautischen Kategorien aufgeführt" - gemeint ist natür­ lich die unter den Kategorien der Qualität der verneinenden Urteilsform korrespon­ dierende Kategorie der Negation17 - "und ebenso etwas ganz Bekanntes wie jene leere ldentität"18• Insofern ist das angebliche "An sich" gar nicht "an sich", relations14 Daß es ein Resultat von Abstraktionen ist, ist freilich schon eine Erkenntnis des Dings an sich und in diesem Sinne gilt gegen Kants These von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich mit Hege!: "Man muß sich hiernach nur wundern, so oft wiederholt gelesen zu haben, man wisse nicht, was das Ding-an-sich sei; und es ist nichts leichter, als dies zu wissen" (Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 44 Anm. S. 121. Bezeichnenderweise fehlt hier die Fortsetzung der Ausg. 1827, S. 60: "Aber das Ding-an-sich erkennen, enthält allerdings eine weitere Foderung"). Vgl. Wissenschaft der Logik I. Ausg. 1832. S. 109. 1 5 Kritik der praktischen Vernunft A 54. 1 6 Ebd. A 73. 1 7 Kritik der reinen Vernunft A 80 B 106. 18 Hege!: Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 44 Anm. S. 121. Vgl. Ausg. 1827. S. 60. ·

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Ding an sich und Erscheinung

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los, sondern steht in Relation, ist "für jemanden": denjenigen, der es denkt. Die Be­ hauptung, das Ding an sich lasse sich denken, aber nicht erkennen, wobei die Diffe­ renz des letzteren zu ersterem in die Bestimmtheit gesetzt wird, ist nicht zu halten. Ohne alle Bestimmtheit wäre das Ding an sich - und schon die Bezeichnung be­ stimmt selbstverständlich - auch nicht zu denken. Denn auch Denken ist stets ein Be­ stimmen. Aller Unterscheidung zwischen Denken und Bestimmen entgegen ist Kant, soweit er seine Gedanken über das Ding an sich bekanntgegeben hat, dieser Einsicht gefolgt, und hat mit Bestimmungen nicht gegeizt. Nicht zuletzt trat zu den Katego­ rien, die später Hegel am Ding an sich entdeckte, in der Lehre vom "Kausal-Ver­ hältnis des Intelligibelen zum Sensibelen"19, diejenige der Ursächlichkeit. Und daß Kant sein Wissen, daß das Nichtsinnliche die Ursache des Sinnlichen ist, stets in Verbindung mit dem Anspruch behauptete, man könne von ihm nichts wissen: "Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt"20, ist ein Widerspruch, gegen den die Unterscheidung von Denken und Erkennen nichts aus­ richtet. Überdies hielt sich Kant schließlich auch deklariertermaßen nicht mehr an die Vorschrift des Verzichts aufs Bestimmen, insofern er "die herrliche Eröffnung, die uns durch reine praktische Vernunft vermittelst des moralischen Gesetzes wider­ fährt, nämlich die Eröffnung einer intelligibelen Welt"21 gerade im zitierten Argu­ ment aus dem Kapitel von der Deduktion der Grundsätze zum Anlaß für folgende Klarstellung nahm: "Dagegen gibt das moralische Gesetz, wenn gleich keine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärliches Faktum an die Hand, das auf eine reine Verstandeswelt Anzeige gibt, ja diese so gar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt"22• Es ist mithin Kant selber, der erklärte, das Programm, auf dem die in Frage stehende Kant­ Apologie beruhte, nicht durchzuführen.

§ 19 Die Fortsetzung des Arguments aus dem Kapitel über die "Deduktion der G rund­ sätze der reinen praktischen Vernunft" nimmt die im zuletzt angeführten Zitat ange­ kündigte positive Bestimmung vor. Die "reine Verstandeswelt", heißt es, sei in parte präsent, d.h. dem Menschen sei "etwas von ihr, nämlich ein Gesetz" "an die Hand" 'gegeben'. Gemeint ist "das moralische Gesetz". Dieses, so Kant, ist "Grundgesetz" der "übersinnlichen Natur", der "reinen Verstandeswelt"23• Die "Verstandeswelt", als 19 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 101. Hinsichtlich des kategorialen Charakters dieser Be­ stimmung vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 8. Der Einwand ist geläufig, das Ding an sich sei Ursa­ che in einem ganz anderen Sinne als dem der Kategorie. Doch dann würde man wissen wollen, was daran anders ist; dies ohne Bezugnahme auf Kategorien anzugeben, dürfte schwerfallen. (S.a. Justus Hartnack: Categories and Things-in-Themselves.) Allerdings ist eine Entscheidung dieses Streitpunkts für die vorliegende Argumentation nicht essentiell. "' Kritik der reinen Vernunft A 494 B 522. 21 Kritik der praktischen Vernunft A 168. Vgl. A 190. 22 Ebd. A 74. Vgl. A 87f. 23 Ebd. A 74f. =

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Kapitel V

"Ursache"24 der "Erscheinungswelt", d.h. genauer, ihr "Grundgesetz", "das moralische Gesetz", müßte demnach das Prinzip der Wirklichkeit sein. Daß dies gemeint ist, er­ fährt nachdrückliche Bestätigung. Denn Kant bemüht das platonische25 Verhältnis von archetypos und ektypos. Auf ihm ruht Pathos. Denn es bedeutet nichts gerin­ geres, als daß die Moral als das wahre Wesen der Welt, als die Wirklichkeit hinter der Erscheinung behauptet wird. Die Präposition "hinter" ist freilich zweideutig: sie kann die Wirklichkeit als eine hinter der Erscheinung verborgene, oder als eine die Erscheinung bestimmende charakterisieren. Letzteres ist gemeintz6• Die Qualität des Archetypischen ist bei Kant, der hiermit den Platonismus durch die christliche Theologie der Schöpfung überbietet, Prädikat des göttlichen Intellekts, der, indem er sich seiner bewußt wird, die mundanen Gegenstände ihrer Wirklichkeit nach schafft27• Der Platonismus, daß die Erscheinung nicht dem Wesen entspricht, gilt nur für den "intellectus ectypus", nicht für den "intellectus archetypus"28• Dem letzteren erscheint alles so, wie es an sich ist. Die spektakuläre Wendung, in welcher Kant der Moral die Qualität des Archety­ pischen zediert, scheint nun, ohne daß man lange zu suchen hätte, eine plausible Er­ klärung zu finden. Denn der Abschnitt, in dem sie sich findet, ist überschrieben mit: "Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft"29• Kant kün­ digt hiermit an, in ihm eine Begründung des Sittengesetzes, d.i. eine "Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gültigkeit"30 zu liefern. Und wenngleich der zi­ tierte Passus nicht die Deduktion der G rundsätze der reinen praktischen Vernunft darstellt, nimmt sich die Angelegenheit doch so aus, daß er sie in entscheidender Weise vorbereitet. Denn die Konstruktion, die er anbietet, scheint eine klare Ant­ wort auf die Frage, warum die Welt sich überhaupt an das Prinzip der Moral halten solle, zu gewährleisten, nämlich: weil es ihres ist. Dieser Gedanke: daß "die Verstan­ deswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält'm, exeku­ tiert das Verfahren einer "metaphysischen Letztbegründung"32 der Moral. So wenig eingängig Kants Beweisführung im einzelnen ist, so schlicht ist die Intention, aus der sie sich speist. Sie beruht auf dem Bewußtsein, eine Moralbegründung könne sich nicht in der Auskunft erschöpfen, die Welt sei unmoralisch, sie solle aber moralisch 24

Kritik der reinen Vernunft A 494 B 522. Vgl. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton A 391f. Der Streit der Fakultäten A 155. ­ S.a. Kari-Heinz Ilting: Der naturalistische Fehlschluß bei Kant. S. 124. 26 Vgl. Kritik der Urteilskraft A 204f. B W7. v S. bereits De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis A 12. - Kritik der Urteilskraft 2 A 344 347 B 349ff. ,. Kritik der Urteilskraft A 346f. B 351. "' Kritik der praktischen Vernunft A 72. 30 Ebd. A SO. 31 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 111. (S.a. AB 123. Vgl. § 14.) Man kann hierin ein Resümee der beiden ersten Kritiken sehen: Anthony C. Genova: Kant's Transeendental Deduction of the Moral Law. S. 307. 32 Ludwig Siep: Wozu Metaphysik der Sitten? S. 31. In diesem Sinne trifft es zu, daß in Kants Lehre von "der metaphysischen Natur des Menschen [ ... ) der Kern der kritischen Ethik liegt'" (Max Laupichler: Die Grundzüge der materialen Ethik Kants. S. 98). - Selbstverständlich sind die letzten Gründe identisch mit jenen ""ersten Gründen"' des "Pflichtbegriffs", denen Kant in der "Metaphysik" "nachzuspüren" (Metaphysik der Sitten Tugendlehre A V) sucht; je nachdem, wo man anfängt, ist das Erste das Letzte oder das Letzte das Erste. =

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sein; der Anspruch einer solchen Begründung müsse vielmehr der Aufweis sein, die Welt sei mit sich im Widerspruch, wenn sie unmoralisch ist. Das aber setzt voraus, daß die Moral ihr Wesen ist; weshalb auch sonst sollte sie sich ihrer Unmoralität schämen? Insofern ist es konsequent, daß Kant das platonische Modell bemüht; nur weil dies geschieht, erscheint die moralische Forderung überhaupt von Belang. Zugleich aber enthält dieser Übergang in seinem Verhältnis zu der Feststellung der realen Unmoralität, die in der moralischen Forderung, dem Standpunkt des Sollens33, vorausgesetzt ist, einen fundamentalen Widerspruch. Dies und jenes zusammenge­ nommen: 'Die wirkliche Welt richtet sich nicht nach ihrem Gesetz (der Moral)', be­ sagt, sobald es eingeräumt ist, so viel wie das Eingeständnis: 'Das, was ich - der Me­ taphysiker - als ihr Prinzip herausgefunden habe, ist nicht ihr Prinzip'34• Mit Hege! zu reden: Das Wesen ist selbst der wesentliche Inhalt der Sache, deren Wesen es ist35, oder es ist eben nicht das Wesen dieser Sache36• Kant liefert Behauptung und De­ menti auf einen Schlag. Einerseits sagt er der Moral die Qualität des Archetypischen nach, das Prädikat des intuitus divinus, der die Dinge schafft, indem er sie schaut. Die Erscheinungswelt soll von einer Sphäre dependieren, deren Gesetz Moral ist; auch für jene, als "Natur", gilt das "Gesetz", das "Autonomie" ihr diktiert37• Anderer­ seits ist dem offenkundig nicht so. Das an sich Gute steht einer ihm nicht entspre­ chenden Welt und einer Natur gegenüber, die ihre eigenen Gesetze der Notwendig­ keit hat und gegen die Gesetze der Freiheit gleichgültig ist. Denn Kant beklagt, die reine Vernunft werde nicht von "dem ihr angemessenen physischen Vermögen be­ gleitet"38, so daß das letztere als gegen sie selbständige Macht auftritt, nachdem un­ mittelbar vorher behauptet war, dergleichen, als etwas in der "Sinnenwelt", sei Er­ scheinung der "reinen Verstandeswelt". Erscheinungen sind nach Kant aber "bloße Vorstellungen"39• Von der "intelligible[n] Ursache", dem moralischen Ansieh, heißt es einerseits, daß "ihre Wirkungen erscheinen'o4°, andererseits aber, daß sie "nicht ihre 33 ''Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt als einer sinnlichen Natur (was die vernünftigen Wesen be­ trifft), die Form einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichen Natur verschaffen ( ... ). Das Gesetz die­ ser Autonomie aber ist das moralische Gesetz; welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Na­ tur und einer reinen Verstandeswelt ist, deren Gegenbild in der Sinnenwelt ( ... ) existieren soll" (Kritik der praktischen Vernunft A 74f. Hervorh. abweichend vom Original). Das intelligible Moralgesetz, als ein Intelligibles, behauptet sich selbst als das Ansich der Erscheinungen, die ihm aber immerzu nicht entsprechen - erst entsprechen sollen . 34 Darum zerrinnt Kant der Indikativ der metaphysischen Notwendigkeit zum Konjunktiv: "Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobei man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genannten empirischen Bedingungen, anders habe bestim­ men können" (Kritik der reinen Vernunft A 555 B 583), was Ross exakt treffend kommentiert: "But if reason has not in fact been operative, the phenomenal conditions are not the appearances of anything noumenal at all, and the doctrine that every phenomenon is the appearance of a noumenon goes by the board" (Kant's Ethical Theory. S. 83) das angebliche Prinzip der Phänomene ist nicht ihr Prinzip. 35 Wissenschaft der Logik li. S. 34. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. S. 96. Dass. III. S. 501. 36 Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. S. 37. Auf Kants Lehre von der Moral bezogen: Phänomenologie. S. 330. 37 Kritik der Urteilskraft A XXX V B XXXV II. 38 Kritik der praktischen Vernunft A 75. Vgl. A 224. B 521. Ebenso A 494 B 523. B 164: "Erscheinungen sind nur 39 Kritik der reinen Vernunft A 493 Vorstellungen von Dingen". 40 Ebd. A 537 B 565. =

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Kapitel V

Wirkung in Handlungen äußert, weil subjektive Ursachen (pathologische) sie hin­ dern"4\ was erscheint, soll ihre Wirkung, zugleich aber in nichts als die ihre identifi­ zierbar sein. Weil Kant von den beiden Seiten seines Gedankens gleichermaßen überzeugt war - von der objektiven metaphysischen Notwendigkeit der Moral als einer "natura archetypa" wie von ihrem objektiven Mangel -, suchte er der Welt, nicht nur in dem zitierten Argument, zu bringen, was sie so dringend braucht, weil sie es längst hat: "eine solche [sc. eine Metaphysik der Sitten] zu haben, ist selbst Pflicht, und jeder Mensch hat sie auch"42. Kant wollte Metaphysik, in Gestalt seiner Zweiweltenlehre, für die Moral bürgen lassen - indem er aussprach, was die Welt für ein Prinzip hat, sollte gesichert sein, daß sie sich danach richten müsse. Doch statt daß die Metaphy­ sik so ihr Beweisziel - die Moral - erreichte, desavouiert das Beweisziel: zu sagen, was sein soll und nicht ist, den Anspruch der Metaphysik, zu sagen, was ist. So ist diese in Frage gestellt, während jene so unbegründet dasteht wie bevor man ihr die metaphysische Krücke lieh. Gewiß sah Kant zugleich die Eigenschaft des Moralprin­ zips, daß es in der Welt nicht gilt, nicht als Einwand gegen dieses - und damit gegen sich selber - an; er war bereit, einzuräumen: Die Welt gehe nicht nach der Moral43. Doch sei dies nicht um so schlimmer für die Moral. Die Sache liege dann nämlich nicht so, daß er bei der theoretischen Erklärung der Welt leicht daneben getroffen hätte; sondern: ein Sollen sei eben etwas ganz anderes als eine Behauptung. Dieser Ausweg steht jedoch nur offen, wenn dem Moralprinzip nicht vindiziert wird, es sei das Gesetz des Wesens der Welt; sodann ist es logisch unproblematisch, daß es in der Welt nicht gilt. Freilich wäre, von Kants Prämissen aus gedacht, dann auch nicht einzusehen, weshalb die Welt sich irgend Mühe geben sollte, sich nach ihm zu rich­ ten. Gerade darum hatte ja die Antwort auf die Frage, weshalb die Welt ihm Gehor­ sam leisten solle, gelautet: Weil es ihres ist. Damit ist aber jener Ausweg verschlos­ sen.

4 1 Kritik der praktischen Vernunft A 140. "Pathologisch" bedeutet bei Kant nicht "krankhaft", sondern charakterisiert die Bestimmungen der empirischen Subjektivität wie Empfindung, Gefühl, Bedürfnis, Neigung usw. Vgl. § 12. 42 Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 10f. B 372. 43 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 25f. Vgl. Kririk der reinen Vernunft A 315 =

KAPITEL VI

Transzendentale Korrelation und moralischer Antagonismus § 20 Allerdings ließe sich der im vorigen Paragraphen artikulierten Kritik entgegenhalten, sie sei irregeleitet durch die von Kant veiWendete platonische Metapher - denn um mehr als eine solche handele es sich nicht -; was Kant tatsächlich gemeint habe, sei etwas sehr Schlichtes, nämlich: daß am Menschen eine Konkurrenz zwischen morali­ scher Vernunft und sinnlichen Neigungen statthabe1• Dies sei doch einmal eine so­ lide Einsicht, die man sich durch Spitzfindigkeiten nicht werde zerreden lassen. Nun ist nicht zu leugnen, daß Kant mit seiner Zweiweltenlehre auch auf etwas von jener Art hinauswollte. Aber indem er mit seiner Zweiweltenlehre auf das eiWähnte Kon­ kurrenzverhältnis: "Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft (antagonismus)"2 hinauswollte, ist schwer zu sehen, wie er den Einwänden gegen diese Lehre entgeht. Die "Vorschrift der Vernunft" ist das moralische Gesetz. Dieses aber ist Kant zufolge "das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt"3, mithin der intelligiblen Sphäre. "Neigungen" hingegen gehören nach Kant der Sphäre des Empirischen, Sensiblen: "der Sinnenwelt"4 an. Die " Verstandeswelt" ist im Verhältnis zur "Sinnenwelt" eine solche, "die ihr zum Grunde liegt"5, wie entsprechend das intelligible Ich im Verhältnis zum empirischen nach Kant ein "zum Grunde Liegendes"6 ist. Nun ist ein Gegeneinander von Grund und dem, wovon er Grund ist, an sich schon kein ohne weiteres nachvollziehbarer Ge­ danke; er würde mindestens weiterer Erläuterung bedürfen, damit man verstünde, in welcher Form derlei stattfinden könne. Indem Kant aber das Verhältnis des Zugrun­ deliegens, das "Kausal-Verhältnis des Intelligibelen zum Sensibelen"7, näher be­ stimmt, entzieht er selbst dieser schwachen Konzession die Grundlage. Die Erschei­ nungswelt soll gar nichts gegen die intelligible Welt Selbständiges sein, nur deren Er­ scheinung. Erscheinungen sind "nicht an sich etwas, sondern bloße Vorstellungen"8• Das Ding an sich ist demgegenüber deren "intelligibele Ursache", d.h. "die nichtsinn­ liche Ursache dieser Vorstellungen"9• Daß es so verstanden wird, ist ihm wesentlich. Dies hat folgenden Grund: Der Beweis für die Nötigkeit seiner Einführung, die Lehre des transzendentalen Idealismus, läßt sich dahingehend resümieren, daß es

1 S. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 23, Kritik der praktischen Vernunft A 130, 134.

2

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 58. Kritik der praktischen Vernunft A 74f. 4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 110: "Neigungen, als zur Sinnenwelt gehörig". 5 Ebd. AB 106. Vgl. Prolegomena A 169: "Die Sinnenwelt [ .. ) bezieht sich also notwendig auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält", nämlich auf "Dinge an sich selbst". 6 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 107. B 7 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 101. Die "Ursache" (Kritik der reinen Vernunft A 494 522), "hinter den Erscheinungen" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 106), von der diese mithin abhängig seien, sind nach Kant "die Dinge an sich" (ebd.). 8 Kritik der reinen Vernunft A 494 B 522. 9 Ebd. 3

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Kapitel VI

"hinter den Erscheinungen"10 Dinge an sich geben müsse, deren Erscheinungen die Erscheinungen eben sind: "Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint"u. Nun behauptet Karrt, wie zu Recht bemerkt wurde, eine Konkurrenz des Empirischen mit dem Intelligiblen. Doch indem er das von ihm supponierte "Kausal-Verhältnis des Intelligibelen zum Sensibelen"12 in der angegebenen Weise interpretiert, desavouiert Karrt den Gedan­ ken der Konkurrenz; wie eine Erscheinung, qua Vorstellung, mit dem, wovon sie Er­ scheinung ist, im Kampf liegen kann (und Karrt definiert "Tugend, d.i. moralische Ge­ sinnung im Kampfe "13, als eine ideelle Technik des Menschen, in Gestalt seiner bei­ den lebe, sich selbst zu bekriegen), ist nicht einzusehen14• Wenn jemand einem ande­ ren durch gelbes Glas hindurch ganz in dieser Farbe erscheint, so wüßte man nicht zu sagen, was es heißen könnte, daß diese Erscheinung, die jemand hat, mit dem, wovon sie Erscheinung ist, dem wirklichen Menschen hinter der Glasscheibe, im Kampf liegen könnte. Gewiß ist das ein naives Bild, aber diese Naivität ist nicht der Gmnd dessen, daß man nicht zu sagen weiß, was jene Bemerkung heißen könnte - sie illustriert nur besonders anschaulich, daß dem so ist -; der Grund liegt vielmehr in dem Allgemeinen, daß es sich überhaupt um ein Verhältnis einer "Erscheinung"15 zu dem, "was da erscheint"16, handelt. Insofern ist hiergegen auch nicht Kants Be­ schwerde zu berufen, daß man seine Lehre vom Ding an sich "verdirbt", wenn man "dieses Unsichtbare sich bald wiederum versinnlicht"17• Versinnlicht, nämlich illu­ striert, wird im gegebenen Beispiel nicht das "Ding an sich", sondern der Gedanke, daß es keinen Zusammenstoß zwischen einer Erscheinung und dem, wovon sie Er­ scheinung ist, geben kann; dem ist gerade so, weil sie auf verschiedenen Ebenen lie­ gen - was das Beispiel treffend vorführt. Eben weil die Erscheinung eines Mannes hinter einer gelben Glasscheibe nicht noch ein weiterer Mann ist, bedeutet die An­ nahme einer Kollision mit ihr einen Ungedanken. Die prinzipielle Differenz ist mithin gerade beachtet.

§ 21 Freilich könnte man einwenden, Kants Zweiweltenlehre beziehe sich wohl auch auf ein Verhältnis zwischen einer Erscheinung und etwas, wovon sie Erscheinung ist, 10

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 106. Kritik der reinen Vernunft B XXVIf. Ebd. A 25 1f. führt Kant aus, daß, "wo nicht ein beständiger Zirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf etwas anzeigt", das in ihr erscheint: "es folgt auch natürlicher Weise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt, daß ihr etwas entsprechen müsse, was an sich nicht Erscheinung ist". Ä hnlich A 537 B 565. Vgl. die Bemerkung Prolegomena A 171, daß "Erscheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen, und also darauf Anzeige tun". 12 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 101. 13 Kritik der praktischen Vernunft A 151. Vgl. Refl. 3872. Akad. XVII. 320. 14 William David Ross: Kant's Ethical Theory. S. 81: "there cannot be a conflict between what a man is and what he only seems to be". 15 Kritik der reinen Vernunft B XXVIf. 16 Ebd. B XXVII. 17 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 107. 11

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aber auf eines ganz anderer Art. Die naheliegendste Replik wäre, wieso es dann überhaupt noch so genannt würde; wenn von Erscheinungen die Rede sei, müßten sie doch irgendetwas gemeinsam haben mit dem, was sonst, etwa in dem gegebenen Beispiel, "Erscheinung" genannt würde. Indessen ließe sich antworten, sie hätten wohl etwas gemeinsam, aber nicht das, worauf es hier ankäme, mithin nicht die für das Argument entscheidende Eigenschaft. Aber diese Antwort ist falsch. Genau die Eigenschaft, auf die es ankommt, ist dem, wovon Kant redet, und dem, wovon das Argument gegen ihn spricht, gemeinsam. Was das Verhältnis der Erscheinung zu dem, wovon sie Erscheinung ist, anlangt, so war in dem Argument, das sich durch das Bild von einem, der anderen hinter gelbem Glas erscheint, erläuterte das entschei­ dende dies: daß nicht das eine - die Erscheinung - ein vom anderen - dem, wovon sie Erscheinung ist - unabhängiges Dasein hat. Hätte sie ein solches, wäre ein Konkur­ renzverhältnis schon vorstellbar. Es handelt sich bei der gelben Erscheinung aber nicht um etwas, das unabhängig von dem Mann, wie er an sich ist, ihr Wesen treibt, und ihm etwa ins Gehege kommen könnte, sondern - und dieser Sinn ist für das Ar­ gument entscheidend: aus ihm folgt das Resultat, es könne keinen Kampf zwischen einer Erscheinung und dem, wovon sie Erscheinung ist, geben - nur um einen beson­ deren Gesichtspunkt auf diesen seihen Mann. Dieser Sinn - daß es sich um eine An­ gelegenheit des Gesichtspunkts, des Aspekts handelt - ist aber der Kantische; ein Subjekt hat nach Kants Verwendung der Ausdrücke "phänomenal" und "noumenal" unter diesen Titeln nichts anderes als "zwei Standpunkte, daraus es sich selbst be­ trachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein"18• Diese These der zwei Standpunkte ist aber kein unwesentliches Moment der Kantischen Philosophie, das sich nach Belieben ablösen ließe; nur weil es sich ledig­ lich um zwei verschiedene Gesichtspunkte auf dasselbe handelt, kann unter Kants Prämissen überhaupt von Freiheit die Rede sein19• (Kant basiert seine Argumenta­ tion auf die aus der philosophischen Tradition geläufige Strategie der Auflösung ei­ nes Widerspruchs durch Unterscheidung verschiedener Hinsichten.) So nötig aber der Gedanke für Kants System auch sein mag, so unvermeidlich produziert er den bereits herausgehobenen Widerspruch. Es ist der Widerspruch, daß etwas zu etwas anderem in Gegensatz geraten soll, obwohl doch, wie Kant zur gleichen Zeit hervor­ hebt, das eine nur die Erscheinung des anderen, und das andere nur das Ansich des einen ist. Er nimmt nun die modifizierte Gestalt an, daß etwas in einen Antagonis­ mus zu etwas anderem kommen soll, obwohl beides, als "homo phaenomenon" und "homo noumenon", nicht zwei Dinge, die einander entgegenstehen könnten, sondern nur zwei Gesichtspunkte ein und desselben sein sollen. {Insofern geht die übliche Apologie, Kant konzipiere in seiner Rede von "zwei Welten" näher besehen doch nur zwei Gesichtspunkte auf ein und dieselbe Welt20, gerade weil dies zutrifft, in ihrer apologetischen Absicht in die Irre. Ebenso bleibt die nicht minder gängige Kant-Kri18

Ebd. AB 108f. Vgl. ebd. AB 115f. "' Herber! James Paton: Der kategorische Imperativ. S. 284, 346. 19

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Kapitel VI

tik, in ihrer Gestalt als Zweiweltenlehre leiste sich die Transzendentalphilosophie eine unrechtmäßige Hypostasiemng dessen, was als zwei Aspekte eines Identischen zu unterscheiden sehr wohl sinnvoll sei, inkonsequent: gewiß ist die Trennung zweier Welten aporetisch, doch die Lehre von den zwei Aspekten des Seiben ist es auch.) Als schlichter Moralist sieht Kant im Menschen eine Konkurrenz von Gutem und Bösem am Werke. Den hiermit thematisierten, spezifisch skrupulösen Aspekten des moralischen Bewußtseins hat seine Theorie Rechnung zu tragen. Als metaphysischer Moralist, der dem Subjekt seine Botschaft mit dem Argument ans Herz legen möchte, daß die Moral sein Wesen sei, hat Kant indes den Ehrgeiz, Moral und Un­ moral auf Ding an sich und Erscheinung zu verteilen. So zerlegt er das Subjekt in seine "bessere Person" qua "Gliedes der Verstandeswelt" und "seinen bösen Willen" qua "Gliedes der Sinnenwelt"21• Doch verteilen sich Gutes und Böses dergestalt auf an sich seiendes Ich und dessen Erscheinung, so ist das Böse in Wahrheit die Er­ scheinung des Guten, nicht seine Konkurrenz. Und bezogen auf den Begriff der Frei­ heit folgt aus der Zweiweltenlehre, daß der Mensch, und überhaupt alles, immer frei und autonom ist, und immer unfrei und heteronom erscheint22 • Niemals aber kann aus ihr folgen, daß, wenn es einem um ein Objekt geht, man unfrei ist, dagegen, wenn es einem um Pflicht geht, man frei ist - worauf Kant erklärtermaßen hinaus­ will23. Während der mit dem Sittengesetz verknüpfte Anspruch, sich die ihm nicht entsprechende Erscheinung gemäß zu machen, eine wirkliche Opposition voraussetzt, besagt die transzendentalphilosophische Schlichtung der dritten Antinomie der rei­ nen Vernunft, daß eine bloße Scheinopposition zwischen Sittengesetz und Naturge­ setz besteht, die eben durch die Unterscheidung von Erscheinung und Intelligibilität auszuräumen sei. - Legt man den behaupteten Widerspruch präziser in seine ver­ schiedenen Seiten auseinander, so ist er folgendermaßen zu formulieren: erstens löst Kant die Freiheitsantinomie im Sinne der Vereinbarkeif von Freiheit und Determi­ nismus24, zweitens bestimmt er "Freiheit" und "Autonomie" als "Wechselbegriffe"25, wie er andererseits "Heteronomie" und "Naturnotwendigkeit" einander gleichsetzt26, 21

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 113. William David Ross: Kant's Ethical Theory. S. 81: "lf the theory of noumena and phenomena be taken seriously, it means that man is really entirely a member of the noumenal order, always seeing his duty and always doing it by a free undetermined act, whereas he always seems to be determined by the desire for pleasure". 23 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88. Kritik der praktischen Vernunft A 52, 58. 24 Kritik der reinen Vernunft A 537 ; B 565: "Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur angesehen werden". Ebd. A 539 ; B 567: "da würden wir an einem Subjekte der Sinnenwelt erstlieh einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen, als Erscheinun· gen, durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen, und von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden könnten, und also, mit diesen in Ver· bindung, Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten. Zweitens würde man ihm noch einen intelligiblen Charakter einräumen müssen, dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Er· scheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Er· scheinung ist". Kritik der praktischen Vernunft A 180: "daß das intelligibele Subjekt in Ansehung einer gegebenen Handlung noch frei sein kann, obgleich es als Subjekt, das auch zur Sinnenwelt gehörig, in Ansehung derselben mechanisch bedingt ist". Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 1 15, 117. 25 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 104f. Vgl. AB 98. "' "Die Naturnotwendigkeit war eine Heteronomie der wirkenden Ursachen" (ebd. AB 98. Vgl. AB 22

1 09 ) .

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drittens aber charakterisiert er Autonomie und Heteronomie als einander ausschlies­ send: Autonomie statt Heteronomie ist das Pathos der Kantischen Moralität. Der Kontrast, den der dritte dieser Gedanken proklamiert, fiele hinweg, wenn zufolge der ersten beiden Gedanken, mithin zufolge der Lehre der zwei Standpunkte, in der Kant sie resümiert27, einer unvermeidlich immer in einer Hinsicht autonom, in ande­ rer heteronom wäre, oder, exakter: wenn er stets an sich autonom wäre, und zugleich immer heteronom erscheinen würde. Denn zufolge der ersten beiden Gedanken muß, wo immer etwas erscheint, Intelligibilität, ergo Freiheit, ergo moralische Auto­ nomie "hinter den Erscheinungen"28 stehen, da andernfalls "der ungereimte Satz" fol­ gen würde, "daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint"29• Die Alternative von Autonomie und Heteronomie, die Kant suggeriert, wenn er davon spricht, ent­ weder bestimme das Subjekt sich selbst zur Handlung, oder es werde vom Objekt be­ stimmt30, bestände in keinem der beiden Fälle.

§ 22 Der Einwand gegen Kant enthält ein Moment, das noch besonders herauszuarbeiten ist. Wenn die Zweiweltenlehre gilt, ist alles in einer Hinsicht frei, in anderer unfrei, und was immer moralisch qualifiziert sein mag, kann sich in dieser Hinsicht durch nichts vor anderem, dem diese Qualifikation abgeht, auszeichnen31• Das Argument der "Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen Vernunft" bestätigt diese Bemerkung. Ihm zufolge "ist die übersinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihr machen können, nichts anders, als eine Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Das Gesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Gesetz; welches also das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstan­ deswelt ist"32• Da schlechthin alles einerseits an sich ist, andererseits aber erscheint, wäre auch alles einerseits autonom und frei, insofern es an sich ist, andererseits aber heteronom, unfrei und bedingt, insofern es erscheint. Auch hinter jedem Gewitter müßte man einen intelligiblen Akt, von, gemäß dem Grundgesetz der intelligiblen Welt, moralischer Dignität vermuten. Diese Aporie ist bei Kant unverkennbar vor­ gezeichnet. In der Erkenntnistheorie bedeutet Ding an sich soviel wie: unbekannter Vorstellungserreger. Sie setzt den "Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen", wie Kant sagt, "in etwas Übersinnlichem [ ... ], was jenen zum Grunde liegt und wovon wir kein Erkenntnis haben können. Sie sagt: Die Gegenstände, als Dinge an sich, geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungs­ vermögen, seiner Sinnlichkeit gemäß, zu bestimmen)"33• Es handelt sich um Quasin

Ebd. AB 108f. Ebd. AB 106. 29 Kritik der reinen Vernunft B XXVIf. 30 Vgl. §§ 30, 32 - 35. 3 1 Dieser Befund gleicht formal dem von Simmel an der Leibnizischen Monadenlehre entwickelten, dieser entgleite, indem sie alles als radikal individuiert vorstelle, das Spezifische der Individualität von Wesen, die "Ich" von sich sagen können (Einleitung in die Moralwissenschaft S. 144f.). 32 Kritik der praktischen Vernunft A 74f. 33 Ü ber eine Entdeckung AB 56. 28

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Kapitel VI

Objekte - "Quasi" darum, weil der Begriff des Objekts für Erscheinungen steht, für etwas, in das bereits konstituierende Leistungen der Subjektivität eingegegangen sind -; sie sind zwar nicht Objekte, doch stehen sie hinter diesen, hingegen der Subjektivität gegenüber, die von ihnen affiziert wird. Als Resultat der Kritik beansprucht Kant, daß sie "das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst"34• Und zwar "können wir die bloß intelligibele Ursache, der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert"35• In der Moralphilosophie jedoch figuriert das Ding an sich als intelligibles Ich, das Quasi-Objekt als Subjekt, und die intelligible Welt, die das Subjekt "affizierende" Ursache der Erscheinungen wird apostrophiert als ein "Reich Gottes"36, d.h., im Zuge der Kantischen Moralisierung des Religiösen37, als Inbegriff moralischer Subjektivität38• "Denn, so lange man sich noch keine bestimmte Begriffe von Sittlichkeit und Freiheit machte, konnte man nicht erraten, was man einerseits der vorgeblichen Erscheinung als Noumen zum Grunde legen wolle, und andererseits, ob es überall auch möglich sei, sich noch von ihm einen Begriff zu machen"39. Die Umdeutung des Dinges an sich vom unbekannten Vorstellungserreger zum Inbegriff moralischer Subjektivität vollzieht Kant durch eine Bedeutungsverschie­ bung an dem Wort "intelligibel". Gemeint ist damit zunächst, das Ding an sich könne nicht mit Hilfe der Sinne erkannt, sondern nur gedacht werden40• Dabei ist das Ding an sich nicht etwas, das denkt, sondern etwas, das gedacht wird. Der Sinn ist passi­ visch : das Ding an sich ist, wenn überhaupt diese Ausdrücke in diesem Zusammen­ hang passend wären, Objekt, nicht Subjekt des Denkens. Kant geht jedoch, den ge­ ringen Unterschied im Lautbestand der Worte ausbeutend, dazu über, die Sphäre des Ansich als eine "intellektuelle Welt"4 1 zu bezeichnen: als eine Welt, die im aktiven Sinne intelligent ist. Durch die scheinbar unerhebliche Verschiebung von "intelli­ gibel" zu "intellektuell" wird das Quasi-Objekt nun als eine Sphäre der Subjektivität, als "das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst"42 ausgegeben. Dabei geht Kant in bezug auf dieses nicht von dem Ausdruck "intelligibel" ab: er gedenkt nicht, eine Unterscheidung von "intellektuell" und "intelligibel" kenntlich zu machen, sondern führt ersteres als bloße Verdeutlichung des letzteren ein. Die Ambiguität 34 Kritik der reinen Vernunft B XXVII. " Ebd. A 494 B 522. 36 Kritik der praktischen Vernunft A 125, 230, 232, 235, 246. 37 Vgl. § 1. 38 "[D)er moralisch vollkommenste Wille" (Kritik der reinen Vernunft A 810 B 838), d.i. "die Bestimmung der göttlichen Existenz, als unabhängig von allen Zeitbedingungen, zum Unterschiede von der eines Wesens der Sinnenwelt, [ist) als die Existenz eines Wesens an sich selbst, von der eines Dinges in der Erscheinung zu unterscheiden" (Kritik der praktischen Vernunft A 182) . Ad usum delphini: "Unser Wissen enthält teils Gegenstände, welche wir durch sinnliche Wahrnehmungen erkennen, teils aber Gegenstände, die in dem Geist selbst ihren Grund haben. Jene machen die sinnliche, diese die intelligible Welt aus. Die rechtlichen, sittlichen und religiösen Begriffe gehören zur letzteren" (Hege!: Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse. Einleitung § 2. S. 204). 19 Kritik der praktischen Vernunft A 10f. "' Vgl. § 18. " Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 107. '2 Ebd. AB 119. ;

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des lateinischen "intelligibilis" als einerseits "denkbar" ("etwas, das gedacht werden kann") und andererseits "denkfähig" ("etwas, das denken kann") wird so zur Esels­ brücke eines metaphysischen Gedankengangs von größter Tragweite. Statt als eine Welt, auf die sich der Verstand, bloß sie denkend, nicht erkennend, bezieht, figuriert der "mundus intelligibilis" am Ende als eine, die Verstand (bzw. Vernunft) hat. Indem Kant die beiden nicht bloß fundamental verschiedenen, sondern unvereinbaren Deu­ tungen, statt mindestens eine von ihnen zu verwerfen, miteinander konfundiert, ver­ schwindet jedes Kriterium, an dem abzulesen wäre, was unter dem Titel des Intelli­ giblen als frei ausgezeichnet werden soll. Der doch wohl intendierte Gedanke der Lehre vom intelligiblen Ich, Subjektivität sei der Ort der Freiheit, die keinem Dingli­ chen im selben Sinn zukommen könne43, zerrinnt an dem Umstand, daß das Intelli­ gible, was nirgends zurückgenommen wird, ja für das der Subjektivität gegen­ überstehende und sie affizierende Ding, wie es an sich selbst ist, steht.

§ 23 Doch diese Argumentation scheint sich platterdings durch Nachlässigkeit bei der Lektüre zu erklären. Denn gegen sie läßt sich nicht nur einwenden, auch die "Kritik der reinen Vernunft" kenne das Ding an sich als Subjekt, etwa in der Lehre von der Selbsterkenntnis44• Ihr kann auch entgegengehalten werden, die erste Kritik führe bereits das Ding an sich in seiner moralischen Bedeutung an45• Ginge es um die Fak­ tenfrage, was in welchen Büchern steht, so wäre der Einwand zweifellos durchschla­ gend. Und tatsächlich enthielt das zuvor entwickelte Argument in dieser Hinsicht einen falschen Akzent. Nicht die philologische Frage, in welchen Schriften Kant von welcher der beiden Bedeutungen des Ausdrucks Ding an sich: unbekannter Vorstel­ lungserreger einerseits, Inbegriff moralischer Subjektivität andererseits, Gebrauch macht, kann Gegenstand der Auseinandersetzung sein, soweit sie denn systematisch interessant ist. Freilich könnte man versuchen, dem zugunsten Kants vorgebrachten Bedenken auch eine systematische Pointe abzugewinnen: das Ansich eines Subjekts sei freie moralische Subjektivität, das Ansich eines Objekts unbekannter Vorstel­ lungserreger, und so reime sich beides wohl zusammen. Nun bleibt es freilich be­ merkenswert, daß Kant am Anfang der zweiten Kritik die Lehre von der Moralität des Willens als Entschlüsselung eben desjenigen Dinges an sich anbot, von welchem in der ersten Kritik als von einem unerkennbaren Vorstellungserreger die Rede war46• Andererseits scheint es, als müsse Kant etwas gemeint haben wie : das Ansich eines Subjekts sei freie moralische Subjektivität, das Ansich eines Objekts unbekannter Vorstellungserreger. Doch diese Lösung entbehrt der Begründung in Kants System. 43 S. z.B. Kants fundamentale Unterscheidung zwischen (autonomen) Personen und (heteronomen) Sachen Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 22f. 44 Kritik der reinen Vernunft B 155 - 159. 45 Ebd. A 808 B 836. 46 Kritik der praktischen Vernunft A 10f.: ""Denn, so lange man sich noch keine bestimmte Begriffe von Sittlichkeit und Freiheit machte, konnte man nicht erraten, was man einerseits der vorgeblichen Erscheinung als Noumen zum Grunde legen wolle, und andererseits, ob es überall auch möglich sei, sich noch von ihm einen Begriff zu machen"'. =

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Kapitel VI

Sie ist gegenüber seiner zentralen Argumentation zu der relevanten Frage, seiner Auflösung der Freiheitsantinomie, aus der Luft gegriffen, eine mit Blick auf das theoretisch Wünschenswerte eingeführte ad-hoc-Konstruktion. Die Plausibilität der Beilegung der dritten Antinomie, die Freiheit und Determinismus auf Ding an sich und Erscheinung verteilt, beruht auf der Feststellung, die Kategorien, die, als Kate­ gorie der Kausalität, und der Notwendigkeit, dem Determinismus essentiell sind, hätten nur auf Erscheinungen, nie aber auf Dinge an sich Anwendung. Sofern dies überhaupt etwas besagt, besagt es etwas über das Ansich hinter jeder Erscheinung. Der erwähnte Gedanke, Subjektivität sei der Ort der Freiheit, die keinem Dinglichen im seihen Sinn zukommen könne, verwendet ein Kriterium, das nicht nur nicht aus jenem anderen folgt, das die Scheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung zieht, sondern zu ihm geradewegs quersteht Daß es, worauf die Moralphilosophie pocht, von allem nur und gerade der Wille sei, der frei ist, wird nirgends durch die Zweiweltenlehre gestützt; fände man in ihr ein Argument für die Freiheit des Willens, so hätte man es konsequenterweise genauso plausibel zu finden, daß ein Stein, wie er an sich selbst ist, in seiner baren Dingheit, moralisch autonom ist. Dies Ergebnis fügt sich als Aspekt dem früher47 erzielten Resultat ein: Wenn die Zweiweltenlehre gilt, ist alles in einer Hinsicht frei, in anderer unfrei, und was immer moralisch qualifiziert sein mag, kann sich in dieser Hinsicht durch nichts vor an­ derem, dem diese Qualifikation abgeht, auszeichnen. Der moralphilosophisch inten­ dierte Begriff der Autonomie als der Alternative zu aller Heteronomie zergeht an der Implikation des Prinzips der Zweiweltenlehre, jedem Phaenomen entspreche ein Noumen: der Implikation nämlich, daß alles an sich immer frei und autonom ist, und immer unfrei und heteronom erscheint.

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§ 21.

KAPITEL VII

Die Moral des Willens ohne Metaphysik § 24 Indes ist die Erwiderung denkbar, die dergestalt in Frage gestellte metaphysische Zweiweltenlehre Kants sei tatsächlich obsolet, doch sie verweise auf einen Unter­ schied, der sich auch nichtmetaphysisch, und damit in haltbarer Weise interpretieren lasse: die Differenz zwischen dem bloß Faktischen, Empirischen, und dem Vernünf­ tigen. Daß sich damit das Paradox der Autonomie lösen lasse, sei nun leicht zu se­ hen. Das Prinzip der Autonomie ist Kants von der Tradition, die an diesem Punkt auf die Gebote des göttlichen Willens rekurriert, abweichende Antwort auf die Frage, was zu tun moralisch gut, vernünftig ist. Moralisch gut, vernünftig ist das, was der Wille sich selber vorschreibt. Dies impliziert, daß keine moralische Vorschrift, die an jemanden adressiert wird, anderes enthalten kann, als was dieser schon von sich aus will. Demzufolge vermag niemand einen "andern [zu] obligiren, als ver­ mittelst desselben [des anderen] eignen Willen"1• Diese Feststellung resultiert im Pa­ radox der Autonomie, denn an ihr entzündet sich unmittelbar die kritische Frage: niemand kann einen anderen obligieren, als vermittels dessen eigenen Willens - aber warum sollte er es dann noch tun? Wenn der andere das, was ihm als Pflicht nahe­ gelegt werden soll, sowieso schon von sich aus will, dann erübrigt es sich, ihm seinen eigenen Willensinhalt als Obligation abzufordern2• Freilich entsteht an dieser Stelle sogleich eine Schwierigkeit. Denn man könnte finden, wenn das sogenannte Paradox der Autonomie auch im Falle der Verpflichtung anderer entstehe, so sei es gar kein Paradox der Autonomie, will sagen: das Spezifische des Gedankens der Selbstver­ pflichtung, das doch in Frage stehen sollte, sei in ihm gar nicht getroffen. Doch dies Bedenken ist oberflächlich. Allerdings insistiert Kant, daß das moralische Gesetz "als das Gesetz deines eigenen Willens gedacht wird, nicht des Willens überhaupt, der auch der Wille anderer sein könnte"3 (und wendet sich damit gegen die Auffassung, die moralische Verbindlichkeit verdanke sich allererst den Beziehungen von Subjek­ ten aufeinander4). Aber insofern Kant die Verpflichtung anderer von deren Willen abhängig macht, zieht er unmittelbar die Konsequenz aus diesem Prinzip; nur um ih­ rer Autonomie willen behauptet er, sie könnten nicht anders obligiert werden als vermittels ihres eigenen Willens. Kants Theorie der Verpflichtung anderer ist fundiert in seiner Theorie der Selbstverpflichtung, und so nimmt es nicht wunder, daß sie de­ ren Paradoxien in sich trägt. Die Quintessenz jener lautete, keine moralische Vor1 Refl. 6954. Akad. XIX. 213. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 67f. Kritik der prakti· sehen Vernunft A 233. Refl. 6469. Akad. XIX. 17. Refl. 6645. Akad. XIX. 123. 2 Vgl. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 13; Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB XI. 3 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 18. 4 S. Moral Mrongovius. Akad. XXVII/2/2. 1412: "Crusius glaubte, daß alle Verbindlichkeit sich auf die Willk ühr eines andern beziehe; dann aber wäre alle Verbindlichkeit eine Neceßitatio per arbitrium alterius. Allein man wird durch ein arbitrium internum, nicht aber durch ein arbitrium externum neces­ sitirt".

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Kapitel VII

schrift, die an jemanden adressiert wird, könne anderes enthalten, als was dieser schon von sich aus wolle. Und die Paradoxie, die hierin liegt, wurde bereits formu­ liert: jemand kann einen zweiten nur vermittels dessen eigenen Willens obligieren, doch wenn der andere das, was ihm als Pflicht nahegelegt werden soll, bereits von sich aus will, erübrigt es sich, ihm seinen eigenen Willensinhalt als Obligation aufzu­ halsen. Nun war aber eine nichtmetaphysische Auflösung dieser Paradoxie in Aus­ sicht gestellt worden: der Widerspruch sei leicht zu beseitigen, wenn man, die Unter­ scheidung zwischen Empirischem und Intelligiblem von allem metaphysischen Bal­ last befreiend, nur noch zwischen dem empirischen, faktischen Willen eines Men­ schen, und seinem vernünftigen Willen differenziere. Dann zeige sich ohne weiteres, weshalb es sich nicht erübrigt, ihm seinen eigenen Willensinhalt als Obligation abzu­ verlangen. Denn der Willensinhalt sei nicht der Inhalt seines Willens kurzum, son­ dern der Inhalt seines vernünftigen, moralischen Willens, und somit das, was er nach vernünftiger Überlegung wollen würde, aber faktisch, empirisch nicht will, weshalb es ihm als Forderung entgegengehalten werden müsse. Der Satz: Wenn der andere das, was ihm als Pflicht nahegelegt werden soll, sowieso schon von sich aus will, dann erübrigt es sich, ihm seinen eigenen Willensinhalt als Obligation anzusinnen, stimmt danach nur in der Lesart: Wenn der andere das, was ihm als Pflicht nahegelegt wer­ den soll, de facto sowieso schon von sich aus will, dann erübrigt es sich, ihm seinen eigenen faktischen Willensinhalt als Obligation anzusinnen. Indem man aber zwi­ schen empirischem und vernünftigem, moralischem Willen differenziere, entgehe man dem hiermit artikulierten Paradoxon, ohne metaphysische Aporien, wie sie der Zweiweltenlehre unleugbar anhafteten, in Kauf nehmen zu müssen.

§ 25 Das Autonomieprinzip impliziert, daß keiner einen "andern [zu] obligiren" vermag, "als vermittelst desselben eignen Willen"5, und, daß Handlungen in bezug auf jeman­ den dann richtig sind, wenn er in sie "einstimmen"6 kann; seine Einstimmung ist Kri­ terium der praktischen Vernünftigkeit jener. Gemäß der zuletzt vorgeschlagenen, nichtmetaphysischen Interpretation wäre zwischen faktischer und rationaler Ein­ stimmung zu unterscheiden. Irgendeine Unterscheidung dieser Art ist notwendig, um, wenn schon nicht Kants Lehre, so doch eine nichtmetaphysische Umbildung die­ ser zu verteidigen. Denn zerlegt man den Willen überhaupt nicht, in welcher Weise auch immer, in zwei Instanzen, eine empirische und eine rationale, so bleibt jeder derartige Gedanke unverständlich. (Die Rede vom Zerlegen in Instanzen ist freilich übertrieben, insofern es zu genügen scheint, die Inhalte zweier Modi des Wollens zu unterscheiden : das, was einer de facto, empirisch will, und das, was er vernünftiger­ weise wollen würde.) Logisch sind drei Fälle möglich, in welchen man die Einwilligung des anderen fordern könnte. Der andere kann den selben Zweck verfolgen, wie man selber; er kann Zwecke verfolgen, die gegen die eigenen gleichgültig sind; oder solche, die mit 5 Refl. 6954. Akad. XIX. 213. 6 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 68.

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den eigenen kollidieren. Im ersten Fall besteht Übereinstimmung, und es macht kei­ nen Sinn, sie zu fordern. Denkt man nun zweitens an Fälle, in denen der andere gar nicht tangiert wird, so stellt sich die Frage nach einem möglichen Dissens seinerseits ebensowenig. Es muß also ein Interessengegensatz unterstellt werden. Doch in die­ sem Fall erscheint die Anwendung des Kriteriums als ebenso abstrakter wie be­ griffsloser Standpunkt: Es ist Gegensatz, und es soll keiner sein. Heide Seiten haben festgestellt, daß sie nicht übereinstimmen, und nun ergeht an sie der Bescheid, ihnen fehle die Übereinstimmung. Es ist, wie wenn einem, der nach der Lösung eines Pro­ blems gefragt hat, die Antwort gegeben würde: wenn es das Problem nicht gäbe, wäre das Problem gelöst. Nun besteht ein Interessengegensatz freilich unabhängig davon, ob sich einer entschließt, einen Streit anzuzetteln, oder nicht; er besteht auch, wenn einer Schaden in Kauf nimmt. In diesem Sinne könnte einer auch unter Bedin­ gung eines Interessengegensatzes "einstimmen". Und man besäße in der faktischen Einstimmung ein anwendbares Kriterium; denn ob sich einer fügt, läßt sich feststel­ len. Doch das Kriterium ist ein Eifolgskriterium, während sowohl der hypothetische, der Metaphysik abholde Umbildner der Kantischen Lehre, wie auch bereits Kant selber nach einem Kriterium der Moralität suchten, und es in der Selbstbestimmung des Willens, und deren Derivat, dem Erfordernis der Einstimmung, gefunden zu haben glaubten. "Autonomie des Willens" ist "das alleinige Prinzip der Sittlichkeit"7• Daß einer de facto zustimmen kann, wo unmoralisch prozediert wird, ist bei Kant durchweg unterstellt. Ein Kriterium der Anwendung eines Begriffs, das Fälle zuläßt, die keine Fälle dieses Begriffs sind, ist aber kein Kriterium dieses Begriffs. Entschei­ dend ist nun, daß Kant als Kriterium auch gar nicht anführt, daß einer de facto ein­ stimme, sondern daß er einstimmen könne8 • Wie die letztere Bestimmung als Krite­ rium taugen sollte, ist allerdings dunkel. Ob einer wirklich einwilligt, kann man viel­ leicht wissen. Doch es ist unklar, woran man erkennen soll, ob er die Möglichkeit hat, einzuwilligen. Das Wort "können" ist freilich mehrdeutig. Es meint zunächst die logische Möglichkeit, die Widerspruchslosigkeit. Dies ergibt eine neue Schwierigkeit. Denn von den logisch möglichen Akten sind die wirklich vollzogenen ja eine Teil­ menge. Man erwartete ein strengeres Kriterium, und erhielt ein weiteres. Alles, wo­ ran sich die Bedenken gegen die faktische Einstimmung entzündeten, ist auch dem neuen Kriterium konform, - denn was wirklich ist, ist a fortiori auch möglich. Kant muß ein strengeres Kriterium meinen, und er meint es auch. Das, worin der andere einstimmen "kann", muß, im Sinne der vorgeschlagenen Unterscheidung9, dasjenige sein, worin er vernünftigerweise einstimmen würde. Indes ist dieses Kriterium zirkulär. Denn die Frage war ja die nach dem praktisch Vernünftigen. Am Prinzip der Auto­ nomie, dessen Korrolar das Prinzip der Einstimmung lediglich ist, ließe sich der Ge­ dankengang so durchführen: "Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip al­ ler moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten"10• Auf die Frage, was vernünftigerweise zu tun ist, lautet daher die Antwort: das, was einer will. Doch da­ gegen erhebt sich das Bedenken, unter dem, was einer faktisch wolle, könne doch 1

Kritik der praktischen Vernunft A 58. Hervorh. abweichend vom Original.

8 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 68.

9 S. 10

§ 24. Kritik der praktischen Vernunft A 58.

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auch Unvernünftiges sein. Aus dem Bedenken ergibt sich die Reformulierung: nicht, was einer faktisch will, sondern was er vernünftigerweise wollen würde, muß das Kri­ terium sein. Aber das ist ein Zirkel. Denn auf die Bestimmung des Vernünftigen, das man zur Antwort erhält, ging die Erkundigung. Die eine Antwort auf die Frage, was das praktisch Vernünftige ist - die Antwort: das, was einer tatsächlich will -, genügt nicht, in bezug auf die andere - das, was ein Vernünftiger will -, stellt sich die Frage aufs neue. Was als Kriterium angeboten wurde, taugt nicht dazu, weil es selber erst eines Kriteriums bedarf. Nun könnte man einwenden, dies liege an der Formulie­ rung. Man solle nicht fragen: Was ist vernünftigerweise zu tun? Sondern: Was zu tun ist moralisch richtig? Und die Antwort laute : das, was der Wille vernünftigerweise will. Dies ist nun zwar nicht mehr unmittelbar ein Zirkel. Aber es ergeht einem hier­ bei wie mit der stoischen Auskunft, die das Tunliehe als das Vernünftige und dieses als das Naturgemäße bestimmt: Man wollte eine Erklärung und erhält nur ein an­ deres Wort.

§ 26 Freilich lokalisiert Kant, und der der Metaphysik abgeneigte Umbildner seiner Lehre könnte ihm hierin ohne viele Umstände folgen, den Grund der normativen Geltung zuweilen in der Möglichkeit der Einsicht: "Nur sofern sie" - die Sittengeset­ ze - "eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze"11• Aber diese Bestimmung krankt an einem analogen Mangel. Strenggenommen enthält allerdings bereits der Begriff der Einsicht, noch jenseits des Rekurses aufs "Können", die Idealisierung. Eine falsche Einsicht gibt es genau gesprochen so wenig wie eine falsche Erkenntnis; wenn etwas falsch ist, dann mag es eine falsche Überzeugung sein, aber es ist keine Einsicht oder Erkenntnis. Indes könnte man jenes Kantische Prinzip als in dieser Hinsicht lax formuliert interpretieren, und in ihm die Verbindlichkeit in der subjek­ tiven Überzeugung begründet sehen. Doch dies Kriterium ist untauglich, denn es gibt nichts, wovon einer nicht überzeugt sein könnte. Selbst von Widersprüchlichem kann einer überzeugt sein, wenn er nur den Widerspruch nicht bemerkt. So wäre - und erst dies ist im Sinne Kants - die Überzeugung durch die "Fähigkeit" zu ihr, eben durch das "Können" im Kant eigentümlichen Sinne zu ersetzen, d.h. durch die Bedingung, daß die fragliche Überzeugung eintreten würde, wenn die hinreichende Einsicht vor­ handen wäre. Aber um zu dieser zu gelangen, müßte man schon ein anderes Krite­ rium der Verbindlichkeit haben. Wenn es sich fragt, wann denn die hinreichende Ein­ sicht vorhanden ist, so läßt sich nur antworten, daß die Einsicht dann hinreicht, wenn sie richtig ist. Fragt man aber, wann sie richtig ist, so bleibt nur die Antwort, daß rich­ tig die der Sittlichkeit entsprechende Einsicht ist. Welche diese aber ist, sollte durch das Prinzip der hinreichenden Einsicht gerade entschieden werden12•

11 12

Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 8. Vgl. Leonard Nelson: Die Rechtswissenschaft ohne Recht. S. 44f.

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§ 27 Es ist dies die selbe Schwierigkeit, die dem Kantischen Staatsrecht zugrundeliegt Obwohl der Begriff der Autonomie in diesem kaum prominent ist, verficht es doch die Auffassung, das Recht müsse sich dem Willen des ihm Unterworfenen verdan­ ken. Denn Recht vermöge etwas nur dann zu sein, wenn es "schlechterdings niemand Unrecht tun" kann 1 3 • (Die Möglichkeit eines Rechts, das Recht zu verletzen, wider­ spricht sich selbst.) Hieran anschließend rekurriert Kant auf das Axiom der Juristen, demjenigen, der etwas selber wolle, geschehe kein Unrecht. "Nun ist es, wenn je­ mand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria)"14. Und daraus ergibt sich die Schlußfolgerung, nur das könne Recht sein, was einer "über sich selbst beschließt". Er muß sich also seine Gesetze, wenn sie denn als Recht sol­ len gelten können, selber geben15. Der "allgemeine Volkswille" ist "das Prinzip aller Rechte"16, d.h.: rechtlich sind diejenigen Gesetze, die alle wollen, denen alle zustim­ men. Das nun wird sich feststellen lassen, und so wäre in der Tat ein Kriterium der Rechtlichkeit von Gesetzen gefunden. Doch Kant scheint das Bedenken zu kommen, de facto könnten doch alle das Falsche wollen. So ändert er sein Kriterium dahin um, daß es nicht die wirkliche Zustimmung aller zum Gesetz fordert, sondern die Mög­ lichkeit ihrer Zustimmung17• Sie "ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes"18, "die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung über­ haupt"19. Den Rekurs auf Möglichkeit benötigt Kant freilich auch, um staatliche Gewalt von der Art derjenigen zu approbieren, der er selbst unterstand: es sollte nicht nötig sein, daß die Untertanen wirklich um ihr Einverständnis angegangen wurden, - viel­ mehr genügt es, daß sie, wenn sie nur gefragt worden wären, hätten zustimmen kön­ nen. Doch die Möglichkeit, von der Kant spricht, bedeutet nicht ausschließlich, wie sonst ein "Kann" gegenüber einem "Ist", eine Erweiterung, sondern auch eine Ein­ schränkung. Die Bedingung ist zwar in einer Hinsicht schwächer, in anderer aber ist sie stärker. Gemeint ist: rechtlich sei ein Gesetz, dem jeder zustimmen sollte, oder dem jeder mit Recht zustimmt. Denn an der bloß faktischen Zustimmung galt Kant als gefährlich, Menschen könnten sich doch auf die entsetzlichsten Dinge einigen. Darum genügt es nicht, daß sie faktisch zustimmen; sie müssen zustimmen "können"20, weil das, worauf sich die Zustimmung beziehen würde, richtig ist. Meinte "Können" bloß die Möglichkeit, nicht ein Sollen, so wäre mit der Änderung nicht das mindeste an jenem Bedenken ausgeräumt. Denn wenn es zu Bedenken Anlaß gibt, daß Men­ schen sich manchmal auf verkehrte Dinge einigen, dann gilt a fortiori, daß sie sich auf verkehrte Dinge auch einigen können ; ab esse ad posse valet consequentia. Inso13 Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 165 14 Ebd. A 165 = B 195f. 15 Der Streit der Fakultäten A 154. 16

=

B 195.

Zum ewigen Frieden AB 23.

17 Vgl. Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 173f. 18

Über den Gemeinspruch A 250. 19 Der Streit der Fakultäten A 155. "' Ü ber den Gemeinspruch A 250.

=

B 203f. Über den Gemeinspruch A 249f.

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fern meint Kant nicht das gegenüber dem Sein weitere Können, sondern das gegen­ über dem Sein engere Sollen - wer das Bedenken ausräumen will, muß in diesem Punkt nun einmal einschränken -, wenn er Können sagt. Nun war es aber gerade die Frage, welche Gesetze sein sollen, auf die eine Antwort zu geben war. Welche Ge­ setze die richtigen seien, sollte durch das fragliche Kriterium - das der Einwilligung ja allererst bestimmt werden. Mit dem "Können", das in Wahrheit ein Sollen ist, führt Kant eine höhere Bedingung ein, die die Rechtlichkeit des Volksbeschlusses ein­ schränkt. Aber die Einführung einer solchen Bedingung hebt das Prinzip völlig auf. Denn in diesem Falle liegt der "Probierstein" der Rechtlichkeit in der höheren, von der Einwilligung unabhängigen Norm. Es kommt dann auf die Übereinstimmung des Gesetzes mit dieser Norm an, nicht darauf, wer das Gesetz gibt. Beide Kriterien schließen einander aus21• Entweder gilt die Volkssouveränität, dann duldet die Ver­ bindlichkeit des Volksbeschlusses keine rechtliche Einschränkung, da ja durch ihn das Recht überhaupt erst konstituiert wird, oder es gilt die höhere Norm, dann un­ terliegt die Verbindlichkeit des Gesetzes nicht der Bedingung der Zustimmung des Volkes, da vielmehr umgekehrt jene Norm bereits die Bedingung der Rechtlichkeit aller Beschlüsse enthält22• In der Explikation der Autonomie durch die Prinzipien der Beistimmung, Zu­ stimmung, Einstimmung, Einwilligung, Anerkennung oder auch Einsicht wird der je­ ner zugrundeliegende Widerspruch offenkundig. Sie konstatieren, es gebe "keine Verbindlichkeit, als nur so fern ich dazu selber habe meine Beistimmung [Zustim­ mung usw.] geben können"23 - und unterstellen hierbei (in der Rede von einer Ver­ bindlichkeit, der da beigestimmt werden soll) per impossibile die Verbindlichkeit als von sonstwoher feststehend, die durch die "Beistimmung" allererst konstituiert wird24• Berechtigte, nicht bloß faktische soll die Beistimmung sein, während sie doch, weil sie Grund der Verbindlichkeit ist, zur Feststellung ihrer Berechtigung immer nur auf sich selbst, die Beistimmung, verwiesen ist.

§ 28 Der Fehler, den Kant begeht, ist einerseits in der analysierten Form durchaus spezi­ ell seinem moral- oder rechtsphilosophischen Gegenstand, der Selbstgesetzgebung, geschuldet. Andererseits enthält er ein allgemeineres formelles Moment, das fähig ist, auch an einem anderen Inhalt verdeutlicht zu werden. In der theoretischen Philo­ sophie könnte einer auf den Gedanken verfallen, das Kriterium der Wahrheit ließe sich dahingehend formulieren: wahr sei, was einer für wahr hält. Das wäre in der Tat ein Kriterium, denn was einer für wahr hält, wird sich feststellen lassen. Doch erhebt sich das · Bedenken, es könnte einer doch auch manchmal Falsches für wahr halten. 21 Historisch zeigt sich dies etwa in der französischen Theorie der "souverainete de raison", bei Quesnai, du Pont de Nemours, Royer-Collard und Guizot. Vgl. Franz Neumann: Die Herrschaft des Gesetzes. S. 106. 22 Leonard Nelson: Fortschritte und Rückschritte der Philosophie. S. 339f. 23 Zum ewigen Frieden AB 21f. 24 Thomas E. Hili: The Kingdom of Ends. S. 309: "They are the moral law-makers: there are no mo· ral truths to be discovered independently of their wills".

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Sagt man daraufhin aber: wahr ist, was einer vernünftigerweise, oder: was einer unter idealen Bedingungen für wahr halten würde, so muß man wiederum wissen, was "vernünftig" oder "ideal" ist, und dies ist auch nicht klarer, oder leichter zu erkennen, als was "wahr" ist. Man ist also keinen Schritt vorwärts gekommen. Stattdessen ist man einem Dilemma ausgesetzt. Man kann, dies die eine Möglichkeit, definieren: Vernünftig ist eine Überzeugung dann und nur dann, wenn sie wahr ist; beziehungs­ weise: ideal sind Bedingungen, unter denen nur das für wahr gehalten wird, was wahr ist. In diesem Fall ist derjenige, der wissen wollte, was wahr ist, im Kreis herumge­ schickt worden. Freilich kann, da nur Tautologien produziert worden sind, sich nichts Falsches ergeben. Dieser Möglichkeit ist aber das zweite Horn des Dilemmas ausge­ setzt. Begibt man sich nicht in den erwähnten Zirkel, so bleibt stets die Möglichkeit, daß eine vernünftige Überzeugung unwahr ist, oder einer unter idealen Bedingungen Falsches für wahr hält; besteht aber diese Möglichkeit, so gilt nicht, wie behauptet: wahr ist (und das muß heißen: wahr ist immer und ausnahmslos), was einer vernünf­ tigerweise, oder unter idealen Bedingungen, für wahr halten würde.

Kapitel VIII Das Programm einer Aporetik des empirischen Willens § 29 Freilich könnte man einwenden, die im vorigen Kapitel angestellten Überlegungen bewiesen nur, daß mithilfe der Unterscheidung eines empirischen von einem ver­ nünftigen Willen allein keine Antwort auf das Paradox der Autonomie zu geben sei. Denn damit, daß eine Unterscheidung innerhalb einer bestimmten argumentativen Strategie nicht zur Erreichung von deren Beweisziel führe, sei über sie noch nicht das letzte Wort gesprochen. Schließlich könne sie sich in einer anderen argumenta­ tiven Strategie glänzend bewähren. - Tatsächlich ist ja ohne eine Unterscheidung je­ ner Art gar nicht auszukommen. De facto mag jemand meinen, ein anderer finde ihn sympathisch. Doch es mag gute Gründe zu der Annahme geben, daß das Gegenteil der Fall ist. Der Betreffende mag diese Gründe kennenlernen und sein früheres Ur­ teil korrigieren; von dem, was er nun meint, kann gesagt werden, daß er es vernünfti­ gerweise meint. (Übrigens meint er es nun auch de facto, aber eben nicht bloß de facto, sondern auch de jure, mit Recht.} Ebenso könnte jemand de facto wollen, daß ihn alle sympathisch finden, und daran verzweifeln, daß dies nicht eintritt. Nach ei­ ner Weile mag ihm jedoch aufgrund überlegter Prüfung seines Handeins und des eingetretenen Resultats eine Einsicht kommen. Daß ihn nicht alle sympathisch fin­ den, liegt nicht an ihm, sondern daran, daß die Geschmäcker eben verschieden sind. Was er wollte, war unvernünftig; er revidiert es. Abzüglich der fixen Idee mag das, was er nun will, mindestens vergleichsweise vernünftig sein. Diese schlichten Diffe­ renzierungen räumen zwar das Paradoxon der Autonomie nicht aus; versucht man, ihm mit einer Unterscheidung der angeführten Art beizukommen, so erheben sich die dargelegten Einwände. Doch könnte man eben insistieren, die Strategie der Auflösung des Paradox der Autonomie sei ohnehin die falsche. Autonomie sei an­ ders zu begründen. Darum entschieden die gegen die nichtmetaphysische Unter­ scheidung vorgebrachten Argumente so wenig über den Gedanken der moralischen Autonomie als solchen, wie die zuvor geleistete Kritik der metaphysischen Zwei­ weltenlehre. Was die letztere anlange, so sei es wohl wahr, daß Kant die zentrale Schwierigkeit seines Programms, den Grund der Moral im freien Willen nachzuwei­ sen: das Verhältnis von Selbstbestimmung und Unterwerfung, wobei die erstere be­ hauptet, der Wille habe seinen Maßstab in sich selbst, während die letztere einen ge­ gen ihn gerichteten Maßstab unterstellt, durch die Unterscheidung von homo noumenon und homo phaenomenon aufzulösen gehofft habe, und diese Auflösung sei ihm allerdings nicht gelungen. Ebensowenig leiste dies die bloße Substitution der Begriffe homo noumenon und homo phaenomenon durch die des vernünftigen und des empirischen Willens. Doch gegenüber diesen beiden Weisen eines direkten Herangehens, das den besagten Widerspruch als einen nur scheinbaren aufzuzeigen gehabt hätte, habe Kant endlich eine indirekte Argumentationsweise favorisiert, die, gleichsam auf dem umgekehrten Wege, erfolgreich gewesen sei. Galt dem unbefan­ genen Bewußtsein die These der moralischen Autonomie, daß das Individuum in der

Das Programm einer Aporetik des empirischen Willens

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Erfüllung der selbstauferlegten Pflicht seine Freiheit hat, als paradox, so habe Kant umgekehrt die Gegenthese des unbefangenen Bewußtseins, frei sei ein Wille, der wählt, wobei es ihm auf seinen Inhalt ankommt, als widersprüchlich erwiesen. Das Bedenken ist triftig, denn in der Tat suchte Kant zu zeigen, daß der soge­ nannte empirische Wille unfrei, und am Ende eigentlich nicht einmal Wille sei. Als Kritiker von solcher Intention widmete sich Kant im Rahmen seiner programmati­ schen Forderung, praktische Erwägungen dürften "weder im Himmel, noch auf der Erde, an etwas gehängt, oder woran gestützt"1 werden, deren zweitem Teil: nicht primär dagegen, daß die Antwort auf die Frage, wie zu handeln ist, vom Himmel abhängig gemacht wird, richteten sich seine Einwände, sondern dagegen, daß sie auf der Erde an etwas gestützt wird: an die Gegenstände, die diese dem Gebrauch und Genuß zu bieten hat. Diese, nach Kants Terminologie: die "Materie" des Willens, wurde zum Anstoß der Kritik. Dies bestimmt den Kritikbegriff der "Kritik der prakti­ schen Vernunft". Sie verwendet, was die von Kant sogenannte reine praktische Ver­ nunft, d.i. die Moralität, anlangt, nur den genetivus subiectivus; Objekt der Kritik ist die empirisch bedingte praktische Vernunft3, der schließlich bestritten wird, daß sie noch solche sei: kritisiert wird der Wille, der etwas will. Die Moralität nimmt sich selbst aus von der bei Kant propagierten Kritik aller Weltverhältnisse\ mit dem Ar­ gument, sie sei selbst deren Maßstab. Reine praktische Vernunft, d.i. Moralität, so Kant, "bedarf keiner Kritik. Sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs enthält"5• Auf eine Kritik des empirischen Willens deutete freilich auch bereits die auf die Zweiweltenlehre gestützte Argumentation hin. Doch scheiterte eine Durchführung eben gerade an dieser Lehre: denn sie machte die mit jener Kritik verbundene Alter­ native von Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Unfreiheit unmöglich, - ihre unwillkommene Quintessenz war, daß der Mensch, und überhaupt alles immer frei und autonom ist, und immer unfrei und heteronom erscheint6 • So nimmt sich die Prämisse des neuen Versuchs nicht unplausibel aus: wenn man nur die Zweiweiten­ lehre beiseite lasse, könne die Kritik an Antworten auf die Frage, wie zu handeln sei, die sich auf Irdisches - die "Materie" des Willens - stützen, wohl erfolgreich sein. Der neuerliche Anlauf nimmt damit zugleich den Vorschlag einer Substitution der meta­ physischen Unterscheidung von homo phaenomenon und homo noumenon durch die nichtmetaphysische Unterscheidung von empirischem und moralischem Willen7 auf, und sucht den gegen sie erhobenen Einwänden - insbesondere dem des Zirkels bzw. der tautologischen Erklärung8 - durch eine gehaltvolle Explikation der Begriffe zu entgehen. 1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 60. Vgl. §§ 1, 3.

2

Dies "primär" begründet sich daraus, daß gewiß auch die ewige Seligkeit ein Inhalt ist, um dessent­ willen zu handeln Kant ausschließen will ( - das Postulat der "Unsterblichkeit", das Kant gleichwohl einführt, ist ausdrücklich nicht als ein praktischer Zweck gemeint). 3 Kritik der praktischen Vernunft A 31. 4 Kritik der reinen Vernunft A XI: "Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß". 5 Kritik der praktischen Vernunft A 30 . • §§ 21, 23. 7 Vgl. § 24. 8 §§ 25 - 28.

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Kapitel VIII

§ 30 Die angedeutete Kritik des empirischen Willens, die Kant entwickelt, zielt auf zwei Thesen. Zum einen behauptet Kant eine Nötigung des Willens durch das Objekt (die Materie des Wollens), zum anderen behauptet er, dieser Nötigung könne sich der Wille nur durch Identifikation mit dem Moralgesetz - das als reine Form eingeführt wird9 - entziehen. Die zweite These ist keine logische Voraussetzung der ersten. Die erste These könnte zutreffen, ohne daß die zweite zuträfe, und in der Tat haben manche Deterministen die erste These, jedoch nichts von der Art der Kantischen Ethik - die mit der zweiten These ins Spiel kommt - vertreten10• Hingegen ist die er­ ste These eine logische Voraussetzung der zweiten. Nur wenn das Objekt, die Mate­ rie des Wollens, eine Nötigung desselben darstellt, hat es Sinn zu behaupten, dieser Nötigung könne sich der Wille nur durch Identifikation mit dem Moralgesetz entzie­ hen. Da die zweite These gegenstandslos würde, wenn die erste These falsch wäre, eine erfolgreiche Kritik der ersten These also eine Kritik der zweiten überflüssig ma­ chen würde, konzentriert sich die Argumentation im folgenden auf die erste These. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß, soweit die zweite These für die erste gleichwohl von Belang ist, auf sie Bezug genommen wird.

§ 31 Gelingt der Nachweis der ersten These, die eine Nötigung des Willens durch das Objekt (die Materie) des Wollens behauptet, so scheint Kant auch einem Dilemma zu entgehen, dem seine praktische Philosophie, einer weitreichenden Kritik zufolge, ausgesetzt ist. Das Dilemma ist folgendes: Entweder Moralität empfiehlt sich der einen, reinen, in sich identischen Vernunft als Bedingung ihrer (sc. der Vernunft) Freiheit, so gibt es zwar, eben damit, ein Argument für sie, aber dieses ist irrelevant, weil das Problem, dessen Lösung zu sein die Moral prätendiert - das Auftreten von Kollisionen - für die eine, reine, in sich identische Vernunft gar nicht entstehen kann. Oder die Moral adressiert sich an eine Pluralität von Wesen, so kann zwar das fragli­ che Problem entstehen, aber das im ersten Fall sich ergebende Argument für die Moral, Bedingung eigener Freiheit des Adressaten zu sein, entfällt11• Dies sind dun­ kle Bemerkungen, die jedoch in der folgenden Explikation sogleich klarer werden dürften. Zunächst ist jedoch festzuhalten, inwiefern von dem neuen Programm einer, wie man sagen kann, Aporetik des empirischen Willens vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie jenes Dilemma auflöst. In dessen zweitem Horn - dem "Oder" des Dilemmas - wird die Moral als Instanz der Beschränkung begriffen, weil sie sich negativ auf die Inhalte des Willens bezieht. Hierin ist die Voraussetzung enthalten, der Wille wäre frei, wenn er diese Inhalte realisieren könnte. Der Zweck der Kanti­ schen Aporetik des empirischen Willens ist aber, diese Voraussetzung zu bestreiten. 9

46.

10 11

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 17, 43, 51, 120; Kritik der praktischen Vernunft A 41, Vgl. §§ 43 - 57. Wolfgang Kuhlmann: Solipsismus in Kants praktischer Philosophie. S. 272ff.

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Das Programm einer Aporetik des empirischen Willens

Die scheinbare Freiheit, die Inhalte realisieren zu können, die man sich vorgenom­ men hat, ist - so das Beweisziel - Unfreiheit, nämlich Abhängigkeit von diesen Inhal­ ten. Ließe sich dies zeigen, so wäre das Dilemma aufgelöst, das, wenn es bestünde, für Kants praktische Philosophie desaströs wäre. Denn diese gründet offenbar in dem Gedanken, daß die Vernunft sich in Widersprüche verwickeln würde, wenn sie sich nicht auf den Standpunkt der Moralität festlegte. (Dieses Argument bezieht sich auf die Vernunft, und ist zu unterscheiden von dem bereits gescheiterten, das Wider­ spruchsfreiheit zwischen Verstandeswelt und Sinnenwelt zu seinem zentralen Ge­ danken hatte12.) Das Argument ist insofern ein teleologisches, als der unterstellte Wi­ derspruch einer zwischen einem Zweck und einer behauptetermaßen notwendigen Bedingung der Erreichung dieses Zwecks ist. Setzt sich die Vernunft selbst als Zweck, so muß sie - dies ist das Argument - ihre Freiheit wollen und sich selber re­ spektieren. Solcher Respekt sei aber gerade Moralität. Freilich gibt es starke Evidenz dafür, diese Interpretation beruhe auf einem Miß­ verständnis. Denn, so könnte argumentiert werden, um die Erreichung irgendeines Zwecks handele es sich im Fall der Moral überhaupt nicht13, da andernfalls Kants philosophische Begründung des Rechts entfiele. Zu diesem bahne Kant sich den Übergang nämlich folgendermaßen: der Wille habe die Eigenschaft der Moralität in sich, aber so, daß er sie nicht in der Wirklichkeit zur Geltung bringen könne; könnte er letzteres, so bräuchte er das Recht nicht - da er es aber nicht könne, so brauche er das Recht. In der Tat prozediert Karrt in dieser Weise. Aber zum einen ist es irrefüh­ rend, die ultima ratio (wenn es denn ratio ist) des moralischen Gedankens, in wel­ cher die staatliche14 Gewalt als Nothelfer des ihm eigenen Idealismus eintritt - "Wer nach obiectiven [sc. moralischen] Gesetzen nicht verfährt, muß nach physischen ge­ zwungen werden"15 -, gegen eine Darstellung seines Ausgangspunkts anzuführen: wenn dabei eine Unstimmigkeit besteht, so eben zwischen diesem Ausgangspunkt und jener ultima ratio, doch nicht in der Darstellung des Ausgangspunkts. Zum an­ deren geht es allerdings in der Moralität nicht um die Erreichung irgendeines Zwecks, der einen bestimmten Inhalt hätte, doch dies ist mit der dem Wortlaut nach widersprechenden Redeweise, Moralität empfehle sich der Vernunft als Bedingung der Erreichung ihres Zwecks, nur scheinbar bestritten. Denn der sogenannte Zweck der Vernunft hat keinen bestimmten Inhalt16• Bedürfnis, aus dem ein solcher käme, ist nach Kant empirisch, reine Vernunft aber rein, wenn, weil und insofern sie nichts Empirisches an sich hat. Unter dieser Voraussetzung ist freilich unklar, inwiefern der sogenannte Zweck der Vernunft noch Zweck heißen kann; so verstanden besteht der 1 2 Vgl. §§ 7 - 9, 1 1 - 16, 19 - 23. 1 3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 3. Kritik der praktischen Vernunft A 79. 14 Diese Formulierung enthält selbstverständlich insofern eine Simplifikation, als Kant im Rahmen

eines "Privatrecht[ s) im natürlichen Zustande"" (Metaphysik der Sitten Rechtslehre A 157 B 156) von einer vorstaatlichen Identität von Recht und Zwangsbefugnis (ebd. AB 36: ""Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei"") ausgeht, so daß die letztere erst nachträglich, vermittelt durch ''das Po­ stulat des öffentlichen Rechts" ( ebd. A 157 B 156), auf den Staat übertragen wird ( ebd. A 161ff. B 191ff.) . 1 5 Refl. 6960. Akad. XIX. 214. Vgl. Metaphysik der Sitten Rechtslehre A B 17, 34 - 37. 16 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 125f. Vgl. Lewis White Beck: Kants "Kritik der prakti­ schen Vernunft". S. 132f. - Hans-Georg Deggau: Die Architektonik der praktischen Philosophie Kants. S. 321f. =

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Kapitel VIII

Einwand zu Recht. Doch da es um anderes zu tun ist als um den Sinn jenes Aus­ drucks, scheint die Zumutung nicht abwegig, vorerst so zu tun, als sei er klar. Dies zugestanden ist die Frage, weshalb die Vernunft gut daran tue, sich der Mo­ ralität zu verschreiben, mit der Kantischen Überlegung bündig zu beantworten: weil sie notwendige Bedingung der Erreichung ihres eigenen (sc. desjenigen der Vernunft) Zweckes ist. Umgekehrt ist der Vernunft dasjenige, drastisch gesprochen, "ein natür­ licher und notwendiger Gegenstand des Abscheues", wodurch sie "sich selbst wieder­ streitet"17. Nicht etwa wird irgend an die Vernunft herangetragen, etwas anderes zu negieren, als was ihre Negation wäre, oder etwas anderes zu affirmieren, als eben sich selbst. Freilich besteht diese Plausibilität auch nur solange, wie das, was da af­ firmiert, und das, was affirmiert wird, im strikten Sinne identisch, ein und dasselbe sind. Daß es bei der Moralität nur um die Beförderung des eigenen Anliegens der reinen Vernunft geht, schließt alle Pluralität und Verschiedenheit aus ihr aus, denn in ebensolcher hätte man es außer mit Eigenem auch mit anderem als dem Eigenen zu tun. Für eine mit sich selbst identische Vernunft, die einerseits in ihrer Einheit den Grund dafür besitzt, daß ihr die Moral so einleuchtet, kann jedoch andererseits das Problem, als dessen Lösung Kant Moralität anbietet, überhaupt nicht auftreten. Denn das Problem war, daß etwas mit etwas in Konflikt gerät. Dies aber setzt schon eine Pluralität voraus. Wird nichts weiter gedacht als die reine, mit sich selbst identi­ sche Vernunft, so kann Moralität freilich das Anliegen keines anderen sein als ihrer selbst, doch bleibt dann, auch an ihr selbst, nichts, gegen das sie ihre eigene Vernünf­ tigkeit durchsetzen könnte. Auch wenn etwas sich selbst in die Quere kommt, ist an ihm Verschiedenes auseinanderzuhalten, von welchem das eine das andere so wenig gelten läßt, wie das andere das eine. Ein rein in sich Identisches kann gar nicht mit sich in Widerspruch geraten. Um das Problem zu stellen, als dessen Lösung Moral empfohlen wird - das Problem von Kollisionen -, muß also eine Vielheit angenom­ men werden18• Nun ergibt sich aber, daß unter der Annahme einer Vielheit von We­ sen das tragende Element des vorigen Gedankens eliminiert ist. Für die eine, in sich identische Vernunft war Moralität zunächst plausibel, insofern sie als notwendige Bedingung der Erreichung ihres eigenen Anliegens (sc. desjenigen der Vernunft) auf­ trat (wenn sich auch hinterher herausstellte, daß sie unplausibel ist, weil niemand Lösungen für ein Problem annehmen wird, das er gar nicht haben kann). Doch so­ bald mit dem Gedanken einer Vielheit ernstgemacht wird, entfällt für die moralische Affirmation die sie begründende Identität dessen, was affirmiert, mit dem, was affir­ miert wird. Solange nur die eine, ein und dieselbe Vernunft im Spiel war, konnte Moralität sich ihr in dem Sinne empfehlen: wenn Vernunft ihre eigene Freiheit wolle, sei der moralische Standpunkt das Richtige für sie. Unter der neuen Prämisse hinge­ gen entfällt diese Empfehlung, weil die Moral nun die Form von Beschränkung an­ nimmt. Was der Vernunft zunächst einleuchtete, weil es als Bedingung der Beförde­ rung ihrer eigenen Anliegen auftrat, leuchtet nun dem Individuum nicht mehr ein, das 17

Rell. 6853. Akad. XIX. 179. Freilich noch mehr als dies, nämlich das Bestehen von Differenzen: was die Mitglieder eines "Reich(es] der Zwecke'' noch für Gegensätze moralisch regulieren sollten, nachdem sich dieses Reich dadurch konstituiert, daß ''man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen al­ lem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 74), bleibt un­ ergründlich. 18

Das Programm einer Aporetik des empirischen Willens

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den Bescheid erhält, es solle gefäll igst zurückstecken. Zwar ließe sich einwenden, das Dilemma bestehe nicht, - man könne schließlich ein bißchen Vielheit annehmen. Doch diese Lösung ist faul. Denn das genannte Moment, um dessentwillen sich die Vernunft zunächst die Moral einleuchten ließ, verschwindet in dem Maße, in dem Vielheit und Verschiedenheit eingeführt werden. Wird also ein bißeben Vielheit zu­ gelassen, so ist das Argument "ein bißeben falsch". Die Wahrheit hat jedoch keine Grade, und was nicht wahr ist, ist falsch. Theoretische Fragen gestatten keine Kom­ promisse ( d.i. Arrangements von Gegensätzen, die nicht aufgelöst werden, sondern bestehen bleiben, koexistieren), und wer die (relativ zum Beweisziel qualifiziert) Vorteile zweier Argumente durch Kombination vereinigen will, vereinigt auch dieje­ nigen ihrer Nachteile, die mit ihnen logisch verknüpft sind19• Wenn das Dilemma nicht besteht, so muß die Argumentation, die es entwickelt, einen Fehler enthalten. Dieser Auffassung war Kant. Indem er sich anheischig macht, mit dem Form-Mate­ rie-Argument zu zeigen, daß ein Wille, dem es um seine Inhalte geht, ein unfreier Wille ist (das Argument ist der Kern des hier als "Aporetik des empirischen Willens" bezeichneten Unternehmens), beansprucht er, einen Fehler im zweiten Horn des Dilemmas aufgedeckt zu haben. Ist nämlich das Verhältnis, in welchem es dem Wil­ len um seine Inhalte zu tun ist, eines der Abhängigkeit, so ist die Beschränkung sol­ cher Unfreiheit, die Moralität, gerade eine Befreiung20, mithin das Gegenteil dessen, was im zweiten Horn des Dilemmas unterstellt war. Die " Verhinderung eines Hinder­ nisses der Freiheit"2 1 ist, so Kant, selbst ein Akt der Freiheit, weil, indem sie "den Wi­ derstand aus dem Wege schafft, die Wegräumung eines Hindernisses einer positiven Beförderung der Kausalität" - des bisher Gehinderten, d.i. der Freiheit - "gleichge­ schätzt wird"22• Daher seien Freiheit und Moralität "Wechselbegriffe"23; können sie dergestalt aber nie in einen Gegensatz geraten, so ist Moralität auch nie, wie im zweiten Horn des Dilemmas unterstellt, Beschränkung von Freiheit. Das Dilemma ist falsch gestellt, es trifft Kant nicht - vorausgesetzt, daß sich der empirische Wille als unfrei erweist.

19 Vgl. § 13. "' Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 6. Vgl. Hans Blumenberg: Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott"'. S. 557. 21 Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 35. 22 Kritik der praktischen Vernunft A 133. " Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 105. Kant nennt sie: lediglich "verschieden scheinende Vorstellungen von eben demselben Gegenstande", und zieht zur Erläuterung solcher Identität als Ana­ logon aus der Mathematik "verschiedene Brüche gleichen Inhalts" (ebd.) heran. Vgl. ebd. AB 36, 98. Kritik der praktischen Vernunft A 59.

Kapitel IX Form und Materie des Willens § 32 Autonomie des Willens ist das Prinzip von Kants praktischer Philosophie. Selbstbe­ stimmung, die freie, vernünftige Betätigung der praktischen Subjektivität, ist nach Kant "die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist"1• Der Wille ist dann autonom, wenn er für sich allein und ohne Rücksicht auf ein von ihm Verschie­ denes zur Bestimmung seiner selbst hinreicht. "Der freye Wille ist gleichsam isolirt. Nichts äußeres bestimmt ihn"2• {Ihm korrespondiert, als ihrem Gegenstand gemäße Theorie, eine "völlig isolierte", nämlich: von jeder wissenschaftlichen Erkenntnis "völlig isolierte Metaphysik der Sitten"3.) Worauf es im Praktischen ankommt, ist demnach das "Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen"4 soll. Kant bricht so mit der auf Aristoteles zurückgehenden These, Ausgangspunkt des praktischen Überlegens sei das, was einer will5. Dem freien Willen sei eigentümlich, daß in ihm "reine Vernunft, ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes, für sich allein"6 praktisch werde, - er ist nach Kant "reine Selbstthätigkeit, die durch nichts anderes als sich selbst bestimmt ist"7• Wollen in seiner rationalen Gestalt ist danach reines Wollen8, d.i. Wollen des Subjekts unabhängig von seiner Beziehung auf Dinge. De­ ren Inbegriff figuriert in Kants Terminologie als die "Materie" des Willens. Unter

1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 87. Der Satz lautet vollständig: "Autonomie des Willens ist die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist". Die Wendung "ihm selbst", statt des Reflexivpronomens - ''sich selbst" -, scheint, gerade in einer Definition von Selbstbestimmung, merkwürdig. Doch im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts koexistieren beide Formen. Immerhin könnte mit der Wahl des irreflexiven Pronomens angedeutet sein, der Wille, der alle Gegenstände des Wollens aus sich ausgeschlossen hat ("unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens"), beziehe sich auf sich zunächst wie auf etwas Fremdes; diese Beziehung als Selbstbeziehung zu erkennen, sei erst ein weiterer Schritt. Die moralischen Anforderungen, die Kant als die immanenten Bestimmungen des Willens behauptet, haben ja in der Tat das Aussehen äußerer Zumutungen an den Willen. Kant selbst ist sich dieses Umstands bewußt, und laboriert an der Frage, wieso wir Menschen uns gerade auf diesem Felde, wo wir nach seiner Behauptung nur mit "unserm Eigenen" befaßt sind, ebendies "uns unrechtmäßig als etwas ausser uns denken" (Refl. 8110. Akad. XIX. 650. Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen. XXIV. Brief. S. 97). 2 Refl. 3872. Akad. XVII. 319. 3 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 32. ' Ebd. AB 13. ' Aristoteles: De anima 433a17-21. Kritik der praktischen Vernunft A 163. Refl. 5441 . Akad. XVIII. 182. "Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durch die bloße Fonn des Gesetzes als bestimmt gedacht" (Kritik der praktischen Vernunft A 55). Vgl. Refl. 7240. • 7



Akad. X I X . 292.

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" Materie", von der abzusehen sei, wird von Kant "ein Objekt"9 verstanden; von einem solchen gelte, daß es "niemals anders als empirisch gegeben werden kann"10, während der "freie Wille" demgegenüber "von empirischen (d.i. zur Sinnenwelt gehörigen) Bedingungen unabhängig"11 sei. (Die Charakterisierung 'von empirischen Bedingun­ gen unabhängig' hat sich im folgenden ohne die ihr beigegebene Übersetzung 'von zur Sinnenwelt gehörigen Bedingungen unabhängig' als einleuchtend zu erweisen, da Kants Argument nun ohne Rekurs auf die zweifelhafte Metaphysik der beiden Welten zu interpretieren ist. Daß man auch ohne sie von 'empirischen Bedingungen' sprechen kann, läßt sich mindestens nicht von vornherein ausschließen.) Die hiermit angedeutete Alternative erläutert Kant dahingehend, "der Wille" stehe "zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell ist, und zwischen seiner Triebfeder a poste­ riori, welche materiell ist, gleichsam auf einem Scheidewege, und, da er doch irgend wodurch muß bestimmt werden, so wird er durch das formelle Prinzip des Wollens überhaupt bestimmt werden müssen"12• Denn seine Freiheit habe er nur als von aller Materie freier Wille, d.i. als ein solcher, dem "alles materielle Prinzip entzogen wor­ den"13 sei. Enthält die Rede von der Materie als Triebfeder den inneren Mechanis­ mus, so insinuiert Kants Charakterisierung des unfreien Willens durch die Bezug­ nahme auf "ein Objekt", das "niemals anders als empirisch gegeben werden kann"14, gleichsam als behavioristische Variante, den äußeren. Sie evoziert ein Bild des Wil­ lens als eines von Körpern, mit denen er unmittelbar konfrontiert ist, ausgelösten, automatisch einschnappenden Mechanismus. Diese Suggestion ist schief. Wie der Logik des Zusammenhangs, dem Kontrast nicht mit "geistig", sondern mit "formal", deutlich zu entnehmen ist, bedeutet "material" hier nicht "aus Materie bestehend", also "körperlich", sondern "inhaltlich". Gleichwohl entsteht der Eindruck, Kant wolle ersteres mindestens als Konnotation ausbeuten. Wiewohl Kant abwechselnd von der Materie, dem Gegenstand, dem Objekt15, und dem Inhalt des Wollens spricht, kontrastiert der rein durch seine Form bestimmte Wille, auf den Kant hinauswill, nicht etwa lediglich einer praktischen Subjektivität, die sich vor einen faktisch existierenden Gegenstand gesetzt sieht und diesen nun begehrt, sondern auch einer solchen, die etwas vorhat, das es als solches noch gar nicht gibt. Etwas derartiges sollte aber eher ein Projekt denn ein Objekt heißen. Insofern Kant das "Materie des Willens" Genannte als dessen Gegenstand oder Ob­ jekt interpretiert, kann dies also irreführen. {Allerdings impliziert selbst schon die Rede von einem "Objekt" die Distanz eines subjektiven Verstandes, der diesem ge­ genübersteht16.) Gemeint ist der Inhalt des Wollens, sein "Zweck"17: das, was einer 9 Kritik der praktischen Vernunft A 52. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 19: "die Materie der Willkür (ein Objekt)". 10 Kritik der praktischen Vernunft A 52. 11 Ebd. Ebenso Refl. 7262. Akad. XIX. 297. 1 2 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 14. " Ebd. 14 Kritik der praktischen Vernunft A 52. 1 5 Diese drei Ausdrücke finden sich unmittelbar nebeneinander, und offenkundig synonym verwendet Kritik der praktischen Vernunft A 196. 16 Friedrich Schiller: Ü ber die ästhetische Erziehung des Menschen. XXV. Brief. S. 100 . Die lmpli· kation besteht auch dann, wenn man gegenüber Schiller, der die Naturbeherrschung an dieser Stelle als Akt der Reflexion vorstellt, die darin liegende idealistische Befangenheit abstreift.

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Kapitel IX

will ; es ist dies dasjenige, was dem Handeln rein um seiner gesetzlichen Form willen gegenübersteht; daß Kant in bezug auf das Handeln aus "Neigung" vom "Objekte als Wirkung meiner vorhabenden Handlung"18 spricht, weist deutlich darauf hin. Nun ist nicht jede Handlung, die nicht immanent auf Moralität bezogen ist, Herstellung ei­ nes Gegenstandes; Gehen ist eine Handlung, doch normalerweise nicht die Produk­ tion eines Objekts. Gemeinsam aber mit der Herstellung eines Gegenstandes ist ihm, daß es einen Zweck hat. Diese weite Bestimmung umfaßt die Karrtische Rede vom "Gegenstand", an der nur festgehalten ist, weil sie, nicht eben auf der Höhe der Lehre von den Kategorien, auf jene Assoziation schielt, die "Gegenstand" an "Sache" qua "Ur-Sache", "Ursache" anklingen läßt. Der Logik des Arguments folgend ist hin­ gegen "Materie", "Objekt", "Gegenstand" in diesem Gedankengang mit dem Begriff eines Zwecks zu konnotieren. Zweck aber ist ein gewußter Inhalt der praktischen Subjektivität. Deshalb präzisiert Kant die ungenaue Gleichsetzung von Materie und Objekt zu : "Materie, d.i. Erkenntnis der Objekte"19• Und seine These lautet: gerade im (so verstandenen) Inhalt des Wollens besteht die Unfreiheit des Wollens. Den freien (moralischen) Willen unterscheide vom unfreien (empirischen), daß diesen ein Objekt (im erläuterten Sinne), jenen seine bloße eigene Form bestimme. (Durch die Disjunktion, daß entweder die Form oder die Materie den Willen bestimme, wird in Kants praktischer Philosophie, wie schon häufig bemerkt wurde20, von vornherein eine Alternative eröffnet, die seiner theoretischen Philosophie fremd ist. Insofern zu­ folge der letzteren gilt: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Be­ griffe sind blind"2\ ist es konsequent, daß der Begriff "Autonomie" in ihr absent ist.) Frei ist, so Kant, der Wille nur, solange er "unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens"22 ist (und zwar in dem weiten Sinne, in welchem "Gegenstände" auch Vorhaben eines bestimmten Inhalts einschließt), während hin­ gegen alle praktischen Überlegungen, "die auf ein Objekt bestimmt sind, Heterono-

1 7 So gebraucht Kant die Wendung ''unangesehen der Objekte des Begehrungsvermögens (der Mate­ rie des Wollens), mithin irgend eines Zwecks'' (Kritik der Urteilskraft A 456 B 461). Vgl. Grundle­ gung zur Metaphysik der Sitten AB 64. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 33: "die Materie der Will­ kür, d.i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat"'. Tugendlehre A 4: "Zwecken (als der Materie der Willkür)". A 8: "Zweck (Materie, Objekt der Willkür)". A 19: "Zweck (als Materie der Willkür)". Zum ewigen Frieden A 82 B 87: "Zweck (als Gegenstand der Willkür)". Refl. 6598. Akad. XIX. 103: "der Zwek [sie] ist die Materie". 18 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 14. 19 Ebd. AB 126. "' Hege!: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 111. S. 365: "hier verschmäht die Vernunft allen gegebenen Stoff, der ihr im Theoretischen notwendig ist". In der Sekundärliteratur zu Kant z.B. Gerhard Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik. S. 76f. - Manfred Zahn: Das Problem der Einheit und des Zweckes in der Philosophie Kants. S. 55f. - Cornelia Klinger: Die politische Funk­ tion der transzendentalphilosophischen Theorie der Freiheit. S. 28: "Die Bindung an eine Materie, die Kant für die theoretische Vernunft für unverzichtbar hält, [ ... ] ist für die praktische Philosophie ungül­ tig". 21 Kritik der reinen Vernunft A 51 B 75. Ebenso A 267 B 323f. S. demgegenüber die Charakte­ risierung des Praktischen Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB XI, 32, 108 (zur letzteren Stelle s.a. Herbert James Paton: Der kategorische Imperativ. S. 296), 109; Kritik der praktischen Vernunft A 30f., 35f., 44f., 72f., 109f., 127f., 164, 196, 218; Metaphysik der Sitten Tugendlehre A lllff. 22 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 87. =

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mie geben, die nur an Naturgesetzen angetroffen"23 werde. Den letzteren seien jene mithin subsumierbar. Wenn der Wille ein freier sein solle, sei es also nötig, "von al­ lem Gegenstande" zu "abstrahieren, daß dieser gar keinen Einfluß auf den Willen habe, damit praktische Vernunft (Wille) nicht fremdes Interesse bloß administriere, sondern bloß ihr eigenes gebietendes Ansehen, als oberste Gesetzgebung, beweise"24• Dergleichen ist nicht mißzuverstehen als Kritik an bestimmten wirklichen Zwecken, die mancher verfolgen mag, und deren Prüfung für Kant ergeben hätte, sie seien un­ vernünftig25; vielmehr wird vom Willen ganz prinzipiell eingefordert, sich "ohne Rücksicht auf' sei's auch nur "mögliche Objekte des Begehrungsvermögens"26 selbst zu bestimmen. Definiert dieser Ausschluß der Materie aus dem Willen "Freiheit im negativen [ ... ] Verstande"27, so ergibt sich nach Kant aus dem Gegenbegriff zur Mate­ rie, der Form des Willens, als die affirmative Stellung zu dieser, der positive Begriff der Freiheit: erstere liegt Kant zufolge darin, daß der Wille "von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte)"28 unabhängig ist, letzterer ist nach ihm darin zu sehen, daß der Wille durch die "bloße allgemeine gesetzgebende Form" seiner selbst bestimmt werde, denn "diese eigene Gesetzgebung [ ... ] der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande"29• Weil die "Materie" von Kant als außer dem Willen verstanden wird, macht die "Form" als Form des Willens wie ebenfalls, was bei Kant keinen begrifflichen Unterschied be­ zeichnet, als Form des Gesetzes (die aus der Abstraktion von aller "Materie" hervor­ geht) die Bedingung aus, unter der der Wille selbst Gesetz sein kann.

§ 33 Zwar liegt es nahe, gegen diese Interpretation auf jene Stelle in der Grundlegungs­ schrift zu verweisen, an welcher Kant "[d]ie vernünftige Natur" als "die Materie eines jeden guten Willens"30 bezeichnet. Nun sei ein guter Wille aber nach Kant ein freier, autonomer Wille. Also könne etwas nicht stimmen mit der Deutung, daß nach Kant 23 Ebd. AB 120. Die Wendung "auf ein Objekt", statt "durch ein Objekt", wie man erwarten könnte, betont den erläuterten Aspekt: Kant wird dergestalt durchaus auch gegen das Handeln nach einem ge­ dachten Zweck kritisch. 24 Ebd. AB 89. - In der "Grundlegung" spricht Kant von "Heteronomie des Willens" (AB 93f., Her­ vorh. nicht im Original), in der "Kritik der praktischen Vernunft" hingegen von "Heteronomie der Will­ kür" (A 58f., Hervorh. nicht im Original). Die Ä nderung bedeutet keine Abweichung in der Sache, son­ dern nur eine Präzisierung und Explikation, insofern schon in der "Grundlegung" in der betreffenden Wendung der wählende Wille, dem es auf seine Inhalte ankommt, nicht der moralische Wille gemeint war. Allerdings ist Kant in keiner seiner Schriften terminologisch konsequent. Die These Becks, daß der Begriff der Willkür nie von der gesetzgebenden Instanz gebraucht werde (Lewis White Beck: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". S. 172) trifft nicht zu: in der "Kritik der praktischen Vernunft" (A 64) ist z.B. ausdrücklich die Rede von der "Autonomie der Willkür". 25 Gegen eine solche Fehldeutung: Linda Bowdown Cornett: The Undermining Effects of Kant's Psychological Theory upon his Ethics. S. 103. 26 Kritik der praktischen Vernunft A 109. V Ebd. A 59. "' Ebd. A 58. 29 Ebd. A 58f. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 97. N. 6076. Akad. XVIII. 443. "' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82.

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ein freier, autonomer Wille von aller Materie zu abstrahieren habe. Der Einwand ist freilich nicht sonderlich stark. Denn es ist keine Inkonsistenz der bislang gegebenen Interpretation, sondern, wie zu zeigen sein wird, ein von dem vorgetragenen Ein­ wand in die Welt gesetzter Scheinwiderspruch, daß der freie Wille einerseits nicht von seiner "Materie"31 bestimmt sein soll, andererseits aber "[d]ie vernünftige Natur" die "Materie"32 sein soll, die ihn bestimmt. Dies letztere: daß sie ihn bestimmen soll denn daher erst rührt der Eindruck der Inkonsistenz -, geht zunächst unmißverständ­ lich daraus hervor, daß Kant auf dasjenige, was an der in Frage stehenden Stelle als "die Materie eines jeden guten Willens" angegeben ist: "[d]ie vernünftige Natur"33, den "kategorischen Imperativ" als "oberstes praktisches Prinzip" bezogen hat34; als "praktische[r] Imperativ"35 soll dies Prinzip den Willen bestimmen 36 • Die Inkonsistenz löst sich indessen auf, wenn man sich vergegenwärtigt, daß, was geflissentlich über­ gangen wurde, Kants Rede von der Materie eines jeden guten Willens, auf die sich der Einwand berief, konjunktivisch ist: "Dieser" - nämlich: dieser Zweck, d.i. "[d]ie vernünftige Natur" - "würde die Materie eines jeden guten Willens sein"37• Daß er es nur sein würde, aber nicht sein darf, erklärt Kant unter Rekurs auf eben das Prinzip, das dem in Frage stehenden Einwand zufolge außer Kraft gesetzt sein sollte: das Prinzip, daß ein freier Wille alle Materie aus sich ausschließen muß, d.h. daß "in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zwecks) schlechterdings guten Willens, durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahiert werden muß"38• Zwar hält Kant an dieser Stelle an der Kategorie "Zweck" fest, doch wird eben hervorgehoben, er sei "nicht als ein zu bewirkender"39 z� den­ ken, was, zum Unterschied, bei jedem inhaltlichen Ziel, das einer zu erreichen ver­ sucht, selbstverständlich unterstellt ist. Genauer formuliert schließt der Zweckbegriff die Seligierbarkeit der zur Verwirklichung des Zweckes einzusetzenden Mittel ein (sowenig es einen logischen Schluß vom Zweck auf irgendwelche bestimmten Mittel gibt) ; "Mittel zum Zweck 'die vernünftige Natur'" ist aber ein unverständlicher Aus­ druck. Es ist darum evident, daß, sofern Kant im in Frage stehenden Zusammenhang 31 Das Wort so, wie es Kritik der praktischen Vernunft A 58 verwendet ist. 32 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82. 33 Ebd. 34 Ebd. AB 66: ""die vernünftige Natur'". Beide Stellen zusammengenommen widersprechen scheinbar

Charakterisierungen des kategorischen Imperativs wie ebd. AB 43. 35 Ebd. AB 67. 36 Ebd. AB 39. Refl. 7201. Akad. XIX. 275. 37 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82. Hervorh. nicht im Original. 38 Ebd. Indem Kant den Ausdruck ""einschränkende Bedingung" mit den Worten ""der Erreichung die­ ses oder jenes Zwecks" erläutert, bestimmt er seinen Begriff eines freien, d.i. moralischen, Willens als Gegensatz eines praktischen Bewußtseins, das Zwecke hat und sie zu realisieren sucht. Während einem solchen nämlich als ""einschränkende Bedingung"" genau all das gelten würde, was der Erreichung seiner Zwecke entgegen wäre, was impliziert, daß diese das einzige wären, was nicht unter diesen Begriff fallen könnte, sieht es Kant hiermit umgekehrt: gerade die Erreichung seiner Zwecke ist das einzige Hindernis des Willens. Dies wird bestätigt durch Kritik der reinen Vernunft A 808 B 836, wo Kant ebenfalls "Bedingungen'" und ""Zwecke'' identifiziert, wohingegen ein praktisches Bewußtsein unterstellt, daß es seine Zwecke unter bestimmten Bedingungen verfolgt, die letzteren also außer jenen bestehen. 39 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82. Vgl. Mary A. McCloskey: Kant's Kingdom of Ends. S. 395: "They (Zwecke in diesem exotischen Sinne] can't be had, opted for, adopted, aimed at, achieved, nor fail to be achieved, in the required senses of those descriptions". =

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vom "Zweck" oder der "Materie eines jeden guten Willens"40 spricht, die Worte Zweck oder Materie in einem ganz anderen Sinne als dem, den sie sonst tragen, ver­ wendet sind41• Der Einwand gegen die zuvor vorgetragene Interpretation beruhte aber gerade darauf, ihre Unhaltbarkeit durch den Hinweis auf eine Stelle nachzu­ weisen, die besagen würde, der freie, autonome Wille abstrahiere nicht von der - das Wort im von der Interpretation angenommenen Sinne - "Materie". Daß er diese Ab­ straktion vornehmen muß, sagt Kant aber gerade an der angeführten Stelle dem Willen nach, wenn er behauptet, daß "durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahiert werden muß"42• Daß es alles andere als klar ist, wenn hiermit (in bezug auf die vernünftige Natur) von einem Zweck die Rede ist, der aber offenbar gar nicht verfolgt werden kann, und daß undeutlich bleibt, was es heißen soll: etwas sei ein Zweck und doch überhaupt nicht vom Handelnden "zu bewirken"43, ist eine an­ dere Sache, die bereits die Haltbarkeit von Kants Theorie des Praktischen - die im folgenden zu prüfen sein wird - in Frage stellt; denn man kann weiter gehen und einen manifesten Widerspruch darin sehen, daß Kant etwas einen Zweck nennt, das überhaupt nicht vom Handelnden "zu bewirken" sei, obgleich es Teil seiner Defini­ tion des Zwecks ist, dergestalt auf Wirkungen auszugehen: "die vorgestellte Wirkung, die zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck"44• Im vorliegenden Zusammenhang ging es aber zunächst nur um die Frage, ob Kant an seinem Prinzip, die Materie sei aus der Be­ stimmung eines freien, autonomen Willens auszuschließen, festhält Die Frage ist zu bejahen, denn die Stelle, die als Gegeninstanz angeführt wurde, ist keine solche; sie affirmiert vielmehr das besagte Prinzip. Dieses Prinzip eröffnet, gemäß dem zuvor Ausgeführten, eine Alternative45 von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Entweder "die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz ist"46, ist bestimmend, so herrscht Freiheit und Autonomie; der Wille kann Kant zufolge in einem solchen Fall nicht anders als durch sich selbst bestimmt sein, "da ihm alles materielle Prinzip entzogen worden"47 ist: unternimmt man es, "jeden Gegenstand des Willens ganz ab[zu]sondern", so "bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne"48, als, um es so knapp wie möglich zu for­ mulieren: er selber49• Oder die Entscheidung richtet sich nach der "Beschaffenheit 40 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82. 4 1 Das seihe wie für den Begriff "Zweck'" an dieser Stelle gilt ersichtlich für die Verwendung von

"Materie" in Refl. 6854. Akad. XIX. 180. 42 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82. 43 Ebd. 44 Die Stelle entstammt dem § 82 der für Kants Theorie des Zwecks maßgeblichen Kritik der teleo­ logischen Urteilskraft (A 377. Vgl. Kritik der Urteilskraft B 381: "die vorgestellte Wirkung, deren Vor­ stellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck"). 45 Kant verwendet die Metapher des "Scheidewege[s]" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 14) . 46 Ebd. AB 87. 47 Ebd. AB 14. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 52. 48 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 15. 49 Kritik der praktischen Vernunft A 101.

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der Gegenstände des Wollens"50, der "Materie des Wollens"51, "so wird daraus Hete­ ronomie der Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgesetze, irgend einem An­ triebe oder Neigung zu folgen, und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz"52•

§ 34 Kants Argumentation hat die Form eines disjunktiven Schlusses im Modus tollendo ponens: Es beständen nur zwei Möglichkeiten, wie sich ein Wille betätigen könne; in der einen erweise er sich als unfrei; und so bleibe, wenn der Wille denn frei sein solle, nur die andere übrig. Die Folgerung ergibt sich nur, wenn die Disjunktion im Obersatz korrekt ist. Doch dies steht in Frage. Einem unbefangenen Bewußtsein dürfte die Alternative, vor der der Wille Kants Argument zufolge immer schon ste­ hen soll, wenig einleuchtend erscheinen. Die Sicht des Willens, die einem solchen Bewußtsein vertraut ist, schließt nämlich die von Kant aufgemachte Alternative aus; ihr - dieser Sicht - zufolge ist der Wille, wenn er vernünftig ist, in keinem einzigen Falle entweder durch seine Inhalte oder durch sich selbst bestimmt, sondern immer durch die Inhalte in Relation zu sich (dem Willen) und seinem Ge- und Mißfallen an diesen. Um es in sehr schlichter Form zu verdeutlichen: Wenn jemand Rosen liebt, dann erwartet man - wenn dieses Verhältnis ein vernünftiges sein soll -, daß es ver­ schieden ausfällt, je nachdem, daß er, das Subjekt der Liebe, ein so und so beschaffe­ ner Mensch ist - eben die bestimmte Person, die er ist -, wie auch, daß es verschieden ausfällt, je nachdem, daß es Rosen, und nicht Elefanten, sind, die er liebt: jene sind schließlich anders zu behandeln als diese, und manches andere, was sonst noch Ob­ jekt seiner Liebe werden könnte. Das Verhältnis ist also rational, wenn es sich nach der Beschaffenheit sowohl des Subjekts als auch des Objekts richtet. Ist das Verhält­ nis hingegen "unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens"53, dann ist es irrational. - Indes liegt es nahe, zu entgegnen: sich um die letztere nicht zu bekümmern, sei gerade der Sinn von Moralität. Doch diese Entgegnung deutet die Frage um. Sie ist vexiert davon, daß die "Grundlegung" und die "Kritik der prakti­ schen Vernunft" in die philosophische Rubrik "Ethik" gehören. So unleugbar dies ist, so sehr handelt es sich doch zunächst um die Frage, wie ein freier Wille möglich sei. Daß er nur als ein moralischer Wille möglich sei, ist Kants Antwort, seine präten­ dierte Entdeckunlf4 , und daher nicht schon in die Frage hineinzulegen. Es gibt des­ halb guten Grund, auf der Frage zu insistieren, wie ein freier Wille möglich sei. Man kann also jene Bemerkung über den Sinn von Moralität konzedieren, doch zugleich darauf beharren, es sei unerfindlich, wie man sich "nach Absonderung aller Materie, d.i. Erkenntnis der Objekte", noch in ein freies Verhältnis zu eben diesen setzen könne. Ebenso ist ohne weiteres zuzugestehen, daß das "unbefangene praktische Be­ wußtsein" - eine Instanz, die mancher, in einer Konfusion der Kategorien Natur vom 5ll

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 87.

5 1 Kritik der praktischen Vernunft A 59. 52 Ebd. 53

54

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 87. S. z.B. den Gedankengang Kritik der praktischen Vernunft A 52.

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Form und Materie des Willens

Geist aussagend, als "gesunden Menschenverstand" zu apostrophieren beliebt - nicht das letzte Wort zu behalten braucht; doch kann gefordert werden, daß die Philoso­ phie die Rationalität dieser Instanz zumindest nicht, wie an Kants Bestimmung zu konstatieren war, unterbietet.

§ 35 Allerdings gibt es Anlaß zum Zweifel, ob die vorige Kritik der Disjunktion der Be­ stimmung des Willens entweder durch seine Inhalte oder durch sich selbst trifft. Sie schien zu unterstellen, es gehe bei diesem Thema um die Frage, wie einer ein Objekt behandeln solle. Und man könnte einwenden, um sie gehe es gerade nicht, denn die Antwort auf sie sei trivial. Doch daß sie trivial ist, beweist nicht, daß Kant, indem er den Willen unter Rekurs auf seine reine Form, in Abstraktion von aller Materie, als frei zu denken versucht, dieser Trivialität Rechnung tragen kann. In der Tat ist alles, was das unbefangene praktische Bewußtsein gegen das Form-Materie-Argument vorbrachte, in gewissem Sinne trivial; doch können philosophische Systeme auf Kon­ struktionen gründen, die triviale Wahrheiten mißachten, was eben darum, weil es sich um Wahrheiten handelt, zum Einwand taugen kann. Freilich könnte man versu­ chen, den Streitpunkt dahingehend einzuengen, es gehe nicht darum, was einer will55, sondern warum er es will. Denn in der Tat scheint Kant, wie bereits angedeutet, Ob­ jekt und Bestimmungsgrund des Willens auseinanderhalten zu wollen56• Gemeint ist gemäß dieser Unterscheidung mit der Lehre von der Autonomie nicht, ein freier Wille habe keine Materie. Vielmehr gehe alles Wollen auf eine Materie57; nur müsse diese, wenn der Wille denn frei sein soll, "von den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen"58 werden. Das Autonomieprinzip besagt demnach, der Grund des praktischen Sichbeziehens auf etwas dürfe nicht in diesem Etwas, dem Objekt, liegen, er müsse vielmehr im Subjekt liegen. (Der gegen die in diesem Satz implizite Kant-Deutung denkbare Einwand, "Bestimmungsgrund" sei doch vielmehr synonym mit "Ursache", ist nicht stichhaltig; so interessiert Kant daran ist, den empi­ rischen Willen zum Produkt natürlicher Kausalität zu erklären, so wenig eignet sei­ nem Sprachgebrauch, nach dem eindeutigen Zeugnis der Texte, die behauptete Syn­ onymie der Ausdrücke "Bestimmungsgrund" und "Ursache"59.) Indes, wie schon die Statuierung einer zu der vorigen analogen, vielleicht nicht einmal klar von ihr unter­ schiedenen Alternative nahe legt, ist dieser Gedanke einem analogen Einwand ausge­ setzt: Jede rationale praktische Erwägung entnimmt ihre Gründe, die bestimmen, 55 Daß es darum geht, ist die These Lewis White Becks (und zugunsten dieser Interpretation lassen sich durchaus Belege anführen) ; für die favorisierte Seite ergibt sich dann: "Der gute Wille hat sich selbst zum Gegenstand" (Kants "Kritik der praktischen Vernunft". S. 132). 56 Kritik der praktischen Vernunft A 38, 48f., 60f. 57 Ebd. A 60. 58 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 125. 59 S. z.B. Kritik der praktischen Vernunft A 127 zusammen mit Kritik der reinen Vernunft A . 'i 47 B 575. Vgl. Rüdiger Bittner: Kausalität aus Freiheit und kategorischer Imperativ. S. 268. Ders.: Morali­ sches Gebot oder Autonomie. S. 136: "Unter dem 'Bestimmungsgrund' des Willens muß [ . . . ) die ihn be­ stimmende Erwägung zu verstehen sein". =



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wie sie ausfällt, sowohl dem Subjekt, das sie anstellt, als auch dem Objekt, auf das sie sich bezieht. Die Qualitäten einer Sache, zu denen sich ein Subjekt, das sich Zwecke bestimmten Inhalts gesetzt und manche seiner Bedürfnisse zu Interessen, die es wei­ terzuverfolgen gedenkt, gemacht hat, ins Verhältnis setzt, geben zugleich für dieses Subjekt Gründe ab, gerade diese Sache zu wählen. In diesem Sinne gibt mithin, nach Herbarts Formulierung, gerade derjenige, dessen Handlungen frei sind, ein Exempel "der kantischen Heteronomie", weil er "in den Objecten die Bestimmungsgründe sei­ nes Thuns"60 sucht und findet. Jemand liest ein Buch: weil es ihn interessiert. Das Buch hat die und die Eigenschaften, er die und die Zwecke. Deshalb ist es auf die Frage, warum er das Buch liest, sowohl eine aufschlußreiche Antwort, wenn man sagt: es ist die beste Untersuchung über die Reduktion polyadischer Valenzfunkto­ ren, als auch, wenn man sagt: weil ich mich für die Reduktion polyadischer Valenz­ funktoren interessiere. Die Antworten schließen sich nicht nur nicht aus, sondern mit Erteilung der einen ist etwas in der Art der anderen unterstellt: denn der Inhalt des Buches samt der Qualität seiner Darstellung ist erst für den ein Grund, es zu lesen, der ein Interesse mit ihm verbindet, wie umgekehrt jedes Interesse nur darum ein Grund ist, ein bestimmtes Buch zu lesen, weil dieses Buch ihm entspricht, also die Materie, auf die sich das Interesse bezieht, zur Darstellung bringt und zwar in einer Weise, die etwas taugt, mithin so, daß das Interesse mindestens partiell auf seine Ko­ sten kommt. In diesem Sinne ist es Bedingung der Rationalität einer praktischen Entscheidung, daß sie sich der Alternative zwischen dem Warum und dem Was, die das Kantische Autonomieprinzip zu statuieren scheint, nicht fügt. Wenn Autonomie heißt, daß sich einer rein aus sich bestimmt, so darf ein autonomes Subjekt allerdings bei Begründung seines Entscheidens stets nur sagen: "weil mein Wille ... ". Daß es nur dies sagen darf, ergibt sich aus Kants Erläuterung des hier in Frage stehenden Be­ griffs des Bestimmungsgrundes. Denn Kant zufolge ist die reine Form des Willens, d.i. das moralische Gesetz, erstens der formale Bestimmungsgrund, zweitens der ma­ teriale, objektive Bestimmungsgrund, und drittens der subjektive Bestimmungsgrund, d.i. die Triebfeder. Unterschieden werden also drei Arten von Gründen, die an ei­ nem freien Willen Kant zufolge sämtlich durch die Form dieses Willens, eben das formale Moralgesetz, gegeben sind: "Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung, unter dem Namen des Guten und Bösen, ist, so ist es auch subjektiver Be­ stimmungsgrund, d.i. Triebfeder, zu dieser Handlung"61• Dabei präzisiert Kant das Verhältnis des materialen, objektiven Bestimmungsgrunds zum subjektiven dahinge­ hend, daß "der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv-hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse"62• (Der Ver­ such, ein solches Verhältnis zu eruieren, ist nach Kant identisch damit, der Frage nachzugehen, "wie ein freier Wille möglich sei"63.) Bedeutsam ist, daß "das morali"" Johann Friedrich Herbart Zur Lehre von der Freyheit des menschlichen Willens. S. 245. 6 1 Kritik der praktischen Vernunft A 133. Vgl. Kants Feststellung ebd. A 127, daß "die Triebfeder des menschlichen Willens aber (und des von jedem erschaffenen vernünftigen Wesen) niemals etwas an­ deres, als das moralische Gesetz sein könne"'. 62 Ebd. A 127. "' Ebd. A 128.

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sehe Gesetz" "subjektiv-hinreichender Bestimmungsgrund"64 sein muß. Hinreichend ist, was für sich allein zulangt, zu dem nichts hinzutreten muß. Deshalb also besagt die Begründung seines Entscheidens, die ein autonomes Subjekt gibt, stets nur: "weil mein Wille ... ". Darauf zu rekurrieren, daß "das und das so und so ist", ist ihm schlechterdings verwehrt, wenn vorausgesetzt wird, daß Freiheit eine allem Empiri­ schen entgegengesetzte Qualität ist, denn in diesem Fall ist Empirisches ex hypothesi Beeinträchtigung, Hindernis der Freiheit. In bezug auf diese Kantische Prämisse ist ausschließlich die radikale Version konsequent, ein freier Wille könne nur unter völ­ liger Abstraktion von aller empirischen Materie gedacht werden, denn sagt man, er habe wohl eine empirische Materie, nur freilich mit dem in Frage stehenden Vorbe­ halt, so ist einerseits die nichtempirische Qualität dieses Willens, seine Freiheit, em­ pirisch beschmutzt65, ohne daß man auch nur den trivialsten Qualitäten praktischen Denkens besser Rechnung trüge. Nimmt man als Beispiel einer solchen Trivialität, daß man sich beim Holzhacken anders benimmt als beim Tanzen, so ist eben der Grund, der solche Variation im Praktischen bestimmt, ohne Rekurs auf das Was, die Beschaffenheit dieser beiden Tätigkeiten, nicht einmal zu verstehen. Wenn Autono­ mie besagt, daß sich das Subjekt rein aus sich bestimmt, es mithin bei Begründung seines Entscheidens stets nur sagen kann: "weil ich ... ", dann ist Autonomie, selbst wenn sie denkbar wäre, nicht rational. Denn jedes rationale praktische Bewußtsein sagt: "sowohl, weil ich ... , als auch, weil das da so und so ist". Auch im Hinblick auf die These, nur auf das Warum, nicht auf das Was bezöge sich die als Bedingung von Freiheit behauptete Abstraktion, fällt die Antwort nicht im Sinne der Kantischen Al­ ternative, sondern im Sinne der Einwendung des unbefangenen Verstandes aus. Der neue Gedanke, der Kant zugeschrieben wurde, ist in der Hinsicht, auf die es an­ kommt, nicht neu. Er ist eine logische Variante des ersten 'Entweder - oder', gegen das sich das 'Sowohl - als auch' des unbefangenen praktischen Bewußtseins richtete. Soweit mithin eine Trennung von Gegenstand und Grund Kants Ansinnen ist, ent­ zieht er dem exponierten Einwand nicht den Boden, sondern fordert ihn in anderer Form heraus.

§ 36 Allerdings könnte entgegnet werden, dies sei, wenngleich nicht falsch, so doch einsei­ tig, insofern es auf Behauptungen beschränkt bleibe, die für Kant allenfalls in einem Tei lbereich seiner praktischen Philosophie Gültigkeit besäßen. Über das bislang Re­ ferierte, nämlich die in seiner kritischen Moralphilosophie formulierte Abstraktion von allen praktischen Zwecken als der Bedingung eines freien, d.i. moralischen Wil-

64 Ebd. A 127. Ebenso A 41: "bloß fonna/e Gesetze desselben [sc. des Willens], die den Willen hinrei­ chend bestimmeten". Ebd. A 35f. 65 Aus dieser Einschätzung des Empirischen für das Praktische resultiert Kants Ruf nach Maßnah­ men der Säuberung (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB VII: "von allem Empirischen sorgfältig gesäubert sein müßte"; AB VIIf.: "von allem, was nur empirisch sein mag ( ... ], völlig gesäubert wäre"). Zum genannten Widerspruch vgl. Hegel: Phänomenologie. S. 339.

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lens66, sei Kant entschieden hinausgegangen. Denn er habe den Nachweis geführt, daß der kategorische Imperativ den Pflichtbegriff mit dem eines Zweckes verbinde, und zwar eben nicht lediglich in dem konzediertermaßen selber noch formalistischen Sinne, in welchem die beiden kritischen Schriften einen solchen Bezug herstellen67• Im Ausgang von diesem Nachweis sei Kant auch in der Lage gewesen, in seinem Spätwerk eine materialiter gehaltvolle praktische Philosophie vorzulegen. Das, wo­ rauf hiermit verwiesen wird, ist Teil jenes Projekts, das Kant am Ende der Vorrede seiner "Kritik der Urteilskraft" folgendermaßen ankündigte: "Hiemit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde ungesäumt zum Doktrinalen schreiten", bei welchem sich verstehe, "daß, nach der Einteilung der Philosophie in die theoreti­ sche und praktische, und der reinen in eben solche Teile, die Metaphysik der Natur und die der Sitten jenes Geschäft ausmachen werden"68• In der Einleitung zum mo­ ra/philosophischen Teil der letzteren, der "Tugendlehre", entwickelt Kant nun in der Tat die von dem Einwand ihm zugeschriebene Begründung. Dabei geht er freilich, mit dem Anspruch, es handele sich um eine bloße Begriffsklärung, davon aus, der ka­ tegorische Imperativ sei "ein solcher, der einen Pflichtbegriff mit dem eines Zweckes überhaupt verbindet"69• Dann aber sucht er den Nachweis anzutreten, daß diesem Begriff etwas entspricht: "Es muß nun einen solchen Zweck und einen ihm korre­ spondierenden kategorischen Imperativ geben. Denn, da es freie Handlungen gibt, so muß es auch Zwecke geben, auf welche, als Objekt, jene gerichtet sind'00• Diese Bemerkung trägt anscheinend den einschlägigen Bedenken gegen das Argument aus Form und Materie des Willens Rechnung (Handlungen haben Objekte, sind auf Zwecke gerichtet), etabliert aber nicht bereits in neuer Weise deren spezifisch mo­ ra/philosophisches BeweiszieL Aus diesem Grunde fährt Kant fort: "Unter diesen Zwecken aber muß es auch einige geben, die zugleich (d.i. ihrem Begriffe nach) Pflichten sind. - Denn gäbe es keine dergleichen, so würden, weil doch keine Hand­ lung zwecklos sein kann" - dies affirmiert die frühere Bemerkung -, "alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu andern Zwecken gelten und ein ka­ tegorischer Imperativ wäre unmöglich"71•

66 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 8 2. . Zur Wendung "freien, d . i . moralischen" vgl. ebd. AB 98, 104f. 67 Ebd. AB 66f., 82. Kritik der praktischen Vernunft A 155f. Hier sind zwar die Begriffe Zweck und Mittel verwendet, aber es geht ausschließlich um die Form des Verhältnisses, daß jemand nur als Mittel gebraucht wird, während vom Inhalt dieses Verhältnisses: wozu einer da gebraucht wird, ganz abstra­ hiert ist. Kant drückt dies, etwas kryptisch, so aus: der Zweck, von dem die Rede ist, sei "nicht als ein zu bewirkender" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 82) zu denken, was, zum Unterschied, bei je­ dem inhaltlichen Ziel, das einer zu erreichen versucht, selbstverständlich unterstellt ist. Vgl. bereits § 33. 68 Kritik der Urteilskraft AB X. "' Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 12. 70 Ebd. 7 1 Ebd.

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§ 37 Das Argument ist tautologisch. Kant hat den in Frage stehenden Punkt dahingehend formuliert, es müsse einen "kategorischen Imperativ geben" (wobei an dieser Stelle als das Wesentliche an ihm betrachtet wird, "einen Pflichtbegriff mit dem eines Zweckes überhaupt" zu verbinden). Dies ist zu begründen. Indem Kant aber zur Be­ gründung erklärt, daß andernfalls gälte: "ein kategorischer Imperativ wäre unmög­ lich", kürzt sich das ganze Argument darauf zusammen, es müsse einen kategorischen Imperativ geben, weil es sonst keinen gäbe. Gegen diese kritische Deutung ließe sich allerdings einwenden, sie überspringe die bedeutsame Wendung: "so würden, [ ... ] alle Zwecke für die praktische Vernunft immer nur als Mittel zu andern Zwecken gelten". In ihr sei die eigentliche substantielle Begründung enthalten: verstehe man alles nur als ein irgend-wozu-Gutes (bloß Nützliches), so "würde die Reihe kein Ende haben"72, und man geriete in einen infiniten Regreß; es gelinge Kant dergestalt, sich ein zentrales Motiv des teleologischen Begriffs der Praxis anzuverwandeln. Nun scheint in der zitierten Bemerkung in der Tat das Aristotelische Argument durch, es müsse ein höchstes Gut geben, da die Annahme, daß alles bloß Mittel zu anderen Zwecken wäre, ins Unendliche führe73• Dieses enthält zwar, worauf sich Kant in seinem Argument beruft?\ das Richtige, daß jede Handlung ihren Zweck hat15, und daß es im Begriff des Mittels liegt, auf einen solchen gerichtet zu sein. Der Übergang zum höchsten Gut, den das Argument von hier aus macht, ist aber ein Fehlschluß: derjenige von "Jeder strebt nach einem Ziel" zu "Es gibt ein Ziel, nach dem jeder strebt". Bedeutet das "einem Ziel" im ersten Satz: "irgendeinem, nämlich seinem jeweiligen Ziel", so meint das "ein Ziel" im zweiten Satz das numerisch eine höchste Gut als das Ziel, nach dem alle streben. Soweit Kants Argument nun nicht tautologisch ist, liegt ihm dieser Fehlschluß zugrunde. Denn, wenngleich keineswegs auf das selbe, was die "Alten"76 meinten, so doch auf etwas, das im hier logisch relevanten Sinne von der selben Art ist wie ein "höchstes Gut" wollte Kant in diesem Zusammenhang von seiner richtigen Prämisse, daß jede Handlung "ihren Zweck"77 hat, schließen. Mit dem Zweck, von dem Kant an der zitierten Stelle aus dem "[ d]oktrinalen"78 Teil seiner Morallehre sagt, daß ihm der kategorische Imperativ "korrespondiere"79, ist ein "objektiver" Zweck gemeint, in dem Sinne, daß der Weg zu ihm kein anderer ist als zur "Form des Willens" in den kritischen Schriften: "von allen subjektiven Zwecken abstrahieren"80• Das höchste Gut der teleologischen Ethiker, die Glückseligkeit, definiert Kant als "ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem 72 Naturrecht Feyerabend. Akad. XXVII/2/2. 1321. 73

Aristoteles: Ethica Nicomachaea 1094a18-22.

74 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 11: "Eine jede Handlung hat also ihren Zweck". 75

Vgl. Aristoteles: Oe anima 433a15-17. Moralphilosophie Collins. Akad. XXVII/1. 247. n Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 11. Hervorh. nicht im Original. 78 Kritik der Urteilskraft AB X. 79 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 12. "" Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 64. Vgl. Die Religion innerhalb der Grenzen der blos­ sen Vernunft AB V. 76

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zukünftigen Zustande"8\ und näher als den "Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht"82, oder als "das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet"83• Kurz: "Glükseeligkeit ist das Bewußtseyn einer immer währenden Zufriedenheit mit seinem Zustande"84• Aber dies Ideal einer über jedes bestimmte Bedürfnis hinausgehenden universellen Befriedigung abstrahiert auf ihre Weise auch "von allen subjektiven Zwecken"85• Der von Kant auf den kategorischen Imperativ bezogene Zweck meint gewiß etwas anderes; er ist "moralische[r] Zweck"86, von welchem nach Hegels richtiger Formulierung gilt: "im Zwecke des Guten, welches das nicht Besondere, sondern nur Allgemeine des Willens ist, soll das besondere Interesse kein Moment seyn"87• Die teleologischen Ethiker bieten demgegenüber ihr summum bonum zwar eher als Inbegriff der Erfüllung aller subjektiven Interessen an, aber nicht ohne sie gleich darauf einzeln vor diesem zu blamieren: weil es nämlich bloß dieses bestimmte Interesse sei, gegen dessen Verwirklichung die rhetorische Frage : Ist das denn Glück? schon parat liegt88• Dies Verfahren verweist darauf, daß der Glückseligkeit: der Zielsetzung einer totalen Saturiertheit des Menschen, eines Zustandes, in dem keine bestimmten Werke mehr verrichtet, keine bestimmten Zwecke mehr verfolgt, keine unterschiedenen Interessen mehr realisiert werden müssen, eine Abstraktion zugrundeliegt, die im für das Argument entscheidenden Sinne der Kantischen gleicht. Zwar wird sie im Fall der Glückseligkeit damit begründet, daß die be­ stimmten Zwecke und Ziele als, mit Kant zu reden, "ein Ganzes" affirmiert sind, wäh­ rend die Moral des reinen Willens sie im ganzen suspendiert. Der "für das Argument entscheidende Sinn" der Abstraktion, der den Schluß zu einem falschen macht, ist aber der beiden gemeinsame, daß sie von den unterschiedenen Zwecken, auf die ihre Prämisse "Jede Handlung hat ihr Ziel" verweist, absehen, und bei einem, wie Kant formuliert, 'Zweck überhaupt'89 der Handlungen enden. 81

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 46. Kritik der praktischen Vernunft A 224. 83 Ebd. A 40. 84 Refl. 731 1 . Akad. XIX. 309. "' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 64. Den abstrakten Charakter dieses Ideals notiert Kants Refl. 6672: "daß [sie) allgemeine aller neigungen ist Annehmlichkeit und deren abstractum Glük­ seeligkeit" (Akad. XIX. 129). Auch Hege! wußte darum: "Die Glückseligkeit ist die nur vorgestellte, ab­ strakte Allgemeinheit" (Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 480. S. 300 ; daß es Hege! hierauf ankam, zeigt der Vergleich mit § 481 der Ausg. 1827, S. 351). 86 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 4. Vgl. Eine Vorlesung über Ethik. S. 151. lfl Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 509. S. 362. Ausg. 1830. S. 315. Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. S. 1 1 1 . Kant, der an dem hier akuten Punkt den Unterschied des Interesses von bloßer Laune - der ihm sonst nicht unbekannt war (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 39, 122; Kritik der praktischen Vernunft A 141) - stets zielstrebig ignoriert (drastisch etwa in Refl. 6960, in der die ge­ samte Sphäre des Praktischen auf die Alternative von "Einfälle[n]", "seltsame[m) Geschmak" und "Grillen" einerseits, ''moralischen Gesetze[n]" (Akad. XIX. 214) andererseits reduziert ist; vgl. entspre­ chend H erber! James Paton: Der kategorische Imperativ. S. 220f.), setzt die zitierte Wendung (Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 4) ganz in diesem Sinne fort. 88 Das zugehörige Ideal war Kant geläufig: "glüklich seyn ohne [ ... ) Stillungen ihrer Bedürfnisse" (Refl. 6892. Akad. XIX. 1%) . 89 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 12. 82

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§ 38 Indessen ließe sich, ohne im übrigen weiter an der in der vorigen Diskussion ange­ nommenen Differenz zwischen kritischer und doktrinaler praktischer Philosophie festzuhalten, darauf beharren, in der Lehre vom "höchsten Gut" werde dem freien Willen von Kant ein Gegenstand und inhaltlicher Bestimmungsgrund zugesprochen, und hiermit würden die vorigen Bedenken hinfällig. Der Einwand scheint zunächst dürftig. Im berühmten ersten Abschnitt seiner "Grundlegung zur Metaphysik der Sit­ ten" nennt Kant den moralischen Willen "das höchste Gut"90• Aber daß ein solcher Wille, der durch seine formale Beschaffenheit definiert ist, sich selbst zum Gegen­ stand hat, wiederholt nur den Begriff praktischer Subjektivität, dessen Vernünftigkeit gerade in Frage stand. Indessen existieren offenkundig mehrere Versionen der Kon­ zeption des höchsten Guts. Denn in der "Kritik der reinen Vernunft" faßt Kant die Sache nicht bloß komplizierter, sondern, wie es scheint, auch anders; er unterschei­ det zwischen dem "höchsten ursprünglichen Gut": Gott, d.i. "der moralisch vollkom­ menste Wille", und dem "höchsten abgeleiteten Gut", "nämlich einer intelligibelen, d.i. moralischen Welt"91 • Die letztere wäre eine Welt, die "allen sittlichen Gesetzen gemäß wäre"92. Dem Wortlaut nach handelt es sich hierbei in der Tat um eine von der Formulierung der Grundlegungsschrift abweichende Version der Konzeption des höchsten Guts. Indessen wäre es falsch, zwischen dieser und jener einen Wider­ spruch zu vermuten. Dies zu erkennen, ist es kaum nötig, zu wiederholen, was auch dem angeführten Zitat unmißverständlich zu entnehmen ist: daß die Kantische Rede von Gott diesen wesentlich als Inbegriff reiner Moralität faßt93• Doch eben weil Kant hierin an dieser Stelle zunächst konsistent ist, führt auch der Gedanke nicht über den der Grundlegungsschrift hinaus - "Im Grunde wird damit dieselbe Sache nur zweimal ausgedrückt"94 -, und unterliegt dem seihen Einwand. Gleiches gilt hinsichtlich des "höchsten abgeleiteten Gutes". Einerseits ist Kant innerhalb seiner Lehre vom höchsten Gut durchaus folgerichtig. Denn weil nach seiner Lehre der Autonomie des Willens halber in der Moral einzig und allein "reine Vernunft für sich selbst praktisch sein kann"95, darf eine moralische Welt nichts anderes enthalten als ein moralischer Wille. Aber insofern ist in diesem merkwürdigen Gegenstand auch genau die Abstraktion noch einmal gesetzt, die früher moniert wurde: Die moralische Welt wird "so fern bloß als intelligibele Welt gedacht", als darin "von allen Bedingungen (Zwecken)" abstrahiert wird96• Die letztere Identifikation diejenige von "Bedingungen" und "Zwecken" - ist in eminentem Maße aufschlußreich. Implizierte der Einwand gegen Kant nämlich, daß der Begriff der Freiheit eines Willens ohne Sinn ist, wenn diese nicht als Möglichkeit der praktischen Realisierung seiner Zwecke gefaßt wird, so belegt Kants Begriff einer moralischen Welt, mithin eines Reichs der Freiheit - denn Freiheit und Moralität sind nach Kant "Wechsel90

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 7.

9 1 Kritik der reinen Vernunft A 810f. = B 838f. Ebenso Kritik der praktischen Vernunft A 226. 92 Kritik der reinen Vernunft A 808 = B 836. 93 Vgl. § 1. 94

Lewis White Beck: Kants "'Kritik der praktischen Vernunft". S. 226. Vgl. S. 227.

95 Kritik der praktischen Vernunft A 110. Ebenso A 109. 96

Kritik der reinen Vernunft A 808

=

B 836.

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begriffe"97 - die Richtigkeit der hierin vorausgesetzten Kant-Interpretation. Heißt nämlich, wie Kant erläutert, diese Sphäre der Freiheit "intelligibel", "weif'98 darin von allen Zwecken abstrahiert wird, so ist impliziert, daß in der konsequenten Fassung des Autonomiegedankens "alle Zwecke"99, weil empirisch, mithin heteronom, fremdbestimmend, Hindernisse von Freiheit sind. Denn "Bedingungen", von denen abstrahiert werden muß, damit etwas zur Geltung kommen kann, sind Hindernisse. Insofern handelt es sich bei dieser Version der Lehre vom höchsten Gut nur um die eine Implikation entfaltende Neuformulierung des von Kant exponierten Begriffs ei­ nes freien Willens, doch nicht um ein neues Argument dafür, weshalb man diesen für den richtigen halten sollte. In der Tat behauptet Kant, wie die apologetische Bemer­ kung unterstellte, ein freier Wille habe einen Gegenstand, und dieser könne einzig und allein das höchste Gut sein - es ist "das notwendige Objekt eines durchs morali­ sche Gesetz bestimmbaren Willens"100 -, doch das entkräftet nicht die erhobenen Einwände. Dies gilt auch für das gegen die Trennung von "Bestimmungsgrund" und "Materie" des Willens101 gerichtete Argument. Denn Kant macht, entgegen der mit dem apologetischen Einwurf verbundenen Implikation, die Trennung von "Be­ stimmungsgrund" und "Materie" nur insofern, als diese nicht "Materie", sondern reine Form ist, also gar nicht rückgängig102.

§ 39 Doch könnte entgegnet werden, das höchste Gut schließe, wenn es auch in dieser Hinsicht keinesfalls Bestimmungsgrund sein dürfe, die "Glückseligkeit" ein103, da es nach Kant "notwendig" ist, "daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei"104• Nun handelt es sich in der Dialektik der reinen praktischen Vernunft um die Glückseligkeit "eines vernünf­ tigen Wesens", d.i. eines moralischen Subjekts. Sie bestimmt sich daher als das Har­ monieren der "Natur" zum "wesentlichen Bestimmungsgrunde seines Willens"105• Dieser aber ist nach Kant das moralische Gesetz. Es wäre diese Harmonie mithin wiederum eine moralische Welt: als eine solche nämlich, die "allen sittlichen Geset-

97

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 104f. .. Kritik der reinen Vernunft A 808 B 836. Hervorh. nicht im Original. 99 Gemeint sind selbstverständlich alle praktischen Zwecke. Die Rede von einem "Reich der Zwecke" verwendet das Wort "Zweck" in einem grundlegend anderen Sinne, der dem Zweckbegriff so essentielle Verwendungen wie "Zwecke verfolgen" oder "Zwecke erreichen" ausschließt. Vgl. § 33. 1 00 Kritik der praktischen Vernunft A 219. 1 0 1 Vgl. § 35. S.a. § 81. 1 02 Das Mißverständnis, es verhalte sich anders, geht zurück auf Kritik der praktischen Vernunft A 196f., obwohl bereits diese Stelle, sieht man genau hin, das Gegenteil belegt. Klarer Kritik der Urteils­ kraft A 456 B 461. 103 Kritik der praktischen Vernunft A 198. 104 Kritik der reinen Vernunft A 809 B 837. "" Kritik der praktischen Vernunft A 224. =

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75

zen gemäß wäre"106• Das Glück, das angeblich zur Moralität hinzutreten, ihr gegen­ über etwas Neues bedeuten sollte, ist also die Moralität noch einmal. Es besteht in der Erreichung des "Ziels aller moralischen Wünsche", des "notwendige[n] höchste[n] Zweck[es] eines moralisch bestimmten Willens"107• Die letzteren Formulierungen enthalten freilich, in Anwendung der Ausdrücke "Ziel" und "Zweck", die Erklärung des Anscheins, über die Bestimmung praktischer Rationalität durch die Qualität des Subjekts, sich "unangesehen der Objekte des Begehrungsvermögens (der Materie des Wollens), mithin irgend eines Zwecks"108 selbst zu bestimmen, gelange Kant in der Lehre vom höchsten Gut hinaus. Sie steht, wie sich die Angelegenheit ausnimmt, in Widerspruch zum Autonomiebegriff des Form-Materie-Arguments, ein Wille sei nur frei, wenn, weil und sofern er von allem Inhalt abstrahiere. Der hierauf hindeutende Einwand Becks gegen Kant, dieser vollziehe im Lehrstück vom höchsten Gut, inso­ fern dieses Glückseligkeit enthalte, die "Preisgabe der Autonomie"109, beruht zwar auf der richtigen Prämisse, daß letzterer, nach Kants Begriff von ihr, jeder bestimmte Inhalt Abbruch tue; doch ein solcher - und darum ist der Einwand verfehlt - ist die Glückseligkeit gar nicht. Zwar nennt Kant die "Glückseligkeit" einen "Zweck"n°. Doch Glückseligkeit ist kein Zweck, und zwar in ihren beiden Aspekten nicht: nicht als Glück und nicht als Seligkeit. Zum einen ist sie es nicht als Glückm . Nicht nur ist ein Zweck etwas, wofür man sich entscheidet, nicht aber das Glück: man kann nicht sagen: 'Ich entscheide mich hiermit, glücklich zu sein'. Der Zweckbegriff schließt auch die Seligierbarkeit der zur Verwirklichung des Zweckes einzusetzenden Mittel ein112• Doch jeder Grund der Selektion eines bestimmten Mittels ist einem bestimm­ ten Zweck entnommen; "Glück" ist kein Kriterium der Wahl von Mitteln. Die Auf­ forderung: "werde glücklich" ist als Auskunft darüber, was zu tun sei, ebensogut, als ob einem nichts gesagt worden wäre; und: "sei glücklich" führt nicht auf die Verwirk­ lichung irgendeines praktischen Zwecks, sondern postuliert bloß, hierin etwa wie: "sei zufrieden", doch vager als dieses (denn die Zufriedenheit besitzt immerhin im Gefühl der Annehmlichkeit einen Maßstab113), eine harmonische Stellung des Sub­ jekts zu seiner gegebenen Lage. Die Frage nach dem Glück ist etwas Scheinprakti­ sches. Ein Zweck ist die Glückseligkeit aber auch nicht als Seligkeit. Einen Zweck verfol­ gen heißt, sich zur Ursache einer vorgestellten und gewollten Wirkung (ein Zweck ist die Vorstellung einer vom Subjekt des Zwecks herbeizuführenden Wirkungl14) zu machen: "Wem nun die letztere" - die theoretisch anzunehmende Wirkung - "beliebt, 1 06 Kritik der reinen Vernunft A 808 1 07 Kritik

B 836. der praktischen Vernunft A 207. Dies verkennt Nathan Rothenstreich: Practice and Reali­ sation. S. 146. 1 08 Kritik der Urteilskraft A 456 B 461. 1 09 Lewis White Beck: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". S. 226. Ä hnlich A. Reath: Two Conceptions of the Highest Good in Kant. S. 594. 110 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 13. 111 Vgl. § 37. 1 1 2 Vgl. § 33. 1 1 3 Vgl. Hege!: Enzyklopädie. Ausg. 1827. §§ 473, 474. S. 346f. Ausg. 1830. §§ 472, 473. S. 292 - 295. 11 4 Vorgestellte Wirkungen sind - im Unterschied etwa zu vorausgesagten Wirkungen - eine Unter­ klasse nicht der Wirkungen von etwas, sondern der Vorstellungen, die einer hat. S. Theodor Ebert: Zweck und Mittel. S. 36. =

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der muß sich auch gefallen lassen, die erstere" - die Ursache - "zu sein"m. Von dieser Art ist "Seligkeit" jedoch ausdrücklich nicht116, was nicht wunder nimmt, insofern sie nicht anders denn als Aspekt einer bloß formell rationalen, d.i. in Form von Argu­ menten vorgetragenen Version des 'Reich Gattes'117-Gedankens figurieren kann. Die Stellung zu ihr ist die unpraktische des HofJens auf eine übernatürliche Macht. Zu etwas eine glaubend-hoffende Stellung einnehmen, und ihm als einem Zweck nach­ gehen, schließt sich aber aus. Da sich ein, im Sinne Kants, autonomer Wille "unan­ gesehen der Objekte des Begehrungsvermögens (der Materie des Wollens), mithin irgend eines Zwecks"n8 auf sich selbst bezieht, verträgt sich seine Hoffnung auf die ewige Seligkeit sehr wohl mit seiner Autonomie (so inkonsequent der an dieser Stelle des Kautischen Arguments vollzogene Übergang des philosophischen Ge­ dankens in einen religiösen in anderer Hinsicht auch sein mag119). Doch insofern ein auf die ewige Seligkeit hoffender Wille den Bedingungen genügt, die Kant an eine autonome Subjektivität stellt, räumt die Lehre vom höchsten Gut auch kein einziges Bedenken aus, das sich gegen den Autonomiegedanken richtete. Die Rationalität ei­ nes Willens, der sich unangesehen der Beschaffenheit irgendeinP-s Inhalts selbst be­ stimmt, steht unvermindert in Frage.

' " Kritik der praktischen Vernunft A 46. 1 16 S. Kritik der reinen Vernunft A 810 : B 838. 117 Kritik der praktischen Vernunft A 232. 118 Kritik der Urteilskraft A 456 : B 461. 1 19 Vgl. § 1.

KAPITEL X

Die psychologischen Voraussetzungen der Moralphilosophie Kants § 40 Es ließe sich jedoch gegen die bisherige Argumentation ein sehr pauschales Beden­ ken vorbringen: die in ihr geübte Kritik befinde sich nicht auf der Höhe ihres Gegen­ standes; sie habe Kants Architektonik zerstört, insofern einerseits die Zweiweiten­ lehre von dem mit den Begriffen "Materie" und "Form" operierenden Argument ab­ strahiert, andererseits eben dieses Argument von der Zweiweltenlehre abstrahiert worden sei (was freilich spätestens anläßlich Kants Lehre vom höchsten Gut als dem Gegenstand eines freien Willens nicht durchzuhalten war). Und gerade darum sei Kants Projekt einer Aporetik des empirischen Willens überhaupt nicht zur Geltung gekommen. War früher1 argumentiert worden, die Zweiweltenlehre, als direkte Ant­ wort auf das Paradox der Autonomie, sei gescheitert, weshalb eine von dieser meta­ physischen Voraussetzung unabhängige reductio ad absurdum des empirischen Wil­ lens zu entwickeln sei, zu dessen Unfreiheit dann die Freiheit moralischer Auto­ nomie als einzige Alternative bliebe, so moniert der neue Einwand, daß in solchem Vorgehen Zweiweltenlehre und Form-Materie-Argument getrennt voneinander ab­ gehandelt worden seien2• Die Kritik habe es sich leicht gemacht, indem die mitein­ ander zusammenhängenden und einander begründenden Lehrstücke in solcher Tren­ nung ihre Plausibilität verloren hätten. Nun war freilich schon in der Diskussion der Zweiweltenlehre, als einer Lehre der Kompatibilität, für ihre Unvereinbarkeit mit den unter den Titeln Autonomie versus Heteronomie, Form versus Materie eröffneten moralischen Alternativen argumen­ tiert worden3• Doch wurde die Zweiweltenlehre tatsächlich in der Hauptsache ge­ trennt von Kants Form-Materie-Argument untersucht. So bleibt der Einwand gravie­ rend, und ist jedenfalls nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Das Form-Ma­ terie-Argument ist in seinen verschiedenen Aspekten in der Tat aufs engste ver­ knüpft mit dem zuvor untersuchten, in der Kritik der theoretischen Vernunft entwik­ kelten Dualismus zweier Welten: einer empirischen (phänomenalen) und einer in­ telligiblen (noumenalen), beziehungsweise, wie Kant auch sagt, einer Sinnen- und einer Verstandeswelt Diesen Dualismus versteht Kant erwähntermaßen als einen von Naturgesetzlichkeit und Freiheit; und das mit den Begriffen von Form und Ma­ terie operierende Argument stellt den Versuch dar, einen Willen, dem es um seinen Inhalt geht, der ersteren zuzuschlagen: "Heteronomie der Willkür, nämlich Abhän­ gigkeit vom Naturgesetze" heißt es lapidar in der "Kritik der praktischen Vernunft"\ die "moralische" Sphäre hingegen sei eine "intelligibele", "weil darin von allen Bedin1 § 24. 2 Der Versuch, das Form-Materie-Argument abgesehen von der Zweibweltenlehre zu untersuchen,

kann als fragwürdig gelten, insofern "ein Grundgedanke, die kritische Trennung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena, Kants gesamte Philosophie trägt und deshalb nicht als unkri­ tischer Rest eliminiert werden kann" (Heinz Rötlges: Dialektik als Grund der Kritik. S. 15). 3 § 21. Vgl. § 23. 4 A 59. Ebenso Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 94f.

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Kapitel X

gungen (Zwecken) [ ... ] abstrahiert wird"5, und als "intelligibele" die Sphäre der Frei­ heit. "Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der Vernunft vorgestellt werden kann, und mithin kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Er­ scheinungen gehört"6 - in welcher Charakterisierung offenkundig das "lediglich" es­ sentiell ist, denn andernorts spricht Kant von heteronomen Vernunftvorstellungen7 -, sei sie in der intelligiblen Sphäre heimisch, wie man umgekehrt ja auch, soweit etwas nicht der intelligiblen Sphäre zurechne, "dem Naturmechanism den Platz einräu­ men"8 müsse. Kant betont, daß ohne Voraussetzung der Zweiweltenlehre eine Moral des reinen Willens, d.i. der "Absonderung seiner [sc. des Menschen] Kausalität (d.i. seines Wil­ lens) von allen Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben Subjekte im Widerspruche stehen würde, welcher aber wegfällt, wenn sie [sc. diejenigen, die einen solchen Widerspruch behaupten] sich besinnen und, wie billig, eingestehen wollten, daß hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar ver­ borgen) zum Grunde liegen müssen"9• Präsupponiert ist hierbei der bekannte Ge­ danke, immer wenn in bezug auf eines ein Widerspruch entstehen würde, könne nur ein Dualismus helfen. Und Kants praktische Philosophie ist die Ausführung des Dualismus von "Natur und freyheit"10, der die Neigungen als Produkt der Natur in­ terpretiert11, und die Freiheit in der Moral als der ureigenen Form des Willens sieht. Das menschliche Begehren - "der Wille (als Begehrungs-, mithin als Naturvermö­ gen)"12 - gehöre auf die Seite, die durch natürliche Kausalität determiniert ist; als nicht begehrliches moralisches Subjekt hingegen betätige sich der Mensch als intelli­ gibles Ich, und somit als freier Wille. In bezug auf die empirischen Iche, die Individuen in Raum und Zeit, vertritt Kant eine deterministische Psychologie, aus der, wenn sie nur hinreichend ausgearbeitet wäre, nach Kants Auffassung Prognosen ableitbar wären: "Weil dieser empirische Charakter selbst aus den Erscheinungen als Wirkung und aus der Regel derselben, welche Erfahrung an die Hand gibt, gezogen werden muß: so sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mit­ wirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersa­ gen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit, und nach die­ sem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobach­ ten, und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewe5 Kritik der reinen Vernunft A 808

B 836. Kritik der praktischen Vernunft A 51. Hervorh. nicht im Original. Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 553 B 581. 7 Kritik der praktischen Vernunft A 41f. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88f., 94. 8 Kritik der reinen Vernunft B XXIX. 9 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 121. 10 Refl. 6658. Akad. XIX. 125. Kritik der Urteilskraft AB XI. 11 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 1 10. Vgl. Robert Paul Wolff: The Autonomy of Rea­ son. S . 67. 12 Kritik der Urteilskraft AB XIII. 6

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genden Ursachen physiologisch erforschen wollen"13• Daß die Psychologie mit der Erforschung kausal determinierter Abläufe befaßt sei1\ wird von Kant, wie hier, häu­ fig dadurch unterstrichen, daß er "physiologisch" anstelle des Ausdrucks "psycholo­ gisch" setzt15. Nicht nur sei die Psychologie "eine Art der Physiologie des inneren Sin­ nes"16; es ist Kant zufolge überhaupt das Wesentliche "psychologischer Erklärungen", daß sie "insgesamt den Mechanism der Naturnotwendigkeit zum Grunde legen"17• Sie müssen daher die Form naturgesetzlicher Aussagen annehmen; denn "Naturwissen­ schaft in strenger Bedeutung [ ... ] muß die Natur überhaupt, sie mag den Gegenstand äußerer Sinne oder den des inneren Sinnes (den Gegenstand der Physik sowohl als Psychologie) betreffen, unter allgemeine Gesetze bringen"18. Diese Annahmen waren zu ihrer Zeit alles eher denn originell. Es ist die im 17. und 18. Jahrhundert, unter der Prämisse, nur ein universeller Determinismus verbürge die rationale Erklärbar­ keit der Welt, auf breiter Front entwickelte deterministische Psychologie, die Kant für die Subjekte, die in Raum und Zeit handeln, übernimmt; noch daß Kant, be­ hauptete er, zureichendes Wissen vorausgesetzt, könne "man eines Menschen Ver­ halten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, aus­ rechnen"19, das Erreichen der hierfür zureichenden Kenntnisse ohne Rest schwerlich als realistische Annahme unterstellte, mildert diesen nicht - der Laplacesche Dä­ mon20, nicht menschlicher Wissenschaftler, sondern fingierte Gestalt, enthält als sol­ che die selbe Konzession. Zum einen bezieht sich das Zugeständnis nicht im minde­ sten auf das objektive Korrelat der gewiß immer unzulänglichen Erkenntnis, sondern nur auf diese letztere; zum anderen aber ist selbst in bezug auf diese das theoretische Ideal nicht gestrichen, sondern an ihm festgehalten. Es handelt sich, sowenig dies konsequent durchzuhalten war, um dasjenige der Physik. In Übertragung seiner naturwissenschaftlichen Bewegungslehre21 hatte Hobbes ein Jahrhundert vor Kant eine Anthropologie entworfen, die den Menschen als eine automatische Maschine erscheinen läßt, die ein von außen einwirkendes Material in Bewegung umsetzt. Die Sinne empfangen den Druck äußerer Körper und übertragen die Impulse in Gehirn und Herz; Phantasie und Gedächtnis transformieren und speichern; die Ströme von Einbildung und Gedanken können die wahrscheinlichen Resultate möglicher Hand13

Kritik der reinen Vernunft A 549f. B 577f. Die Anmerkung, daß man Verhalten leider noch nicht voraussagen könne, weil man seine Ursachen noch nicht kenne, daß man es aber in Kürze werde voraussagen können, sobald man seine Ursachen erst einmal hinreichend genau untersucht haben werde, ist der Schatten, der die deterministische Psychologie durch die Jahrhunderte verfolgt. Vgl. z.B. Donald Olding Hebb: Einführung in die moderne Psychologie. S. 1 14. 14 S. z.B. Kritik der reinen Vernunft A 690 B 718, A 798 B 826. 15 Ebd. A 87 B 119, A 535 B 563, A 550 B 578; Prolegomena A 130, 161. 1 6 Kritik der reinen Vernunft A 347 B 405. 1 7 Ü ber den Gemeinspruch A 224. 18 Prolegomena A 73. 19 Kritik der praktischen Vernunft A 177. Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 549f. B 577f. 2ll Vgl. Pierre Sirnon Marquis de Laplace: Theorie analytique des probabilites. S. V: ""Nous devons donc envisager l'etat present de l'univers comme l'effet de son etat anterieur et comme Ia cause de celui qui va suivre. Une intelligence qui, pour un instant donne, connaitrait toutes !es forces dont Ia nature est animee et Ia situation respective des etres qui Ia composent, embrasserait dans Ia meme formule !es mouvements des plus grands corps de l'univers et ceux du plus leger atome; rien ne serait incertain pour elle, et l'avenir comme le passe serait present a ses yeux". 21 Thomas Hobbes: De corpore, bes. Pars III u. IV. Cap. XV - XXV. S. 175 - 334. =

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Iungen kalkulieren; die Bildung von Zeichen macht die Maschine mitteilungsfähig; im Spiel mit Worten findet der Verstand zu Sätzen und Orientierungsregeln. Diese einigermaßen verschiedenen Phänomene sucht Hobbes auf ein einheitliches Bewe­ gungsprinzip, das von Begierde und Abneigung, "appetite" und "aversion", zu reduzie­ ren. Der Ursprung jeder psychischen Regung liegt nach Hobbes in den Empfindun­ gen. Die Sinnesorgane übermitteln diese dem Gehirn, von dort werden sie weiterge­ leitet zum Herzen, wo sie entweder das Leben fördern (woraus Lust resultiere) oder hemmen (was Unlust herbeiführe) ; alles Handeln gehorcht demgemäß den beiden fundamentalen Reaktionsmustern der Suche nach Lust und Flucht vor der Unlust. Da Hobbes von der Prämisse ausgeht, "Begehren und Abneigung" würden "von den gewünschten oder verabscheuten Dingen selbst hervorgebracht"22, gilt ihm die er­ wähnte Reduktion sämtlicher menschlicher Äußerungen auf das Bewegungsprinzip von "appetite" und "aversion" als der Nachweis, daß der Mensch, der als wesentliche Bestimmung an sich haben soll, ein "bewegter Körper" zu sein, als bloßes Naturwe­ sen keinen freien Willen habe. "Die Ursache [ . ] der Begehrung und Abneigung", bemerkt er, "sind die Gegenstände der Sinne selbst"23• Daß das Objekt des Willens diesen kausal determiniere, ist ein zu Kants Zeit allbekannter Lehrsatz der sensuali­ stischen Theorie, der ein impliziter Behaviorismus eignet, eine Tendenz, Verhalten im Sinne von Reiz-Reaktions-Schemata zu interpretieren. Folgendermaßen exempli­ fiziert Holbach, im Abschnitt über den Willen ("volonte") seines "Systeme de Ia Na­ ture" den Begriff der willentlichen Handlungen ("actions volontaires") : Der Anblick einer Frucht modifiziere das Gehirn auf eine Art und Weise, die es dazu disponiere, einen Arm in Bewegung zu setzen, um die erblickte Frucht zu pflücken, und sie zum Mund zu führen24• Da Kant mit Autoren wie Hobbes und Holbach die Prämisse teilt, daß Objekte des Wollens dessen kausale Determinanten sind, scheint ihm Freiheit nur "ohne alle empirische Bewegungsgründe"25 denkbar. Weil - dies die Logik des Kantischen Gedankens - Freiheit Unabhängigkeit "von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit"26 sei, müsse sie auch gleich gänzlich "ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe"27 bleiben, oder sie sei eben keine Freiheit28• Allerdings mag dies sogar analytisch sein - sobald man sich nämlich erst einmal auf Kants psychomechanischen Apparat von "Antrieben", "Bewegungsgründen" und "Triebfedern" eingelassen hat; doch es ist keineswegs ausgeschlossen, einen Schritt zurückzutreten, und die von Kant eingeführten psychologischen Voraussetzungen der Prüfung zu unterziehen. .

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22 De homine XI, 2. S. 95: ''turn appetitio turn aversio ab ipsis rebus cupitis vel exosis generata est". 23 Ebd. Vollständig lautet die Stelle im lateinischen Original: "Causae ergo, ut sensionis, ita appetitus et fugae, voluptatis et molestiae, sunt ipsa objecta sensuum". 24 Paul-Henry Thiry d'Holbach: Systeme de Ia Nature. S. 139f.: "La vue d'un fruit modifie mon cer­ veali d'une fa�on qui le dispose a faire mouvoir mon bras cueillir le fruit que j'ai vu, et le porter a ma bouche". 25 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB XI. 26 Kritik der reinen Vernunft A 534 B 562. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 109. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 27. v Kritik der praktischen Vernunft A 128. Hervorh. nicht im Original. 28 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB XI. =

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§ 41 Kants Behauptung, daß Freiheit nur ohne alle empirischen Bestimmungsgründe denkbar sei, wird getragen von der Annahme, daß Objekte des Wollens dessen kau­ sale Determinanten sind. Diese wiederum basiert in Kants Theorie der praktischen Subjektivität auf der Prämisse, das empirische Wollen sei ein "Gefühl"29• An Subjek­ ten, die "ein Objekt begehren, oder verabscheuen", "bewirkt" demzufolge dieses - das Objekt - das Gefühl30; die begehrlichen Subjekte sind nach Kant sodann automati­ sche Exekutoren der in ihnen auftretenden Gefühlszustände. Dieser Schluß ist so­ gleich erläuterungsbedürftig. Denn es versteht sich nicht von selbst, daß mit der In­ terpretation des Begehrens als Gefühl die Mechanizität des Ablaufs erwiesen ist; ei­ ner, wenn auch zugestandenermaßen reichlich banalen Vorstellung gilt das Gefühl ja bekanntlich sogar als letzte Bastion gegen alles Mechanische. Kant beeilt sich je­ doch, seiner Behauptung eine Theorie des Gefühls anzuhängen, die die Mechanizität des Vorgangs plausibel machen soll. Nicht nur behauptet Kant: "Gefühl, wodurch es auch immer erregt werden mag, ist jederzeit physisch" 3 1• Um seine mechanistische In­ terpretation des Wollens von etwas zu verteidigen, vertritt Kant des näheren eine Theorie der Gefühle, derzufolge diese als Bestimmungsgründe des Handeins "in nichts, als dem Grade, verschieden"32 sind. Sie wäre, gesetzt, sie träfe zu, sowie ge­ setzt ferner, daß Wollen ein Gefühl ist, eine adäquate Begründung seiner Deutung des Wollens von etwas als durch das Objekt kausal herbeigeführt, insofern sie Ge­ fühlen die wesentliche Bestimmung von Naturgegenständen zuordnet, die eben die­ ser Bestimmung halber bekanntlich mit Erfolg zum Gegenstand quantifizierender Wissenschaften gemacht werden33. Wenn Kant Recht hätte, müßte auch eine quanti­ fizierende Naturwissenschaft der Gefühle, die Nervenerregungszustände mißt, ihrem Gegenstand gerecht werden34• Allerdings begründet Kant seine These eigenartiger29 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 123; Kritik der praktischen Vernunft A 40f., 45f., 102, 129, 132. "Neigung", von der in diesen beiden Werken vorwiegend die Rede ist, wird von Kant, durchaus im Sinne der Hobbes'schen Psychologie, als ein solches gedacht (s.a. Rell. 6796. Akad. XIX. 164) . Pa­ trick Horace Nowell-Smith: Ethics. S. 118: "The deontological argument starts by assuming that every action which is not done from the sense of duty is done from 'inclination' [ ... ), and it further assumes that if an action is done 'from inclination' it is done in order to satisfy this inc/ination . Moreover an incli­ nation is construed in the way that Hobbes construes desires and aversions, as a sort of itch or craving that I wish to satisfy. Eighteenth-century writers make frequent use of the word 'uneasiness' in this con­ nexion, thus assimilating all voluntary action to that of a man who moves his Iimbs to remove some dis­ comfort". Vgl. Alexius Meinong: Abhandlungen zur Werttheorie. S. 19. 30 Kritik der praktischen Vernunft A 105. 3 1 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A VIf. 32 Kritik der praktischen Vernunft A 42. 33 Und der Naturwissenschaftler mißt, rechnet, und entdeckt quantitative Gesetze nicht, weil er ein vorgängiges Modell auf die Natur anwendet, und die Natur unter einen quantitativen Gesichtspunkt sub­ sumiert, sondern weil die Bestimmtheit der Naturgegenstände in ihrem wechselseitigen Verhältnis, ih­ ren quantitativen Beziehungen liegt (Hege!: Wissenschaft der Logik II. S. 135f. Vgl. allerdings differen­ zierter Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 99 Zus. S. 210ff., bes. S. 212); es ist dies ein Merkmal der Natur selbst, auf das der Forscher Bezug nimmt, ihr objektiver Charakter. Beschleunigung ist der Kraft direkt, der Masse umgekehrt proportional, lautet etwa ein Gesetz, das besagt, in welchen Beziehungen Be­ schleunigung steht, nicht, was sie unter einem quantitativen Aspekt darstellt. 34 Kant bemerkt zu diesem Thema knapp, die Untersuchung der Gefühle falle in eine Disziplin der "Naturlehre", u.zw. "so fern sie auf empirischen Gesetzen gegründet ist" (Grundlegung zur Metaphysik

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weise relativ zu der durch sie allererst zu etablierenden Auffassung, daß Gefühle beim Wollen von etwas die Determinanten der Entscheidung sind, nämlich folgen­ dermaßen: Gefühle können nur dem Grade nach verschieden sein, denn, fragt Kant, wie würde man sonst zwischen zwei "verschiedenen Bestimmungsgründen eine Ver­ gleichung der Größe nach anstellen können, um den, der am meisten das Begeh­ rungsvermögen affiziert, vorzuziehen?"35• Ergo: "Beruht die Willensbestimmung auf dem Gefühle der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die er [der Mensch] aus irgend einer Ursache erwartet, so ist es ihm gänzlich einerlei, durch welche Vorstel­ lungsart er affiziert werde. Nur wie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wie­ derholt diese Annehmlichkeit sei, daran liegt es ihm, um sich zur Wahl zu entschlies­ sen"36. Dieses Vorgehen ist zirkulär: Kant geht davon aus, daß Gefühle beim Wollen von etwas die Determinanten der Entscheidung sind, und schließt dann, das ginge ja nur, wenn sie "in nichts, als dem Grade, verschieden"37 seien. In einer korrekten Ar­ gumentation wäre jedoch umgekehrt aus einer Analyse der Gefühle selbst der Nachweis zu erbringen, daß es sich um lediglich quantitativ verschiedene Phänomene handelt, um dies Resultat sodann als Argument für den mechanischen Charakter eines gefühlsgeleiteten Entscheidens und Handeins zu verwenden. Gewiß ist es richtig, daß, wann immer ein Mechanismus vorliegt, dieser nach Quantitäten bestimmt sein muß. Aber daß ein solcher in der von Kant kritisierten Gestalt des Praktischen vorliegt, wird von ihm vorausgesetzt, nicht aufgewiesen.

§ 42 Und selbst abgesehen von dieser petitio ist das von Kant ins Feld geführte Argument zu schwach, die angezielte These zu begründen. Mit der in ihm enthaltenen Rede von der "Vorstellungsart" ist nämlich konzediert, was in der Tat Teil jeder richtigen Theorie der Gefühle ist: daß ein Gefühl jedesmal einen qualitativ umschriebenen In­ halt hat. Es handelt sich bei dem bloß quantitativen Charakter der Gefühle also gar nicht um deren immanente Bestimmung. Gewiß können Gefühle auch nach Graden der Intensität verschieden sein; doch durch diesen Umstand als solchen werden ihre qualitativen Unterschiede so wenig aufgehoben, wie umgekehrt. In der Tat hat jedes Gefühl einen Grad; zur Zeit Kants war es die Psychologie von Tetens, die die daraus resultierende Möglichkeit der Betrachtung des Gefühls nach der Quantität, unter Anwendung der Kategorien "Intension", "Ausdehnung" und "Dauer", hervorhob38• In­ des sind letztere darum doch nicht die einzigen Bestimmungen des Gefühls. Es ist zwar zu konzedieren, daß die abstrakte Beschränkung auf die quantitative Bestim­ mung keine bloß theoretische des Psychologen zu sein braucht, sondern daß jemand der Sitten AB 62f. "Naturlehre"' ist bei Kant synonym mit "Naturwissenschaft" gebraucht, s. z.B. Kritik der praktischen Vernunft A 46). 35 Kritik der praktischen Vernunft A 42. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 S. Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwik­ kelung. S. 172. Kant besaß dieses Werk in der Auflage von 1777. S. Artbur Warda: Immanuel Kants Bü­ cher. S. 55.

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den Entschluß fassen kann, sie praktisch als Faustregel zu benutzen. Doch auch die­ ser Fall, der immerhin eintreten könnte, vermag Kants These gerade nicht zu be­ gründen. Es mag ja in der Tat vorkommen - auch wenn es einen ziemlich absonderli­ chen Geschmack verriete, und als Kuriosum39 zu gelten hätte -, daß ein Akteur sich entscheidet, einmal ganz von der Art, der Qualität der Gefühle zu abstrahieren: dies ist ebenso möglich, wie daß jemand eine bestimmte Art von Gefühlen sucht, es ihm also auf deren Qualität besonders ankommt; eines wie das andere verdankte sich be­ sonderen Entschlüssen des Absehens. Wenn aber mögliche Abstraktionsleistungen von Akteuren das Entscheidende sind, so begründen diese nicht nur nicht das angeb­ liche Naturgesetz des Begehrens, sondern sind mit diesem unvereinbar. Eben dies: daß das Argument nicht trägt, wenn das, worauf es ankommt, einfach am Akteur liegt: daß dieser nämlich den Inhalt des Gefühls für belanglos befindet, wußte freilich auch Kant. Deshalb suchte er den bloß quantitativen Charakter der Gefühle, wann immer ihm nicht gerade die Konzession unterlief, daß es sich bei ihnen um qualitativ umschriebene Phänomene handelt, doch wiederum als ihre immanente Bestimmung auszugeben. "Vergnügen ist eine Lust durch den Sinn, und was diesen belustigt, heißt angenehm . Schmerz ist die Unlust durch den Sinn, und was jenen hervorbringt, ist unangenehm . - Sie sind einander nicht wie Erwerb und Mangel ( + und 0), sondern wie Erwerb und Verlust ( + und -), d.i. eines dem andern nicht bloß als Gegenteil [ . . ], sondern auch als Widerspiel [ ... ] entgegengesetzt"40• Danach gilt von Gefühlen, daß sie auf einer eindimensionalen Skala, deren Nullpunkt in der Mitte liegt, als positive oder negative Grade und mithin als quantitative Größen auftreten, die als Elemente eines Mechanismus fungieren. Seine so umrissene arithmetische Gefühlstheorie ex­ emplifizierte Kant am Beispiel einer Mutter, die erfährt, "daß ihr Sohn im Treffen vor das Vaterland heldenmütig gefochten habe'"'1 - was ihren Stolz befriedigt -, doch "hiebei einen rühmlichen Tod erlitten'"'2 habe, was sie in Trauer versetzt. Das psy­ chologische Resultat lasse sich gemäß der Behauptung, daß Gefühle nur dem Grade nach verschieden seien, zwanglos plausibel machen: "Es sei demnach die Lust aus seiner bewiesenen Tapferkeit 4a und was da übrig bleibt, nachdem aus der andern Ursache die Unlust mitgewirkt hat 3a, so ist die Unlust a und sie ist das Nega­ tive der Lust, nämlich -a und daher 4a - a 3a'"'3• Aber Stolz und Trauer lassen sich so wenig voneinander subtrahieren, wie, gemäß der schlichten Lektion, die jedem Grundschüler in der Rechenstunde erteilt wird, Äpfel und Birnen. Stolz und Trauer mögen unvermindert nebeneinanderbestehen, sie mögen in ein eigentümliches Mi­ schungsverhältnis treten; eine Gesetzmäßigkeit der Art, daß letztere den ersteren vermindern müsse - und auf nichts anderes als ein Gesetz hat Kant es mit der Wahl der mathematischen Form einer Gleichung abgesehen -, ist nicht erkennbar. Freilich könnte man erwidern, Kant subtrahiere nicht Stolz und Trauer, sondern sehe von den mit diesen gegebenen Qualitäten ganz ab, so daß, als ein in der Subtraktion Verwendbares, pure Lust und Unlust blieben. Doch in diesem Fall ergibt sich, ge.

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39 - mindestens als ein Verfahren, das, weit entfernt davon, natürlich zu sein, vielmehr extrem künstlichen Charakters ist. 40 Anthropologie AB 168f. 4 1 Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen A 22. 42 Ebd. 43 Ebd.

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mäß einer nun schon bekannten Konsequenz, der Einwand, unter Voraussetzung ei­ ner Abstraktion von Qualitäten werde das Argument zu schwach für die Beweislast. Wenn man von den Qualitäten eines Phänomens absieht, bleiben allerdings nur seine Quantitäten übrig - aber damit ist auch nichts zu beweisen. Tatsächlich jedoch sieht sich Kant, um sein Beispiel überhaupt verständlich zu machen, genötigt, den beiden Emotionen einen qualitativ verschiedenen Inhalt, terminologisch gesprochen: verschiedene intentionale Objekte, zuzuordnen: die eine bezieht sich darauf, daß der "Sohn im Treffen vor das Vaterland heldenmütig gefochten habe", die andere darauf, "er habe hiebei einen rühmlichen Tod erlitten". Nicht nur haben beide Emotionen insofern auch nach Kants eigener Voraussetzung einen verschiedenen Inhalt, wes­ halb es dabei bleibt, daß in ihrer Subtrakt;on ein elementarer Verstoß gegen die Wissenschaft von den Gesetzen der Quantität liegt. Der eine wie der andere Inhalt ist auch ein Gedanke, den verstanden zu haben Bedingung der jeweiligen Emotion ist. Dieser Umstand kommt jedoch einer Negation jener Unmittelbarkeit eines bloß Natürlichen gleich, auf die Kant hinauswill. Wenn, was Kant hinsichtlich der quantitativen Bestimmtheit der Gefühle ausführt, alles wäre, was sich über sie sagen ließe, wäre die Annahme eines psychischen Me­ chanismus vielleicht plausibel; da es aber wesentlich unvollständig ist, kann auch nicht der Anspruch erhoben werden, den Übergang vom Gefühl zum Entscheiden und Handeln zulänglich bestimmt zu haben. Das schiere Daß von Gefühlen im Zu­ sammenhang einer Entscheidung genügt Kant als Widerlegung der Freiheit dersel­ ben: die Ohnmacht des empirischen Ich, das seine Entscheidungen trifft, folgert er schlicht daraus, daß es auch gefühlsmäßig mit der Welt umgeht. Dabei wäre an einer durchaus üblichen Feststellung wie "Das habe ich nach Gefühl getan" zu bemerken, daß da ein mit Bewußtsein handelnder Mensch den Entschluß gefaßt hat, sich eben von seinem Gefühl leiten zu lassen, und kleine wie größere Studien für überflüssig befand, sich also keineswegs als passives Opfer seiner Seelenregungen44 präsentiert. Freilich glaubt Kant das Moment des Entschlusses, weil es dem Willen in ihm u m seinen Inhalt geht, seinerseits auf Gefühle reduzieren z u können. Doch damit dies zum Argument taugt, müßte zum einen wiederum, was gerade in Frage steht, die arithmetische Gefühlstheorie stimmen - denn andernfalls wäre mit der Reduktion auf Gefühle nichts gewonnen. Zum anderen müßte die Reduktion selber gelingen, d.h. die Interessen, mit denen sich einer auf die Welt bezieht, dürften nichts als Gefühle sein. (Der Zusammenhang von Entschluß - wovon zuvor die Rede war - und Inter­ esse - wovon nun die Rede ist - ist elementar; etwas zu seinem Interesse machen heißt: sich dazu entschließen.) Nach Hege! ist Gefühl das Bewußtsein des eigenen gegenwärtigen Zustands unter der, durch die Allgemessenheit desselben zum Willen bestimmten, Form des Angenehmen und Unangenehmen45• Als solches ist es aller­ dings Ausgangspunkt des interessierten Umgangs mit der Welt. Es ist aber bis zur Widersprüchlichkeit falsch, den letzteren, wie Kants Lehre vom material bestimmten Willen versucht46, in Gefühlen aufgehen zu lassen. Besagte die Behauptung, jeman-

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So Kants Charakteristik: Kritik der praktischen Vernunft A 40.

45 Enzyklopädie. Ausg. 1827. §§ 473, 474. S. 346f. Ausg. 1830. §§ 472, 473. S. 292 - 295.

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Kritik der praktischen Vernunft A 128f.

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des Interesse, beispielshalber an Johann Sebastian Bach47, sei lebhaft gewesen, daß seine Gefühle heftig waren, so hätte dies die absurde Folge, daß seine Aufmerksam­ keit um so mehr von seinem Gegenstand abgelenkt würde, je mehr er an ihm interes­ siert wäre. Die Beschreibung von Gefühlen als "heftig" bedeutet, daß es schwer ist, sich nicht mit ihnen zu beschäftigen, und die Beschäftigung mit den eigenen Gefüh­ len ist jedenfalls nicht das selbe, wie die Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach. Es wäre einigermaßen aberwitzig, von jemandem zu sagen, sein Interesse an Johann Sebastian Bach sei so lebhaft, daß er sich nicht mit Johann Sebastian Bach beschäfti­ gen könne48• - Was dem Kantischen Argument zugrunde liegt, ist eine unzureichende Psychologie. Die deterministische Theorie des Wollens, auf die Kant mit seiner Lehre von den Gefühlen hinauswill, ist, wie an der Insistenz deutlich wird, die Kant darauf legt, es käme lediglich auf die Stärke an, mit der sie wirkten, die Theorie des stärksten Motivs. Diese besagt, jede Entscheidung falle unausweichlich jeweils nach demjenigen Motiv aus, das das stärkste sei. Da diese Theorie ihre expliziteste Ausar­ beitung nicht bei Kant erfahren hat, ist zu ihrer Untersuchung auf die Arbeiten an­ derer Autoren Bezug zu nehmen.

47 Eine zugunsten Kants angestrengte Apologie, dergleichen sei ja auch kein empirisches Interesse, verfehlt gerade Kants eigene Pointe. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 41 44; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88f., 94. 48 Vgl. Gilbert Ryle: The Concept of Mind. S. 87f., 93. .

KAPITEL XI

Die Theorie des stärksten Motivs § 43 Die deterministische Theorie des empirischen Willens geht davon aus, daß die ver­ schiedenen Möglichkeiten des Handelns, die einem jeweils gegeben seien, psychisch als Motive1 in Erscheinung treten. Die Entscheidung folge demjenigen Motiv, wel­ ches sich als das stärkste erweise. (Diese Charakterisierung bezeichnet einen maxi­ malen Grad, eine quantitative Bestimmung; Qualitäten gelten ihr für praktisch irre­ levant.) Sie sei also eine notwendige Folge der jeweils gegebenen psychischen Be­ schaffenheit, der angeblichen inneren "Natur" des Subjekts. Die letztere lasse sich indes ihrerseits als Effekt begreifen, und so laufe die Bedingungskette rückwärts ins Unendliche fort, weshalb von Freiheit der Entscheidung keine Rede sein könne. Es ist dies die Vorstellung eines Kausalnexus, in dem das Wollen, als in die Zeit fallend, durch alle bis auf den letzten Entschluß vorangegangenen Momente mit Notwendig­ keit mechanisch bedingt ist. Der Wille wird in dieser Psychologie mit ihrem Apparat von "Triebfedern"2 u. dgl. als ein geschobener und gestoßener konzipiert; intendiert ist die Botschaft, er stehe nicht souverän zu seinen Inhalten, sondern sei ein - von diesen - getriebener. Die Betätigung der praktischen Subjektivität wird in ihr nach Art einer Naturerscheinung betrachtet. Gleichwohl haftet ihr ein merkwürdig unklar changierendes Verhältnis zur Naturwissenschaft an. Den Kern bereits des vorherr­ schenden psychologischen und physiologischen Determinismus des 17. und 18. Jahr­ hunderts, eben der Theorie des "stärksten Motivs", bildet ein im Bild von Waage und Gewichten vorgestelltes Verhältnis von Wille und "Motiven"3; am Modell des Kräf­ teparallelogramms erweist sich solche Motivationstheorie als in Analogie zu mecha­ nistischer Physik gedacht4• In dieser Hinsicht liefert die Naturwissenschaft ein Bild, von dem behauptet wird, nach ihm könne man sich Subjektivität vorstellen. Von die­ sem Ergebnis aus setzen sich die Theoretiker des stärksten Motivs indessen in ein zweites Verhältnis zur Naturwissenschaft. Das Kräfteparallelogramm, aus dem das 1 ""Motivation' ist eigentlich ein mechanischer Begriff. Es bedeutet Kraft zur 'Bewegung'. Bewegung aber ist Orts- und Lagenveränderung von im Raume veränderlichen Sachen" (Rudolf Otto: Erläuterung einiger der wichtigsten Grundbegriffe der Schrift [sc. Kants Grundlegung) . S. 30f.). 2 Kant: Praktische Philosophie Powalski. Akad. XXVII/1. 112: "Die Elateres animi (Triebfedern) sind causae impulsivae, die subjectiv nöthigen". Aufschlußreich hierzu Refl. 1021. Akad. XV. 457: "Causa impulsiva heißt das, was interesse bey sich führt". 3 Gottfried Wilhelm Leibniz: Theodicee § 324. Bd. 11/2. S. 124ff. - Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen. § 494. S. 301. § 509. S. 310. - Leonhard Creuzer: Skeptische Betrachtungen über die Freiheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theo­ rien über dieselbe. S. 289. - Vermittelt über Schopenhauers unkritische Rezeption des psychologischen Determinismus des 18. Jahrhunderts fand dieses Bild des Willens Eingang noch in die Philosophie Nietzsches: "ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen - und diess wäre der eigentliche 'Kampf der Motive"' (Morgenröthe § 129. S. 1 19). - Die Vorgeschichte dieses Gedankens reicht zurück bis in die Spätscholastik, in der die Intentionalität der Bewußtseinsbegriffe in Vergessenheit geriet. Vgl. Karl-Otto Apel: Die Erklären: Verstehen-Kontroverse. S. 59f. 4 Kant suchte das Modell des Kräfteparallelogramms auch auf das theoretische Bewußtsein, insofern Sinnliches in es eingeht, zu übertragen: Kritik der reinen Vernunft A 294f. B 350f. =

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Die Theorie des stärksten Motivs

Wollen resultiere, wird bei Hartley-5, Holbach6 u.a. auf hirnphysiologische Abläufe zurückgeführt. Nicht mehr dient die Naturwissenschaft hierin als Quelle eines Bildes, nach dem man sich etwas vorstellen soll; der Anspruch lautet nun vielmehr, daß die Psychologie buchstäblich Naturwissenschaft sei.

§ 44 Diese Vagheit durchzieht noch Schopenhauers einflußreiche Version der Theorie des stärksten Motivs, wie sie insbesondere in seiner "Preisschrift über die Freiheit des Willens" vorliegt (deren Argumentation auch Schopenhauers zweihändigem Weltanschauungsroman zur Stütze dient1). Schopenhauer konzipiert den Willen im "Konflikt der Motive"8 in Analogie zu einem Körper, auf den verschiedene Kräfte in entgegengesetzten Richtungen einwirken. Als Motiv wird das Gewollte nicht als In­ halt der jeweiligen Entscheidung, sondern - denn: "Alle Motive [ ... ] sind Ursachen, und alle Kausalität führt Nothwendigkeit mit sich"9 - als permanentes Hindernis ihrer Freiheit gedacht. Die Subjektivität kommt dabei, nach dem treffenden Wort Weiningers über das Ich in der Philosophie Ernst Machs, nurmehr als " Wartesaal für Empfindungen"10 vor. In Schopenhauers Version der dieser Theorie, wie es scheint, unabdingbaren räumlichen Metaphorik ist sie Schlachtfeld, bloße Arena jener Mächte; vom Kampf der Motive sagt er, daß "dessen Kampfplatz nun das ganze Ge­ müth und Bewußtsein des Menschen ist"11• Der Vorgang terminiere darin, daß das stärkste Motiv die anderen ausschalte: der Wille gerät nach Schopenhauers Formu­ lierung "in die selbe Lage [ .. ], in der ein Körper ist, auf welchen verschiedene Kräfte in entgegengesetzten Richtungen wirken, - bis zuletzt das entschieden stärkste Motiv die andern aus dem Felde schlägt und den Willen bestimmt; welcher Ausgang Ent­ schluß heißt und als Resultat des Kampfes mit völliger Nothwendigkeit eintritt"12• Dabei wird von Schopenhauer, der darauf hinaus will, Motivation sei subsumierbar unter Kausalität, zugleich unterstellt und davon abstrahiert (mit der äußersten Selbstverständlichkeit gebraucht Schopenhauer die Wendung "die Motive [ . ], wie sie in der realen Außenwelt vorliegen"13), daß doch ein Subjekt die Motive denkt und vorstellt: "Das abstrakte, in einem bloßen Gedanken bestehende Motiv ist eine äus­ sere, den Willen bestimmende Ursache, so gut wie das anschauliche, in einem re­ alen, gegenwärtigen Objekt bestehende"14• Die These Schopenhauers lautet, die Wahl sei determiniert durch das stärkste Mo.

..

5 David Hartley: Observations on Man. Bd. I. S. 34 - 44, 371. 6

Paul-Henry Thiry d'Holbach: Systeme de Ia Nature. S. 228ff.

7 Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I. § 23. S. 139. 8 Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 36. 9 Ebd. S. 35.

1 0 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. S. 199; vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen. S. 1 30. 11 Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 36. 12 Ebd. 1 3 Ebd. S. 99. 1 4 Ebd. S. 36. -

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Kapitel XI

tiv: der Mensch habe "eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus"15• Zugleich damit wird Psychologie als Physik der Motive konzipiert. Es verweist jedoch gerade auf eine entscheidende Differenz zwischen der Rolle, die das, wenn man denn partout so reden will : "stärkste Motiv" in der Psychologie spielt, und derjenigen der "stärksten Kraft" in der Physik, daß nichts an der letzteren der "Wahl" im Falle des ersteren entspricht. Wenn die Analogie zwischen dem stärksten Motiv und der stärksten Kraft bestünde, dann wäre die Entscheidung nicht durch das stärkste Motiv bestimmt, sondern entfiele, weil sich das stärkste Motiv direkt in einer Handlung äußern würde, und nicht erst durch eine Entscheidung hindurchgehen müßte, um wirksam zu werden. Denn es ist nicht zu sehen, was nach dieser Theorie eine Wahl noch ausrichten sollte, das nicht bereits von den Motiven ausgerichtet wird. Wie nun der einer praktischen Subjektivität eigentümlichen Fähigkeit der Wahl nichts in der Physik entspricht, so gibt es umgekehrt kein psychologisches Theorem, das dem "Parallelogramm der Kräfte" in der Mechanik vergleichbar wäre. Physikalische Kräfte haben eine Resultante, die das zusammengefügte Ergebnis des Zusammenwirkens eben dieser Kräfte ist, während hingegen in der Psychologie auf der Basis des, um die Phrase auf Widerruf zu übernehmen, stärksten Motivs Wahlentscheidungen getroffen werden, die nicht, mindestens nicht mit irgendeiner Notwendigkeit, das zusammengesetzte Resultat des stärksten Motivs plus der schwächeren Motive sind, die mit ihm konkurrierten. Die Wahl ist einfach das Ergebnis des, wenn man eben so reden will, stärksten Motivs, und die schwächeren haben kein Resultat in der Handlung. Jemand verschafft sich schlicht Klarheit darüber, woran ihm am meisten gelegen ist, erkennt, daß einiges von dem, was er sonst noch will, damit unvereinbar ist, und verfolgt deshalb diese letzteren Interessen nicht weiter. Selbst wenn er zugleich immer noch, wie man zu sagen beliebt, an ihnen hängt, bleiben sie, solange er den Zweck verfolgt, an dem ihm am meisten gelegen ist, im Status eines bloßen Sehnens, das auf die Handlungen keinen Einfluß zu haben braucht. Schwächere "Motive" in der Psychologie sind unwirksam, schwächere Kräfte in der Physik bestimmen anteilig das Resultat. Wenn es eine Parallele gäbe, wäre jede Handlung der Versuch, auf sämtliche Ziele gleichzeitig loszugehen, die zu begehren einem gerade passiert ist. Das aber ist nicht der Fall16• Man versucht nicht, halb ins Theater und halb in den Wald zu gehen, um sodann mit seiner Handlung irgendwo dazwischen zu enden. Man wählt vielmehr, ins Theater zu gehen, und das schwächere Bedürfnis, in den Wald zu gehen, äußert sich für diesmal in gar keiner Handlung; oder umgekehrt. In der Wahl ist die Verwerfung von etwas enthalten, das von jeder Mitwirkung bei dem endgültigen Resultat ausgeschlossen wird, während kein Kausalvorgang denkbar ist, bei dem eine Komponente von anderen gehindert würde, oder davor zurückträte, zur Gesamtwirkung beizutragen. Das Verwerfen, das die andere Seite des Wählens (das einerseits ein Vorziehen ist) ausmacht, und impliziert, daß ein Anspruch zu nichts wird, ist aus diesem Grunde nach dem Schema 1 5 Die Welt als Wille und Vorstellung I. § 55. S. 35 1 . Vgl. Joseph Priestley: The Doctrine of Philo­ sophical Necessity. S . 8. 1 6 William David Ross: Foundations of Ethics. S . 229: "our action would be an attempt to get to some extent each and all of the many things we happen to be desiring; and it is clear that such action would be futile in the extreme". -

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der mechanischen (oder quasi-mechanischen psychischen) Kausalität nicht erklärbar. Es gibt kein psychologisches Gesetz von der Zusammenwirkung aller Kräfte; sondern: einige "Kräfte" werden, durch das Treffen einer Wahl, der Auswirkung in Gestalt einer Handlung beraubt17• (Das impliziert, was öfters bemerkt wurde, daß es Freiheit strenggenommen nur für Wesen gibt, die - Ja und - Nein sagen können.)

§ 45 Allerdings scheint diese Kritik der Theorie des stärksten Motivs angreifbar. Es ließe sich argwöhnen, sie beruhe auf einer Diallele, indem sie nämlich schlicht voraus­ setze, daß jenes Wählen stattfinde, von welchem gerade in Frage stehe, ob es statt­ finde. Wenn umgekehrt die Theorie des stärksten Motivs lehre, die Wahl sei deter­ miniert durch das stärkste Motiv: der Mensch habe "eine vollkommene Wahlent­ scheidung vor dem Thiere voraus"18, so sei damit jene Voraussetzung nicht anerkannt, denn die Wahl gelte ihr als bloßes Epiphänomen. Dies soll besagen, das Selbstbewußtsein des Wählens sei die Begleiterscheinung des Kampfs der aufeinanderwirkenden inneren Kräfte, ein Produkt, dessen Anwesenheit keinen Unterschied für den Ablauf des Produzierenden mache. Es ist danach Nebenprodukt, und der Sinn dieses "Neben" ist radikal: das Produzieren geschieht genau so, wie es geschehen würde, wenn es kein solches Produkt hervorbrächte, d.h.: es wendet für dieses nichts auf. Doch verhält sich die Sache in dieser Weise, so reproduziert die gegebene Erläuterung, die Einwände auffangen sollte, nur die frühere Schwierigkeit. Denn die Erzeugung eines derartigen Produkts wäre eine creatio ex nihilo, ein im Mechanismus, den das Parallelogramm der Kräfte konzipiert, Undenkbares. Kausalität begründet nicht nur nicht die Scheinbarkeit des Verursachten, sie ist genaugenommen nicht einmal mit ihr vereinbar. Doch solche Kritik überstrapaziert anscheinend die in einem viel schwächeren Sinne als angenommen behauptete Analogie von Physik und Psychologie. So stellt Schopenhauer die Auskunft, Motivation sei subsumierbar unter Kausalität, unter theoretische Vorbehalte. Die Kautelen sind teils des Inhalts, die Perspektive, freilich auch nur sie, auf das Identische von Ursache und Wirkung sei in der Psychologie dif­ ferent von der der Physik: "die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn"1 9 • Teils ist selbst konzediert, sowohl in der Schrift "über die Freiheit des Willens" wie in der­ jenigen "über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde"20, es seien drei Kausalitätstypen zu unterscheiden: "Ursachen" qua mechanischer Veränderun­ gen, "Reize" und "Motive". In den letzteren seien "die wirkenden Ursachen gesteigert zu bloßen Gedanken, die mit andern Gedanken kämpfen, bis der mächtigste von ih­ nen den Ausschlag giebt und den Menschen in Bewegung setzt; welches Alles in eben solcher Strenge des Kausalzusammenhanges vor sich geht, wie wenn rein me1 7 Ebd. S. 230: "'there is no law of the composition of all the [mental] forces concerned, but some of the forces concerned are, by an act of choice, deprived of any effect on action". 18 Die Welt als Wille und Vorstellung I. § 55. S. 351. 1 9 Ü ber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. § 43. S. 145. "' § 20. S. 46ff. Vgl. Nachlaß. Bd. 1. S. 353.

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chanische Ursachen, in komplicirter Verbindung, einander entgegen wirken und der berechnete Erfolg unfehlbar eintritt. Den Augenschein der Ursachlosigkeit, wegen Unsichtbarkeit der Ursache, haben die im Glase nach allen Richtungen umherhüp­ fenden, elektrisierten Korkkügelchen eben so sehr wie die Bewegungen des Men­ schen"21. Damit wird jedoch die vage angedeutete Differenzierung, kaum getroffen, bereits wieder als unwesentlich abgetan: Der "Gedanke" alias "Motiv" sei "eine Ursa­ che wie jede andere, ist sogar auch, wie die andern, stets ein Reales, Materielles, so­ fern es allemal zuletzt doch auf einem irgend wann und irgend wo erhaltenen Ein­ druck von außen beruht. Es hat bloß die Länge des Leitungsdrahtes voraus"22. Aller­ dings könnte man meinen, die Aura des Kausalen sei vom Bewegungsbegriff der "Motivation" unablösbar, so daß die Entdifferenzierung gegen Begriffe wie Ursache oder Reiz schon im Terminus läge, und nicht erst theoretisch konstruiert würde. Doch in diesem Fall wird auf der Ebene der theoretischen Konstruktion die gravie­ rende Entdifferenzierung zwischen Gedanken, die in Entscheiden und Handeln ein­ gehen - d.i. Gründen - einerseits, und "Motiven" andererseits vorgenommen. Dabei lebt selbst noch die ubiquitäre Nutzanwendung der Motivationspsychologie, die Ar­ tikulation von Gedanken damit zu beantworten, daß man sie mit Motiven besetzt: die Gepflogenheit also, nicht auf die vorgebrachten Argumente selber einzugehen, sondern den anderen auf die Motivation festzulegen, aus der all sein Verhalten, ein­ schließlich seines Argumentierens, abzuleiten wäre, immer noch von der Unterstel­ lung, es hätte kein als solcher ernstzunehmender Gedanke vorgelegen: eben im Un­ terschied zu etwas, das ein solcher wäre, ganz abgesehen davon, daß dergleichen Ur­ teile, wie einer motiviert sei, immerhin etwas über den anderen auszusagen bean­ spruchen, also ihrerseits nicht bloß Datenmaterial für Rückschlüsse auf die Motiva­ tionslage des Sprechers sein sollen. -

§ 46 Schopenhauer, der terrible simplificateur der Philosophie des 19. Jahrhunderts, zi­ tiert die krassesten inhaltlichen und formellen Unterschiede - die er also kennt -, um sie als theoretisch nichtig auszugeben: "Der Weg der Wahrheit aber ist, das identische Wesen der Kausalität wiederzuerkennen auf allen verschiedenen Stufen, wo es sich in verschiedenen Gestalten zeigt, als mechanische, physische, chemische Ursach, als Reiz, als anschauliches Motiv, als abstraktes gedachtes Motiv: dieses wiederzuerken­ nen als Eins und dasselbe, sowohl da, wo der stoßende Körper soviel Bewegung mittheilt wie er verliert, als da wo Gedanken mit Gedanken kämpfen und der sie­ gende Gedanke endlich den Menschen in Bewegung setzt, welche Bewegung nun nicht weniger nothwendig erfolgt, als die einer gestoßenen Kugel"23• Zugrunde liegt den ganz obenhin konzedierten Unterscheidungen und sonstigen Versicherungen zum Trotz das mechanische Modell der Motivation, in dem "Begierden" als Vektor-

" Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 45. 22 Ebd. S. 36. Nachlaß. Bd. 3. S. 292. LI

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kräfte gedacht werden, die den hilflosen Täter hier- und dorthin stoßen24• Dergestalt empfiehlt Schopenhauer das Absehen von der Eigenart der betrachteten Gegen­ stände als geeignete Methode, ihnen gerecht zu werden. Die ideell hergestellte Un­ terschiedslosigkeit - "Eins und dasselbe" - aller Dinge vom Korkkügelchen bis zum Gedanken soll, bereits dies ist bemerkenswert für eine Untersuchung, die aufschluß­ reich zu sein beansprucht, deren entscheidendes Charakteristikum ausmachen. Mit der Kausalität, diesem "Lenker aller und jeder Veränderung"25, führt sich Schopen­ hauer theoretisch als im Besitz einer Kategorie auf, mit der er die fundamentale Na­ tur jeder Sache von vornherein in der Tasche hat, ohne die Sachen im einzelnen zur Kenntnis nehmen zu müssen. (Daß er die sehr verschiedenen Dinge immer noch er­ wähnen muß, die als ein und dasselbe ausgegeben werden, ist die Verlegenheit seines abstrakten Denkens - die Abstraktion ist nicht anders zu vermitteln, als indem kenntlich gemacht wird, wovon abstrahiert wird -, nicht seine Absicht.) So präsentiert sich Schopenhauers theoretischer Gesichtspunkt gerade in seiner Abstraktheit als eine einmalige Offerte - eine einzige Art von Grund für alles, was man sich vorstellen kann: "die wirkliche Lösung des Räthsels der Welt"26, der Schlüssel zu ihrer Erklä­ rung wird angeboten. Das Vorhaben hat indes just darum einen Haken: Wenn für die verschiedensten Dinge - die Art der Erklärung wird, wie bemerkt, schließlich für nicht weniger als alles in Anspruch genommen - ein einheitlicher Typus von Grund verantwortlich ist (dessen Unterarten als unwesentliche Maskierungen des se/ben ab­ getan werden, und zur Erklärung nichts beitragen sollen), dann ist umgekehrt über­ haupt nicht klar, wieso dieser so verschiedene Dinge hervorbringtz7•

24 Bzw. ziehen: "'daß er (der Wille] zwischen Motiven wählt, d.h. von ihnen hin und hergezogen wird, bis das stärkste siegt" (ebd.). 25 Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. § 20. S. 46. 26 Nachlaß. Bd. 4/II. S. 8. v Vgl. Richard Taylor: Action and Purpose. S. 250f.

KAPITEL XII

Buridans Esel § 47 Es ließe sich indes hinsichtlich der im vorigen Kapitel geäußerten Bedenken einer­ seits einwenden, über die Motivation werde doch durchaus Spezifisches ausgesagt. Andererseits ließe sich vorbringen, man könne gegen Schopenhauer (der sich, sofern er einmal die Attitüde der Demaskierung annehme, allenfalls selbst mißverstehe) nicht argumentieren wie gegen einen "psychologischen Kammerdiener"!, der, indem er etwas als bloßes Motiv decouvriere, allerdings voraussetze, es handele sich um ein solches im Unterschied zu genuinen Gründen. Die Theorie des stärksten Motivs in ih­ rer seriösen Gestalt, wie sie nicht nur Schopenhauer vertrete, verwende ihren Grundbegriff vielmehr lediglich als ein formelles Erklärungskonzept Die Angele­ genheit sei mithin so unschuldig wie beim naturwissenschaftlichen Kausalprinzip, demzufolge jedes Ereignis eine Ursache hat. "Motiv" bedeute darum in ihr nicht "peinlicher, dem Bewußtsein entzogener Inhalt", und erst recht nicht werde ein in­ haltlich bestimmtes Motiv als Grund von allem ausgegeben, welche prätendierte Entdeckung sich allerdings auf einen bloßen Namenswechsel zusammenkürzen würde. Die so proklamierte Abgrenzung ist nun zwar alles andere als evident. Doch scheint es nicht überflüssig, weiteres aus der in Frage stehenden Theorie beizubrin­ gen. Ihrer Bebilderung dient, bei Schopenhauer wie generell in der philosophischen Tradition, ein Esel, der zum Gedenken an seinen scholastischen Erfinder der Bu­ ridanische genannt wird2• Das Widerfahrnis, das nicht ganz zufällig einem Exemplar der nach hergebrachter Auffassung dümmsten Tierart aufgebürdet wurde, wird fol­ gendermaßen berichtet: ein Esel sei mit zwei genau gleichen Bündeln Heu konfron­ tiert gewesen, genau in der selben Distanz von ihnen entfernt, die zu erreichen ihn exakt die gleiche Anstrengung gekostet hätte, und er sei, unfähig zugunsten des einen oder anderen zu entscheiden, zwischen ihnen verhungert. Denn um agieren zu kön­ nen, hätte er fähig sein müssen, zu entscheiden, und er hätte doch nur zu entscheiden vermocht, wenn er zu unterscheiden in der Lage gewesen wäre, - unterscheiden aber kann man nur, wo, mindestens in einem Merkmal, ein Unterschied besteht. Sofern diese Bedingung nicht erfüllt sei, würde das Begehren des Esels bis zum letalen Aus­ gang gewissermaßen im Gleichgewicht schweben. Der Esel verhungert demnach zwi1 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. S. 81. Vgl. Phänomenologie. S. 358f. 2 Vgl. Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 58f. In Buridans Schriften ist frei­

lich nur ein der selben Logik folgendes Beispiel eines Hundes überliefert, u. zw. in der expositio textus eines unveröffentlichten Kommentars zu Aristoteles' Schrift über den Himmel, in Kommentierung von Oe caelo II 13 (295b24). Der Kommentar existiert in zwei Manuskriptversionen: Bruges 477 (210v-238v) und Vat. lat. 2162 (57r - 79r) . Vgl. Anneliese Maier: Zwei Grundprobleme der scholastischen Natur­ philosophie. S. 205. - Gerhard Krieger: Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus. S. 152. - Bezüglich des Esels vermutet Hamilton eine mündliche Tradition: 'This illustration is especially associated with Joannes Buridanus ( ... ). The supposition of the ass &c., is not, however, as I have ascer­ tained, to be found in his writings. Perhaps it was orally advanced in disputation, or in lecturing, as an example in illustration of his Determinism; perhaps it was employed by his opponents as an instance to reduce thal doctrine to absurdity" (William Hamilton: Note. S. 238).

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sehen den beiden gleich weit entfernten und gleich anziehend riechenden Heubün­ deln, weil er zwischen ihnen keine qualitative Differenz finden kann3, d.h., weil ex hypothesi keine Seite der Alternative ihm einen Grund liefert, sie der anderen vor­ zuziehen. Unbildlich gesprochen steht der Wille in Beispielen der Huridanischen Art zwei Motiven gegenüber, deren keines eine Auszeichnung vor dem anderen hat. Insofern er nun gegen beide Gegensätze in völliger Gleichgültigkeit ist, sei nicht zu sehen, wie eine Entscheidung für einen von ihnen zustande kommen könne; für beide bestehe ja gleich viel Grund. Inwiefern dies ein Argument gegen die Willkür ist, versteht sich nicht von selbst. Denn es stellt zwar eine zutreffende Feststellung über den Sprachgebrauch dar, wenn man behauptet, daß in Dingen, gegen die einer völlig indifferent ist, von einer Wahl strenggenommen nicht die Rede sein kann, weil eine solche irgendeinen Grund des Dafür oder Dagegen haben muß4• Wirkliche Situationen enthalten für gewöhnlich Gründe, sich so oder so zu entscheiden, die als Determinanten anzukrei­ den wären - wenn man es sich zur theoretischen Gewohnheit gemacht hat, Gründe in Ursachen umzudeuten -; die Situation des Gedankenexperiments ist demgegenüber solchen Gehalts entleert. Das entwertet die Entscheidung. Doch eben dies: daß die Gleichwertigkeit von Alternativen Entscheidungen insignifikant macht, ist trivial und für sich noch kein Argument dagegen, Freiheit als Willkür, in der es einem auf den Inhalt ankommt, zu konzipieren. Die kritische Pointe des Gedankenexperiments ist darum anders wiederzugeben. Das Argument soll zeigen, daß, unter Voraussetzung der Prämisse, es sei vernünftig, wenn sich der Wille nach der Qualität seiner Inhalte richte, sich ein Resultat ergibt, das alles andere als vernünftig ist: daß nämlich immer dann keine Wahl zustande kommt, wenn die Qualität mehrerer Inhalte gleich ist. (Und es ist evident, daß dies Resultat, bezogen auf die Kantische Frage, ob ein Wille, in dessen Bestimmung Inhalte eingehen, frei sein kann, der negativen Antwort Kants auf dieselbe korrespondiert.)

§ 48 Die naheliegendste Replik auf das Argument des Huridanischen Esels scheint in der Gegenfrage zu liegen, was der Fall, auf den es sich kapriziert, eigentlich beweise - in Anbetracht der Tatsache nämlich, daß es ihn in der Wirklichkeit, und zwar des nähe­ ren, was hier von Belang ist, in der Sphäre des empirischen Wollens (noch jenseits etwaiger moralischer Erwägungen, oder eines emphatischen Begriffs reiner Selbstbe­ stimmung) gerade nicht gibt. Die Geschichte vom Huridanischen Esel, so etwa wäre zu argumentieren, ist, welcher Aspekt zuerst Bayle denkwürdig schien, komisch5 und diese Komik hat zu ihrer Grundlage das Wissen, daß nicht einmal ein Esel von seinen eigenen Neigungen paralysiert werden könnte. Wenn sich gleichwohl psycho3 Vgl. Pierre Bayle: Art. "Buridan" C. S. 72fJ. 4 Gottfried Wilhelm Leibniz: Recueil de LeUres entre Leibniz et Clarke. Quatrieme Ecrit de Mr.

Leibniz. § 1. S. 755: "Dans !es choses indifferentes absolument, il n'y a point de choix, et par consequent point d'election ni de volonte; puisque le choix doit avoir quelque raison et principe". ' Vgl. Pierre Bayle: Art. "Buridan" C. S. 72fJ.

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logische Theorien nicht geringer Beliebtheit erfreuen, die sich den Willen als ein Etwas vorstellen, das von hinten geschoben und von vorne gezogen wird, so ist dies schlicht Resultat der Ignoranz gegenüber dem Umstand, daß kein Esel, geschweige denn ein Mensch, als ein Objekt begriffen werden kann, auf das "Kräfte" a fronte und a tergo einwirken. Sich eine Figur zu erfinden, um sodann mit deren mangelhaften Eigenschaften eine alternative Position zu begründen, ist ein Verfahren, das theore­ tisch alles begründen könnte, und also ebensowohl nichts begründet. Mit einem der Geschichte von Huridans Esel der logischen Form nach gleichen Argument könnte man beweisen, daß ein hungriger Mensch, dem man eine Scheibe Brot gibt, diese nicht essen kann, weil er an einer bestimmten Stelle in sie beißen müßte, aber jede beliebige Stelle das selbe: eben Brot der selben Konsistenz zu bieten hat. Entwe­ der ist eine Stelle näher an seinem Mund, oder verlockender, oder besser gebacken, oder - und hier ex hypothesi - alle sind gleich: in diesem Fall fängt er eben irgendwo an. Ein Problem mit dieser Art von Situationen, die ziemlich unvermeidlich sind, hat niemand. Eben weil es ganz egal ist, beißt man an der erstbesten Stelle hinein. Je­ mand, der eine Mark bezahlen muß, mag 20 Ein-Mark-Stücke haben, die sämtlich für ihn ununterscheidbar, sämtlich von gleichem Wert sowohl für ihn selber, wie für den Empfänger sind; jedes von ihnen würde die gestellte Aufgabe gleich gut erfüllen. Doch zu behaupten, in einem solchen Fall könne der Betreffende seinen Zweck nicht realisieren, ist ridikül. Häufig kommen Fälle vor, in denen ein Zweck, der von einigem Belang sein mag, durch mehrere voneinander verschiedene Mittel gleich­ mäßig gut erreicht werden kann. In solchen Fällen findet jemand, der sich diesen Zweck vorgesetzt hat, keine besondere Schwierigkeit darin, zu einem dieser Mittel zu greifen, obwohl er überzeugt ist, daß es keinen Anspruch darauf hat, den anderen vorgezogen zu werden. Und die Erwägung, die hierauf führt, bleibt ganz im Rahmen des wählenden Willens, dem es um die Realisierung seiner Absichten zu tun ist, und bemüht zur Befreiung aus dem Dilemma keinen emphatischen Begriff von Selbstbe­ stimmung, gar moralischer Autonomie.

§ 49 Das Argument ist komplex; grob genommen enthält es zwei Momente. Die Essenz des Arguments ist diese: Situationen der Indifferenz gegen zwei oder mehrere Mög­ lichkeiten kommen tatsächlich vor, aber sie enden bekanntlich nicht in der Paralyse des Willens - soweit das erste Moment -; der Gedanke, daß das eine so gut ist wie das andere (Schluß des Arguments: "die Erwägung ... "), führt aus ihnen heraus - dies das zweite Moment. Obwohl das Argument seine prima-facie-Plausibilität zunächst dem ersten Moment verdankt, liegt in ihm auch seine Schwäche. Leibniz, der eine subtile Version der Theorie des stärksten Motivs vertrat6, die durch ihren Verzicht auf eine platt naturalistische Ausdeutung gravierenden Einwänden entgeht, war das um­ schriebene Argument gegen diese Theorie geläufig. Seine Antwort lautete, Situatio­ nen der strikten qualitativen Ununterscheidbarkeit von Alternativen - in bezug auf 6 Vgl. Recueil de Leures entre Leibniz et Clarke. Cinquieme Ecrit de Mr. Leibniz. S. 762 - 778. Discours de Metaphysique. Chap. Xlll. S. 30. - Theodicee § 325. Bd. 11/2. S. 126.

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die Heubündel ist ja numerische Unterschiedenheil bei völliger qualitativer Unun­ terschiedenheit unterstellt - kämen nicht vor7• Die Behauptung, daß es solche Situa­ tionen gäbe, und daß sie nach Willkür entschieden würden, sei daher unhaltbar. Wo sie angenommen würden, erliege man bloßem trügerischen Schein . Um dies zu be­ gründen behauptet Leibniz im Zusammenhang mit dem Argument des Huridani­ schen Esels8 das Auftreten von "petites perceptions"9, im Unterbewußtsein situierter infinitesimal kleiner Wahrnehmungen der Unterschiede von Alternativen, die dem Bewußtsein - dies der trügerische Schein - ganz gleich vorkämen. Nun könnte man entgegnen, daß Situationen der strikten qualitativen Ununterscheidbarkeit von Al­ ternativen nicht eintreten, oder gar nicht eintreten könnten, sei bloße Behauptung. Aber der Appell an das Bewußtsein, doch an sich selbst nachzuprüfen, ob ihm nicht das eine Geldstück so viel gelte wie das andere, hat in Anbetracht einer Infragestel­ lung, die aufs Unterbewußte rekurriert, keinen besseren Status. Der Behauptung, Si­ tuationen der qualitativen Ununterscheidbarkeit von Alternativen gebe es nicht, steht die, es gebe sie, und sie würden kraft Willkür entschieden, gegenüber, und man darf mit Hege! konstatieren, daß ein trockenes Versichern so viel gilt wie das andere.

§ 50 Nun war die gegen den empirischen Willen kritische Intention des Arguments des Huridanischen Esels, zu zeigen, daß, unter Voraussetzung der Prämisse, es sei ver­ nünftig, wenn sich der Wille nach der Qualität seiner Inhalte richtet, sich ein Resul­ tat ergibt, das alles andere als vernünftig ist: daß nämlich immer dann keine Wahl zustande kommt, wenn die Qualität mehrerer Inhalte gleich ist. In seinem zweiten Moment aber - platt formuliert in dem Hinweis, nicht einmal ein Esel sei Esel genug (d.h. himeichend dumm), um zwischen den beiden Heubündeln zu verhungern - ent­ hält das ausführlich entwickelte Argument10 die Antwort auf diese Schwierigkeit: der Gedanke, daß das eine so gut ist wie das andere, führt aus ihr heraus. Das skurrile Moment des Huridanischen Arguments liegt ja im Tod des Esels, der mit der Eigen­ schaft des Entscheidens menschlicher Subjekte, daß sie in ihm ihre Intelligenz zum Zwecke auch ihrer Selbsterhaltung einzusetzen wissen, merkwürdig kontrastiert. Ge­ gen das Argument des Huridanischen Esels scheint darum der Einwand auf der Hand zu liegen, es konstruiere ein Wesen mit Willen, aber offensichtlich ohne Verstand. Insofern aber im Begriff der Willkür Intelligenz mitgedacht sei, werde diese gar nicht getroffen. Dies zweite Moment des vorgeführten Arguments ist in bestimmtem Sinne halt­ bar. Indessen kann man nicht Teile aus einem Argument wie aus einem Haufen her­ ausnehmen; was logisch voneinander abhängt, verhält sich zueinander nicht in der Weise eines bloßen Aggregats. Der Einwand gegen das Argument des Huridanischen Esels ist daher neu zu entwickeln. Der exoterische Anhaltspunkt der Theorie des 7 Theodicee §§ 46, 49. Bd. II/1. S. 276 - 281. 8 Nouveaux Essais sur l'Entendement Humain. Livre II: Des Idees. Chap. 1. § 15. Bd. III/1. S. 1 14. 9 Ebd. S. 10 48

§§

1 12. - Theodicee § 305. Bd. II/2. S. 95: "quelque impression [ ... ] imperceptible"'.

, 49.

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Kapitel XII

stärksten Motivs liegt wohl in dem Umstand, daß viele Sprachen das praktische Rai­ sonnement, das einem Entschluß vorausgeht, mit Worten bezeichnen, die vom Ge­ brauch der Waage genommen sind, etwa als Abwägen oder Deliberieren. Von hier aus nun gelangen die Vertreter des psychologischen Determinismus zu weitreichen­ den Schlüssen. Das Bild der Waage findet in ihnen theoretische Verwendung als die eine Seite einer Analogie, deren andere der menschliche Wille bildet11 ; und diese letztere Seite der Analogie ist es, an welcher im Huridanischen Argument stellvertre­ tend der Esel erscheint. Er fungiert nur, um das Unplausible dessen, per Analo­ gieschluß von einem Ding auf die selbstbewußte praktische Subjektivität überzuge­ hen, zu mildern, und kann auch fehlen, wo um Plausibilitätserwägungen unbeküm­ mert verfahren wird12• Der Kern des deterministischen Raisonnements ist danach dieser: Wie die Waage sich nicht nach einer Seite mehr als nach der anderen neigen könne, wenn die entgegengesetzten Gewichte gleich seien, könne ein Mensch sich nicht entscheiden, wenn die verschiedenen Motive gleichwertig seien. Wie die Waage sich notwendig nach der Seite neigen müsse, die das meiste Gewicht hat, müsse ein Mensch notwendig nach der Seite bestimmt werden, auf der das stärkste Motiv ist. Die Form des "Wie A, so B" (wobei als Inhalt des Schlusses Waage und überlegendes Subjekt die beiden Variablen füllen) zeigt, wie bereits vorweggenom­ men, an, daß ein Analogieschluß vorliegt. Nun ist kein Analogieschluß stärker, als die Gleichheit dessen reicht, was in ihm in Analogie gesetzt ist. (Ein Analogieschluß un­ terstellt Ähnlichkeit. Ähnlichkeit bezeichnet Gleichheit und Ungleichheit: Gleichheit in einer Hinsicht, Ungleichheit in anderer. Der Schluß ist desto schwächer, je größer das Ausmaß der Ungleichheit ist13.) Das Bestehen des Moments der Gleichheit ist Voraussetzung der Gültigkeit des Analogieschlusses, und kann nicht aus ihm gefolgert werden. Es wäre also durch ein anderes Argument allererst theoretisch zu etablieren, und ein solches Argument ist zunächst zu vermissen. Hierher rührt der Verdacht, entweder enthalte das deterministische Argument das als Voraussetzung, worauf es folgere, oder es zehre von der naiven Unterstellung, Redeweisen wie die vom "Abwägen" der Gründe, oder vom Deliberieren14, müßten kraft der in ihnen gebrauchten Bilder eine inhaltliche Wahrheit verbürgen. Der Satz, der bewiesen werden soll: das stärkste Motiv determiniere die Wahl, ist, so die erste kritische Deutung, die einen Zirkel aufzudecken intendiert, versteckt bereits vorausgesetzt: nur deshalb betont das Huridanische Argument die gleiche Stärke der vorliegenden Motive. Der Wille wird - implizite eine stimulus-response-Theorie 600 Jahre vor Skinner - gedacht als tabula rasa, die auf stärkere Reize, sei es rechts oder 11

763f. 12

Vgl. Recueil de Leures entre Leibniz et Clarke. Cinquieme Ecrit de Mr. Leibniz. §§ 3 u. 14. S.

So heißt es bei Dante, dessen Ehrgeiz hier nicht primär darin lag, theoretische Überzeugungen zu verbreiten, ein Mensch, frei sich zu entscheiden, müßte doch, von zwei gleich attraktiven Mahlzeiten gleich weit entfernt, vor Hunger sterben: "Intra due cibi, distanti e moventi I d'un modo, prima si mor­ ria di fame, I ehe liber'uomo l'un recasse ai denti" (La Divina Commedia. Paradiso. Canto quarto. S. 562). Vgl. Schopenhauer: Ü ber den Willen in der Natur. S. 78f. 13 Thomas Reid: Essays on the Intellectual Powers of Man. I 4. S. 237: "all arguments, drawn from analogy, are still the weaker, the greater disparity there is between the things compared". 1 4 Am lateinischen "deliberare" ist indes bemerkenswert, daß es, ursprünglich eine Bildung aus "de" und "libra", d.i. Waage, später volksetymologisch an "liberare", d.i. "befreien", angeschlossen wurde. S. Hans Haas u. Richard v. Kienle: Lateinisch-Deutsches Wörterbuch. S. 142.

Buridans Esel

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links, mit "Ausschlag" der Gliedmaßen reagieren müsse: die praktische Subjektivität samt ihrem leiblichem Ausdruck erscheint als ein Apparat, der lediglich die Reizintensität mißt und dann automatisch zu zappeln beginnt. Hierzu stipuliert das deterministische Argument eine physikalische Analogie, - aber es begründet nicht, warum man Psychologie als Physik (in dem angenommenen Sinne: als quantifizierende Analyse von Kräften, die ziehen, drücken, stoßen) betreiben sollte. Das Argument des Huridanischen Esels ist kein legitimer Prüfstein der Frage, ob das Verhalten durch die Inhalte des Begehrens determiniert ist. Weder beweist es in dieser Hinsicht etwas, noch widerlegt es etwas. Denn innerhalb der angenommenen Situation kann die Behauptung des Gegenteils gar nicht falsifiziert werden, weil ein eventuelles Ausbleiben von Verhalten nichts beweist; der Akteur müßte - wird nicht die petitio gemacht, er sei unfrei - prinzipiell ja auch frei sein, kein Verhalten zu zei­ gen. Liegt aber kein Zirkel dieser Art vor - dies die zweite Möglichkeit -, so lebt der Schluß von der Unterstellung, Redeweisen wie die vom "Abwägen" der Gründe, oder vom Deliberieren, müßten kraft der in ihnen gebrauchten Bilder eine inhaltliche Wahrheit verbürgen. Dieser Unterstellung ist aber entgegenzuhalten, daß ein Stück lebloser inaktiver Materie und ein aktives intelligentes Wesen, in ein Verhältnis des Vergleichs gebracht, einen exemplarischen Fall dessen bilden, was man verschieden nennt. Würde sich jemand konsequent, d.h. nicht lediglich in jener Sphäre der Emanzipation von der Realität, in der sich aufzuhalten der Philosophie konzediert ist, weigern, jene als ungleich zu bezeichnen, so hätte man Zweifel, ob er überhaupt weiß, was dieser Ausdruck bedeutet15• Man würde mindestens fragen: Was wäre denn ungleich, wenn es das nicht ist? In dem Maße aber, in dem ein Stück lebloser inakti­ ver Materie und ein aktives, mit Intelligenz begabtes Wesen nachgerade Muster des­ sen bilden, was man ungleich nennt, und womit man infolge dieser Einschätzung auch verschieden umgeht - selbst das Versklaven und Töten von sogenanntem Men­ schenmaterial, oberflächlich betrachtet die Behandlung eines aktiven intelligenten Wesens als eines Stücks toter inaktiver Materie, spricht vielmehr noch Bände über die Differenz -, ist der Analogieschluß vom einen zum anderen nicht zu halten. Weil das eine in einem bestimmten Falle in Ruhe bleiben würde, folgt nicht, daß das an­ dere in einem in irgendeiner Hinsicht ähnlichen Falle inaktiv bleiben würde. Das Argument ist nicht besser als eines, welches besagt, weil ein totes Tier sich nur so bewegt, wie es gezogen wird, und, wenn es mit gleicher Kraft in entgegengesetzte Richtungen gezogen wird, sich in keiner dieser Richtungen bewegt, müsse das selbe von einem lebenden Tier gelten16, denn die Ähnlichkeit zwischen einem toten und einem lebendigen Tier ist zweifellos nicht geringer als die zwischen einer Waage und einem Menschen.

1 5 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Ü ber Gewißheit §§ 329, 506. S. 183 u. 221. 1 6 Thomas Reid: Essays on the lntellectual Powers of Man. I 4. S. 238: ''The argument is no better

than this - That, because a dead animal moves only as it is pushed, and, if pushed with equal force in contrary directions, must remain at rest; therefore the same thing must happen to a living animal".

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Kapitel XII

§ 51 Die bislang vorgetragene Kritik machte den Fehler des Arguments des Huridani­ schen Esels im wesentlichen daran fest, daß in ihm der Wille ohne Intelligenz ge­ dacht werde. Es könnte allerdings entgegnet werden, auch wenn man dem Wesen In­ telligenz zuschreibe, ändere dies nichts am Resultat. Daß zwei gleich starke Motive den Willen völlig hemmen, sei nämlich vereinbar mit, analog zu, und möglicherweise begründet in dem Umstand, daß mit gleich starken Argumenten für und wider ein Urteil völliger Zweifel, d.i. suspensio iudicii, einhergeht. Tatsächlich bezieht das Ar­ gument des Huridanischen Esels den Anschein der Plausibilität auch aus etwas von dieser Art. In Beispielen des Huridanischen Typs sind zwei praktische Konklusionen gleichermaßen konsistent mit der Befriedigung der ursprünglichen Menge der Wün­ sche. Dies nun wird als praktisches Analogon zu einer Erscheinung des theoretischen Bewußtseins gedacht. Und zwar wird diese letztere Seite der Analogie gebildet durch die theoretische Stellung zu zwei Hypothesen, deren Wahrheit aufgrund der Eviden­ zen, über die man verfügt, nicht festzustellen ist. Doch diese Analogie besteht nur dem Anschein nach. Denn während nichts daran liegt, zwischen den beiden Hypo­ thesen zu entscheiden, solange für die eine so wenig spricht, wie für die andere, liegt für den Esel durchaus etwas daran, nicht zu verhungern. Der Fehler des Arguments besteht darin, daß das Wesen, an dem das Gedankenexperiment vollstreckt wird, wi­ dersprüchlich bestimmt ist. Ihm wird zunächst Intelligenz, die Fähigkeit zum ratio­ nalen Vergleich konzediert - nur weil dieser ergebnislos verläuft, soll es zu keiner Ak­ tion kommen -, doch sodann wird ihm dieselbe Fähigkeit ohne Begründung an einem nächsten Punkt abgesprochen: Denn wenn es wirklich praktische Intelligenz besäße, träte nach dem ergebnislosen Verlauf der ersten Reflexion eine weitere hinzu, des Inhalts, daß es durch jene Motive zu gar keinem Entschluß kommen kann und so nicht nur einer, sondern beide Gegenstände der Wahl verloren gehen würden. Und diese gedachte Folge bildete nun die neue Alternative zu der anderen: einen Gegen­ stand der Wahl, gleichgültig welchen, zu ergreifen. Ihrer Qualität nach wäre ihr, so würde der vergleichende Verstand schließen, der Vorzug zu geben. Das von den . Vertretern des psycho logischen Determinismus abgeleitete irrationale Resultat: die Paralyse des Willens ist keine Konsequenz des an Inhalten orientierten praktischen Überlegens, sondern eine Konsequenz der Unstimmigkeit in den Prämissen des Ge­ dankenexperiments.

KAPITEL XIII

Noch einmal: Die Theorie des stärksten Motivs § 52 Freilich bleibt die Erwiderung möglich, das Bild des Huridanischen Esels, wie der­ gleichen Illustrationen zumeist, biete eine unzureichende Darstellung der Theorie des stärksten Motivs, die nichtsdestoweniger als solche in sich schlüssig sei. Nun kam es in der zuletzt vorgebrachten Kritik auf dieses Bild kaum mehr an; bedeutsam blieb lediglich die Analogie zu Waage und Gewicht, die der Theorie des stärksten Motivs als solcher essentiell ist. Insofern kann nicht behauptet werden, das bislang Bemerkte treffe nicht die Theorie selber, sondern allenfalls ihre Illustration. Den­ noch scheint im Verhältnis zur bisherigen Weise der Argumentation die Forderung nicht ungerechtfertigt, die Kritik in stärker systematischer Weise zu entwickeln, wenn auch aus dem vom Grund des erwähnten Einwands wesentlich differenten Gesichts­ punkt heraus, daß das Theorem, um das es geht, eben das des "stärksten Motivs", mehrdeutig ist. Dieser Umstand erklärt sich aus den unterschiedlichen Kriterien, die angeboten werden, um das stärkste Motiv festzustellen. Zum einen - und deshalb wohl entwickelte Kant seine einschlägige Lehre auf der Grundlage einer Gefühls­ theorie - kann "stärkstes Motiv" so viel wie "das am stärksten gefühlte" bedeuten. In diesem Fall wäre es durch Introspektion zu messen. Zum anderen kann "stärkstes Motiv" so viel bedeuten wie: "Motiv, das tatsächlich die Handlung bestimmt". Diese beiden Möglichkeiten sind im folgenden nacheinander zu erörtern.

§ 53 Nach der ersten Version der Theorie des stärksten Motivs bedeutet "stärkstes Motiv" so viel wie "das am stärksten gefühlte". Diese Version vertritt etwa Moritz Schlick in seinen Untersuchungen zur Ethik1• Auf die Frage, welche Qualität ein Motiv zum stärksten mache, gibt Schlick zunächst und vorläufig die Antwort, "in der überwie­ genden Zahl der Fälle" handele es sich bei dem gesuchten Merkmal um "eine Ge­ fühlstönung", nämlich diejenige der "Lust"2• "In vielen, ja in bei weitem den meisten Situationen des Lebens" sei es "klar, daß der Mensch bei einem Widerstreit mehrerer Zielvorstellungen in der Richtung der angenehmsten handle"3• Doch hiermit zeigt sich Schlick in theoretischer Hinsicht durchaus unzufrieden: "um Ethik treiben zu können, ja um überhaupt das Getriebe des Handeins zu verstehen, ist uns mit einer in den meisten Fällen gültigen Regel wenig gedient; wir brauchen durchaus ein Ge­ setz, d.h. eine Beschreibung des Verhaltens, die ausnahmslos für alle Fälle zutrifft'"'. 1 Moritz Schlick: Fragen der Ethik. S. 75 86. - S. bereits Joseph Priestley: The Doctrine of Philosophical Necessity. S. 5. 2 Schlick: Fragen der Ethik. S. 79. 3 Ebd. 4 Ebd. S. 82. -

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Kapitel XIII

Dem abzuhelfen eliminiert Schlick aus seiner Ausgangsthese die einschränkenden Zusätze "in vielen Fällen" bzw. "in den meisten Fällen", und stellt das allgemeine Ur­ teil auf: "von den als Motive wirkenden Vorstellungen setzt sich die schließlich am meisten lustbetonte oder am wenigsten unlustbetonte durch und verdrängt die übri­ gen, und damit ist die Handlung eindeutig bestimmt"5. Der Unterschied, der zwi­ schen beiden Formulierungen besteht, ist kein lediglich gradueller; denn im zweiten Falle handelt es sich um nichts geringeres als ein veritables Naturgesetz des menschli­ chen Willens. Dem zunächst unbegründeten6 Satz, seinem "Motivationsgesetz", dem­ zufolge "bei jeder Willenshandlung schlechthin die Entscheidung in der Richtung des am meisten lustbetonten (am wenigsten unlustbetonten) Motives e rfolgt"7, läßt Schlick sodann eine Begründung angedeihen - freilich eine von merkwürdiger Art. Aus der Tatsache, daß sich seinem "Willensgesetz" scheinbar widersprechende Fälle ohne Widerspruch subsumieren lassen, leitet Schlick die Allgemeingültigkeit dessel­ ben ab. "So zeigt sich die Richtigkeit unseres Willensgesetzes auch in den extremsten Fällen, es erklärt sie ungezwungen ohne Hilfshypothesen. Es ist tatsächlich allgemein wahr, daß der 'Wille' dem am meisten lustbetonten Motive folgt"8. Schlick glaubt einen Beweis für sein Motivationsgesetz anzubieten - dies geht unzweideutig aus der Überschrift des betreffenden Abschnittes hervor: "Zum Beweis des Motivationsge­ setzes"9 -; aber der Umstand, auf den er sich beruft, hat für das, was in Frage steht, keine Beweiskraft. Wer den Sachverhalt, daß Körper zur Erde fallen, durch den Satz erklärt, jeder Körper strebe seinem natürlichen Ort zu10, kann für diese Erklärung den seihen Anspruch erheben wie Schlick für die seine: es gibt keinen Fall, auf den sie nicht anwendbar wäre. Daß man für jede Handlung irgendeine Theorie anführen kann, die zum Inhalt hat, der Handelnde habe "in Wirklichkeit" doch bloß um seiner Lustbarkeit willen gehandelt, bezweifelt niemand; es kommt aber einer Subreption gleich, in der Tatsache, daß ein bestimmtes Gesetz als Erklärung anwendbar ist, einen Beweis für seine Gültigkeit sehen zu wollen. Schlicks gesamte Argumentation11 hat die Form eines Fehlschlusses von "Diese Erklärung ist möglich" auf "Sie ist die richtige", oder von "Man kann die Sache so sehen" auf "So ist es". So "un­ gezwungen"12, wie Schlick behauptet, geht es im übrigen bei seiner Subsumption nicht ab. Schlick muß beträchtliche theoretische Gewaltsamkeit aufwenden, um die praktische Bestimmung, das Setzen eines Zweckes, mithin das Gegenbild der Kon­ templation, in eine ebensolche umzudeuten: Der Wille betrachte, als bloß passiver Zuschauer seiner selbst, wie das "Hin- und Herschwanken der 'Wahl'" im "Kampf der Motive" dadurch, daß "der Unterschied der Gefühlsbetonungen einen bestimmten Schwellenwert"13 überschreitet, beendet wird. (Mit der Rede von "Schwellenwerten" 5 Ebd. S. 80. 6 "Nachdem wir uns so über den Sinn des Satzes klar geworden sind, daß im Streite der Motive die

Entscheidung zugunsten des lustreichsten oder unlustärmsten falle, haben wir jetzt nach der Richtigkeit dieses Satzes zu fragen" (ebd. S. 82) . 7 Ebd. S. 82f. 8 Ebd. S. 86. 9 Ebd. S. 82. 1 0 Aristoteles: Physica 255b13, vgl. 208bll, 211a4, 255b31. 11 S. Fragen der Ethik. S. 78 86. 12 Ebd. S. 86. 1 3 Ebd. S. 80. -

Noch einmal: Die Theorie des stärksten Motivs

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und dergleichen laboriert Schlick an bereits aus Kant geläufigen14 Schwierigkeiten der Quantiftzierung von Gefühlen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß eine solche zwar nicht möglich ist, aber doch irgendwie geht15.) Eine theoretische Gewaltsamkeit dieser Art bildet auch den Ausgangspunkt der Überlegungen Schlicks. Dieser formuliert sich zunächst in der Frage: "Warum handelt der Mensch?"16. Ohne jede Erläuterung oder Begründung behandelt Schlick diese sogleich synonym mit den Fragen: "Wovon hängt es denn ab, ob eine bestimmte Vorstellung im Streit der Mo­ tive siegt oder unterliegt? Welche Eigenschaften zeichnen das siegende Motiv aus?"17• Indem Schlick mit dieser Übersetzung die Erkundigung nach Gründen ar­ gumentlos gleichsetzt mit einem Forschungsauftrag nach Bestimmungs-"Kräften" jenseits dieser: Motiven, Einflüssen, quasi dinglich18 vorgegebenen Dispositionen und ähnlich beschaffenen "Faktoren", die in ihrer Kombination - zumindest der Idee nach - eine determinierende Notwendigkeit hergeben, kann behauptet werden, es gelinge ihm nur aufgrund einer petitio principii, sich zu dem Dogma einer inneren Zwanghaftigkeit des Wollens vorzuarbeiten.

§ 54 Nach der zweiten Version der Theorie des stärksten Motivs, die zu untersuchen ist, besagt "stärkstes Motiv" so viel wie: "Motiv, das tatsächlich die Handlung be­ stimmt"19. Freilich: Definiert der Determinist das "stärkste Motiv" als "dasjenige, was sich durchsetzt", so begeht er gleichfalls eine petitio hinsichtlich derjenigen Frage, in der er sich selbst im Dissens mit der Gegenseite glaubt. Allenfalls ist die Redeweise zu halten, das stärkste Motiv werde sich durchsetzen, weil es das stärkste ist; daß es "das stärkste" ist, kann nicht die sprachliche Bedeutung von "es wird sich durchsetzen" sein. Doch es scheint leicht, die zweite Version der Theorie des stärksten Motivs, statt als petitio durch Definition, vielmehr als eine empirisch gehaltvolle Theorie zu interpretieren; und zugleich kann sie als korrigierende Konsequenz der ersten Ver­ sion begriffen werden, die ihr Kriterium dem Gefühl zu entnehmen suchte. Zufolge der zweiten Variante der Theorie des stärksten Motivs liefert nicht das Gefühl, son­ dern das Verhalten, das einer an den Tag legt, den Test, um festzustellen, welches 14 Vgl. §§ 41, 42. 15 Schlicks Theorie des Kampfs der Motive "setzt offenbar voraus, daß man verschiedene Lust- und

Unlustzustände miteinander vergleichen und von einem Mehr und Weniger der Gefühle sprechen könne. Das scheint aber unmöglich zu sein, da die Intensität von Gefühlen (oder beliebiger andrer seeli­ scher Zustände) gewiß nicht eigentlich gemessen, nicht quantitativ bestimmt werden kann. Dies letzte ist zweifellos richtig, ein Lust-Unlustkalkül mit Summen und Differenzen von Gefühlen wäre sinnlos; dennoch läßt sich der zum Verständnis der Willenshandlung nötige Vergleich von Vorstellungen nach ihrem 'Lustwert' oder ihrer 'Motivationskraft' durchführen" (Fragen der Ethik. S. 81). 1 6 Ebd. S. 75 u. 79. 1 7 Ebd. S. 78. 18 Nach Schellings Hinweis liegt in einer derartigen Umdeutung die petitio schon des Spinozistischen Determinismus: "Er (Spinoza] behandelt auch den Willen als eine Sache, und beweist dann sehr natür­ lich, daß er in jedem Falle des Wirkens durch eine andere Sache bestimmt sein müsse, die wieder durch eine andere bestimmt ist usf. ins Unendliche" (Freiheitsschrift. S. 349). 19 Vgl. Alfred Cyril Ewing: Indeterminism. S. 209 .

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Kapitel XIII

Motiv das stärkste ist. David Ross z.B. behauptet, nur durch das Tun oder Unterlas­ sen einer Handlung erfahre man, ob das Bedürfnis, sie zu vollziehen, hinreichend stark war20• Und die einzige Art und Weise, wie sich feststellen lasse, welches Motiv das stärkste sei, bestehe darin, abzuwarten, und zu sehen, welches sich tatsächlich in der Handlung äußere. Ein Psychologe könnte ein Experiment ansetzen, um die "Stärke" von Motiven in Ratten oder Menschen festzustellen, und würde so von dem Test Gebrauch machen, den der Determinist vorschlägt. Er könnte hierfür etwa ein Labyrinth konstruieren, das von den Versuchsobjekten verlangen würde, "Wahlen" zwischen alternativen Pfaden zu treffen. Das "stärkste" Motiv wäre dasjenige, wel­ ches das Versuchsobjekt tatsächlich bestimmen würde, einen Pfad eher als einen an­ deren zu benutzen. Dabei ist das experimentelle Kriterium stets ein ex post facto-Kri­ terium21 . Doch als solches ist es, was den Streitpunkt in der Kontroverse um den psychologischen Determinismus angeht, auch vollständig belanglos. In dieser Hin­ sicht ist das vorgeschlagene Experiment gar keines; es kann keinen Test abgeben, weil keine mögliche Aktion der als Versuchsobjekte fungierenden Ratten oder Men­ schen das, was in Frage steht: daß nämlich das stärkste Motiv die Wahl bestimmt, widerlegen könnte. Dies besagt, daß es keine mögliche Falsifikation der Theorie gibt, keine Tatsache, die ihr widersprechen kann - was immer passiert, es bestätigt die Theorie. Man kann sich den Test also schenken. Für die Frage, ob das stärkste Motiv die Wahl determiniert, ist er irrelevant; hinsichtlich der Frage aber, welches Motiv jeweils das stärkste ist, desavouiert er den Erklärungsanspruch der Theorie des stärksten Motivs. Verhält es sich so, daß man erst dann sagen kann, welches Mo­ tiv das stärkste ist, wenn einer gewählt hat: was bedeutet, daß die "Stärke" oder "Schwäche" eines Motivs, die als Erklärung der Entscheidung und Handlung gesetzt wird, erst aus der vollendeten Handlung zurückerschlossen wird, so liegt auch dieser Version der Theorie ein schlechter Zirkel zugrunde.

"' William David Ross: Foundations of Ethics. S. 50: "it is only by our success or failure to do the act that we can discover whether the desire was strong enough". Ross war freilich zu scharfsinnig, als daß die Theorie des stärksten Motivs für ihn das letzte Wort bedeutet hätte, s. ebd. S. 229f. 21 Joseph Priestley: The Doctrine of Philosophical Necessity. S. 13. - Vgl. Friedrich Nietzsche: Mor­ genröthe § 129. S. 1 19: "es wirken Motive, ( ... ) die wir nie vorher gegeneinander in Rechnung setzen kön­ nen".

KAPITEL XIV

Kant und der Determinismus der Subjektivität § 55 Indessen könnte eingewandt werden, diese Überlegungen seien zwar im großen und ganzen schlüssig, aber völlig irrelevant in bezug auf den Standpunkt Kants. Größere Gegensätze als dessen Idealismus und der krude Empirismus und Positivismus etwa Schlicks und selbst Schopenhauers seien schwerlich vorstellbar. Dies zeige sich schon daran, daß Kants Intention wesentlich eine mora/philosophische sei, während der­ gleichen bei den angeführten Vertretern der Theorie des stärksten Motivs wenn nicht absent, so doch allenfalls marginal sei. Nun ist der Nutzen der in der letzteren unternommenen Konstruktion eines natürlichen Willensinhalts in der Tat zunächst nicht, gleich dem der Kantischen Psychologie, ein moralischer. Betrachtete Kant eine um ihrer reinen Form willen sich selbst bestimmende moralische Subjektivität als dem Determinismus entzogen, so gilt Schopenhauer einerseits, gegen Kant, alle praktische Subjektivität als inhaltlich interessiert\ während er andererseits die Kantische Gleichsetzung eines inhaltlich interessierten mit einem determinierten Willen übernimmt, und somit auf universellen Determinismus folgert. Kants Schluß ist: der Wille ist unfrei, wenn er durch seine Inhalte bestimmt ist; also ist er nur dann frei, wenn er nicht durch seine Inhalte, sondern nur durch seine Form bestimmt ist. Schopenhauers Schluß hingegen ist: der Wille ist unfrei, wenn er durch seine Inhalte bestimmt ist; aber er ist immer durch seine Inhalte bestimmt; also ist der Wille nicht frei. Schopenhauer bietet die Inhalte des Willens, wenn er sie sich als "Motive", wie Kant als "Antriebe"2, zurechtlegt, nicht mehr zu dem Zweck gegen den Willen auf, um zu beweisen, daß die Freiheit woanders liegen müsse, sondern um diese ganz prinzipiell zu bestreiten. Zwar trifft es ferner noch zu, daß sich Schopenhauer mit Kant die Möglichkeit einer metaphysischen Freiheit in der Wahl des "intelligiblen Charakters"3 - das Paradox einer Wahl von nirgends aus - offenhielt; doch zog er an­ dererseits aus dem von Kant übernommenen Dogma, die Inhalte des Willens stün­ den als solche im Gegensatz zum Prinzip Wille, und seien ein einziges Hindernis sei­ ner Freiheit, den Schluß, die Kantische Freiheit qua Unterwerfung unter das Sitten­ gesetz sei zu streichen, da, wenn jemand sich unter das Sittengesetz unterwerfen wolle, er eben dies zum Inhalt seines Willens machen müsse. Obgleich somit Scho­ penhauers Resultat nicht das Kantische ist, kann aus dem angeführten Grund, was Schopenhauer von praktischer Subjektivität überhaupt sagt, als Ausführung jener psychologischen Andeutungen gelten, die Kant in bezug auf einen material interes­ sierten Willen macht. In Kants praktischer Philosophie ist die Theorie des stärksten Motivs gewiß eher impliziert als expliziert. Sie erscheint nicht zu der naiven Anschaulichkeit ausgemalt, 1 Vgl. Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 12. 2 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 118. Kritik der praktischen Vernunft A 129. 3 Derjenigen Instanz also, deren Züge der Kantischen Autonomie der praktischen Vernunft einge­

prägt sind - die bei Schopenhauer entfällt.

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Kapitel XIV

in der schlichtere Vertreter der philosophischen Psychologie die Beweggründe auf dem Schauplatz des Gemüts zum Kampf gegeneinander antreten lassen. Von derlei Vorstellungen behält die Kantische Philosophie lediglich das Schema zurück: sieht man etwa von den Erörterungen zum Gefühl ab, so findet man eher nur im Umriß, und doch mit Bestimmtheit die Inhalte des Willens als gegen ihn selbständige Mächte - "Triebe", "Motive", "Neigungen" etc. - vorgestellt, denen er unterworfen sei. In den letzteren - den "Neigungen" - hat das Subjekt freilich, wie Kant feststellt, einen "Begriff'4 von seinen Objekten. Und weil Kant das inhaltlich interessierte Handeln im ganzen, auch das intelligente, als unfrei kennzeichnen möchte5, erwähnt er jenen Umstand ganz ausdrücklich: "Neigung, welche Bekanntschaft mit dem Ob­ jekt des Begehrens voraussetzt"6• Doch damit gestattet sich Kant den Widerspruch, das durch Wissen Vermittelte als unmittelbare mechanische Natureinwirkung auszu­ geben. Freilich ist dies nicht durchweg offensichtlich. Der Ausdruck "Neigung" hat im neueren Sprachgebrauch, was für ehendiesen spricht, den Beiklang des Mechani­ schen, um dessentwillen ihn die Philosophie des 18. Jahrhunderts schätzte, einge­ büßt. Bei Kant aber ist er stets gegenwärtig. Nachdrücklich artikuliert findet er sich bei Wolff, der die deutsche philosophische Terminologie wie kein zweiter bestimmte, und dessen Psychologie des empirischen Willens - im Unterschied zu den gravieren­ den Differenzen in der Theorie des moralischen Willens - bei Kant, wenngleich nicht durchweg, so doch in weiten Teilen übernommen ist7• Die Rede von "Neigung" steht, so Wolff, in wesentlichem Zusammenhang mit einer klassischen Illustration der Theorie des stärksten Motivs, dem Vergleich des Willens mit einer Balkenwaage: "Es schicket sich aber das Gleichniß von der Wage deswegen sehr wohl hieher, weil der Wille oben erkläret worden durch eine Neigung gegen die Sache". Diese Redensart sei nämlich "genommen von einem Cörper, der durch eine Kraft von der senckrech­ ten Linie gegen die Horizontal-Linie auf der einen Seite geneiget wird: welches auch bey dem Ausschlage der Wage geschiehet, wie bereits oben (§. 494.) umständlich ge­ zeiget worden"8• Das Bild von Waage und Gewichten, als Metapher für Wille und Motive, enthält die Trennung der Form (Waage Wille) vom Inhalt (Gewichte Motive), auf die es Kant zentral ankommt. Die Inhalte werden als etwas außerhalb des Willens gedacht, und dieser ist rein formales Willensvermögen. Daß Kant indes, obgleich auch er von "Gewichten" und "Gegengewichten" spricht9, die Metaphorik der Waage im ganzen eher vermeidet, hat seinen Grund. Denn Kant verwendet "Neigung", wenngleich wie Wolff im Sinne eines Mechanischen, eher für einen Inhalt außerhalb des Willens, nicht, wie Wolff, für den Effekt eines Inhalts am Willen: steht "Neigung" aber für "Gewicht", so hinkt der Vergleich des Willens mit der Waage in einem weit offenkundigeren Sinne, als er es ohnedies tut. Dies bezeichnet jedoch eine Differenz in der Darstellung eher denn in der Sache. Und die "Sache", die Kant =

4 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft B 20. 5 S. § 61. Vgl. a. § 32. 6

=

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft B 20. Zum Verhältnis der Kantischen zur Wolffischen Psychologie aufschlußreich: Burkhard Tuschling: Widersprüche im transzendentalen Idealismus. S. 255 - 265. 8 Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen § 510. S. 311. Vgl. § 494. S. 301. 9 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 23. 7

Kant und der Determinismus der Subjektivität

105

mit der vulgären Theorie des stärksten Motivs teilt, ist die einer vorausgesetzten Trennung des Willens von seinen Inhalten, - deren Fehler in der Unterstellung liegt, daß diese noch außerhalb des Willens Bestand hätten. Diese Unterstellung hat kein Argument für sich, sondern nur ein Bild, eben das der Waage: "Es sind die Redens­ Arten, so hier gebrauchet worden, von der Wage genommen: denn man kan die Sa­ che noch besser erläutern, wie auch oben (§ 494.) angemerket worden. So lange die Gewichte in beyden Wage-Schalen gleich sind; so stehet die Wage inne, und kan auf keine Seite einen Ausschlag geben. Soll der Ausschlag erfolgen; so muß dem Ge­ wichte auf der einen Seite etwas zugeleget werden. Die Wage stellet in diesem Gleichnisse die Seele vor, und die Gewichte sind auf die Bewegungs-Gründe zu deu­ ten"10. Die Blindheit der Theorie des stärksten Motivs liegt darin, daß ihre Bilder, genauer geprüft, statt ihre Philosopheme zu plausibilisieren, diese vielmehr in ihrer Haltlosigkeit aufzeigen: Gewichte kann man gewiß von der Waagschale herunter­ nehmen und gesondert aufbewahren, aber was ein Interesse getrennt von dem Wil­ len, der es gesetzt hat, sein soll, ist unerfindlich. So sind die gebrauchten Bilder kei­ neswegs schlecht in dem Sinne, daß sie die intendierten Gedanken verzerrten: sie geben sie adäquat wieder, freilich auch so, daß der in ihnen enthaltene Fehler un­ verkennbar wird. In der Willensmetapher des Huridanischen Esels abstrahiert die Theorie des stärksten Motivs, wiederum in naiver, atheoretischer Form, von den bestimmten Ge­ genständen, die einen Willen erst zu einem konkreten machen, indem sie zwei unun­ terscheidbare, nur numerisch verschiedene Objekte annimmt (zwei Heubündel in gleicher Entfernung usw.). Denn sie setzt voraus, ein jedes Merkmal eines der beiden Objekte, das es vor dem anderen voraus hätte, könne die Wahl determinieren, die dann nicht frei wäre. Was übrigbleibt, ist die Vorstellung eines rein fonnalen Wil1ensvennögens, das "sich selbst" bestimmen soll, wobei unter den angenommenen Prä­ missen - die zu bestreiten freilich Grund besteht, womit sich auch die Folgerung än­ dert - nicht zu sehen ist, wie dies möglich sein soll. Wenn, zu Ende gedacht, jeder Willensinhalt die Freiheit widerlegt, so gibt es keine, weil Wollen stets heißt, etwas zu wollen. Während die Theoretiker des stärksten Motivs insofern konsequent auf Determinismus schließen, insistiert Kant - und hier erst unterscheidet er sich in der Sache von jenen - auf der von allen Inhalten getrennten Selbstbestimmung, die in der Tat unverständlich ist. Die mechanistische Interpretation der Welt provoziert bei ihm den Begriff einer deren Inhalten gänzlich enthobenen moralischen Subjektivität als - insofern von dieser Interpretation abhängiges - Komplement. Kant geht in der Prämisse mit den Theoretikern des stärksten Motivs einig: Zwecke, praktische Gründe, die einen Inhalt haben, sind auch für ihn nicht etwas, von dem nicht zu sa­ gen wäre, was sie getrennt von dem Willen, dessen Zwecke sie sind, sein sollten. Auch für Kant sind sie etwas wie Gewichte, die außerhalb des Willens noch Bestand haben könnten, - ohne daß ein Anhaltspunkt dafür erkennbar wäre, wie dies möglich sein sollte. Ohne sich weiter mit Illustrationen aufzuhalten, die den Fehler der Prä­ misse ohnehin eher aufzeigen als verdecken, erhebt Kant die Trennung des Willens von seinen Inhalten, die in der Theorie des stärksten Motivs - selbst in den nach 1 ° Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen § 509.

s. 310.

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Kapitel XIV

Kant formulierten Versionen (die seine Philosophie an Konsequenz der Reflexion durchweg unterbieten) - nur angelegt (wenngleich immer erkennbar) ist, zum Prin­ zip : demjenigen seiner praktischen Philosophie. Indem er von der Theorie des stärk­ sten Motivs die Lehre von den Inhalten des Willens als gegen diesen selbständige Mächte übernimmt, bahnt er sich den Weg zu der Alternative von inhaltlich interes­ siertem, ergo äußerlich überwältigtem, ergo unfreiem Willen einerseits, alle Inhalte aus seinen Bestimmungsgründen ausschließendem, ergo rein formalem, ergo freiem Willen andererseits, - eine Alternative, die auch den Theoretikern des stärksten Mo­ tivs geläufig war, deren zweite Seite sie aber als unverständlich verwarfen, um auf universellen Determinismus zu schließen. Nur darum bringen sowohl die Theoreti­ ker des stärksten Motivs wie Kant den inhaltlich interessierten Willen zu seinen In­ halten in das völlig äußerliche Verhältnis eines Determinats zu kausalen Determi­ nanten, weil sie jenen und diese als voneinander getrennt voraussetzen. Daß das äußerliche Determinationsverhältnis den Theoretikern des stärksten Motivs als un­ ausweichlich erscheint, während Kant ihm gegenüber den Ausschluß allen Inhalts, die Bestimmung aus der reinen, inhaltslosen Form als letzte Rettung empfiehlt, ist ein Dissens, der vollständig relativ ist auf jene Voraussetzung, und belanglos wird, wenn an ihr nicht festgehalten wird.

§ 56 Gegen diese Voraussetzung: die Auffassung, in welcher die Inhalte als gegen den Willen selbständige Mächte vorgestellt werden, ist aber gemäß dem Ausgeführten nicht lediglich einzuwenden, daß damit genaugenommen nicht ein Argument gebo­ ten wird, sondern - auch ohne die handgreifliche Illustration durch Waage und Ge­ wichte - lediglich ein Bild. Einzuwenden ist auch und vor allem, daß in ihr, nimmt man sie, wie jedenfalls Kant zu fordern scheint, theoretisch ernst, der praktische Geist von Merkmalen getrennt ist, die für ihn konstitutiv sind - notabene: nicht nur von Bedürfnissen und Interessen, sondern auch vom Wissen um die Realitätn. Ein Fehler ist dies insofern, als es ausdrücklich nicht etwa darum geht, daß einer gewiß sich beurteilend zu eigenen Bedürfnissen verhalten, und sie im Lichte anderer Be­ dürfnisse und Interessen, neuer Entschlüsse und übrigens auch theoretischer Einsich­ ten korrigieren kann. Nicht wird behauptet, von Fall zu Fall könne einer einen Zweck revidieren, weil ihm ein anderer wichtiger ist. Die Trennung, die Kants Theo­ rie der praktischen Subjektivität vollzieht, ist prinzipieller Natur12• Auf sie führt eine ebenso prinzipielle, und in dieser Hinsicht den Modus, wenngleich nicht den Inhalt der Antwort präjudizierende Weise, die Frage nach der Freiheit zu stellen, die Kant 11

Das moralische Subjekt prozediert unter "Absonderung aller Materie, d.i. Erkenntnis der Objekte" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 126) aus seinem Willen, und macht sieb in seinen Ent­ schlüssen "von keiner Theorie abhängig" (Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 12. Die Stelle ent­ stammt der "Einleitung in die Metaphysik der Sitten", die in dem die Rechtslehre enthaltenden Band veröffentlicht ist; sie ist durchaus auf ein moralisches Subjekt zu beziehen). 1 2 Linda Bowdown Cornett: The Undermining Effects of Kant's Psychological Theory upon bis Ethics. S. 103: "the claim is a purely formal one. lt is not directed against any particular object, but against all objects equally". Vgl. § 32.

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mit den Theoretikern des stärksten Motivs teilt. Dieser prinzipielle Charakter be­ steht darin, Bestimmungen ganz grundsätzlich zu hinterfragen, an denen man im ein­ zelnen gar nichts Fragwürdiges gefunden hat: "Dem empirischen Begriff der Freiheit zufolge heißt es: 'Frei bin ich, wenn ich thun kann, was ich will' : und durch das 'was ich will' ist da schon die Freiheit entschieden. Jetzt aber, da wir nach der Freiheit des Wollens selbst fragen, würde demgemäß diese Frage sich so stellen: 'Kannst du auch wollen, was du willst ! '"13• Mit der Wendung, ob man wollen könne, was man will, wird sich nicht danach erkundigt, ob einer will, was er will, im Sinne von: ob es ihm mit dem, was er als seinen Willen deklariert, ernst ist. Es geht nicht darum, ob er wirklich will, was er will, ob er sich sein Anliegen gut überlegt und sich klar für es entschieden hat. Ebensowenig wird eine Bestätigung der Trivialität verlangt, daß einer, da er wirklich will, auch - denn ab esse ad posse valet consequentia - wollen kann. Viel­ mehr handelt es sich, wie Schopenhauer andeutet, um die Forderung nach einem Willen hinter dem Willen: '"Kannst du auch wollen, was du willst ! ' - welches heraus­ kommt, als ob das Wollen noch von einem andern, hinter ihm liegenden Wollen ab­ hienge"14. Der törichte Charakter dieses Regresses ist Schopenhauer nicht entgan­ gen: "gesetzt, diese Frage [sc. : ob man wollen kann, was man will] würde bejaht, so entstände alsbald die zweite: 'Kannst du auch wollen, was du wollen willst?' und so würde es ins Unendliche höher hinaufgeschoben werden, indem wir immer ein Wol­ len von einem früheren, oder tiefer liegenden, abhängig dächten, und vergeblich strebten, auf diesem Wege zuletzt eines zu erreichen, welches wir als von gar nichts abhängig denken und annehmen müßten. Wollten wir aber ein solches annehmen; so könnten wir ebenso gut das erste, als das beliebig letzte dazu nehmen, wodurch denn aber die Frage auf die ganz einfache 'Kannst du wollen?' zurückgeführt würde"15. Statt aus diesem Raisonnement die Konsequenz zu ziehen, die als gegenstandslos er­ kannte Fragestellung fallenzulassen, sucht Schopenhauer aus ihr die Botschaft her­ überzuretten, ein freier Wille dürfe auf "gar nichts" bezogen sein. Sie reformuliert sich nun dahingehend, ob man wollen könne, ohne etwas zu wollen, und durch sie drechselt sich Schopenhauer, noch die allerdings einwandfreie Voraussetzung "Wenn ein Mensch will; so will er auch Etwas"16 heranziehend, den Übergang zum Determi­ nismus. Kant nun gibt demgegenüber auf die selbe Fragestellung, die er auch in glei­ cher Weise versteht, die abweichende Antwort, ein freier Wille sei möglich, als Inbe­ griff der Moral nämlich, da diese doch gar nichts anderes als die Abstraktion von al­ lem Inhalt sei. Diese prinzipielle Trennung macht es aber, wie sich im Werk Kants selber zeigt, unmöglich, den freien praktischen Umgang von Subjekten mit der Welt zu begreifen. Die Argumentation Kants: die Objekte würden den Willen mechanisch bestimmen, so daß er, wenn er frei sein solle, sich unter Weglassung alles (sit venia verbo: ) Objektiven aus der Bestimmung betätigen müsse, war im Rahmen seiner Philosophie immerhin als Auftakt zu einer Theorie der praktischen Subjektivität ge­ dacht. Es ist indes alles andere als Zufall, daß Kant in der Durchführung seines Pro­ gramms die Entdeckung machte, daß eine rationale Theorie des Entscheidens und 13 14 15 16

Schopenhauer: Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 6. Vgl. Nachlaß. Bd. 3. S. 133f. Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 6. Ebd. S. 6f. Ebd. S. 14.

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Handelns, die diese ohne Bezugnahme auf den Inhalt des Willens des handelnden Subjekts zu erklären sucht, unmöglich ist. Er gab dieser Entdeckung die folgende Wendung: "wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend"17• Denn da die Reinheit jener in der Abstraktion von allem Inhalt, der "Lossagung von allem Interesse"18, besteht, begreift man nicht, wie es je zu einer bestimmten Entscheidung und Handlung kommen sollte. Doch über diese unabweisliche Feststellung hinaus artikuliert Kants zitiertes Urteil seinen Entschluß, das Resultat der Unmöglichkeit einer rationalen Theorie des Praktischen unter den von ihm angenommenen Prämissen der Vernunft als 'Unvermögen' anzukreiden. So hat Kant zumindest nicht allein auf die Überzeu­ gungskraft seiner Gründe für die von ihm angebotene Lehre von gesetzlicher Form und natürlichem Inhalt des Willens vertraut, sondern zugleich und quasi präventiv betont, daß es am Verstand respektive der Vernunft selber liegt, wenn ihnen diese nicht einleuchtet: "wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des Willens sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für die menschliche Vernunft unauflösliches Problem"19• Und auch letzteres mußte erst einmal mit Argumenten unter die Leute gebracht werden: Die Vernunft sollte schließlich einsehen, daß ihre Einsichten nichts taugen. So verurteilt sich die Ver­ nunft zur Einsicht - und die bringt sie dann wieder auf - in die Unmöglichkeit des Einsehens: "Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendig­ keit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreijlichkeit"20 • Für Kant wurde damit das Begreifen und Erkennen als solches zum Problem21 • In­ dem er die Kritik des Verstandes und der Vernunft zur Grundlage seines philosophi­ schen Anliegens erklärte, geriet, wie Hege! erkannte, jeder Versuch, dieses Anliegen zu begründen, also als Resultat eines vernünftigen Gedankens darzustellen, in Ge­ gensatz zu diesem Anliegen22•

§ 57 Die letztere Erwägung legt den Verdacht nahe, daß, wenn unter Kants Prämissen der praktische Umgang von Subjekten mit der Welt nicht verständlich zu machen ist, dies womöglich doch nicht am Verstand oder der Vernunft, sondern an Kants Prä­ missen liegt. Daß Kant glaubte, frei könne der Wille nur sein, wenn er sich unter Weglassung jeden Inhalts aus der Bestimmung betätige, resultierte, gemäß dem Dar­ gelegten, aus seiner Affi nität zur Theorie des stärksten Motivs. Im 18. Jahrhundert 17

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 125. Ebd. AB 71. 19 Kritik der praktischen Vernunft A 128; vgl. A 53: Freiheit ist "das unauflöslichsie Problem". Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 122. Refl. 5440. Akad. XVIII. 182. Refl. 6849. Akad. XIX. 178. Refl. 6860. Akad. XIX. 183. "' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 128. 21 Vgl. § 17. - Gerhard Krüger: Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik. S. 203: "Kant weiß, daß die Tendenz auf Deutlichkeit des Begreifens, rein als solche genommen, der beste Weg zur Verei­ telung der 'praktischen Absicht' ist". 22 Vgl. Wissenschaft der Logik II. S. 26. 11

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trat diese teils - im naturwissenschaftlichen Determinismus - unmittelbar als Spezifi­ kation des naturwissenschaftlichen Kausalprinzips, teils - in der Ontologie - als Spezifikation des metaphysischen Prinzips vom zureichenden Grunde auf, als Anwendung desselben auf den Willen: "Denn wenn alles seinen zureichenden Grund haben muß, warum es vielmehr ist, als nicht ist; so muß es auch seinen zureichenden Grund haben, warum wir etwas wollen und nicht wollen, gleichwie es unmöglich ist, daß eine Wage einen Ausschlag geben kan, wenn nicht ein Gewichte vorhanden, welches ihn verursachet. Diese Gründe nun des Wollens und nicht Wollens pflegen wir Bewegungs-Gründe zu nennen"23• In beiden Versionen galten die Motive, von denen das stärkste die Wahl bestimmen sollte, als Realgründe, d.i. Ursachen. Tatsächlich handelte es sich aber bei dem, was die Theoretiker als "Motive" anführten, teils um Abstraktionen des psychologischen Raisonnierens über andere, und insofern, nach einer richtigen Bemerkung Reids, um bloße "entia rationis"24, teils um Erwägungen, die einer selber anstellt, und insofern um etwas, das gescheit oder dumm sein kann: also etwas, das man als Grund gerade im Unterschied zu bloßen Ursachen bezeichnen müßte. Während Schopenhauer behauptet, praktische Gedanken seien allemal Motive, ergo Ursachen, stellt Reid fest, daß das, was in den einschlägigen Beispielen für "Motive" angeführt wird, Gedanken, Handlungsgründe sind. Diese Erkenntnis be­ zieht sich auf die in der Theorie des stärksten Motivs übliche Verwendung von "Motiv" für "inhaltlich bestimmte Absicht". In einem anderen Sinne nennt man etwas "Motiv" im Sinne von "peinlicher, dem Bewußtsein entzogener Inhalt"; und in diesem Sinne sind "Motive" triftigen Gründen und ernstzunehmenden Gedanken entgegen­ gesetzt25. Man mag die mit beiden Verwendungsweisen verbundenen Theorien als falsch ansehen, ja sogar die Verwendungsweisen selbst als absurd, man mag endlich den Motivationsbegriff überhaupt wegen seiner Herkunft aus der naturwissenschaft­ lichen Bewegungslehre eo ipso für in Theorien der Subjektivität irreführend halten in jedem Fall sollte man auch als Kritiker die beiden Verwendungsweisen kennen und auseinanderhalten können. Im vorliegenden Fall handelt es sich um "Motive" im Sinne von "Willensinhalten", "Absichten". Diese letztere Bedeutung kann wiederum differenziert werden in von anderen zugeschriebene Absichten, Abstraktionen des raisonnierenden Psychologen, einerseits, und in Aspekte des eigenen Wollens, die einer selbst an sich unterscheidet, überdenkt, vergleicht, andererseits. In beiden die­ ser Unterfälle nun handelt es sich gerade nicht um Entitäten, die dem Willen des Subjekts als für sich bestehende Mächte gegenüberträten. Schopenhauer, wenn er die Theorie des stärksten Motivs verficht, begeht also denjenigen Fehler, in welchem sich seiner Auffassung nach das Desaster der Hegeischen Philosophie resümiert: bloße Abstraktionen und Gedanken zu selbständigen Wesenheiten zu hypostasieren. Dieser Hypostasierung verdankt sich das notorische Resultat, daß bei Schopenhauer die Motive mit dem Menschen agieren, während sie doch seine Gedanken sind; auf 21 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen § 496. S. 302. Vgl. § 31. S. 18. 24 Thomas Reid: Essays on the Active Powers of Man. S. 608; in dieser Einsicht berührt sich Reid mit der scholastischen Tradition, vgl. z.B. Francisco Suarez: Disputationes metaphysicae. Disp. XXIII. Sect. 7f. Opera. Bd. XXV. S. 875 882. 25 Vgl. §§ 45 (Schluß), 47 (Anfang). -

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ihr beruht die drollige Umdeutung des Umstands, daß der denkende Mensch seinen Leib zu bewegen weiß, zu dem Bild, daß die Gedanken, als wären sie etwas jenseits Liegendes, den Menschen bewegen, so "daß man geradezu sieht, wie gleichsam feine unsichtbare Fäden (die aus bloßen Gedanken bestehenden Motive) seine Bewegun­ gen lenken"26• Zwar will Schopenhauer gerade auch damit zwischen verschiedenen Arten von Ursachen differenzieren. Das Besondere der sogenannten "Motive" wird von ihm hervorgehoben. Sie seien "Gründe im Erkenntnißvermögen"27, "abstrakte Begriffe, Gedanken"28• Doch dadurch, daß es sich um Gründe handelt, ist laut Scho­ penhauer die entscheidende Symmetrie zum Fall aufeinanderprallender Billiardbälle nicht suspendiert: "Es ist durchaus weder Metapher noch Hyperbel, sondern ganz trockene und buchstäbliche Wahrheit, daß, so wenig eine Kugel auf dem Billiard in Bewegung gerathen kann, ehe sie einen Stoß erhält, eben so wenig ein Mensch von seinem Stuhle aufstehen kann, ehe ein Motiv ihn weg zieht oder treibt: dann aber ist sein Aufstehn so nothwendig und unausbleiblich, wie das Rollen der Kugel nach dem Stoß. Und zu erwarten, daß Einer etwas thue, wozu ihn durchaus kein Interesse auf­ fordert, ist wie erwarten, daß ein Stück Holz sich zu mir bewege, ohne einen Strick, der es zöge"29• Aus der Trivialität, daß niemand etwas ohne Grund tut, oder daß keine Handlung vollzogen wird, wenn nicht jemand an ihrem Vollzug interessiert ist - kurz: daß man nur wählt, woran einem in irgendeiner Hinsicht gelegen ist -, sucht Schopenhauer abzuleiten, was gar nicht daraus folgt: daß das Bestehen des Grundes automatisch die Handlung nach sich zieht. Aber durch das Zugeständnis, daß es sich überhaupt u m Gründe handelt, ist die Konklusion bereits unterminiert. Bei gegebe­ ner Ursache kann die Wirkung nicht ausbleiben. Aber etwas kann ein Grund sein, in einer bestimmten Weise zu handeln, und einer kann überzeugt sein, daß es ein Grund ist, so zu handeln, ohne daß er so handeln würde. Man kann Gründe haben, das zu tun, was man niemals tut.

§ 58 Die Differenz zwischen Gründen und Ursachen, über die Schopenhauer sich hin­ wegmogelt30, ist auch in Kants Theorie des inhaltlich interessierten praktischen Be­ wußtseins verschleiert. Während ein solches sich charakteristischerweise eine Hand26

Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 35. Nachlaß. Bd. 1. S. 241. 28 Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 35. "' Ebd. S. 44. 30 Vgl. bereits die konfuse Verwendung von "reason" und "cause" bei Joseph Priestley (The Doctrine of Philosophical Necessity. S. 28, 48), den Schopenhauer mit den Worten rühmt: "kein Schriftsteller hat die Nothwendigkeit der Willensakte so ausführlich und überzeugend dargethan, wie Priestley, in seinem diesem Gegenstand ausschließlich gewidmeten Werke: The Doctrine of philosophical necessity. Wen dieses überaus klar und faßlich geschriebene Buch nicht überzeugt, dessen Verstand muß ( ... ] wirklich paralysiert sein" (Preisschrift über die Freiheit des Willens. S. 77f.). Auch für Leibniz, der freilich min­ der krude verfährt als etwa Priestley, sind Gründe ebensosehr Inklinationen, die dem Willen zustoßen , wie Ursachen: "quand on s'examinera, l'on trouvera qu'il y a tousjours eu quelque cause ou raison qui nous a incline vers le parti qu'on a pris, quoique bien souvent on ne s'aper�oive pas de ce qui nous meut" (Theodicee § 35. Bd. 11/1. S. 2ffJ/2fJ2). v

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Jung vorsetzt, die als etwas Künftiges, noch nicht Exis derendes gar nicht Ursache dieses Bewußtseins sein kann, vielmehr von ihm als Zweck gesetzt wird, sucht Kant mit der Rede vom "Objekt des Willens" ein Reiz-Reaktions-Schema zu evozieren, obwohl jener Ausdruck der Logik seines Arguments zufolge überhaupt nur soviel wie "inhaltlich bestimmter Zweck" bedeuten kann31• Das suggerierte Reiz-Reaktions­ Schema soll das inhaltlich interessierte Subjekt als völlig passiv - als, Kantisch ge­ sprochen, Wesen bloßer "Empfänglichkeit", nicht "Tätigkeit" - ausgeben: "Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, sofern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an"32• Aber es ist unerfindlich, was das für eine Naturkausalität sein sollte, die von Gegenständen ausgehen soll, die es nicht zu ge­ ben braucht - schließlich ist die Vorstellung nicht davon abhängig, daß es das in ihr Vorgestellte gibt. In § 6 der "Kritik der praktischen Vernunft" deduziert Kant den Formalismus dar­ aus, daß "die Materie des praktischen Gesetzes, d.i. ein Objekt der Maxime, niemals anders als empirisch gegeben werden kann", der freie Wille aber "von empirischen (d.i. zur Sinnenwelt gehörigen) Bedingungen unabhängig"33 sein müsse, so daß ihm nur die reine Form bleibe. Das Argument beruht auf einer Doppeldeutigkeit des Ausdrucks "von empirischen Bedingungen unabhängig". Wenn man konzediert, ein freier Wille hänge in dem Sinne nicht von empirischen Bedingungen ab, daß kein empirisch feststellbarer Zustand oder Vorgang eine Bestimmung des Willens bewirkt - und hierauf beruht die Plausibilität der Kantischen Prämisse -, so folgt daraus keineswegs, ein freier Wille könne sich nicht durch die Erwägung von Umständen bestimmen lassen, von denen Erfahrung allein Kenntnis gibt34• Eine empirische Ursache ist eine empirische Ursache; aber Wissen um empirische Ursachen kann als Grund in freie, rationale Handlungen eingehen. Daß ein solcher Grund Freiheit verhindert, ist demgegenüber die Kantische Konklusion35• Kant schließt ausdrücklich die Möglichkeit aus, ein freies Subjekt könne sich durch die Erwägung von Umständen, von denen Erfahrung Kenntnis gibt: durch das, was es "empirisch erkannt"36 hat, bestimmen lassen. Dabei verwechselt er, nicht ohne systematische moralphilosophische Absicht, den Umstand, daß jede vernünftige Überlegung und Entscheidung auf die Qualität der Sache, um die es geht, Bezug nimmt, mit einer äußeren Naturgewalt - so als könne das Subjekt gar nicht mehr anders, wenn es die Beschaffenheit der Sache zur Kenntnis genommen hat. Und weil Kant, hierin im Unterschied zu Hege!, den Willen nicht als praktische Intelligenz denkt, tritt nach seiner Auffassung mit Wissen um die Realität etwas dem Willen Äußerliches zu diesem hinzu. Kurz: Indem Kant Gedanken über Dinge behandelt, als 3 1 s. § 32. 32 Kritik der praktischen Vernunft A 40. Vgl. Anthropologie A 203 33 Kritik der praktischen Vernunft A 52. 34

=

B 202.

Rüdiger Bittner: Moralisches Gebot oder Autonomie. S. 136. Kant verwendet an der zitierten Stelle, wie auch Kritik der praktischen Vernunft A 72, einen ei­ gentümlich starken Sinn von "unabhängig". "Hier hat 'unabhängig' wirklich den Sinn von 'getrennt von'" (Manfred Zahn: Das Problem der Einheit und des Zweckes in der Philosophie Kants. S. 96). 36 Kritik der praktischen Vernunft A 39. 35

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wären sie Dinge, konfundiert er Gründe mit Ursachen37• Freilich ist die Differenzie­ rung zwischen beiden keine Selbstverständlichkeit, sondern in hohem Maße erläute­ rungsbedürftig; es gibt nämlich, wie sogleich zu zeigen sein wird, einen ganz guten Sinn, in welchem Gründe auch als Ursachen funktionieren können, selbst müssen. Doch selbst wenn man dies annimmt, bedeutet dies - und insofern besteht jener Ein­ wand zu Recht - jedenfalls nicht, daß im menschlichen Handeln die Handlung auf die Präsenz des Willensinhalts folgen würde wie der Blitz auf den Donner. Genau dies müßte aber der Fall sein, wenn, wie Kant behauptet, das Verhältnis des Willens zu seinem Objekt im Sinne einer "Abhängigkeit vom Naturgesetze"38 zu fassen wäre.

§ 59 Die simpelste Weise, sich klarzumachen, daß Gründe auch als Ursachen funktio­ nieren müssen, ist, zu bedenken, daß kein einziges vernünftiges Argument irgendeine Wirkung in der Realität zeitigen könnte, wenn es Hörer nicht empirisch affizieren würde. Tatsächlich folgt jeder vernünftige Mensch dieser Einsicht praktisch, wenn­ gleich gewiß in der Regel ohne sich theoretisch Rechenschaft darüber abzulegen. Steht fest, daß Argumente jemanden nicht mehr empirisch affizieren (z.B. weil er blind und taub geworden ist), so ist es vernünftig, den Versuch aufzugeben, ihn zu überzeugen - nicht etwa, weil die Argumente ungültig wären, sondern weil sie empi­ risch ineffektiv, d.h. inadäquat als Mittel zum angestrebten Zweck sind. Denn solche Angemessenheit ist Bedingung der Rationalität einer Handlung. Für das hier in Frage Stehende gilt - so die These - ganz Entsprechendes: Daß Gründe im Wollen eines Gegenstandes zugleich als Ursachen funktionieren - ohne daß die von Kant ge­ troffene Reduktion auf ein Naturereignis triftig wäre -, ist in einem bestimmten Sinne eine Bedingung für die Rationalität der jeweils getroffenen Entscheidung. Die Behauptung, die damit exponiert ist, kontrastiert mit Kants hier zur Debatte stehen­ der Behauptung also wie folgt: Ein Wollen ist nicht etwa, wie Kant glaubt, genau dann vernünftig, wenn es nicht durch einen Gegenstand verursacht, sondern vielmehr genau dann, wenn es nur durch dasjenige am Gegenstand verursacht ist, was für den vom Willen gesetzten Zweck von Belang ist. Das unter der neuen Prämisse, daß Gründe auch als Ursachen funktionieren müssen, im folgenden zu formulierende Argument hat also die seihe Stoßrichtung wie das vorige, das noch eine Disjunktion von Gründen und Ursachen unterstellte: Jener Idealismus, der Anstoß daran nimmt, daß im Falle des empirischen Willens die Entscheidung je nach Beschaffenheit des Gegenstandes ausfällt, mokiert sich insofern darüber, daß sie nach sachlichen Gesichtspunkten ausfällt - also, pointiert gesagt, darüber, daß sie eine rationale Entscheidung ist. Wenn jemand gute Schokolade will, dann läßt er als Ursache dafür, daß er zu einer bestimmten Schokolade greift, alle Qualitäten der 37 Dieser Befund hinsichtlich der "Materie des Willens" korrespondiert dem von Karl-Otto Apel für die theoretische Philosophie entwickelten Ergebnis, die "Materie der Erkenntnis" könne bei Kant nicht, wie es ein adäquater Begriff der letzteren erfordern würde, qua Wahrnehmung auch als Grund in die Erkenntnis eingehen, sondern nur als affizierende Ursache (Wahrheitstheorien VI: Kant und die Folgen 11). 38 Kritik der praktischen Vernunft A 59.

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Schokolade gelten, an denen ihm gelegen ist - diese ließen sich erfahren, wenn er explizierte, was er unter guter Schokolade versteht -, nicht aber diejenigen, die ihm gleichgültig oder zuwider sind. Nicht der Gegenstand schlechthin ist also aus einer freien, vernünftigen Betätigung der praktischen Intelligenz ausgeschlossen, vielmehr muß unterschieden werden zwischen dem Zweck angemessenen und dem Zweck unangemessenen Aspekten des Gegenstandes; die dem Zweck angemessenen sind zugleich vernünftige Gründe des Entscheidens und Handelns, die ihm unange­ messenen nicht. Der Akteur aber muß jene Aspekte bemerken, d.h. sie müssen ihn empirisch affizieren - eine Wahrnehmung eines Objekts, die nicht durch dieses bewirkt wäre, wäre eine Halluzination39 -, um in sein Entscheiden und Handeln einzugehen. Jemand, der sich in einem Laden überlegt, welche Schokolade er nehmen soll, und zugleich darüber beunruhigt ist, daß raffinierte Werbepsychologen durch die Abbildung glücklicher Kühe auf Schokoladenverpackungen die Kaufge­ wohnheiten der Kunden bestimmen, bezieht rationalerweise seine Zuversicht, gleichwohl eine richtige Entscheidung zu treffen, nicht aus dem angenommenen Umstand, daß nichts am Gegenstand - der Schokolade - seine Entscheidung bestimmen wird. Er intendiert keineswegs die Art radikaler Freiheit, die ihn zugleich von allem Wissen um die für seinen Zweck interessanten und wichtigen Merkmale des Gegenstandes emanzipieren würde. Zwar hat er etwas dagegen, daß seine Entscheidung von der Abbildung auf dem Verpackungspapier oder dem Platz der Tafel im Regal bestimmt wird, weil weder das eine noch das andere zu dem zählen, was in seiner Vorstellung eine gute Schokolade ausmacht. Aber er wird durchaus Wert darauf legen, daß seine Entscheidung von der Qualität, den Zutaten, dem Preis der Schokolade bestimmt wird, weil sich eben nichts denken läßt, was jemandem, der einen Verstand besitzt und ihn gebraucht, zur Beeinflussung seiner Entscheidung gelegener sein könnte. Ein richtiges Moment der gewiß nicht unanfechtbaren These, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit40, liegt darin, daß einer, der sich in freier Weise auf die Welt zu beziehen gedenkt, unerkannte Einflüsse auf die eigene Willensbildung zu vermeiden sucht. Um dies zu erreichen, muß er Ursachen seiner Bedürfnisse und Überzeugungen kennenlemen. Dies rationale Verfahren setzt voraus, daß Merkmale des Gegenstandes, die nicht unter den gewußten Zweck fallen, die Freiheit beeinträchtigen können. Die Unterscheidung zwischen derartigen und anderen Merkmalen, die in solcher Korrektur in Anschlag gebracht wird, hat aber nur Sinn, weil nicht gilt, daß einem der Gegenstand, den man will, schlechthin, oder alle seine Merkmale, die "Materie des Wollens" überhaupt, die Freiheit nehmen.

39 40

Herbert Paul Grice: The causal theory of perception. - John Rogers Searle: Intentionality. S. 48. Vgl. §§ 105 - 120.

KAPITEL XV

Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen § 60 Das reelle Verhältnis des Wollens zu seinem Gegenstand rächt sich gewissermaßen an der Kantischen Argumentation, die es zu ignorieren sucht, indem es ihr gerade an einer Stelle unterläuft, die es in Abrede stellen soll. Die Begründung der Kantischen These, die eher ihre Paraphrase darstellt, lautet folgendermaßen: "Wenn er (der Wille] über sich selbst hinausgeht und in der Beschaffenheit irgend eines seiner Ob­ jekte das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie her­ aus"1. Die Pointe hieran ist die bekannte: Der Wille, wenn er denn ein freier solcher sein soll, darf nicht "über sich selbst hinausgehen". {Aus dieser Formulierung Kants versteht sich auch sein Sprachgebrauch, den moralischen Willen "immanent" zu nen­ nen - was ja wörtlich heißt: er bleibt innen -, den 'empirischen' hingegen "transzen­ dent"2, was wörtlich heißt: hinausgehend über. An der besagten Eigenschaft des moralischen Willens, daß er nicht "über sich selbst hinausgeht", sondern "in sich [ ... ] bleibt"3, setzt dann bekanntlich Hege! kritisch an.) Den Fall des nicht in sich bleibenden, sondern über sich hinausgehenden Willens erläutert Kant nun so: "Der Wille gibt alsdenn sich nicht selbst, sondern das Objekt durch sein Verhältnis zum Willen gibt diesem das Gesetz"4• Daß es indessen im Fall des Wollens eines Objekts keineswegs das Objekt ist, das dem Willen schlechtweg das Gesetz "gibt" - wie der zweite Satz behauptet -, läßt sich selbst Kants eigener erster Behauptung entnehmen, derzufolge es immerhin "der Wille" ist, der in dem "Objekte das Gesetz sucht", wel­ ches "ihn bestimmen soll". Insoweit einer selber vorgibt, was ihn bestimmen soll, be­ stimmt er sich auch selbst. Die Formulierung, daß der Wille selber in der Beschaf­ fenheit seines Objekts das Wie des Handelns, das er sich vornimmt, sucht, verweist unzweideutig darauf, daß im interessierten Willen anderes vorliegt als, wie gerade behauptet werden soll, ein bloßer "Mechanism"5. Kants Theorie des Praktischen ist widersprüchlich, dergestalt, daß der unzutreffenden Bestimmung des Willens, dem es um seinen Inhalt geht, als der bloßen Variable einer "Abhängigkeit vom Naturge­ setze"6, die von Kant selbst formulierte Einsicht entgegengehalten werden kann: "Eine jede Handlung hat also ihren Zweck und, da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, ir­ gend einen Zweck der Handlungen zu haben"7• "Zweck" aber ist auch die sonst so 1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten A 88. Vgl. ebd. B 88: "'Wenn der Wille [ ... ], indem er über sich selbst hinausgeht, in der Beschaffenheit irgend eines seiner Objekte das Gesetz sucht, das ihn be­ stimmen soll, so kommt jederzeit Heteronomie heraus". 2 Kritik der praktischen Vernunft A 31. 3 Rechtsphilosophie § 149. S. 298. 4 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88. 5 Kritik der praktischen Vernunft A 155. 6 Ebd. A 59. 7 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 1 1 .

Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen

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genannte "Materie des Wollens"8, und ist es falsch, Zwecke als unmittelbaren natür­ lichen Effekt aufzufassen, so kann in bezug auf die "Materie des Wollens" nichts an­ deres gelten.

§ 61 Die bisherige Argumentation ließe sich, wie es scheint, so zusammenfassen: Einer­ seits sucht Kant den Willen, dem es um seine Inhalte geht, als "heteronom" in dem Sinne darzutun, daß er "dem Naturgesetz der Begierden und Neigungen"9 unterliege. Wenn jemand das Bestehen eines Naturgesetzes behauptet, so kann erwartet wer­ den, daß er angibt, was es besagt. Kant nun meint mit dem "Naturgesetz der Be­ gierden und Neigungen" offenkundig etwas der Art, daß bei einem Willen, dem es um seine Inhalte zu tun ist, auf die Präsentation eines Gegenstandes automatisch die Reaktion erfolge. Alle Überlegungen dieser Art, die Kant anstellt, resümieren sich in der Rede vom Willen "als Begehrungs- mithin [sie] Naturvermögen"10• Sofern der Wille etwas will, wird seine Subjektivität von Kant auf eine Naturkraft reduziert. Be­ stände nun ein Naturzusammenhang der angegebenen Art, so fiele Freiheit des Willens notwendig zusammen mit der Abstraktion von allem Inhalt, und mithin, nach Kants Begriff von ihr, mit Moral. Doch dieses Beweisziel Kants, dessen Ableitung korrekt wäre, falls die Prämisse stimmte, ergibt sich nicht, weil die Prämisse vielmehr unhaltbar ist. Der Inhalt oder, wie Kant sagt, die Materie des Wollens ist nämlich, wie bemerkt11, Zweck; jemandes "Wille": das ist der Inbegriff der Zwecke, die er hat. Ein natürlicher Zweck ist jedoch eine contradictio in adjecto. Kant hat ein Bewußt­ sein davon, und sucht es doch, weil es sich dem Beweisziel nicht fügt, zu unterdrük­ ken. Wie zitiert, heißt es in der Einleitung zur Tugendlehre der "Metaphysik der Sit­ ten" in aller Klarheit: "Eine jede Handlung hat also ihren Zweck und, da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der Freiheit des handelnden Subjekts, nicht eine Wirkung der Natur, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben"12• Doch bereits zwei Seiten später ist diese Einsicht wieder aus den Augen verloren, und Kant spricht, als Anwalt der Moral, kritisch von Zwecken, die Menschen "vermöge des An­ triebes ihrer Natur [ ... ] haben"13• Kant hat mithin, wie bemerkt, einerseits eine reduk­ tionistisch-naturalistische Theorie des Willens, dem es um seinen Inhalt geht. Aus ihr würde sein Beweisziel, die Identifikation von Freiheit und Moral, folgen. Doch die Theorie ist falsch, und so wird das Beweisziel durch sie nicht erreicht. Andererseits hat Kant eine nicht-reduktionistische Theorie des Willensinhalts: die, welche besagt, daß nichts Zweck sein kann, wenn nicht das Subjekt es sich selbst zum Zweck ge-

8 Kritik der Urteilskraft A 456 = B 461. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 33. 9 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 1 10.

1 0 Kritik der Urteilskraft AB XIII. 1 1 S. § 32. Vgl. §§ 58, 60. 12 Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 1 1 . Vgl. A 4f. 13 Ebd. A 13. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 42: '"Zweck ( . . ] nach einer Naturnotwen­ digkeit". .

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macht hat. Diese Theorie stimmt zwar. Aber aus ihr ist das Beweisziel der Identifika­ tion von Freiheit und Moral nicht abzuleiten. Freilich liegt die Angelegenheit noch komplizierter. Denn Kant hat den Ehrgeiz, die Freiheit der, um das für korrekt befundene Zitat aus der Einleitung zur Tugend­ lehre aufzugreifen, "Willkür", wenngleich sie anscheinend nicht unmittelbare Natur­ wirkung ist, als nur scheinbare Freiheit und wirkliche Unfreiheit zu erweisen. Und zwar stützt sich der beabsichtigte Nachweis auf ein berühmtes Lehrstück: es ist die Einteilung aller Imperative in hypothetische und kategorische, auf deren Grundlage Kant die Freiheit, die daraus resultiert, daß jemand einen Zweck nur haben kann, indem er sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck macht, zu einer bloß scheinbaren erklärt. In diesem Argument gilt Kant der hypothetische Imperativ ge­ wissermaßen als die logische Form des empirischen Wollens, das als unfrei zu erwei­ sen ist, während der kategorische Imperativ als logische Form des freien (weil mora­ lischen) Wollens figuriert14• Dieser Überlegung haftet etwas an, das sie insgesamt in die Nähe des Paradoxons der Autonomie rückt. Nichts ist merkwürdig daran, jeman­ dem einen Rat in Form eines hypothetischen Imperativs zu geben: Wenn du dies willst, tu jenes! Hingegen ist es merkwürdig, sich das Wollen als das Ausgeben selbstadressierter Vorschriften vorzustellen. Wenn der Wille, so er denn will, Wei­ sungen ausgeben muß, deren Adressat er selber ist, so wird eine Prozedur ange­ nommen, die sich von selbst erübrigt. Denn der Wille als einer, der Vorschriften macht, muß notwendigerweise alles schon wissen, was er sodann als einer, der Vor­ schriften in Empfang nimmt, erfährt. In diesem Sinne kürzt sich aus der angenom­ menen Prozedur das Vorschriftenmachen gegen das Vorschriftenempfangen heraus. Im Aspekt des Imperativischen hat Kants Argument mithin sogleich etwas Schiefes, das nicht zu akzeptieren ist. Zugleich enthält die Überlegung etwas Richtiges. Dies ist das Moment, in wel­ chem Kant der Einsicht Rechnung trägt, daß niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Inhalt seiner Wahl selbst zum Zweck gemacht zu haben. Denn in der Lehre von den Imperativen wird das Wollen als etwas von der Art eines Satzes be­ griffen, den einer selbst auszusprechen in der Lage sein muß, damit von ihm im vollen Sinne behauptet werden kann, er wolle. Die Alternative eines von momenta­ nen Lustgefühlen gebeutelten und eines von Moralität geleiteten Handelns, die Kant an nicht wenigen Stellen seines Werkes per Reduktion allen inhaltlich interessierten Wollens auf das erstere als vollständig zu suggerieren scheint, ist damit suspendiert. Zugleich korrigiert Kant den Ungedanken eines durch sein Objekt unmittelbar ver­ ursachten Wollens15, dem seiner ursprünglichen Lehre zufolge nur durch den Rück­ gang des Willens auf seine reine Form zu entkommen war. Diese Lösung wird frei­ lich von Kant nicht aufgegeben, doch die Lage, aus der sie befreien soll, wird nun anders konzipiert. Wenn der hypothetische Imperativ die logische Form des unfreien empirischen Wollens, der kategorische Imperativ hingegen die logische Form des 14 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 93, Kritik der praktischen Vernunft A 36f. Henry Veatch: Variations on Right Reason in Ethics. S. 55: ""the action proceeding from such a merely hypothetical imperative could only be 'heteronomous' and never 'autonomous'". 1 5 Die krude und die korrigierte Version findet sich bei Kant bemerkenswerterweise in ein und dem­ selben Werk: vgl. z.B. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 1 10 mit AB 12.

Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen

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freien Wollens ist, so liegt beiden, entgegen der Lehre einer unmittelbaren physi­ schen Verursachung, ein Gedanke zugrunde16• In dieser gegenüber dem quasi-physikalischen Reduktionismus vorgenommenen Revision mag auch die Einsicht wirksam sein, daß derselbe als Stütze des Form­ Materie-Arguments unbrauchbar ist. Der Zusammenhang beider scheint freilich na­ hezuliegen, insofern sich Form und Materie nach Kant zueinander als Intelligibles und Empirisches, als ein Element der "Verstandeswelt" zu einem Element der "Sin­ nenwelt" verhalten17, nach welcher Logik man nur Verstand oder Sinnlichkeit im Wollen aufspüren müßte, um zu entscheiden, ob dieses frei ist oder nicht. Ein derar­ tiges Vorgehen legt Kant vielfach nahe, - etwa wenn er von "dem Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehret wird"18, behauptet, daß er nur von "dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande" erkannt werden kann19• Die entscheidende Differenz wäre demnach "die der Fakultäten des Menschen (der oberen und unteren), die ihn cha­ rakterisieren"20. Doch die Opposition von Verstand und Sinnlichkeit steht in Wahr­ heit quer zu denjenigen, auf die Kant in der Hauptsache hinauswill: dem Gegensatz von Form und Inhalt, sowie dem von Moral und Unmoral, auf welche Freiheit und Unfreiheit verteilt werden sollen. Insofern auch der Verstand sowohl überhaupt auf Inhalte bezogen, als auch jedes unmoralischen wie amoralischen Inhalts fähig scheint, wird Kants gesamte Suche nach, in seiner Sprache, "niederen Vermögen"21, etwa der Versuch, alles interessierte Wollen als Gefühl zu deuten22, irrelevant. Ge­ genüber dem mit dem Form-Materie-Argument gegebenen Kriterium, demzufolge im Inhalt des Wollens seine Unfreiheit liegt, ist jede weitere Differenzierung nach der Höhe der "Fakultäten" gleichgültig; jenen Makel zu diagnostizieren, genügt es, daß überhaupt jemandes Vorhaben als "Vorstellungen der Gegenstände" für sein Tun und Lassen ausschlaggebend sind: "sie mögen Verstandes-, selbst Vernunftvor­ stellungen im Gegensatze der Vorstellungen der Sinne sein"23. Das Bedenken geht so weit, daß Kant endlich ein Maximum von Vernunft möglich scheint ohne jene Ab­ straktion von allen Inhalten, die der kritischen Ethik zufolge doch die Essenz aller Rationalität sein sollte: "Das allervernünftigste Weltwesen könnte doch immer ge­ wisser Triebfedern, die ihm von Objekten der Neigung herkommen, bedürfen, um seine Willkür zu bestimmen"24. So entgleitet Kant die Distribution von Freiheit und Unfreiheit (die an Moral und ihr kontradiktorisches Gegenteil gebunden sind) auf verschiedene Vermögen. Auch die höheren, Vernunft und Verstand (soweit sie nur auf irgendeinen Inhalt gerichtet sind), verfallen dem Argwohn Kants, sie seien un­ frei. So ist etwa die Rede von der "auf Gegenstände unseres möglichen Wollens überhaupt gerichteten Vernunft" als von einem "fremden Antrieb"25• Und mit Wen16

Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 103. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 1 17. Kritik der praktischen Vernunft A 51. 18 Kritik der praktischen Vernunft A 38. 19 Ebd. A 40, 45. "' Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 101. 21 Vgl. z.B. Kritik der praktischen Vernunft A 45. 22 s. §§ 41, 42. 23 Kritik der praktischen Vernunft A 41f. 24 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft B 16f. 25 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 94. 17

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dungen wie: "es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgendein Wohlgefallen indi­ rekt durch Vernunft"26, oder: "es sei der Sinnlichkeit (der Neigung und des Ge­ schmacks), oder des Verstandes und der Vernunft"27, bekundet Kant, welche Unter­ scheidungen er als für die Frage der Freiheit belanglos erachtet. Freilich ist hierin noch keineswegs die Einsicht enthalten, daß die Rede von natürlichen Zwecken eine contradictio in adiecto darstellt, und niemand etwas zum Zweck haben kann, ohne es sich selbst zum Zweck zu machen. Aber die für Kant aufgrund der erwünschten Al­ ternativen von Moral und Unmoral, respektive von Form und Inhalt, unausweichli­ che Bestreitung dessen, daß eine Handlung aufgrund von "Vorstellungen der Ver­ nunft"28 in den letzteren, als von Gefühlen unterschieden, das Signum ihrer Freiheit hat, mag es ihm zumindest nahegelegt haben, das Wühlen in den angeblichen "nie­ deren Vermögen" aufzugeben. Die Kritik des empirischen Willens mußte diesen nun auch auf der Höhe der Vernunft treffen. Doch wenn dies zu leisten war, konnte Kant auch einen Schritt weiter gehen, und, wie es in der Lehre von den Imperativen vollzogen ist, die ohnehin unhaltbare Analyse des empirischen Willens als eines Na­ turphänomens revozieren. Deren Aporie bestand darin, ein Vermitteltes als ein Un­ mittelbares erklären zu wollen, und dabei in den Thesen, die Unmittelbarkeit be­ haupten, auf das Vermittelte rekurrieren zu müssen. Evident ist dies in der Theorie, die Wahl sei determiniert durch das stärkste Motiv. Diese sollte am Modell des Kräf­ teparallelogramms exemplifiziert werden. Doch wäre dies Modell angemessen, so re­ sultierten die Motive unmittelbar in einer Handlung, recte: Körperbewegung (denn der Begriff der Handlung impliziert demgegenüber den eines bewußt gesetzten Zwecks). Die Wahl, Überlegung des Subjekts, hat keinerlei Analogon im Parallelo­ gramm physischer Kräfte, das doch ein adäquates Schema der praktischen Subjekti­ vität abgeben sollte. Insofern Kant mit der Lehre von den hypothetischen Imperati­ ven seine Theorie des heteronomen Handeins als eines Mechanismus, der auf die Präsentation eines Gegenstandes automatisch einschnappt, dementiert, und dem em­ pirischen Willen das Moment des Gedankens zuschreibt, entgeht er der genannten Aporie. Doch zugleich muß ein neues Argument für seine Unfreiheit gefunden werden.

§ 62 Nun ist es freilich um jedes mögliche derartige Argument, das unter den neuen Au­ spizien vorgebracht werden könnte, merkwürdig bestellt. Es müßte nämlich, wie be­ reits angedeutet, den folgenden Zweifel anmelden: wohl enthält der Wille, dessen Freiheit nun in Frage steht, Denken und Reflektieren, aber eben dieses Denken und Reflektieren könnte doch determiniert sein - und eben darum der Wille unfrei. Genau dieses Bedenken will Kant in der Tat inaugurieren, wenngleich er es unter einen Vorbehalt stellt: Die Skepsis, ob "die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei" 26

Ebd. AB 89. Ebd. AB 94. 28 Ebd. AB 88.

n

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Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen

und darum "wiederum Natur sein" müsse, gehe einen zwar "im Praktischen [ ... ] nichts an"29; doch theoretisch hält Kant diese Skepsis für durchaus rational. Die Vernunft, so besagt diese, ist determiniert, also auch dazu determiniert, sich, wie sie es tut, für frei zu halten. Freilich hätte es dann zu der Skepsis, die dies formuliert, nie kommen können. Denn in ihr ist der Determinismus der Illusion der Vernunft, sie sei frei, of­ fenkundig durchbrachen. Der Widerspruch liegt auf der Hand: wenn jene Skepsis möglich ist, ist sie falsch. Gewiß kann man in einer jeweiligen Lage unfrei sein, und wissen, daß man unfrei ist; aber die eigene Unfreiheit versteht man nur, insoweit man weiß, was es heißt, frei zu sein. Könnte man aber gar nicht wissen, was es heißt, frei zu sein, weil es Freiheit überhaupt nicht gäbe, so könnte man auch nicht wissen was die Skepsis doch als theoretisches Bedenken aufwirft -, daß man unfrei ist. Daß die Vernunft, als determinierte, sich mit Notwendigkeit eine Freiheit zuschriebe, die sie nicht besitzt, was ihr aber - daher die Möglichkeit der so formulierten Skepsis bei aller Determiniertheit auch wieder nicht verborgen bliebe, erkennt Kant indes­ sen nicht als aberwitzig. Er hält es vielmehr für eine schreckliche Vorstellung, und be­ trachtet es darum als nötig, von der "praktischen Freiheit", die einer besitzt, der "Überlegungen"30 anstellen kann - eine Freiheit, die jener Skepsis zufolge eben Un­ freiheit ist -, eine "transzendentale Freiheit"3 1 abzuheben, die nicht lediglich, wie jene, auf der Distanz des Verstandes beruht, der sich das Urteil über seine Gegenstände noch vorbehält, sondern, als "absolute Spontaneität' m, sich ganz grundsätzlich jenseits aller Ursachen und Gründe bewegt. Aber die besagte Skepsis: die Vernunft, das Be­ wußtsein könnten ja auch determiniert sein, wenn sie Überlegungen anstellen, ist un­ haltbar. Davon scheint Kant freilich selbst eine Ahnung besessen zu haben: "Nun be­ haupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d.i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d.i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein, und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden"33• Der haltbare Gedanke hieran liegt in dem Satz: "Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben". 29

Kritik der reinen Vernunft A 803 B 831. Ebd. A 802 B 830. 31 Kritik der praktischen Vernunft A 173. Kritik der reinen Vernunft A 446 B 474, A 532f. B 560f. Vorlesungen über Metaphysik. Akad. XXVIII/1. 255, 257. Vgl. Henry E. Allison: Practical and Transeendental Freedom. 32 Kritik der reinen Vernunft A 446 B 474. 33 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 100f. 30

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Der deterministische Theoretiker der Vernunft behauptet, dieselbe sei immer von einem ihr verborgenen Anderswo gelenkt, und werde dabei mit natürlicher Notwen­ digkeit zur gegenteiligen Annahme determiniert. Mit dieser Botschaft wendet er sich aber an - wer sonst könnte darüber urteilen? - die Vernunft. Er schreibt also sowohl seiner eigenen in seine Theorie investierten wie der von ihm adressierten Vernunft (der letzteren nicht, weil sie seine Ansicht schon teilte, wohl aber, weil er unterstellt, daß sie sich von ihrer Wahrheit überzeugen könne), zu, von der Freiheitsillusion, zu der Vernunft doch durch eine unentrinnbare äußere Lenkung determiniert sein soll, exemt gestellt zu sein. Das aber heißt: sie falsifizieren das von ihm behauptete Na­ turgesetz der Vernunft. Freilich ist all dies bei Kant kaum klar ausgesprochen34• Die von Kant unqualifiziert gebrauchte Wendung "mit ihrem eigenen Bewußtsein" wäre gerade dahingehend zu explizieren, daß die Vernunft nach Ansicht des Determini­ sten ohne ein Bewußtsein davon zu haben von außen gelenkt wird - und doch in der Subjektivität des Deterministen auf wundersame Weise zu einem Bewußtsein davon gelangt. Und der letzte Satz des angeführten längeren Kant-Zitats scheint sowohl auf den selbst wiederum unhaltbaren Begriff der Freiheit als Abstraktion von allem In­ halt zu schielen, wie auch die Möglichkeit offenzuhalten, in theoretischem Hinblick könne sich die Angelegenheit doch ganz anders verhalten als "in praktischer Ab­ sicht". Erst bei Hege! ist die skeptische Erwägung einer unfreien Vernunft in aller Luzidität des Nonsens überführt. Hege! bezieht sich hierbei auf den im Determinis­ mus des 18. Jahrhunderts beliebten, "sinnreich scheinende[n]"35 Gedanken, ein Ma­ gnet, wenn er Bewußtsein hätte, würde seine Richtung nach Norden als eine Be­ stimmung seines Willens, als Ausdruck seiner Freiheit ansehen. Bewußtsein, als Denken, Überlegen, Vernunft war in jener Skepsis unterstellt, doch diese sollten un­ frei, festgelegt sein, aber sich für frei halten. Indes: wenn der Magnet ein denkender und überlegender wäre, würde er um die verschiedenen Himmelsrichtungen wissen, und damit die eine Richtung nach Norden als Schranke für seine Freiheit betrachten. Selbstverständlich ist es nicht Unfreiheit oder Beschränkung, etwas Bestimmtes, und nicht alles Mögliche zu wollen. Wollen heißt eben: etwas wollen. Daß einer unter verschiedenen Möglichkeiten eine wählt, ist radikal verschieden davon, daß ihm un­ ter den verschiedenen Möglichkeiten alle bis auf eine verschlossen werden. Nicht: einen Inhalt zu haben, sondern: einen notwendigen Inhalt zu haben, nicht wählen zu können, ist Unfreiheit. Sobald einer Verschiedenes als möglich erwägen kann, aber abgehalten wird, bestimmte dieser Möglichkeiten wahrzunehmen, betrachtet er das, was ihn davon abhält, als etwas, das ihn unfrei macht: weshalb "es für den Menschen eine Schranke [ist,] auf einer Stelle festgehalten zu werden, für die Pflanze aber nicht"36• Die Richtung nach Norden, die der denkende Magnet notwendig, aber sich in ihr frei denkend, haben sollte, ist das Paradox eines natürlichen Zwecks. Der Be­ griff ist widersprüchlich, wie der der determinierten Wahl in der Theorie des stärk­ sten Motivs. In einem deterministischen System ergibt sich eben eine Resultante je 34 Ulrich Pothast spricht in bezug auf die zitierte Stelle zutreffend von einer "'fast nur thetischen Fas­ sung [ ... ) des Selbstwiderlegungs·Arguments gegen den Determinismus" bei Kant (Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. S. 251f.). 3 5 Wissenschaft der Logik I. A usg. 1832. S. 122. 36 Ebd. Vgl. S. 121 .

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nach Anteil der Kräfte, nicht eine Entscheidung zwischen ihnen37• Letzteres zeigt freilich nur die Inkonsequenz dessen an, zunächst die Begriffe des praktischen Übedegens zu konzedieren, und dann noch den Determinismus verteidigen zu wol­ len; Hegels Argument demonstriert darüber hinaus, daß sich in bezug auf ein und dasselbe Wesen folgerichtig nicht einmal zugleich theoretische Rationalität (und da­ mit die ihr eigentümliche Distanz zu den gewußten Gegenständen) zuschreiben, Freiheit aber in Abrede stellen läßt.

§ 63 Der Gedankengang war zuletzt folgender: soweit Kant den empirischen Willen nach der Logik hypothetischer Imperative versteht, suspendiert er die Deutung seiner als eines schieren Naturphänomens, und mißt ihm Intelligenz bei38• Das so zugestandene Denken aber unter den Vorbehalt stellen zu wollen, dieses selber könne doch natür­ lich determiniert sein, ist ein widersprüchliches Unterfangen. So scheint man berech­ tigt, Kants auf die Unterscheidung hypothetischer von kategorischen Imperativen ge­ gründetes Argument gegen den empirischen Willen in toto abzuweisen, noch ehe man es im einzelnen zur Kenntnis genommen hätte. Allerdings rekurriert hiergegen ein leises Bedenken. Es könnte doch sein, daß die Details der Kantischen Lehre et­ was enthielten, was jene Kritik auffinge. In der Tat glaubt Kant mit der Analyse der hypothetischen Imperative eben das beweisen zu können, was soeben implizite be­ stritten wurde: daß ein von Gedanken und Überlegungen bestimmter Wille doch notwendig immer unfrei sein könne. - Das Argument nimmt mithin seinen Ausgang von einer Klärung des Begriffs hypothetischer Imperative. Hypothetische Imperative, im Unterschied zu kategorischen, will Kant offenkundig dadurch definieren, daß in ihnen stets auf eine Mittel-Zweck-Beziehung Bezug genommen wird: "Alle Imperati­ ven nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch . Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor"39• Das, was man will, ist der Zweck, dem man nachgeht. Wer nach einem hypothetischen Imperativ handelt, der verfolgt mit dem in d�ssen Nachsatz angegebenen Mittel den in seinem Vorder­ satz spezifizierten Zweck. Erreicht er diesen, so ist er zufrieden, sofern der Zweck als realisierter die Qualitäten besitzt, die er sich zuvor vorgestellt hatte. (Die Ein­ schränkung ist notwendig, denn zuweilen ist die Erfüllung eines Wunsches eine grös­ sere Enttäuschung, als seine Nichterfüllung - wenn sich nämlich herausstellt, daß das Gewünschte mit einem zuvor unbekannten Eigenschaften ausgestattet ist, die einem das Leben sauer machen.) Jedermann ist geläufig, Wollen, Können und Tun ausein­ anderzuhalten, oder die Absicht, die Fähigkeit zu ihrer Verwirklichung, und ihre Verwirklichung selber. Will einer etwas, so wird es ihm entweder gelingen, oder nicht. Die Realisierung des Zwecks ist nicht schon im Ausdenken des Zwecks enthal­ ten, und doch ist es gerade um diese Realisierung zu tun. Darum sind Menschen, die 37 § 44. 38

39

Vgl. § 61. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 39.

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Zwecken nachgehen, abhängig davon, was aus ihrem Tun folgt. Insofern der Wille intentional, also auf ein Ziel gerichtet, ist, entsteht, so Kant, ein Widerspruch des Außer-ihm-Seins seiner Erfüllung gegen die Autonomie seines Selbstseins, d.i. seine Eigenschaft, durch nichts anderes in seinem Sosein bedingt zu sein, als durch sich selbst. Demgegenüber sind moralische Subjekte nach Kant in einer ganz eigentüm­ lich glücklichen Lage. Sie sind unabhängig selbst schon vom Wzssen darum, was bei ihrem Treiben herauskommt: "Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist's genug, daß sie ihre Pflicht tun"40• (Die letztere ist nämlich, nach der früher verwendeten Kantischen Unterscheidung, durch ihre reine Form bestimmt, während jeder Ge­ danke an den "Ausgang" eines Tuns und Lassens auf einen Inhalt Bezug nimmt.) Der Selbstgenügsamkeit des moralischen Bewußtseins, die seine Erhabenheit über alle Heteronomie, seine Freiheit als Nichtangewiesensein auf anderes belegen soll, wird von Kant sehr pointiert dem Rekurs auf anderes im hypothetischen Imperativ gegen­ übergestellt: "Wenn nun die Handlung bloß wozu anderes, als Mittel, gut sein würde, so ist der Imperativ hypothetisch"4 1 • Schon rein grammatikalisch fällt auf, daß katego­ rische Imperative nur aus einem Glied - "Tu X! " hypothetische Imperative hinge­ gen aus zwei Gliedern, einem und einem anderen - "Tu X, wenn Du Y willst!" -, be­ stehen. Ihre Form ist: "ich soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes wi/1 142• Ecce: "Man sieht aber leicht, daß der Wille hier auf etwas anderes verwiesen werde"43• Mo­ ralische Subjekte hingegen seien ausschließlich auf sich selbst verwiesen, unabhängig von dem, was in der Realität aus ihrem Treiben folge: "Was brauchen sie den Aus­ gang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird? Für sie ist's genug, daß sie ihre Pflicht tun"44• -,

'

§ 64 Nun scheint es allerdings, wenn man sich auf den hiermit vorbereiteten Streit ein­ lasse, sei alles längst zugunsten Kants präjudiziert. Denn fraglich war ja in allem Früheren nicht, ob sich ein moralischer Wille in "Absonderung aller Materie, d.i. Er­ kenntnis der Objekte"45 betätigt, und darum nur auf sich selbst verwiesen ist, ein em­ pirisch interessierter Wille sich hingegen auch auf anderes als sich selbst bezieht. Daß es sich so verhält, war längst konzediert. Bestritten war hingegen, daß hiermit ein irgend korrektes Freiheitskriterium angegeben sei. Daß Autonomie Abstraktion von allem Inhalt ist: "die Beschaffenheit des Willens, dadurch derselbe ihm selbst (unabhängig von aller Beschaffenheit der Gegenstände des Wollens) ein Gesetz

40

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernllnft AB Xlf. " Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 40. Ebenso AB 43: "als Mittel zu einer andern Ab­ sicht". Vgl. Anthony C. Genova: Kant's Transeendental Deduction of the Moral Law. S. 300 . " Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88. Ebenso AB 94: "ich soll etwas tun, darum, weil ich etwas anderes wilf". " Kritik der praktischen Vernunft A 37. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB Xlf. " Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 126. 44

Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen

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ist"46, wurde nicht geleugnet. Denn es ging nicht darum, ob der empirisch interes­ sierte Wille autonom ist, sondern darum, ob er frei ist. Autonomie aber wurde als Merkmal der Freiheit abgelehnt, weil es Argumente gab, Kants Disjunktion, entwe­ der richte sich der Wille nach sich selber, oder nach seinen Inhalten, zurückzuwei­ sen47. Übernimmt man von Kant das Bezogensein auf anderes als Kriterium der Un­ freiheit, die Abstraktion von allen bestimmten Zwecken als Kriterium der Freiheit, so sind Kants Schlußfolgerungen: die Identität von Freiheit und Moralität, und die Unfreiheit des empirischen Willens, einigermaßen unausweichlich. Nun bietet Kants auf die Zweiteilung der Imperative sich stützendes Argument keinen einzigen neuen Grund für seine Disjunktion, entweder richte sich der Wille nach sich selber, dann sei er frei, oder er richte sich nach seinen Inhalten, dann sei er unfrei. Kant setzt diese Disjunktion voraus und operiert auf ihrer Grundlage. Er versucht nicht nachzuwei­ sen, daß ein Wille, der sich unter Abstraktion von allen Inhalten selbst bestimmt, frei ist, und einer, der diese Abstraktion nicht vornimmt, unfrei. Vielmehr intendiert Kant nur noch einmal die These zu untermauern, daß - erstens - ein moralischer Wille auf nichts anderes als sich selbst verwiesen ist, wobei als selbstverständlich un­ terstellt wird, dies beweise seine Freiheit. Zweitens aber soll noch einmal gezeigt werden, daß ein empirisch interessierter Wille - dem nun, dies die Neuerung, das Denken konzediert ist - sich auf anderes als sich bezieht, wobei als selbstverständlich unterstellt wird, dies beweise seine Unfreiheit. So scheint es, daß hierbei von Kant das Entscheidende nicht mit Argumenten belegt, sondern als selbstverständlich un­ terstellt wird, und daß es sich um das, was er zeigen möchte, nicht zu streiten lohnt, weil die Prämissen, auf die es gestützt wird, solange keine neuen Argumente für sie beigebracht werden, als obsolet zu gelten haben.

§ 65 Indes scheint es nicht unbillig, sich gleichwohl auf die Kantische Argumentation ein­ zulassen. Denn unmöglich ist es trotz allem Gesagten nicht, daß sie neue Erkennt­ nisse zutage fördert. Der Ausgangspunkt ist, wie zitiert, dieser: Moralische Subjekte brauchen den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens nicht zu wissen, den der Weltlauf herbeiführen wird. Für sie ist es genug, daß sie ihre Pflicht tun. Damit sind sie ausschließlich auf sich selbst verwiesen, unabhängig von dem, was in der Realität aus ihrem Treiben folgt. Diese Selbstgenügsamkeit, die Autonomie, Freiheit als Nichtangewiesensein auf anderes, beweisen soll, scheint freilich nicht in einem selbstverständlich harmonischen Verhältnis zu einer der Voraussetzungen der Lehre vom "höchsten Gut"48 zu stehen: dem Postulat der "Unsterblichkeit der Seele"49, mithin einer jenseitigen Existenz. Zwar ist diese kein Zweck, denn zu etwas eine hof­ fend-glaubende Stellung einnehmen und es als Zweck verfolgen schließt sich aus50; 46

Ebd. AB 87.

47 Vgl. §§ 34, 35. 48 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB Xlf. 49 Kritik der praktischen Vernunft A 219 - 223. so s. § 39.

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daß die Realisierung des Zwecks nicht schon im Setzen des Zwecks enthalten ist der Kantische Einwand gegen die Freiheit des auf Zwecke ausgehenden Handeins -, ist in bezug auf das moralische, und als solches zugleich seine ewige Seligkeit postu­ lierende Subjekt gewiß irrelevant. (Daran, daß Moralität Abstraktion von allen Zwecken ist, hat sich durch jenes Postulat nichts geändert.) Relevant aber ist, daß erst recht die Erfüllung einer Hoffnung nicht in der Hoffnung enthalten ist, und das postulierte ewige Leben seinen Ort in einem Jenseits der moralischen Handlung hat51• In diesem Sinne ist das moralische Bewußtsein auf etwas anderes angewiesen, und genügt dem Freiheitskriterium, vor welchem es sich so vorteilhaft ausnehmen sollte, gerade nicht. - Ob diese Kritik, samt der in ihr vorausgesetzten Interpretation der Kantischen Postulatenlehre, haltbar ist, kann offen bleiben. Denn selbst wenn es sich so verhält, scheint es nicht abwegig, im Rekurs auf eine jenseitige Fortdauer der Seele eine zufällige Inkonsequenz gegenüber der systematisch bedeutsamen, mit dem Autonomiegedanken verknüpften Suspendierung der Idee eines transzendenten Gottes52 zu sehen. Und es ist zweifellos sinnvoll, gelegentliche Irrtümer, die, einmal als solche erkannt, auf sich beruhen können, von systematischen Fehlern zu unter­ scheiden, deren konsequente Fortsetzung eine Theorie insgesamt bestimmt. Das In­ teresse an den ersteren kann nur ephemer sein. Folgt man dieser Überlegung, so stellt sich der von Kant avisierte Kontrast zwischen unfreiem empirischem und freiem moralischem Willen anders dar. Wer nach einem hypothetischen Imperativ handelt, der verfolgt mit dem in dessen Nachsatz angegebenen Mittel den in seinem Vordersatz spezifizierten Zweck. Er­ reicht das Subjekt diesen, so ist es zufrieden, sofern der Zweck als realisierter die Qualitäten besitzt, die es sich vorgestellt hatte. Eben darum aber ist es abhängig da­ von, was aus seinem Tun folgt. Demgegenüber sind moralische Subjekte nach Kant in einer eigentümlich glücklichen Lage. Sie sind, wie bemerkt, unabhängig selbst schon vom Wzssen darum, was bei ihrem Treiben herauskommt: "Was brauchen sie den Ausgang ihres moralischen Tuns und Lassens zu wissen, den der Weltlauf herbeifüh­ ren wird? Für sie ist's genug, daß sie ihre Pflicht tun"53• Soweit deckt sich der Gedan­ kengang; doch nun wird angegeben, worin die eigentümlich glückliche Lage besteht, in welcher sich Kant zufolge moralische Subjekte (verglichen mit solchen, die Zwecke verfolgen) befinden. Wenn sie handeln, stellt sich eine Weise der "Selbst­ zufriedenheit" ein, die Kant als ein "Analogon der Glückseligkeit"54 bezeichnet. Sie werden dergestalt "eines Genusses fähig"55, der nicht ausbleiben kann, weil er reiner Selbstgenuß ist, - nicht Genuß irgendeines Gegenstandes, der, wie eine Nuß, die man geknackt hat, innen faul sein kann. Zuweilen bezeichnet Kant jenen Genuß nicht mehr nur als etwas dem Glück Analoges, sondern als das wahre Glück des Menschen selbst: "wenn er über die Anreize zum Laster gesiegt hat und seine, oft sauere, Pflicht getan zu haben sich bewußt ist, findet [er] sich in einem Zustande der Seelenruhe und Zufriedenheit, den man gar wohl Glückseligkeit nennen kann; in welchem die 51 Vgl. Hegel: Phänomenologie. S. 327, 331. »

Vgl. § 1. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB Xlf. " Kritik der praktischen Vernunft A 212. 55 Ebd. A 213. Vgl. Metaphysik der Sitten Tugendlehre A 23. 53

Zur Lehre von den hypothetischen Imperativen

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Tugend ihr eigener Lohn ist"56• Die Lehre vom automatischen Erfolg eines moralischen Bewußtseins bezieht ihre Plausibilität daraus, daß ein Erfolg, wie es scheint, dann, aber auch nur dann nicht ausbleiben kann, wenn er ein nur inne­ rer, kein äußerer ist. Absichten bergen die Möglichkeit des Scheiterns in sich, - es sei denn, es kommt nur auf die Absicht an, nicht auf ihre Verwirklichung. Mit der Moral - so das Argument - kann man nicht scheitern, weil sie eben das Reich der guten Absicht ist.

§ 66 Das Argument ist unrichtig. Zwar mag es sein, daß Moral das Reich der guten Ab­ sicht ist. Aber jede Absicht ist als solche Absicht auf Verwirklichung. Wäre selbst der Verzicht auf das Wollen von etwas das vorgesteckte Ziel: auch das darauf gerichtete Wollen könnte nicht umhin, sich als mächtig oder unmächtig zu bewähren. Auch im Umgang mit seiner Innerlichkeit kann man scheitern. Daß Absicht Absicht auf Ver­ wirklichung ist, liegt in ihrem Begriff. Damit ist ihr aber das Kriterium immanent, das sich auf Gelingen oder Scheitern bezieht. Ein immanentes Kriterium aber ist ein sol­ ches, das man anzulegen nicht umhin kann. Die Moral mag zwar befinden, es sei nicht anzu legen. Aber Begriffe, die sich auf Praktisches beziehen, wie der der Ab­ sicht, werden dieses Kriterium nicht los, weil praktisch werden nichts anderes bedeu­ tet als: versuchen, etwas zu verwirklichen57• Dies gilt selbst für Kants ziemlich un­ praktische "praktische Vernunft". Die Unvermeidlichkeit des auf Ge- oder Mißlingen bezogenen Kriteriums, dem Kant das moralische der Pflichterfüllung als Alternative entgegenzusetzen sucht, manifestiert sich allenthalben, wo Kant die moralische Selbstzufriedenheit als Kompensationsgedanken deklariert. "Die Selbstzufriedenheit der Vernunft vergilt auch die Verluste der Sinne"58• Denn in ihr gelinge es uns mora­ lischen Subjekten, "einen Wert bloß in unserer Person zu finden, der uns allen Ver­ lust dessen, was unserem Zustande einen Wert verschafft, vergüten könne"59• Im Ge­ danken der Kompensation wird Schaden vorausgesetzt; nur weil er eingetreten ist, gibt es etwas zu "vergüten" und "vergelten". Schaden aber impliziert wiederum, daß das Kriterium, das sich auf Ge- oder Mißlingen bezieht, in Anschlag gebracht wor­ den ist.

§ 67 Doch könnte eingewandt werden, dies alles ändere nichts an dem von Kant gemein­ ten fundamentalen Unterschied zwischen dem Verfolgen von Zwecken einerseits, der Moralität andererseits. Noch die sorgfältigste Ausführung eines Handgriffs 56

157. 51

Metaphysik der Sitten Tugendlehre A Vllf. Vgl. demgegenüber Kritik der praktischen Vernunft A

Kritik der praktischen Vernunft A 160: "wirklich zu machen ". Refl. 7204. Akad. XIX. 283. Vgl. Refl. 7202. Akad. XIX. 277: ''viel Uebel des Lebens". "' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 104. 58

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könne fehlschlagen. Das Gelingen sei niemals schon im Versuch enthalten. Dem kontrastiere eine Wahrheit über das moralische Bewußtsein, die von so elementarer Art sei, daß sie sich selbst in der vox populi sedimentiert habe: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Das psychologische Phänomen, auf welches Kant rekur­ riert: die Selbstzufriedenheit des moralischen Subjekts, das sich im Recht glaubt, ist nun allerdings nicht wegzureden. Aber es war nach Freiheit oder Unfreiheit die Frage, nicht nach Zufriedenheit oder Unzufriedenheit. Jene sind etwas anderes als diese; nicht einmal taugen diese zum Indiz für jene. Daß jemand zufrieden ist, spricht nicht in höherem Maße für seine Freiheit, wie daß er unzufrieden ist. Dieser letzteren Bemerkung könnte indes sogleich wiederum entgegengehalten werden, daß sie an der Pointe des Kantischen Arguments vorbeigehe. Zwar war in diesem behauptet, ein moralisches Subjekt sei eo ipso zufrieden, eines, das Zwecke verfolgt, hingegen nur akzidentell: aber dies sollte daran liegen, daß ein gutes Gewissen sich selbst genug ist, ein Zwecke verfolgendes Subjekt hingegen darauf angewiesen ist, daß etwas anderes die Wirklichkeit - mitspielt. Und in dieser Formulierung des Arguments sollten die Ausdrücke "sich selbst" und "anderes" anzeigen, wie sich Autonomie alias Freiheit und Heteronomie alias Unfreiheit auf moralisches und gegenständlich interessiertes Handeln verteilten. Nun besagt Autonomie, daß das moralische Gesetz Produkt des Subjekts ist. Hat das Subjekt, als autonomes, das moralische Gesetz selbst gegeben, so gerät es zu ihm in ein eigenartiges Verhältnis: "Da dieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist, nämlich die Form einer intellektuellen Kausalität, d.i. der Freiheit, so ist es, in­ dem es im Gegensatze mit dem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungen in uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Gegenstand der Achtung, und, indem es ihn sogar niederschlägt, d.i. demütigt, ein Gegenstand der größten Achtung, mithin auch der Grund eines positiven Gefühls"60• Dieser Dialektik, aus der Selbstverach­ tung die größte Hochachtung zu destillieren, folgt auch das gute Gewissen, auf wel­ ches sich das Kantische Argument, um dessen Prüfung es zu tun ist, stützt. Es ist vermittelt durch das schlechte Gewissen. In der Reue stellt sich auf dem Höhepunkt der Scham die Selbstzufriedenheit des moralischen Subjekts ein, das, insofern es sich selbst Sünder schimpft, so schlecht doch nicht sein kann. Der moralische Genuß die­ ses Subjekts, das "sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen kann"61, hat zur Voraussetzung, daß das Subjekt sich als diesem gegenüber "unendlich"62 inferior betrachtet, so daß "die Seele sich in dem Maße selbst zu erhe­ ben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht"63• In der Dialektik von Selbstverachtung und Selbstgerechtigkeit ist demnach nicht lediglich diese die Kompensation für jene, sondern vor allem jene die Quelle, der Grund und Inhalt dieser. Ihr Verhältnis zueinander ist eines der Konsequenz, nicht lediglich der friedlichen Koexistenz. Die Wendung "in dem Maße" in Kants Charakterisierung besagter Dialektik, daß die Seele sich in dem Maße selbst zu er­ heben glaube, als sie das heilige Gesetz über sich selbst und ihre gebrechliche Natur -

"' Kritik der praktischen Vernunft A 130. Ebd. A 138. 62 Ebd. A 131. 63 Ebd. A 138. 61

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erhaben sehe, zeigt an, daß im moralischen Bewußtsein die Erhebung der Seele durch sich selbst der "Demütigung (intellektuelle[n] Verachtung)"64 proportional ist, weil der reuige Sünder sich im Grade der Einsicht in seine Inferiorität gegenüber der moralischen Instanz, der er sich subordiniert glaubt, zugleich dem Verstockten, dem dieselbe abgeht, überlegen weiß. Freilich ist dies unter Karrtischen Prämissen zu­ gleich irrational. Denn die Sünder sind als solche sämtlich endliche Wesen. Das mo­ ralische Gesetz hingegen, da es "kein Gegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter die Erscheinungen gehört"65, unterliegt den Schranken von Raum und Zeit, den Formen der Endlichkeit, nicht. Zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen gibt es jedoch keine Proportion66• Im Verhältnis (das dann keines mehr ist) zum un­ endlichen Maßstab (der dann ebenfalls keiner mehr ist), dem moralischen Gesetz, sind alle endlichen Wesen unendlich inferior. Und darum ist eben auch, gemessen an dem selben unendlichen Maßstab, alles Endliche gleich schlecht. Auch dies ist dem moralischen Subjekt geläufig. Denn sein schlechtes Gewissen, das es von allen ein­ zelnen Taten abgelöst hat, wenn es sich ganz grundsätzlich einen Sünder schimpft, dehnt es ungefragt auf jedermann aus - so "daß wir allesamt Sünder sind"67• Durch eben dieses Bekenntnis will es sich jedoch zugleich als gut von den Bösen abheben. Doch diese Bezeichnungen hätten nur Sinn als Proportionen, gemessen an dem un­ endlich superioren Moralgesetz, zu welchem eben nach den angenommenen Prämis­ sen keine Proportion stattfindet.

§ 68 Entscheidend aber ist folgendes: Kant wollte zeigen, daß ein gutes Gewissen sich selbst genug ist, ein Zwecke verfolgendes Subjekt hingegen auf etwas anderes ange­ wiesen. Und in dieser Formulierung des Arguments sollten die Ausdrücke "sich selbst" und "anderes" anzeigen, wie sich Autonomie und Heteronomie auf morali­ sches und gegenständlich interessiertes Handeln verteilten. Aber das gute Gewissen ist, wie gezeigt, vermittelt durch das schlechte, durch Demütigung - und nach Kants Einsicht "demütigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen"68 -, Un­ tertänigkeit, und ein Gefühl unendlicher Inferiorität gegenüber dem "heilige[n]"69 moralischen Gesetz. Autonomie nun besagt, daß das moralische Gesetz Produkt des Subjekts ist. D aß jemand etwas hat schaffen können, impliziert aber, daß zwischen ihm und seinem Produkt irgendeine rationelle Proportion besteht. Die Haltung der Verehrung von etwas als heilig impliziert, daß dem Verehrenden keine solche mehr erkennbar ist. Das als heilig Verehrte muß, nach einem der Theologie beliebten 64

Ebd. A 133. Ebd. A 51. 66 § 12. 67 Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. S. 129. Vgl. Paulus: Römer 3, 23: ""Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder". Kant gibt in Abschnitt II des ersten Stückes seiner Religionsschrift (A 18 - 24 B 20 26) einen auf die Zweiweltenlehre gegründeten ""Beweis"' von 'diesem Verdammungsurteile der moralisch richtenden Vernunft" (A 35) . 68 Kritik der praktischen Vernunft A 132. "' Ebd. A 138. 65

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Ausdruck, das "Ganz Andere" sein. (Und sofern das religiöse Bewußtsein hierüber hinausgeht und das Heilige als Schöpfer, sich als dessen Geschöpf faßt, besitzt es immerhin noch so viel Rationalität, das Produkt, den Effekt des Produzenten, als dem Produzenten unterworfen zu denken.) Zwar ist die untersuchte Dialektik eine von Selbstverachtung und Selbstgerechtigkeit. Aber die Selbstverachtung ist logisch abhängig von etwas, das das Subjekt als außerhalb seiner, und als von ihm selbst ver­ schieden (woher sonst die Differenz, die in der Verachtung liegt?) imaginiert. Die Frage nach der Lokalisierung des Gewissens führt Kant in ein Dilemma: der moralischen Unterordnung halber muß das Gewissen ein Außen, der Autonomie halber aber ein Innen sein - ein Dilemma, auf das Kant nicht anders zu reagieren weiß, als indem er seine beiden Seiten affirmiert: "Das Gesetz in uns heißt Gewissen. Das Gewissen ist eigentlich die Applikation unserer Handlungen auf dieses Gesetz. Die Vorwürfe desselben werden ohne Effekt sein, wenn man es sich nicht als den Repräsentanten Gottes denkt, der seinen erhabenen Stuhl über uns, aber auch in uns einen Richterstuhl aufgeschlagen hat'00• Freilich ist dergestalt auch das Innen, ent­ gegen der Lehre von der Autonomie, als ein von außen Implantiertes konzipiert. Das moralische Subjekt ist angewiesen auf etwas Höheres jenseits seiner selbst, mit dem verglichen es erst zur schlechten Meinung über sich selbst gelangt, die ihrerseits die gute zeugt. Deshalb spricht Kant, mit der notwendigen Genauigkeit, von "Demüti­ gung (intellektuelle[r] Verachtung)'m, nicht von Demut. Eine Demütigung ist etwas, das einem von außen zugefügt wird. Zwar unterstellt auch die Demut eine vom De­ mütigen unabhängige, und ihm übergeordnete Instanz. Aber die Demütigung faßt die Differenz beider radikaler, weil das Demütigende ganz nachdrücklich als die ak­ tive, der Gedemütigte als die passive Instanz gefaßt wird. Kant spricht von der Ach­ tung als einer "Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt"72; dieses ist hierin nicht "Urheber" von jenem - wie der Gedanke der Autonomie bedeutete73 -, sondern seine abhängige Variable. Ein Effekt verweist stets auf etwas anderes als seine Ursache. Indessen sollte die Selbstzufriedenheit des Tugendhaften, der Intention des Kantischen Ge­ dankens nach, i m folgenden Sinne den Triumph des moralischen über das auf Zwecke gerichtete Handeln illustrieren: jenes sei nur auf sich selbst, dieses auf etwas jenseits seiner verwiesen. Der Vorwurf fällt auf das moralische Bewußtsein zurück. Zwar hat sich keine Revision hinsichtlich der Kantischen These ergeben, daß es alle bestimmten Zwecke aus sich ausschließt. Aber weil seine Selbstzufriedenheit nur Revers ihm widerfahrener Demütigung ist, muß es doch, konsistent vorgestellt, als auf etwas jenseits seiner verwiesen gedacht werden74• 70 Über Pädagogik A 134. 71 Kritik der praktischen Vernunft A 133. 72 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 16.

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Ebd. AB 71. 74 Vgl. Hegels logisch äquivalente Beobachtung: "Es [das Bewußtsein) scheint somit hier [in der mo­ ralischen Weltanschauung] zu seiner Ruhe und Befriedigung zu kommen, denn diese kann es nur da fmden, wo es über seinen Gegenstand nicht mehr hinauszugehen braucht, weil dieser nicht mehr über es hinausgeht. Auf der andern Seite aber setzt es selbst ihn vielmehr ausser sich hinaus, als ein Jenseits sei­ ner" (Phänomenologie. S. 332). Die Stelle spielt an auf Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88 ( ein freier Wille darf nicht "über sich selbst hinausgeh(en]"). Vgl. § 60. - Hegels Befund ist an der Po­ stulatenlehre und der Lehre vom höchsten Gut gewonnen. Doch insofern diese im Vergleich zur Lehre =

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§ 69 Indessen könnte man einwenden, diese Kritik an Kant gelinge nur darum, weil sie implizit auf das Paradox der Autonomie Bezug nehme. Denn der Widerspruch, den sie offenlege, sei letzten Endes der zwischen den beiden Behauptungen: etwas solle sich ganz nur dem eigenen Selbst verdanken, nichts anderes sein als eben dieses, und: man solle eine untertänige Stellung zu ihm einnehmen. Nur so komme es zu dem Wi­ derspruch in der Bestimmung des Moralgesetzes, es als ein proportionales Überpro­ portionales denken zu müssen. Proportional zu einem habe es zu sein, weil es eige­ nes Produkt sein solle; überproportional aber als unterwerfende, demütigende, als heilig zu verehrende Instanz. Nun sei es aber argumentativ nicht einwandfrei, in die­ sem Zusammenhang das Paradox der Autonomie ins Spiel zu bringen. Denn für das Kantische Argument, welches auf der Lehre von den Imperativen basiert, gelte noch die Prämisse, daß es in ihm nicht um eine Auflösung des Paradox der Autonomie, sondern um eine (für das letztere nur mittelbar relevante) Aporetik des empirischen Willens zu tun sei75• Dies ist in der Tat Kants argumentative Strategie. Und zwar soll mit der Analyse der hypothetischen Imperative bewiesen werden, daß der empiri­ sche, an seinen Zwecken interessierte Wille auch als ein von Gedanken und Überle­ gungen bestimmter notwendig immer unfrei sein müsse. (Diese starke Formulierung des Beweisziels ist erforderlich, damit Moral als alleinige Alternative, als die einzige Möglichkeit des Willens, wahrhaft frei zu sein, übrig bleibt.) Kants Argument nimmt, wie erwähnt, seinen Ausgang von einer Klärung des Be­ griffs hypothetischer Imperative. Diese, im Unterschied zu kategorischen, will Kant dadurch definieren, daß sie stets auf Mittel-Zweck-Beziehungen Bezug nähmen: "Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch . Jene stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas an­ derem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen, vor"76• Das, was man will, ist der Zweck, den man verfolgt. Wer nach einem hypothetischen Imperativ handelt, der verfolgt mit dem in dessen Nachsatz angegebenen Mittel den in seinem Vordersatz spezifizierten Zweck: Und einen Zweck verfolgen heißt, sich zur Ursache einer vorgestellten und gewollten Wirkung (ein Zweck ist die Vorstel­ lung einer vom Subjekt des Zwecks herbeizuführenden Wirkung) zu machen: "Wem nun die letztere" - die theoretisch anzunehmende Wirkung - "beliebt, der muß sich auch gefallen lassen, die erstere" - die Ursache - "zu sein'm. Ein hypothetischer Im­ perativ besagt: wenn du das willst, mußt du auch jenes wollen. Das "muß" soll Kants entscheidende Behauptung: das Bestehen eines unfreien Verhältnisses, implizieren. Doch dies ist nicht plausibel. Denn die Tätigkeit des Subjekts fungiert in dem in Frage stehenden Verhältnis als Ursache, nicht als Wirkung. Und der als Müssen be­ zeichnete Modus ist abhängig von einem: "wenn ich will". Der Wille bestimmt: er ist, in diesem elementaren Sinne, frei. Kant sagt vom hypothetischen Imperativ, er gelte von der Achtung und vom Gewissen systematisch weniger maßgeblich sind (vgl. § 65), macht sich da­ durch auch das Argument minder erheblich, als es ist. 75 Vgl. § 29. 76 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 39. 77 Kritik der praktischen Vernunft A 46.

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einer "andern Absicht"78• Aber die Absicht ist nicht die eines andem, sondern die ei­ gene des Willens. "Man sieht", behauptet Kant, "leicht, daß der Wille hier auf etwas anderes verwiesen werde"79• Aber das von der im Nachsatz spezifizierten Handlung Unterschiedene, auf das der Vordersatz des hypothetischen Imperativs verweist, ist er, der Wille, selber, sein Zweck, der ihm angehörige ideelle Gehalt: "ich soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes wilf'80 • Formuliert man den hypothetischen Impe­ rativ als Konditionalsatz - "Wenn Du A willst, tu B ! " -, so erkennt man, daß er be­ dingt ist. Bedingtsein, so argumentiert Kant, ist aber Abhängigkeit, die Negation der Freiheit. Doch dies entscheidet sich allererst an der Bedingung. Sie lautet: "Wenn Du A willst". Das aber besagt nicht: "ich bin abhängig", sondern, im Gegenteil: "es hängt von mir ab".

§ 70 Allerdings scheint damit ein Aspekt des von Kant offenkundig für wesentlich er­ achteten Umstands - der Rekurs auf Mittel-Zweck-Beziehungen in hypothetischen Imperativen - überspielt: nachdrücklich wird von Kant wiederholt, daß hypothetische Imperative in ihrem Nachsatz Mittel zu dem im Vordersatz spezifizierten Zweck an­ geben81. Das Handeln nach ihnen ist im ursprünglichen Wortsinn vermittelt. Diesem Umstand, der sich eben auch darin ausdrückt, daß der hypothetische Imperativ zwei Momente, der kategorische nur eines enthält, verdankt sich die denkwürdige, wider­ sprüchlich scheinende Einschätzung von Vermittlung und Unmittelbarkeit in Kants praktischer Philosophie82. Kant ist geläufig, daß Unmittelbarkeit auf ein unfreies Verhältnis verweist, und eben darum schreibt er sie dem empirisch interessierten Willen, der seine Zwecke verfolgt, zu: "Zweck ist jederzeit der Gegenstand einer Zu­ neigung, das ist, einer unmittelbaren Begierde zum Besitz einer Sache"83. Diese Be­ merkung ist intendiert im Sinne des kruden Determinismus, der den empirisch inter­ essierten Willen auf ein bloßes Naturereignis herunterzubringen sucht. Mit dessen Revision in der Lehre von den Imperativen wechselt die Einschätzung radikal. In ihr gerät Unmittelbarkeit, soeben als Signum der Unfreiheit kompromittiert, zum Zei­ chen der Dignität der Moral, während das Moment der Vermittlung die Unfreiheit des empirischen Willens beweisen soll84• Man bekommt den Ansatzpunkt des Ar78 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 43. 79

Kritik der praktischen Vernunft A 37. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88. Ebenso AB 94. 81 Ebd. AB 40, 41, 42, 43, 44, 45, 48. 82 Vgl. die bemerkenswerte Konfusion Kritik der praktischen Vernunft A 238: "Sie [die Postulate der reinen praktischen Vernunft) gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft mittelbar den Willen bestimmt". Akad. V. 132: "Sie gehen alle vom Grundsatze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft unmittelbar den Willen bestimmt". 83 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft AB X. Hervorh. abweichend vom Ori­ ginal. 84 Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 16f., 43, 93. Kritik der praktischen Vernunft A 109, 126, 128, 288 f. Metaphysik der Sitten Rechtslehre AB 20. Herber! James Paton: Der kategorische Imperativ. S. 306, 309. 110

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guments an der auch von Kant gebrauchten Wendung "Wahl der Mittel"85 zu fassen. Von dieser kann nicht partout im selben Sinne die Rede sein, wie von der Wahl, die im Setzen eines Zwecks besteht. Zwar gibt es durchaus eine Wahl der Mittel. Doch könnte man sagen: Wenn sich jemand einen Zweck gesetzt hat, dann ist er in der "Wahl" der Mittel schon nicht mehr so frei. Denn manche Mittel sind seinem Zweck angemessen, andere nicht. Welche dies sind, hängt aber nicht von seinem Gutdünken ab, sondern von den sachlichen Eigenschaften dessen, was als Mittel erwogen wird. Kants Argument ist nun das folgende: Handeln unter hypothetischen Imperativen ist ein Handeln, in welchem einer mit bestimmten Mitteln bestimmte Zwecke verfolgt. Das Verhältnis von Mitteln zu Zwecken ist aber eine besondere Form des Verhält­ nisses von Ursachen zu Wirkungen. Der hypothetische Imperativ formuliert also ein Naturgesetz: er drückt ein Kausalverhältnis aus. Dieses Verhältnis aber ist ein theo­ retisches, kein praktisches. Darum ist Handeln nach hypothetischen Imperativen Kant zufolge gar kein Handeln, d.h. es kann "nicht Praxis genannt werden"86• Doch dies ist ein "non sequitur". Richtig an dem Argument ist gewiß, daß das in Frage ste­ hende Handeln Wissen erfordert. Doch daraus folgt nicht, daß es kein Handeln ist. Denn mit der für richtig befundenen Aussage ist es vereinbar, daß die handelnde Person mit der Wahl eines bestimmten Ziels ihrem Wissen praktische Bedeutung gibt. Ebenso ist es wahr, daß von einer Wahl der Mittel nicht im selben Sinne die Rede sein kann, wie von der Wahl, die im Setzen eines Zwecks besteht, weil die An­ gemessenheit von Mitteln zu Zwecken nicht vom Gutdünken des Subjekts abhängt, sondern von den sachlichen Eigenschaften dessen, was als Mittel erwogen wird. Doch es ist nicht einwandfrei, zu behaupten, hierin liege ein Zwang87• Denn damit würde, daß der Zweck gewisse Mittel notwendig macht, umfabuliert in eine Regent­ schaft des Zwecks über das Subjekt. Daß dieser vielmehr vom Subjekt selbst gesetzt ist, wird aber durch die Notwendigkeit der Mittel gar nicht tangiert. Diese Notwen­ digkeit ist keine, die der Freiheit des Willens Eintrag tun könnte, weil sie, gemäß der Logik des Verhältnisses von Mittel und Zweck, relativ ist auf den von ihm selbst ge­ setzten Zweck. Wer die Vorteile einer Rechenmaschine nutzen will, wird ohne Selbstverleugnung ihrer Bedienungsanleitung folgen: dem praktischen Anliegen macht es nichts aus, sich an die, wie man sagt, Eigengesetzlichkeit seines Mittels zu halten, denn es geschieht aus keinem anderen Grund als dem, seinen Zweck zu errei­ chen. Daß die Allgemessenheit des Mittels an den Zweck nicht vom Willen des Sub­ jekts abhängt, sondern von den sachlichen Eigenschaften dessen, was als Mittel er­ wogen wird, deutet Kant dahingehend, im Fall hypothetischer Imperative gebe "eigentlich die Natur das Gesetz"88 - womit diese Regeln aus der Sphäre der prakti­ schen Vernunft und der Freiheit ausscheiden. Doch Kant spielt so mit einer Zwei­ deutigkeit. Allerdings 'gibt die Natur Gesetze' in dem Sinne, daß die sachlichen Ei­ genschaften von Mitteln durch ebensolche bestimmt sind. Aber daraus folgt weder, im Sinne des früheren Arguments, daß der Wille als ein Fall des Naturgesetzes in dessen Bestimmungen aufgeht, noch, daß damit eine Alternative der Art: entweder 85

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 43. Zum ewigen Frieden A 88 B 94. t't6voJ.IOV ]"47• Solche Unabhängigkeit sei erreichbar als, im Wortsinne: Selbstgenügsamkeit (a.i>'t cl.p u t a. ) . Denn das Subjekt habe keine Beeinträchtigung durch solches, was nicht in seiner Macht steht, zu fürchten, wenn, weil und insofern es sich selbst genug sei, und sich daher nicht hinausbegebe aus demjenigen Bereich, innerhalb dessen es zweifellos und absolut Herr sei: dem Bereich seiner eigenen Vorstellungen. Der Raum des vom Subjekt frei zu vollziehenden "Gebrauchs der Vorstellungen" (xp;jatc; 'tiöv cpa.v'ta.atiöv48) - die Innerlichkeit - ist stoischer Lehre zufolge sein eigenster Besitz und ganz in seiner Macht. Frei sei einer, sofern er sich nur im Bezirk des "Eigenen" (1& t o v ) halte. In ihm gilt, daß sich jeder Vorsatz eo ipso verwirklicht, weil 42 Epiktet: Diatriben I. IV, c. 1, § 1. Vgl. Encheiridion c. 1, § 3: Der Freie ist derjenige, von dem gilt: "Keiner kann dich zwingen [o il a e i � ae ci v a r �e ci a e L oil&i:lto�e)". 4 3 Diatriben I. II, c. 10, § 1. 44 Diatriben I. I, c. 1, § 23. 45 Diatriben I. I, c. 17, § 21; I. II, c. 15, § 1. 46 Diatriben I. I, c. 17, § 26. 47 Diatriben I. IV, c. 1, § 56. 48 Diatriben I. 111, c. 22, §§ 20, 103.

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er eben das Reich des Vorsatzes selber ist. Mit der Koinzidenz, daß das Nächste und Innerste auch das unbedingt Beherrschbare ist, sei die Sphäre aller möglichen Freiheit sichergestellt: Beschränke sich einer nur auf dies Eigene, so sei ihm seine Freiheit garantiert, da er ja innerhalb desselben eindeutig die regierende Macht sei. Freiheit ist hiermit bestimmt als Sich-zu-eigen-haben in dem, dessen Besitz einem nicht streitig gemacht werden kann, weil es einem nicht äußerlich, vielmehr mit dem eigenen Selbst identisch ist. Nur Rückzug auf die eigene Subjektivität garantiere Unmöglichkeit von Zwang; in diesem Sinne nennt Hege! das stoische Bewußtsein "in sich zurückgezogen"49 • "Eins steht in unserer Gewalt, ein anderes nicht. In unserer Gewalt steht unser Meinen [u 7tÖÄl]ljllt e p o c; ] als den Willen [7tpoa:ipecrlc; ]"55. Der Begriff der xpoa:ipecr1 c; , der bei Aristoteles das Vorziehen einer Sache meint, den wäh-

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49 Phänomenologie. S. 1 18. "" Encheiridion c. 1, § 1. Vgl. ebd. c. 48, § 1; c. 6; Diatriben I. I, c. 1, § 12; I. I, c. 1, § 21; I. I, c. 22, §§ 9 - 10; I. I, c. 25, § 1; I. I, c. 12, § 34; I. II, c. 5, §§ 4 - 5; I. III, c. 3, §§ 1 u. 14 - 16; I. IV, c. 1, § 100. " Encheiridion c. 2, § 2. 52 Encheiridion c. 19, § 1. SJ Encheiridion c. 1, §§ 2 3. 54 Encheiridion c. 23. ss Diatriben I. II, c. 10, § 1. -

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lenden Willen, dem es um seinen Inhalt geht56, wird in der Stoa umgedeutet einerseits in ein prinzipiell von keinem Inhalt zu beeindruckendes Vermögen, das, wenn es zustimmt oder ablehnt, dies nur darum tut, weil das Subjekt (das mit diesem Vermögen zusammenfällt) es so will, nicht aber, weil das Objekt diese oder jene Qualitäten besitzt. Sie ist reine Selbstbestimmung in einem Sinne, der Aristoteles fremd war. Zum anderen, und damit zusammenhängend, wird die n.poaipsatc; in der Stoa umgedeutet in "die Wahl vor der Wahlen" - "n.poaips a t v Se aip s a t v �tpo aip6as(l)c;"57 -, alle.:; weitere Wählen in der inneren Einstellung zu vollziehen, sich von keiner Sache abhängig zu machen, oder den moralischen Willen58• Dessen Anspruch, es gebe nichts Souveräneres als ihn selber: "alles andere [ist] ihm untertan, und der Wille selbst ist frei von Sklaventurn und Unterordnung"59, ist bei Epiktet im denkbar radikalsten Sinne formuliert. Noch gegen Erkenntnis, Wissen, Wahrheit, Logik stellt sich der stoische Wille als eine Instanz, die sich die "Anerkennung", und also auch deren Entzug, vorbehält. Indem dem Adepten der stoischen Lehre in bezug auf das Theoretische, das mit dem Anspruch auftritt, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, der Bescheid zuteil wird, "daß du auf diesem Gebiet völlig ungezwungen [civavciy JC eta-ro v ] und ungehindert [cin.apan.6Sta-rov ] über dein Willensvermögen [n.poatps n JC 6 v ] verfügst"6(l, wendet Epiktet sich gegen die klassische Lehre, dem Erkennen sei eigentümlich, daß man in ihm nicht einfach gegen die Wirklichkeit auf seiner "Freiheit" beharren könne. Der klassischen Lehre zufolge gilt, daß die Wahrheit dem Geist die Anerkennung abzwingt und nicht wartet, ob sie denn, ganz abgesehen davon, daß sie die Wahrheit ist, dem jeweiligen Willen auch gerade genehm ist: "genötigt wie von der Wahrheit selbst [ib a n. ep u�t' au-rf!c; -rf!c; cii.. 1J 8Biac; civayua86v-rsc; ]"61 sagt Aristoteles im Zusammenhang mit evidenten Theorien. Obgleich die klassische Auffassung die Wahrheit als in diesem Sinne unwiderstehlich charakterisierte, galt sie ihr nicht als äußerlicher Zwang: sie ist nach Aristotelischer Lehre der dem Verstand eigene Maßstab - sein inneres Kriterium. Nicht diesen richtigen, aber bereits in der klassischen Lehre enthaltenen Gedanken, die Wahrheit sei ein Maßstab, den der Verstand von sich aus mitbringt, mit was immer er befaßt sein mag, und insofern sei es keine Zumutung von außen, daß er gerade danach urteilen soll, suchte die stoische Lehre von der Anerkennung zum Zuge zu bringen. Gemeint war vielmehr, daß alles, was ist, der Zustimmung durch das Ich bedürfe, um für es wirklich zu sein. Und diese Zustimmung lasse sich dem Ich nicht abzwingen: verweigere es sie, so verschwinde die Wirklichkeit der Welt, als wäre sie bloßes Phantom. Eben hierin löst die Subjektivität Epiktet zufolge den ihr eigentümlichen Anspruch ein, sich nichts Äußeres bieten zu lassen; alles ist nur ihre Vorstellung. "Gewöhne dich nun, bei jedem unangenehmen Ereignis zu sa­ gen: du bist nicht das, was du scheinst, sondern nur eine Vorstellung [cpav-raaia]"62• Was objektives Hindernis der Realisierung eigener Vorhaben ist, wird so verdünnt "" Ethica Nicomachaea 1 1 1 1b4 - 11 13a15. Stobaeus ecl. II 87, 14 W. Stoicorum veterum fragmenta. Fr. 173. S. 41. "' Diatriben I. I, c. 19, § 8; I. I, c. 23, § 19. Vgl. Benjamin Lodewijk Hijmans: Askesis. S. 25. "' Diatriben I. II, c. 10, § 1. "' Diatriben I. I, c. 17, § 23. 61 Aristoteles: Physica 188b30. 62 Encheiridion c. 1, § 5. 57

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zu einer bloß subjektiven Erscheinung, zu etwas im eigenen Bewußtsein, das einer, insofern er Macht über seine Subjektivität hat, ideell auszuschalten vermag: ideell, nicht praktisch, durch Wegräumung des Hindernisses. Denn ein solcher Versuch wäre wiederum etwas, womit man scheitern könnte - welche Möglichkeit um jeden Preis zu vermeiden den Kern des moralisch-psychologischen Programms ausmacht. Wird nach der Verwandlung des von außen Gegenübertretenden in eine bloße Vorstellung der esoterischen Version zufolge gar nichts Objektives mehr angenom­ men, an dem man sich praktisch betätigen könnte, so tut die exoterische Version das, was mit dem Anspruch auftritt, die objektive Realität auszumachen, mit der gleichen praktischen Konsequenz als etwas ab, das einen schlechtweg nichts angehe. In die­ sem Sinne hat sich Epiktet die kynische Lehre anverwandelt; Diogenes läßt er in ei­ ner der Diatriben über Antisthenes sagen: "er lehrte mich unterscheiden zwischen mein und nicht mein; Besitz ist nicht mein, Verwandte, Familie, Freunde, Ruf, be­ kannte Orte, Gesellschaft, alles das sind fremde Dinge [ciU6'tput]. Was ist nun dein? Der Gebrauch der Vorstellungen [xp�cnc; cpa.v'ta.t n ii> v ] . Er hat mir bewiesen, daß sie kein Hindernis, keinen Zwang kennen, daß niemand mich hindern, niemand mich zwingen kann, sie anders zu gebrauchen, als wie ich sie gebrauchen will [ci>c; 98Äro]. Wer hat also noch Macht über mich: Philipp oder Alexander oder Perdiklas oder der Großkönig der Perser? Woher sollten sie sie haben?"63• (Die Stelle deutet in naiver Form auf die Sorte politischer Gewalt64, der sich so zu akkomodieren, daß man immer noch als freies Subjekt - wenngleich konzediertermaßen nicht der eigenen Lebensumstände - dasteht, das Kunststück dieser Sorte Bewußtsein darstellt.)

§ 97 So erscheint das in der späten Stoa, insbesondere von Epiktet aufgestellte moralisch­ psychologische Programm konsequent um das Ideal einer prinzipiell enttäuschungs­ freien Subjektivität, die um desselben willen nur noch mit sich selbst zu tun hat, ar­ rangiert. Von Enttäuschungsfreiheit kann allerdings klarerweise nicht in dem Sinne die Rede sein, daß das Subjekt sich in den Vollbesitz der nötigen äußeren Mittel sei­ ner Befriedigung zu bringen suchte, sondern ausschließlich insofern, als es die totale Enttäuschung antizipiert, um keine einzelne mehr erleben zu müssen. Der Stoiker ist völlig desillusioniert, damit ihn nichts und niemand mehr desillusionieren kann65• Desillusionierung bedeutet hierbei nur Suspendierung aller Erwartungen, nicht, wie es in der Wortbedeutung liegt, Täuschungsfreiheit um Wahrheit ist es nicht zu tun. "Auch wenn es ein Irrtum wäre, daß alles Äußere für den Menschen wertlos ist, so wollte ich doch gerne diesen Irrtum, wenn er mir zu einem glückseligen Leben, zum Frieden und zur Freiheit verhilft"66• Ferner bezieht sich das um das Ideal einer prin63

Diatriben I. III, c. 24, §§ 68 70. Vgl. Phänomenologie. S. 118. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. S. 252. 65 Vgl. Jason Xenakis: Epictetus. S. 24: "His [sc. Epictetus's) ethics is usually described as one of 'resignation'. But [ ... ) indeed resignation suggests disillusionment, but a Stoic by definition anticipates disillusionment, and consequently forestalls the feeling of resignation". 66 Diatriben I. I, c. 4, § 27. 64

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zipiel/ enttäuschungsfreien Subjektivität arrangierte psychologische Programm als solches keineswegs speziell auf bestimmte, voraussehbar aussichtslose Vorhaben, sondern gleich ganz grundsätzlich auf alle Zwecke, denen der Makel anhaftet, noch irgendetwas in der Wirklichkeit ausrichten zu wollen: "Bedenke, daß nicht nur das Streben nach Macht und Reichtum dich erniedrigt und andern untertänig macht, sondern auch das Verlangen nach Ruhe und Muße, nach Reisen und Gelehrsamkeit. Überhaupt: ein wie beschaffenes das Äußere ['to & ��: 't 6 'ö ] auch sei, die Wertschätzung [n11iJl desselben unterwirft dich einem anderem"67• Zu dem Äußeren, das einen nichts angehen soll, muß konsequent nicht nur die Gesamtheit der äußeren Gegen­ stände erklärt werden, sondern auch der eigene Leib, der ja in der Folter als Ansatz­ punkt des Zwanges fungiert, während Zwang schlechthin unmöglich werden soll. Daraus resultiert die Fiktion einer vom Leib in keiner Weise mehr tangierten Sub­ jektivität: "nicht du wirst getötet, sondern das Leibliche [as oü, ci.Uci 'tO am�J.it.nov ]"68• Denn: "du bist nicht Fleisch [��: p & a �ö ] , [ ... ] sondern freier Wille [1tpoaipsat'O J"69, und: "der Leib ist nicht dein"70• "Lähmung ist ein Unglück für den Schenkel, für den Willen aber nicht. Das sage dir bei allem, was dich trifft; dann wirst du finden, daß es für andere Dinge ein Unglück sein kann, für dich aber nicht"71• "Was nicht in unserer Gewalt steht"72 - Ansehen, äußere Stellung, Hab und Gut, der Leib, alles, was nicht vom Subjekt selber kommt -, "ist hinfällig [ci.a9sviJ'ö], sklavisch [lioÜÄO'ö ], kann be-einträchtigt werden [��: mÄU't O 'ö ] , und steht in fremder Hand [it.:t:t6'tpt o 'ö ] 'm. Von dem hiergegen so radikal abgegrenzten Bereich subjektiver Innerlichkeit gelte, daß er im strengen Sinne in der eigenen Gewalt stehe, "von Natur frei" (cpuast &:tsu9spo'ö) sei, weil er "nicht beeinträchtigt [ci.��: m:tu'tO 'ö ] und nicht gehemmt [ci.x apa�t6lita'to'ö]"74 werden könne. An den Adepten dieser Moral geht die Aufforderung, sich nur an sein Inneres zu halten, denn "so wird nie jemand dich zwingen [ci.vay ��: Ct. � s t v ] , nie jemand dich beeinträchtigen [JC:m:tustv], du wirst nie gegen jemanden Einwände erheben, nie jemanden kritisieren, nie etwas wider Willen tun. Du wirst keinen Feind haben, niemand wird dir schaden - denn nichts kann dir schaden'05. Ist Unfreiheit Beeinträchtigung des reinen Selbstseins durch solches, was seiner Natur nach nicht unbedingt in der Verfügung des Subjekts ist, nämlich durch Äw­ seres, durch etwas, was dieses nicht selber ist, so muß sich das Eigene nur richtig vom Fremden isolieren, um in seinem reinen Sich-selbst-Überlassensein frei zu existieren. In dem Maße, als ihm diese Isolierung gelingt, ist einer frei; und die Isolierung ist ihm möglich nach dem Maße seiner "Autarkie", seiner äußeren und inneren Selbst67 Diatriben I. IV, c. 4, § 1.

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Diatriben I. III, c. 13, § 17. Diatriben I. III, c. 1, § 40. Vgl. Diatriben I. I, c. 1, § 23; I. IV, c. 7, § 32. "' Diatriben I. I, c. 1, § 11. 71 Encheiridion c. 9. 72 Encheiridion c. 1, § 1. 73 Encheiridion c. 1, § 2. 74 Ebd. 7S Encheiridion c. 1, § 3. Die Lesarten dieser Stelle differieren unwesentlich. Der Übersetzung liegt der griechisc,pe Text in der Ausgabe von Oldfather (Bd. II. S. 482) zugrunde. Nach der Ausgabe von Schenkl (S.5 ) wäre zu übersetzen: "Niemand wird dir schaden, du wirst keinen Feind haben - denn nichts kann dir schaden". fJJ

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genügsarnkeit. Gemäß ihr geschieht die Isolierung als Distanzierung von den Dingen, durch Negation des auf sie gerichteten Wollens: "das Begehren mußt du gänzlich ausrotten"76• Indern der Stoiker aus dem asketischen Ideal, dem Verzicht auf alles (cicpsivc u xa.i ilxa-c1jva.t )77 die Unabhängigkeit von allem gewinnt, bleibt ihm diese selber, in Gestalt einer veritablen Allrnachtsphantasie, als zwar letzter, doch sublimster Genuß. Nicht nur gilt nach Epiktet: "Nimmst du gar nichts von dem, was dir vorgesetzt wird, sondern verachtest [u �tspt8siv, von uupopa.siv ] es, so bist du nicht bloß bei den Göttern zu Gast, sondern übst mit ihnen die Macht aus [auva.pxsiv ]"78• Im Vergleich zu den Göttern, die der Antike zwar als mächtiger denn die Menschen, doch nicht als allmächtig galten, imaginiert sich das stoische Bewußtsein, und läge der zugehörige Leib in Ketten, als, wie bereits vermerkt, die mächtigere, schlechthin unüberwindliche Instanz: "Was sagst du? Mich in Ketten legen? Meine Füße kannst du fesseln, aber meinen Willen vermag nicht einmal Zeus zu besiegen [vtx1jaa.t ]"79• Daß den so charakterisierten "Willen" kein äußerer Zwang erreichen könne (und nur solcher würde ja seine Macht begrenzen - das andere ist eben das Subjekt selbst), unterstellt, daß der Mensch in der Innerlichkeit, der Sphäre seiner eigenen Vorstellungen, unumschränkt herrsche80; sie ist danach eine solche, genauer: die einzige garantierten Erfolgs. Indessen kann jemand im Umgang mit seiner Innerlichkeit in einem Sinne scheitern, der nicht radikal verschieden ist von dem, in welchem Handlungen in der Außenwelt mißlingen können. Und ob, oder inwieweit Fehlschläge der ersteren Art vorkommen, ist seinerseits alles andere als unabhängig von äußeren Bedingungen - wie bereits das Auftreten ganzer Bewegungen, die ein auf Abtötung des Wollens gerichtetes Wollen (das sich dann als mächtig oder unrnächtig bewähren mag) propagieren, auf äußere Umstände verweist, die von anderen als den Jüngern dieser Lehre bestimmt sind ( - um es bei einer Andeutung zu belassen: Epiktets Lebenszeit fiel in die Ära Neros und Dornitians)81• Gewiß enthält jene stoische Lehre andererseits auch einen richtigen Gedanken. Wäre die Subjektivität nur eines passiven und rezeptiven Verhaltens fähig, so wäre ihr Selbstgefühl nichts als ein Innewerden äußerer Einwirkungen. Doch schon im Selbstgefühl, ohne noch von der Distanz, derer der verständige Gedanke fähig ist, zu reden, liegt, daß es von der Subjektivität abhängt, in welches Verhältnis sie sich zu anderen und anderem setzt82• Diese Fähigkeit, sich die Weise des Reagierens auf das, was einem vorgesetzt wird, noch vorzubehalten, sich gegebenenfalls auch nicht in der von andern gewollten Weise bestimmen zu lassen, mag immerhin selbst die Gestalt annehmen, daß sich einer 'in Ketten frei' fühlt. In der Zuspitzung, daß er eben darum auch frei ist, wird die Doktrin der Innerlichkeit jedoch falsch. Indem be76

Diatriben I. 111, c. 22, § 13. Diatriben I. IV, c. 6, § 9. 78 Encheiridion c. 15. 79 Diatriben I. I, c. 1, § 23. "' § 96. 81 Vgl. ebd. 82 In diesem Sinne nennt Hege) das Gefühl des Angenehmen und in Sonderheit das des Unange­ nehmen praktisches Gefühl. Enzyklopädie. Ausg. 1827. §§ 471 - 473. S. 345f. Ausg. 1830. §§ 469 Zus. 473. s. 289 - 295. 71

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hauptet wird, man erhebe sich durch die innere Stellungnahme über äußere Zwänge, wird ihr Bestehen zu einer Frage der Haltung und des Selbstbewußtseins erklärt, mit dem man ihnen begegnet. Was die Menschen in Mitleidenschaft ziehe, sei nicht das, was ihnen wirklich widerfährt, sondern ihr eigenes "Urteil" (66yJ.1a., im Sinne von Glauben oder Meinung) : "Dir geschieht nur Schaden, wenn du glaubst, dir geschehe Schaden. Niemand kann dir Schaden antun ohne deine Zustimmung"83• Die Subjek­ tivität könne allem und jedem durch ihr "Ich will nicht" die Wirklichkeit entziehen. So sehr es aber unbestreitbar für das Verhalten in bezug auf einen äußeren Umstand immer noch darauf ankommt, wie sich einer zu ihm stellt, so wenig begründet dies den schlechten Idealismus, die Wirklichkeit hänge davon ab, daß man selbst sie als solche anerkennt. Menschen legen sich die verschiedensten Betrachtungsweisen der Zwänge, unter denen sie stehen, zu, ohne daß sich dadurch an diesen Zwängen etwas ändert. Deshalb widerfährt dem Stoizismus nicht nur eine Variante der Dialektik des Ausschließens84, insofern der stoische Weise zwar unter das Ideal der Adiaphorie, der Gleichgültigkeit gegen das 'Äußerliche' gestellt ist, es jedoch nicht ohne ständige Entgegensetzung gegen dasselbe, also in Wahrheit gar nicht realisieren kann. Nur weil unabweislich ist, daß einer auch sein Leib ist, und daß dieser eben der seine ist, muß ständig insistiert werden, er sei nicht sein85: "Der Leib geht mich nichts an; seine Glieder gehen mich nichts an"86• Die absolute Nichtigkeit alles Äußeren, die Epiktet zur kosmologischen Doktrin von der Weltverbrennung87 ausmalt, widerlegt sich da­ durch, daß ständig vor ihm gewarnt werden muß. Über diesen Widerspruch hinaus terminiert der Stoizismus, der mit dem Anspruch, sich nichts Äußeres bieten zu las­ sen, auftritt, aber seine Konsequenzen im Kontemplativen beläßt, endlich in einem rigorosen Programm der Anpassung an das Äußere: "Strebe nicht danach, daß das, was geschieht, so geschieht, wie du willst, sondern wolle, daß es so geschieht, wie es geschieht, und es wird dir gut gehen"88• Daß alles auf den Willen ankommt, also nur er gilt, heißt am Ende, daß er gar nicht gilt, sondern die äußere Wirklichkeit total ge­ gen sich gelten lassen muß, wenn das Programm, daß alles auf den Willen ankommt, so verwirklicht werden soll, daß man die Auseinandersetzung mit dem Äußeren wegen der möglichen Ansatzpunkte von Zwang - vermeidet. Der Stoizismus bringt es eben noch zum unreflektierten Bewußtsein dieses Widerspruchs, indem überhaupt der angeführte Appell ausgegeben wird, die eigene Lage zu verwinden, - würde der Wille wirklich absolut gelten, wie die Doktrin es dem Stoiker zuschreibt, so müßte er sich nicht, wie hiermit als seine eigentümliche Lebensregel behauptet, mit seiner Lage abfinden, was allemal noch einen Gegensatz gegen den Willen unterstellt. Re­ chenschaft über den Widerspruch, daß nichts Äußeres, nur der Wille gelten soll, und sich die (in der Forderung, nicht zu wollen, daß etwas geschieht, sondern gutzuheis­ sen, was geschehen ist) formulierte Konsequenz ergibt, daß der Wille das Äußere 83

Encheiridion c. 30. Vgl. Diatriben I. I, c. 9, § 34; I. I, c. 25, § 28; I. III, c. 24, § 63. Vgl. §§ 77, 79, 80. 85 Diatriben I. I, c. 1, § 11; vgl. I. I, c. 3, § 3; I. I, c. 13, § 5; I. II, c. 19, § 27; I. III, c. 10, § 15; I. III, c. 22, § 41; I. IV, c. 1, §§ 78 u. 100 ; I. IV, c. 11, § 27; fr. 176. 86 Diatriben I. III, c. 22, § 21. � Diatriben I. III, c. 13, §§ 4 5. Vgl. Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer ge­ schichtlichen Entwicklung. S. 773. 88 Encheiridion § 8. 84

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sich das wünscht, was man bekommt. Die wohlfeile ultima ratio ist angelegt schon im Ausgangspunkt des Stoizismus, insofern es diesem gleich seiner ersten Intention nach unter dem Titel Freiheit um eine solche Befriedigung des Subjekts in sich zu tun ist, daß dieses in allem Unglück, in allem Wechsel des Weltlaufs mit sich selbst einig und in sich befestigt bleibe. Indem hierin bereits Freiheit mit Zufriedenheit konfundiert wird, ist die Konsequenz präjudiziert, erstere bestehe darin, daß einem gefällt, was man tut. Zunächst freilich folgt nur, daß jemandes Freiheit entweder dadurch gesteigert werden kann, daß er fähig wird, mehr von dem zu tun, was er tun will, oder aber dadurch, daß er dahin gelangt, mehr von dem zu wollen, was er tun kann. Von der Alternative, Zufriedenheit zu erreichen entweder, indem man der Wirklichkeit Mittel der Befriedigung seiner Bedürfnisse entnimmt, oder indem man seine Bedürfnisse vermindert, blieb dem Stoizismus, indem er behauptete, die äußere Wirklichkeit enthalte notwendig nichts als Ursachen von Unzufriedenheit, nur die letztere übrig. Danach wäre vollkommene Freiheit durch die Eliminierung des Begehrens überhaupt zu erreichen. Doch selbst wenn man die anfechtbare These zugesteht, Zufriedenheit lasse sich erreichen, indem man seine Bedürfnisse vermindert - weil jedes unerfüllte Bedürfnis ein Stachel der Unzufriedenheit ist -, bleibt der in Frage stehende Begriff der Freiheit falsch. Ein Sklave mag fähig sein, alles zu tun, was er wirklich tun will, - sei es auch nur, weil ihm nie in den Sinn kommt, daß die Verhältnisse anders beschaffen sein könnten, als sie tatsächlich beschaffen sind, und weil er überzeugt ist, es liege in der Natur der Dinge, daß er ein Sklave ist. Würde jemand in ihm das Bedürfnis erwecken, kein Sklave zu sein, so kann es sein, daß er ihn dadurch weniger zufrieden macht; daß er ihn aber weniger frei macht, wäre eine Behauptung, der sich kein guter Sinn abgewinnen läßt. Ob man es für richtig hält, Bedürfnisse dieser Art zu wecken, die als solche nicht bereits bestehen, ist eine Frage, deren Beantwortung unter anderem davon abhängt, ob man Freiheit oder Zufriedenheit höher taxiert. Doch dies ist eine Entscheidung, die zu treffen ist, keine, die dadurch zu vermeiden ist, daß man das eine mit dem anderen verwechselt. Freilich enthält dieser Einwand gegen den Stoizismus erkennbar noch eine an­ fechtbare Abstraktion. Denn gewiß hängen einerseits Freiheit, andererseits Befriedi­ gung von Bedürfnissen auch zusammen. Jene bewährt sich, indem sie Hindernisse, die dieser entgegenstehen, ausräumt. Doch gerade deshalb korrumpiert das stoische Verdikt über die Äußerlichkeit nicht nur die Freiheit, sondern auch die Zufrieden­ heit. Das stoische Individuum hat als Zweck die Zufriedenheit und zugleich als Grundsatz, nichts für diese zu tuen, weil alles Praktische mit jener Äußerlichkeit in Berührung brächte, die als ein einziges Hindernis der Zufriedenheit gedacht wird. Indem es also die Äußerlichkeit unverändert lassen muß, bleibt ihm nichts, als alle Ereignisse so hinzunehmen, wie sie geschehen, und die angekündigte Verfolgung des Zwecks der Zufriedenheit degeneriert zum Kampf um einen glaubwürdigen Schein von Zufriedenheit. Der Zweck der Zufriedenheit kommt nur noch so hinein, daß das stoische Individuum nicht lediglich alle Ereignisse so hinnimmt, wie sie geschehen, sondern daß es sie hinnimmt, wie sie geschehen, doch zugleich als hätte es sie selber herbeigewünscht - jenes Wollen genau dessen, was man muß, bei dem jeder Gedanke ein nachträglicher ist: "nur das zu wünschen, was tatsächlich geschieht, und nur dem

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den Sieg zu wünschen, der tatsächlich siegt"89 -, mithin, indem es noch im Nicht­ mehr-weiter-können den Gestus des Nicht-mehr-weiter-Wollens kultiviert.

§ 98 Doch könnte vom stoischen Standpunkt aus eingewandt werden, Freiheit bedeute nun einmal Selbstbestimmung, also auch Unabhängigkeit von Äußerem , und so sei sie nicht anders zu haben denn als Rückzug auf die eigene Innerlichkeit. Daß für Hege! ein solches Argument nicht das letzte Wort sein kann, versteht sich bereits aus der von ihm entwickelten Dialektik des Ausschließens, der auch der Stoizismus unter­ liegt. Hege! will ein Doppeltes: er intendiert einerseits, die stoische reine Selbstbe­ stimmung und das Kantische Prinzip der Autonomie gegen den empirischen Willen auszuspielen (in der "Phänomenologie des Geistes" ist die "gesetzgebende Ver­ nunfft"90, Kants Autonomie, die Auflösung des Widerspruchs, den Hege! dem "geistigen Thierreich" nachsagt), doch andererseits auch, später jene wiederum vor dem objektiven Geist der Sittlichkeit zu blamieren (die höchste Stufe der 'Vernunft', die Hegels "Phänomenologie" kennt, die Kantische "gesetzgebende" und "gesetz­ prüffende Vernunfft", erfährt im - sittlichen - 'Geist' ihre Erledigung91). Der Stoizis­ mus hat für Hege! mit jenem Argument darum nur relativ Recht, aber eben auch re­ lativ Recht, und ist gegenüber der Unfreiheit des empirischen Willens relative Frei­ heit. Ihm ist für eine Diskussion der Hegeischen Kritik des empirischen Willens größte Bedeutung beizumessen, - nicht, weil Hege! Stoiker gewesen wäre, sondern weil der Stoizismus nach seiner Auffassung die erste, insofern noch abstrakteste, aber eben doch: Widerlegung des empirischen Willens enthält. Mit seinem Rückzug auf die Innerlichkeit weise er als sei's auch abstrakter Gegensatz darauf hin, daß der empirische Wille von Äußerem abhängig, und so gar keine Freiheit ist. Mit jenem la­ pidaren stoischen Einwand - Freiheit bedeute nun einmal Selbstbestimmung, also auch Unabhängigkeit von Äußerem , und sei darum nicht anders zu haben denn als Rückzug auf die eigene Innerlichkeit - wird der Streit um Hegels These, die Willkür sei Wille in der Bestimmung der ")iußerlichkeit"92, so daß sie "allerdings, wenn sie die Freiheit sein soll, eine Täuschung genannt werden"93 müsse, noch einmal aufgerollt. Hegels Bemerkung, "eine Freyheit, für welche etwas wahrhaft äußeres, fremdes wäre", sei "keine Freyheit"94, kann zwar auch gegen den Stoizismus gelesen werden, insofern für diesen nur die Innerlichkeit Eigenes, alles andere aber Äußeres, Frem­ des ist. Aber der Zusammenhang jener Worte lautet: "In dem Begriff des Zwangs selbst wird unmittelbar etwas Aeußeres für die Freyheit gesetzt, aber eine Freyheit, für welche etwas wahrhaft äußeres, fremdes wäre, ist keine Freyheit"95• Und so ist 89

Encheiridion c. 33, § 10. Phänomenologie. S. 228. 9 1 Ebd. S. 251: Wo ''sittliches Bewußtsein ist", ist "das Geben und das Prüffen der Gesetze aufgegeben worden". 92 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 145 Zus. S. 286. Hervorh. nicht im Original. 93 Rechtsphilosophie § 15 Anm. S. 67. 94 Naturrechtsaufsatz. S. 446. 95 Ebd. 90

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hiermit zunächst der empirische Wille als unfrei verworfen - weil seine Inhalte ihn fremdem Zugriff in Gestalt von Zwang zugänglich machten96 -, während der Stoiker gegen den Zwang relative Freiheit bewahre. Das relative Recht des Stoizismus ist danach, daß er auf Selbstbestimmung gegen jede Bestimmung durch Äußeres beharrt, wie es nach Hege! auch das relative Recht Kants ist, Autonomie gegen die Hetero­ nomie des empirischen Willens hochzuhalten. Worin dieses relative Recht und diese relative Freiheit bestehen, ist indes nach der geübten durchgreifenden Kritik nicht eben deutlich; der Anspruch, daß der gegen seinen Erfolg in der "Äußerlichkeit" gleichgültige Wille einer an ihren Inhalten interessierten praktischen Subjektivität an Rationalität überlegen ist, wurde nicht eingelöst. Und der Einwand, Freiheit bedeute eben Selbstbestimmung, also auch Unabhängigkeit von Äußerem, hat etwas merkwürdig Leeres. Je länger man über ihn nachdenkt, desto weniger läßt sich übersehen, daß alle wesentlichen theoretischen Entscheidungen vor ihm und jenseits seiner fallen: solche nämlich, die festlegen, was zum Selbst gehört und was nicht. Je nachdem, wie dies bestimmt wird, muß Selbstbe­ stimmung das Unterschiedlichste, selbst Gegensätzlichste bedeuten. Der Begriff der Selbstbestimmung enthält kein Kriterium der Abgrenzung von Selbst und Nicht­ Selbst, bedarf aber, wenn er denn etwas besagen soll, eines solchen Kriteriums. Will man die obskuren Aspekte des Stoizismus in Abzug bringen, und bloß den Gedanken der Selbstbestimmung als solchen zurückbehalten, so behält man in Wahrheit eine Leerstelle übrig, die zur Kritik des empirischen Willens untauglich ist. Nun kann man diese Leerstelle freilich füllen. Denn daß der Gedanke der Selbstbestimmung von sich aus leer ist, besagt nicht, daß er keinen Inhalt haben könnte, sondern daß sein Inhalt abhängt von einer Theorie des Selbst, die nicht aus diesem Gedanken ab­ zuleiten ist. Allerdings kollidiert allein dies schon mit seinem Anspruch. Denn im Hinblick darauf, daß der Gedanke der Selbstbestimmung sowohl in der Stoa wie auch bei Kant als höchstes Prinzip, nach dem sich alles andere richten soll, gepriesen wird, ist es bereits prekär, daß er abhängig ist von theoretischen Entscheidungen, die vor ihm und jenseits seiner fallen. Doch selbst wenn man jenen Anspruch nicht dem relativ Berechtigten, sondern dem Unberechtigten dieser Ansätze zuzählte, ist schwer zu sehen, wie das Ersetzen des X, als das der Ausdruck "Selbst" in "Selbst­ bestimmung" zunächst zu gelten hat, auf anderes denn auf eine Diallele hinauslaufen könnte. Der "Tugendlehre" der "Metaphysik der Sitten" Kants etwa ist ja ohne Zwei­ fel zu entnehmen, daß das "eigentliche Selbst" für ihn in einem äußerst materialreich definierten Sinne moralisches Subjekt ist; doch die Stilisierung des Willens, die in dieser Lösung liegt, trivialisiert den Gedanken der Selbstbestimmung. Das revolutio­ näre Philosophem, er folge nur dem Gesetz, das er sich selbst gibt, ist in Wahrheit leer - paradoxerweise: denn nun sollte es doch gerade mit Inhalt gefüllt sein -, wenn man sich per Voraussetzung (Identifikation des Willens mit Moralität) schon der Gesetze versichert hat, die allein er sich geben kann. "'Die braven Kinder dürfen tun, was sie wollen', das sagt nichts weiter als: 'Kinder, seid brav! "m. Und selbst wenn nur die materiale Ethik Kants diesem Zirkel unterliegen sollte, die formale hingegen ihm entzogen wäre, so bleibt im Hinblick auf die letztere das Unternehmen, jene 96 § 89. 97 Rüdiger Bittner: Moralisches Gebot oder Autonomie. S. 129.

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Leerstelle zu füllen, indem man angibt, was das Selbst ist, folgendem Dilemma ausgesetzt: werden auf die Seite des Selbst, das da bestimmt, auch seine Interessen, und etwa auch sein Leib gezählt, so taugt die so gefaßte Selbstbestimmung gar nicht mehr zum Einwand gegen den empirischen Willen, den sie doch - etwa als 'relatives Recht des Stoizismus' - hergeben sollte; denn sie ist von diesem gar nicht mehr recht unterscheidbar. Schließt man jedoch all jene Momente aus dem Selbst aus, so unterliegt der Gedanke den Einwänden, die bislang gegen einen solchen Ausschluß vorgetragen wurden. Das Verfahren, den reinen Willen finden zu wollen, indem man von allen seinen Inhalten abstrahiert, gleicht, um ein in anderem Zusammenhang ge­ brauchtes Bild Wittgensteins zu verwenden, dem Vorgehen eines Menschen, der eine Artischocke auf der Suche nach der eigentlichen Artischocke ihrer Blätter entkleidet, bis er mit leeren Händen dasteht98• Was immer zurückbehalten wird, ist etwas, somit der Voraussetzung zufolge nicht die wirkliche Sache. Denn das eigentliche Selbst ist alle Inhalte nicht. Bei Kant hängt dies sowohl mit dem Form­ Materie-Argument zusammen, wie mit dem Umstand, das er das Kriterium der Un­ terscheidung von eigentlichem und Uneigentlichern Selbst seiner Zweiweltenlehre entnimmt. Freiheit bedeutet danach "nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehöret, von den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe"99• Der ungelösten100 Schwierigkeit, wie das von seinen Eigen­ schaften, da empirisch, getrennte Ding an sich qua intelligibles Ich sich praktisch be­ stimmen soll, wird der Bescheid entgegengehalten, das Prinzip seiner praktischen Bestimmung sei Autonomie. Diese ist Einheit von Bestimmendem und Bestimmtem - unbestimmten Inhalts. Sie darf nichts enthalten, als was dem, wie Kant sich aus­ drückt, "eigentlichen Selbst"101 zugehört. Aber was das eigentliche Selbst enthält, war gerade die Frage. Was äußeres Hindernis eines Ich ist, hängt logisch stets davon ab, wie die Grenzen des Ich gezogen werden; zieht man das Selbst so zusammen, daß es ein ausdehnungsloser, nichtempirischer Punkt wird, dann sind ihm alle Phänomene äußere Hindernisse. Bei Kant findet nichts geringeres statt als die Verwandlung der Realität in eine negative Bedingung der Freiheit. Indem er die Inhalte des Willens, d.i. die einzig mögliche Realisierung seiner Freiheit, als diesem gegenüberstehende "Triebe" und "Neigungen" konzipiert, werden sie ihm sämtlich zu Einschränkungen der Freiheit102; die Realität der letzteren soll folgerichtig im Ausschluß jener liegen. Kants Begriff der praktischen Vernunft lebt von dem Vertrauen, daß, wenn man das Besondere wegnehme, das Allgemeine übrigbleibe103• Doch es bleibt nichts übrig. Das Allgemeine liegt entweder in den besonderen Fällen, oder es liegt nirgends. In dem Gedankengang, den er durch das Bild der Suche nach der eigentlichen Artischocke glossiert, bemerkt Wittgenstein: "Im Falle ([Philosophische Untersuchungen §] 1 62) stand die Bedeutung des Wortes 'ableiten' klar vor uns. Aber wir sagten uns, dies sei nur ein ganz spezieller Fall des Ableitens, wie eine ganz .. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen § 164. S. 324. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 125. IOD §§ 55, 56. Vgl. § 105. 1 0 1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 118, 123. 102 Kritik der praktischen Vernunft A 140. 1 03 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 126. Vgl. Kritik der praktischen Vernunft A 52. 99

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spezielle Einkleidung; diese mußte ihm abgestreift werden, wenn wir das Wesen des Ableitens erkennen wollten. Nun streiften wir ihm die besonderen Hüllen ab; aber da verschwand das Ableiten selbst"104• Denn es ist, wie Wittgenstein hierin luzid andeutet, ein Fehler, das Allgemeine nicht im Besonderen zu suchen, sondern als ein anderes außer dem Besonderem105• Allerdings mag es scheinen, die letztere These setze eine Rekapitulation des ge­ samten Universalienstreites voraus. Und die Behauptung, das Selbst schrumpfe in den dergestalt kritisierten Theorien auf einen ausdehnungslosen Punkt zusammen, von dem nicht zu sehen sei, was sich da selbst bestimmen solle, und wie dies nach Elimination aller Gründe zum Handeln aus dem Selbst geschehen sollte, könnte man für eine maßlose Übertreibung halten. Denn es ließe sich darauf beharren, daß doch allemal die Vernunft oder der Geist übrig bleibe. Dies letztere ist indes nicht per se eine Widerlegung. Denn scheidet aus ihnen, wie im transzendentalen Idealismus, je­ der Inhalt als bloß empirisch aus, so bestätigt der Rekurs auf sie eher jene These, als daß er sie widerlegt; die mit dieser Sachlage konfrontierte Apologetik rettet sich nurmehr durch die bloße Versicherung der Bestimmtheit über die aus jenem Verlust resultierende Unbestimmtheit hinweg, und weiß der vertrackten Aufgabe gelegent­ lich notwendiger Variation nicht besser als durch die Substitution der von Kant zu Wechselbegriffen erklärten Ausdrücke "Wille", "Freiheit" und "Vernunft" füreinander Genüge zu tun: "Der so bestimmte Wille, der reine Wille, soll der zum Wollen der Identität des Willens bestimmte Wille", d.h. dieser "reine mit sich selbst identisch seinsollende Wille soll die einzige Wirklichkeit der Vernunft sein, d.i., die Wirklich­ keit der Vernunft soll allein die Freiheit des Willens sein, die Freiheit des Willens aber soll die reine Vernunftbestimmtheit des Willens sein"106• Freiheit, Vernunft, Wille sollen das intelligible Ich, das An sich des Menschen ausmachen, nachdem man alles, was erscheint, abgezogen hat. Aber sobald man auch das, was von diesen erscheint, abgezogen hat - und so muß konsequenterweise verfahren werden, da es doch Erscheinung ist -, sind sie leere Worte.

§ 99 Doch selbst, sofern der Ausschluß etwas zurückließe, gegen das die dargelegte Ar­ gumentation nicht gälte, bliebe er, wie zuvor bemerkt107, unableitbar aus dem Prinzip der Selbstbestimmung als solchem, das in seinem Sinn durch die ihm äußerlichen Kriterien der Ausschließung allererst bestimmt wird. Wenn jemand sagt, er werde sein Handeln nach seinen Interessen einrichten, so könnte er sich hierfür auf das Prinzip der Selbstbestimmung berufen, und da nicht evident ist, daß jemand, der dies Prinzip als ein moralisches verstünde, es mit größerem Recht für sich beansprucht108, bestände der Dissens mit jenem genaugenommen in bezug auf eine Voraussetzung 1 04 Philosophische Untersuchungen § 164. S. 324. lOS

106 107 108

Vgl. § 87. Wilhelm Teichner: Ü ber einen Satz der Kritik der praktischen Vernunft. S. 2h7f. § 98. Vgl. Gerald Dworkin: The Concept of Autonomy.

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dieses Prinzips, nämlich die Frage: was ist das Selbst? Daß beispielsweise der Leib nicht zum Selbst gehört, ist stoische Lehre109; sie folgt aber nicht daraus, daß Selbst­ bestimmung höchstes Prinzip der Stoa ist, legt hingegen umgekehrt sehr wohl fest, was es überhaupt heißt, daß ihr Selbstbestimmung als Prinzip gilt. Ebenso verhält es sich in jener merkwürdigen Sonderform von Selbstbestimmung, die im Christentum exekutiert wird. Der religiöse Standpunkt supponiert einerseits, daß Gott moralische Gesetze gibt, die sodann erst dem Willen zugemutet werden. Aus der Sicht einer Ge­ setzgebung des Willens ist er darum einer der Heteronomie110• Andererseits ist dem religiösen Bewußtsein der Anspruch geläufig, daß Gott mit seinen Geboten nicht einen an sich schon fertigen Willen gewissermaßen mit einem Zaun umgibt, sondern bei der Genese des Willens schon Pate steht. Insofern dies letztere der Fall ist, adressiert sich Gott, wenn er seine Gebote ausgibt, bereits an das 'eigentliche', bes­ sere Selbst des Menschen, der seine 'uneigentlichen' Bestandteile außer sich setzt und sich negierend auf sie bezieht. "Welche aber Christus Jesus angehören, die ha­ ben ihr Fleisch gekreuzigt samt den Lüsten und Begierden"111• Und zwar haben sie dies darum getan, weil sie die letzteren als etwas Fremdes betrachten (wie immer sich dies mit der Auferstehung des Fleisches zusammenreimen mag), - gemessen nämlich an der Instanz, die da kreuzigt: dem "Geist"112• Das mag ungewöhnlich banal sein. Doch das Prinzip113 dieser Trennung liegt, in durchdachterer Gestalt, dem neueren philosophischen Denken durchaus nicht fern. Nach Descartes ist das eigent­ liche Selbst reines Denken. Zur Selbstbestimmung gehört es nun freilich, daß das ei­ gentliche Selbst sich - wie auch immer - 'bestimmend' auf das uneigentliche Selbst bezieht. Die Schwierigkeit, die dies in der Cartesischen Metaphysik nach sich zieht, ist bekannt. Nachdem Geist und Körper als Substanzen mit entgegengesetzten Prä­ dikaten bestimmt sind, kann von einem Zusammenhang beider, gleich welcher Art, nicht die Rede sein, denn es liegt, wie Descartes ausführt, im Begriff von Substanzen, daß sie einander wechselseitig ausschließen114• Die an dieses Philosophem sich an­ schließende Frage: "Wie können Leib und Seele verbunden sein?" - das sogenannte Leib-Seele-Problem - hängt vollständig ab von der zugrundeliegenden Vorausset­ zung, daß sie ursprünglich getrennt seien. (Und bezogen auf sie ist Descartes' Einfüh­ rung der Zirbeldrüse als des Mediums, welches besagte Verbindung zustande brin­ gen soll - jenes Lehrstück, dem Spinoza in der Vorrede zum V. Teil der "Ethica" eine ausführliche Polemik gewidmet hat -, eine gänzlich haltlose Konstruktion: sofern es eine Drüse ist, ist es eben kein Bewußtsein, und sofern es Bewußtsein ist, ist es keine Drüse.) Im Kantischen Dualismus von "Natur und freyheit"115 hat die besagte Schwie­ rigkeit überlebt: denn wie ein intelligibles Ich auf seinen Leib wirken soll116, ist um ... s. § 97. Vgl. §§ 1, 2. m Galater 5, 24. 112 Galater 5, 16-18, 22, 25. m D.i. die logische Struktur; gemeint ist nicht, der "Geist'", von dem die Bibel spricht, sei dem Inhalt nach gleichbedeutend mit der Cartesischen res cogitans. 1 14 "haec enim est natura substantiarum, quod sese mutuo excludant" (Meditationes de prima philo­ sophia. Quartae responsiones. S. 227). m Rell. 6658. Akad. XIX. 125. Kritik der Urteilskraft AB XI. 116 Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 553 B 581. 1 10

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Das Argument aus dem Zwang

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nichts klarer als der von Descartes erst bestrittene und dann behauptete Zusammen­ hang von res cogitans und res extensa. Kant muß von der intelligiblen Ursache, die, als Spontaneität, am Anfang einer Reihe von Effekten liegen soll, zugleich behaup­ ten, daß sie "außer der Reihe liegt"117, was ihre Einordnung als Ursache von Wirkun­ gen unverständlich macht. Denn diese unterstellt eine Stetigkeit zwischen Ursache und Wirkungen, die mit der Bedingung des Außer der Reihe Stehens unvereinbar ist. Die letztere Bedingung ist aber gleichfalls nicht zu vermeiden, da, was nach Kant der fundamentalste philosophische Fehler wäre, ein An sich als eine Erscheinung neben anderen behandelt würde, wenn man annähme, es könne in einer Reihe mit solchen stehen118• In scharfer Kritik der Cartesischen Erbschaft der Kantischen Philosophie nun sind von Hege! Psychisches und Somatisches als Korrelate, d.i. als zwar unter­ scheidbare, zugleich aber untrennbar119 verbundene Seiten des lebendigen Individu­ ums begriffen worden120; "Seiten" auch in dem Sinne, daß der Versuch, die eine der beiden für wesentlicher zu erklären als die andere, an Abstrusität mit der Behaup­ tung zu vergleichen wäre, daß die rechte Seite noch eher das Ganze sein könne als die linke. Einerseits ist Hege! zufolge selbst in der geistigsten aller Äußerungen des Psychischen der Leib immer noch tätig121 ; andererseits bleibe in denjenigen Äuße­ rungen des Psychischen, die dieses entweder gänzlich mit dem Leib gemein zu haben scheint, oder die als Wirkungen desselben angesehen werden können, wie Schlaf und Verrücktheit, dennoch das Geistige auch erhalten122• Impliziert aus diesen Gründen die Rede von einem eigentlichen, rein geistigen Selbst, dem der Leib als ein Unei­ gentliches, Äußerliches gegenüberstünde, eine falsche Abstraktion, so ergeben sich weitreichende Konsequenzen. In Anspielung sowohl auf die Stoa wie auf Kant kon­ statiert Hege!: "Insofern Ich lebe, ist meine Seele (der Begriff und höher das Freie) und der Leib nicht geschieden, dieser ist das Dasein der Freiheit, und Ich empfinde in ihm. Es ist daher nur ideeloser, sophistischer Verstand, welcher die Unterschei­ dung machen kann, daß das Ding an sich, die Seele, nicht berührt oder angegriffen werde, wenn der Körper mißhandelt [ ... ] wird"123• Die Wendung "Insofern Ich lebe" ist dabei nicht einschränkend zu verstehen. Denn dem Umstand, "daß jemand lebt", steht "keine höhere Geistigkeit gegenüber, in der man existieren könnte"124• Darum gilt kurzum: "Meinem Körper von anderen angetane Gewalt ist Mir angetane Ge­ walt"125. So ist nach Hege! das wechselseitig voneinander abhängig, was nach den konkurrierenden Auffassungen sich zueinander verhalten soll als unabhängiges ei­ gentliches Selbst zu abhängigem Uneigentlichern Selbst. Was aber in diesem Sinne im

117 Ebd. A 530

B 558, A 537 B 565. Vgl. Heinz Röttges: Kants Auflösung der Freiheitsantinomie. S. 46f. "9 Dies in dem Sinne, in dem es kein Inneres ohne ein Äußeres, oder kein Rechts ohne ein Links gibt. 1 20 Vgl . Timothy O'Hagan: On Hegel's Critique of Kant's Moral and Political Philosophy. S. 149f. 1 2 1 Dies eine Spezifikation von Hegels allgemeiner These, daß das Psychische "den Leib zu seiner Realität hat"" (Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 216 Zus. S. 374). 1 22 Vgl . Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 408 Anm. S. 312. Ausg. 1830. § 398 Zus. u. § 408 Anm. S. 93 u. 163. 123 Rechtsphilosophie § 48 Anm. S. 111. 1 24 Ebd. § 123 Zus. S. 232. 125 Ebd. § 48 Anm. S. 1 12. us

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Kapitel XIX

Hinblick auf den Leib zu bemerken ist, gilt vollends und a fortiori in bezug auf ei­ gene Interessen. Nun könnte man meinen, die angeführten Hegeischen Einwände lägen doch ge­ rade auf der Linie der vorgeschlagenen126 Lösung, all die beschränkten Ansichten etwa des Stoizismus, so seine Leibfeindschaft, seien zu verwerfen, und nur am Prin­ zip der Selbstbestimmung als solchem sei nicht zu rütteln. Aber die Schwierigkeit ist, daß dieses Prinzip erst durch jene krude Ansichten etwas besagt. Auch das von Hege! behauptete "relative Recht" der stoischen oder Kantischen Selbstbestimmung müßte schließlich in identifizierbaren Argumenten bestehen; Selbstbestimmung ist aber nur dann ein Argument gegen den empirischen Willen, wenn das Selbst allen Inhalt aus sich ausschließt, und dann ist sie, eben dieses Ausschlusses halber, ein schlechtes Argument. Es gibt keinen vor der Beantwortung der Frage, was das Selbst sei, identifizierbaren elementaren Sinn von Selbstbestimmung, der als solcher einen Einwand gegen den empirischen Willen abgeben würde. Daß man dem Ausdruck "Selbstbestimmung" durch eine Antwort auf jene Frage einen identifizierbaren Sinn verleihen kann, ist freilich längst konzediert. Aber, wie gleichfalls bereits festge­ stellt127: entweder werden in dieser Antwort auf die Seite des Selbst, das bestimmt, auch seine Interessen, und etwa auch sein Leib gezählt, so taugt die so gefaßte Selbstbestimmung gar nicht mehr zum Einwand gegen den empirischen Willen, den sie doch - als "relativ berechtigt" - hergeben sollte: denn sie ist von diesem gar nicht mehr recht unterscheidbar. Schließt man jedoch jene Momente aus dem Selbst aus, so unterliegt der Gedanke so unmittelbar den referierten Hegeischen Einwänden, daß er nicht erst, wie in der untersuchten Argumentation intendiert war, in letzter Instanz, angesichts des Standpunkts der Sittlichkeit, relativiert, sondern in erster In­ stanz widerlegt wird.

126 IV

§ 98.

Ebd.

KAPITEL XX

Freiheit und "Auch anders können" § 100 Freilich ist damit das idealistische Projekt einer Aporetik des empirischen Willens keineswegs erledigt. Vielmehr scheint Hege! durchaus über weitere, und stichhalti­ gere Argumente zu verfügen. In der Bestimmung der Freiheit als Wahl - und eben dies enthält der Begriff der Willkür -, sieht Hege! den Fehler, daß der Zustand des Wankens und Schwankens, den das Subjekt schwerlich als seine Befreiung erfahre, als ebensolche ausgegeben werde. Das aber hieße endlich doch: "Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Wuierspruch"1• Den Bemerkungen, die Hege! hierüber macht, kommt kaum der Status eines expli­ zierten Arguments zu; indessen scheinen sie einer solchen Explikation doch fähig. Das Subjekt der "Wahl, - Willkür"2 sei eines, "welches so will und beschließt und auch ebensogut anders wollen und beschließen kann"3. Diese Bemerkung ist Hegels Kritik der Moralität - die er ja der Willkür subsumiert - entnommen; und dieser Ort ist ihr gewiß nicht zufällig, insofern Hege! erst im moralischen Subjekt das Bewußtsein, es selber gewesen zu sein, das sich so und so entschieden hat\ und ferner das Bewußt­ sein, daß es auch anders hätte entscheiden können5, zum Dünkel6 gesteigert sah. (Das spezifisch Moralische an der "innern moralischen Eitelkeit, dem Genusse des Bewußtseyns der eignen Vortrefflichkeit"7 verschärft nach Hege! das Selbstbewußt­ sein, es selber gewesen zu sein, zu der Überzeugung, was man selber doch, indem man solches tue, für ein guter Mensch sei. Als Geist der moralischen Gemeinde hat Hege! dies sarkastisch charakterisiert: "Der Geist und die Substanz ihrer Verbindung ist also die gegenseitige Versicherung von ihrer Gewissenhafftigkeit, guten Absich­ ten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das Laben an der Herrlich­ keit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher Vortrefflich­ keit"8.) Daß das Subjekt, das ein jene beiden Momente: es selber gewesen zu sein, und auch anders zu können, enthaltendes Bewußtsein besitzt, sich zugleich noch et­ was darauf einbildet, daß die Angelegenheit so liegt, stellt wohl kaum ein universelles Charakteristikum der Willkür dar. Hingegen können die genannten beiden Mo-

1

Rechtsphilosophie § 15 Anm. S. 66.

2 Ebd. Handschriftliche Notiz zu § 139. S. 263. Vgl. § 139. S. 261. 3 Ebd. § 140 Anm. S. 279. 4 Ebd. Handschriftliche Notiz zu § 139: "Es ist subjektiv, d.i. Ich;

es hat kein Anderer oder Anderes getan, oder gewollt, oder beschlossen - sondern Ich" (S. 263). s Ebd. § 139 Zus.: "Ich habe, da das Gute wie das Böse mir entgegensteht, die Wahl zwischen beiden, kann mich zu beiden entschließen und das eine wie das andere in meine Subjektivität aufnehmen" (S. 265). Eindringender als die Rechtsphilosophie analysiert Hegels "Phänomenologie" das moralische "Schwanken" (S. 211). 6 zu "Eitelkeit" und "Hochmut" (Rechtsphilosophie. Handschriftliche Notiz zu § 132 Anm. S. 249. Ebenso § 139. S. 260). 7 Phänomenologie. S. 358. 8 Ebd. S. 353. -

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Kapitel XX

mente: es selber gewesen zu sein, und auch anders zu können, allem Anschein nach durchaus als allgemeine Bestimmung der Willkür gelten. Hegels zunächst befremdliche Zusammenstellung von Willkür und Moralität hat im wesentlichen zwei Gründe: erstens seine Charakterisierung beider als Abstraktion von allem Inhalt, zweitens seine Charakterisierung beider durch den Bezug auf Mög­ lichkeit. Zum einen nämlich denkt Hege! Willkür häufig nicht als den wählenden Willen, dem es um seinen Inhalt geht, sondern als das Vermögen dessen, was die Schulen Indifferenz nannten. Dieses aber gleicht der von Kant konzipierten morali­ schen Subjektivität in der Trennung des Willens von seinen Inhalten. Freilich sind etwa die in der Diskussion um das "liberum arbitrium indifferentiae" prominente Ge­ schichte vom Huridanischen Esel, oder das Bild von Waage und Gewichten, als Me­ tapher für Wille und Motive, auf einem Reflexionsniveau angesiedelt, das dem Kants nicht vergleichbar ist; doch enthalten sie unzweideutig die von Kant zum Prinzip er­ hobene Trennung der Form vom Inhalt. Die Inhalte werden als etwas außerhalb des Willens gedacht, und dieser ist rein formales Willensvermögen9• Die so umrissene Konstellation sieht Hege!, seine Parallelisierung fortschreibend, hier und dort glei­ chermaßen dem Einwand ausgesetzt, sie mache es unbegreiflich, wie der Wille eine bestimmte Entscheidung treffen und sich einem bestimmten Inhalt zuwenden könne; als abstrakte Identität des Subjekts mit sich selbst enthalte sie kein Moment, aus dem heraus es einen distinkten Zweck zu setzen vermöge10• Der zweite Grund für Hegels Zusammenstellung von Willkür und Moralität scheint unmittelbar mit dem nun zur Debatte stehenden Argument zusammenzuhängen. In ihm geht es darum, daß die Bestimmung der Freiheit als Wahl (und die Willkür ist der "kürende", d.i. wählende Wille) den Zustand des Wankens und Schwankens, den das Subjekt am wenigsten als seine Befreiung erfahre, fälschlich als ebensolche ausgebe. Das Subjekt der "Wahl, Willkür"1 1 sei eines, "welches so will und beschließt und auch ebensogut anders wollen und beschließen kann"12: "Der endliche Wille, als nur nach der Seite der Form sich in sich reflektierendes und bei sich selbst seiendes unendliches Ich (§ 5), steht über dem Inhalt, den unterschiedenen Trieben, sowie über den weiteren einzelnen Arten ihrer Verwirklichung und Befriedigung", insofern es "als unbestimmtes nicht an diesen oder jenen Inhalt [ .. ] gebunden ist (§ 6, 1 1 ). Derselbe ist insofern für die Reflexion des Ich in sich nur ein Möglicher, als der meinige zu sein oder auch nicht, und Ich die Möglichkeit, mich zu diesem oder einem andern zu bestimmen, - unter diesen für dasselbe nach dieser Seite äußeren Bestimmungen zu wählen" 1 3 • Dies "Auch anders Können" scheint nun aber nicht allein der Willkür eigentümlich, sondern gehört offenkundig auch der Moral zu. Die Möglichkeit jedes Inhalts, nicht seine Wirklichkeit ist der moralischen Reflexion maßgebend; nur darum muß eine abgeschlossene Handlung es sich gefallen lassen, daß das moralische Bewußtsein sie nachträglich von einem fiktiv zurückversetzten Standpunkt aus mit damals möglichen Entscheidungsalternativen vergleicht und bewertet. Kommt es zum Vorwurf der Ver.

9 § 55.

Vgl . Herber! Schnädelbach: Hegels Theorie der subjektiven Freiheit. S. 73. Rechtsphilosophie. Handschriftliche Notiz zu § 139. S. 263. 12 Ebd. § 140 Anm. S. 279. 13 Ebd. § 14. S. 65. Vgl . § 15. S. 66. 10 11

Freiheit und "Auch anders können"

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fehlung, dann sind es die ausgeschlagenen, nach Maßgabe der Moral besseren Mög­ lichkeiten, die sie zu Zeugen ihrer Anklage aufbietet14• So gründet die Moral wie die Willkür essentiell in dem "Auch anders Können". In ähnlicher Weise ließe sich die Zusammenstellung von Moralität und Willkür auch daraus erklären, daß Hege! in beiden auf Nichtseiendem basierende Beurteilungen des Seienden erblickte. Der Adressat der Kantischen Moral ist aufgefordert, seine Handlungsweise durch den Gedanken, daß alle so handelten wie er, regulieren zu lassen; ist dies aber eine Vor­ aussetzung, von der man zugleich weiß, daß sie nicht zutrifft, so liegt es nahe einzu­ wenden, es handelten eben nicht alle in dieser Weise, und was geschehen würde, wenn sie es täten, sei egal, insofern sie es nun einmal nicht tuen. Das Prinzip einer auf Nichtseiendes als Maßstab bezogenen Beurteilung des Seienden mag man aber auch darin sehen, von der Freiheit des "Anders handeln Könnens" die Würde einer tatsächlich vollzogenen Handlung abhängig zu machen. Abhängig gemacht wäre sie auf solche Weise nämlich davon, daß vermöge der Freiheit eine andere Handlung an ihrer Stelle hätte geschehen können, die tatsächlich aber nicht geschehen ist15•

§ 1 01 Die Frage, ob diese Analogie, die Hege! nirgends ausdrücklich durchzuführen ver­ sucht, haltbar ist, mag auf sich beruhen bleiben. Wesentlich für das nun zu prüfende Argument ist nur, daß der Willkür, wie es scheint, das Moment des "Auch anders Könnens" wesentlich zugehört. Ein Subjekt, das wählt, hat das Bewußtsein, sowohl, den Inhalt selbst zu setzen - und falls es sich für etwas entscheidet, das es schon gibt, ändert dies daran nichts, insofern erhalten bleibt, daß es selbst sich dafür entschei­ det -, als auch, daß es auch anders entscheiden könnte16• Gegen dieses "Auch anders Können" des wählenden Willens bietet Hege! im Zuge seines Arguments einen Be­ griff von Freiheit auf, in dem diese nicht mehr, wie es das "Auch anders Können" nahelegt, als Gegensatz der Notwendigkeit erscheint, sondern als eine spezifische Form derselben. Dies letztere, positive Präzisierung der kritischen These, daß Frei­ heit außerhalb der Sphäre des Wählens zu suchen sei, scheint dem unbefangenen Bewußtsein brüsk entgegengesetzt. Indem Hege! jedoch auf dem Wege zu ihr argu­ mentiert, mit der Willkür werde der dieser zugehörige Zustand des Wankens als ei­ ner der Freiheit behauptet, zugleich aber vom Subjekt gar nicht als ein ebensolcher erfahren, appelliert er an eben jenes Bewußtsein, doch an sich festzustellen, ob Frei­ heit und Willkür das selbe seien. Der Instanz zufolge, an die Hege! sich hiermit wen­ det, nimmt das Bewußtsein der Freiheit im Handeln verschiedene Formen an; und unter ihnen scheint zunächst durchaus das Bewußtsein des Akteurs zu sein, daß er eine Wahl hat. Dies enthält folgendes: Er hat die Alternativen vor sich, und es steht bei ihm, welche von ihnen er aktualisiert; er ist in seiner Wahl nicht durch physische 14

Andreas Zielcke: Die halbe Sache der Moral. S. 207.

1 5 Georg Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft S. 24f. 16

Hege) wendet sich gegen beide Momente (Rechtsphilosophie § 140 Anm. S. 279). Dies schließt je­ doch, wenn einem solchen Bewußtsein ein Widerspruch nachgewiesen werden soll, eine Strategie nicht aus, die das erste Moment so als ob sie für dieses Partei ergriffe - gegen das zweite ausspielt. •

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Gewalt genötigt oder durch Drohungen gezwungen; er kann tun, was er zu tun be­ schließt. Ohne seinen Entschluß würde weder das eine noch das andere getan, und bis er entscheidet, sind die Alternativen in dem Sinne offen, daß keine hinreichenden Bedingungen für das Eintreten der einen oder der anderen bestehen. Was der Ak­ teur tun wird, ist, so sagt sein Bewußtsein, nicht entschieden, - er wird es entscheiden. Und im Nachhinein, im Rückblick auf die Handlung, kann der Akteur diese frei in dem Sinne nennen, daß sie das Ergebnis seiner Wahl war. Zwei weitere Dinge kann er über sie sagen. Das eine ist, daß er hätte anders handeln können. Das andere ist, daß sie eine Handlung ist, die er als die seine anzuerkennen bereit ist. Er affirmiert willentlich seine Autorschaft, als für eine Handlung, die von ihm ausgegangen ist.

§ 1 02 Doch eben dies liefert bei genauerer Erwägung den ersten Anhaltspunkt für das Hegeische Argument, das das unbefangene Bewußtsein zu der Anerkenntnis des Umstands bewegen will, daß seine Freiheit nicht Willkür ist. Die erwähnten beiden Momente - das "Auch anders Können" und die eigene Autorschaft - sind zuweilen mit dem Wort "Freiheit" bezeichnet worden. Es handelt sich jedoch um zwei verschiedene Dinge. Und die Gründe dafür, das eine zu behaupten, sind verschieden von und - so wäre auf der Linie des Hegeischen Einwandes zu argumentieren unvereinbar mit den Gründen, das andere zu behaupten. Freiheit in der zweiten Bedeutung besteht darin, zu handeln und die Handlung im vollen Sinne als die eigene anzunehmen. Dies geschieht, wenn jemand, der das Dafür und Dagegen der Alternativen vor ihm in Betracht gezogen hat, zu dem Resultat gelangt ist, daß die Gründe zugunsten der einen Alternative die Gründe zugunsten der anderen so weitgehend überwiegen, daß er nicht zögert, für die eine Alternative zu optieren. Die Entscheidung, die zuvor offen war, ist es nun nicht mehr, und zwar nicht durch Betätigung der Willkür, sondern schlicht durch die Überlegenheit der Gründe für die eine Alternative gegenüber den Gründen für die andere. Daß zugleich von dem Subjekt gesagt werden kann, es sei Autor seiner Handlung: diese sei von ihm ausgegangen, nicht von einem äußeren Einfluß auf ihn, stellt eine Behauptung dar, die der Rechtfertigung bedürftig, freilich auch fähig ist. Denn die Gründe sind entscheidend für den Betreffenden, weil er die Person ist, die er ist; und er ist eine Person mit diesen und jenen Zielen, Zwecken und Plänen. Diese machen seine praktische Subjektivität aus; striche man sie sämtlich durch, so bliebe keine Instanz übrig, die noch entscheiden könnte. Insofern stellt sich in diesem Begriff eines freien Individuums die Behauptung, die Handlung sei vom Subjekt ausgegangen, nicht von einem äußeren Einfluß auf ihn, trotz der scheinbar gleichen Formulierung nicht im Sinne der Kantischen Alternative von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Die Gründe, von denen die Rede war, sind gewußte, erwogene Gründe, und die Überlegenheit ist nicht das Überwiegen eines Gewichts in einem Mechanismus, wie die - von Kant als für das auf seinen Inhalt bezogene Wollen für gültig erachtete Theorie des stärksten Motivs das Entscheiden konzipiert: als einen Vorgang, in dem das Subjekt als passiver Schauplatz eines ihm widerfahrenden Geschehens erscheint.

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Die Pointe der im Gang befindlichen Explikation einer Hegeischen Andeutung ist diese: sie blamiert die Freiheit des "Auch anders Könnens", die als Essenz der Will­ kür verstanden wird, indem sie das unbefangene praktische Bewußtsein auf den Moment der vollzogenen Entscheidung, oder der ins Werk gesetzten Handlung, als auf einen Moment der Freiheit hinweist, ohne daß das "Anderskönnen" irgend von Belang wäre. Das Bewußtsein der Unentschiedenheit, so lautet der Hinweis, dauerte nur so lange, wie der Akteur das Pro und Contra noch nicht gegeneinander abgewo­ gen hatte; nun ist es ausgelöscht. Der Akteur fühle sich jedoch in keiner Weise darum weniger frei; die anfängliche Unsicherheit und Ungewißheit sei nicht das, wo­ rauf es ankommt für die Freiheit. Erst, wer sie hinter sich gelassen habe, handele rückhaltlos, "von ganzem Herzen", mit dem Gefühl, daß die Handlung im vollen Sinne die seine ist, d.i.: frei. Dabei ist das Argument nicht darauf zu verkürzen, es handele einer einfach deshalb frei, weil rückhaltlos, weil ohne Bedenken, weil ohne Bedacht17• Die Prämisse war eine andere. Wenn einer sorgfältig und eingehend die Gründe für die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten würdigt, wenn er ganz ver­ steht und gutheißt, was er tut, den eigenen Absichten, dem eigenen Wollen und dem eigenen Geschmack in seinem Handeln Ausdruck verleiht, dann erfährt er Freiheit; und er ist dann mehr als irgendwann sonst bereit, die eigene Autorschaft für die Handlung anzuerkennen. Er will genau das, was er will, nichts anderes; und eben darum ist nun ein eventuelles "Auch anders Können" ohne Bedeutung.

§ 103 Das auf diese These zielende Argument adressiert sich an das unbefangene Bewußt­ sein, sofern es bereit ist, sich über sich selbst Rechenschaft abzulegen. Diesem soll es einen Begriff des freien Willens nahelegen, der nicht zusammenfällt mit Willkür. Mehr noch: "Keine Willkühr, und ebenso kein Kampf, keine Unentschiedenheit ist in ihm"; er ist das "Unwankende"18• Gerade insofern "keine Unentschiedenheit" in ihm ist, intendiert das Argument allerdings nicht die Elimination des Moments der Ent­ scheidung. Was es indessen zu demonstrieren hat, ist, daß das Moment des "Auch anders Könnens" der Freiheit nicht wesentlich ist. Diese war zuletzt - in einer Form, die auch dem unbefangenen Bewußtsein zugänglich ist -, verstanden worden als eine Stellung des Subjekts zu seinen Handlungen, in der es durchaus versteht und billigt, was es tut. Aber - so besagt das Argument - die Vorstellung, daß der Betreffende auch irgend etwas anderes hätte tun können, entbehrt der Grundlage in einem Fall dieser Art. Sie ist eine leere logische Möglichkeit wie die, es könnte sich herausstel­ len, daß der Mond aus grünem Käse gemacht ist. An einer solchen Freiheit aber könne niemandem etwas liegen. Dabei liegt keine Schwierigkeit darin, ungeachtet der Kritik des "Auch anders Könnens" zu konzedieren, daß der Akteur die physische 17 Freilich wäre selbst ein solcher Fall nicht notwendig einer von Unfreiheit. Wenn einer morgens aufsteht, sich wäscht, frühstückt, ohne daß es ihm irgend in den Sinn käme, stattdessen etwas anderes zu tun, so wäre es witzlos, seine Aktivitäten dahingehend zu resümieren, daß er, als Träger eines freien Willens, "hätte anders handeln können". Doch umgekehrt folgt daraus auch nicht, daß sein Verhalten unfrei war. 18 Phänomenologie. S. 251.

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und geistige Befähigung besitzen mag, etwas anderes zu tun. Auch könnte es sein, daß er etwas anderes getan hätte, wenn er den Umständen, oder den eigenen Erwä­ gungen, oder den Erwägungen anderer, keine Aufmerksamkeit, oder weniger Auf­ merksamkeit geschenkt hätte, - das heißt, wenn der Fall anders gelegen hätte, als er lag. Aber die Behauptung, jemand, der vollkommen überzeugt war, die eine Mög­ lichkeit sei der anderen vorzuziehen, hätte dennoch die andere in die Tat umsetzen können, könnte schwerlich einen anderen Sinn haben als den, daß der Betreffende das Opfer eines Irrtums hätte werden können, oder daß er einen Ausfall seines Ge­ dächtnisses oder seiner Konzentrationsfähigkeit hätte erleiden können. Die Mög­ lichkeit, etwas Idiotisches zu tun, zeigt den Akteur nicht im Genuß seiner Freiheit, sondern legt, als realisierte, die Vermutung nahe, er habe die Fähigkeit zum intelli­ genten Umgang mit sich und der Welt verloren.

§ 1 04 Endlich wäre folgendermaßen zu demonstrieren, daß das "Auch anders Können" nicht der Inbegriff der Freiheit sei. War zuletzt auf Fälle Bezug genommen worden, in denen die Gründe für eine Entscheidung klar und schlüssig waren, so ließe sich demgegenüber auf Situationen rekurrieren, in denen die Dinge umgekehrt lägen. Das Dafür und das Dagegen hätte Gründe gleicher Qualität auf je seiner Seite, oder aber es läge auf so verschiedenen Ebenen, daß es unvergleichbar erschiene. Infolge­ dessen wüßte der Akteur nicht, wofür er sich entscheiden sollte. Die Annahme einer solchen Unentschlossenheit impliziert keine Voraussetzungen in der Art des Argu­ ments des Huridanischen Esels. Es sind nicht gleich starke Kräfte, die ihn nach zwei Seiten ziehen, oder äquivalente Reize, die ihn affizieren. Vielmehr sind es seine Ge­ danken, die für oder gegen diese oder jene Bestimmung seines Handeins sprechen. Auch ist nicht impliziert, der Akteur müsse, kraft eines Naturgesetzes seines Willens, unentschlossen bleiben. Die Pointe ist eher: bliebe er weiter unentschieden, so brächte dies, entgegen der Suggestion, Freiheit bestehe in offenen Möglichkeiten und im "Auch anders Können", kein Bewußtsein der eigenen Freiheit mit sich. Im Gegenteil: die Notwendigkeit, auf unangemessener Grundlage eine Wahl treffen zu müssen, führte in einen Zustand der Befangenheit; und der Akteur hielte Ausschau nach einem entscheidenden Grund, der ihn aus ihr befreite. Wenn er ohne einen sol­ chen wählen würde, und damit auf einer Grundlage, von der er wüßte, daß sie, für ihn, unzureichend ist, so täte er es unsicher, gezwungen, und halbherzig. Daher scheint die Möglichkeit, daß man auch irgendetwas anderes hätte tun können, zu­ mindest nicht mit der Freiheit verbunden zu sein, welche einem handelnden Indivi­ duum bedeutsam ist19• Umgekehrt sei einer, wenn er absolut ohne Zweifel darüber

19 Sie bestehe, doch habe es mit ihr nicht viel auf sich, meinte Descartes. Meditationes de prima phi­ losophia. Meditatio quarta. S. 58: "indifferentia autem illa, quam experior, cum nulla me ratio in unam partem magis quam in alteram impellit, est infimus gradus libertatis".

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sei, wie seine Wahl ausfallen werde, nichtsdestoweniger seiner Macht, zu wählen, bewußt; Unsicherheit hinsichtlich jener Frage mache ihn nicht freier-20.

§ 1 05 Zu der Argumentation ist mehreres zu bemerken. Zunächst ist sie nicht bereits durch die Feststellung erfolgreich, daß das Bewußtsein der Wahl - die Alternativen vor sich zu haben, dergestalt, daß die Sache nicht entschieden ist, und daß sie durch den eigenen Willen entschieden wird - nur vor der Handlung bestehen kann, da die Angelegenheit nach der Handlung ja nicht mehr unentschieden ist. An diesem Punkt könnte es scheinen, daß die Willkür den unfreiesten Status des Subjekts mit sich bringe: nämlich den, nie zur Handlung zu kommen, da sie auf der Grundlage ihres sich damit als falsch erweisenden - Freiheitsbegriffs stets vor der Handlung zurück­ schrecken müsse. Denn dieser Freiheitsbegriff meine das Offenstehen von Alternati­ ven; mit der Handlung seien diese aber nicht mehr offen. Um frei zu bleiben käme also das Subjekt, das seine Freiheit als Willkür mißversteht, nie zur Handlung "Wenn ich meine Freiheit als Substanz in mir weiß, so bin ich tatlos und handle nicht"21 -, und werde damit vollends unfrei. Das Argument konstruiert einen Gegen­ satz von Freiheit qua Offenstehen von Alternativen und Handeln, dergestalt, "daß man in gewissem Sinne sagen kann, das Individuum werde immer weniger frei, je mehr es handelt"22• Es ist dies die Logik der verschlossenen Möglichkeiten, die der Preis des Wahrnehmens einer bestimmten Möglichkeit sein sollen. Hierin knüpft das Argument an ein bereits erörtertes an: wer sich für etwas entscheide, entscheide sich gegen anderes, sei damit beschränkt, also unfrei23• In ihm wird Entscheiden gleichge­ setzt damit, sich Möglichkeiten zu verbauen. Aber die Entscheidungen, die einer trifft, können ihm ebensowohl neue Möglichkeiten eröffnen, wie andere verschlie­ ßen. Vor allem aber ist, so unleugbar es Fälle der letzteren Art gibt, die Logik der verschlossenen Möglichkeiten als allgemeine Charakterisierung des Wählens inso­ fern schief, als sie über dies Wesentliche desselben hinweggeht, daß sich die gewählte und die nicht gewählten Möglichkeiten zunächst einander gegenüberste­ hen als das, was einer will, worauf es ihm ankommt, gegenüber dem, worauf es ihm ­ jetzt - nicht ankommt. Ganz entsprechend setzt sich die Entgegensetzung von Freiheit und Handeln darüber hinweg, daß dieses: die Realisierung der Zwecke, der

"' Diese Pointe formuliert Engels in seiner Interpretation des Hegeischen Freiheitsbegriffs folgen­ dermaßen: 'Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Un­ kenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiedenen und widersprechenden Entschei­ dungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Be­ herrschtsein von dem Gegenstand, den sie grade beherrschen sollte' (Anti-Dühring. S. 106). Hiervon wird noch zu handeln sein. 21 Rechtsphilosophie § 138 Zus. S. 260. 22 Friedrich Wilhelm Josef Schelling: System des transeendentalen Idealismus. S. 549. 23 §§ 84, 87.

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Witz jener ist24• Es versteht sich allerdings, daß die besagte Art des Bewußtseins von Freiheit nur vor der Handlung bestehen kann. Nach der Handlung ist die Angelegenheit nicht mehr unentschieden; die Tat ist getan. Diese Charakterisierung läßt sich nicht von der Hand weisen; aber sie ist nicht ohne weiteres ein Einwand. Daß sich nach der Handlung die Frage ihrer Freiheit - qua: Auch anders Können - in einem bestimmten Sinne erledigt hat, ist schon wahr. Nur fragt es sich, wem dieser Umstand eigentlich etwas anhaben soll, - dem Akteur gewiß nicht, denn er hat sein Ziel erreicht. Das Belangloswerden der Freiheit der Wahl durch ihren Vollzug ist mit dem Begriff der Willkür vereinbar, und beweist so wenig die Falschheit eines derartigen Konzepts, wie der Begriff des auf einen Zweck gerichteten Handeins nicht dadurch ad absurdum geführt wird, daß man einen bestimmten Zweck in gewissem Sinne nur solange hat, wie man ihn nicht erreicht hat (mit seinem Erreichtsein verschwindet der Zweck qua Zweck ) 15 • Die Freiheit der Wahl vor der vollzogenen Handlung zu blamieren, ist kein triftigeres Unterfangen, als die Qualität eines Weines mit dem Argument in Abrede zu stellen, daß er auch einmal ausgetrunken ist. In diesem Sinne trifft das Argument nicht, wogegen es sich richtet; die Reserve gegenüber dem bestimmten Inhalt liegt nicht im Begriff der Willkür, sondern ent­ stammt erst dem idealistischen Raisonnement gegen sie26: daß kein bloß endlicher Inhalt der Dignität des Absoluten am freien Willen gerecht werden könne, gehört erst diesem, nicht jenem zu. Wahl bedeutet vielmehr Entscheidung: überlegtes, be­ gründetes Übergehen von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit (und zwar von relati­ ver Unbestimmtheit zur Bestimmtheit, denn man entscheidet aufgrund der Prüfung von Gründen; aus absoluter Unbestimmtheit, wie sie im "arbitrium indifferentiae" unterstellt wird, gibt es gar keinen Übergang zur Bestimmtheit27). Zwar ist nichts einzuwenden, wenn Hege! ausführt: "Durch das Beschließen allein tritt der Mensch in die Wirklichkeit, wie sauer es ihm auch wird, denn die Trägheit will aus dem Brü­ ten in sich nicht herausgehen, in der sie sich eine allgemeine Möglichkeit beibehält. Aber Möglichkeit ist noch nicht Wirklichkeit"28• Doch eben dies Beschließen ist im wählenden Willen, der Willkür, enthalten, denn Wählen meint nicht lediglich Erwä­ gen des Für und Wider, sondern endlich auch das Treffen einer Wahl. Freilich hat Hege! in seiner Kritik das diese Zusammenhänge verdunkelnde Kon­ zept der "libertas indifferentiae" im Sinn; und gegen dieses behält er allerdings Recht. Der scholastische Disput, der ihm gilt, resümiert sich in der Frage, wie ein grundloses Wollen begreiflich sei, das doch zu einem bestimmten Wollen wird, ein Sichentscheiden des Ich aus der bloßen Indifferenz, ein Setzen des Wirklichen aus der reinen Möglichkeit. Die Idee des "arbitrium indifferentiae" ist diese: Der Wille "' Gottfried Wilhelm Leibniz: Theodicee § 51. Bd. II/1. S. 282: "Nous voulons agir, a parle juste, et nous ne voulons point vouloir". - Voltaire: Le philosophe ignorant LI. S. 37: "je vous ai dit que sa liberte (de l'homme) consiste dans son pouvoir d'agir, et non pas dans Je pouvoir chimerique de vou/oir vou/oir". "' Theodor Ebert: Zweck und Mittel. S. 35. 26 S. Rechtsphilosophie §§ 10 - 16. S. 60 - 68. Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. S. 9, 275. v Insofern ist gerade der von Hege) konstruierte Übergang von § 5 zu § 6 der "Grundlinien der Phi­ losophie des Rechts"' obskur. "' Rechtsphilosophie § 13 Zus. S. 65. Vgl. § 12. S. 63. Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 92 Zus. S. 197.

Freiheit und "Auch anders können"

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setzt A. aber das Denken setzt als mögliche Handlungen ebensogut B und C; A setzt das Ich nicht aus den für A günstigen Gründen, sondern in und aus der Indifferenz, es ist insofern grundlos gewollt. Die Freiheit der Indifferenz, sich ohne alle Gründe zu bestimmen, impliziert die Behauptung eines Wollens ohne Denken, deren Sinnlo­ sigkeit Hege! scharf herausarbeitet29• Aber so richtig dieser Einwand gegen schiefe Darstellungen des Begriffs der Willkür sein mag, so trifft sie diesen selber nicht, so­ fern darunter der wählende Wille verstanden wird, dem es um seinen Inhalt geht. Wenn von dem letzteren abstrahiert wird, so bleibt allerdings ein bloßes unbestimm­ tes Vermögen übrig, das den Widerspruch an sich hat, völlig unpraktisch zu sein, und eben doch Wille, d.i. praktische Intentionalität sein zu sollen. D.h.: Wird davon ab­ strahiert, daß Wollen stets ein Wollen von etwas ist, und wird demgemäß die Willkür formalistisch gefaßt, wie in den Theorien des "arbitrium indifferentiae", als bloße Form ohne alle inhaltliche Bestimmung, dann ist nicht zu begreifen, wie sie eine be­ stimmte Wahl zu treffen und sich durch sich selbst auf einen bestimmten Inhalt zu beziehen vermöchte; als abstrakte Identität des Subjekts mit sich selbst enthält sie keine Momente, aus denen ein bestimmter Entschluß hervorgehen könnte. Hierin erst ist die Auflösung einer zuvor ausführlich erörterten Interpretationsschwierig­ keit30 erreicht. Das von Hege! behauptete relative Recht des Determinismus gegen Kane1 begreift man nun richtig so, daß es unter der von beiden geteilten Prämisse der Trennung des Willens - der damit formales Willensvermögen wird - von seinen Inhalten immer noch folgerichtiger ist, zu behaupten, der Wille könne nur durch seine zu äußeren Mächten hypostasierten Inhalte zu Handlungen kommen (wenn auch nur als geschobener und gestoßener), als, er könne ohne sie zu Handlungen kommen. Das Gesagte erhellt auch den guten Sinn von Hegels Bemerkung: "Die Freiheit in aller Reflexionsphilosophie, wie in der Kantischen und dann [in] der Friesischen vollendeten Verseichtigung der Kantischen, ist nichts anderes als jene formale Selbsttätigkeit"32• Der Satz ist scheinbar höchst ungerecht: denn in der Idee der Einheit von Freiheit und Gesetz ist ein moralischer Freiheitsbegriff der Wahlfreiheit der Willkür gerade entgegengesetzt. Aber als Abstraktion von allem Inhalt ist diese moralische Freiheit, gleich der Indifferenz, bloß unbestimmtes Vermögen33• Das richtige Moment des Hegeischen Arguments ist deshalb auch bereits in dem enthalten, was frühe� zur Bestimmung eines Willens, dem es in der Wahl um seinen Inhalt geht, gegen den Kantischen Begriff des freien Willens vorgetragen wurde. Ein Wollen, hieß es dort, sei nicht etwa genau dann vernünftig, wenn es nicht durch einen Gegenstand verursacht, sondern vielmehr genau dann, wenn es nur durch das­ jenige am Gegenstand verursacht sei, was für den vom Willen gesetzten Zweck von Belang ist. Nicht der Gegenstand schlechthin sei aus einer freien, vernünftigen Betä29

Vgl. Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 445 Anm. S. 329. § 482. S. 352. Ausg. 1830. § 445 Anm. S. 241. §

468 Zus. S. 288 . § 481. S. 300 f. Wissenschaft der Logik II. S. 233. Rechtsphilosophie § 4 Zus. S. 46ff. § 5

Anm. u. handschriftliche Notiz. S. 49ff. § 21 Zus. S. 74. 30 s. §§ 73 - 76. 31 Rechtsphilosophie § 15 Anm. S. 66. Vgl. § 73. 32 Rechtsphilosophie § 15 Anm. S. 67. 33 Vgl. § 55. 34 § 59.

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tigung der praktischen Intelligenz ausgeschlossen, vielmehr müsse unterschieden werden zwischen dem Zweck angemessenen und dem Zweck unangemessenen Aspekten des Gegenstandes; die dem Zweck angemessenen seien zugleich vernünf­ tige Gründe des Entscheidens und Handelns, die ihm unangemessenen nicht. Der Akteur aber müsse jene Aspekte bemerken, d.h. sie müßten ihn empirisch affi­ zieren - eine Wahrnehmung eines Objekts, die nicht durch dieses bewirkt wäre, wäre eine Halluzination -, um in sein Entscheiden und Handeln einzugehen. Daß Freiheit in einer Wahl liegt, der es um ihren Inhalt zu tun ist, ist hierin impliziert, ohne daß sich eine der Absurditäten ergäbe, die diesem Begriff von Freiheit in dem zuvor in Explikation einer Hegeischen Andeutung vorgetragenen Argument unterstellt wurden. Das Richtige an diesem ist gewiß die Wendung gegen einen Begriff von Freiheit, in dem Gründe als deren Beschränkung und Beeinträchtigung figurieren. Je eher einer im Bilde ist, welche Gründe dafür und dagegen sprechen, sich praktisch so oder anders zu entscheiden, desto freier ist er in seiner Entscheidung. Daß Freiheit mit Notwendigkeit koinzidiere, oder auch nur, daß sie "Einsicht in die Notwendigkeit" sei, folgt daraus freilich nicht. Gleichwohl kann dieser philosophische Topos35, statt daß er platterdings als Fehler abgetan würde, im Ausgang von dieser Überlegung wenigstens als, gewiß höchst mißverständliche, Formulierung einer noch kenntlichen Wahrheit interpretiert werden.

35 Die These geht über die Aristotelische hinaus, frei sei die sich als Ursache wissende Ursache (Ethica Nicomachaea I. III, c. 1 - 8, bes. l l l l a3-4, 7-8, 22-24). Es mag genügen, wenige Zitate rhapso­ disch aufzureihen: Friedrich Wilhelm Josef Schelling: Freiheitsschrift S. 391f.: "Die wahre Freiheit ist im Einklang mit einer heiligen Nothwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen Erkenntniß empfin­ den, da Geist und Herz, nur durch ihr eignes Gesetz gebunden, freiwillig bejahen, was nothwendig ist". Friedrich Hebbel: Aufzeichnung v. März 1842. In: Tagebücher. S. 204: "Der Mensch hat freien Willen d.h., er kann einwilligen ins Notwendige!" - Friedrich Engels: Anti-Dühring. S. 106: "Hege! war der er­ ste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Ein­ sicht in die Notwendigkeit. 'Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird' (Hege!: Enzyklopädie I. 3. Auf!. (1830). § 147 Zus.)". - Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse § 213. S. 148: "dass Nothwendigkeit und 'Freiheit des Willens' ( .. ) Eins sind". Daß jeweils sehr verschie­ denes gemeint ist, versteht sich aus der Abstraktheil einer solchen Formel. .

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Freiheit und Notwendigkeit § 1 06 Daß jemand, sobald er versteht, warum sein Verhalten in einer bestimmten Weise ausfällt, wobei das "warum" auf eine Notwendigkeit verweist, der dieses Verhalten unterworfen ist, ipso facto, allein vermöge dieser Einsicht, von irgendeinem Sachver­ halt befreit wäre, trifft in der Regel nicht zu. Nur zuweilen, etwa bei manchem bloß intellektuellen Mangel, besteht die Überwindung eines Defizits bereits in der Er­ kenntnis desselben. Häufig jedoch ist die Erkenntnis eines Defizits mindestens der erste Schritt zu seiner Überwindung - d.h. dazu, von ihm frei zu werden. Wissen um diejenigen Umstände und Bedingungen, die jemandes Verhalten zuvor ohne sein Wissen bestimmt haben, eröffnet ihm neue Möglichkeiten des Handelns. In Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten kann einer ein Verhältnis zu ihnen gewinnen, das ihn befä­ higt, so mit ihnen umzugehen, wie er will; er agiert nun "nicht mehr", wie Heget sagt, "als ein blindes"1. Denn: "Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht be­ griffen wird"2• Mit dem Wissen, d.h., in Hegels Sprache, mit dem "Begriffe hat sich daher das Reich der Freyheit eröffnet"3• Die, nach Hegels Formulierung, "Dunkel­ heit", die darin lag, daß einer sich in einem von ihm undurchschauten "Causalverhält­ nisse" befand, "ist verschwunden" und "zur sich selbst durchsichtigen Klarheit gewor­ den'"'. So "wird sie" - die Notwendigkeit - "damit die Freyheit"5 • Setzen die Notwen­ digkeiten, mit denen sich einer konfrontiert sieht, seinem Willen Widerstand entge­ gen, so ist "[d]as Denken der Nothwendigkeit [ ... ] die Auflösung jener Härte [ ... ] - die Befreiung, welche nicht die Flucht der Abstraction ist"6• Das Absehen von dem, was einem Widerstand entgegensetzt - "die Flucht der Abstraction" - ist demgegenüber keine solche Befreiung. Steht einem eine Wand im Wege, so wird man - woran die Beule, die man sich auf diese Weise an ihr holt, erinnert - nicht frei von ihr, indem man sich weigert, sie zu sehen. Solche Freiheit hat vielmehr die gegenteilige Voraus­ setzung, sich mit der Existenz und der Beschaffenheit der Wand vertraut gemacht zu haben. (Es mag mehr vonnöten sein, etwa, daß der Betreffende ein Werkzeug zur Demontage der Wand zur Anwendung bringt; doch das Erwähnte ist auch dafür wie­ derum die Voraussetzung. Daß Heget seine These durchaus nicht im Sinne eines bloß Kontemplativen meint, scheint zunächst daraus hervorzugehen, daß er einem undurchschauten äußeren Ablauf auch die zweckmäßige Tätigkeit, die ja ihr Resultat ideell antizipiert, gegenüberstellt: "Man sagt dann" - im Falle des ersteren -, "aus sol­ chen Umständen und Bedingungen sei etwas ganz anderes hervorgegangen, und 1 Wissenschaft der Logik II. S. 15.

2 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 290. 3 Wissenschaft der Logik II. S. 15. Vgl. Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 467 Zus.: "Somit steht das Den­

ken hier [auf der Stufe des 'Begriffs', d.i. des Begreifens, Wissens] zum Objekt in einem vollkommen freien Verhältnisse" (S. 287). 4 Wissenschaft der Logik II. S. 16. 5 Ebd. S. 15. 6 Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 159 Anm. S. 134f. Ausg. 1830. S. 305.

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nennt deshalb die Notwendigkeit, welche dieser Prozeß ist, blind. Betrachten wir da­ gegen die zweckmäßige Tätigkeit, so haben wir hier am Zweck einen Inhalt, der schon vorher gewußt wird, und diese Tätigkeit ist deshalb nicht blind, sondern se­ hend"7.) In diesem Sinne ist Hegels Freiheitsbegriff von Friedrich Engels interpretiert worden: "Hege! war der erste, der das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit richtig darstellte. Für ihn ist die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit. 'Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird'. Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimm­ ten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln - zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vor­ stellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimm­ ten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiedenen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstand, den sie grade beherrschen sollte. Freiheit besteht also in der auf Er­ kenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur"8• Engels bestimmt Freiheit ausdrücklich als Einsicht in die Notwendigkeit. Wie be­ reits angedeutet könnte dagegen eingewandt werden, "Einsicht in die Notwendigkeit" im Sinn von Gesetzeserkenntnis verbürge für sich genommen noch nicht die Fähig­ keit, gemäß dieser Erkenntnis zu handeln9• Es sei - in dieser Weise kann das Beden­ ken ausgeführt werden - eine Intelligenz denkbar, die die Gesetzmäßigkeiten, denen ihre Existenz unterworfen ist, kennt, und die doch nicht die Mittel hat, den Zustand herbeizuführen, den sie wünscht - statt ihr Dasein so weiterzuführen, daß sie an ihm leidet. Denn andernfalls bedurfte man, um die Magersucht loszuwerden, nur einer guten Theorie der Magersucht10• Und wenn jemand einem Zwang unterliegt, braucht der Umstand, daß er sich dessen bewußt ist, am Bestehen des Zwanges nichts zu än­ dern. Diese Bemerkungen sind im wesentlichen richtig, freilich nicht als Beanstan7 Ebd. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 289; zur Charakterisierung des zweckmäßigen Handeins vgl. Be­ griffslehre für die Oberklasse § 57. S. 154f. Logik für die Mittelklasse § 125. S. 201. Vgl. auch die von Hege! in § 484 der Enzyklopädie von 1830 hergestellte Beziehung der These über Freiheit und Notwen­ digkeit auf die "Zwecktätigkeit" (S. 303). 8 Friedrich Engels: Anti-Dühring. S. 106. Die Hervorhebungen in dem Hegel-Zitat sind Engels' Zu­ satz. 9 Stuart Hampshire: Thougbt and Action. S. 190. 1 0 Ulrich Pothast: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. S. 280. Es ließe sich anfügen, Einsicht in die Notwendigkeit sei nicht nur keine hinreichende Bedingung dafür, frei zu werden, sondern nicht einmal immer eine notwendige Bedingung: zuweilen könne man sich auch von etwas befreien, ohne es zu begreifen. Freilich kann in Fällen, in denen man sich nicht von einer materiellen, sondern nur von ei­ ner ideellen Abhängigkeit emanzipiert, die Bedingung auch eine hinreichende sein; und ob eine Befrei­ ung vollständig ist, wenn man das, worauf sie sich bezieht, nicht begreift, ist fraglich.

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dung. Obwohl Engels die anfechtbare Formel von der Freiheit als "Einsicht in die Notwendigkeit" verwendet, geht aus seiner Bemerkung, Freiheit bestehe in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur, hervor, daß er Freiheit vielmehr als etwas auf Erkenntnis der Notwendigkeiten gegründetes verstand: mithin als etwas, das nicht identisch mit ihr ist. Denn was seinen Grund in etwas hat, fällt nicht mit diesem zusammen11• Tat­ sächlich ist, wie schon bemerkt, Erkenntnis ihrer Notwendigkeiten in der Regel nur eine Voraussetzung des freien Umgangs mit der Welt, nicht schon das selbe wie dieser. Über diese Einsicht hinaus ist Engels' als solche deklarierte Hegel-Exegese frei­ lich kaum geeignet, Licht auf ihr Interpretationsobjekt zu werfen. Nicht nur bleiben die neben den Naturgesetzen erwähnten Gesetze, die angeblich das "geistige Dasein des Menschen selbst regeln", im unklaren. Daß die Pointe der Freiheit in Engels' Ar­ gument darin liegt, Gesetze "planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen", resultiert in bezug auf die angeblichen Gesetze des Geistes in einer veritablen Para­ doxie. Weil nämlich das planmäßige Wirkenlassen von etwas zu bestimmten Zwecken dem zugehört, was Engels das "geistige Dasein des Menschen" nennt, wäre diese Tä­ tigkeit selbst bloß ein aus den Gesetzen, die dieses angeblich bestimmen, ableitbarer, oder mindestens ihnen ohne Rest subsumierbarer Fall. Anders als hinsichtlich der Naturgesetze, an denen Engels' Pointe einleuchtet, verschwindet hier das Moment der freien Stellung zu den Gesetzen: derjenigen Stellung, die die eine Seite von En­ gels' intendierter Dialektik ist, deren andere eben darin besteht, daß es eine Stellung zu Notwendigkeiten ist. Daß eine Tätigkeit, von der gesagt wird, daß sie sich der Be­ stimmtheiten eines Gesetzes frei bediene, ihrerseits in solchen gesetzlichen Be­ stimmtheiten aufgeht, ist kein dialektischer Gedanke, sondern ein platter unaufgelö­ ster Widerspruch. Auch die Fortsetzung ist nicht einwandfrei: "Je freier also das Ur­ teil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiedenen und wider­ sprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist"12• Daß sich jemand seiner Sache sicherer ist, wenn er mehr über sie weiß, und dieses Wissen ihn ihr gegenüber freier macht, ist zwar wahr. Wenn es um die Entscheidung nicht zwischen verschiedenen Zwecken, sondern zwi­ schen verschiedenen Mitteln geht, so ist die Sicherheit, mit der man zu einem ganz bestimmten Mittel, nämlich dem angemessensten, greift, gewiß viel eher Signum der erreichten Freiheit, als das Schwanken zwischen verschiedenen. In diesem Sinne be­ merkt bereits Descartes, die Unentschiedenheit dessen, der auch anders könne, ver­ weise eher auf Unvollkommenheit seiner Erkenntnis, denn auf Vollkommenheit sei­ ner Freiheit13• Doch daß, je freier das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit der Inhalt dieses Ur11 Hege!: Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 121 Anm. S. 1 17. Ausg. 1830. S. 248. Philosophische Enzyklo­ pädie für die Oberklasse § 171. S. 56. 1 2 Engels: Anti-Dühring. S. 106. 1 3 Meditationes de prima philosophia. Meditatio quarta. S. 58: "indifferentia [ ... ] nullam in ea [sc. li­ bertate] perfectionem, sed tantummodo in cognitione defectum, sive negationem quandam testatur".

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teils bestimmt sein wird, gilt nur manchmal. In anderen Fällen gilt gerade umge­ kehrt: je unfreier das Urteil eines Menschen in bezug auf etwas ist, je eher er dar­ über nur denkt, was herkömmlich darüber gedacht worden ist, und je weniger er fä­ hig ist, es auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, mit desto größerer Notwen­ digkeit wird sein Urteil in bezug auf es ausfallen: nämlich wie gehabt. Es ist kein Zeichen von Freiheit, daß einer immer das selbe tut, und seine Handlungen ein Mu­ ster ergeben, das Notwendigkeit aufweist, weil er in einer bestimmten Tradition oder Gewohnheit borniert ist, und ihm anderes gar nicht in den Sinn kommt.

§ 10 7 In Abzug der nicht haltbaren Formulierungen bliebe so als rationaler Sinn der Re­ de von "Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit", daß einer die letztere erken­ nen muß, um sie gemäß den von ihm gesetzten Zwecken gebrauchen oder verändern zu können. Plausibel ist dies Verhältnis - und hieran denkt Engels offenkundig zunächst - als Subordination unter den Determinismus der Natur zwecks dessen bes­ serer Beherrschung14; läßt einer Naturgesetze zu seinen Zwecken wirken, so leuchtet Hegels Satz ohne weiteres ein: "Die Nothwendigkeit wird nicht dadurch zur Freyheit, daß sie verschwindet"15, - verschwände sie nämlich, so wäre der gesetzte Zweck ge­ rade vereitelt. In dem so umschriebenen Sinne wäre Freiheit für Hege! begriffene Notwendigkeit16• Sogar die Formel "Einsicht in die Notwendigkeit", in der Hegels Begriff der Freiheit nicht selten resümiert wird, findet sich in seiner Enzyklopädie17, auf welche Engels sich beruft. Zwar figuriert sie nicht als Definition der Freiheit, sondern als Angabe dessen, was in der logischen Gestalt des Schlusses, über Begriff und Urteil hinaus, erreicht ist. Doch könnte sie ja gleichwohl die Intention des He­ gelschen Freiheitsbegriffes treffen. Tatsächlich aber ist das, was bislang in Explika­ tion ihrer Bedeutung entfaltet wurde, auch wenn ihm als für sich bestehendem Ge­ danken Richtigkeit konzediert würde, als Hegel-Interpretation fragwürdig. (Freilich wäre es abwegig, Engels philologischen Ehrgeiz zu unterstellen; es ging ihm offen­ kundig nicht um Hege!, sondern um die Sache, und so war es ihm auch nicht um Treue der Interpretation, sondern um die Triftigkeit der aus dem Text herausgeho­ benen Formulierung zu tun.) Zwar ist unleugbar Hegels Freiheitsbegriff auf Not­ wendigkeit bezogen. Freiheit und Notwendigkeit gehören ihm zufolge zusammen, und stehen der Zufälligkeit und Willkür gegenüber. "Die Freiheit ist wesentlich kon­ kret, auf ewige Weise in sich bestimmt und somit zugleich notwendig"18• Denn sie "ist 1• Es ist dies Bacons Gedanke: "natura enim non nisi parendo vincitur" (Novum Organum. Partis Se­ cundae Summa, Digesta in Aphorismos. Aphorismus 111. S. 157) . Vgl. Irving Louis Horowitz: The He­ gelian Concept of Political Freedom. S. 5. 1 5 Wissenschaft der Logik I. Ausg. 1812/13. S. 409. 1 6 Vgl. David Lamb: Teleology: Kant and Hegel. S. 175f. 1 7 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 467. S. 285: "In der Einsicht in die Notwendigkeit ist die letzte Un­ mittelbarkeit, die dem formeUen Denken noch anhängt, verschwunden". S.a. Ausg. 1827. S. 343. Vgl. ferner Rezension von A.LJ. Ohlert: Der Idealrealismus. S. 485. In anderem Sinne: Die Verfassung Deutschlands. S. 581. Vgl. S. 462ff. 1 1 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 35 Zus. S. 102.

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nach ihrem wahren Begriffe und Wesen der absolute Wille; als absoluter Wille ist sie in sich selbst bestimmt. Willkür ist das Gegenteil der Freiheit"19, - eben "Zufälligkeit''20• Aber daß Hegels These über den Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit die erstere im Erkennen und im sachkundigen Umgang mit den Ge­ stalten der letzteren erblickt, stellt eine anfechtbare Interpretation dar. Im § 147 der Berliner Enzyklopädie von 1 830, der die zuvor zitierte, berühmt gewordene Formu­ lierung enthält, blind sei "die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird", und sie gegen den naheliegendsten Einwand verteidigt: "Indem wir das, was geschieht, als notwendig betrachten, so scheint dies auf den ersten Anblick ein voll­ kommen unfreies Verhältnis zu sein"2\ ist jedenfalls von Wissen, das sich einer zu­ nutze machen könnte, um ihm entgegenstehende Notwendigkeiten zu meistern, kaum die Rede. Vielmehr unternahm es Hege! an dieser Stelle, der Menschheit eine an intellektueller Dignität der Astrologie kaum überlegene Weltanschauung zu emp­ fehlen, derzufolge jeder seine Lage als notwendige Konsequenz, zwar nicht gerade des Termins seiner Geburt, doch jedenfalls einzig seiner selbst zu begreifen habe, weshalb Hege! darauf pochte, "von welcher Wichtigkeit es ist, daß der Mensch das, was ihn trifft, im Sinne jenes alten Sprichworts auffaßt, worin es heißt: ein jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Hierin liegt, daß der Mensch überhaupt nur sich selbst zu genießen bekommt. Die entgegengesetzte Ansicht ist dann die, daß wir die Schuld von dem, was auf uns fällt, auf andere Menschen, auf die Ungunst der Ver­ hältnisse und dergleichen schieben. Dies ist dann wieder der Standpunkt der Unfrei­ heit und zugleich die Quelle der Unzufriedenheit. Indem dagegen der Mensch aner­ kennt, daß, was ihm widerfährt, nur eine Evolution seiner selbst ist und daß er nur seine eigene Schuld trägt, so verhält er sich als ein Freier"22• Diese Freiheit, so He­ gel, ist eine solche durch die Notwendigkeit, aber, des näheren, nur durch eigene Ein­ sicht in die Notwendigkeit. Gegen die unbegriffene Notwendigkeit - zu tun, was man bloß muß -, gewährleistet die Selbstdeutung, jeder sei seines Glückes Schmied, die geistige Freiheit, die Einbildung zu pflegen, in schlechtweg jeder Lage Subjekt der ei­ genen Lebensumstände zu sein. "[S]o wird durch das Mißliebige, was ihm begegnet, die Harmonie seiner Seele, der Friede seines Gemüts nicht zerstört"23• Es ist dem­ nach "die Ansicht von der Notwendigkeit", durch welche "die Zufriedenheit"24 des Menschen befördert wird. Daß diese Freiheit als Einsicht in die Nezessität des Ge­ schehens mit Unangenehmem - "Mißliebigem"25 - befaßt ist, wird durch Hervorhe­ bung der Zufriedenheit des Subjekts nicht dementiert, und ist ihr alles andere als zu19 Rezension der Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christli­ chen Glaubenserkenntnis von Karl Friedrich Göschel. S. 373. (Vgl. Rechtsphilosophie § 15 Zus. S. 67.) Die Rede von der "Willkür" als dem "Gegenteil der Freiheit" reimt sich freilich nicht ohne weiteres zu­ sammen mit der von "der Willkür" als einer - zwar "bloß möglichen" (im Unterschied zur wirklichen, d.i. sittlichen), aber immerhin doch: - "Freiheit" (Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 158 Zus. S. 304). "' Rechtsphilosophie § 15. S. 66; Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 145 Zus. S. 285f. Zu dieser These (die Willkür sei Wille in der Bestimmung der Zufälligkeit), die Revers der Lehre von der Freiheit als Ein­ sicht in die Notwendigkeit ist, s. § 86. 21 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 290. 22 Ebd. S. 292. 23 Ebd. 24 Ebd. "" Ebd.

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fällig. Diese Zufriedenheit ist allererst eine Stellung, die das Subjekt zu einem erlit­ tenen Schaden einnimmt, der notwendigen Voraussetzung der zur Debatte stehen­ den Einsicht in die Notwendigkeit. Angenehmes nämlich wird genossen - dies im Wortsinne, nicht im Sinne der zynischen Umdeutung Hegels, "daß der Mensch über­ haupt nur sich selbst zu genießen bekommt" -, und nicht durch Einsicht verwunden. Die Differenz zu dem rationalen Begriff von Freiheit als Erkenntnis der Notwen­ digkeit (oder doch als etwas, das solche zur Voraussetzung hat) ist kaum zu verken­ nen. Hegels Insistenz, es sei hinsichtlich der behaupteten Notwendigkeit (hier nun dessen, "was ihn" - den Menschen - "trifft") wesentlich, daß sie "der Mensch aner­ kennt"26, verweist darauf, daß sich die der Freiheit beigelegte Bedeutung von Er­ kenntnis der Notwendigkeit in Anerkenntnis der Notwendigkeit verschoben hat. Daru m macht sich Hege! gar nicht erst die Mühe, nachzuweisen, daß die behauptete Notwendigkeit besteht: denn es kommt für sie am wenigsten darauf an, daß dem so ist, - entscheidend ist vielmehr, daß einer seine Lage so sehen kann, als ob jene Not­ wendigkeit bestünde. Bei der in dieser Weise verstandenen Einsicht in die Notwen­ digkeit geht es nicht mehr darum, Notwendigkeiten zu erkennen, um sie zu gebrau­ chen oder zu verändern. Vielmehr ist von gänzlich Unpraktischem die Rede: nämlich zu "dem, was auf uns fällt"27, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Daß einer an ihm Vorausgesetztem scheitert, ist dabei, in der Rede von dem, "was ihm [dem Menschen] widerfährt"28, unterstellt und zugleich, im Sinne des idealistischen Begriffs der Selbstbestimmung, demzufolge es im Wollen dem Willen nur um sich geht, und er es nie mit anderem zu tun hat als mit sich selber29, in der Behauptung, "daß der Mensch überhaupt nur sich selbst zu genießen bekommt", geleugnet. Indem das Subjekt in allem, "was ihm widerfährt" (was impliziert, daß es von außen aufgeherrschte Notwendigkeiten sind, die da in ein Produkt von eigenem Willen und Vernunft verwandelt werden), "nur eine Evolution seiner selbst" sehe, finde es seine Freiheit darin, daß das, was ihm zustößt, das Seinige ist. Das von Hege! als "Zufriedenheit"30 apostrophierte Resultat, daß einem das gefällt, was er sich gefallen lassen muß, verdankt sich mithin einer Einstellung, die sich Übles gefallen lassen will, aber nur unter der Bedingung, dieses sich selbst gegenüber als dem eigenen Willen entsprungen, von diesem gewollt, und mithin als etwas nach seinen eigenen Maßstäben Gutes zu repräsentieren. Freiheit wäre hiernach mißdeutet, wenn man sie als Befreien von Zwängen und Zurückdrängen von Notwendigkeiten auffaßte, sie ist, in der angegebenen Weise verstanden, die subjektive Anerkennung beider: die geistige Bereitschaft, noch in erzwungenen Lebenslagen so zu tun, als habe man sie selber arrangiert. Praktisch ist solche Weltanschauung, die hiermit an die Stelle von Wissen tritt (denn die in Frage stehende "Einsicht in die Notwendigkeit" interessiert sich nicht dafür, was vor sich ging, sondern daß es sein mußte - die Unvermeidlichkeil des Geschehenen), nur insofern, als es sich u m die Wahl einer Sichtweise handelt, die sich nicht mehr von der Beschaffenheit der Wirklichkeit u;

Ebd. Ebd. 28 Ebd. 29 Rechtsphilosophie § 23. S. 74f. 30 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 292. v

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'}1)7

abhängig macht, sondern sich ihren Inhalt von dem psychologischen Harmonieideal, daß "der Mensch" nicht mehr "in Unfrieden mit sich und seinem Geschick lebt"3\ vorgeben läßt. Was als das haltbare Moment der Rede von "Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit" erschien: sie zu erkennen, um sie den eigenen Zwecken gemäß gebrauchen oder verändern zu können, ist hierin geradewegs verkehrt. Besteht die "Einsicht in die Notwendigkeit" in dem Deutungskunststück, erzwungene Opfer nachträglich als Ausfluß eigener Freiheit anzusehen, so handelt es sich bei ihr um ein Verfahren, sich selbst zu täuschen, dessen Rationalität in dem aufgeht, was die Psychologie Rationalisierung nennt: ein Zurechtlegen von Gründen, die am Zustandekommen dessen, was sie begründen sollen, nicht im mindesten beteiligt waren ( - und in psychologischen Fragen, anders als in logischen, gilt der Satz, Genesis und Geltung seien auseinanderzuhalten, keineswegs).

§ 1 08 Allerdings handelt es sich bei der bezeichnenderweise nur in einem mündlichen Zu­ satz zu einem Paragraphen der Enzyklopädie enthaltenen Werbung Hegels für den Glauben an eine persönliche Nezessität - der ihr Wert als unübertroffene Charakteri­ stik eines Freiheit und Notwendigkeit in sich versöhnenden Bewußtseins, nebenbei bemerkt, in keiner Weise abzusprechen ist - eher um eine exoterische, grob popula­ risierende Illustration, denn um den eigentlichen Gehalt seiner Lehre vom Zusam­ menhang von Freiheit und Notwendigkeit, die gegen alle Versuche einer Trennung beider aufs schärfste opponiert. Hegels Kritik abstrakter Freiheit: des "bloße[n] Ver­ standesbegriff[es] der Freiheit", in welchem "dieselbe als der abstrakte Gegensatz der Notwendigkeit betrachtet wird, wohingegen der wahre und vernünftige Begriff der Freiheit die Notwendigkeit als aufgehoben in sich enthält"32, geht gewiß, und in der Hauptsache, auf anderes aus als jene Weltanschauung. In dem zitierten Vorwurf: bloß abstrakte Freiheit zu sein, hat Hege! seine Kritik des "empirischen Wollens" sig­ nifikant zusammengefaßt. Mit der These über den Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit hängt er, wie angedeutet, unmittelbar zusammen. Eine Freiheit, die als der Notwendigkeit entgegengesetzt verstanden wird, ist Hege! zufolge eine falsche Abstraktion, in dem Sinne, "daß dasjenige, was der Verstand unter Freiheit und Notwendigkeit versteht, in der Tat nur ideelle Momente der wahren Freiheit und der wahren Notwendigkeit sind und daß diesen beiden in ihrer Trennung keine Wahrheit zukommt"33• (Das abstrakte Denken, so Hege!, "unterscheidet, faßt ver­ schiedene Seiten auf, erkennt eine Mannigfaltigkeit in ihnen und entzweit sie. Bei diesen Unterschieden hält die Reflexion die Einheit derselben nicht fest", und ''vergiBt" über jenen "das Ganze"34• Demgegenüber gilt Hege! zufolge vom "Wahre[n] im Gedanken", "daß es konkret sei", indem nämlich, nachdem das abstrakte Denken

3t Ebd. 32 Ebd. § 182 Zus. S. 334. 33 34

Ebd. § 48 Zus. S. 129. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. S. 113.

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"die zwei Seiten des Entzweiten" als "entgegengesetzte Denkbestimmungen" genom­ men hat, nun vielmehr "der Gegenstand als Einheit beider gefaßt wird"35.) Wie etwa bereits das Argument der Dialektik des Ausschlusses gilt auch der Vor­ wurf, daß eine Freiheit, die sich als Gegensatz der Notwendigkeit verstehe, abstrakte Freiheit sei, dem empirischen Wollen ebensowohl wie einer moralischen Subjektivi­ tät der von Kant (als äußerster Gegensatz zum empirischen Wollen) gedachten Art. Gegen beide kehrt Hege! einen Begriff von Freiheit, demzufolge diese - was wie eine Umdeutung der von Kant behaupteten Einheit von Freiheit und Gesetz erscheint - in der Erfüllung der sittlichen Pflichten besteht. Auf die im § 147 der Enzyklopädie von 1830 exponierte These vom Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit kommt Hege! daher wenig später, im § 158 des seihen Werkes, in folgender Weise zurück: "Diese Wahrheit der Notwendigkeit ist somit die Freiheit [ ... ]. Dies ist die Verklärung der Notwendigkeit zur Freiheit, und diese Freiheit ist nicht bloß die Freiheit der ab­ strakten Negation, sondern vielmehr konkrete und positive Freiheit. Hieraus ist dann auch zu entnehmen, wie verkehrt es ist, die Freiheit und die Notwendigkeit als ein­ ander gegenseitig ausschließend zu betrachten. Allerdings ist die Notwendigkeit als solche noch nicht Freiheit; aber die Freiheit hat die Notwendigkeit zu ihrer Voraus­ setzung und enthält dieselbe als aufgehoben in sich. Der sittliche Mensch ist sich des Inhalts seines Tuns als eines Notwendigen, an und für sich Gültigen bewußt und lei­ det dadurch so wenig Abbruch an seiner Freiheit, daß diese vielmehr erst durch die­ ses Bewußtsein zur wirklichen und inhaltsvollen Freiheit wird, im Unterschied von der Willkür als der noch inhaltslosen und bloß möglichen Freiheit. Ein Verbrecher, welcher bestraft wird, mag die Strafe, die ihn trifft, als eine Beschränkung seiner Freiheit betrachten; in der Tat ist jedoch die Strafe nicht eine fremde Gewalt, der er unterworfen wird, sondern nur die Manifestation seines eigenen Tuns, und indem er dies anerkennt, so verhält er sich hiermit als ein Freier. Überhaupt ist dies die höchste Selbständigkeit des Menschen, sich als schlechthin bestimmt durch die ab­ solute Idee zu wissen, welches Bewußtsein und Verhalten Spinoza als den amor in­ tel/ectualis Dei bezeichnet"36• (Die argumentative Funktion der Anspielung auf Spi­ noza ist, die These von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit mit der, das Besondere sei Beschränkung, also G rund von Unfreiheit37, zu verknüpfen. Spinozas Gedankengang, der mit der zweifelhaften Unterstellung operiert, die Dauerhaftig­ keit eines Dinges verbürge die Dauerhaftigkeit der Affektion, die einer zu ihm hat38, ist dieser: Solange die Freude sich auf etwas einzelnes bezieht, ist sie vergänglich und beschränkt. "Ich beschloß endlich nachzuforschen, [ ... ) ob es irgendetwas gebe, durch das ich, wenn ich es gefunden und erlangt hätte, auf ewig beständige und höchste 35

Ebd. Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 158 m. Zus. S. 303f. Vgl. Manfred Riede!: Hegels Kritik des Natur· rechts. S. 184. Zur Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit qua Sittlichkeit s.a. Rechtsphilosophie § 145. S. 294: "Es [das Sittliche) ist auf diese Weise die Freiheit oder der an und für sich seiende Wille als das Objektive, Kreis der Notwendigkeit"'. Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 514. S. 318: "[S)o vollbringt sie [die Person) ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiendes und hat in dieser Notwendigkeit sich selbst und ihre wirkliche Freiheit" (Hervorh. abweichend vom Original). Vgl. Ausg. 1827. s. 364. 37 s. § 87. 38 Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachlaßfragment 7 [4). Werke. Bd. 12. S. 260, 263. 36



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Freude genießen könne"39• Beständig wird die Freude für den, der das All in sein Ei­ gentum verwandelt; vollkommen wird sie, wenn sie nicht mehr mit den Dingen wech­ selt, sondern in dem wandellosen, notwendigen Zusammenhang ruht. "Die Liebe zu einem ewigen und unendlichen Ding nährt die Seele mit reiner Freude und ist frei von aller Traurigkeit [ ... ]; das höchste Gut (summum bonum) ist [ ... ] die Erkenntnis der Vereinigung [ ... ] des Geistes mit der gesamten Natur•o40; insofern nach Spinoza für "Natur" an dieser Stelle "Gott" substituiert werden darf, ist dies der Sinn der Formel vom "amor intellectualis Dei". Der Zusammenhang, in den Hege! sie stellt, steht zu ihr in einem Mißverhältnis, und die Vereinnahmung Spinozas für das Pro­ gramm der "Sittlichkeit" ist eine interpretative Gewaltsamkeit.)

§ 1 09 In der Explikation seines Begriffs von Freiheit, demzufolge diese in der Erfüllung der sittlichen Pflichten besteht, glaubt Hege! ein tief eingewurzeltes Vorurteil zu de­ struieren. "Über keine Idee weiß man es so allgemein, daß sie unbestimmt, vieldeutig und der größten Mißverständnisse fähig und ihnen deswegen wirklich unterworfen ist als [über] die Idee der Freiheit, und keine ist mit so wenigem Bewußtsein geläufig"'11 • Auf diesem Felde habe die Philosophie den Wahn der kompakten Majorität gegen sich: "Der gewöhnliche Mensch glaubt, frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist"42• Umgekehrt ist, daß die sittlichen Pflichten, indem sie manches gebieten, und also auch anderes ver­ bieten, insofern Freiheit einschränken, Hege! zufolge eine allenthalben verbreitete Illusion, die sich aus den Abstraktionen des empirischen Wollens so gut wie denen einer moralischen Subjektivität erklären lasse: "Als Beschränkung kann die bindende Pflicht nur gegen die unbestimmte Subjektivität oder abstrakte Freiheit und gegen die Triebe des natürlichen oder des sein unbestimmtes Gute aus seiner Willkür be­ stimmenden moralischen Willens erscheinen. Das Individuum hat aber in der Pflicht vielmehr seine Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Na­ turtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handeins kommt und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit. [ ... ] Die Pflicht beschränkt nur die Willkür der Subjektivität und stößt nur gegen das abstrakte Gute an, welches die Subjektivität festhält Wenn die Menschen sagen, wir wollen frei sein, so heißt das zunächst nur, wir wollen abstrakt frei sein, und jede Bestimmung und Gliederung im Staate gilt für eine Beschränkung dieser Freiheit. Die Pflicht ist insofern nicht 39 Spinoza: Tractatus de Intellectus Emendatione. S. 3: "constitui Iandern inquirere, [ ... ) an aliquid daretur, quo invento ac acquisito, continuo ac summa in aeternum fruerer laetitia". 40 Ebd. S. 5: "amor erga rem aeternam et infinitam sola laetitia paseil animum; ipsaque omnis tri­ stitiae est expers [ ... ); summum autem bonum est [ ... ) cognitionem unionis, quam mens cum tota Natura habet". 41 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 482. S. 301. 42 Rechtsphilosophie § 15 Zus. S. 67.

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Beschränkung der Freiheit, sondern nur der Abstraktion derselben, das heißt der Unfreiheit: sie ist das Gelangen zum Wesen, das Gewinnen der affirmativen Freiheit"43• Daß Hege! im empirischen Wollen "Abhängigkeit", in der Moralität "Gedrücktheit", in beiden also Formen der Unfreiheit sah, geht hieraus mit hinreichender Klarheit hervor; ebenso daß er ihnen gegenüber sittliche Pflichterfüllung als Befreiung empfahl. Billig läßt sich gegen die Argumentation Hegels einwenden, er behaupte, den eigentlichen Willen des Subjekts zu bedienen, indem er seinen geäußerten, "empirischen", Willen düpiere. Gewiß verfährt Hege! in dieser Weise, doch würde er die Feststellung erst als Einwand betrachten, wenn sich sagen ließe, in der Sittlichkeit werde der konkrete Wille düpiert, während der abstrakte hochgehalten werde. Demgegenüber beansprucht Hege! jedoch, das abstrakte Wesen des empirischen wie auch des moralischen Willens nachgewiesen zu haben. Freilich mag nicht ohne weiteres deutlich sein, worin die Abstraktion besteht, die das Verdikt über jene begründet, und die in der Erfüllung der sittlichen Pflicht rückgängig gemacht sein soll. Abstrahieren ist, wie bereits beiläufig bemerkt, eine Weise des Absehens. "Wenn ich alle Bestimmungen von einem Gegenstand weglasse, so bleibt nichts übrig. Wenn ich dagegen eine Bestimmung weglasse und eine andere heraushebe, so ist dies abstrakt"44• Nun hat Hege! das, wovon seiner Auffassung zufolge sowohl im empirischen Wollen wie in der Moralität abgesehen ist, im Gang der Argumentation seiner Rechtsphilosophie durchaus näher bestimmt, und zwar als "das Recht der Objektivität": "das Recht der Objektivität hat [ ... ] die Gestalt, daß, da die Handlung eine Veränderung ist, die in der wirklichen Welt existieren soll, also in dieser anerkannt sein will, sie dem, was darin gilt, überhaupt gemäß sein muß. Wer in dieser Wirklichkeit handeln will, hat sich eben damit ihren Gesetzen unterworfen und das Recht der Objektivität anerkannt'"'5• Weil sie von eben diesem: dem Recht der Objektivität abstrahierten, nennt Hege! den empirischen Willen, wie auch die Moralität, Gestalten abstrakter Freiheit.

§ 110 Sieht man von der Kritik (oder eher: Relativierung) der Moral, die Hegels Einwand enthält, zunächst ab, so ist es der Standpunkt, frei sei einer, wenn er tun könne, was er will, der in diesem Einwand ins Auge gefaßt wird: "Wenn man sagen hört, die Freiheit überhaupt sei dies, daß man tun könne, was man wolle, so kann solche Vor­ stellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden"; sie ist Hege! zufolge lediglich "die abstrakte Gewißheit des Willens von seiner Frei­ heit"46. Nun scheint es aber ohne weiteres, und ganz unabhängig von Hegels Darle­ gungen, ersichtlich, inwiefern ein Begriff von Freiheit, nach dem diese darin besteht, daß jeder tut, wozu er Lust hat, ein abstrakter ist. Abstrahieren, so wurde zuvor fest43 Ebd. § 149 Zus. S. 297f. Vgl. Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 513. S. 318. 44

Logik für die Mittelklasse § 3. S. 163. Rechtsphilosophie § 132 Anm. S. 246. Zum Begriff des "Rechts der Objektivität" vgl. Kurt Seel­ mann : Zurechnung als Deutung und Zuschreibung. 46 Rechtsphilosophie § 15 Anm. S. 66. 45

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gestellt, heißt Absehen: wenn man - so Hege! - alle Bestimmungen von einem Ge­ genstand wegläßt, so bleibt nichts übrig; wenn man dagegen eine Bestimmung wegläßt und eine andere heraushebt, so ist dies abstrakt. Nach dieser letzteren Technik verfährt offenkundig die Bestimmung der Freiheit als des Tuns, wozu man Lust hat. Ihr liegt der ebenso schlichte wie gutgemeinte Gedanke zugrunde, daß, wenn jeder das tut, was er will, sein Tun gut sein werde, weil keiner gegen sich handle. Wenn jeder an sich denke, sei auch an jeden gedacht. Allerdings versteht es sich, daß niemand sich selbst Schaden zufügen will. Das bedeutet indes noch lange nicht, daß Kalkulationen und Berechnungen, die für das eigene Interesse angestellt werden, auch zu einem Nutzen führen. Ein einfaches Beispiel hierfür bot etwa die zuzeiten beliebte Parole "Stell' Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin": sie entwarf ein Bild einer Menge von Individuen, die tuen, wozu sie Lust haben, und dadurch Gutes stiften; abstrakt war die in der Parole proklamierte Freiheit etwa deshalb, weil in ihr davon abgesehen war, daß der Krieg, auf dessen Möglichkeit sie gemünzt war ­ in welchem Freier Westen und Ostblock einander gegenübergestanden hätten -, ei­ nem die Mühe erspart hätte, hinzugehen: er wäre ins Haus gekommen. Die Bedin­ gungen, unter denen in jenem Bild die Menschen tuen, wozu sie Lust haben, sind durchgestrichen; auch diejenige übrigens des Einberufungsbefehls (der jenes Ver­ hältnis zum Krieg gar nicht erst aufkommen läßt, das der Spruch evoziert: man hätte ein paar Termine mit ihm) und des staatlichen Zwangs, der erklärt, warum die Adressaten ihm nachkommen, - indem nämlich demgegenüber umstandslos fingiert wird, keiner käme ihm nach. Gewiß mag es Gründe geben, solchem Zwang keine Folge zu leisten. Und unter ihnen mag der, daß man "keine Lust" dazu hat, nicht einmal der schlechteste sein. Doch wenn sich die theoretische Auseinandersetzung in ihm erschöpft - so daß berechtigte Zweifel bestehen, ob überhaupt eine vorliegt -, wird an der Idee der Freiheit als des Tuns, wozu man Lust hat, unleugbar die in abstrakter Freiheit wirksame Abstraktion kenntlich. Daß es darauf ankommt, was einer will, wird herausgehoben, - daß die Realisierung dessen, was er will, Wzssen um die Bedingungen und praktischen Hindernisse, und gegebenenfalls um die Mittel zur Herstellung der ersteren und Beseitigung der letzteren, zur notwendigen Vorausset­ zung hat, ist ignoriert. Anders gewendet besteht die Abstraktion, die vollzogen wird, in der Ignoranz gegenüber dem Umstand, daß für den Fall, in welchem jemand im in Frage stehenden Sinne einfach tut, wozu er Lust hat, bereits lauter mißliche Konse­ quenzen eingeplant sind. In objektiver Weise expliziert, also um das Wissen berei­ chert, das ihm subjektiv fehlt, hat der Standpunkt der abstrakten Freiheit die Form: abgesehen von den Bedingungen, die meinem Willen schon aufgemacht sind, bevor sich dieser überhaupt rührt, tue ich jedenfalls das, was ich will, wozu ich Lust habe. Abstrakte Freiheit gibt es demnach wirklich, und zwar in jenem Idealismus der Selbstbestimmung, der die Maxime ausgibt "Entscheide selbst, - tu', was du willst" so als ob damit aller Zwang aus der Welt wäre und eitel Freiheit herrschen würde. Und die Begründung, inwiefern die in dieser Weise proklamierte Freiheit eine ab­ strakte ist, liegt nach dem Gesagten auf der Hand. Es handelt sich um einen Stand­ punkt, der sich, kaum bezogen, auch schon blamiert: wer nicht mehr in die Schule oder zur Arbeit geht, weil er keine Lust dazu hat, ist unverzüglich mit der Tatsache konfrontiert, daß ihm für den besagten Fall längst lauter wenig lustbringende Alter-

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nativen eröffnet sind. Als Idealist abstrakter Freiheit betätigt sich z.B. ein "junger Mensch", der befindet, er habe die Schule satt und sich darum entschlossen, nicht mehr hinzugehen. An Anlässen, die Schule satt zu haben, mag allerdings gegebenen­ falls kein Mangel bestehen. Aber die Bewunderung, die jener Standpunkt wegen der in ihm artikulierten Eigenwilligkeit und Radikalität auf sich zieht, ist eine von prak­ tisch vollzogenen Abstraktionen. Freilich besteht vor der Hand kein hinreichender Grund, dem 'jungen Menschen" Selbstbestimmung kurzum abzusprechen. Denn wie Abstrahieren darin besteht, daß man eine Bestimmung wegläßt und eine andere her­ aushebt - während, wenn man alle Bestimmungen von einem Gegenstand wegläßt, nichts übrig bleibt -, so wäre zu vermuten, daß abstrakte Freiheit nicht schlechtweg Unfreiheit ist, sondern in einer Hinsicht ein unfreies, in anderer aber ein freies Ver­ hältnis darstellt. Ob sich dieses für den Betreffenden jedoch, um gerade den seinem Begriff von Selbstbestimmung immanenten Maßstab in Anschlag zu bringen, als son­ derlich lustbringend erweist, ist sehr die Frage, besser gesagt: es ist keine Frage, inso­ fern er sich nämlich mit seinem Schritt nicht dem Umstand entziehen kann, daß durch das Ausbildungswesen die verschiedenen Schulabschlüsse über den weiteren Lebensweg bestimmen, indem etwa bereits negativ, durch ihr bloßes Fehlen, fest­ liegt, wo überall man sich gar nicht erst bewerben darf. Der 'junge Mensch" ohne Zeugnis blickt damit einem ziemlich arbeitsreichen und einkommensarmen Leben entgegen. Umgekehrt sieht die Sache zwar nicht unbedingt besser aus : bleibt der Schüler in der Schule und macht mit, was von ihm für einen höheren Abschluß ver­ langt ist - wobei es sich im übrigen ebenfalls um einen "Entschluß" handelt -, so ist dies auch keine Garantie für den angestrebten besseren Posten. Eines indessen kann man auch hieran bemerken: Wieweit es her ist mit der Freiheit eines "jungen Men­ schen" entscheidet sich nicht - oder mindestens nicht in erster Linie - an der Dezi­ diertheil seiner privaten Beschlüsse, sondern an den sozialen Konditionen, an denen die Umsetzung dieser Beschlüsse scheitert oder gelingt. Freilich mag, wie weit einer abhängig ist von solchen Vorgaben, und wie viel umgekehrt von ihm selber abhängt, ein veränderliches Verhältnis darstellen. Doch sich hierauf zu beziehen, wäre bereits der Anfang dessen, die Abstraktion abstrakter Freiheit rückgängig zu machen. Be­ mißt man hingegen die Freiheit an der Eigenwilligkeit jeweils gefaßter Entschlüsse abgesehen von den Bedingungen, unter denen sie auszuführen sind, so ergibt sich ein Standpunkt, der sich sowohl mit dem des Stoizismus47 berührt, wie auch mit der von Hege! als "Einsicht in die Notwendigkeit" propagierten Sicht der Welt, in welcher "der Mensch das, was ihn trifft, im Sinne jenes alten Sprichworts auffaßt, worin es heißt: ein jeder ist seines eigenen Glückes Schmied'o48, - insofern nämlich allemal die Frage, wie bestimmte Zwänge außer Kraft zu setzen seien, zu einer solchen der Hal­ tung und des Selbstbewußtseins, mit denen man ihnen begegnet, verdünnt wird. Und da dies selber bereits eine Abstraktion ist, hat man Grund, diese drei Standpunkte Stoizismus; Betrachtung dessen, was mit einem angestellt wird, als "Evolution seiner selbst'o49; Tun, wozu man Lust hat, sofern dabei stehengeblieben wird - als drei For­ men abstrakter Freiheit anzusehen. 47 Vgl. §§ 96, 97. 48

Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 292. Vgl. § 107.

49 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 292.

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§ 111 Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß Hege! mit dem von ihm erhobenen Vorwurf der Abstraktion vom "Recht der Objektivität"50 nicht einfach die umrissene Kritik ei­ nes Willens intendierte, der sich ignorant zu den Bedingungen verhält, unter denen er sich zu betätigen versucht. Die Differenz, um die es hierbei geht, ist identisch mit derjenigen, welche sich anläßlich der mit jenem Vorwurf aufs engste verknüpften Formel von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit andeutete51: Daß einer be­ stehende Notwendigkeiten zu seinem Nutzen erkennt und auf dieser Grundlage ge­ braucht oder verändert52, ist durchaus verschieden von der Hegeischen Auskunft, daß der Mensch nach Erkenntnis der Absichten des Weltgeistes seine Freiheit im Ja zu dessen Notwendigkeiten findet. Die Bemerkung, blind sei die Notwendigkeit nur als unbegriffene, findet bei Hege! ihre Fortsetzung nämlich sogleich im Rekurs auf die Geschichtsphilosophie: "Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird, und es gibt deshalb nichts Verkehrteres als den Vorwurf eines blin­ den Fatalismus, welcher der Philosophie der Geschichte darum gemacht wird, weil dieselbe ihre Aufgabe als die Erkenntnis der Notwendigkeit dessen, was geschehen ist, betrachtet"53• Denn diese Philosophie, so Hege!, enthält eine befriedigende Ant­ wort auf die Frage, wie Individuen, die im Verfolg ihrer Interessen zu Mitteln, zu Werkzeugen54 einer "absolute[n]"55 Macht, des "Weltgeistes", werden, als frei gelten können. Der "Gegensatz [ .. ] der Notwendigkeit und der Freiheit"56 - wobei diese auf den bewußten Willen der Menschen, jene auf ihre funktionale Subordination unter höhere Zwecke zu beziehen ist -; findet laut Hege! folgende, die Idee der Autonomie aufnehmende, Auflösung: "Denn das Gesetz ist die Objektivität des Geistes und der Wille in seiner Wahrheit; und nur der Wille, der dem Gesetze gehorcht, ist frei : denn er gehorcht sich selbst und ist bei sich selbst und also frei. Indem der Staat, das Va­ terland, eine Gemeinsamkeit des Daseins ausmacht, indem sich der subjektive Wille des Menschen den Gesetzen unterwirft, verschwindet der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit. Notwendig ist das Vernünftige als das Substanzielle, und frei sind wir, indem wir es als Gesetz anerkennen und ihm als der Substanz unseres eige­ nen Wesens folgen: der objektive und der subjektive Wille sind dann ausgesöhnt und ein- und dasselbe ungetrübte Ganze"57• Eben hierauf zielt auch die im § 132 der Rechtsphilosophie gebrauchte Rede vom "Recht der Objektivität". Daß Hege! mit .

so SI

s. § 109. Vgl. § 107. '2 Man könnte einwenden, wenn letzteres möglich sei, handele es sich um keine Notwendigkeiten. Dies ist indessen falsch. Zwar mag es unveränderliche Notwendigkeiten geben. Doch notwendig pflegt man etwas auch zu nennen im Sinne von: es ist notwendig, relativ auf seine Ursache, die es notwendig macht. Deshalb lassen sich Notwendigkeiten sogar abschaffen - indem man nämlich ihre Ursache besei­ tigt. 53 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 147 Zus. S. 290. ,. Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 551. S. 388 . Ausg. 1830. S. 353. ss Naturrechtsaufsatz. S. 479. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. S. 408. 56 Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. S. 61. 57 Ebd. S. 94.

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dem von ihm erhobenen Vorwurf der Abstraktion vom "Recht der Objektivität" nicht einfach die zuvor umrissene Kritik eines Willens intendierte, der sich ignorant zu den Umständen verhält, in denen er sich betätigt, geht bereits aus dieser Kategorie selber hervor. Von einem "Recht der Objektivität" zu reden, wäre mindestens merkwürdig, ginge es nur um die vorgetragene Einsicht: ein wahres Urteil könnte dem "Recht der Objektivität" doch keinen Eintrag tun, und ein falsches hätte man zu korrigieren, weil man Unrecht über die Wirklichkeit hätte, nicht aber weil sie Recht gegen einen hätte. (Mit einer falschen Theorie über den Faschismus hat man Unrecht in bezug auf den Faschismus, aber der Faschismus braucht deshalb nicht Recht zu haben; Recht hat gegenüber der falschen die richtige Theorie über ihn.) Hegels Argument impliziert den Anspruch, die Idee der Autonomie in ihrem an­ geblichen Wahrheitsgehalt zu wahren, jedoch den folgenden Widerspruch der Kauti­ schen Identifikation von Freiheit und Anerkennung des Moralgesetzes zu beheben: einerseits soll dem Subjekt nichts als Forderung gegenüberstehen 58 , andererseits ist aber - denn wer anerkennt, gesteht zu, räumt ein, was immer einen Gegensatz unter­ stellt - offensichtlich gerade das der Fall. Obwohl Hege! seinen Ausführungen an­ scheinend vindiziert, diese Paradoxie zu lösen, geschieht im strengen Sinne nicht dies; vielmehr wird dem Subjekt der Bescheid erteilt, wenn es sich in der Wirklich­ keit rege, habe es deren Prinzipien schon anerkannt: "da die Handlung eine Verän­ derung ist, die in der wirklichen Welt existieren soll, also in dieser anerkannt sein will, [muß] sie dem, was darin gilt, überhaupt gemäß sein [ ... ]. Wer in dieser Wirk­ lichkeit handeln will, hat sich eben damit ihren Gesetzen unterworfen und das Recht der Objektivität anerkannt"59• Seiner Intention nach stellt Hege! das praktische Den­ ken vor eine grundsätzliche Alternative. Entweder trägt es aus einem "Jenseits", der Sphäre leeren Raisonnierens, tugendsame Ideale an die Wirklichkeit heran und erör­ tert an dieser nur die Differenz jener vorgestellten schönen Möglichkeiten zu ihr, also die eigene Moral. Oder aber es stellt sich auf den Standpunkt, daß Vernunft und Realität prinzipiell identisch sind60• Daß die Disjunktion, das praktische Denken diene entweder der Versöhnung der Moral mit sich, oder, und dies sei die rationale Stellung, der Versöhnung mit der Realität, vollständig ist, sucht Hegels Argument nachzuweisen. Geht einer, so Hege!, über die sich selbst bebrütende Subjektivität des Moralischen - die erste Seite der Alternative - hinaus, kommt es zum Handeln, so muß er sich - was der Logik des Arguments zufolge auf die zweite Seite der Alternative leiten soll - auf die Realität ei nlassen. Nun ist nicht zu leugnen, daß Erkenntnis der Wirklichkeit eine Bedingung dafür ist, über reine Zufallstreffer hinaus erfolgreich in ihr zu handeln. (Und dies ist in der Tat nur darum der Fall, weil, wie Hege! feststellt, "die Handlung eine Veränderung ist, die in der wirklichen Welt existieren soll"61.) Um es in der bereits eingeführten Weise zu erläutern: Wer ein Naturgesetz kennt, kann sich die Wirkungen natürlicher Gegenstände zunutze machen, und ist so frei ihnen gegenüber, während dieselben Wirkungen von jemandem, dem diese Erkenntnis abgeht, nicht beherrscht werden, sondern 58 Rechtsphilosophie § 132. S. 245, 248ff. "' Ebd. Anm. S. 246. 60 Ebd. Vorrede. S. 24. Differenzierter Phänomenologie. S. 142. 61 Rechtsphilosophie § 132 Anm. S. 246.

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womöglich ihm bloß unkontrolliert widerfahren, was eine unfreie Stellung zu ihnen ist. (Gewiß kann man etwas verändern, das man nicht erkannt hat; aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering, daß man damit ganz anderes erreicht als das, was man intendiert.) Für Erkennen, in bezug auf das jenes Verhältnis in der Tat besteht, unterschiebt Hegel in seinem Argument jedoch Anerkennen. Dies bereitet sich vor in einer Methode, die Erklärung und Legitimation nicht auseinanderhalten mag: die geistige Leistung, etwas "zu begreifen", sei nur da vollbracht, wo es hinterher "gerechtfertigt erscheine"62• Freilich lassen sich Naturgesetze, auch wenn sie erkannt sind, nicht verändern, nur nutzen; solches Erkennen einer invariablen Beschaffenheit mag man, bleibt dieser Sinn gegenwärtig, als ein Anerkennen bezeichnen. In dieser Hinsicht jedoch, in der gerade eine Ungleichheit besteht, behandelt Hegel die Forderungen des Rechts so, als seien sie Naturgesetze. (Mit diesem Befund ist klarerweise nicht ausgeschlossen, daß Hegel es in weiteren theoretischen Betrachtungen günstig fand, die Notwendigkeit der sittlichen Gesetze als noch eherner denn die der Naturgesetze auszugeben, und beide in dieser Weise voneinander zu unterscheiden: so schreibt Hegel jenen zu, "eine absolute, unendlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur"63 zu besitzen.) Allenfalls vermag Hege! die Parallele plausibel zu machen, daß der sittliche Staat darauf aus ist, den individuellen Willen "ebenso" in Dienst zu nehmen, wie es Prozesse technischer Anwendung an den Kräften der Natur vorführen: "Ein solcher rechtlicher Zustand gilt gegen die Willkür. Die Einzelnen können den allgemeinen Boden nicht trüben. Im Technischen ist es ebenso. Ein Haus z.B. ist die Sache der menschlichen Willkür; ihr gegenüber steht die freie Macht der Elemente, die aber selbst mit benutzt werden. So vereint sich das Zweckmäßige mit der Notwendigkeit'o64. Doch diese Analogie ist nicht Hegels BeweiszieL Der Schein der argumentativen Etablierung des letzteren beruht darauf, daß Hege! zwei Dinge, die voneinander durchaus verschieden sind, miteinander identifiziert: die als immanenter Anspruch des Handeins erkannte Bestimmung, in der Wirklichkeit etwas zu bewirken, mit der Handeln keineswegs per se immanenten Anforderung, in sittlicher Harmonie mit der geltenden Ordnung zu sein: "da die Handlung eine Veränderung ist, die in der wirklichen Welt existieren soll, also in dieser anerkannt sein will, [muß] sie dem, was darin gilt, überhaupt gemäß sein"65• Sich über die Umstände seines Handeins ei­ nigermaßen im klaren zu sein, ist gewiß eine Notwendigkeit des Handelns. Hege! verkürzt diese zutreffende Feststellung zu der allerdings ähnlich anmutenden, die Umstände, in denen einer handelt, seien Notwendigkeiten des Handelns. Doch wenn eine geltende gesellschaftliche Ordnung ihre Mitglieder mit diversen Notwendigkei­ ten konfrontiert, so zeigt der schiere Umstand, daß es sich so verhält, nicht, daß es sich um mehr handelt als um Notwendigkeiten dieser Ordnung. Nicht einzusehen ist, daß jemand, der handelt, sie, bloß weil er handelt, anerkennen müsse, wenngleich

62 Ebd. Vorrede. S. 14, ebenso S. 27; § 3, S. 35 44 wendet sich nur gegen die vulgäre Variante des selben Verfahrens. 63 Ebd. § 146. S. 295. Vgl. § 112. 64 Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. S. 280. "' Rechtsphilosophie § 132 Anm. S. 246. -

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gewiß auch der, der diese Ordnung beseitigen will - sie also gerade nicht anerkennt -, sie kennen muß, um etwas gegen sie auszurichten.

§ 112 Freilich mag dies noch reichlich naiv gedacht sein; es l äßt sich jedoch auch in philo­ sophischen Kategorien fassen. Insofern es dafür nötig ist, weiter auszuholen, scheint es der Klarheit halber angezeigt, die zentrale These nicht lediglich als Resultat der Argumentation vorzutragen, sondern sie dieser voranzustellen. Die These lautet, Hegels praktischer Philosophie liege der folgende Widerspruch zugrunde: Einerseits beteuert Hege!, der Begriff des Subjekts liege über die ontologische Alternative von Substanz und Akzidenz hinaus66, andererseits aber subsumiert er Subjektivität dem zweiten Glied dieser Alternative. - Die ontologische Alternative von Substanz und Akzidenz besagt, daß alles, was ist, entweder in sich oder in einem anderen ist67• Kant, obgleich ihm im Paralogismenkapitel der "Kritik der reinen Vernunft"68 gegen die ontologische Metaphysik der Nachweis gelungen war, daß ein Ich nicht als subsi­ stierendes Seiendes aufgefaßt werden kann, denkt in seiner praktischen Philosophie den Willen als Substanz, als reines Beisichsein; er ist nicht im andern bei sich selbst, sondern nur bei sich bei sich selbst69• Das Schema von Substanz und Akzidenz ist die Grundlage der Alternative von Autonomie qua reiner Selbstbestimmung (reinem Beisichsein ohne in einem anderen zu sein) und Heteronomie qua völliger Fremdbe­ stimmung (völligem in einem anderen sein ohne bei sich zu sein), in der sich Kants praktische Philosophie resümiert: Entweder der Wille bleibt in sich, oder er geht über sich hinaus70• Diese Alternative verwirft Hege!. Ihm zufolge sind Subjektivität und Freiheit die Aufhebung der ontologisch-metaphysischen Alternative von Substanz und Akzidenz: "Freiheit ist eben dies, in seinem Anderen bei sich selbst zu sein"71• Unter dem Titel Sittlichkeit besteht Freiheit qua Einsicht in die Notwendigkeit je­ doch für Hege! darin, im Verhältnis eines "Akzidenz"72 zu seinen Lebensverhältnis­ sen - die als "Substantialität" gefaßt werden - zu stehen: "Es [das Sittliche] ist auf diese Weise die Freiheit oder der an und für sich seiende Wille als das Objektive, Kreis der Notwendigkeit, dessen Momente die sittlichen Mächte sind, welche das Le­ ben der Individuen regieren und in diesen als ihren Akzidenzen ihre Vorstellung, er­ scheinende Gestalt und Wirklichkeit haben. Weil die sittlichen Bestimmungen den Begriff der Freiheit ausmachen, sind sie die Substantialität oder das allgemeine We­ sen der Individuen, welche sich dazu nur als ein Akzidentelles verhalten. Ob das In66 Vgl. Phänomenologie. S. 18. Dazu Rüdiger Bittner: Hegels Begriff der Freiheit. S. 31.

67 Benedictus Spinoza: Ethica I. Axioma I. S. 40: "Omnia, quae sunt, vel in se, vel in alio sunt". Zum

folgenden vgl. Heinz Röttges: Der Begriff der Freiheit in der Philosophie Hegels. S. 134. 68 A 341 405 I B 399 - 432. "' Diese Formulierung in Anlehnung an Hegels Charakterisierung des Ich als substantia cogitans bei Descartes, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. S. 148. Vgl. a. Wissenschaft der Logik I. Ausg. 1832. S. 160. Zur Sache ferner: Differenzschrift S. 68. 70 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 88, Kritik der praktischen Vernunft A 31. 7 1 Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 24 Zus. 2. S. 84. Rechtsphilosophie § 7 Zus. S. 57. Vorlesungen über Naturrecht und Staatswissenschaft. S. 272. 72 Rechtsphilosophie § 145. S. 294. -

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dividuum sei, gilt der objektiven Sittlichkeit gleich, welche allein das Bleibende und die Macht ist, durch welche das Leben der Individuen regiert wird'm. Aus dem Rückgang auf das Substanz-Akzidenz-Schema resultiert, daß Hege! die individuelle Subjektivität im wesentlichen nicht anders zu fassen vermag, als Kant in seiner Zweiweltenlehre. Diese läßt es nicht zu, einen Willen als zugleich individuell und frei zu denken. Denn sie führt die erstere dieser beiden Qualitäten auf das Empiri­ sche zurück, das gerade die Unfreiheit des Willens ausmacht. Als empirisches Sub­ jekt ist der Mensch danach individuiert, aber kein freies Selbst14, - als intelligibles Ich hingegen ist er frei, aber nicht individuiert15• (Das Kantische "Reich der Zwecke" ist insofern eine Inkonsequenz - es konstituiert sich dadurch, daß alle Unterschiede ver­ schwinden76, doch wofür könnte in diesem Fall eine Vielheit von Belang sein? -; kon­ sequent wäre ein strikter Dualismus von transzendentalem Subjekt ohne jede Pluralität einerseits, der Pluralität der empirischen Subjekte andererseits.) Wäre das Ich, von dem die Transzendentalphilosophie als von dem intelligiblen spricht, indes nur gleichsam der Rest, der nach Abzug einer Reihe von Bestimmungen des empirischen Ich übrig bleibt, sozusagen das Gerippe des empirischen Ich nach Entfernung von Fleisch und Blut, dann könnte es freilich von der Individualität des empirischen Ich noch etwas zurückbehalten, so wie das Skelett eines individuellen Organismus noch ein individuelles Gebilde ist. So verhält es sich jedoch nicht77• Die Abstraktion ist radikaler; sie gilt jedem Inhalt. Und nicht nur gilt, daß ausschließlich das Nichtindividuelle im Subjekt frei genannt werden kann. Entscheidend ist, daß Individualität für Kant nur auffaßbar ist als die Fehlervarianz gegenüber der Moralität, d.i. Freiheit, des reinen Willens: mithin nur als etwas, das der Freiheit entgegensteht. Daß der freie Wille nach Kant alle Materie aus seinen Bestimmungsgründen ausschließen muß, hat hierin seinen Grund. Denn nach transzendentalidealistischer Lehre, die damit der alten Metaphysik folgt78, ist die Form das Allgemeine79; principium individuationis hingegen ist die Materie, d.i. aber, im Praktischen, der Gegensatz der Freiheit. Hege! nun verfügte zwar über die theoretischen Mittel, diese Auffassung nachhaltig zu kritisieren; doch indem er die individuelle Subjektivität dem metaphysischen Akzidenzbegriff zuordnete, begab er sich der Überlegenheit über die Kantische Auffassung. Bei verschiedener inhaltlicher Bestimmung der Substanz ergibt sich der Form nach das gleiche 73

Ebd. m. Zus. S. 294.

74 Vgl. Herber! Schnädelbach: Hegels Theorie der subjektiven Freiheit. S. 90.

Robert Paul Wolff: The Autonomy of Reason. S. 20. 15 Das Autonomieprinzip, wie Paton, auf das Individuum zu beziehen (Der kategorische Imperativ. S. 263), setzt ein Mißverständnis voraus. 76 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 74. Vgl. Thomas E. Hili: The Kingdom of Ends. S. 307. 77 Wolfgang Röd: Empirisches Ich und Ich der Philosophen. S. 107. 78 S. z.B. Aristoteles: Metaphysica 1034a7f.: "verschieden [en p o v ] ist das Ganze durch den Stoff (Ü1'1] (denn dieser ist verschieden), dasselbe (n ü � 6 ] aber ist es durch die Form [sra o � ] (denn die Form ist unteilbar)"; 1049a24. Vgl. allerdings Kants Charakterisierung der traditionellen Auffassung Kritik der reinen Vernunft A 266 B 322. Vorlesungen über die Metaphysik. S. 75f. Ä hnlich Salomon Maimon: Versuch einer neuen Logik. S. 257. 79 Bündig N. 2834. Akad. XVI. 536: "die Form aller Begriffe ist Allgemeinheit. Bey der letzteren ist abstraction von dem, wodurch sich das Mannigfaltige unterscheidet". =

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Kapitel XXI

Verhältnis: "Die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommenheit betrachtet, wird also vorgestellt, nicht wie der Mensch die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen besitze"80• Respektive: "Von einem solchen [sc. : einem sittlichen] Leben könnte man auch sagen, daß darin der Mensch vielmehr um des Gesetzes willen, als das Gesetz um des Menschen willen gemacht [istrs1• Die gegen die Ontologie von Substanz und Akzidenz gerichtete Einsicht, die Erscheinung sei dem Wesen wesent­ lich, läßt Hege! zwar die Rede von 'wesenloser Erscheinung' verwerfen82; dennoch wird sie von ihm gepflegt: "Alles, was nicht diese durch den Begriff selbst gesetzte Wirklichkeit ist, ist vorübergehendes Dasein, äußerliche Zufälligkeit, Meinung, we­ senlose Erscheinung, Unwahrheit, Täuschung usf."83• Der Glaube, auf dem die Suche nach der Substanz hinter allem bloß Akzidentellen ruht: das Wesentliche werde er­ reicht durch Weglassen (z.B. das Wesentliche des Willens durch Abstraktion von den besonderen Zwecken84), wird von Hege! abgewiesen - das abstrahierende Denken könne die Wahrheit der Konkretion des Gegenstandes nie erreichen85 -, und kenn­ zeichnet gleichwohl (übrigens selbst nach Hegels gelegentlichem Eingeständnis86) sein eigenes begriffliches Verfahren. Dieses wird allerdings charakterisiert als "die Reduction desselben [des sinnlichen Stoffes] als blasser Erscheinung auf das Wesent­ liche, welches nur im Begriff sich manifestirt"87, ohne daß etwas weggelassen würde aber man versteht nicht, wie eine Vielheit, sobald sie einmal reduziert ist, unreduziert erhalten geblieben sein könnte. Was nun im besonderen das Programm der Sittlich­ keit anlangt, so macht die Zuordnung der individuellen Subjektivität zum Akzidenz­ begriff dessen durchgehenden Widerspruch aus. "Die Sittlichkeit ist die Idee der Frei­ heit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit, so wie dieses an dem sittlichen Sein seine an und für sich seiende Grundlage und bewegenden Zweck hat, - der zur vorhan­ denen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit"88• Die verwirklichte Einheit des vernünftigen Willens mit einer Welt, die sich diesem als ein System von Pflichten präsentiert89, wird von Hege! dahingehend erläutert, daß dieser "' Kant: Metaphysik der Sillen Tugendlehre A 47. 81 Hege!: Friederieb Heinrich Jacobi's Werke. S. 22. 82 Wisse nschaft der Logik I. Ausg. 1812/13. S. 341. "' Rechtsphilosophie § 1 Anm. S. 29; dem entspricht die banale Lehre, das Individuum, solange es sich Zwecke setze und daran interessiert sei, ob es mit ihnen Erfolg habe oder scheitere, sei unwahrer, niederer Mensch (Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 88 Anm. S. 97. Ausg. 1830. S. 189). - Zur Unzuträglich­ keit der "wesenlosen Erscheinungen" für das prätendierte "'Wesen" Dieter Henrich: Hegels Theorie über den Zufall . S. 167: "So gibt es 'etliche und sechzig Arten von Papageien, hundertundsiebendreißig Arten von Veronika usf.' [Logik, ed. Lasson, 1934, II 247). Sie aufzuzählen scheint Hege! eben deshalb eine geistlose und langweilige Beschäftigung zu sein, weil in solcher Mannigfaltigkeit 'kein Geist' ist. Aus die­ ser Theorie kann man auch die freilich erstaunliche Folgerung ziehen, daß in der Natur sogar Verstöße vorkommen können gegen die Gedankenbestimmungen selbst, die doch Etll o c; und oüaiet alles Seienden sein sollen". "' Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sillen AB 64, 74. Kritik der praktischen Vernunft A 38. 85 S. z.B. Vorlesungen über die Philosophie der Religion III. S. 125, 206. 16 Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse. Erläuterungen zur Einleitung § 6. S. 214. tri Wissenschaft der Logik II. S. 21. • Rechtsphilosophie § 142. S. 292. "' Ebd. §§ 145, 148. S. 294, 296f.

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Wille und diese Welt beide den selben "Begriff der Freiheit" realisieren. Von der "vorhandenen Welt" erfährt man erstens, daß sie ihre Wirklichkeit dem Handeln mit Willen und Bewußtsein begabter Subjekte verdankt (als "das lebendige Gute", das sie ist, hat sie "durch dessen [sc. des Selbstbewußtseins] Handeln seine Wirklichkeit"), und zweitens, daß sie, so zu eigenem Sein gelangt, diesen handelnden Subjekten als deren "bewegender Zweck", "Kreis der Notwendigkeit", als "Mächte [ ... ], welche das Leben der Individuen regieren"90, entgegentritt: Nicht diese letzteren beherrschen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern diese verselbständigen sich ihnen ge­ genüber als ein ihr Tun bestimmender und beherrschender Wille : "Für das Subjekt haben die sittliche Substanz, ihre Gesetze und Gewalten [ ... ] als Gegenstand das Verhältnis, daß sie sind, im höchsten Sinne der Selbständigkeit, - eine absolute, un­ endlich festere Autorität und Macht als das Sein der Natur"91• Daraus geht allerdings bereits hervor, was es mit dem "Selbstbewußtsein" auf sich hat, das den "Begriff der Freiheit" verwirklicht. Es ist nicht tätiges Subjekt, Subjekt seiner Taten - wie Hege! glauben machen will -, sondern abhängige Variable, eben "Akzidenz"92 der "sittlichen Mächte". Verhält es sich aber so, dann zehrt das Selbstbewußtsein des Subjekts, das gerade jene Freiheit zum Inhalt hat93, von einer Fiktion. Auch wenn Hege! dieser Fiktion der Freiheit des Subjekts in seiner Bestimmung des Verhältnisses der "sittlichen Substanz" zu den Individuen als deren "Akzidenzien" widerspricht, so hält er sie darin, daß er das Selbstbewußtsein als tätiges Subjekt auffaßt94, dennoch auf­ recht. Seine Rechtfertigung der von ihm vorgebrachten These, daß eine Welt voller Pflichten dem vernünftigen Willen angemessen ist, steht und fällt mit dem Ge- oder Mißlingen des Nachweises, daß die gesellschaftlichen Einrichtungen, die für das In­ dividuum verpflichtenden Charakter haben, dem freien Willen zweckmäßig sind. Der freie Wille, aus dem Hege! die Institutionen der Sittlichkeit ableitet, ist allerdings ei­ ner, der den letzteren bereits subsumiert ist, und an ihnen "seine an und für sich sei­ ende Grundlage und bewegenden Zweck hat"95• So zeigt er der Sache nach das Um­ gekehrte: daß die Selbsteinschätzung von Individuen, die sich als Akzidenzien ver­ stehen, for diese Institutionen zweckmäßig ist.

90

Ebd. § 145. S. 294.

9 1 Ebd. § 146. S. 294f. 92 Ebd. § 145. S. 294.

"' Ebd. § 142. S. 292. 94 Ebd. 95 Ebd. Hervorh. nicht im Original.

Kapitel XXII "Die Härte des logischen Muß" § 1 13 Demnach scheint es, Freiheit lasse sich rationalerweise nicht als Einsicht in die Not­ wendigkeit auffassen, sofern darunter verstanden wird, im Verhältnis eines Akzidenz zu seinen Lebensverhältnissen zu stehen. Damit aber bliebe als haltbarer Sinn der Rede von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit vorerst nur, daß erstere im Er­ kennen und im sachkundigen Umgang mit den Gestalten der letzteren liegt1• Und selbst, ob damit ein zulänglicher Begriff von Freiheit gewonnen ist, scheint nicht un­ zweifelhaft. Denn es könnte eingewandt werden, die Freiheit des zweckmäßigen Umgangs mit dem, was ist, zu der die Einsicht in die Notwendigkeit verhelfe, sei nicht Freiheit schlechthin, sondern nur eine spezielle Form von Freiheit. Die "Freiheit der Einbildungskraft"2 etwa, von der die Ästhetik rede, verdanke sich ge­ rade keiner Einsicht in die Notwendigkeit, sondern eher der Fähigkeit, etwas als nicht notwendig zu betrachten. Erst recht werde die Freiheit der Einbildung im schlichtesten Sinne - sich vorzustellen, was man will - durch das Wissen zerstört. Die Bemerkung ist richtig, doch widerlegt sie keines der Resultate der früheren Argu­ mentation, sondern zwingt allenfalls, sie mit Qualifikationen zu versehen. In der Tat scheint das Wissen einerseits die Freiheit der Einbildung einzuschränken, - so sehr die letztere andererseits das Wissen zur Bedingung haben mag (denn wenn die Ein­ bildung, nach einem Beispiel Spinozas, fingiert, ein Baum rede, so arrangiert sie Be­ kanntes neu3). Der Geist, bemerkt Spinoza, hat um so größere Möglichkeit zu Fik­ tionen, je weniger er erkennt, - wie umgekehrt dieselbe Möglichkeit immer geringer wird, je mehr er erkennt. Wer die Beschaffenheit einer Fliege erkannt habe, könne nicht mehr fingieren, daß sie unendlich ist, und wer wisse, was Subjektivität ist, könne nicht mehr fingieren, sie sei viereckig. Je weniger die Menschen die Natur kennen, desto leichter könnten sie vieles fingieren; z.B. daß ihresgleichen plötzlich in Steine oder Quellen verwandelt wird, daß Geister in Spiegeln erscheinen, daß aus nichts etwas wird, auch daß sich Götter in Tiere verwandeln und u nzählige andere Dinge von dieser Art4• Der Gedanke ist nicht partout falsch. Doch ist zunächst zu präzisieren, daß das Wissen nicht der Fiktion, als bewußt eingesetztem Mittel, sondern dem Irrtum ent­ gegengesetzt ist. Man kann beides Fiktion nennen, doch gerade dann besteht Grund, sich die Differenz zu vergegenwärtigen zwischen der künstlerischen Fiktion, als re­ flektiert verwendeter Technik, einerseits, und der Fiktion als undurchschauter sol­ cher, der für Wissen gehaltenen: der Illusion, andererseits. In der Kunst ist der

I Vgl. §§ 106, 107. ' Kritik der Urteilskraft A 258 B 262. Zum folgenden vgl. a. David Hume: A Treatise of Human Nature. 1,1,111. S. 9f. 3 Tractatus de lntellectus Emendatione. S. 19. ' Ebd. S. 19f. =

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"Die Härte des logischen Muß"

Schein als Schein kenntlich gemacht, und spiegelt nicht Tatsachen vor. Wie die Dichter einerseits nicht lügen, weil sie gegenständliche Wahrheit gar nicht erst prä­ tendieren, so sind sie andererseits auch nicht, jedenfalls nicht als solche, gewiss­ ermaßen durch einen Zwang der literarischen Form, in Illusion befangen. Die Zwecke literarischen Sprechens liegen auf einem andern Feld als die der Wis­ senschaft, und können darum denen der letzteren nicht in dem Sinne widersprechen, in welchem es ein Irrtum tut. Wesentlich aber ist, daß die subjektive Freiheit, die die Fiktion dem Wissen vorauszuhaben scheint, nicht für sie als die in Illusionen befan­ gene Stellung zur Welt besteht, wie Spinoza anzunehmen scheint (denn die mytholo­ gische Naturausdeutung galt ihm als solche), sondern nur für die Fiktion als bewußt eingesetztes Mittel. Vom Irrtum kann nicht gesagt werden, daß er einen größeren Spielraum hätte als das Wissen, denn beide haben die Form des Fürwahrhaltens eines bestimmten Inhalts, dem gegenüber andere für falsch gehalten werden. Freilich gibt es für eine Addition nur eine richtige Lösung, doch unendlich viele falsche; aber wer zu einer falschen Lösung gelangt ist, hat sich nicht minder auf eine bestimmte festgelegt, als wer die richtige weiß. Der Irrtum unterscheidet sich vom Wissen nicht dadurch, daß er freies Spiel der Einbildungskraft wäre, sondern dadurch, daß er Fürwahrhalten von Falschem, nicht von Wahrem ist. Die bewußte Fiktion hingegen konkurriert nicht, wie der Irrtum, mit dem Wissen. Sie setzt das Wissen voraus, daß es sich in der Wirklichkeit anders verhält, als fingiert wird, weshalb der Versuch, die literarische Fiktion gegen das Wissen auszuspielen, in bezug auf den, der ihn unternimmt, belegt, daß er, ihr Anwalt, sie selber nicht begriffen hat. Wenn gesagt wird, sie habe insofern mit Freiheit zu tun, als sie Ungeahntes sichtbar macht, ausspricht, und damit die Welt um mögliche neue Welten erweitert, so zehrt gerade diese Leistung von der festgehaltenen Fähigkeit des Autors wie des Adressaten, das Wirkliche und das Mögliche zu unterscheiden. Allerdings ist die literarische Fiktion Resultat des freien Spiels der Einbildungs­ kraft, was vom Wissen nicht, mindestens nicht ohne weiteres gilt ( - so sehr sich Be­ denken gegen die Vorstellung anmelden lassen, beim Entwickeln von Theo­ rien spiele Phantasie keine Rolle). Umgekehrt verschafft aber die literarische Fik­ tion als solche, aus ihrer Form und ihrem Inhalt heraus, wenngleich vielleicht die Freiheit, sich manches anders vorzustellen, als es ist, und so Distanz zu ihm zu ge­ winnen, nicht - und ebensowenig wie die Fiktion qua Irrtum - die Freiheit zum zweckmäßigen Umgang mit dem, was ist, die stets ein, sei's auch in der Regel bloß implizites, Wissen von dem, was ist, zur Bedingung hat. Das Ergebnis, Einsicht in die Notwendigkeit verhelfe zur Freiheit im letzteren Sinne, bleibt mithin durch die Ein­ wendung unangekränkelt, wenngleich nicht zu unterschlagen ist, daß von Freiheit

' Seit SchiDer ist hierfür die Unterscheidung von "ästhetischem" und "logischem Schein" geläufig: "Nur der erste ist Spie� da der letzte bloß Betrug ist. Den Schein der ersten Art für etwas gelten lassen, kann der Wahrheit niemals Eintrag tun, weil man nie Gefahr läuft, ihn derselben unterzuschieben, was doch die einzige Art ist, wie der Wahrheit geschadet werden kann" ( Ü ber die ästhetische Erziehung des Menschen. XXVI. Brief. S. 105). Nur soweit er "sich von allem Anspruch auf Realität ausdrücklich los­ sagt ( ... ], ist der Schein ästhetisch" (ebd., S. 108) . Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft A 213 B 215: "Sie (die Dichtkunst] spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für bloßes Spiel". Für eine neuere Präzisierung des Gedankens s. John Rogers Searle: The Logical Status of Fictional Discourse. Bes. S. 63. =

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Kapitel XXII

noch in anderem Sinne die Rede sein kann, und diese durchaus andere Vorausset­ zungen als Einsicht in die Notwendigkeit haben mag.

§ 11 4 Das Resultat der bisherigen Argumentation war, Freiheit sei Einsicht in die Not­ wendigkeit, sofern darunter verstanden wird, daß sie im Erkennen und im sachkun­ digen Umgang mit den Gestalten der letzteren liegt, - wobei nicht auszuschließen war, daß noch in anderem Sinne von Freiheit die Rede sein könnte. Auch dieses qualifizierte Resultat scheint freilich anfechtbar. Denn es ließe sich einwenden, Freiheit könne nur dann Einsicht in die Notwendigkeit sein, wenn das Moment der Einsicht gegenüber der Notwendigkeit etwas induziere, was über bloße Notwendig­ keit hinausliege. Wäre Einsicht lediglich Notwendigkeit, so wäre auch Einsicht in die Notwendigkeit ein unfreies Verhältnis. Nun lasse sich aber zeigen, daß Einsicht nichts als Notwendigkeit sei. Der Anspruch, einen solchen Nachweis zu führen, ist nun nicht ein Produkt der Hegelkritik des 19. oder 20. Jahrhunderts, sondern war be­ reits der antiken Welt geläufig. Simplikios aus Kilikien, der im 6. nachchristlichen Jahrhundert deren philosophisches Wissen resümierte, berichtet, ohne sie zu nennen, von Autoren, die Einsicht als ein unfreies Verhältnis behaupteten, indem sie aufzu­ weisen suchten, die Gegenstände der Meinung zögen die Meinenden mit Gewalt fort, ob sie nun wollten oder nicht. Denn wer beispielshalber etwas von Mathematik verstünde, müsse meinen, daß zweimal zwei vier sei6• Wer sich Wissenschaft erwor­ ben habe, fälle wahre Urteile von den Dingen, wer hingegen unwissend sei, falsche, und es liege weder in des Gelehrten Gewalt, falsche, noch in der des Ungelehrten, wahre Urteile zu fällen. Denn wie es unmöglich sei, daß diejenigen, die gesunde Sinne haben, die sinnlichen Gegenstände falsch empfänden, so verhalte es sich auch mit den Gegenständen der Vernunft?. Kurz, die Meinung hänge allemal natürlicher­ und notwendigerweise von dem besonderen Gegenstand der Meinung ab, und es stehe schlechterdings so wenig im Belieben des Meinenden, so oder anders zu den­ ken, als es in der Willkür eines Erdklosses stehe, zu Boden zu fallen, der es sonst in seiner Macht haben müßte, ebensowohl in die Höhe zu fahren8. Diesem Raisonne­ ment hält Simplikios eine Unterscheidung entgegen: es gebe zwei Gattungen der Notwendigkeit, innere und äußere. Während die letztere der Freiheit widerspreche, 6 Simplicius: Commentarius in Enchiridion Epicteti. S. 8: "Nonnulli vero ipsum opinabile [ ... ] volentes & invitos nos ad seips[um] movere ac trahere aiunt. quotusquisque enim est eorum, qui numerare ut­

cunq; didicerint, qui bis duo quatuor esse non opinetur". 7 Ebd.: "Praeterea opinantur de rebus, eruditus quidem vera, indoctus falsa, nec aliter fieri polest. non enim est in viro docto falsum opinari, neque in imperito, verum omnino. sed opinari falsa in indocto est: non falsa vero, in perito. Haudquaquam enim falsa opinari vellet indoctus, si in eo id positum esset. Studiosus itidem atque eruditus, si in eo esset vera opinari possei sane etiam falsam habere opinionem, & si quis ipsum magnopere id velle supponat. Quemadmodum enim ipsa sensibilia, qui valentes habent ac solidos sensus, impossibile est ut non recte sensu percipiant: it se quoque habet in rebus, quae ratione deprehenduntur". 8 Ebd. S. 9: "asserunt ut appetitus [ ... ] opinantis ad proprium [ ... ] opinandum tendat ex natura, non in ipso esse, hoc vel illo modo, velut in gleba, ut deorsum feratur: Nam in ipsa esset motus quoqui a su­ periora".

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gelte von der ersteren, daß sie mit der Freiheit zusammenbestehe oder sogar zu­ sammenfalle9. Auf das Argument gegen die Freiheit als Einsicht in die Notwendig­ keit antwortet Simplikios mithin, Einsicht sei zwar Notwendigkeit, aber eine von be­ sonderer Art: innere Notwendigkeit, die mit Freiheit kompatibel oder gar konver­ gent sei. Freilich scheint Simplikios schlicht zu ignorieren, worin der Witz des vorge­ brachten Arguments bestand. Denn dieses hatte es gerade auf eine Bestreitung des­ sen abgesehen, es gebe so etwas wie "innere" Notwendigkeit. Es zielte darauf, daß Notwendigkeit schlechthin mit äußerem Zwang zusammenfalle. Die Charakterisie­ rung des Meinens sollte belegen, daß Einsicht selber nichts sei als eine äußerliche Notwendigkeit, mithin ein Verhältnis der Unfreiheit des Einsehenden zum Eingese­ henen; und hiergegen ist die Behauptung des Gegenteils: das Statuieren einer Unter­ scheidung, deren Sinn gerade implizit in Abrede gestellt worden war, ungenügend. Auch scheinen die erhobenen Einwände nicht nur nicht unplausibel, sondern leicht um ähnliche Erwägungen zu ergänzen. Wendungen wie die, man sei 'angesichts der Tatsachen gezwungen, anzunehmen', man vermöge dem Gewicht der Argumente für etwas nichts entgegenzusetzen, man könne 'nicht umhin, zu schließen', man sei, nachdem man gewisse Prämissen akzeptiert habe, darauf festgelegt, eine bestimmte Schlußfolgerung zu akzeptieren, womit gesagt sein soll, man müsse sie akzeptieren wobei den Ausdrücken 'gezwungen', 'nicht vermögen', 'Gewicht' (der das Verhältnis, ähnlich der Theorie des stärksten Motivs, als Mechanisches deutet), 'nicht umhin können', 'festgelegt sein' besondere Aufmerksamkeit zu widmen wäre -, sind allent­ halben geläufig. An sie hat in neuerer Zeit Wittgenstein, sie in der Formel "Die Härte des logischen Muß"10 resümierend, in merkwürdiger Weise angeknüpft. Merk­ würdig ist diese Anknüpfung, insofern Wittgensteins Gedanken zu dem Streit, ob Einsicht äußere Notwendigkeit und damit Unfreiheit oder innere Notwendigkeit und damit Freiheit ist, gänzlich querzustehen scheinen. Denn seine Behauptung nimmt sich zunächst11 dahingehend aus, sie sei Freiheit, aber gerade nicht als innere Not­ wendigkeit, sondern als subjektive Willkür. '"Aber bin ich also in einer Schlußkette nicht gezwungen, zu gehen, wie ich gehe?' - Gezwungen? Ich kann doch wohl gehen wie ich will! - 'Aber wenn du im Einklang mit den Regeln gehen willst, mußt du so gehen.' - Durchaus nicht; ich nenne das 'Einklang'. - 'Dann hast du den Sinn des Wortes 'Einklang' verändert, oder den Sinn der Regel'. - Nein; - wer sagt, was hier 9 Ebd.: "Adversus hos inquam respondendum est, duplicem esse necessitatem, unam quae ipsi liber­ tati opponitur, alteram quae cum ipsa convenit. Externa igitur necessitas libertatem e medio tollit". Vgl. Hegel: Enzyklopädie. Ausg. 1830. § 35 Zus. S. 102f.: "Wenn von Notwendigkeit gesprochen wird, so pflegt man darunter zunächst nur Determination von außen zu verstehen, wie z.B. in der endlichen Me­ chanik ein Körper sich nur bewegt, wenn er durch einen anderen Körper gestoßen wird, und zwar in der Richtung, welche ihm durch diesen Stoß erteilt wird. Dies ist jedoch eine bloß äußerliche Notwendig­ keit, nicht die wahrhaft innere, denn diese ist die Freiheit". Friedrich Wilhelm J osef Schelling: Freiheits­ schrift. S. 385: "innere Notwendigkeit ist selber die Freiheit". Man könnte freilich den Grund der Anfüh­ rung dieser Zitate in einem Fehlschluß des Typs "unum nomen - unum nominatum" vermuten. Doch es gibt, ohne daß dies hier auszuführen wäre, tatsächlich einen sachlichen Zusammenhang. 10 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. S. 84. 11 Zunächst - denn dies ist nicht Wittgensteins letztes Wort. Vgl. Barry Stroud: Wittgenstein and Lo­ gical Necessity. Bes. S. 494ff. - Kritik an Wittgenstein üben: Michael Dummett: Willgenstein on Ma­ thematics. - Jonathan Bennett: On Being Forced to a Conclusion. Zu Bennett vgl. Crispin Wright: Witt­ genstein on the Foundations of Mathematics. S. 342 363. -

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'verändern' und was 'gleichbleiben' heißt? Wieviele Regeln immer du mir angibst ich gebe dir eine Regel, die meine Verwendung deiner Regel rechtfertigt"12• Es kann hiernach einer mit den Worten meinen, was er will (darin besitzt er Freiheit ohne Notwendigkeit), und da er immer etwas anderes meinen kann als die anderen, kön­ nen diese ihn nie auf einen Schluß festlegen. Aber das Argument ist fragwürdig. Wer behauptet, seine Auffassung sei nicht in Übereinstimmung mit der anderer, muß um­ gekehrt auch Fälle identifizieren können, in denen Übereinstimmung herrschen würde; wie sollte er sonst die Differenz erkennen können? In einer Hinsicht Diffe­ renz zu behaupten, heißt immer, in anderer Identität zu unterstellen, denn - und dies ist eine logische Bemerkung, keine metaphysische13 - das Verschiedene ist nur ein solches im Unterschied zu einem Identischen. Nun ist aber von dem von Wittgen­ stein erdachten Unterredner, der beansprucht, daß er immer etwas anderes meinen könne als die anderen, nicht nur unterstellt, daß unter anderen Umständen Überein­ stimmung bestände, sondern auch, daß sie in einer Hinsicht wirklich besteht. Wer fragt: "wer sagt, was hier 'verändern' und was 'gleichbleiben' heißt?", und damit sagen will, daß er etwas völlig anderes meine als sein Unterredner, also radikale Bedeutungsverschiedenheit behauptet, unterstellt doch zugleich das Gegenteil, denn der Dissens, den er anmeldet, ist nur einer, wenn er in bezug auf die selbe Sache besteht, und eben dies ist in dem "hier", das er gebraucht ("wer sagt, was hier 'verändern' und was 'gleichbleiben' heißt?"), präsupponiert14•

§ 11 5 Wittgenstein beruft sich nun freilich des weiteren auf den schon Kant15 geläufigen Umstand, daß keine Regel ihre eigene Anwendung regelt, noch regeln kann. Eben­ sowenig kann es erstens Regeln der Sorte A, sowie, zweitens, Regeln der Sorte B des Inhalts, wie unter welchen Umständen jene Regeln der Sorte A anzuwenden sind, geben, denn wenn ein derartiges Problem für Regeln der Sorte A entsteht, wäre nicht einzusehen, warum es nicht auch für Regeln der Sorte B entstehen sollte, und man bräuchte noch Regeln der Sorte C dafür, wie die Regeln der Sorte B ( Re­ geln, wie Regeln der Sorte A anzuwenden sind) anzuwenden sind, usw. in infinitum. Man kann auch sagen, daß zwischen dem allgemeinen Charakter einer Regel und dem besonderen Charakter einer Situation nicht wieder durch eine - per definitio­ nem allgemeine - Regel vermittelt werden kann. So unleugbar dies ist, so wenig be=

12 13 14 15

Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. S. 79. Etwa in der Art, wie Aristoteles sie an Empedokles moniert: Metaphysica 985a21-29. Edward J. Nell: The Hardness of the Logical 'Must'. S. 70f. Kritik der reinen Vernunft A 133 B 172: "Wollte sie [die allgemeine Logik] nun allgemein zei­ gen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d.i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen", was offenkundig in einen Regreß führt, denn für die neue Regel stellt sich wiederum die Frage, wie sie anzuwenden ist usf. Die­ sen Regreß sah Kant jedoch durch ein besonderes Vermögen, die "Urteilskraft" durchbrachen, so daß Skepsis, wie denn Regeln befolgt werden könnten, nicht generell, sondern allenfalls in bezug auf ein­ zelne Individuen, sofern ihnen eben die Urteilskraft abgehe, fällig sei: "keine Regel, die man [ ... ] vor=

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gründet es Wittgensteins starke Schlußfolgerung. Sein Argument belegt das non se­ quitur: "Wenn wir den Schlußgesetzen (Schlußregeln) folgen, so liegt in einem Folgen immer auch ein Deuten"16• Denn daß ein Interpretieren stattfindet, beweist keines­ wegs, es könnte nicht eine Interpretation angemessener sein als andere. Nur wenn dies folgen würde, wäre aber die Art und Weise, wie ein Schlußprozeß durchlaufen wird, eine Sache subjektiven Beliebens. Indessen könnte man einwenden, wenn Wittgenstein der Logik die Notwendigkeit abspreche, so fasse er sie gar nicht als Fall subjektiven Beliebens und individueller Willkür, sondern kollektiver Willkür, zufälliger sozialer Konvention. So scheint es sich in der Tat zu verhalten17• Doch wer, daß etwas aus etwas anderem folgt, damit erklären will, darin liege nur scheinbare Notwendigkeit, tatsächlich folge es aus zufälliger Konvention, setzt sich der Schwierigkeit aus, daß die Weise, in der es aus jener zufälligen Konvention folgt, weder Gegenstand der selben Konvention sein kann - denn sie legt ja allererst fest, was es heißt, daß etwas aus etwas anderem folgt -, noch einer weiteren Konvention, denn in bezug auf sie ergäbe sich die selbe Schwierigkeit, so daß ein Regreß in infinitum entstünde. Erklären heißt eben: nach­ weisen, wie etwas aus einem anderen folgt; und die Erklärung dessen, daß etwas aus etwas anderem folgt, aus zufälliger Konvention, soll eben in bezug auf alle Konven­ tionen gelten, die dergleichen festlegen. Obwohl die Erklärung ihrem Inhalt nach selber nur das Produkt einer bestimmten Konvention ist, bezieht sie ihrer Form nach einen Platz über jeder bestimmten Konvention. Sie nimmt für sich eine andere Art des Folgerns in Anspruch, als die ist, die sie erklärt, und die doch angeblich die ein­ zige sein soll. '"Aus A folgt B' folgt aus einer zufälligen Konvention" heißt nicht, man nehme aus einer zufälligen Konvention heraus an, "Aus A folgt B" folge aus einer zu­ fälligen Konvention; vielmehr wird die Erklärung gegenüber anderen als die gültige behauptet. - Indessen scheint diese Kritik auf einer Äquivokation zu basieren. Denn, so ließe sich einwenden, wer, daß etwas aus etwas anderem folgt, damit erklären will, schreiben möchte, ist, in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher". Ü ber den Ge­ meinspruch A 201f.: "zu dem Verstandesbegriffe, welcher die Regel enthält, muß ein Actus der Urteils­ kraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; und [ ... ] für die Urteilskraft [können] nicht immer wiederum Regeln gegeben werden [ ... ], wornach sie sich in der Subsumption zu richten habe (weil das ins Unendliche gehen würde)". Vgl. a. Kritik der Ur­ teilskraft A 343f. ; B 348: "Unser Verstand hat also das Eigene [ ... ], daß im Erkenntnis durch densel­ ben, durch das Allgemeine das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem allein nicht abgeleitet werden kann". S. allerdings gegenüber der Auffassung, Kant habe nicht geglaubt, man könne die Anwendung einer Regel, mithin die individuelle Handlung, aus der Regel selber deduzieren, die auf Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 36 ("Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Ver­ nunft erfodert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft") gestützte Kaut-Interpreta­ tion von Rüdiger Bittner: Handlungen und Wirkungen. S. 19: "Dies ist also Kants Erklärung: [ ... ] erfor­ derlich ist, die Handlungen von ihm [dem Gesetz] abzuleiten". S. 23: "Mit einem sonst bei Kant geläufi­ gen Ausdruck, es 'fließt' aus dem Gesetz. Dieses begreift umgekehrt die Handlung in sich, die nach ihm geschieht". Zugunsten dieser Deutung vgl. Refl. 6802. Akad. XIX. 167: "Woher sind wir bestimmt, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten? Darum weil wir eben so wohl im practischen Urteil als dem theoretischen die Vernunft als die notwendige Bedingung derselben ansehn". Praktische Philoso­ phie Powalski. Akad. XXVII/1. 1 10: "Die uebereinstimmung des Willens also mit der Form der Ver­ nunft ist die, wo aus dem allgemeinen aufs besondere geschloßen wird, darinn besteht also die morali­ taet". 1 6 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. S. 80. 17 Ebd. S. 43, 80f.

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es folge lediglich aus zufälliger Konvention, verwende einesteils, im explanandum, zwar den logischen Folgerungsbegriff. Doch diesen verwende er gewissermaßen in Anführungszeichen: er erwähne ihn, wie ein Ethnologe einen merkwürdigen Sprach­ gebrauch, der als solcher eben soziale Tatsache ist, aber er gebrauche ihn nicht sel­ ber in dem Sinne, daß er ihn für sich in Anspruch nehme. Andernteils aber, in der Wendung "es folgt lediglich aus zufälliger Konvention", erwähne er zwar den Begriff der Folge nicht lediglich, sondern nehme ihn tatsächlich in Anspruch, doch es sei dieser nicht der Begriff einer logischen Folge, sondern der einer kausalen Folge. Die Konvention sei die Ursache, und jene merkwürdige soziale Tatsache des sogenannten logischen Folgerns eben die Wirkung. Die Unterscheidung ist richtig. Aber jener Einwand bedarf nicht der Identifikation von kausaler und logischer Folge, die in der Tat nicht zu halten wäre. Es genügt der Umstand, daß, einen Vorgang kausal zu er­ klären, mindestens auch heißt, ihn - genauer: einen Satz, der ihn beschreibt - aus Na­ turgesetzen und Randbedingungen deduktiv abzuleiten18• Daraus, daß das Geschäft kausaler Erklärung in Logik nicht aufgeht, andernfalls sich die Naturwissenschaft schwerlich die Mühe machen würde, Experimente zu veranstalten oder anderweitig in der Wirklichkeit etwas zu entdecken 1 9, folgt nicht, es sei ohne Logik möglich. Wie beispielsweise Identität oder Existenz nur von jemandem verstanden werden, der fä­ hig ist, auszusagen, dies sei das selbe wie jenes, oder: es gebe dies oder jenes, so ge­ hören auch "Ursache" und "Wirkung" in einen Zusammenhang, von dem nicht zufäl­ lig ist, daß gerade in ihm gerade diese Begriffe auftreten: der erste in Prämissen, der zweite in Konsequenzen kausaler Erklärungsargumente.

§ 116 Freilich hat sich über diesen Erwägungen unvermerkt die Interpretationshypothese in bezug auf den zentralen Punkt - die Frage der Notwendigkeit - verschoben. Inso­ fern Wittgenstein die Logik als einen Fall sozialer Konvention faßt, scheint er den Einwand ernstgenommen zu haben, daß die Annahme, es liege so etwas wie Not­ wendigkeit im logischen Schließen, wenn man sie schon nicht für berechtigt hält, mindestens der Erklärung bedarf: "Inwiefern ist das logische Argument ein Zwang? 'Du gibst doch das zu, - und das zu; dann mußt du auch das zugeben! ' Das ist die Art, jemanden zu zwingen. D.h., man kann so tatsächlich Menschen zwingen, etwas zuzu­ geben. - Nicht anders, als wie man Einen etwa dazu zwingen kann, dorthin zu gehen, indem man gebietend mit dem Finger dorthin zeigt"20• Hiermit scheint Wittgenstein die Front gewechselt zu haben. Zuvor nahm sich die Angelegenheit in der Weise aus, er behaupte in dem Streit, ob Einsicht äußere Notwendigkeit und damit Unfreiheit, oder innere Notwendigkeit und damit Freiheit ist, eine dritte Möglichkeit, nämlich: sie sei Freiheit, aber gerade nicht als innere Notwendigkeit, sondern als subjektive Willkür. Indem er aber argumentiert, das logische Argument sei ein Zwang gerade so, "wie man Einen etwa dazu zwingen kann, dorthin zu gehen, indem man gebietend 1 8 Kar) Raimund Popper: Logik der Forschung. S. 31. 19 Vgl. Karl-Otto Apel: Die Erklären: Verstehen-Kontroverse. S. 83.

"' Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. S. 81.

"Die Härte des logischen Muß"

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mit dem Finger dorthin zeigt", hat er sich, wenn nicht alles täuscht, auf die Seite de­ rer geschlagen, die Einsicht als äußere Notwendigkeit verstehen. Denn Zwang, und als solchen bezeichnet Wittgenstein das logische Argument nun ausdrücklich, ist eine Gestalt der Notwendigkeit, und daß sie von außen angesonnen ist, geht aus dem ge­ gebenen Beispiel hervor. Als Exemplifikation von Zwang erscheint dieses freilich läppisch, wenn nicht falsch. Denn Zwang unterstellt einen Interessengegensatz: Der den Zwang ausübt, beugt den Willen des anderen; er fordert, ein Interesse, das ge­ gen den anderen geht, zu erfüllen, indem er ankündigt, die Folgen würden noch ver­ heerender sein, wenn er dies nicht täte. Nur damit, daß man in eine bestimmte Rich­ tung zeigt, kann man niemanden zu etwas zwingen. Man könnte etwa jemandem mit einem Fingerzeig eine bestimmte Richtung empfehlen, weil es dort besonders schön sei, ohne daß auf ihn Zwang ausgeübt würde, sie einzuschlagen. Zwang aber unter­ stellt, daß jemand etwas, das ihm abverlangt wird, von sich aus nicht tun will, denn wollte er es von sich aus schon, so erübrigte es sich, ihn zu zwingen. Freilich könnte es scheinen, dies sei bei Wittgenstein bereits mit angedeutet. Denn er spricht im Fall, zu dem die Analogie gezogen werden soll ("Nicht anders, als wie ... "), davon, daß man "gebietend" mit dem Finger wohin zeigt, und gleich darauf ist von "Befehlen" die Rede; mit einem Akt des Hefebiens aber ist schon ein Gegensatz gegen das Interesse des anderen unterstellt - bestände kein solcher, so bräuchte man eben nicht zu be­ fehlen, sondern könnte empfehlen. Doch so unverkennbar sich dies angedeutet fin­ det, so wenig liefert der in Frage stehende Passus eine zulängliche Analyse von Zwang. Denn solchen auszuüben setzt, nach Hegels Einsicht, mehr voraus als bloß einen Gegensatz von Interessen: "Der Zwang findet auf folgende Weise statt. An die Seite des Daseins des Menschen wird irgend etwas als Bedingung desselben an­ geknüpft, so daß, wenn er das erstere erhalten will, er sich auch das andere gefallen lassen muß"21• Solche Bedingungen kann aber nur setzen, wer über entsprechende Mittel verfügt, oder mindestens erfolgreich den Anschein erwecken kann, er verfüge über sie. Daß Wittgenstein diese Voraussetzung des Zwangs in dem in Frage stehen­ den Passus überging, scheint kaum verwunderlich. Denn die Annahme liegt nahe, daß gerade an ihr die versuchte Analogie zum Zwang scheitert. In der Logik liegt gar kein Mittel, irgendetwas gegen jemandes Willen durchzusetzen. Freilich könnte die­ ser Einwand falsch erscheinen. Denn da Wittgenstein die Logik als äußere Notwen­ digkeit erweisen wolle, könnten die Zwangsmittel nicht in ihr, sondern nur außer ihr liegen. Diese Interpretation scheint sich auf den Text berufen zu können. Denn was logisches Schließen ist, erläutert Wittgenstein so: "In einer Vorschrift steht: 'Alle, die über 1 .80 m hoch sind, sind in die ... Abteilung aufzunehmen'. Ein Kanzlist verliest die Namen der Leute, dazu ihre Höhe. Ein anderer teilt sie den und den Abteilun­ gen zu. - 'N.N. 1 .90 m.' - 'Also N.N. in die ... Abteilung.' Das ist Schließen"22• Und Wittgenstein setzt - was erst entscheidend ist - fort: "Man kann [ ... ] sagen, daß die Schlußgesetze uns zwingen; in dem Sinn nämlich, wie andere Gesetze in der menschlichen Gesellschaft. Der Kanzlist, der so schließt, wie in ( 1 7)" - dem zuvor an­ geführten Passus - "muß es so tun; er wäre bestraft worden, wenn er anders schlösse. Wer anders schließt, kommt allerdings in Konflikt: z.B. mit der Gesellschaft; aber ,

2 1 Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse. Rechtslehre § 6. S. 234. Vgl. § 92. 22 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. S. 43.

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Kapitel XXII

auch mit andern praktischen Folgen"23• Doch die Textstelle belegt nur, was Wittgen­ stein gemeint hat; für die These, die Logik sei äußerer Zwang, und Einsicht eine äus­ serliche Notwendigkeit, beweist sie nichts. Denn der Einwand: da die Logik als äus­ sere Notwendigkeit erwiesen werden solle, könnten die Zwangsmittel nicht in ihr, sondern nur außer ihr liegen, ist verkehrt; er beruht auf einer Äquivokation. Umge­ kehrt war es richtig, den besagten Nachweis mit dem Argument für mißglückt zu er­ klären, daß in der Logik gar kein Mittel liegt, irgendetwas gegen jemandes Willen durchzusetzen. Der Grund dafür ist folgender: wenn ein Staat äußerliche Sanktionen über seine Untertanen verhängt - und daß er so verfährt, liegt im Begriff staatlicher Gewalt -, so belegt dies, daß Herrschaft ein Verhältnis äußerer Notwendigkeit ist. Eine äußere ist diese Notwendigkeit, weil sie eine dem Willen dessen, der ihr unter­ worfen ist, äußere ist - eben darum muß sie ihm aufgeherrscht werden -; der Instanz aber, die den Zwang ausübt, sind die Mittel, die dabei zur Anwendung kommen, keine äußeren, sondern eben ihre eigenen. Im selben Sinne müßten Zwangsmittel die eigenen Mittel der Logik sein, wenngleich dem der Logik Unterworfenen äußere Mittel, wenn sie als eine Gestalt äußerer Notwendigkeit gelten dürfte. D aß dies eine abwegige Vorstellung ist, liegt daran, daß die Logik eben nicht von dieser Art ist, nicht daran, daß falsche Anforderungen an den Aufweis dessen gestellt werden, et­ was sei eine äußere Notwendigkeit. In diesem Sinne also weist Wittgenstein, wenn er schreibt, der Kanzlist "wäre bestraft worden, wenn er anders schlösse", nicht die Lo­ gik, sondern die strafende Instanz als äußere Notwendigkeit aus. Und aus dem sei­ hen Grunde belegt das Argument, in der Logik liege gar kein Mittel, irgendetwas ge­ gen jemandes Willen durchzusetzen, daß es schief ist, die Logik als Zwang anzuse­ hen. Denn daß man Gewaltmittel äußerlich mit ihr verbinden kann, belegt einerseits gerade, daß sie nicht schon in ihr enthalten sind - wie die Rede vom Zwang der Logik suggeriert -, und ist andererseits trivial, denn es gibt buchstäblich keine menschliche Tätigkeit, die man nicht unter Strafe stellen könnte.

21

Ebd. S. 80f.

Kapitel XXIII Freiheit und Rationalität § 117 In Wendungen wie der, man sei 'angesichts der Tatsachen gezwungen, anzu nehmen', man vermöge dem Gewicht der Argumente für etwas nichts entgegenzusetzen, man könne 'nicht umhin, zu schließen', man sei, nachdem man gewisse Prämissen akzep­ tiert habe, darauf festgelegt, eine bestimmte Schlußfolgerung zu akzeptieren, womit gesagt sein soll, man müsse sie akzeptieren, ist mithin von Zwang und dergleichen nur in einem höchst erläuterungsbedürftigen Sinne die Rede1• Jemand, der die Prä­ missen akzeptiert, und die Gültigkeit der Form einer Ableitung nicht in Zweifel zieht, wird rationalerweise auch die Schlußfolgerung akzeptieren; d.h., wenn gesagt wird, er müsse sie akzeptieren, so ist nur gemeint, daß er, wenn er es nicht tut, inkon­ sistent ist. Daß etwas im Sinne dieser Ausdrücke notwendig einsehbar ist, besagt nicht, man sei determiniert, es einzusehen - es dürfte stets jemanden geben, der kom­ pliziertere logische Schlüsse, die gewiß, wie man zu sagen pflegt, "zwingend" sind, nicht einsieht -, sondern nur, daß es als notwendig, als etwas Notwendiges (und nicht bloß als beliebige Assoziation) einsehbar ist. Zugleich belegen die Beispiele charakteristischer Wendungen wie etwa, man sei 'angesichts der Tatsachen gezwungen, anzunehmen', oder man vermöge dem Ge­ wicht der Argumente für etwas nichts entgegenzusetzen, daß das in einem engen Sinne Logische allenfalls ein spezieller Fall des allgemeineren Phänomens der inne­ ren Notwendigkeit von Gründen, im Unterschied zur äußeren von einerseits Ursa­ chen, andererseits Hindernissen, die einem entgegengesetzt werden und die man nicht überwinden kann, ist. Gründe überhaupt, auch wenn sie zwingend sind, führen nicht zu automatischen Verhaltensreaktionen. Bei gegebener Ursache kann die Wir­ kung nicht ausbleiben; hingegen kann jemand Gründe haben, etwas zu tun, das er dann doch niemals tut2; und wenn er es tut, impliziert die Feststellung, daß er Grund hatte, es zu tun, keine theoretische Prognose des Inhalts, die selbe Handlung würde folgen, wenn er wieder einmal Grund zu ihr hätte3• Zugleich aber, und dies ist frei­ lich entscheidend, wäre es falsch, in einem Verhältnis, wie es soeben an einem Irr­ tum, einem Fehler beim Schlußfolgern exemplifiziert wurde, den Inbegriff der Frei­ heit zu sehen. Zwar kann ebensowenig behauptet werden, jemand, der einen Fehler mache, sei schlechtweg eine abhängige Variable natürlicher Determinanten. Auch Irrtümer lassen sich, wie zuerst Kant hervorgehoben hat, in ihrer Genese, dem Wie ihres Zustandekommens, verstehen, d.h. in ihren, wenngleich mangelhaften, Grün­ den nachvollziehen; sie sind nicht dadurch von Wahrheiten unterschieden, daß für sie kein Verstand aufgewandt würde - er wird vielmehr nur anders angewandt4• Wenn 1 Und nur in diesem höchst erläuterungsbedürftigen Sinne ist es möglich, ein Verhältnis zugleich als, wie in § 3 formuliert wurde, ein solches von Zwang und als ein solches freier Einsicht zu denken. 2 § 57. 3 Herbert Lionel Adolphus Hart u. Anthony M. Honore: Causation in Law. S. 52. 4 Philosophische Enzyklopädie. Akad. XXIX/1/1. 21ff.

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Kapitel XXIII

jemand Glühbirnen zum Dessert besorgt, so ist dies ein Fehler; aber seine Begrün­ dung, Birnen seien doch ein köstliches Obst, ist nachvollziehbar. "Ein Irrtum", sagt Wittgenstein bündig, "hat nicht nur eine Ursache, sondern auch einen Grund"5• Un­ terscheidet man aber Freiheit und Unfreiheit nach ihrem Verhältnis zu dem Gegen­ stand der Handlung zugehörigen und ihm nicht zugehörigen Merkmalen6, so zeigt sich der Irrtum als das unfreiere Verhältnis. Wer ein Buch, das zu verstehen er sich müht, mißversteht, hat seine Vorurteile in es hineingetragen, statt es selber, "die Sa­ che selber", reden zu lassen ( - wollte man aus diesem Satz eine ganze Theorie des Verslehens herauslesen, so wäre er freilich grotesk unzulänglich, aber auf solche An­ sprüche war er nicht gemünzt). Wer sich verrechnet hat, den mag während des Rechnens das Knallen einer Tür irritiert haben; man hat Anlaß, eine äußere Ablen­ kung mindestens zu vermuten. Das freiere Verhältnis wäre jeweils dasjenige, das den Gründen folgt, die in der Sache liegen, um die es zu tun ist. (In dieser Objektivität soll heißen: Konzentration aufs Objekt - ist auch hier, trotz der scheinbar ähnlichen Abgrenzung gegen äußerliche Irritationen im zweiten Beispiel, Freiheit in einem ra­ tional nachvollziehbaren Sinne von der Karrtischen Autonomie des Subjekts qua Ab­ straktion vom Objekt signifikant verschieden.) Man sagt, daß jemand einem Irrtum erliegt; daß er der Wahrheit erliegt, wäre eine abwegige Redeweise. Und daß dem so ist, liegt nicht an einer zufälligen Vorliebe. Hierher rührt die Irrelevanz eines Mo­ ments der Argumentation, die Simplikios den Deterministen zuschreibt: das theore­ tische Verhältnis zur Welt sei ein unfreies Verhältnis, denn wer sie nicht richtig er­ kenne, könne nicht anders als falsch über sie urteilen, wer sie aber richtig erkenne, könne nicht anders als wahr über sie urteilen, auch wenn der erstere vielleicht lieber keine falschen Meinungen hätte, und der zweite es vorzöge, falsch zu urteilen7• Es kommt nicht darauf an, ob jemand falsche Meinungen möchte; Wahrheit ist der Zweck des Denkens, unabhängig davon, ob jemand gerne etwas Falsches denken will. Auch wer Falsches behauptet, muß ipso facto es als wahr behaupten, während nicht umgekehrt derjenige, der Wahres behauptet, es als falsch behaupten muß. Die Symmetrie zwischen Wahrheit und Falschheit, die das Sophisma unterstellt, besteht nicht. Denn wer weiß, was wahr ist, wer etwas erkannt hat, weiß in bezug auf die selbe Sache auch, was falsch ist; dagegen wer Falsches über etwas denkt, weiß nicht, was in bezug auf es wahr ist, - in diesem Sinne gilt Spinozas: "veritas norma sui et falsi est"8. Ist es richtig, daß Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit ist, insofern diese als die innere Notwendigkeit von Gründen begriffen wird, so ist zu beachten, daß die triftigen Gründe zu den untriftigen nicht stehen wie sonst beliebige Willensinhalte zueinander. Wenn jemand äußert, er glaube etwas, gleichgültig ob es wahr oder falsch sei, aus keinem anderen Grunde als dem, daß er es wolle, so artikuliert er da­ mit alles andere als eine selbstverständliche Betätigung seines Willens. Überzeugun­ gen nehmen Wahrheit für sich in Anspruch, d.h. daß die Wirklichkeit sich so verhält, wie die Überzeugung es ausspricht. Wenn einer wirklich von etwas überzeugt ist, 5 Über Gewißheit § 74. S. 134. 6 §§ 59, 105. 7 Vgl. § 114. 8 Ethica II. Prop. 43. Scholium. S. 111. Vgl. Epistola LXXVI [Brief an Albert Burgh). S. 247: "est

enim verum index sui et falsi".

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muß er eben davon überzeugt sein, daß seine Überzeugung wahr ist. Jemand, der sich offen und bewußt Überzeugungen gemäß seinem Willen zulegte, müßte von sich sagen können: "Meine Überzeugung, daß dies und jenes wahr ist, mithin, daß sich die Wirklichkeit so und so verhält, ist lediglich und zur Gänze meinem Willen geschul­ det, und ganz unabhängig davon und unempfindlich dagegen, wie sich die Wirklich­ keit verhält", d.h., in einem speziellen Falle etwa: "Meine Überzeugung, daß es reg­ net, habe ich ohne Rücksicht darauf, wie das Wetter ist - einfach, weil ich sie haben will". Was damit vorläge, wäre eine Reduktion theoretischer Bestimmungen auf praktische: sie sollen, in einem radikalen Sinne, dem Willen zur Disposition stehen. Diese eigenartige Freiheit, in der alles nur noch auf den Willen ankommt, ist indes bezeichnenderweise mit einem klaren Bewußtsein von ihr unvereinbar ( - sie ist, kurz gesagt, ohne Selbstbetrug nicht zu haben). Wenn man etwas für wahr hält, so glaubt man es eben, ist davon überzeugt; und von etwas überzeugt sein wollen, das man für falsch hält, ist insofern ein widersprüchliches Unterfangen, als man nicht davon überzeugt sein kann, solange man es für falsch hält; man kann dies daher gar nicht direkt erreichen, - allenfalls kann man versuchen, sich die Überzeugung mittelbar zu induzieren9, indem man Gegenargumente und widersprechende Evidenz ignoriert. In jedem realen Fall nähert sich somit das Überzeugtsein-Wollen von Falschem charak­ teristischerweise an ein Vergessenwollen von Wahrem an. Charakteristisch ist dies darum, weil die Irrationalität des ersteren die bei weitem radikalere ist. Denn wovon man überzeugt ist, das sollte, nach dem immanenten Zweck von Überzeugungen, wahr sein, während es keine derartige immanente Bestimmung gibt, der gemäß jede Wahrheit etwas sein sollte, wovon man überzeugt ist. Das Überzeugtsein von etwas zielt auf Wahrheit, während Wissen nicht im selben Sinne auf Vollständigkeit gerich­ tet ist10•

§ 118 In bedeutsamerer Weise als in den Techniken des Sich etwas glauben Machens ex­ emplifiziert sich der Standpunkt, welcher die Freiheit nicht in der Fähigkeit sieht, sich von Gründen bestimmen zu lassen, sondern die letzteren gerade als Quelle der Unfreiheit ausmacht, in allem auf sich selbst insistierenden Meinen : "Ich kann doch glauben, was ich will die Freiheit lasse ich mir nicht nehmen". Subjekte, die derge­ stalt das bessere Argument als Beeinträchtigung der Freiheit, zu denken, was man will, deklarieren, haben sich der Voraussetzung verschrieben, daß Gedanken ob ihres allgemeinen Charakters etwas Unpersönliches seien, und pochen eben darum auf die Besonderheit ihres persönlichen Meinens. Der Anspruch auf Objektivität, den ein Urteil mit sich führt, gilt ihnen so einerseits als Mangel. Andererseits aber gilt er als unerhörte Anmaßung. Denn wie Subjekte bloßer Meinungen gewohnt sind, -

9 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Theodicee § 64. Bd. 11/1. S. 300 - 303. 10 Vgl. Bernard Williams: Deciding to believe. S. 151.

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sich in ihren Äußerungen auf das Jemeinige zurückzunehmen11, erwarten sie diese Relativierung auch von jedermann sonst. Daß sie sich von anderen die eigene Unsi­ cherheit im Urteil beseitigen lassen wollen, möchten sie mit ihrer ungünstigen Selbsteinschätzung - "was ich sage, ist bloß meine eigene Meinung" - nicht ausdrücken. Sie bestehen vielmehr darauf, ihren Unterrednern gleiche Bescheidenheit abverlan­ gen zu dürfen. Und die Einfälle, deren sie mächtig sind, gelten ihnen als ihr geistiger Besitz, um den sie sich gemäß einem feststehenden Beschluß ihres Willens von nie­ mandem bringen lassen. Dieses insofern nachgerade höchst unbescheidene Beschei­ denheitsideal gründet in einem Begriff von Sprache, demzufolge Sprecher nie etwas, sondern immer nur sich mitteilen - wenngleich einige von ihnen mehr als dies bean­ spruchten, was ihnen als endlichen Wesen aber gar nicht zustehe. Mitteilungen sind demnach nicht als Gedanken über ihren jeweiligen Gegenstand zu beurteilen, son­ dern als Äußerung, ergo bloßer Ausdruck der jeweiligen Persönlichkeit. Gleichgültig, worüber einer spricht, im Grunde genommen redet er nach dieser Auffassung immer über das Gleiche, nämlich über sich. Ein Adept des Ideals freien Meinens weigert sich, geäußerte Gedanken als das ernstzunehmen, was sie sind, sondern propagiert das Dogma, der Inhalt von Kommunikation könne niemals eine Sache sein, da die Sprecher zu gar nichts anderem fähig seien, als sich und ihre inneren Zustände kundzutun. Weil ein Subjekt - wer auch sonst? - sich äußert, sind die Äußerungen subjektiv, also können sie nur das Subjekt betreffen - so die anfechtbare Logik. Daß Gedanken subjektiv sind, ist eine zweideutige Behauptung. Einerseits kann sie die Selbstverständlichkeit festhalten, daß Gedanken immer subjektive Produkte ihres Urhebers sind - irgend jemand muß sie schließlich in die Welt gesetzt haben. Andererseits kann, gemäß dem zuvor Ausgeführten, gemeint sein, sie verrieten nichts als die Seelenlage dessen, der sie artikuliert. Daß Gedanken in dem ersten, durchaus unspektakulären Sinne subjektiv sind, schadet normalerweise nichts: man kann schließlich ihren Inhalt auf seine Wahrheit überprüfen und sie je nachdem ak­ zeptieren oder verwerfen. Ein Vorgehen, das wissenschaftlich genannt zu werden verdient, muß dies sogar tun. Denn der Zweck einer solchen Veranstaltung - Wissen­ schaft - sind Einsichten über die Sache. Allerdings sind es stets Subjekte, die auf diese Einsichten kommen müssen. Jede Kenntnis von etwas ist die eines Subjekts, und insofern - unvermeidlich, weshalb auch nie gegen das Prinzip verstoßen werden kann - stets seine eigene. Doch unter der Prämisse wissenschaftlicher Erkenntnis, daß sich ein theoretischer Streit am Gegenstand entscheiden läßt, ist das Subjektive gerade das Uninteressante an ihr. Muß man, um ein Buch, das wissenschaftliche Er­ kenntnisse über einen Gegenstand verbreiten soll, zu verstehen, seinen Autor ken­ nen, so taugt eben dieses Buch nichts. Wenn solche Mängel in Postulaten wie dem des "Einbringens der eigenen Sensibilität und Betroffenheit" progressiv zu Idealen selbstkritischer Wissenschaft avancieren, macht dies die Angelegenheit nicht besser. Denn wenn es zuträfe, daß es beim Wissenschaft-Treiben auf die Stimmung des Wis­ senschaftlers ankäme, könnte dieser sich das Theoretisieren gleich ganz sparen. Theorien, wenn sie denn welche sind, geht es um die Ermittlung der Eigenschaften 11

Hege! war es, der hinsichtlich der Meinung zuerst dieses wenn auch etymologisch unrichtige, so doch treffende Wortspiel zu machen pflegte: ''eine Meinung ist mein" (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. S. 30. Vgl. Enzyklopädie. Ausg. 1827. § 20 Anm. S. 47. Ausg. 1830. S. 74) .

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ihrer Gegenstände, und diese, Hegelisch gesprochen: die Identität einer Sache im Gedanken, ist nicht zu verwechseln mit der Stellung, die man vortheoretisch zu ihnen einnimmt.

§ 11 9 Durch die Äußerung seiner Meinung sucht das Subjekt sich zur Geltung zu bringen und die Frage, ob sie einigermaßen vernünftig ist, verblaßt in seinem Bewußtsein vor dem Anspruch, daß sie eine ganz eigene und individuelle ist, weil andere sonst an­ nehmen könnten, es hätte keine. Vermittels der eingebrachten Position will man als komplette Persönlichkeit (eine mit eigener Meinung) anerkannt und respektiert sein; man ist einer, der die Sache so oder so sieht; als solcher pocht man auf die eigene Meinung, nicht weil man Argumente für sie anzuführen wüßte, sondern weil es die eigene ist. Freilich meint man dabei immer dieses und jenes, und raisonniert über Gott und die Welt. Aber diese Gegenstände der Debatte interessieren subjektiv nurmehr als Material der Eigen-Interpretation. Nachdem jeder seine (von anderen unterschiedene) Meinung gesagt hat, müßte indes eigentlich der Streit beginnen, welche die richtige ist, - unter der Bedingung, daß es um die Sache ginge. Da sich in­ dessen das Bewußtsein der meinenden Subjekte dieser Bedingung verschließt, ist jede der verschiedenen Auslassungen gleichermaßen anerkannt, aber eben relativ. Je­ der besteht auf seiner Sicht der Dinge - die subjektiv gar nicht interessieren - und ge­ steht das auch allen anderen zu, so daß Bemerkungen wie "Ich für mich sehe das so und ich rede hier natürlich nur für mich und will im übrigen nichts gesagt haben, das aber in aller Deutlichkeit..." zu stehenden Formeln werden, und sich umgekehrt der­ jenige den Geruch rabiater Inhumanität zuzieht, der sich erlaubt, auf einer bestimm­ ten Auffassung zu bestehen, "bloß" weil sie nicht widerlegt ist, und es Argumente ge­ gen die andere Position gibt. Kritik und Einwände sind in dieser Sicht ein einziger Anschlag auf die Freiheit, zu denken, wie man will. Dies ist konsequent. Für Sub­ jekte, die durch die Gedanken und Überlegungen, die sie anstellen, nichts als ihre Individualität unterstreichen wollen, ist ein Argument nicht weniger als ein Attentat wider die Ehre und Selbstbestimmung der eigenen Person; es wird damit zur Ursa­ che eines Konflikts. Dessen Lösung besteht in der wechselseitigen Versicherung, für sein Teil habe jeder der Beteiligten Recht, wenn auch nur für seines. Ein Argumentie­ ren, das sich nicht im Augenblick seines Stattfindens, bedenklich gegen sich selbst, zurücknimmt, gilt hingegen folgerichtig als (Vorbote von) Terror12• Darum ist, wenn jemand sich die Mühe macht, gegen eine Meinung Argumente anzuführen, welche deren Voraussetzungen oder Inhalt widerlegen, der Vorwurf an der Tagesordnung, er sei totalitär. Er wird so einer Sphäre zugeordnet, die er gar nicht betreten hat: derjenigen der Gewalt. 12

In dieser Gleichung resümiert sich die Kritik von Hermann Lübbe an Apel und Habermas: wer etwas auf Argumente gibt, wird im nächsten Moment schießen, und sodann die Opfer für seine totali· täre Vernunft vereinnahmen: "Auf der transzendentalen Ebene, in der im kontrafaktischen Ideal auch die Toten Glieder der herrschaftsfreien Kommunikationsgemeinschaft des genus humanum sind oder es doch zu ihrer Lebenszeit waren, weiß der Terrorist sogar noch mit ihnen sich solidarisch" ( Freiheit und Terror. S. 85).

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§ 120 Gesetzt, man wäre bereit, solche Polemik für die ausgeführte Kritik zu nehmen, so wäre hiermit endlich der interessierte Wille getroffen. Denn was die meinende Sub­ jektivität gegen alle Argumente behauptet, ist offenbar ihr Wunschdenken; Wünsche aber zählen zur Sphäre der, in einem weiten Sinne, interessierten Subjektivität. Nun ist dem in einem genaueren Sinne interessierten Willen allerdings geläufig, daß er mit seinen Interessen schwerlich zum Zuge kommt, wenn er die Realität nicht so zur Kenntnis nimmt, wie sie ist. "Wishful thinking" ist seine Inkonsequenz, nicht seine Konsequenz. Freilich sollte dies nicht zu billigen Harmonisierungen verleiten. Denn soviel ist richtig: Daß sich die Erkenntnis der Wahrheit durch die praktischen Vor­ teile empfiehlt, die es normalerweise und aufs Ganze gesehen mit sich bringt, über das, was ist, nicht im Irrtum zu sein, beweist keinesfalls, daß etwas zu erkennen das selbe, oder auch nur etwas ähnliches ist, wie es an einem Interesse zu messen. Inter­ essehalber vorher feststehende Ansichten darüber, was beim Erkennen herauskom­ men soll, sind äußerst geeignet, dieses zu verhindern. An dieser Tatsache ist nicht zu deuteln. Gleichwohl weist bereits Hege! zu Recht darauf hin, daß es sich bei dem Standpunkt des freien Meinens nicht um ein Derivat des empirisch interessierten Willens handelt. Dem letzteren wäre es "um den Gegenstand zu tun", der argument­ los auf sich Insistierende, d.i. der Idealist freien Meinens, hingegen "bleibt bei seinem Willen bloß, weil dies sein Wille ist, ohne einen vernünftigen Grund dafür zu haben": "Dieser hat mit dem absoluten Willen [im Sinne des philosophischen Idealismus] gemeinschaftlich, daß es ihm nicht sowohl um die Sache zu tun ist, sondern vielmehr um den Willen als Willen, daß eben sein Wille respektiert werde"13• Dies Erheischen der Anerkennung des Willens qua Willen, ganz getrennt vom Inhalt seiner Äußerung, markiert die Differenz zum empirisch interessierten Willen, dem es um seinen Inhalt geht. Sie ist auch daran abzulesen, daß der Standpunkt des freien Meinens sich charakteristischerweise als ein Rechtsstandpunkt vorträgt: schließlich habe man ein Recht auf seine eigene Meinung, - was ihm viel wesentlicher scheint als eine Begründung für sie. Ja, gäbe es etwas von der letzteren Art überhaupt - so lautet die Logik dieses Standpunkts -, dann müßte er sich womöglich anderen anschließen, und so auf seine Individualität Verzicht tun. Ein Wille aber, der alle Gründe als Einschränkung seiner Freiheit nimmt, ist jener, den die Schulen unter dem Titel "liberum arbitrium indifferentiae" abhandelten: grundlose Selbstbestimmung. Die leere Form des Willens, der beharrt: "Du kritisierst das, aber ich will ... ", ist eine Variante der Freiheit der Indifferenz, insofern sich das Subjekt auf nichts anderes beruft, als darauf, daß es selber will, was es will, und sich von allem anderen gänzlich unbeeindruckt zeigt. Hiergegen rekurriert im allgemeinen die Kritik, die zuvor dem Formalismus galt, der Gründe in schiere äußere Hindernisse seiner Freiheit umdeutet14• Doch muß sie, soll es nicht bei der bloßen Versicherung bleiben, in für den Standpunkt des freien Meinens spezifischer Weise gefaßt werden. 13

Hegel: Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse. Erläuterungen zur Einleitung § 20. s. 226. " Vgl. §§ 55 - 59.

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Wenn jemand eine Meinung äußert, so mag sich sein Bewußtsein darin erschöp­ fen, in dieser Meinung sich selbst darzustellen. Aber insofern enthält ein solches Be­ wußtsein zugleich eine falsche Abstraktion. Denn auch Meinungen machen unver­ meidlich auf Wahrheit Anspruch. Für diese gibt es aber kein anderes Kriterium als die Qualität der Gründe, die für sie bestehen. Ist diese aber der immanente Maßstab der Meinung, an welchem sich bemißt, ob sie etwas taugt oder nicht, so gibt es keine sinnvolle Freiheit des Meinens, die auch Freiheit von allen Gründen wäre; sie muß vielmehr in der Fähigkeit liegen, Gründe zu verstehen, zu beurteilen, und sich von den für einwandfrei befundenen bestimmen zu lassen. Dieser Begriff von Freiheit, der der Rede von ihr als Einsicht in die Notwendigkeit (zuletzt im Ausgang von einer freilich abgewandelten Wiederaufnahme der Hegeischen Polemik gegen das Mei­ nen15) noch einen neuen, und einleuchtenden Sinn abzugewinnen vermag, ist freilich nicht ganz neu. Er war bereits anwesend in der Selbstwiderlegung des Determinis­ mus16. Die Freiheit, die man einander in allem Streit um einen adäquaten Begriff von Freiheit - wie in jedem Streit, der durch Argumente entschieden wird - unter­ stellt, ist die besagte Fähigkeit, sich von Gründen bestimmen zu lassen. Zwar ließe sich einwenden, hierin liege ein Paralogismus, ein Schluß von einer Bedingung des Wissens auf ein Objekt des Wissens, d.h.: die Erschleichung eines Gegenstandes, wo in Wahrheit nur eine Funktion ist. Aber der Hinweis auf jene Voraussetzung zielt nicht darauf, das theoretische Wissen von irgendwelchen Objekten zu vermehren (und hier ist auf die durchaus gegebene Möglichkeit hinzuweisen, daß die Prüfung eines Falles im Nachhinein ergibt, die besagte Unterstellung sei zu Unrecht gemacht worden}, sondern auf ihre bemerkenswerte Eigenschaft, daß sie noch da in Kraft bleibt, wo sie bestritten wird : Auch ein deterministischer Philosoph argumentiert im­ merhin für seinen Determinismus und bastelt nicht an den Genen oder dem "Milieu" seiner Kontrahenten herum, setzt also voraus, daß das, was einer denkt und tut, sich seiner Einsicht in Gründe verdankt. Und der Vertreter des Karrtischen Gedankens "transzendentale[r) Freiheit"17 "transzendentale, d.i. absolute zugleich"18 - als "reine[r] Selbsttätigkeit" und "reine[r] Spontaneität"19, versucht es ebenfalls mit Ar­ gumenten, und präsupponiert dabei in Sachen Freiheit gleichfalls etwas, das nicht seine Lehre ist: wären die Äußerungen des anderen im besten Falle, dem seiner Freiheit, wirklich Ausdruck absoluter Spontaneität, eine Reihe von Erscheinungen ganz ungeachtet alles ihr Vorausgegangenen20 von selbst anzufangen, so wäre es ab­ surd, ihn zuvor - was sowohl Bestimmung durch Gründe wie auch (denn alles Ver­ stehen von Sprache ist vermittelt durch Sinneswahrnehmung, Hören oder Sehen) de­ ren kausale Effektivität als Ursachen21 unterstellt - von etwas überzeugen zu wollen. Freilich scheint mit dieser Bemerkung eine Korrespondenz suggeriert, die nicht be-

15

Vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. S. 28 - 33. § 62. 1 7 Kritik der praktischen Vernunft A 173. Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 446 B 474, A 532f. B 560f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 109. 8 1 Kritik der praktischen Vernunft A 174. 19 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AB 108. 20 Kritik der praktischen Vernunft A 172f. 21 Eine Wahrnehmung, die nicht durch das Wahrgenommene verursacht wäre, wäre eine Halluzina­ tion. Vgl. § 59. 16

=

=

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steht. Im Geltendmachen der meinenden Subjektivität, die selbstbestimmt und selbstbewußt sich durch kein von anderer Seite vorgebrachtes Argument beeinflus­ sen läßt, liegt zwar der Idealismus eines Willens, der seine Freiheit darin erblickt, sich nichts von außen vorgeben zu lassen. Doch obschon ein solcher Wille als reine Spontaneität auftritt, unterscheidet er sich als meinender von der Kantischen Kon­ zeption freier praktischer Subjektivität durch seine Emphase auf Individualität, - je­ ner Eigenschaft, die dem intelligiblen Ich (der transzendentalidealistischen Instanz der Freiheit) gerade abgeht22• Indes: einen Streit darüber zu führen, was Freiheit ist, würde weder Sinn machen, wenn sie in der Insistenz des "Ich finde" läge, noch wenn sie absolute Spontaneität im Sinne Kants wäre. Wer sich nur aus sich selbst be­ stimmte - mag das Ich nun meinende Subjektivität oder intelligibles Wesen sein -, dem könnten andere nichts mehr mitteilen, was für ihn Bedeutung hätte.

22

Vgl. § 112.

BIBLIOGRAPHIE

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