Zwischen Konfrontation und Integration: Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant 9783050047874, 9783050042992

Hegels Theorie des äußeren Staatsrechts in seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" weist ausdrücklich

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German Pages 242 [232] Year 2007

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Zwischen Konfrontation und Integration: Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant
 9783050047874, 9783050042992

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Zwischen Konfrontation und Integration

Herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko

Hegel-Forschungen Herausgegeben von Andreas Arndt Paul Cruysberghs

Andrzej Przylebski

Zwischen Konfrontation und

Integration Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant

Herausgegeben von

Andreas Arndt und Jure Zovko

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Ministeriums für Wissenschaft, Sport der Republik Kroatien

Bildung

und

ISBN 978-3-05-004299-2 © Akademie

Verlag GmbH, Berlin 2007

Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Daten Verarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

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Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Julia Brauch, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas MUntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal

Republic of Germany

Inhalt

Vorwort

.

7

Andreas Arndt (Berlin) Teufel, Schurken und Erynnien. 9 Werner Becker (Giessen) Kants Konzept des ewigen Friedens in aktueller Perspektive. 23 Kazimir Drilo (Berlin) Die Weltgeschichte und der Krieg als Gegenstände der philosophischen Betrachtung. Überlegungen zu einem Thema aus Hegels Philosophie. 31 Franck Fischbach (Toulouse) L'effacement des figures de l'ennemi et de la guerre chez

Hegel.47

Samir Arnautovic (Sarajevo) Der Internationalismus in Hegels Philosophie der Geschichte. 67 Paul Cruysberghs (Leuven) Überall zuhause fremd überall. Zur Logik der Grenze. 75 -

Vladimir Milisavljevic (Novi Sad / Belgrad) Die Stärke der Existenz: Völkerrecht und internationale Politik bei Kant und Hegel. 85 Hans-Georg Bensch (Hannover) Affirmation und Kritik Aspekte einer Philosophie der weltpolitischen Entwicklung bei Kant und Hegel. 99 -

Leo Seserko (Ljubljana) Die Nichtweitergabe von Atomwaffen in der Perspektive der Logik internationaler Beziehungen bei Kant und Hegel.111 Andrzej Przylebski (Poznan) Kant, Hegel und der Irakkrieg.123 Jure Zovko (Zagreb/Zadar)

„Der Republikanismus ist notwendig demokratisch." Bemerkungen zu Schlegels Kant-Kritik.135 Vahidin Preljevic (Sarajevo) Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis' ,Christenheit oder Europa'.147 Heinz Kimmerle (Zoetermeer) Die demokratische Intention und ihre friedensfördernde Bedeutung bei Kant, Hegel, Derrida und in der Afrikanischen Philosophie.165 Davor Rodin (Zagreb) Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik.177

Jean-François Kervegan (Paris) Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, Supranationalität: ein

widersprüchliches Verhältnis?.201

Walter Jaeschke (Bochum) Die klassische deutsche Philosophie

vor

dem Völkerrecht.217

Zu den Autoren.235

Personenregister.241

Vorwort

Der vorliegende Band vereinigt die Beiträge eines internationalen Symposions, das vom 5. bis zum 9. April 2006 an der Universität Zadar (Kroatien) durchgeführt wurde. Veranstalter waren die Internationale Hegel-Gesellschaft e.V., die Universität Zadar und die Hegel-Gesellschaft Zadar. Der Titel des vorliegenden Bandes stand auch als Formulierung für das Thema der Tagung. „Konfrontation" und „Integration" bezeichnen gegenläufige Tendenzen, deren Verhältnis nicht erst seit der Globalisierung problematisch ist. Die Souveränität der modernen Staaten birgt Risiken der Konfrontation nach innen (Verletzung der Menschenrechte) und außen (Kriege), die durch eine Integration der Staaten in internationale Gemeinschaften minimiert oder sogar ganz ausgeschlossen werden sollen. Kants Idee eines Völkerbundes in der Schrift Zum ewigen Frieden wird heute vielfach als intellektuelle Grundlegung solcher Projekte verstanden. Dagegen weist Hegels Theorie des äußeren Staatsrechts in den Grundlinien der Philosophie des Rechts ausdrücklich Kants Idee als unrealistisch zurück; es gebe „keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch diese nur zufälligerweise." (§ 333) Beide Konzepte die Unausweichlichkeit auch gewaltsamer Konfrontationen der Staaten bei Hegel, die Möglichkeit ihrer rechtlichen Integration bei Kant bilden den Gegenstand dieses Buchs. Dabei geht es nicht nur um die Rekonstruktion der Theorien Hegels und Kants im Kontext auch der Debatten ihrer Zeit, sondern ebenso um ihr Weiterdenken unter den heutigen Bedingungen der Globalisierung und der asymmetrischen, nicht mehr auf staatlichem Niveau geführten Kriege. Die Herausgeber danken der Universität Zadar und auch der Stadt Zadar für die Gastfreundschaft und die Unterstützung des Symposions; zu danken ist auch besonders dem Ministerium für Wissenschaft, Bildung und Sport der Republik Kroatien für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung und der vorliegenden Publikation. -

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Berlin und Zadar, im Juni 2007

Andreas Arndt und Jure Zovko

Andreas Arndt (Berlin)

Teufel, Schurken und Erynnien

Der Titel meiner Ausführungen scheint ein Tryptichon mit Darstellungen der Hölle anzukündigen. Solche Erwartungen werde ich enttäuschen müssen. Zwar vermag die Eule der Minerva im Grau in Grau der einbrechenden Dämmerung unserer Epoche wenig Tröstliches zu erkennen, jedoch ist der Trost ja auch nicht, jedenfalls für Hegel nicht, die Aufgabe der Philosophie. Deswegen ist das Wappentier der Philosophen aber noch nicht, wie der Volksglaube mancherorts annimmt, ein Höllenvogel. Worum also geht

es? Die Teufel, von denen ich sprechen möchte, sind ein Völkchen, das Kant in der Philosophie heimisch gemacht hat, gleichsam als negative Größe in weltbürgerlicher Absicht. Sie sind bekanntlich Gegenstand eines Gedankenexperiments in seinem „Entwurf Zum ewigen Frieden von 1795.l Es sind Teufel vom Schlage des Mephistopheles in Goethes Faust, d. h. Teile „jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft." Einander bösartig gesinnt und nur auf den eigenen Vorteil bedacht, konstituieren sie doch um des Selbsterhalts willen eine Rechtsordnung, in der sie ungeachtet ihfriedlich miteinander leben können. Gerade weil Kant rer unmoralischen Gesinnungen in dieser Schrift auf jedes moralische Sollen verzichtet und nur auf die Aufdeckung eiwie schon Friedrich nes Naturmechanismus aus ist, steht sein Gedankenexperiment Schlegel in seiner scharfsinnigen Kritik betont hat2 unter empirischen Bedingungen. Auf die Herausarbeitung der grundlegenden Bedingungen dieses Experiments kommt es mir daher im ersten Teil meines Vortrags vor allem an. Da wir bekanntlich noch nicht in der Geborgenheit eines ewigen Friedens uns am Höllenfeuer wärmen können, sondern dieses Feuer als selbst heraufgeführtes Inferno nach wie vor die Existenz aller geschichtlichen Akteure bedroht, ist die Konfrontation der Bedingungen eines ewigen Friedens mit dem Ist-Zustand des universellen bellum omnium contra omnes unerläßlich. Ich habe diesen zweiten Teil meines Vortrags unter -

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I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 343-386. F. Schlegel, .Versuch über den Begriff des Republikanismus veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden' (1796), in: Werke. Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von J.-J. Anstett u. H. Eichner, Paderborn u.a. 1958ff., Bd.7, 11-25. Vgl. A. Arndt, ,„Geschichtszeichen". Perspektiven einer Kontroverse zwischen Kant und F. Schlegel', in: Hegel-Jahrbuch 1995, Berlin 1996, 152-159. -

Andreas Arndt

10

den Titel „Schurken" gestellt. „Schurke" ist eine moralische Kategorie, die inzwischen in die Rhetorik der Weltpolitik Eingang gefunden hat. Die Rede vom Reich des Bösen, von Schurken und Schurkenstaaten unterstellt universal gültige Prinzipien des Rechts und der Moral, nach denen sich die Welt in Licht und Finsternis manichäisch scheiden ließe. Jacques Derrida hat in seinem Essay Schurken eindringlich gezeigt, wie in diesem Prozeß, der die staatliche Souveränität auflöst, ohne das Recht der Macht der Macht des Rechts zu unterwerfen, die demokratische Rechtsordnung überhaupt bedroht wird. Ausdrücklich nämlich stellen sich jene, die Anderen als Schurken ihr Recht angedeihen lassen wollen, außerhalb jeder internationalen Rechtsordnung. Hegels Theorie des äußeren Staatsrechts weiß hierfür nicht nur kein Gegenmittel, sondern geht selbst hinsichtlich der rechtlichen Befriedung der Gesellschaften im Inneren von heute illusionär gewordenen Voraussetzungen aus. Die Allgemeinheit des Völkerrechts bleibt ebenso wie die Allgemeinheit der staatlich organisierten Gesellschaften ein bloßes Sollen. In diesem rechtlosen Zustand konkurrierender besonderer Willen wie Hegel treten die Erynnien auf den Plan.4 Aber es ist dann nicht der Begriff, der sagt die Wiedervergeltung ausübt, sondern das verletzte Selbst, das sich blind und beliebig rächt. Die Erynnien setzen der subjektiven Moral der herrschenden Gewalt die ihre entgegen. Der aus jedem rechtlichen Rahmen gefallene Weltbürgerkrieg wird nicht von entfesselten Teufeln, sondern von entfesselten Moralisten geführt, die es gut meinen. Die Bedingungen des Kantischen Experiments haben sich damit verändert: Wie, so ist jetzt zu fragen, läßt sich ein Volk von subjektiven Moralisten in eine sittliche, rechtsförmig gestaltete Gemeinschaft überführen? -

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1. Teufel Kants Entwurf Zum ewigen Frieden ist bereits vielfach und gründlich interpretiert worden und wird auch im folgenden noch aus berufenerem Mund erläutert werden; ich möchte mich daher auf die in meinem soeben skizzierten Zusammenhang wichtigsten Aspekte beschränken. Bemerkenswert ist, daß diese Schrift bereits von vielen Zeitgeals nossen so von Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel, Joseph Görres u. a. -

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J. Derrida, Schurken. Zwei Essay über die Vernunft, Frankfurt/M. 2003. Vgl. C. Alegría, Tragödie und bürgerliche Gesellschaft. Motive und Probleme der politischen Aufhebung des Notstaats bei Hegel, Bern u .a. 1995. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 101, Zusatz. Vgl. z.B. V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden". Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995; Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, hg. v. O. Hoffe, Berlin 1995; Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit, hg. v. K.-M. Kodalle, Würzburg 1996; Frieden durch Recht. Kants Friedensidee und das Problem einer neuen Weltordnung, hg. v. M. LutzBachmann und J. Bohman, Frankfurt/M. 1996.

11

Teufel, Schurken und Erynnien

realitätsfern kritisiert und erst angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts in den Rang einer politisch realisierbaren Friedenskonzeption erhoben wurde. Dabei beansprucht Kant ja durchaus die empirische Realisierbarkeit seiner Konzeption, wenn er es zur politischen Aufgabe erklärt, einen Friedenszustand herbeizuführen, und wenn er gleichzeitig die Bedingung der Auflösung dieses Problems ausdrücklich nicht in eine „moralische Besserung" der Menschen, sondern in einen „Mechanism der Natur" verDie Politik ist hier, in pointierter Abgrenzung zur moralischen Vergesellschaftung, als „ausübende Rechtslehre" bestimmt, also als eine Praxis, die auf der rechtlichen Vergesellschaftung fußt, diese stiftet und exekutiert. Worin besteht dieser Naturmechanismus, der es nach Kant erlaubt, den „Widerstreit ihrer [der Teufel, A.A.] unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen, und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen"? Kant nennt im Zusatz zum zweiten Abschnitt seiner Schrift drei Einrichtungen, mit deren Hilfe die Natur, unabhängig von jeder Moralität, „durch den Mechanism der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden" Es sind dies (1) der Zwang zur Staatsbildung äußeren die durch Druck; (2) Absonderung der Völker durch Sprache und Religion, welche Vermischung und dauerhafte Unterwerfung der Völker verhindere; (3) Handelsgeist und Geldmacht, welche kein Interesse am Krieg hätten. Vor allem mit dem letzteren Punkt stellt sich Kant in die Tradition derjenigen Ökonomen und Moralphilosophen vor allem der schottischen Schule, die in Handel und Gelderwerb eine „ruhige" Leidenschaft sahen, welche die zerstörerische Macht der Affekte produktiv umlenken könne;11 Mandevilles „Private Vices, Publick Benefits" gilt mutatis mutandis auch für

legt.7

garantiert.1

Kant.12

-

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Vor allem aber setzt Kant auf das Motiv der Individuen, sich selbst zu erhalten, und nichts scheint ja natürlicher zu sein als dieses Motiv, strebt doch alles Lebendige nach Selbsterhalt. Damit dieses Motiv zur Geltung gebracht werden kann, muß es sich freilich auch politisch artikulieren und gestützt durch die innere Verfassung des Staates bindende Wirkung auf das Handeln des Staates erlangen können. Daß die bürgerliche in jedem Staate republikanisch sein müsse, wie es der erste Definitivartikel Verfassung 13 meint zunächst genau dies. Die republikanische Verfassung nämlich habe fordert, notwendig zur Folge Kant spricht davon, daß es „in dieser Verfassung nicht anders sein kann" -, daß „die Bestimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu be-

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8 9 10

Kant, Werke, Bd. 8, 366. Ebd., 370. Ebd., 366. Ebd., 368. Vgl. A.O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus

Sieg, Frankfurt/M. 1980. B. Mandeville, The Fable of the Bees; or; Private Vices, Publick Benefits Kant, Werke, Bd. 8, 349. vor

12 13

seinem

(1714).

12

Andreas Arndt

schließen, ob Krieg sein solle, oder nicht"; hierbei sei „nicht natürlicher als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten [...], sie sich sehr bedenken werden, ein solches Spiel anzufangen".14 Notwendig und natürlich ist Kant diese Folge des Republikanismus, weil es hierbei weder auf moralische Einsichten noch auf die Einsicht etwa in völkerrechtliche Normen ankommt. Worauf es einzig ankommt, ist, daß das natürliche Motiv der Sicherheit des Selbsterhalts von allen Individuen als Urteilskriterium in praktischer Absicht gebraucht werden und dieses Urteil bindende Wirkung erlangen kann. Kant setzt hier aufklärerisch ganz auf den vielgeschmähten gesunden Menschenverstand, dem sogenannte höhere Zwecke zurecht suspekt sind, wenn es ans eigene Leben geht. Auch der zweite Definitivartikel („Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein") basiert letztlich auf dieser von Kant angenommenen notwendigen Folge einer republikanischen Verfassung. Der „freie Föderalism" ist hier „das Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes"; er geht „auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats für sich selbst und zugleich anderer verbündeter Staaten", ohne sie Zwangsgesetzen zu unterwerfen.1 Das Interesse an der eigenen Freiheit korrespondiert auf der Ebene des Staates dem individuellen Motiv des Selbsterhalts, das zu seiner Realisierung einer republikanischen Verfassung bedarf. So ist auch ein republikanisch verfaßtes Volk für Kant gewissermaßen der Kristallisationskern der Föderation für den Frieden, weil die Interessen der Bürger von vornherein dem Krieg entgegenstehen. Gleichwohl zeigt der zweite Definitivartikel einen Bruch in Kants Argumentation an. Die Konstruktion des Föderalismus ergibt sich nicht mehr aus einem Naturmechanismus, und d. h. nach Kant: nach einem Naturgesetz der Kausalität. Der hierfür entscheidende Punkt ist, daß Staaten nicht unter einem „gemeinschaftlichen äußeren Zwang stehen"16 und dies nach Kant auch nicht wollen.17 An die Stelle des äußeren Zwangsmechanismus tritt daher das „Surrogat" eines bürgerlichen Gesellschaftsbundes, womit offenbar auf das „Reich der Tugend" in der Religionsschrift (1793) angespielt wird, das ja als ethischer Staat ohne Zwangsgesetze konzipiert ist.18 Wo der Naturmechanismus versagt, wird das natürliche Motiv des Selbsterhalts durch die in der Vernunft begründete Pflicht des Menschen gegen sich selbst substituiert und auf eine moralische Ebene verlagert. Entsprechend wird die wenn auch nur verbale Huldigung der Staaten an das Völkerrecht als Beweis für eine moralische Anlage im Menschen -

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hervorgehoben,19

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Ebd., 351. Ebd., 356 Ebd., 355. Ebd., 357. Vgl. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd.6, Berlin 1907, 98ff. Vgl. Kants „Ethisches Gemeinwesen", hg. v. M. Städtler, Berlin 2005; bes. die Beiträge von Bettina Stangneth (,Die Religion als Übergang zur Weltpolitik', 197-206) und Matthias Lutz-Bachmann (,Das „ethische Gemeinwesen" und die Idee der Weltrepublik', 207-219). -

Kant, Werke, Bd. 8, 355.

13

Teufel, Schurken und Erynnien

eine Vorwegnahme des im Streit der Fakultäten (1798) angeführten „Geschichtszeichens" für den moralischen Fortschritt der Menschheit, nämlich den Enthusiasmus der 20 Beobachter der Französischen Revolution. Der dritte Definitivartikel („Das Weltbür21 gerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein" ) ergibt sich dann als Konsequenz eben dieser moralischen Vergesellschaftung. Tatsächlich sieht Kant sich ja auch gezwungen, zur Garantie des ewigen Friedens den Naturmechanismus durch eine Naturabsicht zu ergänzen. Er vertraut die Gewährleistung des Friedens der „großen Künstlerin Natur", dem „Schicksal" oder der „Vorsehung" als einer 22 Die Nauns unbekannten und auch nicht erkennbaren causa finolis des Weltlaufs an. tur arbeitet dem moralischen Endzweck der Menschen zu und kommt ihnen „zu Hülfe", indem sie selbst auf diesen Zweck hin gerichtet ist. Es handelt sich hierbei um eine Idee, die „zwar in theoretischer Absicht überschwenglich, in praktischer aber [...] dog23 matisch und ihrer Realität nach wohl gegründet ist"; sie lange „in praktischer Absicht" zu, indem sie es zur Pflicht mache, „zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten." Nun sind erhebliche Bedenken daran angebracht, daß Teufel sich vom Sittengesetz beeindrucken ließen. Sieht man davon einmal ab, so kann auch die Friedfertigkeit des Handelsgeistes und der Geldmacht keineswegs zweifelsfrei vorausgesetzt werden. Und was schließlich den Republikanismus betrifft, so möchte man wünschen, es wäre so, da die Staatsbürger über Krieg und Frieden entscheiden würden. Kants Gründe für einen dem Frieden förderlichen Naturmechanismus und damit jenseits aller methodischen auch für die Annahme einer NaturabProbleme, die dieses Konstrukt mit sich bringt sicht sind jedenfalls alles andere als evident. Vorerst jedenfalls, und diesen Weg hat Kant ja auch vorgezeichnet, scheint es im Interesse einer Lösung der Aufgabe sinnvoller zu sein, sich mit dem Zustand einer Welt zu befassen, in der die Staaten weder unter einer Zwangsgewalt stehen, noch eine föderale Vereinigung erreicht haben, die den Frieden garantieren könnte. Tatsächlich hat ja auch Kant im Anhang seiner Schrift die vertragstheoretischen und auf einer Naturteleologie basierten Voraussetzungen zur Gewährleistung des ewigen Friedens letztlich zugunsten eines moralischen Appells abgewertet: „Trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohlthat des ewigen Friedens) von selbst zufallen." Wir befinden uns damit in einer rechtlich nicht geregelten Sphäre, die -

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Vgl. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, Berlin 1907, 79 ff. Kant, Werke, Bd. 8, 357. Ebd., 360f. Ebd., 362. Ebd., 368. Vgl. A. Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, 107-110. Kant, Werke, Bd. 8, 378; vgl. W. Jaeschke, ,Der Weg zum ewigen Frieden', in: Die Aktualität der Philosophie Kants, hg. von K. Schmidt, K. Steigleder und B. Mojsisch, Amsterdam u.a. 2005, 89-104.

Andreas Arndt

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insofern nur moralische Bewertungen zuläßt. Stand der Teufel für ein Gedankenexperiment, das in seinen Ausgangsvoraussetzungen von aller Moral abstrahierte, wenn es auch in einem moralischen Appell endete, so finden wir hier, gleichsam als Metamorphose des Teufels im Gebiet der Moral, den Schurken.

2. Schurken Nach Auskunft des im 18. Jahrhundert gebräuchlichen Grammatisch-kritischen Wörterbuchs von Adelung ist der Schurke „ein in den gemeinen Sprecharten aller Deutschen Provinzen sehr übliches Schmähwort, eine nichtswürdige männliche Person von jeder Art zu bezeichnen."27 Die moralische Wertung ist unüberhörbar. Als Schurke gilt auch der Landstreicher, der Nichtseßhafte, der sich der gesellschaftlichen Aufsicht und Kontrolle entzieht und damit aus der Gemeinschaft ausschließt. Der Schurke ist demnach der Andere zum rechtschaffenen, akzeptierten Glied der Gemeinschaft, die das moralische Urteil über ihn spricht. Indessen: welche Gemeinschaft, und wie, nach welchen Normen und Verfahrensregeln spricht sie ein Urteil? Für Kant stände es außer Frage, daß die Norm des moralischen Handelns universell allgemein sei und den Menschen eben deshalb als Selbstzweck betrachten müsse. Darin liegt, daß dem Schurken wenigstens die Einsichtsfähigkeit in sein schurkisches Wesen unterstellt und an diese appelliert werden müsse und könne. Als der moralischen Einsicht fähiges Wesen überhaupt steht der Schurke auf einer Ebene mit dem Nicht-Schurken, was ihn, trotz der moralischen Verurteilung, nicht prinzipiell aus der moralischen Gemeinschaft ausschließt. Analoges gilt für das Recht. Indem die Allgemeinheit des Rechts ohne Ansehen der Person gilt, ist auch der Verbrecher als Person und Mitglied der Rechtsgemeinschaft gerade dann anerkannt, wenn er nach den Normen des Rechts zur Verantwortung gezogen wird. In beiden Fällen, sowohl bei der universellen Moral als auch beim abstrakten Recht, wird der Ausgegrenzte wiederum auch eingeschlossen oder der Ausschluß erfolgt auf der Grundlage der Gemeinschaft und innerhalb ihrer selbst. Jacques Derrida hat in seinem bereits erwähnten Essay Schurken in diesem Zugleich von Ausschließen und Einschließen den Grundzug demokratisch verfaßter Gemeinwesen erblickt, der tendenziell universell sei und damit auch auf das Gebiet der internationalen Beziehungen übergreife: die Demokratie habe „stets nacheinander und gleichzeitig zwei miteinander unvereinbare Dinge gewollt: Sie hat einerseits nur Menschen unter der Bedingung daß sie Staatsbürger sind -, Brüder und Gleich aufnehmen und die anderen, insbesondere die schlechten Bürger die Schurken [...] aus-

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Bd.3, Sp. 1685.

15

Teufel, Schurken und Erynnien schließen wollen und andererseits, gleichzeitig oder nacheinander, sich öffnen wollen, allen diesen Ausgeschlossenen Gastfreundschaft anbieten wollen."

Nimmt man diesen Gedanken in der Hinsicht auf, daß der Ausschluß nie absolut sein kann und darf, so ergibt sich eine Konsequenz, in der ich Derrida zustimmen möchte. Es sei „im Namen der Vernunft erforderlich, eine Logik der nationalstaatlichen Souveränität in Frage zu stellen und zu begrenzen", die sich auf das „Prinzip der Unteilbar29 keit", das „Ausnahmerecht" und das „Recht zur Aufhebung des Rechts" stütze. Das so definierte Prinzip der nationalstaatlichen Souveränität bedeutet in der Tat den Ausschluß derjenigen, deren prinzipieller Einschluß Merkmal jedes demokratischen Rechtsstaates sein muß. Für die Logik internationaler Beziehungen heißt dies in der Tat, daß der Grundsatz der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten zurecht in Frage gestellt wird; bereits Hegel hatte ja die Widersprüchlichkeit dieses Prinzips unter dem Gesichtspunkt der wechselseitigen Anerkennung der Staaten dargelegt: „Aber diese Anerkennung fordert eine Garantie, daß er [der Staat] die anderen, die ihn anerkennen sollen, gleichfalls anerkenne, d.i. sie in ihrer Selbständigkeit respektieren werde, und somit kann es ihnen 30 nicht gleichgültig sein, was in seinem Innern vorgeht." Die Logik der Anerkennung der Staaten weist demnach genau diejenige Struktur auf, die wir bereits bei der Logik des Ausschlusses und Einschlusses gesehen hatten. Weder kann der einzelne Staat sich absolut aus der Gemeinschaft der Staaten ausschließen, die doch seine Anerkennung tragen soll, noch kann ein Staat durch einen anderen oder durch andere aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden, weil er dann als rechtlos definiert wäre. Was bedeutet das für die Schurken auf internationaler Bühne? Schurken sind, so läßt sich vorläufig sagen, diejenigen, die einen solchen Ausschluß betreiben. Sei es, daß sie sich selbst absolut und das heißt: schlechthin souverän außerhalb der Gemeinschaft stellen, oder daß sie kraft ihrer Souveränität andere Staaten aus dieser Gemeinschaft absolut ausschließen. Eine solche Gemeinschaft ist heute vertragsförmig konstituiert durch die Charta der Vereinten Nationen, die in den internationalen Beziehungen die Androhung oder Anwendung von Gewalt durch einzelne Mitgliedsstaaten ächtet. Eine Ausnahme bildet das in Analogie zum individuellen Notwehrrecht stehende Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51, dessen Ausübung jedoch einer Kontrolle durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unterliegt. Im übrigen steht es dem Sicherheitsrat zu, über friedliche oder nichtfriedliche Maßnahmen der Staatengemeinschaft zu befinden, um Aggressoren in die Schranken zu weisen. Tatsächlich haben die -

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Derrida formuliert eine Antinomie, die er jedoch trotz des Hegelianiauf einer schen Anklangs allgemeinen Ebene als „différance" ansieht: „Die Demokratie ist nur, was sie ist, nur in der différance, in der sie (sich) von sich unterscheidet." (Ebd., 62)

Derrida, Schurken, 93.

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Ebd.,212f.

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 331.

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Andreas Arndt

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Verpflichtungen, die sich aus der Charta ergeben, jedoch sehr enge Grenzen, sofern die inneren Angelegenheiten wiederum, wie es in Art. 2,7 geschieht, in die Souveränität der einzelnen Staaten gestellt werden: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der Vereinten Nationen zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören, oder eine Verpflichtung der Mitglieder, solche Angelegenheiten einer Regelung auf Grund dieser Charta zu unterwerfen, nicht abgeleitet werden." Dies betrifft besonders die Förderung der Menschen- und Freiheitsrechte, die sich die Staaten angedeihen lassen sollen, ohne auf ihre Einhaltung verpflichtet zu sein. Der vertragsförmige Rahmen der internationalen Gemeinschaft impliziert demnach mit Ausnahme des Ausschlusses von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele keinerlei Verpflichtung der Einzelstaaten auf allgemeine Normen, geschweige denn eine Gewalt zur Sanktionierung von Verstößen gegen solche Normen. Es handelt sich aber auch um kein „Reich der Tugend" im Kantischen Sinne, denn eine ethische Wertegemeinschaft wird gerade aufgrund der offenbar gewollten unterschiedlichen inneren Handhabung der Menschen- und Freiheitsrechte nicht zu unterstellen sein. Nach dem, was tatsächlich als vertragsförmig anerkannter Inhalt der internationalen Gemeinschaft gelten kann, wären Schurken diejenigen, die einseitig Gewalt androhen oder anwenden bzw. dies nicht durch das zuständige Organ der internationalen Gemeinschaft, den Sicherheitsrat, legitimieren lassen; die moralische Ächtung fiele letztlich mit der Feststellung eines vertragsrechtlichen Regelverstoßes zusammen. Alle anderen Wertungen, die Staaten moralisch disqualifizieren sollen, fallen in die Sphäre einer Auseinandersetzung um Normen, deren Verbindlichkeit von vielen Seiten, mit welchem Recht oder Unrecht auch immer, in Frage gestellt wird. Indessen bilden solche Wertungen nicht erst seit heute die Grundlage dafür, Staaten außerhalb der Charta der Verein-

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zu stellen, um an ihnen mit Gewalt das vermeintliche moralische Recht zu exekutieren, für dessen Normen man die Deutungshoheit selbst beansprucht. Robert S. Litwak, unter Clinton Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates der USA, formulierte diese Deutungshoheit, übrigens in rein affirmativer Absicht, so: „A rogue State is 31 whoever The United States says it is". Aus einer beeindruckenden Liste ähnlicher,

ten Nationen

auch offizieller Verlautbarungen hat Noam Chomsky in seinem vor dem September 32 2001 publizierten Pamphlet Rogue States, The Rule of Force in World Affairs den nicht ganz unberechtigten Schluß gezogen, die Vereinigten Staaten seien der wahre und hauptsächliche Schurken- und Verbrecherstat, weil sie sich mit dem Recht des Stärkeren und einer selbstdefinierten Moral die Ausnahme von allen völkerrechtlichen Normen vorbehielten. Ich möchte diesen Punkt hier nicht weiter vertiefen, wobei jedoch erinnert werden muß, daß die Verweigerung solcher Ausnahmestellung für jede Willkür auf internatio-

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Zit. bei Derrida, Schurken, 136. N. Chomsky: War Against People. Menschenrechte und 2001.

Schurkenstaaten, Hamburg und Wien

Teufel, Schurken und Erynnien

17

nalem Parkett gelten muß und die Beschränkung der Souveränität zur Konsequenz hat. Hierin liegt das grundsätzliche Problem, das die moralische Zuschreibung „Schurke" aufwirft. Soweit sie nach willkürlichen und nicht allgemein verbindlichen Regeln erfolgt, unterliegt sie derjenigen Logik, die Hegel in der Phänomenologie als „Gesetz des Herzens" analysiert hat.33 Diese Logik ist dadurch bestimmt, daß das sich verwirklichende Selbstbewußtsein die Allgemeinheit seiner Individualität faktisch setzt, sie aber epistemisch verfehlt. Auf unser Problem bezogen: es wird der Bedingungen nicht gewahr, unter denen allein sein moralisches Urteil allgemein und objektiv Geltung erlangen könnte. Indem das Individuum und hier: der Staat sich mit dem Anspruch, Regeln setzen zu können, zugleich als Ausnahme von der Regel setzt, geht, um Hegel zu zitieren, das „Herzklopfen für das Wohl der Menschheit [...] in das Toben des verrükken Eigendünkels über". Die abstrakte Allgemeinheit, die auf diese Weise konstituiert wird, „ist daher nur ein allgemeiner Widerstand und Bekämpfung aller gegen einander",35 ein wechselseitiger Ausschluß, der trotz der Prätention auf Allgemeinheit nicht zugleich einzuschließen vermag, wie es ein gesittetes Miteinander erfordern würde. Eine solche sittliche Bindung der Souveränität der Staaten wäre freilich nur in einer Anerkennung rechtlicher Prinzipien zu erwarten, die da eine internationale Sanktionsgewalt fehlt nur als Ergebnis quasi einer Internalisierung solcher Prinzipien durch die einzelnen Staaten Zustandekommen könnte. Eine solche Unterwerfung unter das Recht wird aber gerade von der westlichen Führungsmacht seit langem abgelehnt. Der Ausnahmezustand, in den die Vereinigten Staaten sich seit dem 11. September 2001 versetzt sehen, und der in Guantánamo und weltweiten Folterlagern zur Konstitution rechtsfreier Räume geführt hat, ist nur die Fortsetzung einer Ausnahme, die schon immer in Anspruch genommen wurde. Solange der Weltlauf der in der Phänomenologie aufgezeigten Logik folgt, sind die Schurken jeglicher Couleur in Wahrheit subjektive Moralisten, die einen Kampf Aller gegen Alle um moralische Ansprüche inszenieren. Es ist dies die zweite Metamorphose der Teufel, die nunmehr nicht böse, sondern gute Gesinnungen hegen. Dieser Gestalt wende ich mich nun zu. -

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-

G.W.F.

Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg.

(Gesammelte Werke,

von

W.

Bonsiepen u. R. Heede, Hamburg

1980

Bd. 9), 202-207.

Ebd., 206. Ebd., 207.

Vgl.

die

Belege

bei

Chomsky,

War

Against People, Kap. 1. So verkündete schon 1963

Dean

Acheson, daß die „Angemessenheit", mit der die USA auf Bedrohungen „der Macht, der Position und des

Prestiges" reagierten, „kein Gegenstand des Rechts" sein könne (ebd., 8).

Andreas Arndt

18

3.

Erynnien

Staatsrecht basiert darauf, daß das Moment der Willkür im Verhältnis der Staaten zueinander deshalb nicht eliminierbar sei, weil sie „als besondere Willen gegeneinander sind, und das Gelten der Traktate selbst hierauf beruht"; der be37 sondere Inhalt dieses Willens aber ist das „Wohl" des Staates. Die besonderen Willen verschiedener Staaten können in Verträgen eine Übereinkunft finden oder es kann ein Interessenkonflikt durch Krieg entschieden werden, aber der Krieg ist nur ein vorübergehender, weil die Staaten sich auch im Krieg als Staaten gegenseitig anerkennen, nämlich als solche, welche Subjekte eines möglichen Friedensvertrages sind. Dies ist 38 gewissermaßen eine völkerrechtliche Minimalbestimmung, die unter allen Umständen gilt und aus der bloß vertragstheoretischen Vergesellschaftung auf internationaler Ebene erwächst. In einer für ihn ungewöhnlichen sollensethischen Formulierung sagt Hegel in diesem 39 Zusammenhang, der Krieg sei ein „Vorübergehensollendes". Tatsächlich handelt es sich hierbei wohl kaum um eine laxe Redeweise, denn die Staaten befinden sich „im Naturzustande gegeneinander, und ihre Rechte haben nicht in einem allgemeinen zur Macht über sie konstituierten, sondern in ihrem besonderen Willen ihre Wirklichkeit." Eine Übereinkunft der Staaten beruht daher, wie Hegel kritisch gegen Kant einwendet, immer auf „besonderen souveränen Willen" und erreiche daher nicht die Allgemeinheit eines an und für sich geltenden Völkerrechts, das eine Zwangsgewalt jenseits der besonderen Willen, einen „Prätor", voraussetzen würde. Da dies nicht der Fall sei, bleibe „jene allgemeine Bestimmung" des Völkerrechts „beim Sollen"; es sei ein „gelten sollendes Recht" und damit, so ist zu folgern, eigentlich kein Recht, sondern ein sollensethischer Imperativ. Die von Kant intendierte Einstimmung der Staaten beruhe daher auch nicht auf rechtlichen, sondern „auf moralischen, religiösen oder welchen Gründen". Ein über das Vertragsrecht hinausgehendes Völkerrecht ist für Hegel stricto sensu ein moralisches Sollen. Insofern stimmt er mit Kant darin überein, daß angesichts des Fehlens einer im übrigen von den Staaten nicht gewollten internationalen Zwangsgewalt der Frieden nur von einer moralischen Vergesellschaftung der Staaten erhofft werden könne; allerdings sieht Hegel im Unterschied zu Kant keine Chancen, einem Sollen auch Realität zu geben. Davon ist aber in der Konsequenz auch der Restbestand des Völkerrechts, daß der Krieg ein „Vorübergehensollendes" sei, abhängig von einem besonderen Willen. Das Fehlen eines weitergehenden Völkerrechts ist bei Hegel in der Ansicht begründet, daß Staaten anders als die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft nur in

Hegels Theorie des äußeren

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Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 336. Ebd.

Ebd., § 338. Ebd., § 333; auch das folgende.

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Teufel, Schurken und Erynnien

minimalen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnissen zueinander stehen. Sie bilden keine Sphäre der Sittlichkeit aus, die über das Vertragsrecht hinaus rechtlich geregelt und eingefaßt werden müßte. In der bürgerlichen Gesellschaft, so erläutert Hegel, stünden „die Einzelnen nach den vielfältigsten Rücksichten in gegenseitiger Abhängigkeit [...] da hingegen selbständige Staaten vornehmlich sich in sich befriedigende Ganze sind." Hinter dieser Annahme steht eine weitere, die das innere Gefüge der Nationen betrifft. Nach Hegel ist es die Aufgabe des Staates, die maßlose Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft einzufassen und zu beherrschen, wobei Hegel trotz aller Einsichten in die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Tendenz, sich über alle Schranken hinwegzusetzen davon ausgeht, daß die bürgerliche Gesellschaft und vor allem das „System der Bedürfnisse" politisch beherrschbar bleibt. Nur unter dieser Voraussetzung kann der Staat die Ökonomie auch als Nationalökonomie organisieren und das Geflecht internationaler Abhängigkeiten beschränken. Es bedarf indessen wohl keiner umständlichen Erläuterung, um einsichtig zu machen, daß Hegels schlimmste Befürchtungen sich bestätigt haben: Die bürgerliche Gesellschaft hat sich nicht nur der Kontrolle der Staaten entwunden, sondern diese vielmehr weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Sie hat ein globales Netz von Abhängigkeiten etabliert, die sich der Politik als scheinbar alternativlose Sachzwänge aufherrschen und das Handeln der Staaten diktieren. Sie hat die Staaten selbst in Abhängigkeit von internationalen Finanzmärkten gebracht, deren Ressourcen die Finanzmittel auch der reichsten Staaten zusammengenommen um ein vielfaches übertreffen. Wenn es die Aufgabe des Staates war, die bürgerliche Gesellschaft als ein Negatives negativ zu behandeln, wie es bereits im Naturrechtsaufsatz heißt, dann verfügt er heute kaum noch über Mittel dazu. Die bürgerliche Gesellschaft hat sich im weiterhin fast ausschließlich vertragsrechtlich regulierten Raum der internationalen Beziehungen eingerichtet und damit der Unterwerfung unter die positive Macht der Sittlichkeit und des Rechts entzogen. Es fehlt der Prätor, der sie unter ein allgemeines Recht zwingen könnte, und auch die nationalstaatlichen Prätoren haben in bezug auf die globale Krake, als die sich das System der Bedürfnisse präsentiert, weitgehend abgedankt. Daß die Staaten „in sich befriedigende Ganze" seien und die bürgerliche Gesellschaft beherrschen könnten, wie Hegel annahm, ist heute nicht weniger ein ohnmächtiges bloßes Sollen als die Idee eines allgemein verbindlichen Völkerrechts. Als ein System der Negativität wohnt der sogenannten politischen in Wahrheit der Politik entzogenen Ökonomie Gewalt inne. Sie schließt Völker, Klassen und Schichten von den Reichtümern der Welt aus, produziert relative und absolute physische und psychische Verelendung sowohl im internationalen Maßstab als auch im Inneren der Gesellschaften. Dieser Ausschluß zerstört die Allgemeinheit des Gemeinwesens und -

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Ebd., § 332.

Hegel, Jenaer kritische Schriften, hg. (Gesammelte Werke, Bd. 4), 450.

G.W.F.

von

H. Buchner und O.

Pöggeler, Hamburg 1968

Andreas Arndt

20

damit seine Legitimation bei den Ausgeschlossenen. Wo Würde und Respekt versagt werden, sucht sie das verletzte Selbst zurückzugewinnen, indem es sich, egal wie und bei wem, Respekt verschafft. Als bloßes Instrument gewaltsamer Befriedigung zugunsten des Systems wahrgenommen, das den Ausschluß produziert, kann aber auch das Recht sich dagegen nicht mehr Respekt verschaffen. Wo aber das Recht als menschliches Gesetz abdankt, treten die alten chtonischen Rachegöttinnen auf den Plan. Hegel hat dies in der Phänomenologie im Gegensatz zweier sittlicher Mächte, des menschlichen und göttlichen Gesetzes, vorgeführt. Zwar geht das Unrecht, welches der Einzelne hier erleidet, nicht vom Gemeinwesen aus, aber in der Tat ist ja das System der Ökonomie auch nicht das sittliche Gemeinwesen. Wenn der Einzelne, wie Hegel schreibt, „rein zum Dinge" gemacht wird, dann ist er selbst „die unterirdische Macht, und es ist seine Erynnie, welche die Rache betreibt". Solche Rache, so heißt es im Zusatz zum § 102 der Rechtsphilosophie, „ist die Handlung eines subjektiven Willens" und nicht des allgemeinen Willens des Gesetzes. Die Wiedervergeltung, welche das Recht ausübt, ist gewissermaßen die in den Begriff aufgehobene Erynnie, die dann aber auch der subjektiven Willkür überhoben ist. Umgekehrt zeigt das Erwachen der Erynnien den Verfall des Gemeinwesens an. Die Erynnien sind dabei aber bloß negativ; sie gleichen dem, wogegen sie sich richten. Die verzerrten Fratzen der herrschenden Gewalt sind von denen, die sich aufgrund dieser Gewalt rächen, nicht zu unterscheiden. Die Rache ist als bloß subjektive keine bestimmte Negation; sie schlägt blind und beliebig zu, damit das Selbst sich als Akteur und nicht mehr nur als Ding zu spüren bekommt, und sei es auch nur im finalen Augenblick seines Lebens, wenn es mit Anderen auch sich zerstört. In den Erynnien erscheint nicht die List der Vernunft, sondern jene Naturhaftigkeit, welche Vernunft aufheben wollte. Wenn die Macht sich wie in dem Ausschluß der „Schurken" ihre Moral definiert, dann tritt ihr die subjektive Moral derjenigen entgegen, welche die Macht verletzt hat. Wie aber läßt sich ein in konkurrierende moralische Ansprüche zerfallenes Allgemeines unter die Form vernünftiger Allgemeinheit bringen, oder: wie läßt sich ein atomisiertes Volk von Moralisten vergesellschaften? Allein die Allgemeinheit des Rechts könnte nach Hegel den inneren und äußeren Frieden stiften, aber es müßte dazu sich den Kampfplatz der Moralen unterwerfen, auf dem die Erynnien hausen. Dieser aber hat sich schon längst dem Zugriff der Mächte entzogen, die heute noch über die Gewalt des Rechts verfügen. Im dritten Teil der Orestie, den Eumeniden, beschreibt Aischylos, wie Athene an die Stelle der archaischen Wiedervergeltung das Recht setzt, welches der Areopag künftig zu sprechen hat. Die alten chtonischen Gottheiten, die Erynnien, werden dennoch nicht einfach verbannt, sondern geradezu im Hegelschen Sinne „aufgehoben". Sie werden als die Eumeniden, die „Wohlmeinenden" Schutzgötter vor natürlichen Übeln. Da be-

Hegel, Phänomenologie, 250.

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Teufel, Schurken und Erynnien

kanntlich die antiken Gottheiten nicht mehr unter den Menschen wandeln, werden wir unsere Hoffnung nicht auf Athene setzen können. Aber Athene steht ja als Göttin der Weisheit zugleich für die Vernunft, die hoffentlich im moralischen Wettlauf noch nicht ganz zerrieben worden ist. Die Einsicht der Vernunft könnte, wie auch im Inneren der Staaten, nur darin bestehen, daß die Moralität hier: die Moralisierung der internationalen Beziehungen in eine auch institutionell und rechtlich verfaßte Sittlichkeit aufzuheben sei. Dies hieße, mit Hegel und zugleich über Hegel hinaus diejenigen Potenzen zu mobilisieren, die in den Ansätzen eines Völkerrechtes schon vorliegen. Ein solches Unterfangen dürfte aber vermutlich nur dann dauerhaft Chancen auf Erfolg haben, wenn es gelingt, die gesellschaftlichen Strukturen zu transformieren, die heute Grundlage der zur abstrakten Allgemeinheit entfesselten Partikularität auch in der internationalen Politik sind. Ob wir einer vernünftigen Regulierung der Verhältnisse der gesellschaftlichen Individuen und der Staaten zueinander noch fähig sind, dies allerdings wird uns die Eule der Athene erst sagen können, wenn unsere Epoche so oder so abgelebt ist. -

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Werner Becker (Giessen)

Kants Konzept des ewigen Friedens in aktueller Perspektive

Zu Kants Zeit war es utopisch, an die Verwirklichung einer internationalen Friedensordnung zu denken. Gerade Kant war sich im Klaren über den unrealistischen sozusagen nur philosophischen Charakter seines Nachdenkens über eine Weltfriedensordnung. In der Einleitung seines Friedensschrift möchte er es dahingestellt sein lassen, -

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„ob diese satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts (zum ewigen Frieden), worauf ein Kirchhof gemalt war, für Menschen überhaupt, oder besonders für die Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur für die Philoso-

phen gelte, die jenen süßen Traum träumen."

Solange eine Ordnung dieser Art ein unerreichtes Ziel war, besaßen ihre philosophischen Begründungen als rationaler Ausdruck der Sehnsucht danach einen guten Sinn. In unserer Epoche leben wir jedoch spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem Dach einer solchen Ordnung, nämlich der der Vereinten Nationen. Unter deren Schirm bedarf der Anspruch, eine Friedensordnung für die Welt zu sichern, keiner prinzipiellen philosophischen Rechtfertigung mehr. Die realpolitische Evidenz ersetzt jede derartige Begründung. Es geht heute nicht mehr um das Ob oder Dass einer internationalen Friedensordnung, sondern um das Wie, sprich: um die Art und Weise ihrer Ausgestaltung. Kant hat in seiner Friedensschrift die Hoffnung befördern wollen, dass das republikanische Prinzip allein, wenn es denn von allen Staaten einmal übernommen würde, die wohltätige Wirkung des Friedens zu entwickeln vermöchte, ohne dass die Staaten auf ihre Souveränität

zu

verzichten brauchten.

Er spricht vom Friedensbund, der sich vom zwischenstaatlichen Friedensvertrag dadurch unterscheide, „dass dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte." Die Ausführbarkeit des Foedus Pacificum erwartet er jedoch nicht von der Gründung einer zentralen Weltorganisation, sondern von der Verbreitung der republikanischen Staatsform in der Welt: wenn das Glück es so fügt, dass nämlich ein mächtiges unaufgeklärtes Volk sich zu eiRepublik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muss) bilden kann, so gibt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie an-

„denn ner

I. Kant, Zum

Ewigen Frieden, in: Werke, hg. von W. Weischedel, Bd. 9, Darmstadt 1964, 195.

Werner Becker

24

um so den Zustand der Staaten, gemäß der Idee des Völkerrechts, zu sichern, und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten."

zuschließen,

Im Hinblick auf die Erwartungen der natürlichen Friedlichkeit der Republik benennt er als zentrales Argument, dass der „Handelsgeist mit dem Kriege zusammen nicht bestehen kann und früher und später sich jedes Volkes bemächtigt". Den Prozess der Entstehung des „ewigen Friedens" garantiere in langfristiger Perspektive sogar die menschliche Natur. Sorge doch der natürliche Eigennutz der Menschen, im Verein mit der ebenfalls naturgegebenen Güterknappheit, dafür dass sich die Menschen in allen Weltgegenden in Form von Gemeinschaften niederlassen. Und gerade die Verschiedenheit der Kulturen lasse es am Ende zu einer Vereinheitlichung der Menschheit durch die friedliche Konkurrenz zwischen ihnen kommen: „zum Einverständnisse in einem Frieden, der durch das Gleichgewicht aller Kräfte, im lebhaftesten Wetteifer derselben, hervorgebracht und gesichert wird." Wenn wir die Kantische Friedensidee aus der gegenwärtigen Perspektive beurteilen, müssen wir zunächst einmal feststellen, dass eine Organisation, wie wir sie heute in Gestalt der Vereinten Nationen haben, mit seinem Konzept nicht vereinbar wäre, alldieweil Kant den Weltstaat ablehnte, der für ihn durch jede Art einer zentralen Weltstaatsinstanz verkörpert wird. Man hat sich in unserem lahrhundert stets fälschlich auf ihn berufen, indem man ihn zum ideellen Vater der Idee eines internationalen Völkerbundes der Staaten machte. Man muss dies der Korrektheit halber klarstellen, obwohl es für uns Deutsche sicher ehrenvoll wäre, wenn wir die Konzeptionen von Völkerbund und Vereinten Nationen auf dem geistigen Konto unseres größten Philosophen verbuchen dürften. Im Hinblick auf Kants Konzept kann die Frage heute nur lauten, welche Rolle es neben der institutionalisierten Idee der Vereinten Nationen spielen könnte. Um diese Frage zu beantworten, führe ich die Unterscheidung zweier Perspektiven ein, wie man internationales Ordnungsrecht interpretieren und ausgestalten kann. Wie sich zeigen wird, spielen beide auch die zentrale Rolle im Kantischen Friedensprojekt. Die eine Perspektive nenne ich die juridische, die andere die ökonomische. Beide Perspektiven unterscheiden sich in wesentlichen Punkten, ja, legen darüber hinaus einander entgegengesetzte Folgerungen in Bezug auf das fundamentale Verständnis einer internationalen Ordnung nahe. Ich skizzierte zunächst die beiden Perspektiven und gehe dann auf das Spannungsverhältnisse beider ein, welches auch für Kants Konzept des ewigen Friedens charakteristisch ist. Der ersten, der juridischen Sichtweise, lassen sich wiederum drei Versionen, wie man Friedensordnungen anlegen kann, zuordnen: erstens die, die ich die positivistische Version einer internationalen Friedensordnung nenne, zweitens die, die ich als gemisch-

Ebd., 211. Ebd., 219.

Kants Konzept des ewigen Friedens in aktueller Perspektcve

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te Version einer internationalen Friedensordnung bezeichne und von der ich glaube, dass sie durch die Charta der Vereinten Nationen verkörpert wird, und drittens die Version inhaltlicher Friedenskonzepte. Die juridischen Sichtweise ist in allen ihren Versionen stets mit einem zentralistischen Ordnungskonzept verbunden. Das erklärt, warum sie in der Präferenz der Politiker praktisch aller Staaten und aller politischen Systeme dominiert. In allen drei Versionen geht es um Institutionen internationaler Ordnung, die als zentralistische und insofern quasistaatliche Zusammenschlüsse von Einzelstaaten geformt sind. Der Weltstaat ist in der juridischen Sichtweise gleichsam der ewige Fluchtpunkt der Idee einer derartigen internationalen Friedensordnung. Die positivistische Version einer internationalen Ordnung ist eine Friedensordnung im Stil eines Waffenstillstands. Im Hinblick auf sie ist der Friedensbegriff allein durch die Abwesenheit von Krieg definiert. Die Vertragspartner diese Ordnung haben sich darauf geeinigt, ihre Konflikte ohne Gewaltanwendung auszutragen. In der politischen Philosophie kommt Thomas Hobbes mit seinen Anforderungen an einen Friedenszustand diesem formalsten aller Friedenskonzepte am nächsten. Das prominenteste Beispiel einer derartigen formalen Friedensordnung in der Weltpolitik unserer Epoche war der Weltfriedenszustand, den die Weltmächte USA und UdSSR in der 40-jährigen Phase des Kalten Kriegs, unter dem Schirm der nuklearen Abschreckung, aufrechterhielten. Die zweite Version einer internationalen Friedensordnung in juridischer Sichtweise ist die gemischte Version, die ich in der Charta der Vereinten Nationen verkörpert sehe. Zum einen ist die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen nicht an die Bedingungen einer bestimmten Staatsform gebunden. Was besagt, dass liberale Demokratien des westlichen Musters ebenso Mitglieder sind wie Diktaturen von der Art der Volksrepubliken China und Kuba auf der einen Seite und afrikanischer Militärdiktaturen auf der anderen Seite. Zum anderen verpflichtet die Zustimmung zur Charta die Mitgliedsstaaten jedoch zur Einhaltung der Menschenrechte. Durch diese Bindung an die Menschenrechte wird eine normative Bedingung für die Mitgliedschaft eingeführt, die die Friedensordnung, die durch die Charta bezweckt wird, über eine rein formale Ordnung, nach dem Maßstab der einzelstaatlichen Souveränität, hinaushebt. Die dritte Version einer internationalen Friedensordnung ist die eines inhaltlichen Friedens, das heißt eines Friedens zwischen den Staaten, der durch die Zustimmung zu Grundwerten einer Gesellschaft bzw. einer Staatsform geprägt ist. Ich nenne zwei Beispiele: das Konzept einer Weltfriedensordnung nach dem Modell einer kommunistischen Weltgesellschaft und eben Kants Idee des ewigen Friedens. Die zentrale Bedin-

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gung für die kommunistische Weltfriedensordnung war die durch die Sowjetunion in den Anfängen bekanntlich auch verfolgte Zielsetzung, alle Gesellschaftsordnungen auf der Welt im Sinne des marxistisch-antikapitalistischen Modells zu revolutionieren. Die ausschlaggebende Bedingung von Kants Konzept liegt demgegenüber im Umstand,

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Werner Becker

Auge gefasste Völkerbund allein aus Staaten auf der Grundlage liberaler Verfassungen bestehen soll. Wie nun ist internationales Ordnungsrecht in der ökonomischen Sichtweise zu interpretieren? Diese Sichtweise ist als Grundlage einer Strategie internationalen Ordnungsdass der ins

rechts bei weitem mehr in der Wissenschaft als in der Politik beheimatet. Dennoch sei gesagt, dass die Anregungen zu dieser Konzeption von Kants Friedensschrift ausging. Die ökonomische Sichtweise ist heute diejenige der Neuen Politischen Ökonomik, in deren Rahmen auch Probleme der internationalen Ordnung behandelt werden. Vertreter aus dem deutschen Sprachraum sind etwa Bruno Frey, Roland Vaubel und Erich Wede. Der Kerngedanke dieser Ansätze ist durchaus kantisch, denn es wird, auch mit historischen Belegen, gezeigt, wie stark sich liberale Rechtssysteme in einem friedensfördernden Sinne auf die internationale Konkurrenz der Staaten auswirken. Die Vertreter der Neuen Politischen Ökonomik plädieren dafür, internationale Beziehungen so zu gestalten, dass die nationalen Institutionen sich Wettbewerbseinflüssen von außen öffnen und derart Veränderungen in Richtung auf die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Effizienz zulassen. Sie wenden sich demzufolge gegen politische, d. h. ausschließlich zentralistische Lösungen von Problemen internationaler Ordnung, wie sie gerade charakteristisch für die Versionen der juridischen Sichtweise sind. Das aktuelle Beispiel ist die Auseinandersetzung um die Gestaltung Europas, in der es, solange über eine staatliche Verfassung der EuropäischenUnion nicht entschieden ist, noch immer hauptsächlich um Probleme einer zwischenstaatlichen und insofern übernationalen Ordnung geht. Auch hier argumentieren die Vertreter der ökonomischen Sichtweise auf der klassischen Linie des internationalen Freihandels: Sie empfehlen allgemeinen Zollabbau, die Verstärkung des internationalen Verkehrs und die Ausübung außenpolitischen Drucks auf die innerstaatliche Absicherung von Eigentumsrechten dort, wo diese nicht existiert. Sie versprechen sich gemäß der Philosophie der klassischen Ökonomie davon mehr für die allgemeine Wohlfahrt als von zentralistisch organisierten Institutionen, die weltweit gigantische Umverteilungsmaßnahmen vornehmen. Das alles liegt fraglos mehr auf der Linie von Kants Konzeption des „ewigen Friedens" und von dem, was er sich dort vom „Handelsgeist" erwartet hat. Zusammenfassend lässt sich sagen: In der juridischen Sichtweise werden erstens zentralistische Maßnahmen bevorzugt. Zweitens geht von dieser Sichtweise eine Tendenz zur statischen Festschreibung einer gegebenen internationalen Ordnung aus: Man orientiert sich an einem Zustand der Staatenwelt, der auf Dauer eingerichtet ist. In der ökonomischen Sichtweise werden demgegenüber erstens dezentrale Maßnahmen im Sinne des Wettbewerbsprinzips bevorzugt, Maßnahmen, die sich mehr an die Gesellschaft als den Staat richten. Zweitens rechnet man mit einer ständigen Dynamik in der Staatenwelt, deren grundlegende Problematik allerdings darin besteht, Auf- oder Abstieg von Staaten mit dem Zweck jeder internationalen Ordnung, der Friedlichkeit, in -

Übereinstimmung zu bringen.

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27

Kants Konzept des ewigen Friedens in aktueller Perspektive

Beide Sichtweisen besitzen ihre Extrempunkte, deren Eigenschaften sich durch eine typisierende Abstraktion bestimmen lassen. Für die juridische Sichtweise liegt der Extrempunkt im Konzept eines Weltstaats, der alles Gesellschaftliche zentral reglementiert und letztlich wohl nur als Diktatur möglich wäre. Für die ökonomische Sichtweise liegt der Extrempunkt im Wettbewerb als Kriegszustand. In der historischen und politischen Wirklichkeit kommen die Extremlagen weder vor, noch plädieren vernünftige Köpfe in Politik und Wissenschaft für internationale Ordnungen nach Maßgabe jener Extreme. Trotzdem haben die Typisierungen auch einen guten Sinn, denn man vermag mit ihrer Hilfe Tendenzen beschreiben und erkennen. Die juridische Sichtweise besitzt einen gleichsam natürlichen Vorsprung vor der ökonomischen, weil sie den Begriff der internationalen Art in der Meinung der meisten Politiker und auch wohl der meisten Menschen mit Interesse dafür fast ausschließlich definiert. In der Welt von heute ist diese Sicht immer dann die dominierende, wenn die Vereinten Nationen mit zentral gesteuerten Maßnahmen als Weltpolizei oder als Behörde für sozialen und interkulturellen Ausgleich tätig werden. Wie steht es nun um eine mögliche Aktualität des Kantischen Friedenskonzepts im Lichte jener beiden Perspektiven? Wenn auch die Grundidee von Kants Friedensschrift heute weltweit akzeptiert und auch spätestens durch die Gründung der Vereinten Nationen politische Realität geworden ist, lassen sich bei etwas genauerem Hinsehen jedoch nur wenige, wenn auch zentrale Intuitionen Kants aktualisieren. Von vielen Postulaten der Artikel und Paragraphen, aus denen sich Kants Schrift zusammensetzt, wie etwa dem, auf stehende Heere zu verzichten, hat sich bis heute gewiss nichts verwirklichen lassen. Alles, was Kant im Zusammenhang damit postuliert, wirkt heute utopischer denn je. Noch stärker fällt ins Gewicht, dass Kant von einem Verständnis des Republikbegriffs ausgehen durfte, das sich in der realen Staatengeschichte der westlichen Republik so nicht niedergeschlagen hat. Hatte er doch noch die Rolle des liberalen Nachtwächterstaates im Auge, als er in seinem Konzept die Idee der weltweiten Ausbreitung liberaler Republiken formulierte. In seinem klassisch-liberalen Staatsverständnis erschöpfte sich die Funktion des Staates nämlich ausschließlich in der Garantierung der individuellen Freiheitsrechte und der Regulierung des aus ihnen entspringenden Wettbewerbs von Individuen. Genauso wenig aber hatte er den modernen Nationalstaat im Visier, der sich auf der Basis repräsentativer Demokratie in Europa, im Gefolge der französischen Revolution, als republikanische Staatsform entwickelte. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung jener beiden Sichtweisen, der juridischen und der ökonomischen, möchte ich festhalten, dass Kants Konzeption eindeutig der -

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ökonomischen Perspektive zuzuordnen ist. Legt man als Maßstab allein die kantische Hoffnung auf eine friedensstiftende Funktion des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zu Grunde, kann man auch in politischer Hinsicht durchaus eine positive Bilanz ziehen. Denn Kants Republikmodell wurde, wenn auch nicht in der Welt im globalen Sinne, so doch in der „kleinen Welt" der Europäischen Union verwirklicht. Ist die Europäische

Werner Becker

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Union doch bekanntlich weder eine einzige Republik im klassisch liberalen Sinne noch ein Nationalstaats auf der Basis einer parlamentarischen Demokratie. Zugleich aber muss jeder Staat, der bereits Mitglied der Europäischen Union ist oder sich um Aufnahme bewirbt, die zentrale kantische Bedingung erfüllen, eine liberale republikanische Verfassung zu besitzen, mit der dazugehörenden und entsprechend ausgewiesenen politischen und rechtlichen Praxis. Wie die Europäische Union in ökonomischer Sichtweise funktioniert und dass dies tatsächlich auch gemäß der Kantischen Idee erfolgt -, zeigt sich an der Konstruktion z.B. der Währungsunion, zu der sich zwölf EU-Staaten als Euro-Länder zusammengeschlossen haben. Der Euro-Vertrag, der die Institution der Europäischen Zentralbank hervorbrachte, ist, seinem rechtlichen Status nach, ein klassischer völkerrechtlicher Vertrag zwischen souveränen Staaten. In der politischen Praxis der die Währungsunion tragenden Länder, muss man sich stets allein auf die freiwillig zu leistende moralische Bereitschaft, in erster Linie derjenigen der verantwortlichen Regierungen, verlassen können, damit die im Vertrag vorgegebenen Leitlinien für eine nichtinflationäre Finanzpolitik Beachtung finden. Zwar kennen wir die leidigen Debatten über die Verletzung wesentlicher Euro-Kriterien, was die Höhe der zulässigen Staatsdefizite angeht. Dennoch kann man nach siebenjähriger Erfahrung mit der neuen europäischen Währung im Wesentlichen nur Positives konstatieren. Sie ist bezüglich der Inflationsraten die stabilste Währung der Welt, noch vor dem Dollar und dem japanischen Yen, und mit diesen zusammen eine von drei Weltwährungen. Worauf es hier, unter dem Friedensgesichtspunkt, jedoch vorrangig ankommt: die Währungsunion hat als Krönung der europäischen Wirtschaftsunion einen Friedenszustand in Europa stabilisiert, von dessen Stärke die meisten Bürger der EU-Staaten wohl nach wie vor überzeugt sind. So käme etwa den Mitgliedern jüngerer Generation kaum mehr die Wahrscheinlichkeit von Kriegen in den Sinn, wie sie im vorigen Jahrhundert, in Gestalt der beiden furchtbaren Weltkriege, zwischen den europäischen Völkern geführt wurden. Zugleich bleibt dennoch auch die betrübliche Feststellung zu treffen, dass etwas Vergleichbares vom Zustand der Welt im Großen, nicht gesagt werden kann. Hier ist die Aussicht gering, dass Kants Utopie je der Verwirklichung näher rücken könnte. Herrschen im internationalen Kontext doch nach wie vor die Kriterien und Kategorien der juridischen Sichtweise in klarer Weise vor. Hier sind die Nationalstaaten die ausschlaggebenden Akteure. Hinter ihrer Rolle und ihrer Bedeutung treten selbst die Vereinten Nationen, als einflussreichste internationale Institution der Weltgemeinschaft, noch immer weit zurück. Dass deren Konstruktion hinwiederum wenig mit Kant Idee eines Weltfriedens gemeinsam hat, habe ich eingangs vermerkt. Zwar lässt sich festzustellen, dass Kants Hoffnung auf die weltweite Ausbreitung des Staatsformtyps liberaler Republik seit Beendigung des Kalten Krieges zur offiziell erklärten Strategie der einzig verbliebenen Weltmacht, der Vereinigten Staaten von Amerika, geworden ist. Doch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass dieser Strategie kein Erfolg beschieden sein wird. Auch dürfte es kaum zu einer imperialen Pax Americana kommen, von der die dortigen Neokonservativen zwischenzeitlich träumen durften. Sieht doch alles danach aus, dass -

Kants Konzept des ewigen Friedens in aktueller PERSPEKnvE

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die Volksrepublik China den Vereinigten Staaten demnächst als zweite Weltmacht auf der weltpolitischen Ebene, in Ablösung der untergegangenen Sowjetunion, entgegentreten wird. Dass sich im Verhältnis zwischen Krieg und Frieden die Gewichte dennoch deutlich verschoben haben, geht hingegen aufs Konto der modernen Militärrüstung, die es spätestens seit dem Koreakrieg nicht mehr gestattet, die Kriege im klassischen Sinne, d. h. durch Einsatz aller zur Verfügung stehenden militärischen Mittel, zu führen. Was heute an militärischen Einsätzen seitens der größeren, über Nuklearwaffen verfügenden Mächte möglich ist, beschränkt sich, so schrecklich das für die betroffenen Bevölkerungen noch immer ist, auf eine Art von „Polizeieinsätzen" mit meist unkalkulierbarem Ausgang. Dass selbst den USA mit ihren riesigen Rüstungspotenzial der lange Atem fehlt, so etwas über längere Zeit hin durchzustehen, beweisen deren Kriege im Stile derartiger militärischer „Polizeieinsätze" sowohl im hak als auch in Afghanistan. So besehen haben sich die Gewichte, unter dem Schirm der Abschreckung, durchaus in Richtung auf ein Mehr an Stabilität und damit eben doch zum Weltfrieden hin verschoben. Zugleich wird man in Rechnung stellen müssen, dass die wirklich wichtigen Auseinandersetzungen in der Zukunft diejenigen zwischen den großen Wirtschaftschaftsimperien über Zugriffe auf die immer knapper werdenden Ressourcen für Energie sein werden. Die diesbezüglich im internationalen Kontext betriebene Politik zwischen den großen Wirtschaftsmächten USA, China, Japan, der Europäischen Union und Russland erfolgt jedoch in der von mir „juridisch" genannten Sichtweise und nicht jener von Kant präferierten ökonomischen. Was zugleich bedeutet, dass sie im Geiste eines Wirtschaftsnationalismus vorangetrieben würde, einem Geist, der mehr Fichtes Konzeption des „Geschlossenen Handelsstaats" entspräche als der kantischen Weltfriedensidee. Im Sinne der ökonomischen Sichtweise könnte künftig jedoch die Unternehmenspolitik der international agierenden großen Unternehmen, der so genannten „global players", wirksam werden. Lässt sich deren Wirtschaftsplanung doch nur beschränkt durch die Regierungen jener Nationalstaaten beeinflussen, in denen ihre „Hauptquartiere" beheimatet sind. In deren Interesse kann nämlich keine ausschließlich an nationalen Interessen ausgerichtete internationale Wirtschaftspolitik sein. Natürlich ist ungewiss, ob das in der Zukunft etwa auch für chinesische Konzerne wird gelten können, die heute bereits global operieren. Sollte es dennoch dazu kommen, könnte sich das Interesse der weltweit agierenden Großkonzerne an der Entwicklung von friedlichem „Handelsgeist", der kantischen Hoffnung gemäß, zumindest retardierend auf einen ungebremsten Wirtschaftsnationalismus jener friedensgefährdenden Art auswirken. Die Zukunft erst wird zeigen, ob darin mehr enthalten ist als eine vage Hoffnung.

Kazimir Drilo (Berlin)

Die Weltgeschichte und der Krieg als Gegenstände der philosophischen Betrachtung. Überlegungen zu einem Thema aus Hegels Philosophie

Hegel von seinem Schüler Hinrichs gebeten wurde, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob erst in seiner, also Hegels Philosophie das Absolute sich begriffen habe, antwortete er folgendermaßen: Als

„Was das andre betrifft, daß die Vorstellung hervorgehe, das Absolute habe sich in meiner Philosophie erst begriffen, so wäre viel darüber zu sagen; das Kurze aber ist, daß, wenn von Philosophie als solcher die Rede ist, nicht von meiner Philosophie die Rede sein kann, daß aber überhaupt jede Philosophie das Begreifen des Absoluten ist eben damit nicht eines Fremden, und das Begreifen des Absoluten somit allerdings ein Sich-Selbst-Begreifen desselben ist [...]. Aber Mißverständnisse bei solchen sind freilich hierüber nicht möglich zu verhindern, welche bei solchen Ideen die besondere eigene Person, ihre eigene und andere nicht aus dem Kopfe bringen können". -

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Kein Wunder, dass dieses Denkmodell heftige Kritik hervorruft: Am Endlichen und Besonderen werden Strukturen des Absoluten erkannt, die eigene Person soll man dabei „aus dem Kopfe bringen"; das Absolute erkennt sich selbst, die besondere Existenz wird als unwichtig betrachtet. Diese Kritik besagt, Hegels Philosophie vernachlässige das Individuum zugunsten des Systems, die Praxis zugunsten der Theorie. Die Vernachlässigung des Individuums und die Praxisferne das seien die beiden Schwachpunkte von Hegels System, die besonders im Falle der Geschichtsphilosophie, so die Kritik, unangenehm auffallen. Über die Praxisferne der Hegelschen Geschichtsphilosophie scheint unter Hegel-Forschern weitgehend Konsens zu herrschen. So heißt es bei Emil Angehrn, das prinzipielle Verhältnis von Geschichte und praktischer Vernunft als den zentralen Punkt der Geschichtsphilosophie anvisiert zu haben, gehöre zu den Leistungen Hegels, durch die sich sein Konzept schon vom systematischen Ansatz her auszeichne, doch münde die Durchführung dieses Konzeptes „unbestreitbar" in die Marginalisierung der praktischen Vernunft; historische Ratio schrumpfe zur Gesetzesmäßigkeit einer Entwicklungslogik zusammen, der Vernunftanspruch werde von der historischen Praxis auf den geschichtlichen Selbstlauf verlegt. Das Verhältnis von der „Autonomiebehauptung des Men-

G.W.F. Hegel, .Brief Nr. 357', in: Briefe von und an Hegel, burg 1953, 216. E. Angehrn, Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1991, 101.

Bd. 2,

hg.

v.

J.

Hoffmeister,

Ham-

32

Kazimir Drilo

sehen" und der „strikten Gesetzmäßigkeit des historischen Verlaufs", ebenso wie das Verhältnis von „Geschichtsautomatismus" und „verändernder Praxis" bleibe das „un-

gelöste Dauerproblem" von Hegels Geschichtsphilosophie. Walter Jaeschke ist einer der Hegel-Interpreten, die sich der Kritik an der Praxisferne der Geschichtsphilosophie nicht anschließen. Er kritisiert den Interpretationsansatz, in dem unterstellt wird, Hegels Philosophie sei „Panlogismus" und sie missachte das Individuum. Jaeschke lehnt aber auch „die moralische Frage, ob das Individuum [...] übergreifende, geschichtsgestaltende Bedeutung erhalten sollte", als verfehlt ab. Hegel gehe es „allein darum, wie sich geschichtliche Prozesse adäquat beschreiben und begreifen lassen".4 Entgegen dieser Ansicht scheint es mir jedoch durchaus möglich zu sein, dem Individuum eine „übergreifende, geschichtsgestaltende Bedeutung" zuzusprechen. Das die Geschichte begreifende und gestaltende Individuum kann jedoch nur ein philosophisches sein. In Hegels System hat die Weltgeschichte zwar ihren Ort als Teil der Rechtsphilosophie, im Ausgang des äußeren Staatsrechts und als Abschluss des objektiven Geistes, sie umfasst aber auch die Sphäre des absoluten Geistes. Die in diesem Zusammenhang interessante Frage lautet: Wie ist die Weltgeschichte zu verstehen, wenn sie ,mit den Augen' des absoluten Wissens betrachtet wird? Bei der Beantwortung dieser Frage wird es sich zeigen, dass die philosophische Betrachtung (der Standpunkt des absoluten Wissens) nicht darin besteht, Entsprechungsverhältnisse zwischen der Geschichtsphilosophie und den Denkbestimmungen der Wissenschaft der Logik herzustellen oder sich auf die Frage nach der adäquaten Beschreibung der geschichtlichen Prozesse zu beschränken. Die philosophische Betrachtung konstituiert vielmehr die Das bedeutet jedoch auch, dass sie auf diese einwirken kann. Durch ihre Bildungsarbeit nimmt Philosophie Einfluss auf die Weltgeschichte und auf das, was Hegel „das Weltgericht" nennt. Der „Werkmeister" der Arbeit von Jahrtausenden, „der eine lebendige Geist", er-

Weltgeschichte.7

Ebd. W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben-Werk-Schule, Stuttgart und Weimar 2003,411. Die welthistorischen Individuen vereinigen zwar in ihrer „substantiellen Tat" das Allgemeine und das Besondere, der Zweck des Weltgeistes bleibt ihnen jedoch verborgen; vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (= Rechtsphilosophie), hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg

1995, §348.

Unterscheidung der „partiellen Weltgeschichte" (als der Geschichte von Staaten) von der Weltgeschichte als der „Totalität der Manifestationen des Geistes" vgl. W. Jaeschke, HegelZu der

7

Handbuch, 402 f. Vgl. dazu Jaeschke, Hegel-Handbuch, 406: „Geschichte ist deshalb nichts Vorfindliches; sie ist durch das geschichtliche Bewusstsein gemacht und begriffen, d.h. als Geschichte konstituiert. Ohne einen derartigen Konstitutionsakt gibt es Vorfälle, auch Ereignisketten, aber keine .Geschichte'". Jaeschke untersucht jedoch nicht die Frage, wie von dem Standpunkt des absoluten Geistes aus auf die Weltgeschichte eingewirkt werden kann.

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Die Weltgeschichte und der Krieg

fasst sich selbst durch die Philosophie als der in der Geschichte tätige Geist der Welt. Philosophie ist nicht nur das Erkennen des Geistes in der Geschichte; sie ist mehr: sie ist der Begriff, den er von sich hat, „das Leben des Geistes selbst" und das Innerste der Weltgeschichte. Philosophie ist Erkennen, Konstituieren und Praxis zugleich und darin das Sichselbstbegreifen des Absoluten. Die folgenden Überlegungen sollen plausibel machen, dass die philosophische Betrachtung zugleich ein praktisches Sich-Verhalten zur Geschichte ist. Das Individuum, das vom Standpunkt des absoluten Wissens die Geschichte betrachtet, soll nicht nur seine Besonderheit „aus dem Kopfe bringen", es soll vielmehr diese durch eine philosophisch ausgebildete Tugend, die sich in der Auseinandersetzung mit der Welt bewährt, verwandeln und wiedergewinnen. Das besondere Merkmal der philosophischen Betrachtung der Weltgeschichte ist das Sich-Bewähren in der Welt, die „zufällig" ist und „ein Fallendes, Erscheinendes, an und für sich Nichtiges", das Wiedergewinnen und Bewahren des Substantiellen durch das Nichtige und Fallende hindurch.10 Als Beispiele für die philosophische Umbildung des Endlichen können Hegels Gedanken zum Krieg, zu den im Krieg sich bewährenden Sitten der Nationen und zu der Weltgeschichte als dem Weltgericht betrachtet werden. Hegels Bestimmung des Krieges scheint mir der geeignete Maßstab zu sein für die Beurteilung der Reichweite der philosophischen Betrachtung. Indem er den Krieg in dem „sittlichen Wesen" des Staates begründet sieht, zeigt Hegel auch die Möglichkeit seiner Überwindung durch die Philosophie. Entsprechend werde ich meine Überlegungen in zwei Teile gliedern: 1. Die philosophische Betrachtung; dieser erste Teil orientiert sich an der Bestimmung des absoluten Wissens, so wie dieses im letzten Kapitel der Phänomenologie des Geistes dargestellt wurde, an der „Vorrede" zur Rechtsphilosophie und an der Bestimmung des allgemeinen Begriffs der Weltgeschichte aus den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte; 2. Notwendigkeit und Überwindung des Krieges; in diesem Teil soll hauptsächlich auf die § § 321-352 der Rechtsphilosophie eingegangen werden (vor allem auf den § 324, Anmerkung), sowie auf den § 552 der Enzyklopädie. -

G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), neu hg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Hamburg 1991, § 13. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Theorie Werkausgabe (=TW), neu ediert v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 20, 456.

Hegel, Enzyklopädie, § 50, Anmerkung. Hegel, Rechtsphilosophie, § 324, Anmerkung. G.W.F. Hegel, .Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31', in: Gesammelte Werke, Vorlesungsmanuskripte II (1816-1831), Bd. 18, (=GW 18), hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1995.

Kazimir Drilo

34

1. Die philosophische

Betrachtung

Das Verhältnis des Philosophierenden zu den in der Phänomenologie dargestellten Gestalten des Bewusstseins ist von folgenden drei Aufgaben geprägt: 1. Der auf dem Standpunkt des absoluten Wissens Philosophierende nimmt die Aufgabe der pädagogischen Einleitung des natürlichen Bewusstseins in die Wissenschaft wahr; 2. Er übernimmt die Aufgabe der Rechtfertigung der Wissenschaft vor dem natürlichen Bewusstsein und vor sich selbst; 3. Als auf der Stufe des absoluten Wissens Stehender vereinigt er die höchste Erkenntnis mit der besten Lebensform. Diese dritte Aufgabe umfasst die beiden ersten, geht aber auch über sie hinaus. Das absolute Wissen ist, diese drei Aufgaben vollziehend, das wie13 es ausdrücklich heißt Selbst, welches das Leben des absoluten Geistes durchführt. Dieses Selbst, welches das Leben des absoluten Geistes durchführt, ist das Selbst des Philosophierenden. Zu den einzelnen Aufgaben möchte ich an dieser Stelle nicht viel sagen. Der Philosoph ist der Pädagoge, dessen Aufgabe darin besteht, dem natürlichen Bewusstsein eine Leiter darzureichen, auf der es den höchsten Standpunkt der Wissenschaft erklimmen kann. Seine Rolle besteht zum einen im reinen Zusehen dieser Bewegung, zum anderen darin, das natürliche Bewusstsein auf dem Weg zum wahren Wissen zu begleiten, dessen Selbstprüfung wenn nötig zu initiieren und die Reihe der Erfahrungen des Bewusstseins zum wissenschaftlichen Gang zu erheben, indem er ihr Notwendigkeit verleiht. Die Aufgabe des Philosophierenden betrifft außerdem nicht nur die Bildung des natürlichen Bewusstseins, sondern auch die Rechtfertigung der Wissenschaft vor dem unwissenschaftlichen Bewusstsein, die zugleich auch eine Rechtfertigung der Wissenschaft vor sich selbst ist. Um die dritte Aufgabe des Philosophierenden zu verdeutlichen also die Vereinigung der höchsten Erkenntnis mit der besten Lebensform auf der Stufe des absoluten Wissens möchte ich darauf hinweisen, dass die Auseinandersetzung mit dem natürlichen Bewusstsein nicht nur dessen Bildung dient, sondern die Wirklichkeit des Philosophierenden selbst ausmacht. Der auf dem Standpunkt des absoluten Wissens Stehende ist der lernende Lehrer, seine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bewusstseinsgestalten ist auch der Weg seiner Selbsterkenntnis und die Weise seines Wirklichwerdens. Der Philosophierende betrachtet das Werden des allgemeinen Geistes in seinen natürlichen, sittlichen, moralischen, künstlerischen und religiösen Gestalten, übt die pädagogische Aufgabe dort, wo es nötig und möglich ist aus, scheidet das Vergangene vom Substantiellen und Immer-noch-Gültigen, rechtfertigt durch die Ausführung der Wissenschaft ihre Wahrheit und erkennt das Substantielle an den vergangenen Gestalten des Geistes. -

-

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-

G.W.F.

Hegel, Phänomenologie

(Gesammelte

Werke, Bd. 9), 426.

des Geistes,

hg.

von

W.

Bonsiepen u.

R.

Heede, Hamburg 1980

35

Die Weltgeschichte und der Krieg

Das wissenschaftliche Erkennen ist keine bloße Übersicht über die in der Phänomenologie dargestellte Entwicklung der Gestalten des Geistes, sondern es erfordert „sich dem Leben des Gegenstandes zu übergeben, oder, was dasselbe ist, die innere Notwendigkeit desselben vor sich zu haben und auszusprechen". Sich in den Inhalten auszubreiten und zu verlieren, in den „immanenten Inhalt der Sache einzugehen", sich ins einzelne Dasein „herabzusetzen", sich in die Materie zu versenken und in deren Bewegung „fortzugehen" und schließlich verwandelt „in sich selbst zurückzukommen"1 diese Merkmale des wissenschaftlichen Erkennens sind mit bestimmten Erfahrungen verbunden. Das sind Erfahrungen, die das natürliche Bewusstsein auf dem Weg zum absoluten Wissen gemacht hat und die es, einmal zum Ziel gelangt also absolutes Wissen geworden -, nicht mehr vergessen soll. Die Stufe des absoluten Wissens ist die des Philosophierenden („uns"), der in den mannigfaltigen Gestalten des Bewusstseins die darin enthaltenen Erfahrungen begreifend und erinnernd verwandelt und aneignet. Dazu gehören auch die sittlichen und religiösen Erfahrungen, die von ihrer zufälligen Form befreit sind, in ihrer Substanz aber immer noch gültig und erhaltenswert sind. Das absolute Wissen ist die Vollendung der individuellen und der geschichtlichen Gestalten des Geistes. Die Vollendung geschieht auf beiden Ebenen der individuellen und der geschichtlichen -, zunächst jedoch auf der geschichtlichen: „Eh daher der Geist nicht ansich, nicht als Weltgeist sich vollendet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen". Hegel redet von der Tilgung der Zeit durch den Begriff, der sich als das absolute Wissen „selbst erfaßt".17 Dieser Gedanke wird sich im Zusammenhang mit der Bestimmung (und der Überwindung) des Krieges in der Rechtsphilosophie als wichtig erweisen. Die ,Tilgung der Zeit' darf nicht missverstanden werden als der Versuch des reinen Denkens, sich zu einem mystischen Erlebnis aufzuWissen .getilgt' wird, ist das Endliche in seiner schwingen. Was im absoluten 18 scheinbaren Selbständigkeit. Hegels Pointe ist jedoch, dass sich das Endliche selbst zu tilgen versucht. Die .philosophische Tilgung' ist seine Rettung wie es sich am Beispiel des Krieges noch zeigen wird. Der Gedanke von der .Tilgung der Zeit' wird verständlicher, wenn wir ihn in Zusammenhang bringen mit dem Vermögen der Erinnerung. Die Zeit, die getilgt wird, ist die des unvollendeten Geistes, dessen Vollendung mit der Gestalt des Selbst, welches das Leben des absoluten Geistes führt, erreicht ist. In seinem Insichgehen „verläßt" der Geist sein vorheriges (unvollendetes) Dasein und „übergibt" es der Erinnerung; in ihr wird das „verschwundene" Dasein neu geboren als „das neue Dasein, eine neue Welt und Das Unvollendete, das Endliche und Zufällige wird verlassen und -

-

-

-

Geistesgestalt".1

Ebd., 39. Ebd.

Ebd., 429 f. Ebd., 429.

Vgl. Hegel, Enzyklopädie, § 258, Anmerkung. Hegel, Phänomenologie, 433.

36

Kaztmir Drilo

die aufbewahrende Erinnerung übergeben, wobei es wieder scheinbar vergessen wird 20 („als ob [...] er aus der Erfahrung der frühern Geister nichts gelernt hätte"). Auf diesem höchsten Punkt seiner Vollendung tilgt und bewahrt das absolute Wissen die Zeit, indem es „die Tiefe" des Absoluten im philosophierenden Selbst aufbewahrt und sie 21 gleichzeitig entäußert und so offenbart. Die Intensität des von Hegel in diesem Modell gedachten Insichgehens, in dem das Zugleich von entgegengesetzten Bewegungen Verlassen und Übergeben, Vergessen und Erinnern, Insichgehen und Offenbaren wissend und wollend festgehalten ist, verleiht dem absoluten Wissen eine innere Spannung, die nicht nur .von Außen' beschrieben werden soll, sondern die vor allem von dem 22 Philosophierenden selbst nachvollzogen werden muss. Sich auf den Standpunkt des erinnernden Begreifens zu erheben, bedeutet für den Philosophierenden, nicht nur theoretisches Wissen zu haben, sondern auch eine bestimmte ethische Haltung einzunehmen. Diese Haltung kann mit einer Stelle aus der „Vorrede" zur Phänomenologie folgendermaßen beschrieben werden: nicht „das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn seine [den Tod] erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt 23 Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet". Das bedeutet: Im Bewusstsein des Zerfalls und der Nichtigkeit des Endlichen, im Wissen, dass die Welt zufällig, nichtig und fallend ist, erhält und behauptet sich der Philosophierende, indem er auf das Absolute als das im Endlichen und Untergehenden Substantielle blickt und es erinnernd festhält. Nur das erinnernde Aufbewahren des beschrittenen Weges erhält uns im absoluten Wissen, führt uns also nicht nur zu ihm, sondern hält uns auf diesem höchsten Standpunkt der Wissenschaft. Das absolute Wissen ist auch eine Haltung, die aus dem begreifenden und erinnernden Anschauen des Absoluten resultiert, es ist die philosophisch ausgebildete Tugend der Erinnerung an das Absolute beim gleichzeitigen Sich-Entäußern und Sich-Bewähren in der Welt. Wie wird die philosophische Betrachtung in der Rechtsphilosophie bestimmt? Nach Hegels ausdrücklicher Warnung geht es der Rechtsphilosophie nicht darum, „einen Staat, wie er sein soll" zu konstruieren, sondern um einen Staat, wie er erkannt werden soll, also wie er seinem Begriff gemäß zu denken ist.24 Es geht um das wahre Erkennen, an dem wir diejenigen Eigenschaften feststellen können, die soeben am Beispiel des absoluten Wissens skizziert wurden. Bei der Beantwortung der Frage nach dem philosophischen Standpunkt, von dem aus die Gegenstände der Rechtsphilosophie betrachtet werden, ist die Stelle aus der „Vorrede" wichtig, an der es heißt, die Wahrheit über den

an

-

-

Zur genaueren Bestimmung des Denkens und Lebens aus der Perspektive des absoluten Wissens vgl. K. Drilo, Leben aus der Perspektive des Absoluten. Perspektivwechsel und Aneignung in der Philosophie Hegels, Würzburg 2003. Hegel, Phänomenologie, 27. Hegel, Rechtsphilosophie, 15 f.

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Die Weltgeschichte und der Krieg

d. h. „über Recht, Sittlichkeit, Staat" sei „alt" und schon „offen dargelegt und 25 bekannt"; an das freie Denken ergehe „die innere Anforderung [...] zu begreifen und in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten sowie mit der subjektiven Freiheit nicht in einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist, zu stehen". Dieser Punkt ist wichtig: Zur Aufgabe des freien Denkens Inhalt

-

-

sich im Besonderen und Zufälligen zu erhalten und frei im Wesentlichen zu stehen, also nicht mit Endlichem unterzugehen. Mit den Worten der Phänomenologie gesagt: Die Aufgabe des freien, philosophischen Denkens ist es, den Tod des Endlichen zu ertragen und sich in ihm zu erhalten. Das Ziel der philosophischen Betrachtung ist es, „die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen"; diese „vernünftige Einsicht" sei „die Versöhnung mit der Wirklich27 keit". Diese Versöhnung ist jedoch nicht eine mit diesem oder jenem Besonderen und Endlichen (z.B. mit einem besonderen Staat), sondern die mit dem Ganzen mit der Welt. Versöhnt wird man mit der Tatsache, dass es die ,nichtige' und .fallende' Welt gibt. Es gibt sie jedoch nicht als eine bloß vorgefundene, sondern als eine begriffene und ,ertragene'. Die Aufgabe des philosophischen Betrachters ist es außerdem der Entwicklung der Idee zuzusehen, ohne dabei „seinerseits eine Zutat hinzuzufügen"; darüber hinaus besteht sein „Geschäft" darin, die „eigene Arbeit der Vernunft der Sache zum Bewußtsein 28 Halten wir auch diesen Punkt fest: in der Rechtsphilosophie soll die Verzu bringen". nunft der Sache zum Bewusstsein gebracht werden. Aus den dargestellten Aporien wird die Notwendigkeit eines neuen, höheren Bewusstseinsstandpunkts entwickelt. Die Auflösung der Konflikte geschieht auch in der Rechtsphilosophie durch den Übergang auf eine höhere Bewusstseinsstufe, auf der sich das Selbstverständnis des betrachteten Willens ändert. So ist auf der Stufe des abstrakten Rechts und am Ende des Kapitels über den Staat die Lösung des Problems einer gültigen Rechtsordnung nicht die Forderung nach der Errichtung von Institutionen, sondern das Aufzeigen eines neuen, höheren Standpunkts, der das auf dem niedrigeren Standpunkt Vernünftige „zum Bewußtsein bringt". An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Karl Heinz Ilting in einer vor mehr als zwanzig Jahren erschienenen Studie vorgeschlagen hat, die Rechtsphilosophie 29 als eine „Phänomenologie des Bewusstseins der Freiheit" zu lesen. Begründet hat er diese These mit der Feststellung, dass die Grundlinien der Philosophie des Rechts in ihrem Ausgangspunkt beim abstrakten Recht ,individualistisch' von dem Selbstverständnis des „bloß für sich freien, in sich vereinzelten, subjektiven Willens" ausgehen und

gehört es,

-

Ebd., 5. Ebd., 16. Ebd.

Ebd., § 31, Anmerkung.

Ilting, Rechtsphilosophie als Phänomenologie des Bewußtseins der Freiheit', in: Hegels Philosophie des Rechts, hg. von D. Henrich u. R.-P. Horstmann, Stuttgart 1982, 225-254. K.H.

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nicht von „einer in der Anerkennung allgemeiner Normen ihre Identität findenden Per30 son". Das auch für unser Thema interessante Ergebnis seiner Untersuchung lautet, Hegel konzentriere sich bei seinen Analysen „primär auf die Strukturen [...] welche im Selbstverständnis" des betrachteten Willens vorfindlich sind. Deshalb werden die „impliziten Voraussetzungen dieses Willens [...] die dem Autor und dem Leser als Betrachtendem bekannt sein müssten [...] in der Regel dort artikuliert, wo sie im SelbstAuch die verständnis des betrachteten Willens wirksam zu werden Rechtsphilosophie unterscheide zwischen dem betrachteten und betrachtendem Wissen. Das Ausgehen vom Selbstverständnis des betrachteten Willens führe dazu, dass Hegel aus den Aporien die Notwendigkeit eines neuen, höheren Standpunkts des Bewusstseins entwickelt. Damit verfahre er anders als z.B. Kant, der aus der Unmöglichkeit, eine gültige Rechtsordnung aus den Grundsätzen des rationalen Naturrechts abzuleiten, die staatlicher Institutionen zur Rechtsetzung und Rechtdurchsetzung beNotwendigkeit 32 Die Auflösung der Konflikte geschehe durch den Übergang auf die höhere gründet. Bewusstseinsstufe, wo sich das Selbstverständnis des betrachteten Willens ändert. Ich nehme bei meinen Überlegungen diesen Gedanken auf, ohne auf Iltings Kritik, die Rechtsphilosophie in ihrer Funktion als eine Phänomenologie der Freiheit sei nicht zu vereinbaren mit ihrer anderen Aufgabe, der Grundlegung der praktischen Philosophie, einzugehen. Was mich interessiert, ist der Versuch, auch bei Hegels Bestimmung des Überganges vom objektiven zum absoluten Geist dem Hinweis auf die Verwandlung im Selbstverständnis des betrachteten Willens nachzugehen. Denn nicht nur auf der Stufe des abstrakten Rechts, sondern auch am Ende des Kapitels über das äußere Staatsrecht ist Hegels Lösung des Problems einer gültigen Rechtsordnung nicht die Forderung nach der Errichtung von Institutionen, sondern das Aufzeigen eines neuen, höheren Standpunkts, der das auf dem niedrigeren Standpunkt Vernünftige „zum Bewußtsein bringt". Auch in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, dessen Notwendigkeit die Philosophie zu erkennen hat, nur für die höchste Gestalt des Wissens sichtbar. Dieses Wissen ist nicht dasjenige des Historikers, der an die Geschichte Reflexionsbestimmungen heranträgt und sich fragt, wie und wo diese oder jene Eigenschaft oder dieses und jenes Vermögen in der Geschichte tätig gewesen ist. Ein großer Teil der Schwierigkeiten, die man mit Hegels Geschichtsphilosophie hat, ist m. E. darin begründet, dass man nicht beachtet, dass streng genommen nichts an die Weltgeschichte herangetragen werden darf: kein System und keine Methode. Nur für das absolute Wissen ist der Satz „wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an; beydes ist in Wechselbestimmung" zu verstehen.33 Das

beginnen".31

Ebd., 230. Ebd., 243. Ebd., 239.

Hegel,,Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31',

143.

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Die Weltgeschichte und der Krieg

absolute Wissen erkennt nicht mit Hilfe einer besonderen Methode das Vernünftige in der Welt, sondern es gestaltet die Welt als vernünftig im Akt des Erkennens. Der philosophische Blick auf die Geschichte ist ein schöpferischer Akt: Der eine lebendige Geist erkennt sich durch die Philosophie als in der Weltgeschichte tätig und konstituiert so die Weltgeschichte. Er schafft sich seinen Gegenstand, indem er sich selbst als dieser Gegenstand die Weltgeschichte erkennt. Er erkennt sich also nicht nur in der Geschichte, sondern auch als Geschichte: dieser Unterschied, der auf die selbstkonstituierende Tätigkeit des Geistes im Akt des Erkennens hinweist, sollte beachtet werden. So heißt es in der Rechtsphilosophie: -

-

„Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst

und

auslegend zu erfassen. Dies Erfassen ist sein Sein und Prinzip, und die Vollendung seines Erfassens ist zugleich seine Entäußerung und sein Übergang".

Schauen wir uns ein Beispiel an, wie sich der Geist erfasst, entäußert und verwandelt, wie er an einem konkreten Gegenstand das Negative überwindet und das Affirmative erkennt. Dieses Beispiel die Bestimmung des Krieges, so wie sie in der Rechtsphilosophie in dem Kapitel über das äußere Staatsrecht gegeben wird auszuwählen, scheint mir auch deshalb naheliegend zu sein, weil im Anschluss an die Darlegung der Notwendigkeit des Krieges der Begriff der Weltgeschichte eingeführt wird. Wie es sich zeigen wird, spielt in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die sich im Krieg erhaltenden Sitten der Nationen eine wichtige Rolle. Durch sie wird ein höherer Bewusstseinsstandpunkt antizipiert derjenige des absoluten Wissens. -

-

-

2.

Notwendigkeit und Überwindung des Krieges

Interpreten gehören Hegels Gedanken zum Krieg zum Unerfreulichsten, was geschrieben hat. So heißt es z.B. bei Vittorio Hösle, Hegel rechtfertige nicht nur Verteidigungskriege, sondern auch das Recht der angeblich „fortschrittlichen" Nationen, Eroberungs- und Kolonialkriege zu führen. Er rate sogar den Regierungen, von Zeit zu Zeit Kriege anzuzetteln, um so die innere Ordnung und die sittliche Gesundheit 35 des Volkes wiederherzustellen. Der Krieg sei für ihn „geradezu Selbstzweck". Als merkwürdig betrachtet Hösle auch die Tatsache, dass Hegels Rechtsphilosophie „dort endet, wo sie immer schon weggegangen sein wollte beim Naturzustand". Über den Naturzustand könne aber so lauten Hegels eigene Worte „nichts Wahreres gesagt Für viele er

-

-

-

Hegel, Rechtsphilosophie, § 343. V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der InterSubjektivität, Bd. 2, Hamburg 1987,582. Ebd., 584.

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ihm herauszugehen ist". Wenn das für den Naturzustand zwi38 sehen Individuen gelte, wieso dann nicht für den zwischen Staaten? Hösle räumt ein, dass Hegels Äußerungen über das Völkerrecht „deskriptiv in der 39 Tat richtig sind". Nach Hegels Ansicht gibt es „keinen Prätor" zwischen den Staaten und die „Einstimmung der Staaten", welche ein Staatenbund voraussetzt, beruhe in der Tat „auf besonderen souveränen Willen" und ist dadurch „mit Zufälligkeit behaftet". Doch diesen Äußerungen hält Hösle entgegen, dass „Hegel Deskription und Präskription zusammenfallen läßt" und „die Macht zum Recht" erkläre, statt „an der Realisierung des Rechts zu arbeiten". Er fasst Hegels Gedanken zum Krieg folgendermaßen

werden, als daß

aus

zusammen:

„in ihnen [in Hegels Reflexionen über den Krieg] ist nichts weniger enthalten als die Legitimität eines jeden Krieges, der nur siegreich ist; die Gesinnung, die aus ihnen spricht, ist die des baren Machtpositivismus. Zudem ist von diesen Passagen leider nicht zu leugnen, daß sie einen nachweisbaren Einfluß auf die Machtstaats- und Kriegsideologie des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere der wilhelminischen Zeit und dann des Nationalsozia42 lismus gehabt haben."

Diese Kritik scheint mir auf einem Missverständnis zu beruhen; es ist geradezu Hegels Pointe, dass an der „Realisierung des Rechts" zu arbeiten ist in nichts anderem besteht die Arbeit der Philosophie. Die philosophische Bildungsarbeit ist nicht etwas, das der auf dem Standpunkt des absoluten Wissens Philosophierende tun oder lassen könnte. Das absolute Wissen ist das Element, in dem sich der Geist erfasst und in eine „höhere Gestalt" umbildet. Hegels Hinweis, die Weltgeschichte sei das Weltgericht, scheint, wie Henning Ottmann feststellt, der Höhepunkt einer fast zynischen Betrachtungsweise der Geschichte zu sein, in der die Opfer zweimal entwürdigt werden: Zu ihrer Niederlage trete auch noch deren Verhöhnung hinzu, denn das, was sich durchsetzt, sei „mit dem Glorienschein des Rechts" versehen.4 Ottmann kritisiert an Hegels Philosophie deren „große Ambivalenz", da man sie „sowohl als traditionelle Ursprungsphilosophie [...] als auch als säkularisierende Philosophie" lesen könne. Im zweiten Fall werde der Geist an die Macht der Zeit ausgeliefert, wodurch die Weltgeschichte „zu einer Nachäffung des Jüngsten Gerichtes" werde; in ihr bleiben die Opfer ungesühnt. Im ersten Fall sei der -

37 38 39 40 41

42 43

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45

Hegel, Enzyklopädie, § 502, Anmerkung. Hösle, Hegels System, 584. Ebd., 585.

Hegel, Rechtsphilosophie, § 333, Anmerkung. Hösle, Hegels System, 585. Ebd., 581. Vgl. H. Ottmann, ,„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht". Anerkennung und Erinnerung bei Hegel', in: Hegel-Jahrbuch 1995, Berlin 1996, 205. Ebd., 208. Ebd.

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absolute Geist dagegen „in der Zeit, aber selbst nicht zeitlich"; dieser „Einbruch des Ewigen in die Zeit" ermögliche zwar den Gedanken der Transzendenz des Absoluten, ohne den eine Erinnerung und Anerkennung der Opfer nicht möglich sei. Doch diese Lesart sei, so Ottmann, kaum mit Hegels Philosophie des Geistes zu vereinbaren. Es scheint mir jedoch eine dritte Lesart der „großen Ambivalenz" die richtige zu sein: Der Philosophierende hält sich im Vollzug des Denkens und trägt in diesem Vollzug die Spannung der Transzendenz und der Immanenz des Geistes aus. Die Frage nach der Anerkennung der Opfer wird in diesem Modell mit dem Hinweis auf die aufbewahrende Kraft der Erinnerung beantwortet, die beides zugleich ist: Präsenz des transzendenten Ewigen in der Zeit und Verzeitlichung des Ewigen. Diese Spannung sollte nicht durch die Reduktion auf eine „Ursprungsphilosophie" oder auf die „säkularisierende Philosophie" aufgelöst werden. Sie wird immer dann aufgelöst, wenn man ,von Außen' über Hegels Philosophie redet, statt sich in der Bewegung des Denkens zu halten. Allerdings bringt diese Lesart andere Schwierigkeiten mit sich, so vor allem die Frage nach der kritischen Distanz zu dem im Vollzug des Denkens Gedachten. Darauf kann an dieser Stelle jedoch nicht eingegangen werden. Neben der Kritik an Hegels Äußerungen zum Krieg gibt es auch Versuche, seine Gedanken vor Missverständnissen und Fehldeutungen zu schützen. So heißt es, die Geschichte habe Hegels realistische Sicht auf die Mechanismen, denen die Staaten in ihrem Verhältnis zueinander unterworfen sind, bestätigt. Es wird auch bemerkt, dass Hegel keine Illusionen über die zerstörerische Kraft der Kriege hat; er nennt die Weltgeschichte eine „Schlachtbank".4 Schließlich wird darauf aufmerksam gemacht, dass er im Verhältnis der kriegführenden Staaten zueinander den „Sitten der Nationen, als der inneren unter allen Verhältnissen sich erhaltenden Allgemeinheit des Betragens" eine wichtige Rolle zugeteilt hat. Die Sitten der Nationen sind das sittliche Band, in dem die kriegführenden Staaten als „an und für sich seiend füreinander gelten, so daß im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist". In der Regel wird jedoch auch von hegelfreundlichen Interpreten hinzugefügt, dass angesichts der Geschichte des 20. Jahrhunderts und des Vorhandenseins von Massenvernichtungswaffen die Hoffnung, dass die „Sitten der Nationen" die Kriege verhindern oder sie zumindest menschlich gestalten können, ins „Reich der schönen Träume und unerfüllbaren Ideale" Auch die hegelfreundlichen Interpreten schätzen seine Gedanken zum Krieg als letztendlich unerfreulich und trostlos ein. Der Versuch, über die Sitten der Nationen einen Ersatz für die institutionelle Absicherung des Friedens zu finden, scheint nicht zu

gehört.51

Vgl. Drilo, Leben aus der Perspektive des Absoluten, 138-154. Hegel, .Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1830/31', 157. Hegel, Rechtsphilosophie, § 339. Ebd., §338. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 400.

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Doch vielleicht ist in Hegels Hinweis auf die sich im Krieg erhaltenden Sitten noch mehr Potential zu erschließen, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Ich denke, dass uns Hegel tatsächlich einen Weg aus der Logik des Krieges zeigt, und zwar einen Weg, der über die Bildung des philosophischen Bewusstseins führt. die Kriege, weil jeder Staat „Individualität" und Vordergründig betrachtet entstehen 52 Im „ausschließendes Für-sich-sein" ist. Kampf um Anerkennung behaupten die Staaten ihren besonderen Willen gegeneinander, und da sie keine verbindliche Übereinkunft finden, versuchen sie ihren Streit durch einen Krieg zu entscheiden. Es gibt, wie gesagt, „keinen Prätor" zwischen den Staaten, die „Einstimmung der Staaten" ist „mit Zufälligkeit behaftet". Doch das ist für Hegel nicht der eigentliche Grund für die Notwendigkeit der Kriege. Die Kriege brechen nicht einfach über ein friedliebendes Volk ein, sie sind 53 nicht „als eine bloß äußerliche Zufälligkeit zu betrachten". Die in diesem Zusammenhang wichtige Textstelle der Rechtsphilosophie lautet:

überzeugen.

„Es ist notwendig, daß das Endliche, Besitz und Leben, als Zufälliges gesetzt werde, weil dies der Begriff des Endlichen ist. Diese Notwendigkeit hat einerseits die Gestalt von Naturgewalt, und alles Endliche ist sterblich und vergänglich. Im sittlichen Wesen aber, dem Staate, wird der Natur diese Gewalt abgenommen und die Notwendigkeit zum Werke der Freiheit, einem Sittlichen erhoben; jene Vergänglichkeit wird ein gewolltes Vorübergehen und die zum Grunde liegende Negativität zur substantiellen eigenen Individualität des sittlichen Wesens". -

Es ist also im „sittlichen Wesen" des Staates begründet, dass der Natur ihre Gewalt abgenommen und zum Werk der Freiheit erhoben wird. Es wird, so Hegel, gewollt, dass „das Endliche, Besitz und Leben, als Zufälliges gesetzt werde", und zwar deshalb, weil es „der Begriff des Endlichen ist", ein Zufälliges, ein „Nichtiges" und „Fallendes" zu sein und als solches „gesetzt" zu werden. Hegels Gedanke scheint mir folgender zu sein: Die zerstörerische Selbsttilgung des Endlichen kann nicht mit den Mitteln des Endlichen überwunden werden. Der Versuch, an die Stelle der Naturgewalt Moral und Kultur zu setzen, muss scheitern. Sittlichkeit kann ihren Schatten, die Selbsttilgung des Endlichen, nicht abschütteln. Sie kann die Natur nicht überwinden, indem sie deren Gewalt negiert, sondern nur, indem sie die Natur in ihr „Wesen" aufnimmt und sie so verwandelt. Hier bekommt die Philosophie ihre eigentliche Aufgabe: die in der Sittlichkeit aufgehobene Naturgewalt zu zivilisieren. Hier wird auch der Gedanke von der ,Tilgung der Zeit' wichtig: In der begreifenderinnernden Tilgung der Zeit wird die Nichtigkeit des Endlichen mit den Mitteln des absoluten Wissens .aufgefangen'. In dem begreifend-erinnernden Beisichsein des Geistes wird die Macht der Zeit getilgt, jedoch nicht mehr mit den Mitteln des Krieges,

Hegel, Rechtsphilosophie, § 322. Ebd., § 324, Anmerkung. Ebd.

Ebd.; vgl. auch Hegel, Enzyklopädie § 50, Anmerkung.

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Die Weltgeschichte und der Krieg

sondern mit denen des absoluten Geistes. Das Endliche zeigt sich dem absoluten Wissen als das Endliche des Unendlichen. In diesem Wissen, das immer auch ein praktisches Sich-Verhalten ist, wird seine scheinbare Selbständigkeit getilgt und eben nicht durch einen Krieg. Philosophie entsteht in dem zur Reife gelangten Staat. Wenn die Einsicht, der Krieg sei ein Vorübergehensollendes, er sei menschlich zu führen, er dürfe sich nicht gegen Privatpersonen richten und die Institutionen des Staates gefährden, wenn diese Einsicht zur Sitte, zur „Gewohnheit, Sinnesart und Charakter" geworden ist, dann ist der Boden vorbereitet für ihre pädagogische Tätigkeit. Der Krieg, der in das sittliche Wesen des Staates eingebildet ist, verliert durch die Sitten seine rohe Naturgewalt. Das ist die Stunde der Philosophie. Sie kann auf die Sitten zurückwirken. Ob die Kriege einmal aufhören werden oder nicht, oder, wie es in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion heißt, „wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte", ist zwar „ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbare praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie". Die „unmittelbare praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie" ist es aber, so können wir schließen, sich auf dem Standpunkt des absoluten Wissens „frei im Wesentlichen" zu halten. Daraus entsteht die Aufgabe der Ausbildung einer Kultur, in der man frei von Illusionen, man könnte die zerstörerische Gewalt der (menschlichen) Natur endgültig überwinden, diese als das notwendige Moment der Sittlichkeit erkennt und in diesem Wissen das immer auch ein praktisches Sich-Verhalten ist ihre negative Kraft ,tilgt'. Die „sittliche Gesundheit", von der Hegel sagt, dass sie durch die Bewegung des Krieges vor der „Fäulnis", in die sie ein „ewiger Friede" versetzen würde, bewahrt wird, braucht in ihrer Gestalt als philosophisch ausgebildete Tugend nicht den Krieg, um im Bewusstsein von der Nichtigkeit des Endlichen dieses doch erhalten zu wollen. Im Krieg wird nicht nur das Endliche als nichtig erfahren, sondern in ihm wird „das 57 sittliche Ganze selbst [...] der Zufälligkeit ausgesetzt". Es scheint aber so zu sein, dass Hegel an der Stelle der Rechtsphilosophie, an der er vom Ausgesetztsein des sittlichen Ganzen an die Zufälligkeit spricht, daraus nicht ein höheres philosophisches Bewusstsein hervorgehen lässt, sondern den „allgemeinen Geist", der sein „allerhöchstes Recht" 58 „in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt". Die „Weltgeschichte" ist, so heißt es, „ein Gericht, weil in seiner [des Geistes] an und für sich seienden Allgemeinheit das Besondere [...] nur als Ideelles" ist.59 „Das Besondere ist nur als Ideelles" d. h., es kann der Philosophie anvertraut werden. Die Philosophie kann mittelbar, durch Bildung, auf das „Gericht" der Weltgeschichte Einfluss nehmen. Die Weltgeschichte ist „nicht das bloße Gericht seiner [des Geistes] -

-

-

-

-

Hegel, Vorlesungen über Hamburg 1995, 96f. Hegel, Rechtsphilosophie, § 340.

G.W.F.

Ebd.

Ebd., §341.

die

Philosophie

der

Religion, hg.

von

W. Jaeschke, Bd. 3,

KazimirDrilo

44

Macht", sie ist nicht vernunftloses und blindes Schicksal. Sie ist, wie es ausdrücklich ' heißt, Wissen und Auslegung; sie ist ein Teil der Bildungsgeschichte des allgemeinen Geistes. Der Geist wirkt auf das Weltgericht durch die Bildungsarbeit der Kunst, der Religion und der Philosophie, in einem Prozess, der „Jahrtausende" dauern kann: „Daß die Philosophie unserer Zeit hervorgebracht werde dazu hat solch eine lange Zeit gehört; so träge und langsam arbeitete er [der Geist], sich an dieses Ziel zu bringen. [...] Er schreitet

immer vorwärts zu, weil nur der Geist ist Fortschreiten. Oft scheint er sich vergessen, verloren wie Hamlet vom zu haben; aber innerlich sich entgegengesetzt, ist er innerliches Fortarbeiten Geiste seines Vaters sagt, ,Brav gearbeitet, wackerer Maulwurf -, bis er, in sich erstarkt, jetzt die Erdrinde, die ihn von seiner Sonne, seinem Begriffe, schied, aufstößt, daß sie zusammen-

fällt."62

In diesem Sinne ist der Philosophierende, durch dessen beharrliche Arbeit der Geist sich erkennt und verwandelt, der wahre .Maulwurf'. Die Bildungs- und Friedensarbeit der Philosophie kann Gefnerationen dauern, bis die Zeit irgendwann vielleicht für die Überwindung des Krieges reif ist. Es ist der eine lebendige Geist, der durch die Philosophie die Gründe, die zum Krieg führen, erkennt und sie zu überwinden vermag, indem er sich selbst umbildet. So bildet er auch mittelbar die Sitte und die Weltgeschichte um in einer Arbeit, die eben „Jahrtausende" dauern kann. Hegel weiß, dass „der Zustand 3 der Welt, eines Volkes von dem Begriff abhängt, den es von sich hat". Auf die Frage, welcher Standpunkt sich im Zustand des Krieges als derjenige zeigt, der sich „erst später in der Entwicklung darbietet", können wir antworten: dieser höhere Standpunkt ist die Erkenntnis, dass das Offenbarwerden der Negativität des Endlichen nicht an einen Krieg gebunden sein muss. Diese Erkenntnis ist, antizipiert, in den Sitten der Nationen schon da. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, ihr Wirklichkeit und Dauer zu verleihen. Auf dem Standpunkt des absoluten Wissens wird erkannt, dass der Wille zum Krieg in der zerstörerischen Selbsttilgung des Endlichen begründet ist; dieser Wille wird in eine philosophisch gebildete Tugend verwandelt. Die Sitten der Nationen weisen über sich hinaus auf die Bildungsarbeit der Philosophie. Wie ist vor dem Hintergrund des bisher Gesagten das Verhältnis zwischen der Weltgeschichte und dem absoluten Wissen zu verstehen? Der § 552 der Enzyklopädie und der § 348 der Rechtsphilosophie geben uns einen Hinweis. Hegel unterscheidet drei Weisen, wie sich der denkende Geist der Weltgeschichte erfasst: erstens als „bewußtlose Sitte", zweitens als der in der Sittlichkeit denkende Geist; dieses Wissen hat jedoch „noch selbst die immanente Beschränktheit des Volksgeistes". Dieses von der Wirklich-

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Ebd., §342. Ebd. G.W.F. Hegel, Bd. 20, 456. Ebd., 506.

Vorlesungen über die Geschichte

der

Philosophie, in: Werke,

Frankurt/M. 1970,

keit des Volksgeistes beschränkte sittliche Bewusstsein wird drittens vom „Wissen des absoluten Geistes" unterschieden.64 Das Wissen des absoluten Geistes erkennt die Beschränktheit des sittlichen Lebens, das sich mit dem Volksgeist identifiziert. Es ist jedoch nicht nur von der „bewußtlosen Sitte" und der Beschränktheit des Volksgeistes unterschieden, sondern auch von dem beschränkten Wissen der „welthistorischen Individuen", von denen es heißt, sie seien „die das Substantielle verwirklichenden Subjektivitäten". Die weltgeschichtlichen Individuen sind zwar die „Lebendigkeiten der substantiellen Tat des Weltgeistes und so

unmittelbar identisch mit derselben", sie „haben auch die Ehre derselben", wenn auch keinen Dank ihrer Mitwelt; allerdings sei ihre Rolle „ihnen selbst verborgen und nicht Objekt und Zweck". Der Hinweis auf die Unwissenheit der welthistorischen Individuen erlaubt uns, das Eigentümliche der philosophischen Betrachtung besser zu verstehen: weder der in seinem Wissen und in seiner Tat beschränkte Volksgeist, noch die das Substantielle verwirklichenden, jedoch ihren eigenen Status nicht begreifenden welthistorischen Individuen sind das Element, in dem sich der denkende Geist der Weltgeschichte vollständig erfasst. Nur die philosophische Betrachtung, die sich wissend zum Element für die substantielle Tat des Geistes und zum Medium seiner Selbstauslegung erhebt, die also Wissen und Tat vereinigt, ist, wie es heißt, das „Gefäß" seiner (des Geistes) Ehre. Fassen wir zusammen: Die Weltgeschichte ist der Gegenstand der philosophischen Betrachtung. Diese Tatsache geht über die Feststellung hinaus, in der Philosophie der Weltgeschichte seien Entsprechungsverhältnisse mit den logischen Denkbestimmungen zu suchen oder ihre Aufgabe erschöpfe sich darin, die geschichtlichen Prozesse adäquat zu beschreiben und zu begreifen. Diese beiden Ansichten greifen zu kurz. Sie beachten nicht die der Philosophie aufgetragene (Selbst-)Bildungsaufgabe, die nicht in einer .moralischen' Aufforderung, die Welt zu verbessern, begründet ist, sondern die zugleich mit dem Begreifen und Konstituieren ihres Gegenstandes entsteht. Die Philosophie ist „das Innerste" der Weltgeschichte; sie ist es, weil sich der Geist erst durch sie als die Welt gestaltend und sie erhaltend begreift. Die Weltgeschichte philosophisch zu betrachten, bedeutet für Hegel, dass der Philosophierende zum Mitarbeiter der schöpferischen Arbeit des Geistes wird. Über die „immanente Beschränktheit des Volksgeistes" hinauszudenken, das Ausgeliefertsein des sittlichen Ganzen an die Zufälligkeit zu erkennen, die Nichtigkeit des Endlichen zu durchschauen und trotzdem am Endlichen festzuhalten und das alles, ohne zu dieser Erkenntnis durch den Krieg kommen zu müssen diese Erkenntnis scheint mir ein lohnendes Ziel der philosophischen Bil-

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Hegel, Enzyklopädie, § 552. Hegel, Rechtsphilosophie, § 348.

46

Kazimir Drilo

dungsarbeit zu sein. Eine bessere Aufgabe als die, dasjenige, das den Drang hat unterzugehen im Sein zu halten und das nicht-philosophische Wissen daraufhin zu bilden, kann es für Philosophie kaum geben.

Franck Fischbach (Toulouse)

L'effacement des figures de l'ennemi et de la guerre chez Hegel

Remarque du §502 de l'Encyclopédie (1827/1830), Hegel récapitule en quelques lignes l'essentiel de ses critiques et de ses griefs à l'égard du droit naturel. Il relève tout d'abord une ambiguïté fondamentale dans l'expression même de „droit naturel": ce terme peut en effet tout aussi bien désigner le droit „en tant qu'il est présent sur un mode naturel immédiat" que „le droit tel qu'il se détermine par le concept", c'est-à-dire le droit compris selon sa nature, son essence ou son concept. Il ne s'agit là de rien d'autre que de la critique déjà très tôt formulée par Hegel dans l'article de 1802 sur Les manières de traiter scientifiquement du droit naturel: la tradition du droit naturel n'aurait cessé d'hésiter entre l'empirisme et le formalisme, c'est-à-dire entre la tentation de comprendre le droit comme un donné naturel, comme un être immédiat et d'autre part la tentative de saisir le droit dans son concept, c'est-à-dire dans la figure d'un devoir-être auquel rien ne correspond dans l'effectivité. Le projet hégélien se définirait dans ces conditions comme celui de comprendre et saisir le droit comme concept réalisé, c'est-à-dire d'exposer l'unité même du concept du droit et de l'effectivité qu'il se donne à lui-même par lui-même. Dans l'économie du système achevé, c'est-à-dire dans Y Encyclopédie, la critique du droit naturel peut se redoubler d'un argument supplémentaire, tiré de l'architectonique même dudit système: le concept du droit naturel ne peut se formuler comme tel que sur le fond d'une ignorance de la différence entre la sphère de la nature et celle de l'esprit. „Le droit et toutes ses déterminations, écrit Hegel, se fondent uniquement sur la libre personnalité'', c'est-à-dire sur une détermination qui, dit-il, „est le contraire de la détermination par la nature". Rapporter le concept du droit en ses déterminations à la libre personnalité, comme le fait Hegel ici, c'est rappeler en effet que le droit possède son lieu propre dans la sphère de la volonté libre se déterminant elle-même, c'est-à-dire dans la sphère de l'esprit se voulant lui-même, qui n'est autre que ce que Hegel appelle „l'esprit objectif. Cela nous renvoie à la définition extrêmement large et englobante du droit donnée au § 4 des Principes de la philosophie Dans la

Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), hg. von F. Nicolin u. O. Pöggeler, Hamburg 1991, §502, Anmerkung, 396-397 [noté: Enz. 1830, §502 Anm., 396-397]; trad.: Encyclopédie des sciences philosophiques, III: Philosophie de l'esprit, trad. B. Bourgeois, Paris 1988, §502 Rmq. (1827-1830), 292 [noté: Enc. 1827/30, §502 Rmq., 292]. G.W.F.

2

Ibid.

48

Franck Fischbach

du droit: „le système du droit est le règne de la liberté effectuée, le monde de l'esprit produit à partir de l'esprit lui-même en tant que seconde nature".3 Le monde du droit est bien pour Hegel celui d'une nature seconde, c'est-à-dire d'une nature produite et non pas trouvée, d'une nature produite et instituée à partir d'un principe non naturel qui est l'esprit en tant que vouloir de soi-même, donc comme ce que Hegel appelle „la volonté libre infinie". Le même § 4 des Principes dit en effet très clairement que „le terrain du droit est, de manière générale, le spirituel"; c'est le spirituel déterminé plus particulièrement non pas comme „intelligence", c'est-à-dire comme „esprit subjectif essentiellement théorique, mais comme „volonté", c'est-à-dire comme esprit pratique se voulant et s'effectuant dans un monde qu'il produit à partir de lui-même: „la situation et le point de départ plus précis [du droit], précise encore Hegel, sont la volonté qui est libre, si bien que la liberté constitue sa substance et sa destination". A proprement parler, il n'y a donc pas selon Hegel de „droit naturel": le prédicat „naturel" contredit immédiatement le sujet „droit", et inversement, de sorte qu'on ne peut parler, en toute rigueur, que d'un „droit spirituel" en ce sens qu'il n'y a de droit que sur le terrain de l'esprit et pas sur le sol de la nature. La nature, c'est et ce ne peut être pour Hegel que l'absence de droit ou le non-droit, c'est-à-dire la violence (Gewalt). Voilà qui, à première vue, n'est pas d'une très grande originalité: dans une référence explicite au fameux „e statu naturae exeundum est" du premier chapitre du De cive de Hobbes, Hegel écrit, toujours dans la Remarque du §502, que l'état de nature est „un état de violence et de non-droit dont on ne peut rien dire de plus vrai si ce n'est qu'*7 faut sortir de lui". De l'état de nature, dont Hegel rappelle qu'il n'est pas autre chose qu'une „fiction", Hobbes aurait donc dit la seule chose qu'on puisse en dire, à savoir qu'il faut absolument s'en extraire parce que cet état est celui de la violence nue et la guerre de tous contre tous. L'erreur de Hobbes aurait été de maintenir néanmoins l'idée d'un droit naturel dont la simple limitation permettrait le passage à la société civile: autrement dit, si l'état de nature est bien tel que Hobbes le décrit, alors le droit naturel ne peut pas se concevoir autrement que comme l'absence même du droit ou comme le contraire du droit, de sorte que le droit de la nature, comme le dit Hegel, „est l'être-là de la force et le se-faire-valoir de la violence".7 Hegel institue donc une coupure radicale entre d'une part une situation pré-politique que l'on ne peut se figurer autrement que comme une situation de non-droit absolu, et d'autre part une situation politique d'où la violence, dès lors que cette situation existe, est radicalement et définitivement bannie. Pour Hegel, il ne peut donc y avoir de vioGrundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von B. Lakebrink, Stuttgart 1970, §4, 74 [noté: GPR, §4, 74]; trad.: Principes de la philosophie du droit, trad. J.-F. Kervégan, Paris 1998, §4, 100 [noté: PPD, §4, 100]. GPR, §4, 74; PPD, §4,99.

Hegel,

4

5 6 7

Ibid. Enz. 1830,

Ibid.

§ 502 Anm., 397; Enc. 1827/30, § 502 Rmq., 292.

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

49

pré-politique, et réciproquement, la politique exclut nécessairement de soi la la violence; politique est la négation même de la violence. Il faudrait insister ici sur le fait que cette conception n'a sans doute d'hobbesien que les apparences: une telle césure entre un état de nature comme pure violence et un état politique comme absence de violence n'a en réalité pas lieu chez Hobbes. On sait que l'état de nature n'est pas tant selon lui, contrairement à ce que Hegel semble croire ici, une situation de guerre déclarée, effective et permanente, qu'une situation de guerre latente, c'est-à-dire une situation où la guerre et la violence sont seulement constamment possibles: c'est la menace constante de la violence et du rapport de force qui rend cet état insupportable et misérable, sans même qu'il soit besoin que cette violence s'exerce effectivement. Tout au contraire, un homme de l'état de nature tel que conçu par Hobbes hésiterait bien plutôt avant d'entrer dans un rapport de force effectivement violent dans la mesure même où, les forces n'étant pas suffisamment inégales à l'état de nature, personne ne peut être assuré contre un retournement du rapport de force à ses dépens. L'état de nature est bien d'abord selon Hobbes un état de „crainte réciproque" due à la menace permanente du recours à la violence. La violence est alors bien plus un risque qu'une réalité: Hobbes écrit clairement au chapitre 13 du Leviathan que „la guerre ne consiste pas seulement dans la bataille et dans les combats effectifs, mais dans un espace de temps où la volonté de s'affronter en des batailles est suffisamment avérée"; de même que le mauvais temps ne consiste pas dans une ou deux averses ayant effectivement lieu, mais „dans une tendance qui va dans ce sens pendant un grand nombre de jours consécutifs, de même la nature de la guerre ne consiste pas dans un combat effectif, mais dans une disposition avérée allant dans ce sens aussi longtemps qu'il n'y a pas l'assurance du contraire". Bref, „l'état de guerre" de Hobbes n'est pas la guerre et l'état de nature n'est pas la violence nue ou la violence à l'état brut, mais la simple menace d'un recours toujours possible à la violence, une menace dont les individus donnent des signes suffisamment évidents pour ne pas avoir à passer à l'acte parce qu'aucun d'entre eux n'est suffisamment fort et que tous sont trop faibles pour y avoir réellement intérêt. C'est là un point particulièrement mis en évidence par Foucault dans son cours de 1976 („Il faut défendre la société"): lence que

o

„cet état que Hobbes décrit n'est pas du tout, selon Foucault, un état naturel et brutal, dans lequel les forces viendraient s'affronter directement: on n'est pas dans l'ordre des rapports directs des forces réelles. [...] Il n'y a pas de batailles dans la guerre primitive de Hobbes, il n'y a pas de sang, il n'y a pas de cadavres: il y a des représentations, des manifestations, des expressions emphatiques, rusées, mensongères [...]; on est sur le théâtre des représentations échangées [...], on n'est pas réellement dans la guerre."

De sorte que, conclut Foucault, „ce qui caractérise l'état de guerre, c'est une sorte de diplomatie infinie de rivalités qui sont naturellement égalitaires." C'est là ce qui perTh. Hobbes, Leviathan, trad. F. Tricaud, Paris 1971, Ch. 13, 124. M. Foucault, „Il faut défendre la société". Cours au Collège de France, 1976, éd. par M. Bertani et A. Fontana, Paris 1997, 79-80.

Franck Fischbach

50

Foucault de dire que, malgré les apparences, Hobbes pas plus d'ailleurs que Machiavel n'est pas à compter au nombre des „théoriciens de la guerre dans la société civile".10 La guerre, comme violence effective et rapport de forces n'est en effet pas chez Hobbes, selon Foucault, un concept opératoire pour penser la société civile, et cela apparaît à plusieurs niveaux: dans sa conception de l'état de nature d'abord, où l'on vient de voir que ce n'est pas la guerre, le pur rapport de force ou la violence nue qui régnent, mais seulement la menace de la guerre et le risque de la violence. Mais aussi dans sa conception de la société civile: si l'état de nature n'est pas une guerre réelle, la société civile n'est pas non plus inversement une paix complète, réelle et définitive. Le risque y persiste, la menace y demeure, et avec eux la peur également, sans pour autant que la société civile soit le théâtre de conflits ouverts et de batailles réelles bien au contraire: la société civile est instituée pour conjurer le risque de la guerre civile. Mais les individus de la société civile vivent néanmoins dans la conscience d'une résurgence toujours possible du risque de l'agression et c'est pourquoi ils restent sur leurs gardes: ce qui illustre cette persistance du risque et de la menace jusque dans l'état politique, c'est l'exemple fameux de l'homme de la société civile qui s'arme en partant en voyage, qui verrouille ses portes en allant se coucher et qui, dans sa maison même, ferme ses coffres à clef." Que conclure de cela, sinon que Hobbes ne conçoit pas plus l'état civil comme une situation de paix complète qu'il ne se figure l'état de nature comme le règne de la force brute et de la violence nue? Entre l'un et l'autre état persiste une menace, ouverte et permanente dans l'état de nature, limitée et en partie conjurée dans l'état civil, mais en partie seulement. Il en va tout autrement chez Hegel. D'un côté, l'état de nature est bien compris par lui comme „un état de violence et de non-droit".1 Et cette violence ne consiste nullement pour lui en une simple menace, ni en un simple risque: cette violence est effective et elle consiste en un rapport de forces tout à fait réel puisqu'il ne s'agit pas d'autre chose que de ce que la Phénoménologie de l'esprit avait thématisé sous le titre de „lutte à mort" et de „lutte pour la reconnaissance". Pour reprendre les termes de Foucault à propos de Hobbes, dans cette bataille là, c'est-à-dire dans la lutte hégélienne, il y a bien du sang et des cadavres. La mort de l'un des combattants n'est pas une simple possibilité, c'est un événement bien réel, même s'il signifie en même temps l'échec de la lutte pour la reconnaissance: lorsque la contradiction qu'est la lutte aboutit à la mort de l'un des deux combattants, la contradiction se résout, selon le § 432, de manière „abstraite et grossière", de sorte que l'absence de reconnaissance produit une „contradiction nouvelle", c'est-à-dire une reprise du combat avec un nouvel adversaire. met à

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-

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Hobbes, Leviathan, Ch. 13, 125. Enz. 1830, §502 Anm., 397; Enc. 1827/30, §502 Rmq., 292.

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L EFFACEMENT DES FIGURES DE L ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL '

'

„La lutte pour la reconnaissance, rappelle le même §432 de Y Encyclopédie, est une lutte où il y va de la vie et de la mort". En effet, il s'agit bien dans cette lutte d'extorquer de l'autre la reconnaissance de soi comme d'une réalité humaine et non pas seulement vivante, et une telle reconnaissance ne peut s'obtenir sans que chacun mette en danger sa propre vie et la vie de l'autre, c'est-à-dire sans que chacun risque effectivement la mort et fasse courir ce même risque à l'autre. Mais Y Encyclopédie ajoute à la Phénoménologie de 1807 l'idée essentielle que „la lutte pour la reconnaissance et la soumission à un maître sont le phénomène au sein duquel a surgi la vie en commun des hommes, comme un commencement des Etats". La lutte pour la reconnaissance passe par la lutte à mort, puis par l'abandon de l'un des combattants qui se refuse à courir le risque jusqu'au bout, ce qui aboutit à sa soumission totale à l'autre avant que celui-ci soit finalement contraint à son tour à une reconnaissance réciproque et non pas seulement unilatérale: le processus de cette lutte, marquée par l'usage brutal de la force puis par la soumission complète à un maître parfaitement despotique, ce processus donc, nous dit Hegel, est celui qui donne naissance à „la vie en commun des hommes": il faudrait même dire qu'il donne naissance à la vie humaine tout court ou à la vie proprement humaine puisqu'il n'y a de vie humaine que commune. Cette violence de la lutte à mort puis de la domination brutale, ce n'est pas à proprement parler une violence que les hommes s'infligeraient à l'état de nature: c'est la violence par laquelle des êtres, qui ne sont précisément pas encore des hommes, entreprennent de s'arracher à la nature et à l'animalité pour se poser comme des hommes dans l'aveu de la reconnaissance réciproque. L'idée décisive de Hegel ici, c'est qu'il n'y a pas de nature humaine, qu'il n'y a pas d'humanité qui soit d'emblée donnée comme telle: l'humanité n'existe pas en dehors de l'acte par lequel des êtres se reconnaissent réciproquement et mutuellement comme hommes ou en tant ^«'hommes. Aussi Hegel écrit-il clairement dans l'Additif du § 432 que „la lutte pour la reconnaissance constitue un moment nécessaire dans le développement de l'esprit humain". Mais, si le caractère de l'humain n'est rien en dehors de l'acte par lequel des êtres se reconnaissent réciproquement en tant qu'hommes, c'est-à-dire s'extorquent réciproquement l'aveu qu'ils sont hommes, cela veut dire aussi que l'humanité n'apparaît comme telle que dans la réciprocité d'une reconnaissance, et donc dans la communauté. De sorte que l'avant de la communauté, traditionnellement désigné comme „état de nature", c'est aussi l'avant de l'humanité. La lutte pour la reconnaissance est donc proprement anthropogène: c'est ce que Kojève avait si bien aperçu dans son commentaire de la Phénoménologie. Et donc l'état de nature est proprement inhumain, de sorte qu'il faut dire à la fois qu'il est la situation de non-droit absolu, la situation du tort absolu, et

qu'il

ne

peut pas être conçu pour

Enz. 1830,

cette raison comme le fondement à

§432, 352; Enc. 1827/30, §432, 230. Ibid., §433, 352; trad. 231. Enc. 1827/30, §432 Additif, 533.

partir duquel

le

Franck Fischbach

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droit serait déductible dans sa nécessité: Jean-François Kervégan a très justement noté à ce propos que, chez Hegel, „la violence est originaire, mais qu'elle n'est pas fondatrice".16 La violence nue de la lutte à mort et de la domination absolue peut être comprise comme l'origine de la vie humaine comme vie commune, l'origine du droit et de l'Etat, mais certainement pas comme leur fondement, puisqu'elle est l'absence même du droit et le phénomène du tort le plus complet. Dire que l'on passe à un moment de l'inhumain à l'humain, du non-droit au droit est une chose; mais dire que l'inhumain fonde l'humain ou que le non-droit fonde le droit en est une autre dont on aperçoit immédiatement l'absurdité qu'il y aurait à la soutenir, du moins d'un point de vue hégélien. En aucun cas donc, selon Hegel, l'état de nature ne peut être considéré comme étant en puissance du droit, puisqu'il est l'absence du droit. Aussi Hegel écrit-il clairement au § 433 que autant le fondement du droit, bien que ce soit le moment nécessaire ex justifié dans le passage de l'état de la conscience de soi enfoncée dans le désir et la singularité à l'état de la conscience de soi universelle. C'est là le commencement extérieur, ou le commencement dans le phénomène, des Etats, non leur principe substantiel'.

„la violence [...] n'est pas pour

Le fondement du droit, de l'Etat et de la vie communautaire comme vie humaine est donc à chercher dans une sphère autre que la nature, à savoir dans la sphère de l'esprit à laquelle les combattants de la lutte pour la reconnaissance sont précisément en train d'accéder comme à une sphère ou un plan d'existence radicalement et essentiellement autre que la nature: et c'est précisément l'enjeu de la lutte pour la reconnaissance pour ceux qui l'engagent que de se montrer réciproquement que „l'être naturel qui est le leur 18 [est] quelque chose de négatif, c'est-à-dire quelque chose à quoi ils ne sont pas attachés parce que là n'est pas l'essentiel de leur être. Pour s'extorquer réciproquement l'aveu de ce qu'ils sont hommes, ils doivent se prouver mutuellement que le principe de leur existence est autre qu'un principe seulement naturel, qu'ils placent l'essence de leur être non dans la nécessité d'une nature immédiatement donnée comme telle, mais dans la liberté de la volonté: ils se le prouvent réciproquement en se contraignant mutuellement au risque de la mort et donc en s'exposant à la perte violente du principe de la vie naturelle immédiate. C'est pourquoi ces combattant sont désignés comme étant encore dans une situation d'enfoncement dans le désir et dans la singularité; Hegel y revient dans l'Additif du §432 lorsqu'il écrit que „dans Y état de nature les hommes Cela veut simplement dire qu'ils n'y sont pas sont seulement comme des

singuliers".19

Kervégan, .Politique, violence, philosophie', in: Lignes n°25 („Violence loque de Cerisy 1994), mai 1995, Paris.

J.-F.

et

politique", Col-

Enz. 1830, §433, 352; Enc. 1827/30, §433, 231. Voir aussi §432 Additif, trad. 533: „bien que l'Etat puisse naître aussi par la violence, il ne repose pourtant pas sur elle; la violence a seulement amené à l'existence, en le faisant naître, quelque chose qui est fondé en droit en et pour soi". Enc. 1827/30, §432 Additif, 532. Ibid., 533.

53

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

gw'hommes en ce sens que le côté universel de l'existence humaine n'y a pas encore reçu, par les hommes eux-mêmes, sa reconnaissance: lorsqu'une telle reconnaissance a lieu, alors on n'est plus dans l'état de nature, on a changé d'élément, de niveau ou de plan d'existence, un saut a été franchi au dessus du gouffre qui sépare la vie naturelle de ce que Hegel appelle la vie éthique au sein de laquelle, comme dit Hegel, „l'homme est reconnu et traité comme être rationnel, comme libre, comme per-

encore en tant

sonne". A charge ensuite pour les individus singuliers de se montrer dignes de cette reconnaissance de leur rationalité et de leur liberté, c'est-à-dire de leur humanité reconnaissance dont le principe est acquis dès lors qu'ils vivent une vie communautaire dans une famille, dans des coutumes éthiques et sous des lois. Le principe de la vie humaine comme vie éthique irréductible à la vie naturelle (par où Hegel retrouve la différence entre zoé le fait de vivre et bios la forme de vie) est acquis au terme de la lutte pour la reconnaissance, mais tout ne s'arrête pas là: au-delà de cette simple acquisition et affirmation d'un principe fondé en lui-même et non en la nature, il reste encore tout le procès du développement historique de ce principe, ce qui passe par des formes de vie éthique que ne réalisent qu'imparfaitement le principe de celle-ci. Mais ce processus, d'un point de vue strictement hégélien, ne peut pas se comprendre comme une poursuite de la lutte pour la reconnaissance: le théâtre de celle-ci est uchronique et anhistorique, cette lutte précède la politique et l'histoire et il n'y a de politique et d'histoire que parce que cette lutte originaire est achevée et a produit son résultat, à savoir la reconnaissance réciproque des hommes comme tels. Le § 349 des Principes de la philosophie du droit précise bien, dans sa Remarque, que „la bravoure du combat formel de la reconnaissance et de la vengeance" se déroule „avant le commencement de l'histoire". Par là est signifié l'accès à un plan d'existence qui est proprement celui de ce que Hegel appelle l'esprit. L'acte de la reconnaissance réciproque correspond bien à ce que la Phénoménologie avait appelé „l'expérience de ce qu'est l'esprit" et qu'elle avait approchée en ces termes: l'esprit, en tant qu'il se fonde en et par lui-même, est bien „cette substance absolue qui, dans la parfaite liberté et indépendance de son opposition, c'est-à-dire des consciences de soi diverses étant pour soi, constitue leur unité: 22 Toute vie humaine, c'est-à-dire un Moi qui est un Nous, et un Nous qui est un Moi". toute vie consciente d'elle-même, se meut dans l'élément de ce Nous qui est aussi bien Moi et ce Nous se fonde lui-même sur l'échange de la reconnaissance réciproque, c'està-dire en dernière instance sur „l'expérience de ce qu'est l'esprit". Cette expérience est pour nous originaire et native, elle est le résultat d'une lutte primitive dont le terrain était encore l'autre de l'esprit, c'est-à-dire la nature. Ce terrain -

-

-

-

GPR, § 349 Anm., 495; PPD, § 349 Rmq., 416. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels u. H. Clairmont, Hamburg 1988, 127; trad.: La phénoménologie de l'esprit, trad. J. Hyppolite, Paris 1941, tome 1, 154.

Franck Fischbach

54

fois quitté, la lutte pour la reconnaissance est également achevée parce qu'il n'y a plus de sol où elle pourrait se dérouler. C'est du moins certainement ainsi qu'il faut voir les choses d'un point de vue hégélien: on ne peut donc faire se poursuivre la lutte pour une

la reconnaissance dans l'histoire, comme Kojève, ou dans la société, comme plus ré23 cemment Axel Honneth, qu'au prix d'une distance par rapport à la lettre hégélienne; de telles lectures ouvrent des perspectives tout à fait stimulantes, mais elles supposent toutes d'avoir rompu avec le hégélianisme sur un point essentiel. En effet, on a vu que Hegel rejette la dimension du conflit et de la lutte dans un état de nature dont il fait, bien plus radicalement que Hobbes, le lieu de la violence pure et du non-droit absolu, l'état de l'injustice absolue et complète", selon l'expression de Hegel dans La raison dans l'histoire. La contrepartie de cette conception, c'est que Hegel considère en revanche que le modèle de la guerre, de la lutte et du rapport de forces est inopérant dès lors qu'il s'agit de comprendre et de décrire la vie éthique dans sa dimension politique. Dès lors qu'on est sorti de l'état de nature, il est acquis que l'homme est ou du moins doit être, comme dit l'Additif du § 432, „reconnu et traité comme être rationnel, comme 25 libre et comme personne". Tout acte violent, tout délit ou crime ne peut plus apparaître comme tel que par rapport à et sur le fond de cette exigence de reconnaissance incarnée et portée par le droit. Toute violence ici ne peut plus avoir lieu que sur fond de reconnaissance préalable : il ne peut plus s'agir de la violence primitive et brute de la lutte à mort. C'est bien pourquoi la violence qui peut se manifester dans la vie éthique ne provient en fait jamais de celle-ci, mais seulement d'une résurgence de la naturalité contre laquelle la vie éthique réagit aussitôt sous la forme de la contrainte juridique: le droit pénal exerce bien une violence et une contrainte sous la forme du châtiment, mais cette violence est toujours seulement une réplique, une violence seconde ou, comme dit Le déni de reconnaissance qui Hegel, „une violence qui abroge l'autre, la attente à mes biens, voire qui se fait crime en attentant à „ma capacité juridique", c'està-dire à ma personne, cette violence n'est en fait rien, elle est „nulle au dedans de soi",

première".27

A. Honneth, Kampf um Anerkennung, Frankfurt/M. 1994; trad.: La lutte pour la reconnaissance, trad. P. Rusch, Paris 2000. G.W.F. Hegel, La raison dans l'histoire (Introduction aux Leçons sur la philosophie de l'histoire), trad. K. Papaioannou, Paris 1979, 260. Enc. 1827/30, §432 Additif, 533. La nuance introduite par Axel Honneth par rapport à la lettre hégélienne serait la suivante: ce qui caractérise les sociétés modernes, ce ne serait pas, comme chez Hegel, une reconnaissance toujours d'emblée acquise, mais une exigence ou une attente de reconnaissance. Selon Honneth, cette attente de reconnaissance est structurante dans le cadre de la socialisation des individus et de la formation intersubjective de leur identité, mais en même temps subsiste toujours la possibilité que cette attente soit déçue et que les individus fassent l'épreuve d'un déni de reconnaissance. Cette expérience négative du mépris, sur fond de reconnaissance attendue, permet de mettre au jour l'économie morale qui gouverne la conflictualité sociale moderne. GPR, §94, 189; PPD, §94, 176.

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

55

28

à son néant dans et par le châtiment qui est, proprement, Hegel, et elle retourne 29 „abrogation du crime". La violence n'a plus aucune positivité: elle est abolie et niée aussitôt qu'elle surgit; elle s'avère totalement impuissante à restaurer un état de la violence. Par son acte, le criminel est même impuissant à nier la reconnaissance dont il jouit et dont il continue à jouir malgré son acte en tant qu'être raisonnable et libre: c'est d'ailleurs pourquoi la peine et le châtiment qu'il subit sont son droit le plus propre et lui signifient précisément sa reconnaissance en tant que personne. „La lésion que subit le criminel, écrit Hegel, n'est pas seulement juste en soi [...], elle est son droit; elle est

dit

droit à même le criminel lui-même, un droit posé [...] dans son action." Dans l'application de la peine, il ne s'agit aucunement et il ne peut s'agir de „considérer le criminel comme une bête nuisible qu'il faut mettre hors d'état de nuire": ce serait alors en effet sortir de l'élément éthique de la reconnaissance et rejoindre le criminel sur le terrain d'une violence pure en entrant avec lui dans un rapport de force brutal en même temps qu'on le considérerait comme un ennemi. Or cette relation au criminel comme à un ennemi est par principe exclue de la relation juridique avec lui: „considérer la peine comme contenant le droit propre [du criminel], c'est bien „honorer [celui-ci] comme un être rationnel". C'est bien là ce qu'il y a, selon Hegel, de rationnel dans le crime et dans la peine, dans la relation juridique pénale, et c'est le propre de la vie éthique que d'avoir progressé historiquement toujours davantage en direction de la réalisation de cette rationalité. Cette dernière est pleinement effective dans la forme de vie éthique dont Hegel entreprend l'exposé rationnel dans les Principes de la philosophie du droit, à savoir la forme moderne de la vie éthique portée à la pleine conscience d'elle-même dans l'Etat moderne. En celui-ci, la figure de l'ennemi n'est pas seulement réduite et contenue: plus fondamentalement, elle a disparue, et avec elle les figures de la violence, de la lutte et du rapport de force dans leur nudité originelle. L'Etat rationnel moderne n'a plus d'ennemi en dedans de lui-même; il ne peut tout au plus encore en avoir qu'en dehors de lui-même: mais là même, la violence qu'il est susceptible d'exercer extérieurement sur d'autres Etats en entrant en guerre avec eux n'est pas une violence pure puisqu'elle n'est que l'acte de faire valoir son droit, lui-même fondé sur la rationalité supérieure dont il est porteur. Ce qui atteste particulièrement ce fait que la violence et la guerre se sont définitivement absentées de la vie éthique moderne, sinon à l'extérieur de l'Etat du moins en son sein, c'est l'état d'esprit subjectif, la Gesinnung des citoyens de l'Etat moderne. Il est utile ici de se reporter à l'Additif du §268 des Principes de la philosophie du droit: „l'habitude nous aveugle, écrit Hegel, au point de rendre pour nous invisible le fondeaussi

un

Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,

§97, 194; trad., 178. §99,195; trad., 179. §100, 199; trad., 180. § 100 Anm., 200; trad., 181.

Franck Fischbach

56

lequel repose toute notre existence"; et Hegel poursuit en s'appuyant sur un exemple: „lorsque quelqu'un marche dans la rue en pleine nuit sans danger, il ne lui vient pas à l'esprit qu'il pourrait en être autrement; car l'habitude d'être en sécurité est ment sur

seconde nature et l'on ne se rend pas compte que cette sécurité est uniquement le résultat d'institutions particulières. La représentation s'imagine souvent que c'est la force qui assure la cohésion de l'Etat; mais ce qui maintient l'Etat, 32 c'est uniquement le sentiment de l'ordre, partagé par tous." Suivant les indications 33 précieuses de Bruno Karsenti, cette scène de la vie ordinaire dans l'Etat moderne est à rapprocher de celle que nous empruntions tout à l'heure à Hobbes: alors que l'homme de la société civile hobbesienne prend garde de s'armer lorsqu'il part en voyage, de verrouiller sa porte le soir et de fermer ses coffres sous son propre toit, le citoyen de l'Etat moderne hégélien arpente les rues de sa ville en pleine nuit dans la conviction immédiate et irréfléchie qu'il est en sécurité et que, fondamentalement, il ne risque rien. Mais le plus remarquable, et ce qui rompt complètement avec une conception hobbesienne de la sécurité dont on peut dire qu'elle maintient la possibilité de la violence et du surgissement de la figure de l'ennemi jusque dans la société civile, le plus remarquable donc, c'est que l'assurance et la sérénité du citoyen hégélien ne tiennent ni se fondent sur aucun déploiement de force de la part de l'Etat: l'Etat moderne n'a même plus besoin de montrer sa force et sa capacité de répression pour garantir l'ordre et la sécurité. L'ordre public et la sécurité des personnes ne se fondent pas, ou plus, sur la force et la répression policières, nous dit Hegel, mais simplement sur le sentiment même de l'ordre, sur le simple sentiment unanimement et spontanément partagé d'être en sécurité. Cette confiance spontanée en l'ordre témoigne de la disparition de la figure de l'ennemi et de l'effacement de la violence en sa possibilité même dans l'éthicité moderne telle que Hegel la conçoit: parce que l'ennemi est devenu, selon le terme même de Hegel, „invisible", l'Etat lui-même et ses institutions répressives peuvent à leur tour devenir invisibles, et ils le deviennent en s'incorporant subjectivement sous la forme d'une „habitude d'être en sécurité" partagée par tous les citoyens. Ce qui fait régner l'ordre et la sécurité, ce n'est donc plus tant l'Etat lui-même et la puissance répressive dont il dispose, que le sentiment même, unanimement partagé, que l'ordre règne: l'ordre n'est pas dans la force, mais dans le sentiment de l'ordre.34 Les citoyens modernes peuvent bien encore se représenter que l'ordre tient à la force répressive de l'Etat, mais leur propre comportement dément cette représentation: l'habitude, en son inconscience de „seconde nature", est plus vraie et plus profonde que la représentation consciente. Or ce comportement spontané et irréfléchi montre que les citoyens modernes, contrairement

devenue pour

nous une

GPR, §268, Zusatz, 402; trad.: Principes de la philosophie du droit, trad. R. Derathé, Paris 1986, § 268 Additif, 270 (les Additifs ne se trouvent pas dans la traduction de J.-F. Kervégan citée

jusqu'ici et à nouveau dans la suite). B. Karsenti, ,Le criminel, le patriote, le citoyen. Une généalogie L'inactuel, n°2 (printemps 1999). Sur tous ces points, voyez l'article de Bruno Karsenti déjà cité.

de l'idée de

discipline',

in:

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

57

même à ce qu'ils pensent consciemment, sont intimement convaincus et sentent que l'ordre et la sécurité régnent même en l'absence de toute manifestation visible de la force de l'Etat. La paix sociale, incorporée comme sentiment de l'ordre et confiance en la sécurité, fait que le criminel, s'il venait à se manifester, ne serait plus mon ennemi, mais seulement une figure toujours déjà abolie et niée comme telle avant même d'exister: l'épreuve qu'il fera de la peine ne sera que la confirmation de la négativité qui est essentiellement la sienne. La conséquence de cet effacement de la figure de l'ennemi, et donc de la possibilité même de la guerre de chacun contre chacun, c'est que le patriotisme change profondément de sens: puisqu'il n'y a plus d'ennemi, puisque la vie politique exclut d'elle-même le rapport violent, le patriotisme ne peut plus consister en l'héroïsme. „Par patriotisme, écrit Hegel, on entend fréquemment seulement l'aptitude à des sacrifices et à des actions extraordinaires; mais, essentiellement, il est la disposition d'esprit qui, dans la situation et le contexte de vie habituels, est accoutumée à savoir que la communauté est 35 l'assise substantielle et la fin". Dans une vie éthique excluant au dedans de soi le surgissement de la guerre, de l'ennemi et de la violence, l'héroïsme est devenu inutile et il se transforme en un patriotisme du quotidien et de la vie ordinaire: à l'époque de la prose du monde éthique moderne, l'épopée des héros fondateurs d'Etats est définitivement révolue; le citoyen n'a plus à montrer son patriotisme en des actes exrra-ordinaires accomplis face à l'ennemi, il le montre désormais simplement dans la continuité et dans le cours ininterrompu de sa vie ordinaire, sous la forme incorporée d'une „confiance" en l'ordre politique et social. La volonté éthique du citoyen n'a plus à fournir de témoignages grandioses, épiques et extraordinaires d'elle-même: la volonté éthique, la volonté d'être citoyen, bref, le patriotisme s'est changée en „habitude", dit Hegel, c'est désormais une disposition permanente consistant en une confiance placée spontanément en l'Etat comme en ce qui garantit, protège et contient les intérêts de chacun. Le patrio37 tisme est désormais un habitus et non plus une virtus. Il faut cependant remarquer que le lieu de cette intégration harmonieuse de l'individuel au collectif est pour Hegel un lieu essentiellement politique. Hegel n'ignore pas la conflictualité ni les rapports de concurrence, il exclut seulement que de tels rapports aient encore leur place dans la sphère politique. Mais en même temps il attribue à

GPR, § 268 Anm., 402; PPD, § 268 Rmq., 331. Ibid., §268,401; trad., 330. Sur la vertu et le fait que l'éthicité, à son stade moderne de développement, peut désormais s'en passer, cf. ibid., § 150 Anm., 295; trad., 236: „C'est plutôt dans l'état inculte de la société et de la communauté que se présente la forme de la vertu comme telle, parce que, ici, l'élément éthique et son effectuation sont plus un bon vouloir individuel et une nature géniale que l'individu a en propre [...]. Dans les Etats antiques, parce qu'en eux l'éthicité n'avait pas encore prospéré jusqu'à ce libre système de développement subsistant par soi et d'objectivité, il fallait la génialité que les individus ont en propre pour pallier ce défaut."

Franck Ftschbach

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la conflictualité et à la concurrence un lieu propre, une sphère propre: c'est la sphère de la société civile. Autant la sphère politique est pour Hegel la sphère de l'unité et de l'harmonie rétablies, autant la société civile est pour lui la sphère de la conflictualité. Le § 184 des Principes explique ainsi que la société civile est le lieu où la particularité et l'universalité se séparent: dans cette sphère, est „accordé à la particularité le droit de se développer et de se répandre de tous côtés", tandis qu'il est accordé à l'universalité „le droit d'établir qu'elle est le fondement et la forme nécessaire de la particularité, ainsi que la puissance qui s'exerce sur celle-ci et sa fin ultime". Deux remarques s'imposent: d'une part, alors que la contrainte est exclue du rapport politique, au contraire la séparation entre le particulier et l'universel qui a lieu dans la société civile permet à l'universel d'exercer une contrainte sur le particulier et de s'affirmer contre lui comme l'instance supérieure à laquelle il doit se soumettre. D'autre part, le § 155 avait dit que la vie éthique consistait en l'unité du particulier et de l'universel; or la société civile fait ellemême partie de la vie éthique et elle est dite au contraire être le lieu de la séparation du particulier et de l'universel. D'un point de vue hégélien il n'y a pas là de contradiction: cela veut seulement dire que la société civile est le moment négatif k l'intérieur même de la vie éthique, c'est le moment où la vie éthique se sépare d'elle-même et en ellemême, se nie littéralement elle-même pour d'autant mieux se rétablir dans son unité et dans son harmonie au sein de la sphère politique. La société civile ne fait qu'exprimer la négativité immanente à la vie éthique, conformément à l'idée hégélienne d'après laquelle toute réalité effective contient en elle-même son propre contraire et son propre opposé, ce qui est aussi le meilleur moyen de le maîtriser et de le dominer. Lieu de la négation de la vie éthique par elle-même et en elle-même, la société civile est le lieu de tout ce que la vie éthique n'est pas et qu'elle pose ainsi elle-même et en elle-même comme ce qu'elle n'est pas, comme son autre, comme ce qui est différent d'elle:38 la société civile est donc le lieu de la séparation de l'universel et du particulier, le lieu du conflit et de la violence, le lieu aussi de la contrainte comme violence exercée sur le particulier par l'universel. Hegel écrit ainsi clairement au § 185 que „la société civile, dans ces oppositions et leurs complications, offre le spectacle du dérèglement, de la misère, ainsi que de la corruption physique et éthique commune à l'un et à l'autre". Bref, tout ce qu'on ne trouve pas dans l'élément politique chez Hegel, on le trouve en revanche dans la société civile, et inversement: alors que la vie politique, comme moment suprême de la vie éthique réconciliée avec elle-même, n'est faite pour Hegel que de sécurité, de confiance de l'individu particulier dans l'universel étatique comme dans ce qui réalise ses propres intérêts, la vie sociale en revanche est faite d'insécurité, de méfiance

réciproque

entre

les individus et de méfiance des individus

envers

l'universel,

Soit dit en passant, c'est aussi cela qui fait justement la supériorité de la vie éthique moderne sur la vie éthique des Anciens qui ne pouvait précisément pas supporter de poser en elle-même sa propre négation, cf. GPR, § 185 Anm., 330; trad., 261.

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

59

c'est-à-dire envers l'universel étatique qu'ils soupçonnent toujours de vouloir porter atteinte à leur intérêt particulier. Finalement l'opposition est telle entre la sphère politique et la société civile que tout se passe comme si Hegel reconduisait sous cette forme l'opposition entre l'état politique ou civil et l'état de nature. Au lieu de penser temporellement un passage entre état de nature et état civil, Hegel inscrit la différence des deux au sein même de la vie éthique: la vie éthique contient en elle-même aussi bien le moment politique de l'unité et de l'harmonie que le moment naturel de la violence et du conflit, à savoir la société civile. L'état de nature des classiques de la pensée du droit naturel devient chez Hegel la société civile. Nous disons bien l'état de nature des classiques, et non l'état de nature de Hegel, puisqu'on a vu que Hegel conçoit l'état de nature comme un état de violence absolue. Mais si l'on prend l'état de nature au sens que Hobbes lui donnait, c'est-à-dire au sens d'une situation qui met aux prises des hommes qui se méfient les uns des autres et se menacent constamment d'un recours à la violence, alors cet état de nature correspond assez exactement à ce qui se passe dans la société civile telle que Hegel la conçoit. Il fait d'ailleurs lui-même le rapprochement entre état de nature et société civile, dans la remarque du § 200 des Principes: „cette sphère de la particularité, écrit Hegel à propos de la société civile, conserve au dedans de soi la particularité de la nature tout aussi bien que celle de l'arbitre, et conserve en cela le résidu de l'état de nature". Autant la sphère politique est structurellement harmonieuse, autant la société civile est structurellement conflictuelle: la remarque du § 289 dit d'elle, dans une formule hobbesienne, qu'elle „est le champ de bataille de l'intérêt conflictuel de tous contre tous". Dans la société civile, la vie éthique apparaît comme étant en quelque sorte hors d'elle-même: c'est pourquoi le § 183 dit d'elle qu'elle est „l'Etat externe", ou „l'Etat extérieur", selon les traducteurs. C'est le moment dialectique de la vie éthique, c'est-àdire le moment de son auto-négation comme condition et présupposition de sa pleine et complète réaffirmation de soi dans l'élément de la vie politique. Cela veut dire aussi que la vie politique est pour Hegel l'élément proprement positif au sein de la vie éthique, positif parce qu'il est ce qui s'affirme en niant ce qui constitue sa propre négation, à savoir la société civile. La vie politique, la vie dans l'Etat en tant que citoyen est donc bien pour Hegel la vie éthique proprement dite; ou bien, pour le dire autrement: la vie éthique se réalise effectivement et s'affirme positivement comme telle dans la vie politique; la vie politique est l'essence effective, le concept réalisé de la vie éthique. Dans la société civile, la vie éthique va au gouffre ou à l'abîme pour d'autant mieux et d'autant plus fortement se réaffirmer par elle-même dans la vie politique. Dans la vie politique, la vie éthique se pose effectivement comme ce qu'elle est, comme puissance en acte de l'unification et de la réconciliation dans le dépassement de toute conflictualité, de toute contrainte et de toute violence.

Sur ce point, voir J.-F. Paris 1992, 215 sq.

Kervégan, Hegel,

Carl Schmitt: le politique entre

spéculation et positivité,

Franck Fischbach

60

Disparition

de la contrainte directe, effacement de la violence et de la figure de l'adversaire ou de l'ennemi, disposition d'esprit politique incorporée par les citoyens sans exercice directe d'aucune contrainte: tous ces traits sont pour Hegel des caractéristiques de la vie éthique moderne en sa dimension politique. Si l'on ajoute à cela l'idée que, plus fondamentalement, la vie éthique elle-même, comme vie fondée sur et par la reconnaissance réciproque, s'oppose radicalement et comme à son contraire à la vie naturelle en tant qu'expérience de la violence nue, de la force brutale et du non-droit absolu, sur tous ces points, nous allons le voir, l'opposition de Hegel à Fichte est complète, au point qu'on peut penser que Hegel n'a forgé et élaboré sa conception propre de la vie éthique qu'en prenant en tout point le contre-pied de la conception fichtéenne. La critique hégélienne est très précoce puisqu'elle s'expose pour la première fois en 1801 dans l'écrit sur la Différence des systèmes philosophiques de Fichte et de Schelling, pour se systématiser dès l'année suivante, en 1802, dans l'article sur Les différentes manières de traiter scientifiquement du droit naturel. Les griefs de Hegel à l'endroit de Fichte tels qu'exposés dans ces deux textes sont assez connus et nous irons assez vite dans leur traitement. Selon Hegel donc, Fichte ne conçoit pas la communauté comme le lieu où la liberté est effectivement réalisée, mais comme le lieu où la liberté doit être réalisée et où elle ne peut l'être qu'au prix d'une limitation réciproque de l'activité des êtres raisonnables. La liberté n'est donc pas d'emblée réalisée dans la communauté, au contraire, elle n'existe tout d'abord comme liberté que du côté des individus qui doivent limiter leur liberté pour pouvoir vivre dans une communauté de la liberté: „la communauté avec autrui, écrit Hegel, la liberté doit [d'abord] être abandonnée pour rendre possible la liberté de tous les êtres raisonnables vivant en communauté [...]; la liberté doit [donc] se supprimer elle-même pour être liberté". La liberté n'est donc pas ce qui est, mais seulement ce qui doit être un „facteur idéel", dit Hegel et qui ne peut être qu'au moyen d'une limitation et donc d'une négation de l'activité des êtres raisonnables finis: la liberté ideelle de tous est ce qui, pour être réellement, exige la limitation de la liberté réelle de chacun. La communauté n'est donc possible comme communauté de la liberté qu'à la condition que chacun limite sa liberté de telle sorte que l'autre, à côté de lui, puisse aussi être libre: c'est là le concept d'une relation par limitation réciproque de l'activité de chacun que Fichte appelle la „relation juridique". Hegel met l'accent sur le fait qu'une relation de ce genre ne se laisse concevoir que sur le fond d'un dualisme fondamental entre l'idéel et le réel, entre le concept ou la loi d'une part et l'être d'autre part: „le vivant est déchiré en con-

-

Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Jenaer Schriften I, hg. v. H. Brockard u. H. Buchner, Hamburg 1979, 66 [noté: Diff., 66]; trad.: Différence des systèmes philosophiques de Fichte et de Schelling, in: G.W.F. Hegel, Premières publications, trad. M. Méry, Gap 1975, 130. J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, in: Werke, hg. von I.H. Fichte, Nachdruck Berlin 1971, G.W.F.

Kritische

[noté: GN, W III, 52]; trad.: Fondement du droit naturel, trad. A. Renaut, Paris 1984, 67 [noté: FDN, 67].

Bd. 3, 52

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

cept et matière",4

61

note Hegel, de sorte qu'est par là instituée „la domination du concept servitude de la nature".43 Et Fichte montre en effet que la relation juridique, comme limitation de l'influence réciproque, ne peut valoir qu'à la condition qu'il existe dans le monde des phénomènes des êtres qui se reconnaissent mutuellement comme des êtres raisonnables, et qui en conséquence limitent leur activité sensible en fonction d'un simple concept: ce concept exprime une possibilité, à savoir que l'activité de l'un puisse exister sans dommage pour l'activité de l'autre, et réciproquement. Tout se passe donc, du point de vue de Fichte et selon ses propres termes, comme si „la nature voulait plusieurs êtres raisonnables et libres coexistant dans le monde sensible en produisant plusieurs corps capables de recevoir la formation à la raison et à la liberté": mais cette volonté hypothétique de la nature ne peut être satisfaite que moyennant une soumission de la nature elle-même au concept, et cela sous la forme d'une soumission volontaire des êtres raisonnables à la loi qui rend leur coexistence possible. Hegel insiste à juste titre sur le fait que les sujets de cette limitation réciproque sont bien des êtres réellement existant dans le monde sensible, effectivement agissant dans celui-ci et dotés chacun d'un corps naturel spécifique qui permet leur reconnaissance réciproque en tant qu'être porteurs des caractères de la rationalité et de la liberté. Et ce sont bien ces êtres sensibles qui, dans le monde naturel, se soumettent à une détermination d'ordre purement conceptuel, à savoir à la loi de la limitation réciproque de l'activité en tant que cette loi permet leur coexistence dans le monde sensible. Cette loi quant à elle n'est pas de l'ordre du donné, et ne peut relever que de l'ordre du vouloir: en effet chacun reconnaît l'autre comme tel d'abord sous la forme sensible d'un corps organique articulé de manière spécifique, de sorte que chacun peut aussi bien ne vouloir considérer l'autre que sous l'aspect de sa réalité sensible et matérielle. „Chacun dit Fichte, a aussi posé le corps de l'autre comme matière, comme matière pouvant être formée [...]; chacun peut donc à l'évidence subsumer sous ce concept le corps de l'autre en tant qu'il est matériel et se penser comme le modifiant par la force physique." C'est seulement s'il veut former avec les autres une communauté que chacun devra ne pas réduire autrui à sa seule présence corporelle dans le monde sensible et considérer que son corps est l'indice d'un être raisonnable: c'est uniquement le choix d'une telle communauté comme devant être qui impose en conséquence à chacun de limiter l'efficace sensible de sa force physique et de laisser aux autres une sphère où ils puissent, de manière également limitée, exercer leur activité. La communauté d'action réciproque est le concept et le devoir-être qui implique l'autolimitation réciproque de la puissance naturelle et de la sphère d'action sensible de chacun. C'est là la formulation même du dualisme de la nature et du concept que Hegel considère à juste titre comme fondateur chez Fichte. et la

Diff., 66; trad., 130. Ibid., 131. Fichte, GN, W HI, 93; FDN, 108. Fichte, GN, W III, 86; FDN, 101.

Franck Fischbach

62

Hegel rappelle également à juste titre que la liberté comprise

non

pas

comme

limita-

tion, mais au contraire comme infinité, c'est-à-dire comme effort en vue de repousser la limite, caractérise la conception fichtéenne: „la liberté est ce qui en soi supprime toute limitation, écrit Hegel, et le point culminant du système fichtéen". Mais il constate en même temps que cette perspective de la liberté comme „indéterminité" disparaît du de penser la communauté: dans ce cas, la liberté comme suppression, même seulement tendancielle, de toute limitation, „doit être abandonnée pour rendre possible la liberté de tous les êtres raisonnables vivant en communauté". La critique de Hegel porte sur cette conception de la communauté comme limitation réciproque en tant qu'elle découle elle-même du dualisme fichtéen du concept et du sensible, de la loi et de la nature. „En tant que la limitation est érigée en loi par la volonté commune et fixée comme concept, écrit Hegel, c'est la vraie liberté, la possibilité de supprimer une relation déterminée qui est anéantie; [...] la vie s'est livrée à et la réflexion a remporté la maîtrise sur elle et la victoire sur la rail'assujettissement 48 son." Ne concevoir la possibilité de la communauté qu'au prix de la limitation réciproque, c'est prendre sur la communauté le point de vue lui-même limité et fini de la réflexion et de l'entendement. La vie commune ne peut dès lors plus être comprise qu'à la manière d'une communauté de la nécessité et de la contrainte réciproque: au point de vue fini de l'entendement, la vie communautaire ne peut pas apparaître pour ce qu'elle est selon Hegel, à savoir l'organisme visible de la raison.

fichtéanisme

lorsqu'il s'agit

„Cette communauté sous la domination de l'entendement n'est pas représentée de façon qu'elle doive elle-même se donner pour loi suprême d'une part de supprimer dans l'infinitude véritable d'une belle communauté cette nécessité où l'entendement a placé la vie et [...] cette infinité de la domination, d'autre part de rendre superflu et les lois grâce aux mœurs, et les désordres de la vie insatisfaite grâce à la jouissance sanctifiée, et les crimes de la force opprimée grâce à une disponibilité d'action pour de grands objets". -

S'il perce encore, dans cette perspective d'une „organisation de la vie libre de toute servitude à l'égard du quelque chose de la nostalgie du jeune Hegel pour la belle totalité grecque, il n'en reste pas moins que c'est la conception même de la vie éthique qui se fait jour ici et que cela n'a lieu que dans l'opposition radicale au formalisme conceptuel de type fichtéen. Libérer politiquement la communauté de la limitation et de la contrainte réciproques, c'est pour Hegel surmonter philosophiquement le dualisme qui instaure „la domination du concept et la servitude de la nature": ce dualisme et ce formalisme de l'entendement rendent incapable de reconnaître la présence de la raison „dans l'organisation la plus parfaite qu'elle puisse se donner", c'est-à-dire

concept",5 -

46

47

48 49

50 51

Diff., 66; trad., 130. Ibid.

Ibid., 67; trad., 131. Ibid. Ibid. Ibid.

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

63

dans la figure d'un peuple et de sa vie éthique. Hegel peut alors opposer en 1801 à l'Etat fichtéen une critique que Marx adressera en 1844 à la société civile hégélienne, à savoir que „le peuple n'est pas le corps organique d'une vie riche et commune, mais une pluralité atomistique et sans vie". 53 Dans une note assez fameuse, Hegel relève dans le texte fichtéen les exemples qui témoignent de ce qu'une telle conception de la communauté ne peut aboutir à rien d'autre qu'à un Etat policier: de fait, le lien social ne se fondant sur rien d'autre que l'autolimitation, le franchissement des limites fixées à l'activité de chacun est une possibilité permanente qui doit être prévenue constamment au moyen d'un contrôle permanent. Hegel remarque ainsi qu'il „n'y a strictement aucune action dont l'Etat ne puisse escompter la possibilité d'un dommage pour autrui, et c'est à cette possibilité perpétuelle que l'entendement et le pouvoir de cet Etat ont affaire dans un but préventif [...]: suivant cet idéal des Etats, il n'y a pas un acte, pas un mouvement qui ne doive nécessairement être soumis à une loi, placé sous contrôle immédiat et surveillé par la police et les autres administrations". La conséquence est donc bonne, selon Hegel, entre la fondation de la communauté sur la limitation réciproque d'une part, et d'autre part l'instauration d'une communauté du soupçon qui nécessite un contrôle administratif permanent et une surveillance policière perpétuelle. Ce que Hegel note avec justesse, c'est que le contrôle et la surveillance sont déduits par Fichte au titre d'un „devoir de police" qui reviendrait l'Etat vis-à-vis de ses citoyens. Fichte écrit en effet que l'Etat possède un „devoir de protection qu'il doit exercer par l'intermédiaire de la police". Et, „en conséquence de son devoir de protection, [l'Etat a] le droit de donner aux citoyens certaines lois qui visent à garantir les concitoyens contre les dommages qu'ils pourraient subir".56 Ces lois sont dites par Fichte „lois de police" et „elles se différencient des lois civiles proprement dites en ceci que ces dernières interdisent le dommage effectif, alors que les premières tendent à éviter la 57 possibilité d'un dommage". Mais le plus important dans tout cela, ce n'est sans doute pas la déduction du passeport d'identité qui s'attire les sarcasmes de Hegel -, c'est bien plutôt que cette déduction de la surveillance policière s'appuie en définitive sur une conception du rapport entre l'Etat et les citoyens en termes de droits et de devoirs réciproques: Fichte écrit ainsi que „l'Etat en tant que tel se tient avec les sujets en tant de contrat mutuel, en vertu duquel il y a des deux côtés des que tels dans une situation 58 droits et des devoirs". La prévention des délits et des crimes est ainsi un droit des ci-

Ibid., 68; trad., 133. Ibid., 67; trad., 132. Ibid.

Fichte, GN, WIII, 292; FDN, 301. Ibid., 294; FDN, 303. Ibid.

Ibid., 291; FDN, 300.

Franck Fischbach

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égard, devoir qui ne se laisse pas séparer du droit que possède d'exiger citoyens qu'ils se soumettent aux lois. A l'horizon de cette compréhension, il y a l'idée fichtéenne que tout droit est essentiellement un droit de contrainte: mon droit est toujours d'abord celui que j'ai de contraindre l'autre à le respecter. Si les actes de l'autres témoignent de ce qu'il n'entend pas respecter mon droit, ni entrer avec moi dans une relation juridique, alors il me donne en même temps le droit de ne pas vouloir non plus une relation de ce type avec lui: il me libère de la loi juridique en ce sens que, ne respectant pas mon droit, il me libère aussi de toute obligation à son égard. Je suis délivré de l'obligation de limiter l'usage de ma liberté dans mon rapport avec lui et c'est là ce que Fichte appelle posséder „un droit de contrainte" sur lui. Mais quelles formes prend l'exercice d'un tel droit de contrainte? Et surtout: à quelles conditions puis-je cesser de l'exercer? Seuls les actes à venir de l'autre peuvent m'indiquer si je puis ou non suspendre l'exercice de mon droit de contrainte: mais pour que ces acte puissent avoir lieu, encore faudrait-il que je rende à l'autre sa liberté d'action, et donc que je n'use plus de mon droit de contrainte. Autrement dit, la réponse à la question de savoir si le droit de contrainte doit continuer ou non à s'exercer suppose justement qu'on cesse de l'appliquer; mais cesser de l'appliquer suppose à son tour qu'on ait déjà répondu à la question. Le droit de contrainte n'est donc pas applicable par les individus en conflit, mais seulement par un tiers auquel ils remettent le pouvoir de juger de l'application et de la suspension de l'exercice du droit de contrainte. Le droit, comme droit de contraindre au

toy ens,

et donc un devoir de l'Etat à

leur

des

l'Etat

-

droit que les hommes ne peuvent que remettre entre les mains d'une puissance qui leur est supérieure et qui n'est autre que l'Etat. Ce transfert fonde la relation de droits et d'obligations réciproques entre l'Etat et les citoyens: il assoie surtout le pouvoir de l'Etat comme pouvoir de contrainte fondé en droit. En inscrivant ainsi la contrainte au cœur de la déduction de l'Etat, Fichte maintient dans l'Etat politique la figure de l'adversaire et de l'ennemi, de même que la violence y demeure opératoire sous la forme de la contrainte: le droit de contrainte est bien l'usage, certes fondé en droit, d'une force contraignante. C'est ce que Hegel signale dès la Differenzschrift en montrant l'impuissance de Fichte à penser une „belle communauté" dans la mesure même où il maintient „l'infinité de la domination": le crime ne peut que subsister dans cette communauté, mais ce ne sont jamais, écrit Hegel, que „les crimes de la force opprimée" par des lois incapables de se dissoudre „dans les mœurs", c'est-àdire dans ce qu'il appellera bientôt la „vie éthique". Hegel s'oppose ici radicalement à une telle conception de la communauté qui maintient en elle la laideur de la violence sous la forme de la contrainte réciproque entre les citoyens eux-mêmes et entre les ci-

respect du droit,

toyens

et

est

donc

un

l'Etat.

Cf. Fichte, GN, W III, 99; FDN, 114-115. Diff, 67; trad., 131.

L'EFFACEMENT DES FIGURES DE L'ENNEMI ET DE LA GUERRE CHEZ HEGEL

65

Le rôle fondateur qu'il attribue à la contrainte en tant que droit de contrainte ne permet pas à Fichte de penser le rapport des citoyens et de l'Etat autrement que comme un rapport de droits et d'obligations réciproques: au devoir des citoyens d'obéir et de se soumettre aux lois répond le droit de l'Etat à les y contraindre; au droit des citoyens à la protection répond le devoir de police de l'Etat. Une telle conception ne consiste en rien d'autre, selon Hegel, qu'en l'extension indue à la vie commune ou éthique d'un type de rapports qui ne vaut que dans le cadre du droit privé, ou de ce que les Principes de la philosophie du droit appellent le „droit abstrait". Dans cette sphère là en effet, droits et devoirs se correspondent réciproquement dans la mesure où ils sont portés par des personnes différentes: „dans le champ des phénomènes, écrit Hegel, droit et devoir sont, tout d'abord, des corrélats, de telle sorte qu'à un droit de mon côté correspond un de' voir en quelqu'un d'autre". Et si mon droit est aussi un devoir pour l'autre, alors mon droit contient et exprime en même temps la contrainte que je peux faire subir à l'autre afin qu'il respecte mon droit et fasse son devoir: aussi Hegel peut-il écrire que „le droit abstrait est un droit de contrainte". Sur ce point Hegel donne donc raison à Fichte; son erreur est d'avoir étendu ce droit de contrainte au-delà de sa sphère propre de validité. „Dans la sphère éthique, écrit Hegel, les deux moments [du droit et de l'obligation] sont Dans cette sphère d'existence parvenus à leur vérité, à leur unité absolue". communautaire qu'est la vie éthique, dont on a vu qu'elle est aussi pour Hegel la sphère de l'existence proprement humaine fondé sur et par l'acte de la reconnaissance réciproque, dans cette sphère donc, droit et obligation, droit et devoir se confondent, s'unifient et s'identifient: ainsi le droit du père de famille sur les membres de celle-ci est identiquement son devoir envers eux; le droit du punir et de sanctionner propre à l'Etat est identiquement son devoir de le faire; de même le devoir des citoyens en matière d'impôts est identiquement leur droit à la protection de leur personne et de leurs biens. Cette identification et unité complètes des droits et des devoirs dans l'élément éthique n'exprime rien d'autre que le bannissement de la contrainte et du rapport violent hors de cet élément: le rapport des individus au tout de la vie substantielle dont ils sont membres sur fond de reconnaissance réciproque ne peut plus être, selon Hegel, un rapport de contrainte, mais seulement un rapport de confiance. „Tous les buts de la société et de l'Etat sont les buts propres des individus privés", écrit Hegel dans l'Encyclopédie, tandis que dans les Principes, il avait conçu la vie éthique comme „l'identité de la volonté universelle et de la volonté particulière", et comme une identité telle qu'en elle „obligation et droit viennent se confondre".65 Sans qu'il soit besoin de l'exercice d'aucune contrainte directe ou indirecte, l'individu se rapporte à l'Etat, selon Hegel, dans „la conscience de ce que son intérêt substantiel et particulier est protégé et contenu dans l'in1830, §486 Anm., 390-391; Enc. 1827/30, §486 Rmq., 283. GPR, §94,189; PPD, §94, 175. Enz. 1830, §486 Anm., 391; Enc. 1827/30, §486 Rmq., 284. Enz.

Ibid.

GPR, § 155, 300; PPD, § 155, 238.

Franck Fischbach

66

térêt et la fin d'un autre (ici, de l'Etat)", et c'est là ce qui fait, ajoute encore Hegel, que „l'Etat n'est immédiatement pas un autre" pour l'individu. N'étant pas un autre pour l'individu, l'Etat n'exerce aucune contrainte sur lui, il n'a pas de droits qui correspondraient à des devoirs pour l'individu: les droits de l'Etat sont aussi ceux de l'individu, et les devoirs de l'individu sont aussi les devoirs de l'Etat. Cette disparition de l'extériorité et de l'altérité de l'Etat par rapport aux individus ce qui rend la contrainte superflue se manifeste dans le patriotisme du quotidien et de la vie ordinaire, dans cette confiance en l'ordre et la sécurité que Hegel, on l'a vu, illustre d'une scène de la vie moderne ordinaire, à savoir une scène de la vie urbaine et nocturne. De la critique hégélienne du droit naturel et de son ultime avatar fichtéen, l'opposition à l'individualisme contractualiste, que l'on retient habituellement, n'est peut-être pas l'essentiel. Faute d'avoir su penser l'état de nature dans tout sa radicalité d'état de la violence pure et du non-droit absolu, le droit naturel n'a pas su non plus débarrasser l'état civil ou politique des restes de son contraire: il y maintient la violence sous la forme à peine policée de l'exercice de la contrainte et il ne peut apercevoir l'effacement, dans la sphère politique de la vie éthique, des figures archaïques de „l'ennemi" et de la guerre (seul „le concurrent" subsistant dans la sphère non politique de la vie éthique, c'est-à-dire dans la société civile) un effacement dont témoigne pourtant la paisible promenade nocturne du citoyen moderne en sa tranquille sérénité et en sa confiance irréfléchie. -

-

-

GPR, § 268, 401 ; PPD, § 268, 331.

Samir Arnautovic (Sarajevo)

Der Internationalismus in Hegels Philosophie der Geschichte

Hegels Philosophie der Geschichte kann als ein Schritt aus der Sphäre des Logischen in Richtung auf die Sphäre des Lebensweltlichen angesehen werden. Ihre Bedeutung besteht nicht nur darin, ein Versuch der Erklärung des menschlichen Lebens zu sein, sondern die Philosophie der Geschichte muss in einem weiteren Sinne verstanden werden als Ort der begrifflichen Begründung bestimmter Bedeutungen, in denen sich dieses Leben artikuliert. In einem gewissen Sinne kann man hier die Frage nach der Bedeutung stellen, die die Philosophie für das Leben und dessen wirkliche Entwicklung hat. Die Philosophie der Geschichte erscheint dabei nicht nur als logische Begründung des Sinns der unmittelbar nicht verbundenen Ereignisse, sondern sie bekommt auch die Bedeutung eines Orts der Begründung der Artikulation dieser Ereignisse. Sie ist nicht bloß die Vollendung des Systems, sondern ein Teil von ihm, ein Teil, in dem sich ganzheitliche Bestrebungen des philosophischen Denkens äußern. „Die Philosophie weiß, daß jede Gestalt vorübergehend ist, und eben dadurch bleibt ihr die Aufgabe, die Geschlos-

senheit des nationalen Staats als Ideal zu ergreifen."1 Der Nationalstaat hat für diese, wie Hegel sie nennt, reflektierende Geschichte eine geschichtliche Bedeutung; als geistige Schöpfung ist er nicht nur sich selbst überlassen und stützt sich nicht nur auf sich selbst, sondern er begründet sich in der ganzen Geschichte. Hegels Philosophie der Geschichte stellt in diesem Sinne nicht nur den Ort der logischen Begründung der Geschichtsphilosophie als Disziplin dar, sondern auch der Begründung der Begriffe, die später das Weltbild in einer bestimmten Zeit bestimmen werden. In diesem anderen Sinne überschreitet Hegels Denken der Geschichte den Rahmen der besonderen philosophischen Disziplin und wirkt wesentlich bei der Konstituierung universeller Bedeutungen mit. So kann man Hegels Philosophie auch in ihrem Einfluss auf Blumenbergs Hermeneutik und deren Bemühungen um das genealogische Verständnis der Wissenschaft und der westeuropäischen Tradition im ganzen studieren. Der Begriff des Internationalismus in Hegels Geschichtsphilosophie ist, wie ich sehe, gerade einer jener Begriffe, die eine weitreichende Festlegung von Bedeutungen im Geschichtsverständnis bewirken, die auch ohne philosophisches Denken weiter wirken. L. Sichirollo, ,Hegel und die griechische Welt', in: Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und Dokumente, hg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Bonn 1964 (Hegel-Studien, Beiheft 1), 276.

Samir Arnautovic

68

Bedeutung des Internationalismus wird bei Hegel nicht gesondert expliziert, er begründet diesen Begriff nicht in einer besonderen kategorialen Bestimmung. Der Internationalismus wird in Hegels Philosophie der Geschichte mittelbar gewonnen. Man kann sagen, dass seine Bedeutung vermittelt ist und dass sie nur einen der Orte darstellt, an denen die Geschichte individuelle Bestimmungen in den Bereich allgemeiner und universaler Bedeutungen übersetzt. Das ist im wesentlichen mit der Rezeption der Geschichte verbunden und mit dem Verständnis der Art und Weise, wie geschichtliche Ereignisse in ihrer universalen Bedeutung lesbar sind. Hegel wird in der „Einleitung" zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte deutlich sagen, dass, wenn man eine Einsicht in die gesamte Weltgeschichte gewinnen will, die individuelle Darstellung der Wirklichkeit aufgegeben werden muss; man muss verstehen, was verschiedene Ereignisse zu einem Ganzen macht und ihnen einen umfassenden Charakter verleiht. „Eine Geschichte der Art, welche lange Perioden oder die ganze Weltgeschichte überschauen will, muß die individuelle Darstellung des Wirklichen in der Tat aufgeben und sich mit Abstraktionen behelfen, epitomieren, abkürzen, nicht bloß in dem Sinne, daß Begebenheiten und Handlungen wegzulassen sind, sondern in dem anderen, daß der Gedanke der mächtigste Epitomator bleibt."2 Dass Hegels beim Verstehen der Geschichte vor allem auf das Umfassende der Ereignisse zielt, macht er schon am Anfang der Einleitung deutlich, wo er betont, dass der Gegenstand seiner Vorlesungen die philosophische Weltgeschichte ist, bzw. die „Weltgeschichte selbst". Seine Bemühungen sind, mit anderen Worten, am Verständnis dessen orientiert, was jede einzelne national-individuelle Geschichte zum Teil des Ganzen bzw. sie zu einem Teil der Weltgeschichte macht. Hegels Verständnis der Epoche soll daher gerade als Verallgemeinerung der individuellen Geschichte verstanden werden, bzw. als ihre Verortung in einem Kontext, in dem es möglich ist, die Faktizität einer allgemeinen Subjektivität, die als Nationalstaat erscheint, zu bestimmen. Sichirollo betont deshalb: „Die Epoche (die Antike als Epoche) war eine Voraussetzung, eine lediglich ideelle, abstrakte, vom System unabhängige Bestimmung. In den einleitende Bemerkungen zum zweiten Teil der Phänomenologie gewinnt die Antike eine weltgeschichtliche Gestalt. Eine weltgeschichtliche (geschichtsphilosophische) Betrachtung der Antike als Epoche ergibt sich daraus insofern, als das Bewußtsein selbst in seiner Entwicklung weltgeschichtlich, objektiv ist. Diese Bestimmung ist also nicht mehr eine Abstraktion, sie ist vielmehr ideell-real, und das Prinzip trifft mit seinen Bestimmungen, die Identität mit der Differenz zusammen."3 Das Denken der Epoche bei Hegel beleuchtet auf eine gewisse Weise auch den Gang Die

des Geschichtsdenkens als Ganzem. In diesem Sinne ist es notwendig, Bedeutungen zu begründen, die phänomenal Einzelheiten in einem Ganzen zusammenfasst. Die Frage der Geschichte ist für Hegel hier

G.W.F.

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1970,

Sichirollo, .Hegel und die griechische Welt', 280.

16.

Der Internationalismus in Hegels Philosophie der Geschichte

eine Frage nach dem Wesen des Geschehens Prozessualität im allgemeinsten Sinn.

69

überhaupt geworden,

nach dem Wesen der

„Diese Betrachtung führt zurück auf die allgemeine Frage nach den Ursachen eines solchen Gestaltwandels in der Geistesgeschichte. Es wird meistens aufgefaßt als die Wandlungen eines Menschen im Großen, des Griechen, des Franzosen, des Deutschen, der sich im Laufe seines Lebens in mannigfaltiger Weise darstellt. Aber diese Auffassung ist unwahrscheinlich, weil sie eine innere Haltlosigkeit voraussetzt, die mit schöpferischem Geistestum nicht vereinbar ist. In Wahrheit handelt es sich um eine Führungsfrage, um die Ordnung des typisch unterschiedenen Menschentums, in dem die verschiedenen Möglichkeiten geistiger Haltung angelegt sind."4

Einklang mit seiner methodologischen Herangehensweise sind Hegel die Phänomene von Bedeutung, die ihn zur Gesamtheit der geschichtlichen Entwicklung führen. Diese Phänomene werden nicht auf diese Weise benannt, aber die Bedeutung des Internationalismus, die wir aus Hegels Geschichtsverständnis herauslesen können, drängt sich als Leitfaden auf, dem Hegel durch die Realgeschichte folgt. Es scheint, dass wir in einer freieren Interpretation in Bezug auf Hegels Philosophie der Geschichte von einer realen politischen Wirklichkeit sprechen können, die die Epochen der Geschichte beIm

stimmt, aber auch die Geschichte in ihrer Ganzheit. Hierbei handelt es sich um die Überwindung der Grenzen der individuellen Geschichte, die erst in der Reflexion möglich wird. Daher ist die Frage danach, was in Hegels Konzeption die Geschichte wirklich ist, keine selbstverständliche Frage. Die Entstehung der Geschichte selbst, ihre Entwicklung, befindet sich auf dem Weg der Überwindung des Individuellen durch Gegensätze, die die Individualitäten mit sich bringen. „Die Geschichte kennt genügend Beispiele, wo die neuen Zustände, die aus den Widersprüchen eines vorangegangenen Zustandes hervorgehen, zwar diese aufheben, aber noch größere produzieren."5 Die Art, wie Hegel die Weltgeschichte auf einem geistigen Boden konstituiert, stärkt die Bedeutung, die der Internationalismus als die Bestimmung der Übergänge und Verbindungen hat. Hier zeichnen sich schon Einflüsse von Hegels Geschichtsdenken auf das spätere Verständnis nicht nur der Geschichte, sondern auch der Gesamtheit der Lebensverhältnisse ab. Es ist ganz deutlich, dass man immer dann, wenn man von einer politischen Lage spricht, in der sich geschichtliche Bedeutungen der Zeit konzentrieren, auch von internationalen Verhältnissen spricht, die hier als reale politische Wirklichkeit erscheinen. Praktische Bedeutungen, die man aus Hegels Philosophie der Geschichte herauslesen kann, überschreiten in der Besonderheit des Kontextes die bloß praktische Auffassung der Möglichkeiten, die die Philosophie der Geschichte in reellen Wirklichkeitsverhältnissen hat. Auch in jener Bedeutung, in der die Philosophie der Geschichte, mit Hegels Worten, eine Theodizee ist, kann man den Begriff des Internationalismus als Ort der Affirmation -

-

M. Wundt, ,Der sogenannte Zusammenbruch der Hegelschen (1961), 253. V. Hösle, Hegels System, Bd. 2, Hamburg 1987, 461.

Philosophie',

in:

Hegel Studien

1

Samir Arnautovic

70

des Allgemeinen und als einen Weg der der Ebene des Individuellen ereignet.

Rechtfertigung

des Bösen deuten, das sich auf

„Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt begriffen, der Denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte. In der Tat liegt nirgends eine größere Aufforderung zu solcher versöhnenden Erkenntnis des Affirmativen als in der Weltgeschichte. Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet, durch das Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils daß derselbe in ihr verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm sich letztlich geltend gemacht habe."6

Das Individuelle hat hier, sofern man Hegels Geschichtsphilosophie aus dem Blickwinkel der Postmoderne betrachtet, nicht die Bedeutung einer zweitklassigen Seinssphäre, sondern einer Möglichkeit der Überwindung dessen, was das Leben destimuliert; auch die Rede von der Theodizee sollte man mehr als Überwindung des Bösen denn als die Rechtfertigung Gottes verstehen. Im übrigen verweist auch das Gottesverständnis Hegels, wie seine Worte „Gott ist tot" vom Ende der Phänomenologie des Geistes, darauf, dass irgend ein theologisches Konzept, das man nicht selten hineingelesen hatte, bei Hegel ganz gewiss keinen Platz hat. Die Voraussetzungen, unter denen Hegels Philosophie in einem weiteren Bedeutungshorizont verstanden wird, zeigen, „daß die Theodizee des Geschichtsprozesses nur eine halbe ist das Negative hebt sich auf, aber eben nicht nur sich; daß das Vernünftige sich durchsetzt, ist daher zwar wahrscheinlich, aber keineswegs garantiert."7 Die implizit unterstrichenen Bedeutungen in der Philosophie Hegels verweisen nur auf das -

Gewicht, das seine Philosophie für die Moderne hat. Hier eröffnen sich Bedeutungen, die initiiert oder enthalten sind

allerdings

in einem anderen Kontext

-

im -

System

sei-

Philosophie. Hegels Deutung der Geschichte enthaltene Internationalismus bekommt auch jene Bedeutungen, die man in der späteren Konzeption der Gesellschaft finden kann. Diese Bedeutung ist implizit in Hegels Philosophie enthalten, und es wäre interessant, sie vom Standpunkt des Marxschen Denkens und von Marx' Auffassung des Internationer

Der in

nalismus und der sozialen Revolution aus zu erörtern. An diesen Bedeutungen werden in letzter Instanz auch Unterschiede zwischen dem philosophischen und jedem anderen Diskurs deutlich. Die implizite Bedeutung des Internationalismus bei Hegel stellt Hegels Philosophie in den Kontext eines phänomenalen Denkens der Wirklichkeit. Weiterhin zeigt sich daran die Wichtigkeit der impliziten Bedeutungen bei Hegel und das Bedürfnis nach der Zuspitzung in der Deutung seiner Philosophie im Hinblick auf moderne Tendenzen im philosophischen Denken.

7

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 27. Hösle, Hegels System, Bd. 2, 461.

71

Der Internationalismus in Hegels Philosophie der Geschichte

Natürlich wird der Internationalismus in Hegels Geschichtsverständnis in Nationalidentitäten begründet. „Wir können wohl die Vernunftbestimmung in diesen Subjekten selbst und in den Kreisen ihrer Wirksamkeit realisiert sehen, aber sie sind in einem geringen Verhältnis zu der Masse des Menschengeschlechts; ebenso ist der Umfang des Daseins, den ihre Tugenden haben, relativ von geringer Ausdehnung."8 Die Geschichte ist in einem wörtlichen Sinne ohne internationale Vermittlungen der besonderen Völker nicht möglich. Geschichtliche Völker sind, mit anderen Worten, Träger des Internationalismus, weil ihre Besonderheit auf dem interaktiven Verhältnis beruht. Diese geschichtlichen Völker sind Träger des geistigen Fortschritts; in ihm ist die „wichtigste Triebfeder [...] dabei der Drang zum Neuen, der ja überhaupt die Geschichte durchzieht und weithin in Bewegung hält, wobei oft die Abwechslung in Gegensätzen gesucht wird."9 Eine aus der Fernperspektive gestellte Frage nach der Bedeutung des Internationalismus in Hegels Philosophie der Geschichte erscheint in einem Denken, das streng auf das Verständnis realer Bestimmungen beschränkt ist als Frage nach dem Verständnis realer Bestimmungen in konkreten Situationen des Geistes, die man auch im Rahmen der Politik und ihrer geschichtlichen Konsequenzen verstehen und deuten kann. -

-

„Die Hegeische Lehre ist in diesem Sinne realistisch, daß sie in letzter Instanz die Bunte Welt gewöhnlichen Erfahrung nicht eigentlich beseitigen will, nicht erklären, nicht vervollständigen, nicht verschönen, nicht eigentlich metaphysisch begründen will. Sie will nur, daß wir die Welt anders ansehen, in einer anderen Perspektive, als Bedingung unserer eigenen geistider

gen Tätigkeiten."

10

auch die Aufteilung der Geschichte in Perioden die Rezeption des voLaufs der Geschichte voraussetzen; dieser wiederum wurde in den indirangegangenen viduellen Identitäten der Völker realisiert. Daher ist der Internationalismus als äußerst abstrakt bestimmt, er existiert nur bedingt im Kontext des Entwicklungsganges des Geistes und der Zugehörigkeit eines Volkes zur allgemeinen Geschichte. Gleichzeitig geht er im dialektischen Sinne aus dem Bedürfnis nach Vermittlung in der Struktur der Welt hervor, was auf Hegels Wirklichkeitsauffassung im ganzen verweist. Der Internationalismus ist in einem gewissen Sinne der Ort der gegenseitigen Einschätzung der Völker in ihrer Individualität und der Möglichkeit, zur Wahrheit über sich selbst zu kommen. Hegel identifiziert den Internationalismus nicht als eine besondere Kategorie oder einen besonderen Begriff, aber er kann rezeptionsmäßig in einer Bedeutung bestimmt werden, in welcher der „weitergeschrittene Geist [...] die innerliche Seele aller Individuen [ist], aber die bewußtlose Innerlichkeit, welche ihnen die großen Männer zum Bewußtsein bringen."11 Eine solche Bestimmung des Internationalismus, die vom Ver-

Deswegen

muss

Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 35. Wundt, ,Der sogenannte Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie', 253. J.N. Findlay, ,Hegel der Realist', in: Heidelberger Hegel-Tage 1962, 145. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 46.

Samir Arnautovic

72

ständnis der geschichtlichen Prozesse ausgeht und einen nicht vordergründig politischen oder gesellschaftlichen Charakter hat, wird später ihre volle Bedeutung für das Verständnis geschichtlicher und politischer Verhältnisse nicht nur in der posthegelianischen Philosophie, sondern auch in der politischen und der Gesellschaftstheorie bekommen. Den Internationalismus kann man in Hegels Philosophie auch im Verständnis der geschichtlichen Personen finden. Sie gehören der Geschichte im Ganzen an, und als solche überschreiten sie in jeder Hinsicht die Grenzen ihrer partikularen nationalen Zugehörigkeit. Ebenso unterliegt das Verständnis ihres Handelns nicht psychologischen Analysen, sondern dem Verständnis der ontologischen Voraussetzungen ihrer Zugehörigkeit zur allgemeinen Geschichte. Gerade wegen dieser Zugehörigkeit zum Geist hat der Internationalismus bei Hegel keinen besonderen Ort, es gibt keine besondere Abhandlung über ihn. Dafür bekommt er im Kontext der posthegelianischen Philosophie eine besondere Bedeutung, aber auf Grundlage der Bedeutung, die man auch in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte finden kann. Hegel braucht den Internationalismus als besondere Kategorie wohl auch deswegen nicht, weil er der Ansicht war, dass seine Überbetonung das Band zwischen Geist und Geschichte schwächen würde. „Die Philosophie will den Inhalt, die Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen und die verschmähte Wirklichkeit rechtfertigen. Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes."12 Die Hervorhebung des Charakters der Internationalität ist in der Konzeption des hegelschen Systems in der Tat überflüssig, und das was in bezug auf diese Frage interessant bleibt, ist die Bedeutung, die dieses implizite Problem im späteren Verständnis der Geschichte und im Verständnis der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse bekommt. Hegels auf dem Denken der Negativität beruhendes Geschichtsverständnis hat nicht nur die Möglichkeit einer begrifflichen Sicht der Wirklichkeit gegeben, es eröffnet auch die Möglichkeit der wirklichen Bezugnahme durch die Negativität der Bedeutung. Wie Bonsiepen in seiner Untersuchung der frühen Konzeptionen des Geschichtsverständnisses sagt: „Philosophie wird durch eine Praxis ermöglicht, die durch eine negative Geschichtsphilosophie vermittelt ist."13 Der Begriff des Internationalismus ist in der Negativität der nationalen Identitäten begründet bzw. im Weg der Überwindung dieser Einzelidentitäten in ihrer eigenen Geschichte, der Geschichte, die sie dazu macht, was sie sind. Die Subjektivität auf diese Weise zu verstehen, bedeutet, ihre geschichtliche Bedingtheit, ihre historische Konstitution zu verstehen. Der Sinn des internationalen Geschichtsverständnisses bei Hegel befindet sich in einer Art Subtext, der mit der Beseitigung der metaphysischen Kontextualität des hegelschen Systems an die Oberfläche tritt, und zwar als Möglichkeit des Verständnisses der Intersubjektivität der Geschichte ohne einen endlichen Sinn. Die Kritik der hegelschen Geschichtsphilosophie hat in diesem Sinne eine Konzeption angeboten, die das Subjekt der Geschichte relativiert, ohne

Ebd., 53. W.

Bonsiepen, Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Bonn 1977, 41.

Der Internationalismus in Hegels Philosophie der Geschichte

73

jedoch die Möglichkeit eines vollständigeren oder wissenschaftlicheren Verständnisses der Aspekte des geschichtlichen Geschehens anzubieten. Neben aller Vorsichtigkeit bei der Einschätzung der Einflüsse der metaphysischen Konzeption in Hegels Geschichtsphilosophie auf spätere Konzepte hat es den Anschein, als ob das posthegelianische Geschichtsverständnis die grundlegende hermeneutische Forderung nach der Kenntnis der zu interpretierenden Ereignisse nicht eingelöst hätte. In diesem Sinne hat Hegels Geschichtsphilosophie vielleicht eine noch größere Bedeutung als neuere wissenschaftlichgeschichtliche Konzeptionen es zugeben würden.

PaulCruysberghs (Leuven)

Überall zuhause fremd überall. Zur Logik der Grenze -

An verschiedenen Stellen, vor allem in seinen Vorlesungen, benutzt Hegel das Bild der Heimat oder des Zuhauseseins, um seinen Zuhörern das Beisichsein des Menschen im Anderen seiner selbst anschaulich vorzustellen. So spricht er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie davon, wie „die europäische Menschheit" am Anfang der Moderne angefangen hat, „bei sich zu Hause zu sein, für die Gegenwart, für sich selbst zu leben" (VGPh 7, „Da hat der Mensch", so fährt er fort, „angefangen, in seiner Heimat sein zu wollen, aus seiner Vernunft, seinem Verstände einzusehen, zu schließen". Und wenn er sich dann weiter der griechischen Philosophie zuwendet, bekennt er: „Bei ihnen ist es uns heimatlich zu Mute, weil sie selbst bei sich in ihrer Welt zu Hause waren, sich selbst ihre Welt zur Heimat gemacht haben. Weil ihnen bei sich wohl war, darum ist uns bei ihnen wohl; der gemeinschaftliche Geist der Heimatlichkeit verbindet uns" (VGPh 7, 1 f.). Innerhalb des Hegelschen Systems kann der Gedanke der Heimatlichkeit selbstver-

l).1

ständlich keinen logischen Status beanspruchen; vielmehr soll er nur als eine Vorstellung betrachtet werden. Man findet ihn deshalb auch nur in den Vorlesungen, nicht in Hegels eigentlichen Werken. Trotzdem glaube ich, er ist, zwar in der Sprache des Gefühls, als eine wichtige Bestimmung der hegelschen Philosophie anzusehen. Die Heimatlichkeit weist auf ein Beisichsein hin, welches bald als ursprüngliches, unmittelbares, bald als mittelbares, als Rückkehr aus dem Anderssein, zu deuten ist. Nicht nur bestimmt sie als solche die Stimmung des Philosophierens; sie ist auch, mindestens implizit, wirksam, wenn Hegel den Nationalstaat gegen die Abstraktion eines kantischen Völkerstaats ausspielt. Nicht zufällig spricht er in den Grundlinien seine Missbilligung denjenigen gegenüber aus, „welche von Wünschen einer Gesamtheit, die einen mehr oder weniger selbständigen Staat ausmacht und ein eigenes Zentrum hat, sprechen von Wünschen, diesen Mittelpunkt und seine Selbständigkeit zu verlieren, um mit ei-

Ich verweise so oft wie möglich auf die kritische Ausgabe der Gesammelten Werke (GW) Hegels, Hamburg 1968 ff. Für die Vorlesungen benutze ich möglichst die Ausgabe G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1983ff.; so z.B. Bd.7: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, hg. von P. Garniron und W. Jaeschke, Teil 2, Hamburg 1989 (VGPh). Auf die Enzyklopädie (E) und die Grundlinien der Philosophie des Rechts (Gr) verweise ich mit Angabe des betreffenden Paragraphen.

Paul Cruysberghs

76

anderen ein Ganzes auszumachen" (Gr § 322, Anmerkung). Sie „wissen wenig von der Natur einer Gesamtheit und dem Selbstgefühl, das ein Volk in seiner Unabhängigkeit hat" (ebd.). Das Selbstgefühl eines Volkes in seiner Unabhängigkeit, welche von Hegel auch als Selbständigkeit und als „ausschließendes Für-sich-sein" (Gr § 332) übersetzt wird, kann leicht auch als Heimatlichkeit oder Zuhausesein gedeutet werden. Ausschließung des als fremd erfahrenen Anderen, in casu Staaten, stellt sich für Hegel als eine notwendige Bedingung einer politischen Gesamtheit heraus. Es ist meine Absicht, das von Hegel als quasi problemlos vorausgesetzte Bild der Heimatlichkeit auf seine Möglichkeiten und Grenzen hin zu befragen. Vor allem möchte ich auf eine Ambivalenz, welche von Hegel in seiner Anthropologie zwar beobachtet, aber in den weiteren Teilen seines Systems insbesondere in seiner politischen Philosophie weggearbeitet worden ist, hinweisen. Diese Ambivalenz betrifft die Unmöglichkeit, den Unterschied und deshalb die Grenze zwischen der Heimat und dem Anderswo, zwischen dem Zuhause und dem Fremden exakt zu bestimmen. Meinen Ansatz nehme ich bei einem Kunstwerk der bekannten belgischen Künstlerin Marie-Io Lafontaine, welche im lahr 2001 in einem neuen Flügel des Flughafens von Stockholm eine Neon-Installation mit einem in verschiedene Sprachen übersetzten Text des Rotterdamer Humanisten Erasmus einrichtete, der besagt: „Ich bin ein Weltbürger überall zuhause fremd überall". Dieser Satz oder gilt er als ein Bekenntnis? ist der Ausdruck eines paradoxen Gefühls, das die meisten europäischen Intellektuellen auch heute noch mit Erasmus teilen. Das Gefühl gilt bei Hegel als eine anthropologische Kategorie. Weil Hegel rein technisch nur den Gedankenbestimmungen aus der Logik explikativen und legitimierenden Gehalt erteilt (cf. E3 § 400, Anmerkung), wäre es zwar inopportun, sich bei einer philosophischen Überlegung auf ein Gefühl zu berufen. Als Ansatz sollte die bildliche und gefühlsmäßige Sprache jedoch auch bei orthodoxen Hegelianern Gnade finden. Ohne Zweifel ist die Aussage des Erasmus der Ausdruck einer typisch renaissancemäßigen Vermischung von stoischem und christlichem Kosmopolitismus. Interessant daran ist jedoch nicht so sehr der Kosmopolitismus als solcher als vielmehr die Ambivalenz desselben, welche den Charakter eines ,Sowohl-als-auch' hat: Der moderne Mensch ist Weltbürger; das heißt jedoch, er ist überall sowohl zuhause als auch ein Fremder. Überraschend ist dabei vor allem der zweite Teil der Konjunktion, nämlich dass der Weltbürger überall, auch zuhause also, ein Fremder bleibt. Die Heimat des Weltbürgers ist also überall und zugleich auch nirgends. Was ich hier zeigen möchte, ist, dass vom anthropologischen wie auch vom politischen Standpunkt aus der von Erasmus suggerierte Gedanke eines Zuhauses, das überall nem

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-

-

interessante Perspektiven eröffnet, welche vielleicht der Zeit mehr angemessen sind als die einer Heimat, die Anderes ausschließt, welche Hegel und

zugleich

auch

-

nirgends ist,

Cf. www.marie-jo-lafontaine.com/?p=29. Im Jahr 2004 hat Marie-Jo Lafontaine denselben Text noch einmal benutzt im Museum von Osnabrück: w ww.marie-jo-lafontaine.com/?p= 174&pageC= 175.

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fremd überall

Überall zuhause -

werde ich versuchen, zu zeigen, dass der Begriff der Anderswo scheidet, zwar ein unausweichlicher, aber dauernd zu kritisierender Begriff ist. Ich möchte damit auf ein für das menschliche Dasein konstitutives Paradox hindeuten, das sowohl auf der Ebene der Anthropologie wie auch auf der der Politik wirksam ist. Zuerst wende ich mich dem anthropologischen Gesichtspunkt zu und weise dabei auf Hegels Philosophie des subjektiven Geistes hin. Diese enthält nicht nur eine Phänomenologie des Geistes, welche als Theorie des Bewusstseins den mittleren und deshalb entscheidenden Teil der Philosophie des subjektiven Geistes ausmacht, sondern auch eine Anthropologie, eine Lehre von der Seele, welche der Phänomenologie vorangeht, und eine Psychologie, welche ihr als Lehre des Geistes im engeren Sinne folgt (E3 vor

Augen gehabt hat. Zugleich

Grenze, welche das Zuhause

vom

§ 387). Welches Interesse hat diese Architektonik des Geistes für die Fragen nach dem Zuhause und nach dessen Grenze zum Anderswo, welche uns hier beschäftigen? Die Frage nach dem Zuhause könnte man der Realphilosophie, insbesondere der Anthropologie und der Philosophie des objektiven Geistes zuweisen. Die Lehre von der Grenze dagegen hat in der Seinslogik, wo sie zuerst das Etwas von seinem Andern abgrenzt und es zugleich damit verbindet, ihre geeignete Stelle. In der Wesenslogik wird sie als Frage nach dem Reflexionsverhältnis des Innern und des Äußern wesentlich bereichert, aber auch, zwar nicht wörtlich, wiederholt. Im Kontext der Philosophie des subjektiven Geistes muss die Grenze vor allem mit dem Bewusstsein verbunden werden. Das Bewusstsein, das wesentlich durch eine Reflexion in sich selbst zu charakterisieren ist, setzt sich sein eigenes Inneres, sich selbst, und komplementär dazu sein Anderes, eine äußere Welt, wozu es sich verhält, aber welches ihm trotzdem anders und folglich auch fremd bleibt. Dieser gedoppelten Position, Bewusstsein seiner selbst und zugleich auch Bewusstsein eines Andern zu sein, setzt Hegel die Position einer wesentlich präreflexiven Seele entgegen, welche er als bewusstlos denkt; nicht in dem heutigen, von Freud inspirierten Sinne des Wortes, sondern in dem Sinne, dass sie diesseits des bewussten Gegensatzes zwischen dem Selbst und seinem Andern, zwischen einem subjektiven Selbst und einer objektiven Welt bleibt. Die Seele ist also auf intime Weise auf einer Ebene, wo man überhaupt noch nicht vom Äußeren und Inneren sprechen kann eins mit der Welt. Im Medium der Empfindung und des Gefühls wird die Welt eben nicht, noch nicht, als objektiv empfunden. Vielmehr hat sie einen subjektiven Gehalt, gleich wie die Seele selbst durch und durch in ihre Welt versunken ist, ohne sich von ihr distanzieren zu können. -

-

Logik. 4

5

Die Lehre

vom

Sein1, GW 11, 67-69; Logik.

Die Lehre

vom

Sein2,

GW 21,

110-116; E3,

§92. GW 11, 364-368; E3 § 137-141. Im Zusatz zu E3 §402 (G.W.F. Hegel, Werke, Bd. 10, Frankfurt/M. 1970, 120) findet man folgende erhellende Stelle, welche leider in den Vorlesungen über die Philosophie des Geistes, Berlin 182711828 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 13, Hamburg

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In dieser Perspektive könnte man behaupten, dass das Haus überhaupt kein Äußeres, sondern vielmehr ein Teil unseres eigenen Seins ist, gleich wie unser Leib kein äußerer Körper, kein Objekt, sondern vielmehr ein integraler Teil der Seele ist. Nicht nur der Leib aber, die ganze Umwelt ist schließlich als wesentlicher Teil der Seele anzusehen. Das Haus, das wir bewohnen, die Mitmenschen, unsere Haustiere, die Stadt oder das Dorf, worin wir leben, das Land, der Staat, ja die ganze Welt ist die Extension unseres seelischen Seins. Auf dieser Ebene gibt es also keine scharfen Grenzen zwischen unserem Selbst und dem oder den Anderen. Letztendlich ist der Mensch tatsächlich Kosmopolit, Bewohner der Erde, oder stärker noch, des ganzen Kosmos. In den Vorlesungen über die Philosophie der Natur, Berlin 1819120 sagt Hegel es ausdrücklich: „der Mensch hat eine kosmische Wohnung". Obwohl wir nicht über das adäquate Vokabularium verfügen, um auf diese notwendigerweise trüben und vagen Erfahrungen zu verweisen die Sprache ist ja immer differenzierend und objektivierend -, ist das Faktum selbst der Erfahrung, mit unserer Umgebung unmittelbar verwoben zu sein, evident. Trotzdem drängt sich ein Unterschied auf zwischen der affektiven Wirkung des eigenen Hauses und dem Zuhause einer Stadt oder eines Landes, geschweige des ganzen Kosmos. Die manchmal als schmerzhaft erfahrene Trennung von der vertrauten Heimat deutet gerade auf einen mindestens quantitativen Unterschied des Zuhauseseins hin. Auch wenn der Kosmos unsere Wohnung ist und die Erde unsere Heimat: sie sind es nicht auf dieselbe Weise wie zum Beispiel das vertraute Haus unserer Kinderjahre. Die Welt bietet der Seele nicht nur Intimität und Nähe, sondern auch Distanz und Fremdheit. -

1994) nicht belegt ist: „Die Seele hat aber noch eine andere Seite der Erfüllung als den bereits in der Empfindung gewesenen Inhalt, von welchem wir zunächst gesprochen haben. Außer diesem Stoffe sind wir, als wirkliche Individualität, an sich noch eine Welt von konkretem Inhalt mit unendlicher Peripherie, haben wir in uns eine zahllose Menge von Beziehungen und Zusammenhängen, die immer in uns ist, wenn dieselbe auch nicht in unsere Empfindung und Vorstellung kommt, und die, wie sehr jene Beziehungen sich immerhin, selbst ohne unser Wissen, verändern können, dennoch zum konkreten Inhalt der menschlichen Seele gehört, so daß die letztere wegen des unendlichen Reichtums ihres Inhalts als Seele einer Welt, als individuell bestimmte Weltseele bezeichnet werden darf". Mit großer Sorgfalt meidet Hegel in seiner Anthropologie den substantivierenden Terminus ,Leib', um vielmehr dem der ,Leiblichkeit' den Vorzug zu geben. Leiblichkeit ist eine Dimension der Seele; nur für das Bewusstsein ist der Leib ein Äußerliches. G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 18, hg. v. M. Bondeli und H.N. Seelmann, Hamburg 2002, 37. Im Zusatz zu E3 §280 (Werke, Bd. 9, Frankfurt/M. 1970, 132) qualifiziert Hegel die Erde als die Heimat des Geistes: „Wir kommen also jetzt auf der Erde zu stehen, unserer Heimat, nicht als physischer, sondern auch der Heimat des Gei-

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stes".

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FREMD

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man sagen, dass wir immer auch Fremde für uns selbst sind, dass nächsten ist, uns auch am meisten entgleitet. Die Ambivalenz des Zudas, hauses und des Fremden ist also nicht nur außer-, sondern auch innerhalb unserer selbst. Die Erfahrung der Krankheit, das einfache Faktum, dass unser Leib von ganzen Kolonien von Mikroorganismen bewohnt wird, die Erfahrung, dass unsere Gedanken, unsere Gefühle, unsere Wünsche sich immer irgendwie auch außer unserer selbst befinden, deutet darauf hin, dass das Zuhause immer auch ein Anderswo ist, dass die Logik des Inneren immer auch von einer Logik des Äußeren durchzogen ist, dass beide unzertrennlich und, stärker, letztendlich nicht zu unterscheiden sind. Wenn wir uns genötigt fühlen, sie zu unterscheiden und deshalb irgendwie eine Grenze zwischen beiden anzunehmen, darf man sich letztere nicht als eine geometrische Linie denken, welche die Figuren im Raum voneinander scheidet. Vielmehr hat sie den Charakter eines Niemandslandes, welches niemandem angehört, eines brachliegenden Landes, das sich nie vollkommen kultivieren lässt. Es geschieht um diesen undifferenzierten Raum herum, dass sich Identitäten und Unterschiede entwickeln, dass sich die Unterschiede zwischen mir und dir, zwischen Zuhause und Anderswo, zwischen Diesseits und Jenseits konstituieren. Und wir brauchen ja diese Identitäten und Unterschiede! Lehrt Nietzsche uns nicht, dass der Selbsterhaltungstrieb uns dazu zwingt, die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, zwischen Wert und Unwert, zwischen demjenigen was ist, und demjenigen was nicht ist, anzustellen? Nietzsche zufolge steht gerade der Selbsterhaltungstrieb am Ursprung derjenigen Konvention, welche wir Wahrheit nennen, der Konvention, alle auf dieselbe Weise zu belügen, damit der Mensch ein ,vernünftigesi Wesen werde, geehrt und respektiert. Die noch immer schockierende These Nietzsches lehrt uns mindestens, einer jeden Grenze, sei sie künstlich oder auch natürlich, zu misstrauen. Letztendlich ist, nach dem Wort Nietzsches, auch das, was sich als natürlich darstellt, das Resultat einer Metaphorisation unserer Anschauungen und deshalb ebenso künstlich wie das Künstliche stricto sensu. Die tägliche Umgangssprache wird von Nietzsche schon als das Resultat einer gedoppelten Metapher angesehen, derjenigen, wodurch ein Nervenreiz in ein Bild, und derjenigen, wodurch letzteres in einen Laut übertragen wird. Umso mehr haben die Konstruktionen der Metaphysik und der Wissenschaft im Sinne Nietzsches, d. h. im außermoralischen Sinne, einen lügenhaften Gehalt. Das Bild des Kolumbariums im gedoppelten Sinne des Taubenhauses und der Begräbnisstätte, oder auch die Qualifikation des wissenschaftlichen Wissens als Mumifikation oder Ägyptisierung der Anschauungen haben bei Nietzsche ausschließlich den Zweck, zu zeigen, wie der Wille zur Wahrheit, dadurch dass er uns überall und immer Beschränkungen und Grenzen auferlegt, uns zur Lüge, d. h. zur Zertrennung und Kompartimentierung des Lebens nötigt.

Irgendwie könnte was uns am

Nietzsche, ,Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne', in: Werke, hg. Schlechta, Bd. 3, München 1966, 309-322.

F.

von

K.

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Aber wir brauchen nicht Nietzsches Groteske, um zu verstehen, wie das Denken und damit unsere ganze intellektualistische und voluntaristische Kultur (was nach Nietzsche auf dasselbe hinausläuft, da auch der Wille zum Wissen eine Form des Willens zur Macht ist) sich der Logik der Bestimmung und der Unterscheidung übergeben hat. Hegel selbst hat gezeigt, wie auf der Ebene des Bewusstseins durch den Trieb zur Objektivierung und, parallel dazu, durch den Trieb einer sich unabhängig und selbstständig wollenden Subjektivität die gefühlsmäßige Einheit der Seele mit der Welt gebrochen wird (E3 § 412). Es ist nicht zufällig, dass Hegel gerade den Verstand, als Vermögen der Bestimmung und der Unterscheidung, zum Hauptmoment des Bewusstseins macht (E3 § 422-423). Und auch das Selbstbewusstsein realisiert sich nur in der Anerkennung des Anderen als Anderen (E3 § 436). Zwar erkennt der Verstand sich selbst, seine eigene Produktivität, in dem, was er als die Naturgesetze begreift; und der Andere des Selbstbewusstseins ist zwar ein anderes Ich, aber ungeachtet dieser Identifikationen bleibt für das Bewusstsein die Andersheit des Anderen unüberwindlich. Die Logik der Grenze, wie sehr sie auch das Bewusstsein über sich selbst hinaustreibt, beherrscht immerhin seine Gestalten. Die Dialektik selbst wird übrigens vom Prinzip der Bestimmung und damit der Grenze beherrscht. Auch wenn die Negation als Aufhebung der Bestimmung und die Negation der Negation als Rückkehr der Bestimmung aus ihrem Anderssein begriffen wird, bleibt das dialektische Verfahren der Logik der Grenze tributpflichtig (E3 § 79-82). Wir sind also weit von einem Zuhause, das zugleich überall und nirgends ist, entfernt. Es ist die Dialektik selbst, welche die Aufhebung der unbestimmten Position der natürlichen und fühlenden Seele fordert. Auch, wenn Hegel das Moment des Bewusstseins selbst aufhebt, um zum Geist als solchen überzugehen, wobei das Andere vom Ich nicht mehr als das ihm selbst Entgegengesetzte, sondern vielmehr als das Andere seiner selbst bestimmt wird (E3 §448), bleibt das Andere trotzdem das Andere; auch wenn es in eine Einheit aufgenommen wird, welche sowohl die Subjektivität des Geistes wie die Objektivität der Natur übersteigt. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass die gefühlsmäßige Unterlage unserer Existenz, wobei wir uns in einer Welt befinden, die ein Zuhause ist, überall und zugleich auch nirgends, den anthropologischen Zugang zu einem Kosmopolitismus eröffnet, der zwar ambivalent ist, aber doch mindestens keine bestimmte Grenze hat, oder der doch wesentlich die Grenzen, welche uns vom Bewusstsein und vom Verstand auferlegt werden, mit dem Index der Fraglichkeit versieht. Statt diese Rückkehr zum Reich der Seele, welche von Hegel als Reich der Dumpfheit und der Dunkelheit (E §404) charakterisiert wird, als Regression oder als Rückfall zu interpretieren, bin ich vielmehr

E3 § 406, Anmerkung.

Überall zuhause

fremd

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überall

-

sie als eine Transgression der vom Verstand fixierten und eingefrorenen Verhältnisse anzusehen. Der Gedanke einer möglichen Transgression der Grenze hat jedoch nicht nur eine anthropologische Relevanz, sie hat auch eine politische Reichweite. Die Geschichte lehrt, dass was Montesquieu auch dazu sagen mag die Grenzen der Staaten überhaupt keinen natürlichen, sondern einen künstlichen Ursprung haben. Meistenteils sind sie das Resultat von mehr oder weniger imperialistischen Willen und Kräften, welche überhaupt nichts mit dem romantischen Begriff des Staates als quasi biologische oder natürliche Organisation eines Volkes zu tun haben. Schon deswegen kann man mit jeder Form von Nomadentum, das sich als Transgression bestimmter und fester Grenzen zeigt, sympathisieren. Die Staatsgrenzen stellen sich als Absperrungen eines sakralen und tabuisierten Raumes dar, welche keine unkontrollierte Intrusion zu ertragen scheinen. Das Phänomen des meistens als unerwünscht, ja als gesetzwidrig erklärten Nomadentums warnt uns vor den sogenannten natürlichen, aber vielleicht gerade unvernünftigen Grenzen in der Welt der Vaterländer. Auch wenn man, wie Hegel es zu tun scheint, den Staat mehr innerhalb kultureller als rein natürlicher Grenzen einzuschließen versucht, bleibt die Frage offen, inwiefern die einzelnen Staaten, wie wir sie heute kennen, sich tatsächlich auf eine ihren Bürgern gemeinsame kulturelle Tradition oder Sprache berufen können. Es liegt mir fern, die historische Bedeutung des Nationalstaates, wie wir ihn seit dem 19. Jahrhundert kennen, zu verneinen. Und es wird keiner die pragmatischen und politischen Vorteile einer einsprachigen Gesellschaft leugnen. Dass das Gefühl, sich irgendwo, nicht nur in der Familie, sondern auch in einem Land oder Staat, zuhause zu fühlen, eng mit der Vertrautheit der eigenen Muttersprache verbunden ist, ist ja klar. Schon im 17. Jahrhundert hatte der französische König Ludwig XIV. begriffen, dass eine Vielheit von Sprachen ernsthaft die Einheit eines Staates bedrohen könnte. Die systematische Eliminierung des Flämischen, Bretonischen und anderen Sprachen in Frankreich legen davon noch immer Zeugnis ab. Hegel selbst hat den Nationalstaat als einen glücklichen Zufall beschrieben. „Wenn eine Familie sich zur Nation erweitert hat und der Staat mit der Nation in eins zusammenfällt, so ist dies ein großes Glück",12 erklärte er den Nürnberger Gymnasiasten der Unterklasse. Wir wissen ja, dass Hegel seine Leser und Zuhörer immer vor einem Kosmopolitismus gewarnt hat, der die politische Bedeutung des Besonderen übersehen würde. Wir kennen seine Diatriben gegen die Ideen einer Weltrepublik, eines Völkerstaats oder gar eines Völkerbundes, wie sie von Kant in seinem Aufsatz Zum ewigen

geneigt,

-

-

Selbstverständlich ist es überflüssig, daran zu erinnern, dass Hegel selbst sich immer davor hütet, der Empfindung oder dem Gefühl als solchem Kredit zu gewähren; nur die Vernunft kann ihm als Maßstab für das Gute und Wahre gelten. Die Grenzen Belgiens können hier exemplarisch hervorgehoben werden. G.W.F. Hegel, Werke, Bd. 4, Frankfurt/M. 1970, 246.

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wurden. Hegels Vorsicht, nicht auf abstrakte Weise vereinigen sich in der historischen und konkreten Realität nicht dazu eignet, bleibt vielleicht auch heute noch ein Vorbild. Auch wenn die inter- oder supernationalen Organisationen sich ganz bescheiden darauf beschränken würden, einfach den Menschenrechten Respekt zu verschaffen, würden sich schon viele Probleme ergeben. Trotz einer bestimmten Positivität, welche den Menschenrechten notwendigerweise anhaftet, können sie als die ethische Grundlage eines jeden Kosmopolitismus angesehen werden. Dabei sollte zuerst anerkannt werden, dass sie nur dank ihres abstrakten Charakters als solche funktionieren können; zweitens braucht man immer noch nach Hegel -, wenn man die Menschenrechte respektiert sehen will, über das abstrakte Recht hinaus, wo sie ihre logische Stelle haben, mindestens auch ein Prinzip der Moralität und eine sittliche Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Ohne Moralität und vor allem ohne politische Anstalten gibt es keine Verwirklichung der Menschenrechte. Nach Hegel sollen diese Anstalten wesentlich nationaler Art sein; und es ist klar, dass auch heute noch die Menschenrechte vor allem vom Nationalstaat ihren konkreten Gehalt bekommen sollen. Zugleich, und dies darf man nie vergessen, sind es gerade die Nationalstaaten, welche die Menschenrechte am meisten

Frieden zu

vorgeschlagen

wollen,

was

-

gefährden. Die heutige politische Lage ist überhaupt nicht mehr mit der von 1821, als Hegel seine Grundlinien der Philosophie des Rechts herausgab, zu vergleichen. Zuerst werden wir heute mit einer exponentiellen Globalisierung des ökonomischen Systems und, in seiner Folge, der Technologie und des Konsumsystems konfrontiert. Im Vergleich mit der postmodernen Mondialisierung, von Hardt und Negri in ihrem Buch Empire13 als imperial charakterisiert, war der sogenannte imperialistische Kolonialismus des modernen Zeitalters, der als erste Welle der Globalisierung angesehen werden kann, noch immer beschränkt. Ob man es will oder nicht: die heutige Welt ist nicht nur uniformiert, sondern auch geeinigt in dem Sinne, dass sie tatsächlich die Form eines ,Global Village' angenommen hat. Zwar sollte man sich vor der Suggestion der Unschuld, welche vom Bild eines Dorfes geweckt wird, hüten, aber infolge dieser Globalisierung ist uns das, was bisher fern war, jedenfalls auf eine faszinierende, manchmal auch beunruhigende Weise näher gekommen. In diesem Kontext hat die Katastrophe von Tschernobyl vielen, mindestens eine Zeit lang, die Augen geöffnet. Plötzlich haben wir eingesehen, dass es bei uns in der Nähe geschehen war, wenn ich mir erlauben darf, auf den Titel eines bekannten belgischen Films von 1992 anzuspielen.14 Die Katastrophe hat sich „près de chez nous" ereignet: in unseren Gärten; buchstäblich, weil eben auf eine so große Distanz das Gemüse unserer Gärten sich als verseucht erwies. Es ist vor allem die M. Hardt und A. Negri, Empire, die neue Weltordnung, Frankfurt/M. 2002. C'est arrivé près de chez vous (1992) ist ein typischer Kultfilm von Remy und Benoit Pœlvoorde. Cf.:

www.benoitpoelvoorde.be/cestarrivepresdechezvous.htm.

Belvaux, André Bonzel

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FREMD

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ÜBERALL

-

Problematik der Verschmutzung der Umwelt, mehr noch vielleicht als das Elend des Hungers in Afrika, welche uns gezwungen hat, der Realität ins Auge zu sehen, dass der traditionelle Unterschied zwischen Zuhause und Anderswo seine absolute Bedeutung verloren hat. Und selbstverständlich gibt es auch noch die extreme Flexibilität der Industrie und des Kapitals, welche uns jeden Tag zeigt, wie in der Welt des Handels und des Gewerbes die Grenzen nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Der industriellen und finanziellen Mobilität gegenüber, welche bald die Grenzen dienlich ist, sie bekräftigt, wird man vielerlei Strategien entwickeln müssen, welche ebensosehr die Ambivalenz der Grenzen auszunutzen wissen, wie die Welt des Handels und Gewerbes dies vermag. Wenn die heutige Welt sich als ein Zuhause präsentiert, dann haben wir, auch den Bedrohungen der Umwelt und den mannigfachen Menschenrechtsverletzungen gegenüber, die nicht nur abstrakte, sondern konkrete Verantwortung eines Zuhauses auf uns zu nehmen. Heute scheinen wir, mehr als je, aufgerufen zu sein, die Welt auf dieselbe Weise zu verwalten, wie wir unser eigenes Haus verwalten. Und obwohl bestimmte internationale Interventionen ganz zweifelhaft sind ich brauche hier keine Beispiele zu geben -, scheint uns in bestimmten Augenblicken die Menschlichkeit selbst das, was uns ja am nächsten ist zu gebieten, politisch oder humanitär, vielleicht auch militärisch zu intervenieren. Zugleich kann man nicht anders, als der Deutung der Globalisierung als Schaffung eines die ganze Welt umfassenden Zuhauses gründlich zu misstrauen. Das Bild eines Zuhauses suggeriert nicht nur die Verantwortlichkeit eines humanitären Kosmopolitismus, sondern auch die Gefahr der Anmaßung und der Reduktion des Andern zum Selben, was sich politisch als Xenophobie, Paternalismus und Unterdrückung übersetzen lässt. So wie man auf anthropologischer Ebene das Zuhause, bis in die Intimität des eigenen Selbst, mit dem Anderswo komplettieren muss, so muss man auch auf politischer Ebene die Logik des Zuhauses mit der des Anderswo ergänzen. Die Wahrheit und das Recht sind niemals mein eigenes Sonderrecht; nie kann ich darüber nach Belieben verfügen; immer sind sie auch anderswo. Und da es keine bestimmte Grenze zwischen dem Zuhause und dem Anderswo gibt, sind wir dazu genötigt, uns im Niemandsland aufzuhalten, in einem Land, wo wir uns, hier und da, ganz gut zurechtfinden, aber wo wir immer zugleich auch Ausländer bleiben. In diesem Niemandsland, in welchem auch Hegel vielleicht die internationalen Verhältnisse situieren würde, müssen wir uns dem riskanten Dialog mit den Anderen übergeben. Eine solche verwundbare Offenheit dem Anderen gegenüber ist Teil der Logik eines Zuhauses, das zugleich überall und nirgends ist. Es geht hier um eine Logik der Kommunikation, welche sich nicht mit Raisonnement und Argumentationen begnügen kann, weil diese gerade die Fixiertheit der Vorstellungen und der Begriffe voraussetzen. Obzwar notwendig, müssen Raisonnement und Argumentation durch eine Methode ergänzt werden, welche Kierkegaard vorgeschlagen hat, wenn es ihm darum zu tun war, subjektive Wahrheiten, d. h. Lebensstile zu kommunizieren. Im Niemandsland brauchen wir, so möchte ich vorschlagen, nicht so sehr eine Dialektik der bestimmten Negation,

überschreitet, bald,

wenn es

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-

-

als vielmehr eine indirekte Kommunikation, welche von Kierkegaard vorgeschlagen worden ist, und welche ich selbst in einer etwas abenteuerlicheren Sprache, aber trotzdem dem Denken Kierkegaards treu, als eine Logik der Verführung charakterisieren würde. Die Verführung gehört der Sphäre des Spiels an. Das von der Verführung gespielte Spiel ist ein Spiel der Anziehung und der Abstoßung, der Abstandnahme und der Annäherung, der Dissimulation und des Sichpreisgebens, der Vertraulichkeit und der Zurückhaltung. Auf dem Spiel steht hier die Möglichkeit einer politischen und kulturellen Kommunikation, welche diesseits der praktischen, strategischen oder technischen Vernunft liegt. Oder, um es mehr hegelsch auszudrücken: Es ist mir um eine Kommunikation zu tun, welche sich, wenigstens anfänglich, mehr von der Seele als vom Bewusstsein orientieren lässt. Anschließend an Hegels Wort über die moderne Philosophie, mit welcher der Mensch angefangen habe, „in seiner Heimat sein zu wollen", habe ich mich der Sprache der Seele zugewendet. Diese Sprache spricht von einem Zuhause, das uns ebenso nah ist wie unser eigener Leib. Viel mehr als von Hegel habe ich mich jedoch von Erasmus belehren lassen, der das Zuhause nicht nur im Denken, sondern überall und zugleich auch nirgends lokalisiert hat. Mir schien die Ambivalenz des modernen Weltbürgers, der überall zuhause und zugleich auch fremd ist, auch uns mehr als Hegels Heimat auf den Leib geschrieben. Wird bei Hegel nicht die Dunkelheit und Dumpfheit des heimatlichen Gefühls aufgehoben in den klaren Unterschieden des Bewusstseins und des denkenden und wollenden Geistes? Falls jedoch weder das Denken noch das Wollen sich vollkommen von der Dunkelheit und Dumpfheit der Seele lossagen können, falls der Begriff dem Gefühl tributpflichtig bleibt was Hegel allerdings nicht bereit wäre anzuerkennen -, ist es vielleicht der Mühe wert, nicht so sehr eine Politik der nationalen Heimatlichkeit als vielmehr die eines kosmopolitischen Zuhauses zu entwickeln, welches überall und zugleich auch nirgends ist. Ein solches Zuhause würde sich nicht irgendwo in der Nacht, wo alle Kühe schwarz sind, auffinden lassen. Es wäre ein Zuhause, welches vielleicht der Ausgangspunkt einer konkreten Ethik der Gastfreiheit sein könnte, wie diese von Lévinas und Derrida und vielleicht mit allzu großer Vorsicht schon von Kant vorgeschlagen worden ist, oder aber einer internationalen Politik, welche zwar die Besonderheit, wie sie in den Nationalstaaten eine historische, jedoch vielleicht einst zu überwindende Gestalt bekommen hat, nicht negieren würde, sie aber doch in einer höheren, mehr allgemeinen Weltordnung aufzunehmen imstande wäre. -

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S0ren Kierkegaard selbst beschreibt seine schriftstellerische Tätigkeit als „at bedrage ind i det Sande" [in die Wahrheit hineintäuschen] (,Om min Forfattervirksomhed', in: Samlede Vœrker, Kopenhagen 31962, Bd. 18, 65).

Vladimir Milisavljevic (Novi Sad / Belgrad)

Die Stärke der Existenz: Völkerrecht und internationale Politik bei Kant und Hegel

Der im Titel genannte Ausdruck „Stärke der Existenz" ist, wie bekannt, einem der „mündlichen Zusätze" entnommen, mit denen Eduard Gans, der Herausgeber der Grundlinien der Philosophie des Rechts, den Haupttext dieses Buchs zu ergänzen versuchte. Im Zusatz zum Paragraphen 331 ist nämlich mit Beifall und sogar mit Bewunderung die folgende Antwort Napoleons auf die bei den Friedensverhandlungen von Campo-Formio angebotene „Anerkennung" der Französischen Republik durch den Kaiser in Wien zitiert: „Die französische Republik bedarf keiner Anerkennung, sowenig wie die Sonne anerkannt zu werden braucht".1 Dem folgt im Text ein Kommentar Hegels: „in diesen Worten [liegt] weiter nichts als eben die Stärke der Existenz, die schon die Gewähr der Anerkennung mit sich führt, ohne dass sie ausgesprochen würde". Gans' editorisches Verfahren ist viel kritisiert worden; dies gilt insbesondere für die

des Rechts. Trotzdem entsprechen die angegebenen Worte Hegels völlig dem Text des betreffenden Paragraphen, in dem der Staat eben als „die absolute Macht auf Erden" beschrieben wird, die „gegen den anderen" Staaten „in souveräner Selbständigkeit" ist. Ob ein Staat ein „an und für sich Seiendes in der Tat sei", dies hängt laut Hegel durchaus nicht von der Anerkennung anderer Staaten ab, sondern nur von seinem eigenen, inneren „Inhalt", seiner „Verfassung" und seinem

genannten „Zusätze"

zur

Philosophie

„Zustand".4

Der Gehalt des erwähnten Zusatzes entspricht auch der kritischen Einstellung Hegels zum Völkerrecht und seiner verbindenden Kraft im Bereich der internationalen Politik. Die Beziehungen in diesem Bereich lassen sich nach Hegel nur im Sinne eines „Natur-

3

4

in der Tat schreibt Napoleon in dem Brief vom 16 April 1797: „Nous sommes à l'article de la reconnaissance. Je leur ai dit que la république française ne voulait point être reconnue; elle est en Europe ce qu'est le soleil sur l'horizon: tant pis pour qui ne veut pas la voir et ne veut pas en profiter" (Œuvres de Napoléon Bonaparte, Bd. 1, Paris 1821, 350). G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (=RPh), Werke, Bd. 7, 499. Ich zitiere Hegels Schriften nach: G.W.F. Hegel, Werke. Theorie-Werkausgabe (Redaktion: E. Moldenhauer und K.M. Michel), Frankfurt/M. 1970. Vgl. die Anmerkung der Redaktion, ebd., 530; vgl. auch G.W.F. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831 (Edition und Kommentar in sechs Bänden von K.H. Ilting), Stuttgart 1973 ff., Bd. 6, 740 f. RPh, 498.

Vladimir MilisavueviC

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zustandes" und nicht des „Rechtszustandes" beschreiben. Deswegen fehlt dem Begriff der „Anerkennung" in der Sphäre zwischenstaatlicher Beziehungen die eigentliche „rechtsstiftende" Bedeutung, die diesem Begriff auf den früheren Stufen der Philosophie des Geistes, oder etwa in den Jenaer Systementwürfen, zukam. Zwar neigt Hegel dazu, die zwischenstaatlichen Beziehungen mit den Verhältnissen zwischen den Einzelnen, die dem „Rechtszustande" vorausliegen, zu parallelisieren. Im Zusammenhang mit seiner Auslegung des „äußeren Staatsrechts" verweist Hegel ausdrücklich auf den Paragraphen zum Begriff des Vertrags, in dem hervorgehoben wird, dass der Vertrag die gegenseitige Anerkennung der Vertragsparteien als Personen und Eigentümer voraussetze. In einer Anmerkung zu demselben Paragraphen sagt Hegel auch, dass der Staat so wenig ein wirkliches Individuum ohne Verhältnis zu anderen Staaten ist, wie der Einzelne eine wirkliche Person ohne Beziehung zu anderen Personen. Dennoch hat diese Analogie auch ihre klaren Grenzen. Die intersubjektive Anerkennung, die zur Bildung der vernünftigen Identität der Einzelnen als Subjekte im Recht erforderlich ist, ist für den einzelnen Staat, der in sich selbst schon vernünftig und durch die Anerkennung seiner Bürgern gestaltet ist, gewissermaßen entbehrlich. Für die zwischenstaatlichen Beziehungen gilt eine Logik, die den Prinzipien der Gleichheit und der Reziprozität geradezu entgegengesetzt ist. Mit besonderer Deutlichkeit scheint dies aus einer Stelle der Philosophie des Rechts hervorzugehen, in der Hegel das Problem einer eventuellen Vereinigung mehrerer Staaten in einer „Familie" behandelt. Nach Hegel muss nämlich ein solcher Verein „einen Gegensatz kreieren und einen Feind erzeugen", weil in der Individualität des Staates die Negation „wesentlich enthalten" ist. Man könnte erwidern, dass diese Negation oder dieses ausschließende Verhältnis das Fürsichsein oder die negative Freiheit des Subjekts auch für die Einzelnen, die z. B. in den Kampf um die Ehre oder Anerkennung treten, wesentlich ist. Es gibt aber auch einen Unterschied hinsichtlich des Begriffs der Anerkennung auf beiden Ebenen: Im Falle der zwischenstaatlichen Beziehungen schlägt diese Negation nicht, wie auf der Ebene der Verhältnisse zwischen Einzelnen, in ein ausschließendes Verhältnis des einzelnen Staates gegen sich selbst um, um dadurch eine Aufhebung der ursprünglichen „Selbständigkeit" in der Reziprozität der Anerkennung möglich zu machen. So könnte man sagen, dass die Logik der Beziehungen unter den Staaten vom Prinzip einer „reinen" Negativität beherrscht ist, die sich nicht in ein affirmativ geltendes Recht umzukehren vermag. Vor allem aber erfüllt das Völkerrecht nach Hegel nicht die Voraussetzung, die die Grundlage seiner Philosophie des Rechts ausmacht. Es handelt sich hier um die Hegelsche Bestimmung des Begriffs der Sittlichkeit als der Einheit von „substantiellem" Guten und „subjektivem" Willen als der Einheit der an sich seienden Norm und deren -

-

Wirklichkeit; deswegen bleibe das Völkerrecht nach Hegel mit der Form des bloßen -

RPh, 153, §71. Vgl. RPh, 491, §324. RPh, 494, §324, Zusatz.

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„Sollens" oder der abstrakten Forderung behaftet. Die Kritik dieser Form der Moral der Hegelschen Auseinandersetzung mit Kant aus. Der des Völkerrechts liegt nach Hegel in dem Umstand, dass die „Wirklichkeit" dieser Normen d. h. ihre Verwirklichung oder Ausführung „auf unterschiedenen souveränen Willen beruht", die sich ihrer „Subsumption" unter diese Normen jederzeit durch ihre eigene Kraft verweigern bzw. widersetzen können.10 Es ist zu Recht hervorgehoben worden, dass es für Hegel kein „Völkerrecht" im eigentlichen Aus demselben Grunde gibt es in Sinne, sondern nur ein „äußeres Staatsrecht" Sachen des Völkerrechts laut Hegel keine eigentliche Richter oder „Prätoren", sondern 12 An die Stelle des Gerichts tritt in zwischennur „Schiedsrichter" oder „Vermittler". staatlichen Beziehungen bei Hegel allein die Weltgeschichte, deren „Urteil" sich im Ausgang der Kriege zwischen den Staaten erweist. In der Tat hat die Weltgeschichte für Hegel die Bedeutung der Verwirklichung des Rechts als des Daseins der Freiheit; in diesem Sinne ist für Hegel „nur das Recht des Weltgeistes [...] das uneingeschränkt Absolute".13 Trotzdem muss man den bekannten Satz Hegels über die Weltgeschichte als dem Weltgericht nicht allzu buchstäblich nehmen: Die Hegeische „Weltgeschichte" befindet sich gewissermaßen schon jenseits des Rechts, das in den Bereich des Staates und dessen Tätigkeit fällt. Auch in bezug auf die Architektur der Hegelschen Philosophie des Geistes wird klar, dass die Weltgeschichte eigentlich eine Übergangsstufe zum Reich des absoluten Geistes darstellt. Dasselbe gilt aber auch für den Krieg als das „Element", in dem das Gericht der Geschichte statthat. Vor allem bleibt die Hegeische Weltgeschichte der Idee des Völkerrechts als Konfliktregulationsmechanismus ohne Krieg entgegengesetzt. Der Vergleich des Krieges mit dem Gericht kommt schon in Hegels Schrift über die „Verfassung Deutschlands" vor. Es ist jedoch leicht zu sehen, dass diesem Vergleich die eigentliche „rechtliche" Bedeutung fehlt. Die beiden sich im Kriegszustand befindenden Staaten sind nach Hegel als sittliche Totalitäten eben im „absoluten" Recht. Deswegen entscheidet der Ausgang des Krieges nicht über das Recht, sondern darüber, wie Hegel es in diesem Kontext ausdrücklich sagt, „welches Recht dem anderen weichen soll".1 Es ist sicher bemerkenswert, dass Hegels Aussagen über den Krieg zumal diejenigen, die als besonders empörend oder skandalös empfunden werden im Zusammenhang mit seiner Theorie der Tragödie formuliert sind. Dies gilt etwa für Hegels Beschreibung des sittlichen Lebens als der Aufführung der Tragödie, die das Absolute mit sich selbst spielt,

Zentralpunkt Hauptmangel der Normen macht den

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gibt.11

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9 10

12 13 14 15

RPh, 497 f., §330, Zusatz. RPh, 490 f., §321 ff. RPh, 497, § 330. Vgl. H. Schnädelbach, .Hegel und die Vertragstheorie', in: Hegel-Studien 22 (1987), 120. RPh, 500, § 333. RPh, 83 f., §30. RPh, 503, § 340. G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, in: Werke, Bd. 1, 541.

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im Naturrechtsaufsatz. Dies gilt aber auch für seine Apologie des Krieges in der Phänomenologie des Geistes, die sich in demselben Kapitel, das die berühmte AntigoneAuslegung enthält, ausgeführt findet.17 Im Krieg zwischen souveränen Staaten sind die gleichberechtigten sittlichen Mächte wie in einer Tragödie miteinander konfrontiert. Deren Streit kann nicht auf einer höheren Rechtsebene oder von einer dritten Instanz entschieden werden. Dass es auch zwischen dem Plan des staatlichen Rechts und dem Plan der Weltgeschichte mit ihrer höheren oder vielmehr absoluten Rechtfertigung eine innere Uneinigkeit gibt, die sich nicht eindeutig aufheben lässt, dies könnte vielleicht an Hegels Auslegung des tragischen Schicksals des Sokrates nachgewiesen werden. Geschichtlich betrachtet, besiegt das Prinzip der freien Subjektivität, dessen Vertreter Sokrates ist, die substantielle Sittlichkeit der griechischen Welt; dies aber bedeutet nicht, dass die Kläger gegen Sokrates nicht „im Recht" waren. Das Gericht der Weltgeschichte ist somit ein „Gericht" nur in einem übertragenen Sinne dieses Wortes.

1. Aus alledem kann man schließen, dass sich Hegels Auffassung der Geschichte und der internationalen Verhältnisse einer Verabsolutierung der Rechtlichkeit widersetzt. In dieser Hinsicht könnte die Hegeische Philosophie als Gegenpol zur Philosophie Kants beschrieben werden. Die letztere ist im allgemeinen auf eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ausgerichtet. In seinen Entwürfen der 80er und 90er Jahre entwickelte Kant die Prinzipien einer solcher Verrechtlichung, deren Ziel der Frieden unter den Staaten bzw. Völkern ist. Das Völkerrecht, gegründet auf dem durch die Staatsbehörden durchgeführten öffentlichen Gesetz, sowie das Projekt eines zukünftigen Völkerbundes, stellen nach Kant die einzige Möglichkeit dar, vom natürlichen Kriegszustande d. h. vom „gesetzlosen Zustande der Wilden" in zwischenstaatlichen Der von Kant beBeziehungen in eine „gesetzmäßige Verfassung" absichtigte Frieden sollte sich radikal von all dem unterscheiden, was bisher unter diesem Namen bekannt war; dieser Frieden sollte nicht bloß ein Zustand der Abwesenheit 20 des Krieges, sondern ein „dauernder allgemeiner Friede" oder vielmehr der ewige Frieden sein. Es stellt sich also die Frage nach den Bedingungen eines solchen Friedens. -

-

überzugehen.1

G.W.F. Hegel, Jenaer Schriften, in: Werke, Bd. 2,495. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, 335. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Werke, Bd. 18, 496-516, insbesondere 503, 506 ff, 514. I. Kant, ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht', in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 24; vgl. ,Zum ewigen Frieden', ebd., 354ff. I. Kant, ,Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis', in: ebd.,312.

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Die Stärke der Existenz

ewigen Frieden" fasst Kant den Frieden nicht als einen ursprünglichen Zustand, sondern als eine Leistung auf: Der Frieden wird gemacht oder „gestiftet" zwischen den Staaten als Subjekten, die sich zuerst feindlich zueinander verhalten. Zwar beschreibt Kant den Frieden nicht als das Ergebnis einer gegenseitigen Anerkennung der Staaten; das Modell der Anerkennung ist erst durch Fichte in die praktische Philosophie des Deutschen Idealismus eingeführt worden. Der natürliche Kriegszustand wird nach Kant durch eine Vertragsschließung zwischen den Staaten aufgehoben. Die Entstehung des Rechtszustandes zwischen den Staaten entspricht somit der Entstehung des Rechtszustandes durch die Schließung des Gesellschaftsvertrags In seinem Entwurf „Zum

zwischen den einzelnen Menschen. In der Tat drückt sich Kant auf eine Weise aus, die eher an Hobbes oder Rousseau erinnert: „Völker als Staaten können wie einzelne Menschen beurtheilt werden, die sich in ihrem Naturzustande [...] schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren, und deren jeder um seiner Sicherheit willen von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann". So könnte man meinen, dass es nach Kant eine vollständige Analogie zwischen der Stiftung des Rechtszustandes unter den Einzelnen und der unter den Staaten gibt. In der Tat lassen sich einige neuere Theorien des Völkerrechts (wie etwa Rawls' The Law of Peoples, 1999) teils durch diese Analogie inspirieren. Dennoch ist diese gerade bei Kant nicht absolut. Dafür wäre es erforderlich, dass sich die einzelnen Staaten der Autorität einer zentralen souveränen Behörde unterwerfen, wie die einzelne Menschen im Falle der staatsgründenden Schließung des Gesellschaftsvertrags. Das Letztere aber hält Kant für unmöglich, weil die einzelnen Staaten auf ihre Autonomie nicht verzichten 23 wollen. Deswegen ist für Kant auch eine Weltrepublik unmöglich, die er darüber hinaus aus anderen Gründen (vor allem wegen deren potentiellen Despotismus) auch für nicht wünschenswert erklärt hat. So glaubt Kant, dass wir uns mit einem Staatenbund, d. h. mit einem bloßen „Surrogat" einer echten zentralen Behörde, zufrieden geben müssen. Aus dieser Lage ergeben sich aber schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der „Ausführbarkeit" des Kantischen Konzepts vom ewigen Frieden. Auf diese Bedenken gründet sich die Hegeische Kritik des Kantischen Friedensprojekts. Kants Festhalten am Prinzip der Souveränität der einzelnen Staaten ist in letzter Zeit kritisiert worden. Es wird als eine bloß empirische Prämisse des Kantischen Arguments in Frage gestellt, die zwar für die bisherige Geschichte galt, die aber in Zukunft preisgegeben werden sollte, und zwar zugunsten des Projekts der Gründung einer Republik von Republiken, die über die Mittel verfügen würde, die Normen, denen die einzelnen

I. Kant, ,Zum ewigen

Frieden', in: ebd., 349.

Ebd., 354. Ebd., 356f. Kant, .Über den Gemeinspruch', 310f.

90

VLADIMIR MILISAVLJEVIC

Nationalstaaten zu folgen verpflichtet sind, durchzusetzen. Es ist gewiss, dass hinter diesem Versuch, Kants „Souveränitätsprämisse" zu relativieren, ein wohlbegründetes Misstrauen hinsichtlich des „sittlichen" Charakters des modernen Nationalstaates steht; dieses Misstrauen könnte durch die geschichtlichen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts erklärt werden. Andererseits aber verschleiert diese Auffassung von dem bloß empirischen oder bloß geschichtlichen Charakter der Souveränität der einzelnen Staaten einen wichtigen Punkt hinsichtlich des Verstehens der Problemlage des Völkerrechts bei Kant und Hegel. Vorläufig könnte man diesen Punkt im Sinne des Problems der Vermittlung zwischen dem idealen Gehalt der rechtlichen und sittlichen Normen einerseits und dem Bereich ihrer Wirklichkeit andererseits bezeichnen. Es handelt sich hier um das Problem der Vermittlung zwischen der sogenannten „utopischen" Dimension des Friedens und der geschichtlichen oder politischen Wirklichkeit. Wenn man dem Problem auf dieser Ebene nachgeht, ist es nicht mehr möglich, die Reflexion über die idealen oder transzendentalen Bedingungen von Frieden streng von der „empirischen" Betrachtung der geschichtlichen Realität zu unterscheiden. Es lässt sich im voraus feststellen, dass das genannte „Vermittlungsproblem" nicht nur für Hegels, sondern auch für Kants Überlegungen in Sachen Frieden und Völkerrecht maßgebend ist. Vor allem aber sollte ein solcher Ansatz die Möglichkeit bieten, den Stellenwert von Hegels Kritik an

Kant

zu

verstehen.

2. Diesem Problem soll zuerst in Hinsicht auf Kant nachgegangen werden. Kant betrachtet den Frieden nicht nur als einen unerreichbaren „idealen" Zustand. Er bemüht sich auch, die Idee des Friedens eben in ihrer Verwirklichung oder in ihrer „Existenz" zu denken. Seine theoretische Ausrichtung wird deutlich, wenn man die Entwicklung von Kants Denken von seinem Aufsatz über die „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) bis zum Entwurf Zum ewigen Frieden (1795) oder bis zur späteren Metaphysik der Sitten (1797) in Betracht zieht. In der erstgenannten Schrift sieht Kant den Frieden als eine Forderung der Vernunft an, die einerseits auf einem „Plan der Natur" gegründet ist, andererseits wird diese Absicht der Natur mit Hilfe der natürlichen Mittel auch verwirklicht. So könnte man sagen, dass Kants Methode an die in der späteren Kritik der Urteilskraft beschriebene Verfahrensweise des Naturforschers erinnert, der sich des Prinzips der Zweckmäßigkeit der Natur bedient. Man kann sogar auffallende Ähnlichkeiten in der Terminologie feststellen. So sollte uns die von Kant entworfene Methode erlauben, wie Kant sich ausdrückt, „ein sonst planloses Aggregat

Für Literaturhinweise vgl. G. Zenker, Philosophie Heft 1, 2004, 22-32.

,Kants Friedensschrift in der Diskussion', in: Information

Dm Stärke der Existenz

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menschlicher Handlungen wenigstens im Grossen als ein System darzustellen". Es ist also die Natur, die dem Menschen die Anlagen zur Vernünftigkeit und zur Sittlichkeit gegeben hat und die auch die Mittel für die Verwirklichung dieser Anlagen zur Verfügung stellt. Eine vollständige Entwicklung dieser Anlagen auf der Ebene der menschlichen Gattung setzt den Frieden voraus. Der Frieden wird aber erst an den letzten Entwicklungsstufen der Menschengattung erreicht, auf denen eine vollkommene Harmonie zwischen Natur und Kultur verwirklicht ist. In diesem Punkt wird allerdings Kants hohe Einschätzung des Friedens zweideutig. Diese Zweideutigkeit geht aus seiner Überzeugung hervor, dass im Rahmen der globalen Strategie der Natur auch die Konflikte bzw. die antagonistischen Verhältnisse zwischen den Menschen zur Verwirklichung des Friedens beitragen. Kant übernimmt dabei den Grundgedanken der liberalen Tradition, wonach auch unmoralische Verhältnisse oder Motive im Bereich des menschlichen Handelns im Ganzen doch zu einem moralisch wünschenswerten Resultat führen können. In diesem Zusammenhang ist vor allem an Kants Auffassung von der „ungeselligen Geselligkeit" des Menschen zu denken.27 Ganz ähnlich betrachtet Kant in seiner Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte den Krieg selbst. Dort behauptet Kant, dass der Krieg auf der jetzigen Entwicklungsstufe der Kultur sogar als ein notwendiges Mittel zu ihrer Beförderung angesehen werden muss; erst nach der vollständigen Realisierung der Kultur könnte der 28 Geewige Frieden für uns heilsam sein. Nicht nur also als Phänomen des ästhetischen 2Q fallens (wenngleich desjenigen Typs, das nur durch ein Missfallen möglich ist) wird der Krieg bei Kant gewissermaßen „positiv" bewertet, sondern auch im Sinne eines teleologischen Begriffs der menschlichen „Naturgeschichte". Es handelt sich hier um einen ersten Versuch der Vermittlung zwischen der moralischen Forderung nach Frieden und der Wirklichkeit, und zwar um einen Versuch, der sich auf das Prinzip der Teleologie der Natur gründet. In der Tat stützt sich Kant auf dieses Prinzip, wenn er sich etwa der epikureischen Hypothese von der zufälligen Verwirklichung des ewigen Friedens durch eine Konkurrenz der natürlichen bzw. mechanischen Ursachen entgegensetzt. Nach Kant ist für die Realisierung eines solchen Zustandes ein Rechtsverhältnis zwischen den Staaten erforderlich. Trotzdem bleibt Kants Auffassung von diesem Rechtszustand gleichsam mechanistisch. An mehreren Stellen vergleicht Kant selbst den definitiven Frieden mit einem Automat", der sich selbst nach mechanischen Gesetzen in 31 einem stabilen Zustand erhält. Die methodologischen Betrachtungen zu Beginn des Aufsatzes Idee zu einer allgemeinen Geschichte können bezeugen, dass Kants StandKant, ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte', 29; vgl. die .Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft', in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 20, Berlin 1942, insbesondere 203-205. Kant, ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte', 20f. Ebd., 121. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 5, Berlin 1908, 263, § 28. Kant, ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte', 25. Ebd.; vgl. Kant, ,Über den Gemeinspruch', 312.

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punkt in dieser Hinsicht eher einer „sozialen Naturwissenschaft" als einer „Moralphilosophie" zuzuordnen ist. Hier interessiert sich Kant eben für die Perspektive einer sozialen Statistik, in welcher sich herausstellt, dass die menschliche Freiheit durch eine 32 quasi-natürliche Gesetzlichkeit geregelt ist. Dadurch erweist sich Kants erster Vermittlungsversuch als problematisch. Es stellt sich nämlich die Frage, ob die Natur und das Prinzip ihrer Zweckmäßigkeit den moralischen Gehalt der Forderung nach Frieden garantieren können. Es scheint nämlich, dass der eigentliche Sinn dieser Forderung nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn ihrem „idealen" Gehalt auch dessen Verwirklichungsweise entspricht. Dadurch aber tritt die Frage nach dem Frieden in die Nähe der Problematik der Kantischen Philosophie der Moral. Kants Entwurf Zum ewigen Frieden kann als ein anderer Versuch der Lösung dieses Problems angesehen werden. Auch in dieser Schrift sucht Kant im Begriff der Natur die „Garantie" für die Realisierung des Friedens.33 Dieser Begriff der Natur erlaubt es Kant, zu behaupten, dass sich das Problem der Gründung der gesetzlichen Ordnung auch „für ein Volk von Teufeln" lösen lässt.34 Die Lösung des Problems besteht bekanntlich in der Erfindung eines Mechanismus der gegenseitigen Einschränkung der Interessen der Einzelnen. Die Überlegungen zum Begriff der Natur werden aber im Entwurf zum ewigen Frieden durch eine Reihe von Betrachtungen ergänzt, die spezifisch auf die moralische Dimension des Friedens bezogen sind. Diese Betrachtungen sind nicht etwa im Sinne einer „Erweiterung" des Begriffs des Rechts zu nehmen; sie stehen im Gegenteil eher auf der Begründungebene der Rechtslehre sowie der Moralphilosophie im eigentlichen Sinne. Auch in der Friedensschrift sagt Kant wie schon zuvor, dass die Forderung nach Frieden einer Begründung bedarf. Diese Begründung ist aber nicht aus einer „Anthropologie" oder aus einer „eudämonistischen" Ethik heraus zu entwickeln. Andererseits gründet Kant die Forderung nach dem Frieden auch nicht mehr unmittelbar auf einem Begriff der Natur, die der Menschengattung die Anlagen zur Vernunft gegeben hat. Kant behauptet im Gegenteil, dass der Krieg unannehmbar sei, weil er dem Begriffe des Rechts entgegengesetzt sei. Die Forderung nach Frieden geht also unmittelbar von dem „reinen Begriff der Rechtspflicht" aus: Der Frieden ist vorgeschrieben, „weil nur unter dieser Bedingung das vernunftgebotene Recht wirklich wird". Es stellt sich also heraus, dass der letzte Grund der Forderung nach Frieden darin liegen muss, dass wir den 37 Frieden „als einen aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand" wünschen. Von diesem Gedanken her könnte Kant sogar seinem Begriff der Natur (natura daedala reKant, ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte', 17. Kant, ,Zum ewigen Frieden', 360ff. Ebd., 366. Ebd., 379. O. Hoffe, Immanuel Kant, München 1992, 229. Kant, ,Zum ewigen Frieden', 377.

93

Die Stärke der Existenz

rum) eine ethische Grundlage verschaffen. Auf dieser Grundlage kann er auch die „Natur" als identisch mit der Vorsehung betrachten. So sagt er, dass die „Zusammen-

stimmung" der Natur mit dem moralischen Zweck des Menschen, wenn auch theoretisch „überschwenglich", in praktischer Absicht dennoch „dogmatisch und ihrer Realität 38 nach wohl gegründet", d. h. objektiv verbindlich ist. In den „Anhängen" zur Friedensschrift beschäftigt sich Kant ausführlich mit dem 39 Verhältnis zwischen Moral und Politik. Hier geht er insbesondere der Frage nach, ob die Realisierung des ewigen Friedens von einer Politik zu erwarten ist, die sich von ihrer Zielsetzung leiten lässt, oder im Gegenteil von einer Politik, die, ohne auf die möglichen Folgen des Handelns Rücksicht zu nehmen, an dem Sittengesetz als ihrem Prinzip festhält. Kant versucht nachzuweisen, dass der Hauptmangel der Politik des ersten Typs die er dem Standpunkt der „politischen Moralisten" zuschreibt in der prinzipiellen Unberechenbarkeit der Mittel zur Erlangung ihres Endziels besteht. Dieser Politik setzt Kant den Standpunkt des „moralischen Politikers" entgegen, der sich nur durch sein Streben nach dem Reich der praktischen Vernunft und durch die Pflicht führen lässt, der aber dennoch hoffen kann, dass sich der ewige Frieden als Endergebnis seines Handelns -

-

verwirklichen wird. In einem zweiten Schritt versucht Kant nachzuweisen, dass es auch ein „positives" Prinzip der „Einhelligkeit der Politik mit der Moral" gibt. Dieses Prinzip besteht nach Kant in der Form der „Publizität" der Maximen der Politik. Es besagt, dass im Sinne des Rechts nur solche Maximen zulässig sind, deren öffentliche Kundgebung die Realisierung ihrer Absicht nicht unmöglich macht. Dieser Begriff der Politik als „ausübende Rechtslehre" stellt eine Grundlage dar für Kants Kritik der „sophistischein) Maximen", die in der internationalen Politik üblich sind. So hat Kant den Beweis geliefert, dass es möglich ist, die Politik mit den objektiven Vorschriften der Moral zu versöhnen. Dennoch hat er nicht nachweisen können, wie aus dem formalen Prinzip dieser Politik auch die Verwirklichung des Friedens abgeleitet werden kann. Diesbezüglich beschränkte sich Kant auf das Argument, wonach die Kraft des unbedingt gebietenden Sittengesetzes dessen Ausführbarkeit impliziert. Dadurch wird das Problem der Realisierung des Friedens identisch mit dem der Verwirklichung des Sittengesetzes. Daraus scheint zu folgen, dass Kants Entwurf nur eine unvollständige Lösung des Problems der Vermittlung zwischen dem Frieden als Norm und der politischen und geschichtlichen Wirklichkeit zu geben vermag.

Ebd., 362. Ebd., 370 ff. Ebd., 381. Ebd., 374. Ebd., 370; vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 5, Berlin 1908, 47 ff.

VLADIMIR MlLISAVUEVIÓ

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3. Vor dem Hintergrund dieser Problemlage wird es möglich, den Standort der Hegelschen Kant-Kritik bezüglich des „ewigen Friedens" zu verstehen und dem Unterschied zwischen Kants und Hegels Bewertung des Krieges Rechnung zu tragen. Hegels Rechtfertigung des Krieges muss im Zusammenhang mit dem Grundcharakter seiner Philosophie gesehen werden. Nach Hegel schließt das Absolute auch das Moment der Entzweiung, dadurch aber auch das Moment der Konfliktualität in sich ein. Hegel hat bekanntlich seine Theorie des Krieges auch mit seiner Auffassung von „Idealismus" verknüpft, der sich in einer „objektiven" Negation oder Vernichtung des Endlichen manifestiert.43 Unter den Begriff des Endlichen, dessen Destruktion Hegel zufolge erforderlich ist, fallen aber auch die beschränkten Interessen der Menschen als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die eben nur durch den Frieden gesichert sind. In dieser Hinsicht muss der Krieg bei Hegel sogar als Erscheinung des Absoluten selbst verstanden werden. Teilweise kann die Hegelsche Einschätzung des Krieges auch durch seinen politischen „Realismus" erklärt werden. Dieser Realismus erlaubte ihm, Kants berühmte These, wonach die republikanische Regierungsform schon für sich ein Gegengewicht zu den kriegerischen Neigungen der Fürsten darstellt, in Frage zu stellen. So sagt Hegel, dass, was den Krieg betrifft, „oft ganze Nationen noch mehr wie ihre Fürsten enthusiasmiert und in Leidenschaft gesetzt werden können". Hegels Gefühl für das Konkrete der politischen Verhältnisse konnte ihn auch dazu verleiten, an die Prinzipien der Friedenspolitik zu zweifeln, weil sich auch die Kräfte der politischen Reaktion wie im Falle der „Heiligen Allianz" manchmal dieser Politik bedienen. Alles Erwähnte erlaubt aber noch nicht, Hegels Einstellung zur internationalen Politik und zum Völkerrecht in ihrem Gegensatz zum Standpunkt Kants klarzumachen. Es ist unbestreitbar, dass in der Hegelschen Philosophie des Rechts eben das, was ist, zu seinem Recht kommt.46 Jedoch kann gerade dieser Aspekt des Hegelschen Denkens nicht mit einem Hinweis auf seinen politischen „Realismus" erledigt werden. Dafür ist es notwendig, dem moralphilosophischen Standpunkt Hegels Rechnung zu tragen. Hegels Konzeption der Moral (im weitesten Sinne des Wortes) ist auf einen Begriff des Guten ausgerichtet, der die Kraft seiner Ausführung, oder die Seite seiner Existenz, in sich einschließt. Es ist also hervorzuheben, dass die „Unausführbarkeit" der Normen des Völkerrechts bei Hegel nicht bloß einen „empirischen", sondern auch einen moral-

-

RPh, 491, §324; vgl. Hegels Bestimmung des Begriffs des Idealismus in der Wissenschaft der Logik I, in: Werke, Bd. 5, 172 f. RPh, 497, § 329, Zusatz; vgl. Kant, ,Zum ewigen Frieden', 351. RPh, 493 f., §324, Zusatz. Vgl. M. Bondeli, ,Zur Friedensstiftenden Funktion der Vernunft bei Kant und Hegel', in: HegelStudien 33

(1998), 159.

95

Die Stärke der Existenz

philosophischen Einwand von

einem Rechtszustand

Projekt des ewigen Friedens bedeutet. Kants Auffassung zwischen den Staaten ist nach Hegel unhaltbar, gerade weil

zum

sie den Charakter der „Moral" nur im Kantischen Sinne dieses Wortes hat. Zur Bestätigung dieser These kann die Entwicklungsgeschichte der Hegelschen Kritik an Kant herangezogen werden. Der junge Hegel hatte sich zuerst die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen das Kantische Sittengesetz zugleich als eine tätige Kraft gedacht werden kann. Die Schwierigkeiten, mit denen sich Hegel bei der Beantwortung dieser Frage konfrontiert sah, haben ihn zu der Einsicht geführt, dass Kants Begriff des Gesetzes umgebildet werden muss, und zwar in einer Weise, die es ermöglicht, es als eine Norm in ihrer Verwirklichung zu denken. Hegels Begriff von der Sittlichkeit in der Rechtsphilosophie, wo er sie als Einheit des „Guten" und des subjektiven „Willens" 48 versteht, drückt nichts anderes aus. Was aber die Hegeische Kritik des Kantischen Friedensprojekts betrifft, so muss man sagen, dass diese Kritik auch immanent ist, weil Kant nicht nur die Ausarbeitung des Friedens als einer „regulativen Idee" beabsichtigte, sondern auch die Möglichkeit der Realisierung dieser Idee nachweisen wollte. Die entsprechenden Folgerungen können auch in bezug auf den Begriff der „Existenz" und ihrer „Stärke" gezogen werden. Der eigentliche Sinn dieses Ausdrucks liegt nicht im Verweisen auf die Macht der bloßen Faktizität, die eine sozusagen objektive Anerkennung verbürgen würde. Es handelt sich übrigens im erwähnten Paragraphen nicht um irgendeinen Staat, sondern um die Französische Republik, die Hegel seiner Kritik an der Französischen Revolution zum Trotz als den Träger des geschichtlichen Prozesses sieht, durch den sich die Vernunft verwirklicht. Das Wort „Existenz" an dieser Stelle sollte vor allem in der Bedeutung verstanden werden, die es in Hegels Logik des Wesens hat. Dort ist die Existenz nicht gleichbedeutend mit dem bloßen Dasein; im Gegenteil bezeichnet dieses Wort „das in die Unmittelbarkeit hervorgegangene Wesen", d. h. die absolute Negativität der Reflexion, die sich in einer neuen Unmittelbarkeit aufgehoben hat. Dieser neuen Unmittelbarkeit dem „Grundlosen" der Existenz im Sinne des Aufgehobenseins des Grundes entspricht bekanntlich auf der Ebene des Staatsrechts die in der Person des Fürsten wiedergewonnene Natürlichkeit der sittlichen Idee. Auch die „Sonne" aus dem zitierten Brief Napoleons kann als eine Metapher dieser zweiten Natürlichkeit verstanden werden. Der Maßstab der „Stärke der Existenz" liegt also für Hegel nicht im Bereich des Faktischen, sondern in der Vernunft, die in die Existenz übergeht. Nach heutigem Standpunkt ist Hegels Rechtsphilosophie bedenklich geworden, weil in ihr die Vernunft in der Form eines einzelnen Staates hervortritt, dessen Souveränität keine Grenzen zu kennen scheint. Dennoch behält Hegels Kritik des Völkerrechts auch -

-

-

-

D. Henrich, ,Ethik der Autonomie', in: ders., Selbstverhältnisse, dere 42-54.

Vgl.

RPh, 286ff., §141.

Hegel, Wissenschaft der Logik II, in: Werke, Bd. 6, RPh, 451 f., §281.

125.

Stuttgart 1982,

insbeson-

Vladimir Milisavljevio

96

heute einen guten Teil ihrer Überzeugungskraft. Dies gilt vor allem für Hegels Diagnose, die sich zum Teil auch auf die Gegenwart anwenden lässt. Heute noch sind die einzelnen Staaten Subjekte, die internationale Verträge schließen und die Durchführung Dabei kommt auch die Willkür der der völkerrechtlichen Verpflichtungen Völkerrechts zum Ausdruck, zumal wenn es sich um die Anwendung der Normen des Großmächte handelt, die das Prinzip der Priorität der Verteidigung ihrer nationalen Interessen oft auch öffentlich vertreten. Es stellt sich aber auch die Frage nach der Möglichkeit einer „positiveren" Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die Problemlage der Gegenwart. Zum Schluss möchte ich auf eine mögliche Richtung einer solchen Anwendung aufmerksam machen. Sie ergibt sich aus dem Zusammenhang mit dem genannten „Vermittlungsproblem". Es handelt sich hier um das Problem der Institutionen des Völkerrechts, das eben im Sinne der Verwirklichung der völkerrechtlichen Normen betrachtet werden kann. Die internationalen Institutionen sind ein wesentlicher Bestandteil des völkerrechtlichen Systems. Solange ihre Autorität nicht gesichert ist auch gegenüber den einzelnen Staaten -, muss die Frage nach der Durchsetzung der völkerrechtlichen Normen unbeantwortet bleiben. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass die Ausarbeitung des Themas der Institutionen des Völkerrechts als ein Desiderat der neueren Diskussion um 52 das Kantische Friedensprojekt empfunden worden ist. Auf einer anderen Ebene könnte Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Lösung dieses Vermittlungsproblems beitragen. Den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft sieht Hegel als Verbindungsglied zwischen der ersten „natürlichen" Sittlichkeit der Familie und dem Staatsrecht an.53 Mit guten Gründen könnte die These verteidigt werden, dass diejenigen Momente der Hegelschen Theorie des Krieges, die heute als „skandalös" erscheinen und am stärksten kritisiert worden sind, aus den Schwierigkeiten des Hegelschen Versuchs resultieren, die Vermittlung zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat konsequent durchzuführen. Dennoch eröffnet Hegels Rechtsphilosophie mit ihrem antagonistisch ausgestalteten Begriff der bürgerlichen Gesellschaft als des „Systems der Bedürfnisse" eine Perspektive, in der auch die wirtschaftliche und soziale Bedingtheit des Krieges berücksichtigt werden kann. Gewissermaßen stellt diese Richtung der Analyse in der aktuellen philosophischen Diskussion um das Problem des Krieges auch ein Desiderat dar. Deswegen ist Hegels Konzeption auch als eine Ergänzung zu Kants Theorie zu nehmen, in der der Zusammenhang zwischen dem staatlichen und dem internationalen Plan nur auf der politischen Ebene etwa im Sinne der erwähnten Auffassung, dass die republikanische Regierungsform eine friedliche Außenpolitik begünstigt ausgearbeitet worden ist. Es ist aber unbe-

garantieren.51

-

-

-

J. Habermas,,Kants Idee des Ewigen Friedens', in: Information Philosophie, Heft 5, 1995, 14. G. Zenker, .Kants Friedensschrift in der Diskussion', 26. Über die vermittelnde Funktion der bürgerlichen Gesellschaft bei Hegel, auch im politischen Sinne, vgl. J.-F. Kervégan, Hegel. Carl Schmitt, Paris 2005, 230 ff.

Die Stärke der Existenz

streitbar, dass die aktuelle Problemlage eine Umbildung der Hegelschen Konzepte

97 er-

Problemlage könnte vielleicht im Sinne des Gegensatzes zwischen einer globalen „bürgerlichen Gesellschaft" und den einzelnen Staaten, die auf ihrer „Souveränität" beharren, beschrieben werden. Heute ist aber dieses antagonistische Verhältnis noch weniger eindeutig als zur Zeit Hegels. So bleiben die politischen Organisationsformen einer „globalen" bürgerlichen Gesellschaft meist durch die Grenzen der souveränen Staaten beschränkt, wobei die letzteren einen großen Einfluss auf die Voraussetzungen der globalen Gesellschaft ausüben. fordert. Diese

Hans-Georg Bensch (Hannover)

Aspekte einer Philosophie der weltpolitischen Entwicklung bei Kant und Hegel Affirmation und Kritik

-

In einem sehr kurzen Einleitungsteil werden im folgenden anhand von einschlägigen Zitaten „Kritik" und „Affirmation" Kant und Hegel zugeordnet. Im ersten Hauptteil geht es darum, affirmative und kritische Momente sowohl bei Kant als auch bei Hegel hervorzuheben und das anhand der Begriffe „höchstes Gut" (Kant) und „Korporation" und „Beamtenschaft" bei Hegel, um dann im 2. Hauptteil die Konsequenzen für einen Begriff von Wissenschaft (Idee, Natürliches, Besonderheit und Tod) zu ziehen.

Kritik und Affirmation sind auf den ersten Blick auf Seiten Kants:

eindeutig

zuzuordnen. Kritik

„Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen

muss.

(Sollen) Reli-

ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können."

gion, durch

Der Gedanke im Zitat aus der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft hält sich durch bis zu den späten Schriften Zum ewigen Frieden und Streit der Fakultäten. Affirmation dagegen und scharfe Polemik gegen Kritiker herrschender Zustände lassen Hegel als Apologeten gesellschaftlicher Verhältnisse erscheinen, der in der Einsicht in die Notwendigkeit die realisierte Freiheit erblickt. Der Philosoph hat diese zu „erfas3 2 Den sen." Oder, ganz eindeutig: Allein „um dieses Affirmative ist es uns zu tun." Weltverbesserern hatte Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes Bescheid gege-

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (=KrV), A XI, Fn. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Recht, (=Rph), Werke, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, § 343, 504: „Die Geschichte des Geistes ist seine Tat, denn er ist nur, was er tut und seine Tat ist, sich, und zwar hier, als Geist sich zum Gegenstande seines Bewusstseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen. Dies Erfassen ist sein Sein und Prinzip, und die Vollendung seines Erfassens ist zugleich seine Entäußerung und sein Übergang. Der, formell ausgedrückt, von neuem dies Erfassen erfassende, und was dasselbe ist, aus der Entäußerung in sich gehende Geist ist der Geist der höheren Stufe gegen sich, wie er in jenem ersteren Erfassen stand." Rph, Anmerkung zu § 258, 404.

100

Hans-Georg Bensch

ben, da hieß es: „Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht [...] in das Toben des verrückten

Eigendünkels über."

1. So entgegengestellt, scheint der Gegensatz von Kant und Hegel nicht schroffer sein zu können. Hegels Argument gegen Kant ist, dass dieser sich der Erkenntnis der Wahrheit verschließt, weil Kants Unterscheidung / Selbstprüfung / Kritik der Vernunft diese als ein Erkenntnisvermögen nimmt, das per definitionem seine Gegenstände nicht erreichen kann. Die Vernunft bleibt formell und subjektiv sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Erkenntnis. Der Vorwurf des subjektiv Formellen seit Hegel Gemeingut erkläre, warum Kant keinen Begriff der Sittlichkeit habe. Zugegeben, dadurch dass Kant die Begriffe Moralität und Sittlichkeit synonym gebraucht, ist die durch Hegel gegen die Sphäre der Moralität ins Spiel gebrachte Sittlichkeit als Sphäre des daseienden Geistes, nicht thematisch. Eine Theorie der objektiven Vernunft, des Familiären, des Gesellschaftlichen und des Staatlichen jeweils als Manifestationen des objektiven Geistes, hat Kant nicht. Auch scheint derartiges gemäß der Kantischen Prämisse der Kritik der praktischen Vernunft nicht möglich zu sein. Aber ist denn tatsächlich die bloße Formalität, die bloße „Widerspruchsfreiheit" des moralischen Prinzips unabhängig von jeder gesellschaftlichen Bestimmung, die Konsequenz wie Hegel und seine Nachfolger (gleichgültig ob Hegelianer oder Antihegelianer) behaupten? Dieses Vorurteil Kant gegenüber reproduziert sich in den immer wieder neu konstruierten Beispielen, in denen ein Kantisches Handeln aus Pflicht ad absurdum geführt wird. Die seit Schiller unaufhörlichen konstruierten Beispiele nutzen für ihre reductio ad absurdum als Ausgangspunkt immer eine Notsituation, eine Zwangslage. Dabei steckt in der Kantischen Argumentation, sowohl der Kritik der praktischen Vernunft als auch der des Ewigen Friedens, immer wieder der Hinweis auf Bedingungen, die ein moralischen Handeln behindern. Insofern hätte Kant zumindest negativ gesellschaftliche Bedingungen berücksichtigt als empirisch sittliche Verhältnisse, die ein Handeln aus Pflicht be- bzw. verhindern. -

-

-

G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, (=PhdG), hg. burg 1980 (Gesammelte Werke [=GW], Bd. 9), 206. Rph, § 33, 88.

v.

W.

Bonsiepen

u.

R. Heede, Ham-

Schiller, ,Kallias oder Über die Schönheit' (Briefe an Gottfried Körner; 18.2.1793), in: F. Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 5, hg. von G. Fricke und H.G. Göpfert, Darmstadt 1993, 405 ff. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft (=KpV), hg. v. H.D. Brandt u. H.F. Klemme, Hamburg 2003, 66 (84) [48], 102 (133) [75], 107 (140) [79]. F.

101

Affirmation und Kritik

Haltlos wird der Vorwurf der bloßen Formalität gegen Kant aber dann, wenn man sich erinnert, dass Kant die bloße Formalität des kategorischen Imperativs selbst thematisiert und es mit dieser Formalität nicht sein Bewenden haben kann: „Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens. Da dieses aber bloß formal ist [...], so abstrahiert es, als Bestimmungsgrund, von aller Materie, mithin von allem Objekte, des Wollens".8 Sollte „also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich [sein], so muss auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein."9 Das hieße: etwas, das angeblich bloß widerspruchsfrei sei, würde an sich falsch sein können! Damit will Kant vorbereiten, dass die Beförderung des höchsten Guts (als Einheit von Tugend und Glückseligkeit) nicht unmöglich sein kann. Wäre die Beförderung des höchsten Guts ausgeschlossen, resultierte ein Widerspruch im Begriff der Vernunft. Denn dass ein Wesen, das der Glückseligkeit würdig und der Glückseligkeit bedürftig sei, dieser nicht auch teilhaftig werden könnte, ist mit unparteiischer Vernunft unvereinbar. Mit diesem Argument variiert Kant den Gedanken, dass die Glückseligkeit sich schon von selbst einstellen wird, wenn das Sittengesetz alleiniger Bestimmungsgrund des Willens ist. Und doch lässt sich damit bei Kant so etwas wie „Gottvertrauen" nicht abweisen. Hätte Kant tatsächlich alle gesellschaftlichen Bedingungen ausgeblendet, wäre er der Stoiker, zu dem Hegel ihn in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie macht. Aber Kant ist kein Stoiker, vielmehr kritisiert er gerade im Anschluß ans „höchste Gut" (Antinomie) die Stoiker und die Epikureer, die in ihrer Gleichgültigkeit gegen gesellschaftliche Bedingungen wenn auch von unterschiedlichen Prämissen her das hoch12 ste Gut verfehlen. Mit dem höchsten Gut als Einheit von Tugend und Glückseligkeit und seiner doppelten Bestimmung vom ursprünglich höchsten Gut und dem abgeleiteten höchsten Gut wird dieses zwar nie als realisiert projiziert, wohl aber als prinzipiell realisierbar ge-

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9

148 (196) [109]. Ebd., 154 (205) [114]. KrV A 316, B 373, KpV und Zum

KpV

11

ewigen Frieden (= Ew. Frieden), Anhang I, in: I. Kant, Klei-

Schriften

zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hg. von K. Vorländer, Hamburg 49. 1964, G.W.F. Hegel, Geschichte der Philosophie, Werke, Bd. 20, Frankfurt/M. 1970, 368: „So hat Kant zur Bestimmung der Pflicht (denn die abstrakte Frage ist, was ist Pflicht für den freien Willen) nichts gehabt als die Form der Identität, des Sich-nicht-Widersprechens, was das Gesetzte des abstrakten Verstandes ist. Sein Vaterland zu verteidigen, die Glückseligkeit eines andern ist Pflicht, nicht wegen ihres Inhalt, sondern weil es Pflicht ist, wie bei den Stoikern wahr ist das Gedachte darum, weil und insofern es gedacht ist." Das ist aber der Grund, warum das Lehrstück vom höchsten Gut entweder nicht oder unzureichend auch von Hegel rezipiert wird. Vgl. ebd., 370. nere

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12

Hans-Georg Bensch

102

dacht. Die morahsche Bestimmung, die von Hegel als bloß formell bekämpft wird, kann dann aber als Forderung gefasst werden, Hinderungsgründe der Freiheit aufzuheben. Zwischenbemerkung: Würden aber die Hinderungsgründe der Freiheit allein in einer unwirtlichen Natur gesehen, die nur mittels Arbeit und Technik etwas komfortabler einzurichten sei, wäre Kant zurecht zum Stichwortgeber für Sonntagsredner geworden, die den technischen Fortschritt gern von ethischer Verantwortung begleitet zu sehen wünschen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, der unzweifelhaft am stärksten unter der freien Marktwirtschaft sich entwickelt, wird es „verantwortungsvoll genutzt" schon richten und insofern befinden wir uns auf dem Weg zum ewigen Frieden. Kant leistet dem Vorschub, wenn er „dem Handelsgeist" diese zivilisierende Kraft im Ewigen 13 Frieden zuschreibt, sich insofern affirmativ, fortschrittsoptimistisch gibt, wenngleich unter dem subjektivierenden Vorbehalt: Geschichte könne so beurteilt werden unter der regulativen Idee, ohne den Anspruch auf Erkenntnis. Und doch ist es immer nur der halbe Kant, der sich für Sonntagsreden adaptieren lässt, denn die Aufhebung der Hinderungsgründe der Freiheit allein im technischen Fortschritt zu sehen, machte den nur technisch-praktischen Vernunftgebrauch zum bloßen Analogon des tierischen Instinkts, wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft -

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erklärt.14

Was Kant damit als Beförderung des höchsten Guts fasst, ist zwar ein Sollen, zugegeben eine unendliche Aufgabe, aber doch „kein leeres Sollen", denn den Maßstab der

„Sowie die Natur weislich die Völker trennt, welche der Wille jedes Staats, und zwar selbst nach Gründen des Völkerrechts, gern unter sich durch List oder Gewalt vereinigen möchte: so vereinigt sie auch andererseits Völker, die der Begriff des Weltbürgerrechts gegen Gewalttätigkeit und Krieg nicht würde gesichert haben, durch den wechselseitigen Eigennutz. Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt. Weil nämlich unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten (Mitteln) die Geldmacht wohl die zuverlässigste sein möchte, so sehen sich Staaten (freilich wohl nicht durch Triebfedern der Moralität) gedrungen, den edlen Frieden zu befördern und, wo auch immer in der Welt Krieg auszubrechen droht, ihn durch Vermittelungen abzuwehren, gleich als ob sie deshalb im beständigen Bündnisse ständen; denn große Vereinigungen zum Kriege können der Natur der Sache nach sich nur höchst selten zutragen und noch seltener glücken. Auf die Art garantiert die Natur durch Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß chimärischen) Zwecken hinzuarbeiten." Ew. Frieden, 148. „Denn im Werte über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, dass er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum behuf desjenigen dienen soll, was bei den Tieren der Instinkt verrichtet; sie wäre alsdenn nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu die Tiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen." KpV 84 (108) [62]. -

103

Affirmation und Kritik

Kritik, den Maßstab der Prüfung und Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse lässt

Kant sich damit nicht aus den Händen nehmen.15 Genau ein solches Prüfen und Beurteilen ist es aber, gegen das Hegel schreibt: ,,[I]ndem ich zu prüfen anfange, [bin] ich schon auf unsittlichem Hegels Interesse, besser: das der Philosophie, die als Wissenschaft der Wahrheit aufzutreten habe, ist es, den Begriff des Staates, die Idee zu entwickeln. Nur wenn es ihm gelungen ist, zumindest eine Idee hier: die des Staates als realisierter Freiheit, als das Wirkliche, das die Einheit von Allgemeinem und Besonderen ist, dargestellt zu haben, ¿ii Wahrheit bewiesen, ist Philosophie als Wissenschaft. Kritik kann es unter Voraussetzung eines solchen Begriffs von Philosophie nur geben entweder als Widerlegung durch den Geist selbst, der seine unvollkommenen Gestalten aufhebt, oder aber als Kritik an falschen Vorstellungen, die als solche „dem Begriff nicht genügen, sich negativ zur Wirklichkeit stellen, diese an einem Ideal messen oder bloß ein eitles Meinen ausdrücken. Diese Unwirklichkeiten werden mit Hegels heftiger Polemik gegen das Sollen attackiert. Es läßt sich aber zeigen, daß Hegel an zentralen Stellen „des wissenschaftlichen Be17 weises des Begriffs vom Staat" denn das sei die Rechtsphilosophie, in der es genau deswegen weder um ein Ideal noch um die Erklärung des historischen Ursprungs von Staaten geht das Sollen (das Normative) bemühen muss.

Wege".1

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-

10

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und Beamtenschaft. Der Staat als vernünftige Sittlichkeit muss aus der Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft, die der Ort der subjektive Freiheit der Besonderen ist (die der Platonischen Bestimmung des Staates fehlt), heraus zur Einheit zurück mittels der Korporation: „so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; dies macht die Bestimmung der Korporation aus." Weil aber die Korporationen (Plural!) untereinander sich nicht selbst gliedern, muss Hegel einen Beamtenstand unterstellen, der sich als sittlich gebildet reproduziert. In beiden 20 Bestimmungen kommt Hegel auf „Sitten" zu sprechen, die als solche sich nicht aus dem Begriff ergeben haben, sondern gefordert, also „gesollt" werden müssen, oder hi-

Korporation

-

Als gesetzprüfende Vernunft, die sich der Wirklichkeit entgegenstellt. Das ist für Hegel der Anlaß in der Phänomenologie des Geistes, Anspielungen auf Kants Moralphilosophie vor dem Kapitel „Die wahre Sittlichkeit" zu bringen, mit der eine Entwicklung des Begriffs einsetzt, die von da an in der Phänomenologie des Geistes der historischen Abfolge entspricht, bis sie nach Aufklärung und Revolution wieder bei Kant und Fichte im Kapitel „Moralität" anlangt. PhdG, 237. Rph, §256, 397. Ebd., §258, 400: „Das Wissenschaftliche Erkennen kümmert sich nicht um den historischen Ursprung des Staates." Ebd., § 249, 393. Ebd., § 234, 383.

Hans-Georg Bensch

104

storisch vorausgesetzt sind. Solche „Sitten" sollen der zerstörerischen Selbstsucht, der bloßen Subjektivität einem Keim des Verderbens entgegenstehen. -

-

Zur Korporation. Der formalen Bestimmung nach ist die bürgerliche Gesellschaft durch das äußerliche Entgegengesetztsein des Besonderen (Interesse der Subjektivität) und der Allgemeinheit (der Arbeitsteilung und Bedürfnisbefriedigung) charakterisiert. Diese Bestimmungen sollen nun nicht nur negativ durch Einschränkung (also durch die Po-

sondern positiv im Arbeitswesen selbst, nämlich durch die Korporation, vermittelt werden. Werden sie vermittelt, seien sie „aufgehoben" und hätten so bestimmt ihr Bestehen. Aber wie?

lizei)

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„Das Arbeitswesen in der bürgerlichen Gesellschaft zerfällt nach der Natur seiner Besonderheit in verschiedene Zweige. Indem solches an sich Gleiche der Besonderheit als Gemeinsames in der Genossenschaft zur Existenz kommt, fasst und betätigt der auf sein Besonderes gerichtete, selbstsüchtige Zweck zugleich sich als allgemeinen, und das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, nach seiner besonderen Geschicklichkeit, Mitglied der Korporation, deren allgemeiner Zweck damit ganz konkret ist und keinen weiteren Umfang hat, als der im Gewerbe, dem eigentümlichen Geschäfte und Interesse, liegt." Mit dieser Bestimmung des Arbeitswesens hat Hegel sich etwas vorgelegt, in dem Besonderes und Allgemeines konkret seien; er übersieht aber, dass gemäß des (seines) Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft dieses „Arbeitswesen" ein sich permanent Differenzierendes und Vereinzelndes, ein unendlich sich Gliederndes ist. 22 Weil Hegel die unendliche Entfaltung der Bedürfnisse und die unendliche Diffeyi die er beide für Armut und „unmäßigen Reichrenzierung der Herstellungsweisen in die bloße Verschiedenheit der „verschiedenen tum" verantwortlich gemacht hat Arbeitszweige" umbiegt denn das „bloß Verschiedene" ist indifferent gegen den Unterschied von endlich und unendlich -, glaubt er, der Atomisierung Schranken anlegen zu können und mit den Korporationen so etwas wie „zweite gesetzt zu haben. Korporationen, die nun ihre Mitglieder gegen die Zufälligkeiten des Marktgeschehens schützen sollen und ihnen keine Almosen geben, sondern sie im widrigen Fall versorgen und ihnen so standesgemäß ehrenhaft die Subsistenz gewähren. Genau mit dieser Sicherheit geht aber die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft, die permanente Revolutionierung der Produktion verloren. Neue, unendlich viele andere Arbeitszweige, die in der bürgerlichen Gesellschaft / Marktwirtschaft auf Gefahr des Untergangs erfunden werden müssen, ohne dass sie doch erzwungen werden könnten, sind mit dieser gegliederten Gesamtheit von „konkret allgemeinen Zwecken" nicht zu haben. -

-

-

Familie[n]"24

Ebd., §251,394. Ebd., §201,354. Ebd., §235,384. Ebd., §252, 394.

105

Affirmation und Kritik

Sollten nach Hegels Vorstellung Ehre, Subsistenz und verhältnismäßiges Wohl der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft allein in der Korporation gesichert sein, bedürften die Korporationen selbst der Leitung und Planung: Denn wer legt die Anzahl und den Inhalt der verschieden Arbeitszweige fest? Wären es die Korporationen selbst, müsste sich die eine Korporation gegen die andere behaupten und wäre doch nicht für die Mitglieder der untergegangenen zuständig; also bedürfen die Korporationen selbst der Aufsicht. „Die schwierige Aufgabe der Teilung der Arbeit obliegt der Regierung". Schon die Wertung: „Die schwierige Aufgabe der Teilung der Arbeit" ist so überraschend wie verräterisch! Sie verweist auf ein Sollen. Diese schwierige Aufgabe habe ein Beamtenstand im Auftrag der Regierung zu erfüllen. Hegels ganz bürgerliche Kritik am nicht-arbeitenden, verschwenderischen Adel hat so die Kehrseite, dass das Leben / die Subsistenz allein ehrenhaft und damit frei ist in der Verbindung zum Arbeitswesen zum oberpolizeilich beaufsichtigten Arbeitswesen. Damit allerdings wäre die Subsistenz allein in dem aufs Gesellschaftliche vergrößerte Arbeitshaus gesichert. Das protestantische Moment, Leben und Freiheit der Subjektivität an das arbeitsame Leben zu binden, ist offensichtlich. Dieser Protestantismus soll nach Hegel dem losgelassenen Liberalismus Schranken setzen. So heißt es konsequenterweise mit einer Prise Rousseau: „die Gewerbefreiheit darf nicht von der Art sein, daß das allgemeine Beste in Gefahr kommt." Oder, wie es der Sozialdemokratische Altbundeskanzler Schmidt formuliert hat: „Der Raubtierkapitalismus untergräbt die patriotische Solidarität." In der Konsequenz resultierte ein „nationaler Sozialismus" oder, wem die Konnotation zu anrüchig ist, ein „Sozialismus in einem Lande", auf jeden Fall aber keine bürgerliche Gesellschaft, sondern eine „aufgehobene bürgerliche Gesellschaft" in einem (individuellen/besonderen) Staat, der nach Hegel die Wirklichkeit der Idee sei. -

28

Zur Beamtenschaft. Wenn die (oberpolizeiliche) Aufsicht über die Korporationen mittels des allgemeinen Standes, der Beamtenschaft, durchzusetzen ist, wovon lebt dann aber der allgemeine Stand? Hegels Antwort: „Vom eigenen Vermögen bzw. er wird Lebte der „allgemeine Stand" tatsächlich vom eigenem vom Staat schadlos Vermögen, müßten die Beamten ihrer Subsistenz nach 30Rentiers sein und die Freiheit der dem Merkmal der modernen „Standeswahl" (nach Fähigkeit, Geschick, Talent etc.) Gesellschaft für Hegel wäre nicht möglich. Werden dagegen die Beamten vom Staat alimentiert, so ist ihr besonderes Interesse ihrer Selbsterhaltung eines, das Gefahr läuft,

gehalten".29

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-

Ebd., §290, 459, vgl. schon §252; oder sind es doch nur die „Sitten" (vgl. §234, 383), die „das richtige Verhältnis im Ganzen" (§ 236, 384) hergestellt haben? Ebd. § 236, Zusatz, 385. H. Schmidt, in: Die Zeit, 4.12.2003. Vgl. Rph, § 270, Zusatz, 422. Ebd., §205,357. Ebd., §185, 342; §206, 358.

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vertretende allgemeine Interesse zu ihrem Mittel zu machen. Es droht Korruption. Korruption, die Hegel kennt, die er aber in eine überwundene Vergangenheit verlegt: „So hatte sich vormals die Rechtspflege [...] in ein Instrument des Gewinns und der Beherrschung verwandelt".31 Nun dagegen sei der Gefahr der Korruption des Beamtenstand dadurch begegnet: „daß [..] die Leidenschaftslosigkeit, Rechtlichkeit 32 und Milde des Benehmens Sitte werde". Beiden Bestimmungen der der Korporation und der der Beamtenschaft liegt der Begriff der Standesehre und der der sittlichen Gedankenbildung (Gesinnung) zugrunde, die Hegel in immer neuen Formulierungen doch nur dem Protestantismus oder dem Be4 griff des Protestantismus, der in die Philosophie fällt,33 entnehmen kann. das

von

ihnen

zu

-

-

2. Wenn Kant sich die Beurteilung des Geschichtsverlaufs erlaubt, ohne dabei auf wissenschaftliche Erkenntnis Anspruch zu erheben, und Hegel beim „wissenschaftlichen Beweisen" dennoch nicht ohne historisch überkommene Sitten, nicht ohne Forderungen und Sollen auskommt, was sind dann die Konsequenzen für einen Begriff der Wissenschaft und der geschichtlichen Entwicklung? Hegel scheint in den Bestimmungen zu schwanken: Einerseits ist der (protestantisehe) Staat im „germanischen Reich" (dem vierten und letzten Reich in der Weltgeschichte) der verwirklichte Geist, die vollendete und versöhnte Geschichte, und andrerder seits schreitet der Weltgeist weiter und hat im „Zustand des Krieges" Staatsindividuen untereinander seine nicht endende Bewegung. 'IC

Ebd., §297, Zusatz, 464. Ebd., §296,464. im strengen Sinne die Beamtenausbildung übernehmen? Vgl. G.W.F. Hegel, ,Rede zum Antritt des Philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin', in: Gesammelte Werke, Bd. 18, hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1995, 26. Rph. § 270, 417: „Die wesentliche Bestimmung aber über das Verhältnis von Religion und Staat ergibt sich nur, indem an ihren Begriff erinnert wird. Die Religion hat die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt, und damit fällt auch das Höchste der Gesinnung in sie. Als Anschauung, Gefühl, vorstellende Erkenntnis, die sich mit Gott, als der uneingeschränkten Grundlage und Ursache, an der alles hängt, beschäftigt, enthält sie die Forderung, dass alles auch in dieser Beziehung gefasst werde und in ihr seine Bestätigung, Rechtfertigung, Vergewisserung erlange." Ebd., §358, 511. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, Bd. 10, Frankfurt/M. 1970, § 547, 523. Oder soll die

Philosophie

Affirmation und Kritik

107

Anhand der Merkmale „korporativ" und „protestantisch" setzt Hegel immer wieder 37 französische und englische Verhältnisse einer wahrhaften sittlichen Einheit entgegen, um in den Formulierungen zur Rede der dritten Säkularfeier dann namentlich die protestantischen deutschen Länder als Erscheinung des verwirklichten Geist hochleben zu lassen. i

38

Andrerseits lässt Hegel auch keinen Zweifel daran, dass die Staatsorganismen ihre Zeit haben, dann aber untergehen. Was als Schwanken, vielleicht als Alternative, erscheint, ist durch das philosophischwissenschaftliche „Erfassen" aufgehoben. Denn der Zustand des Krieges, aus dem die 39 „vollendeten Totalitäten" nicht herauskommen, ist weniger einem illusionslosem Realismus der Person Hegels geschuldet als vielmehr die Konsequenz aus Hegels Begriff der Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit. Um der Wahrheit und um der Wissenschaft willen bekämpft Hegel jede Gestalt der Transzendenz, auf die Kant nicht verzichten konnte, und bezieht so die Endlichkeit ein, die allein als „erfasste" Endlichkeit aufgehoben ist. Für Kant ist Transzendenz notwendig zu denken, aber eben nicht zu erkennen. Die Gestalten dessen, was zu denken ist,

Rph §290, Zusatz, 460: ,Entbehrt Frankreich der Korporationen'; vgl. auch G.W.F. Hegel, ,Das Verhältnis der Religion zum Staat' nach der Vorlesung von 1831 (sekundäre Überlieferung), in: G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1, hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1983 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 3), 339. Die Vorstellung, dass die Lobeshymne auf preußische Verhältnisse allein seiner Funktion als Rektor der Universität Berlin geschuldet sei, greift zu kurz. Hegel muss zum Zwecke seines Begriffs von Philosophie als Wissenschaft beanspruchen, dass die Wirklichkeit (als Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit) vernünftig ist. Erst dann kann er als Sohn seiner Zeit, diesen Begriff von Philosophie, als Wissenschaft von der Wahrheit, als gerechtfertigt ansehen. Hegel selbst als empirischer Philosophieprofessor muss im bloßen Erfassen der vernünftigen Wirklichkeit seine Individualität als im Allgemeinen aufgegangen negiert ansehen. Werden die welthistorischen Individuen als „Geschäftsführer des Weltgeistes" bezeichnet, muss der Philosoph (Hegel) als Sekretär des Weltgeistes sich selbst zum Werkzeug des Allgemeinen bestimmt haben. Damit schlägt die Negation des Individuellen um in Eitelkeit, er allein hat das Gesetz der Geschichte erfaßt gegen alles „Geschwätz und alle Seichtigkeit", derer, die die Vernünftigkeit in verbohrtem Eigendünkel nicht einsehen wollen. (Individuelle) Zweifel brechen sich aber bei Hegel selbst Bahn, indem er bei der Bestimmung der Weltgeschichte uneindeutig bleibt. Ist mit an und für sich vernünftigen preußischen Verhältnissen, die es ihm (Hegel) überhaupt erst erlauben, die wissenschaftliche Bestimmung des Staates in seiner organischen Gliederung zu fassen, die Geschichte erfüllt, oder geht der Weltgeist über diese höchste Stufe des Selbstbewußtseins hinweg in einen Zustand, der dann nicht mehr als der „höchste" zu bezeichnen ist und ist so das letzte Wort doch nur der „Zustand des Krieges" (G.W.F. Hegel, Enzyklopädie, §547, 523) ist, aus dem die „vollendeten Totalitäten" nicht herauskommen? Rph § 330, 497:

„selbständige Totalitäten"; in der Enzyklopädie, § 545, 522, spricht Hegel von der

„autonomischen Totalität".

Hans-Georg Bensch

108

aber nicht zu erkennen, sind bei Kant (a) zunächst selbstverständlich das Ding an sich (bzw. die Dinge an sich), (b) dann genauer: Die Einheit der Natur nach empirischen Gesetzen als zweckmäßig für das menschliche Erkenntnisvermögen eingerichtet von eiund (c) zuletzt Gott als Schöpfer einer Natur, nem Verstand, der nicht der unsere ist, wie wir sie als „Ergänzung unseres Unvermögens" bedürfen. Mit diesem „nur zu Denkenden" aber „nicht zu Erkennenden" gibt Kant genau den Begriff der Wahrheit / Wissenschaft preis, um den es nach Hegel allein zu tun ist. Für die philosophische Wissenschaft ist der verwirklichte Begriff die Idee. Die in der Rechtsphilosophie und auch in der Enzyklopädie ausformulierte Idee (des Staates) hat nur in besonderen Staaten „wahrhafte Realität",4 d. i. streng aristotelisch. Und zu dieser wahrhaften Realität gehört die „Besonderung", die Endlichkeit und die Vergänglichkeit, die das Moment der Natur ausmacht. Weil Hegel um der Wahrheit willen die Natur in die Darstellung der Idee integrieren muss, und weil diese dem System integrierte Natur sich in der Vielheit der Staaten äußert und sich in der Besonderheit, in der die Freiheit der Subjektivität sich entfalten kann, äußert, muss der Krieg und selbst der Tod, die härteste Natur, im System seine sittliche Funktion haben. Den Tod, die eigene Endlichkeit, mit dem Versprechen auf ein wie auch immer geartetes Jenseits erträglich zu machen, widerspricht Hegels Begriff von philosophischer Wahrheit. In der Darstellung der Idee des Staates mit ihrer Notwendigkeit, Vernünftigkeit und Wirklichkeit muss Hegel beanspruchen, (illusionslos) allein dem Begriff der Wahrheit / der Wissenschaft verpflichtet zu sein, ohne auf eine Transzendenz verweisen zu müssen. Das ist der Grund, warum Hegel den Tod selbst integrieren und ihm eine sittliche Funktion zuschreiben muss. Schon in der „wahren Sittlichkeit" in der Phänomenologie des Geistes war der Inhalt der sittlichen Handlung die Beerdigung. Nur wenn das elementarische Tun (das Verweist das sen des Leichnams) unter die bewußte Handlung des Bestattens gestellt ist, „Natürliche" als Element des Besonderen aufgehoben in der Idee und das „Natürliche" unter Bestimmungen des Geistes gesetzt. Unter bürgerlichen Verhältnissen sei das „Natürliche" versittlicht dadurch, dass im Leben die Besonderheit (das Individuum) ih-

Urteilskraft, B XXVII. (215) [119].

I. Kant: Kritik der

161

KpV Rph. §279,445.

Ebd., §270, Zusatz, 429. Ebd., §200,354. Ebd., §279, 445: „Sonst verdient eine Wissenschaft wenigsten nicht den Namen einer philosophischen Wissenschaft."

„Die [sittliche] Handlung [...] betrifft nicht mehr den Lebenden, sondern den Toten." (PhdG, 244)

109

Affirmation und Kritik

„Naturnotwendigkeit" frönen darf, und sie (die Besonderheit) muss auch Gelegender nicht heit erhalten, sich für das Allgemeine aufzuopfern im periodischen abgeschafft werden kann (sondern allein, wie Hegel mutmaßt „menschlicher" würde, weil der Hass nicht mehr in ihm obwaltet). Insofern hat noch die Feststellung der Notwendigkeit von Kriegen ihre Funktion im Hegelschen System der Wissenschaft. Das Aufopfern fürs Allgemeine dient nicht allein der „Vereitlung des [...] Eiteln", sondern der Integration des „Natürlichen" in den Geist, denn ohne „Natürliches" (Dasein, Besonderung, Vielheit, Vergänglichkeit) keine Idee, kein verwirklichter Begriff und ohne verwirklichten Begriff keine Wahrheit, keine Wissenschaft. Diese Affirmation des Bestehenden und damit auch der erbarmungslose Vorrang des Allgemeinen ist die Konsequenz der Kritik an Vorstellungen, die durch Meinen sich polemisch zur Wirklichkeit stellen oder der Wirklichkeit ein Ideal entgegensetzen. Die Wirklichkeit kann gar nicht kritisiert werden, weil die Wirklichkeit die Einheit von Allgemeinem und Besonderen ist, wohl aber kann die Vorstellung kritisiert werden, die, weil sie nicht dem Begriff der Wirklichkeit genügt, an dieser falsch verstandenen Wirklichkeit Kritik übt. Die zum Teil scharfe Polemik Hegels gegen derartige Positionen zerreißt den Autor Hegel. Als Philosoph muss er die Widerlegung solch eitler Vorstellungen der Wirklichkeit selbst überlassen, als politischer Autor, der er auch in seinen systematischen Werken ist, kann er sich des Urteils nicht enthalten und läuft über die Einmischung selbst Gefahr, nur eine Faktion zu sein, die im Weltlauf ein Exemplar des geistigen Tierreichs ist, das vorgibt, für die Sache selbst zu kämpfen, die sich im Ergebnis aber als das Werk aller darstellt.51 Die Brüche in seiner Darstellung des wissenschaftlichen Beweises vom Staat, die anhand von Korporation und Beamtenschaft hervorgehoben wurden, nötigen dazu, das Verhältnis von Affirmation und Kritik erneut zu bestimmen. Während Kant am Begriff der Kritik und so auch dem der Menschheit52 festhält und dafür sogar bereit ist, den Begriff der wissenschaftlich-philosophischen Erkenntnis53 rer

-

Krieg,48

-

-

Die

49

50 51

52

Unterstellung,

bei Kant

gäbe

es

nicht die

Berechtigung nach eigener Glückseligkeit zu

stre-

ben, ist falsch. Vgl. KpV 32 (45) [25]. „Um sie nicht in dieses Isolieren einwurzeln und festwerden, hiedurch das Ganze auseinanderfallen und den Geist verfliegen zu lassen, hat die Regierung sie in ihrem Innern von Zeit zu Zeit durch Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtgemachte Ordnung und Recht der Selbstständigkeit dadurch zu verletzten und zu verwirren, den Individuen aber, die sich darin vertiefend vom Ganzen losreisen und dem unverletzbaren Fürsich und Sicherheit der Person zustreben, in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen geben." PhdG, 246. Rph, § 338, Zusatz, 502. G.W.F. Hegel, Enzyklopädie, § 546, 522. Vgl. PhdG, 216 ff. KrV A 850: „Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntnis des Menschen, haben einen hohen Wert als Mittel, größtenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu notwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdann nur durch Vermittlung einer Vernunft-

Hans-Georg Bensch

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preiszugeben mit der Gefahr des nicht abzuwendenden Skeptizismus -, hält Hegel am Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis fest (d. h. an der Idee als verwirklichtem Begriff) und ist dafür bereit, den Begriff der Menschheit dem der Geschichte bzw. dem des Erfassens der Geschichte zu opfern. Die moderne Wissenschaftsauffassung dagegen übernimmt von Kant den Skeptizismus und verzichtet auf den Begriff der Menschheit, und von Hegel übernimmt sie den Positivismus (als Abkehr von jeder Transzendenz) und verzichtet auf den Begriff der Wahrheit, und wähnt sich damit modern nachmetaphysisch. Anders die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Sie hat (mit Hegel) den Anspruch, die Wirklichkeit des Begriffs (des Werts, des sich verwertenden Werts, des Kapitals) darzutun. Denn Marx unterstellt die wissenschaftliche Erkennbarkeit der Produktion von Reichtum. Insofern wird der Gegenstand affirmativ unter Bestimmungen der Vernünftigkeit gestellt und das aber eben im Gegensatz zur heute akademisch etablierten Wirtschaftswissenschaft, die auf den Begriff wissenschaftlicher Erkenntnis / Wahrheit verzichtet, weil der Wahrheitsbegriff überholt sei. Sie behauptet, allein Modelle anbieten zu können, Modelle einer prinzipiell unerreichbaren „Wirklichkeit". Und Marx kann die wissenschaftliche Erkenntnis der materiellen Reproduktion nur (mit Kant) unter Voraussetzung des Begriffs der Menschheit gelingen, indem gezeigt wird, dass die spezifisch kapitalistische Produktion menschliche Freiheit instrumentalisiert zu einem Zweck, der unmöglich von den Trägern dieser Freiheit als der ihre eingesehen werden kann und so dem Begriff der Menschheit widerspricht. -

-

erkenntnis 53

bloßen ist."

aus

Metaphysik KrV A 838.

Begriffen,

die

man

mag sie benennen, wie

man

will, eigentlich nichts als

Leo Seserko (Ljubljana)

Die Nichtweitergabe von Atomwaffen in der Perspektive der Logik internationaler Beziehungen bei Kant und Hegel

In den Jahren gleich nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frage der Kontrolle über die Atomwaffen zur Kernfrage, zur Substanz der internationalen Beziehungen. Viele der Wissenschaftler von Los Alamos, die die Waffe entwickelt hatten, begannen zur .internationalen Kontrolle der Atomenergie' aufzurufen und forderten entweder eine Kontrolle durch internationale Organisationen oder die zielgerichtete Distribution der Informationen über die Waffen aller Großmächte. Bei den europäischen und US-amerikanischen Politikern fanden diese Vorschläge wenig Gehör, sie wollten ein US-amerikanisches Monopol auf Atomwaffen. Ein halbherziger Plan zur internationalen Kontrolle wurde in den neu eingerichteten Vereinten Nationen von Bernard Baruch vorgestellt, was sowohl die US-amerikanische als auch die sowjetische Seite als einen Versuch verstanden haben, die sowjetische Entwicklung aufzuhalten. Die Sowjetunion brachte mit einem Veto den Plan zu Fall und beendete damit die unmittelbaren Nachkriegsverhandlungen über Atomenergie; dadurch wurde der Weg zum Gebrauch der Atomenergie frei. Das sowjetische Programm wurde von Lawrentij Berija geleitet, der in den dreißiger Jahren an Stalins großer Säuberung beteiligt gewesen war, und er hat Geheimdienstberichte als Vorlage genommen, um die US-amerikanische Verfahrensweise möglichst genau nachzuahmen. Aber Berija traute weder seinen Wissenschaftlern noch den genauestens zusammengetragenen Geheimdienstberichten. Er hat parallel mehrere Forschungsgruppen mit derselben Aufgabe betraut, ohne sie darüber zu informieren. Wenn sie zu verschiedenen Ergebnissen gekommen waren, hat er sie zusammengeführt und sie ihre Befunde miteinander diskutieren lassen. Er benutzte die Geheimdienstberichte auch als Doppelkontrolle für den Fortschritt seiner Wissenschaftler und war dermaßen auf Nachahmung fixiert, dass er selbst eine effizientere Variante der Bombenkonstruktion ablehnte. Der international anerkannte sowjetische Atomwissenschaftler Kapitsa fühlte sich durch Berija belästigt und schrieb mehrere Briefe an Stalin und Molotov, in denen er hervorhob, dass die Geheimniskrämerei die Atomwissenschaftler in eine absurde Situation triebe: Anstatt dass sie sich über ihre Erkenntnisse mit den Kollegen im Ausland austauschten, sollten sie noch einmal entdecken, was schon anderswo entdeckt worden war. Er glaubte an den internationalen Charakter der Wissenschaft und meinte zum Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki: ,,[W]enn die Japaner nicht

Leo SeSerko

112

durch Überraschung übereilt gewesen und nicht in papiernen Häusern gelebt hätten, wären der Opfer viel weniger gewesen, da man sich gegen die meiste Strahlung schützen kann, die durch die Explosion einer Atombombe freigesetzt wird".1 Obwohl Stalin die meisten Briefe, die von Kapitsa an ihn gerichtet wurden, nicht beantwortet hat, hat er ihm doch in einem seiner zwei Briefe versichert, dass er alle seine Briefe erhalten, viel Instruktives in ihnen gefunden und darüber nachgedacht habe, ihn eines Tages zu treffen, um über diese Punkte zu diskutieren. Berija fühlte sich offensichtlich gestört durch die Absicht Stalins, Kapitsa zu treffen, was wahrscheinlich auch die eigentliche Absicht Stalins war. Berija fragte Stalin um die Erlaubnis, Kapitsa zu verhaften, aber Stalin fertigte ihn ab und sagte: „Ich werde ihn für Sie entfernen, aber berühren Sie ihn nicht."2 Berija hat daraufhin, vermutlich mit Stalins Einverständnis, eine Intrige organisiert; er ernannte eine besondere Kommission, um den Sauerstoffproduktionsprozess, den Kapitsa auf den Weg gebracht hatte, zu beurteilen. Im August 1946 unterzeichnete Stalin ein Dekret, durch das Kapitsa aus der Stellung des Direktors entlassen wurde. Kapitsa war jetzt gezwungen, seine Forschung in seiner Datscha außerhalb Moskaus durchzuführen, wo er ein kleines Laboratorium eingerichtet hatte. Er war in Missgunst gefallen, blieb aber weiterhin von Stalins Schutz abhängig. Wahrscheinlich verdankte er sein Überleben Stalins Wunsch, Berija zu zeigen, wer der Herr im Haus war. Das war eine sehr prekäre Situation für ihn und besonders schwierig für jemanden, der darauf bestanden hatte, dass die sowjetische Führung die Autorität der Wissenschaft und der Wissenschaftler respektieren sollte. Dabei hat er die Auswirkungen der Atombombe, auch nachdem sie eingesetzt und er über diese Auswirkungen informiert worden war, bagatellisiert und den Weg zur Mythologie der unschädlichen friedlichen Nutzung der Atomenergie' geebnet. Kapitsa hatte sich, wie seine oben zitierte Beurteilung des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki bezeugt, in eine Phantasiewelt eingemauert, wo Kriege und Atomwaffenangriffe allen Beteiligten und Betroffenen angekündigt werden, oder umgekehrt, wenn diese Art der Kriegsführung doch eher unwahrscheinlich ist, hat er die Auswirkungen von Atombombeneinsätzen nicht als katastrophal verstanden, sondern als manipulierbar und regulierbar. Die unangenehmen Nachrichten und Daten wurden im Denken dieser Wissenschaftler ausgeblendet und ins Unbewusste verdrängt. Diese Hypokrisie in Bezug auf Verbreitung der Atomwaffentechnologien unter dem Vorwand der friedlichen Nutzung von Atomenergie-Technologien' ist verbunden mit dem Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der UNO. Diese halten ein globales Gleichgewicht unter sich und verhalten sich paternalistisch zu den übrigen Staaten, die meistens keine Kernwaffen besitzen. Atomwaffen sind zur harten Währung der internationalen Beziehungen geworden; Staaten, die sie besitzen, gelten als unantastbar und militärisch kaum angreifbar. Es bildet sich auch eine Tendenz in

2

D.

Holloway, Stalin and the Bomb, Yale 1994,

Ebd., 144.

143.

113

DIE NICHTWEITERGABE VON ATOMWAFFEN

den internationalen Beziehungen aus, .bewaffnete Interventionen' oder militärische Angriffe nur gegen nicht atomar bewaffnete Staaten wie Irak, Afghanistan, Somalia usw. durchzuführen. Ein Tag nach dem Einsatz der Nagasaki-Atombombe ist der Erfinder des Cyclotron, Ernest Lawrence, der den Gebrauch der Bombe vorher befürwortet hatte, um die Japaner zur Kapitulation zu zwingen und so eine Invasion zu vermeiden, nach New Mexico geflogen. Dort fand er seine Kollegen von Los Alamos schlecht gelaunt, sie fühlten sich schuldig und verantwortlich. Leo Szilard, Niels Bohr und viele andere haben Briefe geschrieben und öffentlich für die Kontrolle von Atomwaffen und gegen ihre Verbreitung, aber für eine Ausbreitung der Kenntnis der betreffenden Technologien plädiert. Bohr hat sich an Churchill und Franklin Roosevelt gewandt, um sie zu warnen. „Er warnte die Staatsmänner, dass die Wissenschaft dabei war, ihnen die Kontrolle über die Mächte der Natur zu übergeben, die ihr politisches System zerstören würde".3 Der Nationalstaat, der durch die Entwicklung der Atombombe ein sicheres Mittel zur Verteidigung zu finden beabsichtigte, hat diese eben dadurch endgültig verloren. Diese Zerstörung des modernen internationalen politischen Systems und des Systems der Verteidigung, die durch die Entwicklung und Verbreitung der Atomwaffen herbeigeführt wurde, bringt die moderne Welt dem Begriff des internationalen Rechts als Naturzustand näher, von dem Hobbes, Kant und Hegel gesprochen haben. Alle drei bringen den Begriff des gesellschaftlichen Naturzustandes mit dem Krieg in Verbindung. Es stellt sich die Frage, wie in diesem Zusammenhang das Ende des Zweiten Weltkrieges, also des letzten .großen Krieges', der nicht ein Stellvertreterkrieg war, zu beurteilen ist. Um sowohl den Charakter der Periode der letzten 60 Jahre als auch den Begriff des internationalen Rechts bei Hegel zu beurteilen, ist ein Blick auf die Definition des Krieges (und des Friedens) bei Thomas Hobbes sinnvoll, wo dieser meint, dass „der Krieg nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen besteht, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. Und deshalb gehört zum Wesen des Krieges der Begriff Zeit, wie zum Wesen des Wetters. Denn wie das Wesen des schlechten Wetters nicht in ein oder zwei Regenschauern liegt, sondern in einer Neigung hierzu während mehrerer Tage, so besteht das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlicher Kampfhandlung, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden".4

Die Hobbes zugeschriebene Ansicht, dass die menschliche Gesellschaft ein Krieg aller gegen alle sei, dass also den Menschen schlechthin die Neigung zum Kämpfen und zum Krieg zukomme, lässt sich anhand seiner folgenden Worte präzisieren:

„Aber obwohl es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sich einzelne Menschen im Zustand des gegenseitigen Krieges befanden, so befinden sich doch zu allen Zeiten Könige und souveräne Machthaber auf Grund ihrer Unabhängigkeit in ständigen Eifersüchteleien und verhalten sich wie Gladiatoren: sie richten ihre Waffen gegeneinander und lassen sich nicht aus den Augen -

R. Rhodes, The Making of the Atomic Bomb, London 1988, 783. T. Hobbes, Leviathan, hg. u. eingel. von I. Fetscher, Neuwied und Berlin

1966, 98.

Leo Seserko

114

das heißt, sie haben ihre Festungen, Garnisonen und Geschütze an den Grenzen ihrer Reiche und ihre ständigen Spione bei ihren Nachbarn. Das ist eine kriegerische Haltung. Weil sie aber dadurch den Fleiß ihrer Untertanen fordern, so folgt daraus nicht dieses Elend, das die Freiheit von Einzelmenschen begleitet."5

Damit gibt Hobbes eine frühe Antwort auf die Frage, wie das Ende des vorerst letzten, des Zweiten Weltkrieges zu beurteilen sei; ob es sich um Frieden oder nur um einen Waffenstillstand, einen verdeckten Krieg handelte, der mit Spionen, Stellvertreterkriegen und weiterer Aufrüstung geführt wurde: ,Der Wille zum Kampf war genügend bekannt'. Hier wird deutlich, wie Hobbes seine Schreibstrategie über Ursachen des Rechts und des Krieges entwickelt hat. Er macht die Menschen schlechthin gar nicht verantwortlich für den Krieg. Es sind vielmehr die Herrschenden verantwortlich. Aber da auch er persönlich unter einem Herrscher geschrieben hat, hat er an dieser Stelle seine Kritik zugleich zurückgestellt und aus dem Krieg auch einen Nutzen gezogen: die Vorbereitungen auf einen Krieg machten die Menschen fleißig. Er bemerkt das Elend der Untertanen, das ihre Freiheit begleitet, aber er schreibt diese nicht ab, sondern sieht das Problem in den Leidenschaften, die die Menschen zum Übertreten der Gesetze treiben. Daraus ergeben sich aber keine Kriege, sondern nur Gesetzesübertretungen der Menschen, die Hobbes zufolge am wirksamsten durch Furcht verhindert werden. Im Hinblick auf das Verständnis des Endes des Zweiten Weltkrieges ist Kants 1. Präliminarartikel zum ewigen Frieden unter Staaten zu erwähnen: „Es soll kein Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs zu einem künftigen Kriege gemacht worden":6 In einem solchen Fall handelt es sich nur um einen bloßen Waffenstillstand, den Aufschub der Feindseligkeiten, nicht um einen Frieden, der das Ende aller Hostilitäten bedeutete. Kant konzentriert sich auf die Frage, wie „die Ursachen zum künftigen Krieg insgesamt" wegzuschaffen seien. Er beginnt schon in den einleitenden Worten mit der Ironisierung des Titels seiner eigenen Schrift Zum ewigen Frieden, indem er bemerkt, dass es sich um eine satirische Aufschrift auf dem Schilde eines holländischen Gastwirts handelt, auf dem ein Kirchhof gemalt war. Dass zwei Jahrhunderte später holländische Soldaten untätig und hilflos zugesehen haben, wie in Srebrenica der schlimmste Völkermord in Europa nach dem zweiten Weltkrieg begangen wurde, wo achttausend Männer und Jungen in geheimen Gräbern verscharrt wurden, um in einigen Fällen dann wieder ausgegraben und an noch geheimeren Stellen erneut verscharrt zu werden. Dass dieser Völkermord vor den Augen der UNO-Soldaten, unter UNO-Aufsicht geschehen konnte, wirft einen zusätzlichen Schatten auf diese Organisation und ihre Wirksamkeit. Das zusätzlich Anstößige ist der Umstand, dass holländische UNO-Soldaten vorher die Verteidiger von Srebrenica entwaffnet hatten, obwohl die meisten nur selbst gebastelte .schwere' Waffen besessen hatten; dass die UNO Srebrenica zuvor zur ,safe area', zur Sicherheitszone, erEbd., 98. I. Kant, ,Zum ewigen Frieden', in: Werke, hg. 196.

von

W.

Weischedel, Bd. 11, Frankfurt/M. 1991,

DIE NICHTWEITERGABE VON ATOMWAFFEN

115

klärt hatte, die Bewohner und Flüchtlinge aber dann während des Angriffs in keiner Weise verteidigten; dass zwei der holländischen Soldaten sogar zur Belustigung der Angreifer gezwungen wurden, sich gegen ihren Willen eine halbe Stunde lang an der Jagd nach den Flüchtenden in den Wäldern zu beteiligen. Damit haben sich die UNOSoldaten und ihre Befehlshaber durch das Irreführen der Opfer und durch Unterlassung der Hilfe in höchster Not, die sie mit verursacht hatten, möglicherweise an der Gesetzesübertretung beteiligt und sollten dementsprechend auch vor das internationale Gericht in Den Haag gestellt werden, das die Verantwortung für den Völkermord klären soll. Aber dieses Gericht hat ohnehin große Schwierigkeiten, die direkt Verantwortlichen zu verurteilen, wegen der fehlenden Bereitschaft der Großmächte, ihre Informationen über den Völkermord freizugeben. Das Faszinierende an Kants Text ist, dass er bezüglich der Frage, wem die satirische Überschrift auf dem Schilde jenes holländischen Gastwirts gelte, so wie Hobbes nicht einen Kriegs willen der Menschen überhaupt' annimmt, sondern erwägt, ob nicht Staatsoberhäupter, die des Krieges nie satt werden können, oder wohl gar nur die Philosophen gemeint sind, die jenen süßen Traum' vom ewigen Frieden träumen. Er distanziert sich damit klar von denen, die an der Wirklichkeit des Friedens und Krieges vorbeischauen und verträumt darüber sprechen. Kant verstand sich als Friedensstifter und hat sich öffentlich in dem Text dazu ausgesprochen, aus einer ganzen Reihe von Perspektiven: „Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören", weil sie unaufhörlich Bedrohung für andere Staaten darstellen; er sieht auch die Bedrohung des Friedens durch Entstehung der Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel, wo er erneut die ,Machthabenden' heraushebt als diejenigen, deren Interessen mit Leichtigkeit zum Krieg führten. Er hat sich aber keinen Illusionen über den Frieden hingegeben: Er ist gegen die stehenden Heere, die die anderen Staaten unaufhörlich bedrohen, spricht sich aber für die ,,freiwillige[.] periodisch vorgenommene[.] Übung der Staatsbürger in Waffen"7 aus, um „sich und ihr Vaterland dadurch gegen Angriffe von außen zu sichern". Er sagt also nicht, er sei gegen jede Bewaffnung oder jede Waffenübung sei gleich jeder anderen: Er spricht sich klar für eine freiwillige Landesverteidigung der Staatsbürger aus, so daß von einer illusionären Ablehnung jeglicher Kriegsführung keine Rede sein kann. Wenn es um die Verteidigung einer demokratischen Republik gegen einen tyrannisch regierten Staat geht, ist nach Kant die Führung eines Verteidigungskrieges berechtigt und vernünftig. Da er seinen Text in den Jahren 1794-96 in zwei Auflagen nacheinander geschrieben hat, können wir darin einen klaren Bezug auf die eben in dieser Zeit ihren Verlauf nehmende Französische Revolution sehen, wo er sich offen für die Berechtigung eines Verteidigungskrieges einsetzt. Aber er nimmt auch verdeckt Bezug auf die Terrorherrschaft der Jakobiner, indem er ausführt, dass Demokratie „notwendig ein Despotism [sei], weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also ,

Ebd., 198.

116

Leo SeSerko

nicht mit

einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind [meine Hervorh., L.S.], be-

schließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist".8 Kant eröffnet damit eine Diskussion über das Repräsentationsprinzip der politischen Demokratie und antizipiert damit die Fragen unserer Zeit über die Deformation der Mehrheitsinteressen, die sich heute noch sehr viel mehr stellt als zu seiner Zeit. Kant spricht über die Frage der Redefreiheit wenigstens einiger Staatsbürger, der Philosophen, in Bezug auf Kriegführung und Friedensstiftung: „Es scheint aber für die gesetzgebende Autorität eines Staats, dem man natürlicherweise die große Weisheit beilegen muß, verkleinerlich zu sein, über die Grundsätze seines Verhaltens gegen andere Staaten bei Untertanen (den Philosophen) Belehrung zu suchen; gleichwohl aber

sehr ratsam, es zu tun. Also wird der Staat die letztere stillschweigend (also, indem er ein Geheimnis daraus macht) dazu auffordern, welches soviel heißt, als: er wird sie frei und öffentlich über die allgemeine Maximen der Kriegsführung und Friedensstiftung reden lassen (denn das werden sie schon von selbst tun, wenn man es ihnen nur nicht verbietet) und die Übereinkunft der Staaten unter einander über diesen Punkt bedarf auch keiner besonderen Verabredung der Staaten unter sich in dieser Absicht, sondern liegt schon in der Verpflichtung durch

allgemeine (moralische gesetzgebende) Menschenvernunft."9

Kant bezieht Position in Bezug auf Redefreiheit in einer Frage, die heute genauso brennend ist wie zu seiner Zeit. Der Staat kann noch so viele Gründe haben, eine öffentliche Diskussion über Krieg und Frieden zu verhindern militärische, wirtschaftliche oder einfach autoritäre Gründe -; nach Kant ist dies ein Verstoß gegen die moralisch gesetzgebende Menschenvernunft, also etwas, das zweifelsfrei feststeht. Kant bemerkt auch, dass Platons Idee von Königen, die philosophieren, oder Philosophen, die Könige werden, nicht realisierbar und auch nicht wünschenswert sei, „weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt". Kant bestimmt zudem solche Feindseligkeiten, die sich kein Staat im Kriege mit einem anderen erlauben soll, weil diese das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssten. Er benennt die Anstellung von Meuchelmördern, Giftmischern, das Brechen des Waffenstillstands, die Anstiftung zum Verrat und Spionage; heute wäre die Herstellung von atomaren, biologischen oder chemischen Waffen hinzuzufügen. Kant bewegt sich im Horizont der Überlegungen von Hobbes und definiert den Naturzustand als Zustand des Krieges, der nicht nur auf die Zeit der Kriegshandlungen begrenzt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich aber eine ganz andere Auffassung davon durchgesetzt, was Krieg und was Frieden sei: Frieden wurde einfach als Abwesenheit von Kriegshandlungen verstanden, und auch das noch sehr bedingt, wenn wir nämlich von den vielen territorial begrenzten Kriegen wie dem Korea-, dem Vietnam-, den drei Irakkriegen und vielen anderen absehen. Parallel zu der Verbreitung von Atomwaffen liefen Bemühungen, diese Verbreitung zum Stillstand zu bringen, und diese Bemühungen mündeten in dem Nicht-Verbrei-

Ebd., 207. Ebd., 207.

Die Nichtweitergabe von Atomwaffen

117

der erst am 1. Juli 1968 ratifiziert wurde, nachdem schon sieben Staaten offen Atomwaffen getestet hatten. Zudem haben zwei von den anerkannten Atomwaffenstaaten den Vertrag nicht ratifiziert und ein selbsternannter Atomstaat hat seine Ratifizierung zurückgezogen. Der Vertrag wurde von Irland vorgeschlagen und von Finnland als dem ersten Staat ratifiziert. Um die Halbherzigkeit dieses Vertrages und damit des Friedenswillens darzulegen, braucht man sich nur die drei Grundpfeiler des Vertrages anzuschauen: die Nichtweitergabe von Atomwaffen, die Abrüstung und das Recht auf friedliche Nutzung nuklearer Technologien. Fünf Staaten verfügen durch den Vertrag über das Recht, Atomwaffen zu besitzen: die Vereinigten Staaten, Russland, Großbritannien, China und Frankreich. Diese Staaten waren die einzigen, die zur Zeit, als der Vertrag zur Unterzeichnung stand, im Besitz solcher Waffen waren, und gleichzeitig waren sie die Vetomächte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Der Besitz dieser Waffen wurde verstanden als Standard einer Großmacht. Die Vorbereitungen zum nächsten Krieg liefen auf Hochtouren; aus philosophischer Perspektive handelte es sich also nicht wirklich um Frieden, sondern um atomaren Waffenstillstand. Die fünf Atomwaffenstaaten haben Garantien abgegeben, dass sie die Atomwaffen nicht gegen einander oder gegen andere Staaten einsetzen würden, außer in Reaktion auf einen atomaren Angriff oder auf einen konventionellen Angriff in einem Bündnis mit einem atomaren Staat. Nur wurden diese Garantien nicht formal in den Vertrag eingebaut, und die Details wurden im Laufe der Zeit variiert. Die Vereinigten Staaten haben zum Beispiel angekündigt, dass sie möglicherweise nukleare Waffen einsetzen würden, nämlich im Falle eines nicht-konventionellen Angriffs durch Schurkenstaaten' (,rogue states'). Der frühere britische Verteidigungsminister Geoff Hoon hat ausdrücklich die Möglichkeit erwähnt, dass sein Land von Atomwaffen im Falle eines nichtkonventionellen Angriffs durch .Schurkenstaaten' Gebrauch machen würde. Und im Januar 2006 hat Jacques Chirac angekündigt, dass ein staatlich unterstützter Terroristenangriff auf Frankreich möglicherweise einen begrenzten nuklearen Gegenschlag auslösen könnte, um Machtzentren der .Schurkenstaaten' zu vernichten. Dieser verbale Gebrauch von Atomwaffen gehört auch zum Naturzustand der Beziehungen zwischen den Staaten. So ist unsere Zeit weit von einem Zustand des Friedens entfernt. Das wird in Bezug auf den zweiten Grundpfeiler des Vertrages sichtbar: Entwaffnung. Der Vertrag erwähnt zwar „allgemeine und vollständige Entwaffnung unter der strikten und effektiven internationalen Kontrolle", aber er weist auch darauf hin, dass sich jeder Staat jederzeit vom Vertrag zurückziehen dürfe, wenn er der Auffassung sei, dass „außerordentliche Ereignisse" eingetreten seien. Wenn ein Staat sich durch Drohungen oder auch nur durch etwas, das ihm als Drohung erscheint, in Gefahr versetzt meint, sind diese „außerordentlichen Ereignisse" für ihn schon eingetreten. Damit

tungs-Vertrag,

,

Der Atomwaffensperrvertrag 1968.

(Treaty

on

the

Non-proliferation of Nuclear Weapons,)

vom

1. Juli

Leo SeSerko

118

Spielraum gegeben, dass der Vertrag sich selbst aufhebt und dass die zeichnung des Vertrages nicht eine wirkliche und tatsächliche Abschaffung von ist ein

UnterAtom-

waffen bedeutete. Der dritte Grundpfeiler des Vertrages, das Recht auf friedliche Nutzung der nuklearen Technologie, unterstreicht den illusionären Charakter des Vertrages: der friedliche Gebrauch' von nuklearer Technologie wird in vielen Staaten nur als ein Vorwand verstanden, um an atomare Waffentechnologie zu gelangen. Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, dass die Drittstatten als Verbündete oder durch kommerzielle Interessen beim Verkauf von teueren Technologien an sich zu binden versuchen. Das geschah im Falle von Indien und Israel, wobei Pakistan sich bei der Konkurrenz in Russland und China bedient hat. Unter diesen Bedingungen ist es nur eine Frage der Zeit und wie Hobbes betont hat, ist die Zeit die wichtigste Dimension des Krieges wann sich die ,Schurkenstaaten' auf dem schwarzen Markt, im Internet und unter dem Schutz des dritten Pfeilers des Atomwaffensperrvertrages diese Waffen zulegen. Dazu kommt, dass die IAEA, die Atomagentur der UNO, einerseits im Namen der UNO über die Nichtweitergabe von Atomwaffentechnologien wacht und gleichzeitig die Verbreitung von nuklearen Technologien als Beitrag zu einer umweltkonformen und sozialkonformen Energie verteidigt und unterstützt. Damit ist die IAEA ein Ausdruck der Widersprüchlichkeit der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg, der latenten Krise der UNO und des bloßen Waffenstillstands in Bezug auf Atomwaffen. Zudem drückt sich darin eine globale Degradierung der Umwelt und der Menschen durch Nukleide und eine Stimmung der multilateralen Bedrohung zwischen den Staaten aus. Das hat der Vorsitzende der IAEA treffend ausgedrückt, als er berichtete, dass vierzig Staaten in der Lage seien, Atomwaffen zu bauen, wenn sie wollten. Der Abschluss von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts bietet einen erstaunlichen Hintergrund für eine Interpretation der heutigen Widersprüchlichkeit der internationalen Beziehungen im Schatten der Atomwaffen und der mit ihnen verbundenen Bedrohungen. Er hat die Weltgeschichte als Weltgericht dargestellt, wobei er betont, dass die Weltgeschichte „nicht das bloße Gericht seiner Macht, d. i. die abstrakte und vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals"11 sei, so wie sie sich heute darstellt in der Unfähigkeit der Menschheit, die Verbreitung von Atomwaffen und ihrer Schlüsselfunktion in den internationalen Beziehungen zu verhindern, sondern sie ist für ihn „die geistige Wirklichkeit", sie ist im „Geiste Wissen", „sie ist die aus dem Begriffe nur seiner Freiheit notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft und damit seidie Auslegung und Verwirklichung des nes Selbstbewußtseins und seiner Freiheit, Art und den Intellekt in den Mittelpunkt zu Geistes". Das ist Weise, Hegels allgemeinen real beispielsweise in der Aporie des Intellekts Die zentrale erscheint stellen. Stellung aber auch von den USA und von der Wissenschaftler, wenn sie von Lawrentij Berija, -

-

-

G.W.F. Hegel, Grundlinien der § 342, 504.

Philosophie des Rechts,

Frankfurt/M. 1970, in: Werke, Bd. 7,

119

Die Nichtweitergabe von Atomwaffen

anderen Groß- und Regionalmächten angetrieben und bedroht wurden, um in der Form wissenschaftlicher Arbeit Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Ein Aspekt des Intellekts ist aber auch Kants Definition der Redefreiheit, die zu den Grundmaximen des Friedens gehört, dass nämlich die Staatsbürger über die Maximen der Kriegsführung und Kriegsstiftung öffentlich nach Prinzipien der Vernunft reden können. Hegel tastet sich sehr vorsichtig an sein Thema heran, wofür der geschichtliche Kontext der preußischen Wirklichkeit um 1820 eine Erklärung bietet. Hegel spricht sich für die Freiheit des Geistes in zweierlei Perspektiven aus: Die Gedankenentwicklung ist nur unter der Bedingung der Freiheit des menschlichen Geistes möglich; die Machthaber stoßen früher oder später an diese Grenze der Manipulierbarkeit der Wissenschaftler und der Wissenschaft, so wie auch Berija an sie gestoßen ist. Hegel hat den Begriff der Freiheit des Denkens nicht bloß als einen leeren Ausdruck benutzt, er hatte auch das öffentliche und politische Agieren der Wissenschaftler im Sinn, wenn sie auch wie es kritischen Intellektuellen oft geht immer bedroht und in ihren Freiheiten eingeschränkt werden. Das kommt in § 343 zum Ausdruck, nach dem ,,[d]ie Geschichte des Geistes [...] seine Tat [ist], denn er ist nur, was er tut, und seine Tat ist, sich, und zwar hier als Geist, zum Gegenstande seines Bewußtseins zu machen, sich für sich selbst auslegend zu erfassen. Dies Erfassen ist sein Sein und Prinzip, und die Vollendung seines Erfassens ist zugleich seine Entäußerung und sein Übergang."12 Hegel betrachtet Gedankenfreiheit als eine Entäußerung der Ideen, als ein geschichtliches Phänomen, als Recht und Pflicht der Denkenden, sich zu öffentlichen Fragen öffentlich zu äußern, individuell und gesellschaftspolitisch, also innerhalb der Allgemeinheit. So sieht Hegel beides: das Individuelle Gerechtigkeit und Tugend, Umecht, Gewalt und Laster, Talente und ihre Taten, die kleinen und die großen Leidenschaften, Schuld und Unschuld, Herrlichkeit des Individuellen und des traditionellen Lebens, Selbständigkeit, Glück und Unglück der Staaten und der Einzelnen, und das Geschichtliche. Die Weltgeschichte, oder das sie bestimmende Volk, steht nach seiner Auffassung außerhalb dieser Aspekte, denn „in ihr erhält dasjenige notwendige Moment der Idee des Weltgeistes, welches gegenwärtig seine Stufe ist, sein absolutes Recht, und das darin lebende Volk und dessen Taten erhalten ihre Vollführung und Glück und Ruhm".13 Diese Formulierung wurde immer wieder als auf den preußischen Staat bezogen interpretiert und so zum Kern einer Hegelkritik, die seine angebliche Akkomodation an den preußischen Staat in den Vordergrund gestellt hat. Aber war Preußen zu seiner Zeit wirklich ein welthistorisches Reich? Oder hatte Hegel eine Zukunftsentwicklung vor Augen, deren allgemeiner Begriff in vollem Umfang umgekehrt auf die Großmächte -

-

-

-

und die atomwaffenbesitzenden Staaten

Ebd., § 343, 504. Ebd., §345,505.

unserer

Zeit zutrifft?

Leo SeSerko

120

Hegels Entwicklung der vier welthistorischen Reiche, die er als vier sublimierte, aufeinander folgende gesellschaftliche und politische Stufen der Geschichte betrachtet, drücken einerseits sein Verständnis der modernen Gesellschaft aus, geben aber auch noch auf deren aktuellem Höhepunkt einen treffenden Kontext für die Beurteilung der geistigen Stimmungsmacher in den internationalen Beziehungen ab, der atomaren Großmächte. Die vier bei Hegel geschichtlich aufeinander folgenden Reiche sind: das orientalische Reich, das griechische Reich, das römische Reich und das germanische Reich; ihre Aufreihung repräsentiert die Weltgeschichte. Wenn wir uns seine Beschreibung der vier Reiche ansehen, sind wir zugleich mit seinen Ansichten ganz aktueller Fragen des modernen Individuums, der Gesellschaft und der Politik konfrontiert. Das (geschichtlich) erste Reich, das orientalische, ist vom „patriarchalischen Naturganzen ausgehende, in sich ungetrennte, substantielle Weltanschaung, in der die weltliche Regierung Theokratie, der Herrscher auch Hoherpriester oder Gott, Staatsverfassung und Gesetzgebung zugleich Religion, so wie die religiösen und moralischen Gebote oder vielmehr Gebräuche ebenso Staats- und Rechtsgesetze sind".14 Hegel sieht eine Durchdringung der Gesellschaft, des Staates, der Moral etc. mit Religion als die geschichtlich früheste weltgeschichtliche Form des gesellschaftlichen Seins, ein Konzept, das heute, als fundamentalistisches Versprechen der Auflösung der Widersprüche der modernen Gesellschaften, wieder herumspukt und den höchsten Herrschaftsanspruch wahrzunehmen beabsichtigt. Hegel bemerkt die damit verbundenen ,,schwerfällige[n], weitläufige[n], abergläubische^] Zeremonien", mit denen die Herrschenden ihre Macht zelebrieren, verbunden mit „Zufälligkeiten persönlicher Gewalt und willkürlichen Herrschens". Als resignativen Ausweg der unterworfenen Individuen sieht Hegel die Suche nach der „innerliche^] Ruhe" im Privatleben als „Versinken in Schwäche und Ermattung". Dieses Phänomen des individuellen Sich-Abfindens mit der gesellschaftlichen Realität und des Konformismus gegenüber der gesellschaftlichen Realität ist heute noch eben so weit verbreitet wie die fundamentalistischen Herrschaftsansprüche von Religionen. Hegel distanziert sich von den fundamentalistischen Ideen eines Gottesstaates, er tritt klar für die Trennung von Staat und Religionen ein, und er kritisiert den Opportunismus im Sinne des individuellen Zurückziehens ,zur innerlichen Ruhe' ins Privatleben und des individuellen ,Versinkens in Schwäche und Ermattung'. Und er zeigt, dass diese gegensätzlichen Momente auseinander folgen und sich wechselseitig bedingen. Im griechischen Reich tritt für Hegel schon das Prinzip der persönlichen Individualität auf, wird aber gleich durch die mysteriösen Bilder der Tradition zurückgedrängt. Hier wendet er sich gegen den Ausschluss des Sklavenstandes, der noch nicht in die Freiheit aufgenommen wird und von jenem Prinzip ausgeschlossen bleibt. Das römische Reich hat in seiner Kaiserzeit formell noch immer die Wesenszüge der Prinzipien des früheren orientalischen Reiches beibehalten; der Kaiser wurde formal 14

Ebd., § 355, 509.

121

DIE NICHTWEITERGABE VON ATOMWAFFEN

auch zum Gott erklärt, aber das war schon mehr eine den Machtanspruch stützende Formalität als eine echte Theokratie. Hier kam es nach Hegels Ansicht zur „unendlichen Zereißung des sittlichen Lebens in die Extreme persönlichen privaten Selbstbewußtseins [des Individuums] und abstrakter Allgemeinheit" des Staates und der politischen Macht. Im germanischen Reich sieht Hegel das frühere theokratische Prinzip in das Prinzip der Einheit der göttlichen und menschlicher Natur übertragen, das so zur Versöhnung „als der innerhalb des Selbstbewußtseins und der Subjektivität erschienen objektiven Wahrheit und Freiheit"16 werde. Damit verbindet er unzertrennlich die aus der Religionstradition stammende Begründung des politischen Selbstbewusstseins und die individuelle Subjektivität zur tragenden gesellschaftlichen Wahrheit der Einheit subjektiver wie objektiver Freiheit. Heute müßte Hegel demzufolge für die Erwähnung der christlichen Tradition in der europäischen Verfassung stimmen, wenn es in den letzten zweihundert Jahren bei ihm keine geistige Weiterentwicklung und Abrückung von diesem Standpunkt gegeben hätte, aber er müsste ebenso auch für eine strikte Trennung von Staat und Kirche eintreten. In allen vier Weltreichen, die bei ihm welthistorisch aufeinander folgen, stellt Hegel sich gegen die „Barbarei und unrechtliche Willkür". Wenn diese einmal abgestreift sei, stünden wir nach Hegels Meinung an dem Punkt, wo „die wahrhafte Versöhnung objektiv geworden, welche den Staat zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet, worin das Selbstbewußtsein die Wirklichkeit seines substantiellen Wissens und Wollens in organischer Entwicklung, wie in der Religion das Gefühl und die Vorstellung dieser seiner Wahrheit als idealer Wesenheit, in der Wissenschaft aber die freie begriffene Erkenntnis dieser Wahrheit als einer und derselben in ihren sich ergänzenden Manifestationen, dem Staate, der Natur und der ideellen Welt, findet".17 Hier findet sich kaum ein Bezug auf den preußischen Staat, außer in der Überschrift, wenn er ihn auch gemeint haben mag. Dafür aber finden wir hier die Antizipation einer topologischen Beschreibung der Motive und der Stellung der Großmächte des späten zwanzigsten Jahrhunderts und ihrer Atomwissenschaftsprogramme, die zu ergänzenden Manifestationen ihrer Staatlichkeit wurden. Durch die Atomwaffentechnologien ist ein völlig neues Gleichgewicht der internationalen Beziehungen entstanden; es gibt Staaten ersten und des zweiten Ranges, und Kriege sind nur noch als Stellvertreterkriege möglich, denn ein atomarer Krieg ist unmöglich, ohne den nuklearen Winter mit dem Aussterben der Menschheit und der höheren Lebensformen auf der Erde herbeizuführen. Aber trotzdem war in der Entwicklung zu diesem Höhepunkt, der durch den Eintritt weiterer Staaten in den Kreis der Atommächte immer instabiler wird, eine

Verhinderung 15 16 17

der weiteren

Ebd., §357,511. Ebd,. §358, 511. Ebd., §360,512.

Ausbreitung

von

Atomwaffen

unmöglich.

Die Atomwaffen-

122

Leo SeSerko

Wissenschaften bekamen einen Ausnahme- und schaft schlechthin erhoben.

„Sogar

wenn

die Atomwaffen internationale

Prestigestatus

Gewaltausübung

und wurden

zur

Wissen-

reduzieren durch die Limitie-

rung der nationalen Souveränität, bedrohen und beschützen sie auch gleichzeitig diese Souveränität. Die Technologie hat sich durch einen Prozess der politischen Homöostase fortgepflanzt: Die Vereinigten Staaten haben sich in einen Wettkampf geworfen, um, wie sie meinten, die Nazis zu besiegen; die Sowjetunion hat sich in ein Wettkampf geworfen, um die Vereinigten Staaten einzuholen; Britannien und Frankreich, abgeneigt, den USA Glauben zu schenken, diese würden sich für sie aufopfern, um sie zu retten, entwickelten unabhängig die minimale Abschreckung gegen die Sowjetunion; China, um Gleichgewicht mit den USA und der UdSSR zu schaffen; Indien, um ein Gleichgewicht mit China zu schaffen; Pakistan, um ein Gleichgewicht mit Indien zu schaffen."18 es hier mit einer internationalen Atomwaffenausbreitung zu tun, die als eine Geschichtsnotwendigkeit im Hegelschen Sinne zu verstehen und die nicht zu verhindern ist, obwohl allgemein eine Nichtweiterverbreitung gewünscht und beschworen wird. Es ist eine ,organische' Entwicklung, die jeden weiteren Atomwaffenstaat zur

Wir haben

Großmacht werden lässt und die den nuklearen Winter näher kommen lässt.

18

R. Rhodes, Dark Sun, The Making

of the Hydrogen Bomb, New York 1995, 587 f.

Andrzej Przylebski (Poznan)

Kant, Hegel und der Irakkrieg

Es ist zweifelsohne berechtigt, die Philosophie Hegels und die des deutschen Idealismus insgesamt als Folge und Fortsetzung der Transzendentalphilosophie Kants anzusehen und auszulegen. Denn ohne die von Kant stammenden Inspirationen, aber auch Irritationen, hätte es den deutschen Idealismus höchstwahrscheinlich nicht gegeben. Nicht minder berechtigt scheint mir aber die Meinung zu sein, dass die kritische Philosophie Kants und die Hegelsche Philosophie des absoluten Geistes zwei recht unterschiedliche Denkparadigmen verkörpern. Mehr noch mir ist diese Ansicht irgendwie überzeugender als die erstere. Das wiederum würde heißen, dass die Philosophien beider Klassiker nicht eine Entwicklungslinie bilden, sondern eine echte Alternative sind. Dies wird übrigens auch von denjenigen bestätigt, die meinen, jede Generation müsse zwischen Kant und Hegel wählen. Diese Alternative gilt meiner Ansicht nach in erster Linie für die Seins- und Erkenntnisauffassung bei Kant und Hegel; darüber hinaus aber auch für die politischen und sozialen Philosophien der beiden, zu der ebenfalls ihre Geschichtsphilosophien gehören. In dem vorliegenden Text möchte ich die in beiden Konzeptionen enthaltene Einstellung zum Phänomen des Krieges analysieren, und zwar in dem gegenwärtig sehr aktuellen Kontext der Frage um die mögliche Rechtfertigung des amerikanischen Angriffs auf den Irak. Anders ausgedrückt: angesichts der allgemeinen Verwirrung bezüglich des Irakkriegs möchte ich wissen, wie und mit welcher Begründung die beiden von mir so hoch geschätzten Klassiker der neuzeitlichen Philosophie darauf reagieren würden und wie man wiederum auf ihre Antworten reagieren kann. -

1.

Reihenfolge seiner Kritiken plädiert Kant bekanntlich für den Vorrang praktischen Vernunft vor der theoretischen. Der Grund dafür liegt darin, dass

der der Mensch nicht in der Erkenntnis, sondern erst im freiwilligen, durch den freien vernünftigen Willen geleiteten und dadurch echt menschlichen Handeln seine volle Autonomie gewinnt und zeigt. Den Unterschied markiert er durch die Unterscheidung zwischen der Kausalität unter den Naturerscheinungen und der Kausalität aus Freiheit, die den Menschen gewissermaßen über die Natur hinaushebt. Zugleich spiegelt sich darin

Trotz der

-

-

124

Andrzej Przylebski

aber die Bedeutung der im Hintergrund mitspielenden anthropologischen Ansichten Kants wider. Der Mensch ist für ihn kein gefallener Engel, kein purer Geist, gefangen in der Materie seines Körpers, sondern ein vernunftbegabtes Tier, das dank diese Begabung seine tierische Natur transzendieren kann und tatsächlich transzendiert, indem er um sich herum eine zweite Natur erschafft, nämlich seine geistige, kulturelle Welt. Diese zweite Natur ist eine Quelle (ein Vorrat, könnte man sagen) solcher Handlungsmotivationen, die nicht vom tierischen Impuls, von der physiologischen Reaktion auf einen Impuls herkommen, denn sie beinhalten das Element der Abwägung, der Überlegung, der Besinnung. Lassen wir die Entscheidung darüber beiseite, ob dieser Moment durch den „menschlichen Aufenthalt im Nichts" (wie es Heidegger gesehen hat) oder durch die Wirkung einer symbolischen Struktur (wie es der Kantianer Cassirer auffasste) zu erklären wäre. Wichtig ist, was dieser Besinnungsmoment möglich macht: er ermöglicht es, eine individuelle Handlungsmaxime mit dem moralisch Richtigen, mit dem allgemein akzeptierbaren Handlungsprinzip zu vereinbaren. Die beiden Elemente: das anthropologische, d. h. die Verwurzelung des Menschen im Königreich der Natur, und das transzendentale, d. h. seine partielle Überschreitung diedurch Freiheit -, sind in der ses Königreiches durch den Besitz der Vernunft eo ipso Kantschen Rechtsphilosophie leicht zu sehen, vor allem in seiner Vision des internationalen Rechts, das in Deutschland seit jeher das Völkerrecht genannt wird. Ebenso klar sind sie übrigens auch in Kants Historiosophie oder besser gesagt: im Ansatz einer Historiosophie zu sehen; diesen Aspekt muss ich aber hier leider übergehen.1 In seinen philosophischen Überlegungen zur Sittlichkeit und Moralität fragt Kant nicht danach, was ist, d. h. welche moralischen Normen in einer modernen Gesellschaft tatsächlich gelebt werden, sondern danach, nach welchen ethischen Normen diese Gesellschaft leben sollte. Seine Moraltheorie hat dabei die Ambition, Grundlage der Politik zu werden, was besonders stark von Marek J. Siemek betont wird. „Diese Ethik" schreibt der Warschauer Philosoph in einem Aufsatz zu Kants Schrift über den ewigen Frieden „ist ursprünglich und wesentlich eine Politik".2 Diese Extrapolation der Ethik auf die Politik sieht man tatsächlich besonders klar im Kantschem Text Zum ewigen Frieden, der wie es die erste französische und die erste polnische Übersetzung zum Ausdruck brachten ein „philosophischer Entwurf" ist, d. h. eine Errungenschaft der spekulativen Vernunft, die nicht durch das Empirische, sondern durch das Vernünftige geleitet wird. Deshalb ist die Kantsche Schrift keine pure Publizistik eines Philosophen, die sich auf die damalige Politik bezieht, sondern ein wesentlicher Teil seiner praktischen, politischen Philosophie. „Ethik ist nicht anderes als die transzendentale Logik der Freiheit: sie ist ein Kanon der allgemein geltenden Regeln des sinnvollen, vernünf-

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Vgl.

z.B. Kants

Abhandlung ,Idee zu einer allgemeiner Geschichte

in

weltbürgerlicher Absicht'

(1783). M.J. Siemek, .Projekt „wiecznego pokoju" a Kantowski etos nowoczesnej wolnosci politycznej', in: Proiekt wieczystego pokoju: w 200-lecie wydania pracy Kanta [I. Kant, Zum Ewigen Frieden], red. naukowa Jan Garewicz, Barbara Markiewicz, Warszawa 1995, 109.

125

Kant, Hegel und der Irakkrieg -3

Handelns". Diese transzendentale Logik der Freiheit muss aber zugleich eine zwischenmenschliche Dialogik der Freiheit beinhalten. Einen ähnlichen Entwurfscharakter besitzt das Kantische Gesellschaftsideal, nämlich das Reich der Zwecke, das auf der Kausalität aus Freiheit beruht. Die Staatsform ist eine intersubjektive Gemeinschaft der menschlichen Individuen, in der sich die Kantische Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines potentiell allgemeingültigen Willens verwirklichen kann. Dem gemäß geht die Hochachtung für das Recht aus dem Respekt für sich selbst als einer moralisch gesinnten und moralisch handelnden Person hervor. Die Bedingungen für die Verwirklichung solch eines auf dem moralischen Recht gegründeten Reichs der Zwecke schafft für Kant erst die republikanische Verfassung. Eben für diese Staatsverfassung soll die Schrift Zum ewigen Frieden ihre Geltung beanspruchen, denn einer ihre Grundsätze besagt, dass ein dauerhafter Frieden nur zwischen den Staaten möglich sei, die die Freiheit und die Autonomie der Individuen respektieren und auf die Verantwortung des Einzelnen für „seine Gesellschaft und seinen Staat Rücksicht nehmen, also: in einer „Die philosophische Konstruktion der Grundsätze so einer Verfassung", schreibt Siemek in diesem Kontext, „als transzendental im eigentlichen Sinne braucht keine ,Ideale' oder ,Werte' vorauszusetzen, die ihren Sitz außerhalb des Raums des öffentlichen Diskurses hätten". Den Imperativ des Friedens betrachtet Kant als Vernunftimperativ. Der Königsberger Philosoph analysiert die bisherigen Erfahrungen mit dem Phänomen des Krieges wobei er auch manche, aus heutiger Sicht höchst fragwürdige positive Seiten des Krieges sieht (z.B. die Heraushebung des Volkes aus dem Zustand der Faulheit, die Bewegung in Richtung auf Hilfs- und Opferbereitschaft sowie das Erwecken der patriotischen Gefühle) und kommt zum Entschluss, dass die negativen Folgen des Krieges über die potentiell positiven ein deutliches Übergewicht haben. Es gibt für ihn aber Wichtigeres als die Abwägung der Folgen, nämlich das Übereinstimmen mit der Moralgesetzlichkeit. Deshalb stellt er auf einer der Seiten seiner „Metaphysik der Sitte" eindeutig fest:

tigen

Republik.4

-

-

„Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderrufliches Veto aus: Es soll Krieg sein; weder der, welcher zwischen mir und dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten, die obzwar innerlich im gesetzlichen, doch äußerlich (in Verhältnis gegen einander) im gesetzlosen Zustande sind; denn das ist nicht die Art, wie jedermann sein Recht

kein

suchen soll".

-

den wesentlichsten Bedingungen der vernunftgeleiteten Entwicklung der Menschheit. Deshalb überlegte er sich die Konditionen für seine permanente Existenz. Die erblickt er bekanntlich in der Entstehung eines freien Völkerbundes, der jedoch zu keinem globalem Völkerstaat werden sollte. Das Problem des

Der Frieden

gehört

für Kant

zu

Ebd., 112. Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, ebd., 12. Siemek, .Projekt „wiecznego pokoju" a Kantowski etos nowoczesnej wolnosci politycznej', 120. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 6, Berlin 1907, 354.

Andrzej Przylebski

126

Krieges und des Friedens allgemeiner: des internationalen Rechts ist hier insofern wichtig, als Kant behauptet, dass man in einem einzigen Land keine dauerhafte, freiheitliche und von verschiedenen Unzulänglichkeiten verschonte Verfassung bilden kann. Dazu ist seiner Meinung nach die Etablierung einer rechtlichen Beziehung zwischen den Staaten notwenig. Hegel ist in diesem Punkt, wie es scheint, ganz anderer Meinung. Er nimmt zum Beispiel die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft eines einzelnen Staates als möglich an, ohne sie durch die effektive Geltung des internationalen Rechts bedingen zu wollen. Indem er sich auf die Idee des Weltgeistes stützt, der sich in der Geschichte verwirklicht, schreibt er der Dynamik bzw. der Entwicklung der Geschichte eine ganz andere Bedeutung als Kant zu. Damit geht bei Hegel auch eine andere Bedeutung des Krieges einher; er erblickt im Krieg weniger die Quelle des Lei-

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dens, der Not und der Armut als vielmehr einen Motor des Fortschritts, sowohl im Bereich des Staatsrechts als auch in dem der Wissenschaft und Technik. Der Krieg avanciert für ihn zu den Hauptfaktoren der Entwicklung des Freiheitsbewusstseins und der Verbesserung der auf ihm basierenden politischen Systeme.

2. Philosophie Hegels gilt heutzutage oft als Gipfel des spekulativen Denkens, d. h. eisolchen, das sich um das Empirische kaum kümmert; sie gilt als absoluter und deshalb verwerflicher Idealismus, der mit der von uns allen erfahrenen sozialen Wirklich-

Die nes

keit des menschlichen Lebens kaum etwas zu tun hat. In diesem Kontext kann es verblüffend klingen, wenn einer sagt, dass in Bezug auf die politische Philosophie eben Kant, und nicht Hegel, ein (unbelehrbarer?) Idealist ist, Hegel dagegen ein politischer und sozialtheoretischer Realist. Das will aber keineswegs bedeuten, dass Hegel ein politischer Machiavellist oder ein preußischer Nationalist war. Man kann ihm sogar den Vorwurf machen, dass er die politische Bedeutung, die der Nationalismus nach seinem Tod errungen hat, gar nicht vorausgesehen hat. Hegel war auch kein bloßer Theoretiker und Ideologe des preußischen Staates oder allgemeiner gesprochen eines auf der Idee der Macht basierenden Staates überhaupt. Seine Staatstheorie betrifft einen modernen Staat, d. h. einen Rechtstaat, der zugleich eine möglichst vollkommene Verkörperung einer gewissen sittlichen Ordnung ist. Dennoch achtet Hegel besonders auf die Realitätsnähe seiner Überlegungen zum Politischen. Bezeugt wird dies unter anderem durch seine Kritik des Gesellschaftsvertrages (in der Rolle als Quelle des Staates) ebenso wie in seiner Kritik der Lehre über den Naturzustand als dem vermeintlichen Ausgangspunkt des Konstruierens der staatlichen Verfassung einer Gesellschaft. Die Kantsche Lehre einer unüberbrückbaren Kluft zwi-

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Vgl. M.J. Siemek, .Hegel jako filozof nowoczesnego panstwa praworzadnego', in: Filozofia polityczna Hegla, Poznan 2007, 16 ff.

A.

Przylebski,

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Kant, Hegel und der Irakkrieg

sehen dem Sein und dem Sollen pariert Hegel mit der starken These über die Vernünftigkeit der Wirklichkeit, womit er noch einmal die stark realistische Tendenz seiner Sozialphilosophie unter Beweis stellt. Diese Tendenz ist ebenfalls in seiner Auffassung der internationalen Beziehungen präsent. Er hütet sich davor, in der Philosophie in eine Träumerei, in wishful thinking, zu verfallen, und dadurch der manchmal brutalen Wirklichkeit zu entgehen. Den Ausgangspunkt seiner generellen Einstellung kann man ohne weiteres hermeneutisch nennen, denn er ist zutiefst überzeugt, dass Wirklichkeit rationelle (sinn-volle) Züge enthält, die ihr einen Halt und die Struktur verleihen, die es in der philosophischen Forschung zu entziffern gilt. Er bezweifelt und verwirft die Grundannahme des Transzendentalismus, dass erst das Subjekt (egal ob ein transzendentales oder ein faktisch lebendes, empirisches) der von ihm erkannten Wirklichkeit den sinnvollen, rationalen Charakter verleiht. Sie ist nach Hegel schon vernünftig, bevor die Erkenntnisakte eines Subjekts eintreten. Sie ist an sich vernünftig. Diese Vernünftigkeit ist manchmal auch mit bloßem Auge zu sehen hier knüpft Hegel an die Lehre des Aristoteles an, d. h. an seine Auffassung der in der Polis existierenden Sittlichkeit und Moralität. Dies bedeutet aber nicht, dass Hegel bereit wäre, alles, was uns in der Faktizität begegnet, unkritisch und kritikunfähig als völlig rationell zu betrachten. Michael Walzer hat drei Wege der möglichen Rechtfertigung der Moral und der Politik unterschieden:8 der erste ist der Weg der Entdeckung, der zweite der Weg der Erfindung, der dritte der Weg der Interpretation. Moses, als klassischer Vertreter des ersten Weges, geht auf den Berg hinauf und kommt runter mit einer neuen Gebotstafel wieder herunter. Ein Erfinder, wie zum Beispiel Rawls (oder auch Habermas), denkt sich eine gewisse Ursprungssituation, eine Ur-Situation, aus, um durch die Analyse dieser Situation einen gesellschaftlichen Mechanismus zu konstruieren, in diesem Fall den Mechanismus des sozialen Gerechtigkeit. Der Interpret dagegen bleibt in dem Vorhandenen, im Vorgegebenen, in diesem Fall: in seiner Gesellschaft, der er einen Spiegel vor Augen stellt, damit sie sich in ihm ansehen kann. Das hießt: er kritisiert die Gesellschaft auf Grund ihrer eigenen Maßstäbe und Ideale. Dadurch entsteht aber eine sehr wirksame, sehr effektive Form der Kritik dieser Gesellschaft, die man sowohl als eine immanente als auch als eine hermeneutische bezeichnen darf. Als Anhänger solch eines Typus der Kritik kann eben Hegel gelten. Die Theorien des Gesellschaftsvertrages kritisiert er wegen ihres allzu „erfinderischen Charakters", und zwar nicht nur deshalb, weil sie sich auf geschichtliche Fiktionen stützen. Genauso wichtig ist für Hegel, dass sie grundlegende Aspekte des menschlichen Gemeinschaftslebens außer Acht lassen. Sie eignen sich zur Beschreibung der Märkte und der Verbände, aber nicht für eine genügend tiefe, d. h. nichtreduktionisti-

sche Auffassung der Gesellschaften, die geschichtlich gewachsen sind und durch gemeinsame Vorstellungen dessen, was ein „gutes Leben" ist, vereinigt werden. „Gutes

M. Walzer, 9 ff.

,Drei Wege in der Moralphilosophie', in: ders., Kritik und Gemeinsinn, Berlin 1990,

128

Andrzej Przylebski

und gerechtes Leben" müßte man hier wohl ergänzen, damit nicht der falsche Eindruck eines Hedonismus entsteht. Die Theorie des Gesellschaftsvertrages umfasst all das nicht, was über die gemeinsamen, auf der Gegenseitigkeit basierenden Interessen hinausgeht, zum Beispiel Ehe und Familie, die mehr als nur ein Vertrag sind. Und auch Staaten sind nach Hegel mehr als nur ein Vertrag. Die Theorie des Naturzustandes unterliegt bei Hegel einer wichtigen Transformation. Gegen Hobbes behauptet er, dass der Krieg aller gegen alle, in dem die Angst vor dem eigenem Tod zu einem friedensstiftenden Gesellschaftsvertrag führt, eine Fiktion ist. Diesem scheinbar fundamentalen Bedürfnis der Angsteliminierung setzt er ein anderes menschliches Bedürfnis entgegen, das er im Rahmen der Dialektik des Herren und des Knechtes zum Ausdruck bringt. Es ist das Bedürfnis nach Anerkennung, das wiederum einen Drang nach Freiheit und Gleichheit der Individuen impliziert. Im Kampf geht es also nicht um Ruhe und Sicherheit um jeden Preis, sondern um die gegenseitige Anerkennung als gleiche, freie und autonome Personen. Er gilt nicht nur für die menschlichen Individuen, sondern auch für die Staaten als ganzheitliche Entitäten. Sich selbst gewinnen kann nur derjenige, der in diesem Kampf bereit ist, sich von der alles paralysierenden Angst vor dem Tod und der Vernichtung zu befreien, d. h. über diese Angst Herr zu werden. Der freie Wille, der hier im Spiel ist, bildet für Hegel das substantielle Prinzip des Staates. Damit wird die Gewalt, die den Naturzustand charakterisiert, im Laufe der Geschichte transformiert. Die Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hegels Hauptwerk im Bereich der Rechts- und Sozialphilosophie, skizzieren die geschichtlich errungene Lage dieser Transformation des Naturzustands im Recht, in der Moral, in der Familie, in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat. Dabei muss bei Hegel diese Umgestaltung der Natur in Freiheit mit zwei Begrenzungen rechnen. Die eine bildet die bürgerliche Gesellschaft, die zweite das Verhältnis zwischen zwei unabhängigen Staaten. Beides sind für Hegel Grenzen des Versöhnungsdenkens, denn der Naturzustand kehrt in ihnen gewissermaßen zurück. Deshalb verspricht Hegel keine volle Befreiung von der Gewalt, obwohl sie in der bürgerlichen Gesellschaft kraft des Rechtes aufs Minimum reduziert wird. Man wirft Hegel manchmal vor, dass seine Theorie der bürgerlichen Gesellschaft zweideutig ist. Einerseits ist er bereit, die Emanzipation, die mit der Entstehung dieser Form der Vergesellschaftung eintritt, anzuerkennen, mitsamt der Tatsache, dass zur modernen Freiheitsauffassung und Freiheitsausführung die Möglichkeit gehört, ein Privatbürger (Bourgois) zu sein. Die individuellen Neigungen und Bedürfnisse dürfen ausgelebt werden, auch wenn dies nur eine Willkürfreiheit bedeuten würde. Auch die universalistische Dimension des Denkens Hegels beruht auf der Rolle der bürgerlichen Gesellschaft und nicht wie bei Kant und den ihm Gleichgesinnten auf dem Völkerbund oder gar Völkerweltstaat. Hegel entdeckte in der bürgerlichen Gesellschaft den Ansatz zur wirtschaftlichen Weltgesellschaft, eine Gesellschaft unterwegs zur Globali-

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Kant, Hegel und der Irakkrieg

durch die Sucht der Erwerbs und des Gewinns. Dadurch, dass nicht der Handel, sondern auch die Produktion grenzüberschreitend wird, wird das Recht zu etwas Universellen, zum Recht für den Menschen als Menschen und nicht, weil einer einer religiösen oder ethnischen Gruppe angehört. Hegel sieht die Globalisierungstendenzen, die der bürgerlichen Gesellschaft immanent sind, erblickt aber darin keineswegs eine Lösung der Probleme, die das Leben dieser Gesellschaft befallen. Keines dieser Probleme beispielsweise der wachsenden Gegensatz der Armut und des Reichtums oder die Entstehung des Pöbels kann im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft gelöst werden. Für die Ethisierung dieser Gesellschaft d. h. ihre Durchdringung durch die ethische Dimension, die der Familie einerseits und dem Staat andrerseits eigen ist ist die Intervention des Staates unausweichlich. Hegels ethische Theorie ist dabei in dem Sinne realistisch, dass sie den Staat nicht auf die moralischen Einstellungen seiner Bürger, sondern auf vernünftige Institutionen gründet. Deshalb lässt sich Hegel für keine Seite der Opposition: Evolution versus Revolution, als Befürworter gewinnen. Er warnt sowohl vor der Rückkehr zu einer verklärten Vergangenheit als auch vor der utopischen Flucht in die Zukunft, die alle Wunden heilen soll.

sierung, geleitet nur

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3. Hegels realistische Weltauffassung beinhaltet aber auch Elemente, die bis heute eine Herausforderung geblieben sind. Es geht dabei gar nicht um seine vermeintliche restaurative Einstellung oder einen gewissen Kult des preußischen Staates, sondern um seine Auffassung der Staatenwelt, die in den Grundlinien der Philosophie des Rechts in eine Auffassung der Weltgeschichte übergeht. Die Verortung des äußeren Staatsrechts ist in diesem Buch fraglich, wenn Hegel das Verfallen der Staaten in den Naturzustand der Gewalt und des Krieges beschreibt und als Realist zuläßt. Sollten die einzelnen Staaten wirklich unabhängig sein, dann dulden sie keine rechtliche Globalisierung, die mit der des internationalen Handels (d. h. der wirtschaftlichen Beziehungen) vergleichbar wäre. Geduldet werden lediglich die zwischenstaatliche Verträge und Pflege der Sitten, die die prekäre Lage mildern. „Es gibt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch

zufälligerweise, d. i. nach besonderen Willen. Die Kantische Vorstellung eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund, welcher jeden Streit schlichtete und als eine von jedem einzelnen Staate anerkannte Macht jede Misshelligkeit beilegte und damit die Entscheidung durch Krieg unmöglich machte, setzt die Einstimmung der Staaten voraus, welche auf nur

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/M. 1970, § 247. Ebd., § 209, Anmerkung.

Andrzej Przylebski

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moralischen, religiösen oder welchen Gründen und Rücksichten, überhaupt immer auf besonderen souveränen Willen beruhte und dadurch mit Zufälligkeit behaftet bliebe," 12

11 schreibt Hegel eindeutig. Wie Henning Ottmann richtig feststellt, ist und bleibt für Hegel die Welt der Staaten im Bereich des Partikularen. Die universalistische Dimension erschöpft sich im Bereich der bürgerlichen Weltgesellschaft. Die Stelle des Kantschen ius cosmopoliticus wird bei Hegel bekanntlich von der Weltgeschichte übernommen, die er als ein großes „Weltgericht" betrachtet. Der Glaube an die Vernünftigkeit des Prozesses der Weltgeschichte erleichtert es Hegel, bei seinem politischen Realismus zu bleiben, trotz der scheinbaren Unvernunft und Gewalttätigkeit, die in dem von ihm selbst erfahrenen Ausschnitt der Geschichte zu sehen waren. Er meidet jedes normative Denken in den Kategorien des Sollens, des Postulierens, denn es geht in der Geschichte nicht darum, was die Subjekte wollen und beabsichtigen: der Fortschritt geschieht sozusagen hinter den Rücken der agierenden Menschen. Geschichte kann für die Einzelmenschen wie eine Schlachtbank aussehen und trotzdem eine Entwicklung der Freiheit beinhalten. Daher sind die ruhigen Epochen der Glückseligkeit oft die leeren Blätter im Buch der Geschichte. Übrigens ist sich auch Kant seiner normativistischen Ohnmacht bewusst, indem er sagt, dass zwar die vernünftigen Bürger die Geschichte nach einem vernünftigen Plan gestalten sollten, tatsächlich sei aber die Geschichte durch die „ungeselligen Geselligkeit", durch Ambitionen, Gier und Dominanzwillen der Individuen und der Nationen gemacht. Beide, Hegel und Kant, erleichtern sich ihre denkerische Aufgabe, indem sie einen gewissen Glauben bei Hegel die List der Vernunft, bei Kant ein „natürlicher Zweck an die Vorsehung der Geschichte" annehmen, die das machen wird, wozu die vernünftigen Subjekte außerstande sind. Dürfen wir, die Heutigen, diesem Glauben folgen? -

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4. Die Grundlage ihres Argumentierens bildet sowohl für Kant wie auch für Hegel eine Theorie der Souveränität der Staaten. Deshalb weisen beide die mögliche Einmischung 13 eines Staates in die Angelegenheiten eines anderen Staates entschieden zurück. Die Hoffnung für den Frieden in der Welt verbindet Kant mit der Durchsetzung der republikanischen Verfassung als der gültigen Staatsverfassung und mit der Entstehung des Völkerbundes. Der Weg zu diesen beiden Zielen scheint heute nicht viele kürzer zu sein als zu Lebzeiten Kants. Deshalb ist Hegel ein (manchmal) brutaler Realist und verEbd., § 333, Zusatz. H. Ottmann, ,Realizm polityczny Hegla', in: A. Przylebski: Filozofia polityczna Hegla, Poznan 2007, 46. Vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, 8 („Kein Staat soll sich in die Verfasung und Regierung eines andern Staats gewaltthätig einmischen" 1. Abschnitt V). -

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Kant, Hegel und der Irakkrieg

solchen Frieden, solange Staaten völlig souverän sind. Die Idee der Souveränität lässt sich mit der internationalen Jurisprudenz im Bereich des Politischen kaum vereinbaren. Eine menschliche Person, die ein Verbrechen begangen hat, kann sich von der richterlichen Macht seiner Gesellschaft nicht verabschieden. Ein Staat, dem die Anforderungen seiner frei abgeschlossenen Verträge nicht mehr passen, kann diese Verträge einfach zunichte machen. Die Strafe, die er dafür zu bezahlen hätte z. B. der Verlust des Vertrauens gehört in eine andere, nicht mehr rein juristische Kategorie. Die vermeintlichen Gegenbeweise, dass dies jüngst im Fall von Kriegsverbrechern aus Serbien oder Nazi-Deutschland anders gewesen sei, kann man zurückweisen, wenn man sich überlegt, ob es im Falle eines Kriegsverbrechers aus den USA, China, Iran oder auch Israel ähnlich gewesen wäre. So sehen wir sofort, wie viel hier mit Druck und Gewalt und wie wenig mit Recht und Vernunft erreicht wurde. Denjenigen, die meinen, dass der Kantischen Weltrepublik mit der Gründung der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) ein Anfang gegeben wurde, wäre zu sagen, dass dieser Organisation nicht nur Republiken angehören, sondern auch schreckliche Diktaturen, die darin gleiche Rechte genießen. Deshalb muss man mit Hegel sagen, es gab den Krieg und es wird ihn weiterhin geben. Das neueste Beispiel, der amerikanische Angriff auf den Irak, ist ein guter Beweis dieser These. Trotzdem gibt es gewisse Unterschiede zu der Zeit, in der Kant und Hegel darüber debattierten. Der wirtschaftliche Zusammenhang zwischen den Ländern macht Kriege oft (aber eben nicht immer) zu einem Unternehmen, das sich nicht lohnt, das keinen Gewinn bringt. Und solche wirtschaftliche Rationalität, als Abwägung der Gewinne und Verluste, gehört ohne weiteres zu den Faktoren, die das Ausbrechen eines Krieges aufhalten, es aber nicht unmöglich machen. Vor kurzen hat der chinesische Botschafter in England in einem Interview mit der BBC auf die deutliche Frage, ob China die finanziellen Konsequenzen -z.B. durch Handelboykott eines eventuellen Angriffs auf Taiwan zwecks Vereinigung dieser Insel mit dem Mutterland nicht fürchte, eine ebenso deutliche, kräftige und eindeutige Antwort gegeben: „Wenn der Westen denkt, dass wir wegen so etwas wie verlorenem Geld das Streben nach der Einheit Chinas aufgeben, dann irrt der Westen

spricht uns keinen

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gewaltig". 5. Man darf jedoch nicht übersehen, dass sich seit der Zeit Kants und Hegels einiges getan hat. Die Charta der Vereinigten Nationen verpflichtet zum Beispiel die Staaten, ihre Konflikte auf friedlichen Wege zu lösen, was gewissermaßen auf die von Kant gewünschte Verdammung des Krieges hinausläuft. Auch das Verbot der Einmischung eines Fremdstaates in die inneren Angelegenheiten eines Landes wird durch die Hervorhebung der Menschenrechte immer mehr in Zweifel gestellt. Der Krieg wird dadurch zwar nicht verschwinden, da die UNO nicht über die Kräfte verfügt, einen angegriffe-

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Andrzej Przylebski

Staat erfolgreich zu verteidigen. Die Friedenkräfte der UNO, die zur Zeit in Afghanistan oder in Somalia stationiert sind, sind aber vielleicht der erste Schritt in die richtige Richtung. Nichtsdestoweniger wird dies in absehbarer Zeit nur eine Lösung für die militärisch Schwächeren sein. Die Supermächte wie China, die USA oder Russland werden von diesen Maßnahmen gar nicht ernsthaft bedroht, denn die Charta der UNO hebt den Grundsatz der Souveränität nicht auf. Sie setzt ihn ausdrücklich voraus. Und sie ist wie bereits erwähnt kein Völkerbund im Sinne Kants, d. h. eine Föderation der Republiken. Ähnliche Bedenken gelten der Europäischen Union, die einen merkwürdigen Verbund darstellt, mit unklaren Möglichkeiten, Kompetenzen und schlechter Demokratieausübung. Die Zukunft wird zeigen, ob dieses „rechtlich-staatliche Monstrum" sich in die Richtung des Kantischen Völkerbunds oder in die einer innerlich kompliziert verfaßten Supermacht entwickeln wird, um global player zu werden. Ohne ein streng bestimmtes Territorium (das mit jeder EU-Erweitung wechselt), ohne eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, ohne gesamteuropäische Parteien, ohne europäische Armee und europäische Polizei ist die Verwirklichung dieses zweiten, mehr ambitionierten Ziels, kaum vorstellbar. Aber auch ein echter Völkerbund, als Vereinigung der Republiken des ganzen geographischen Europa, wäre ein Riesenerfolg, obwohl auch dieses keine Garantie wäre, dass es in Europa, geschweige dann in der ganzen Welt, keine Kriege mehr geben kann und geben wird. Denn auch die Kantische Vermutung, dass Republiken und Demokratien die Kriege nicht so schell wie die Monarchen ausbrechen lassen, hat sich nicht hundertprozentig bestätigt. Deshalb müsste die These, dass Demokratien keine Kriege führen auf eine andere These reduziert werden, dass nämlich Demokratien keine Kriege gegen einander führen. Aber auch die Wahrheit dieser These ist nur zum Preis der Manipulationen an der Definition des Krieges oder/und der der Demokratie vertretbar. Andrerseits kann uns der Hegeische Realismus heutzutage gar nicht zufrieden stellen. Hegel konnte ja über die Entwicklung der Kriegsführung, über die wachsende Brutalität des „modernen" Kriegsverlaufs, die sich immer mehr gegen die Zivilbevölkerung richtet, nichts wissen. Zu seiner Zeit galt noch das klassische Völkerrecht, nach dem Kriege offiziell erklärt und auf den Schlachtfeldern geführt wurden, und zwar durch einigermaßen disziplinierte Armeen, die die Zivilbevölkerung in Frieden ließen. Der erste Weltkrieg war der letzte Krieg, in dem mehr Soldaten als Zivilisten ums Leben kamen. Die Situation hat sich also grundsätzlich verändert. Deshalb muss sich auch unsere Einstellung zum Krieg ändern. Wir dürfen darin nicht mehr einen Mittel zur Beschleunigung der Entwicklung von Technologien und Institutionen sehen oder das Erwachen der Tugenden, mit den Tugenden des Patriotismus und der Opferbereitschaft an der Spitze. Wir müssen, auf dem Boden des Hegelschen Realismus verbleibend, nach möglichen Lösungen suchen, die den Krieg zunächst faktisch und dann rechtlich, wenn nen

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Vgl. H. Ottmann, ,Realizm polityczny Hegla', 40ff.

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Kant, Hegel und der Irakkrieg

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nicht unmöglich, dann wenigstens schwer vorstellbar machen. Der Weg dahin führt, wie es scheint, durch eine vorsichtige Beschränkung der Souveränität aller Staaten dieser Welt. Sie ist auf der Ebene der globalisierten Wirtschaft schon längst eine Tatsache. Sie auf die Ebene des Politischen zu übertragen, bedarf einer echten Anstrengung und Zusammenarbeit Vieler. Unmöglich ist es aber nicht, und die erfolgreichen Zivilprozesse, die verschiedene Unternehmen gegen Staaten als wirtschaftliche Partner führen, zeigen, dass einiges möglich ist. Ob uns dies tatsächlich ein Verbot und Verschwinden des Krieges bringen kann, ist schwer vorauszusagen. Jedenfalls hörte der Krieg in der zivilisierten Menschheit endgültig auf, die Rolle eines akzeptablen Mittels zu einem guten Endzweck zu spielen. Dies kann der Anfang eines Prozesses sein, das zur Umgestaltung der Bedeutung des internationalen Rechts führen wird. Hennig Ottmann hat unlängst gesagt, dass jede Generation erneut zwischen Kant und Hegel wählen muss. Seine These untermauert den Ausgangspunkt meiner Ausführungen, in denen ich andeutete, dass es in der Frage des Friedens einen wesentlichen Unterschied zwischen Kant und Hegel gibt. Meines Erachtens bedeutet dies aber nicht, dass man immer, d. h. auch im Bereich des Politischen, zwischen Kant und Hegel wählen muss. Die USA haben, indem sie dem Irak, einem souveränen, international anerkannten Staat, den Krieg erklärten, den Realismus der politischen Philosophie Hegels erneut unter Beweis gestellt. Denn es gibt wirklich keinen Prätor, keinen exekutiv effektiven Richter, der über den Staaten stünde und sie für ihre Taten mit einer aus der puren Rechtsautorität stammenden Soveränität verurteilen könnte. Die wachsende Empörung jedoch, mit der man auf diese Tatsache vor allem in Europa reagierte, zeigte sehr deutlich, wie tief das Denken Kants auf unserem Kontinent verankert ist. Das ist ein Denken des Möglichen, des Anständigen und Erwünschten, das sich dessen bewusst ist, wie schwer es ist, nach Auschwitz die These über die Vernunft in der Geschichte zu vertreten. Deshalb ist, wie es scheint, das normative Denken Kants (aber auch eines Rawls oder eines Habermas) nicht eine Alternative, sondern ein nötige und willkommene Ergänzung zu der realistischen und zugleich rationalisierenden Weltbeschreibung im Stile Hegels. Schließlich würde auch Hegel der Konsequenz zustimmen müssen, dass erst das Weltgericht der Geschichte darüber entscheiden wird, ob der Irakkrieg der Anfang eines Demokratisierungsprozesses der staatlichen Welt oder der Beginn einer Katastrophe gewesen ist. Der handelnde, in die Wirklichkeit eingreifende Mensch wird sich immer nicht nur darauf richten müssen, was ist, sondern vor allem auch darauf, was sein soll. Deshalb wird er sich immer nicht nur durch den politischen Realismus Hegels, sondern auch durch den Idealismus Kants inspirieren und bewegen lassen.

15

Ebd.

Jure Zovko (Zagreb /Zadar)

„Der Republikanismus ist notwendig demokratisch."

Bemerkungen zu Schlegels Kant-Kritik

Kant hat sich bekanntlich in den Prolegomena tadelnd über Philosophiehistoriker geäußert, die nach seiner Ansicht nicht imstande sind, „aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen". Ungeachtet dessen hat er sein Interesse an den Errungenschaften der Klassiker der politischen Philosophie stets bekundet und bei der Explikation der dritten Grundfrage der Philosophie „Was darf ich hoffen?" immer wieder auf Einsichten seiner Vorgänger zurückgegriffen, diese allerdings im Sinne einer Kritik der historischen Vernunft scharfsinnig analysiert und im Blick auf die Möglichkeiten des Fortschritts in der menschlichen Geschichte und der Verwirklichung des moralisch Gesollten kritisch überprüft. Zu solchen unumgänglichen Topoi der traditionellen Aufklärungsphilosophie gehören freilich die anspruchsvollen Metaphern des Naturzustands 9 (stauts naturalis) und des „ursprünglichen Vertrags" (contractus originarius), auf die Kant in seinen politischen Schriften oft rekurriert, namentlich bei der Explikation der Frage, inwiefern ein Fortschritt des menschlichen Geschlechts hinsichtlich des Zusammenlebens der Menschen in äußerer Freiheit und der gegenseitigen Anerkennung der Menschenrechte möglich sei. Die explanative Funktion des metaphorischen Übergangs aus dem fingierten Naturzustand der Rechtlosigkeit und der unbegrenzten, aber wilden Freiheit zu einer staatlichen Rechtsordnung, in welcher sich die Bürger durch einen Gesellschaftsvertrag in ihrer Freiheit gegenseitig einschränken, sollte nachweisen, daß diese Einschränkung der Freiheit dem Interesse aller Bürger der Gesellschaft dient, damit sie als gleiche und freie Personen ihre Freiheit und Gleichheit in der Gesellschaft -

1

2

3

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I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 4, Berlin 1903, 255. Im Hinblick auf die Explikationsschwierigkeiten vom Naturzustand schriebt Otfried Hoffe: „Weder in der Aufklärungsphilosophie noch in der gegenwärtigen Diskussion ist klar, worauf es im legitimationstheoretischen Argument des Naturzustands genau ankommt". O. Hoffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt/M. 1994,

294. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, Berlin 1907, 79. Hoffe hat treffend festgestellt, daß „nicht erst Hegels, sondern schon Kants Geschichtsphilosophie [...] eine Fortschrittsgeschichte der Freiheit" ist; O. Hoffe, Immanuel Kant, München 1993, 244. -

4

Thomas Hobbes charakterisiert den „bellum omnium contra omnes".

primären

Naturzustand im 13.

Kapitel

des Leviathans als

JureZovko

136

konkretisieren können. Kant hebt in seinen politischen Schriften immer wieder hervor, daß der Übergang aus der Gewaltdynamik des Naturzustands in eine Rechtsordnung keineswegs aufgrund der praktischen Klugheit, sondern durch eine „bürgerliche Verfassung geschieht, denn durch diese wird die Abweichung von den vereinbarten Normen in foro externo sanktioniert. Im Zuge der Ausarbeitung eines politischen Projekts der Moderne spricht Kant von einem Recht der Ordnung, das dem „ursprünglichen Vertrag entspricht: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zustimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist".6 Die im „Gesellschaftsvertrag" implizierte Reduktion der schrankenlosen Freiheit sollte man mitnichten als ein in irgendwelcher Vergangenheit vollzogenes Geschehnis betrachten, sondern eher als das zuverlässige Kriterium für die Beurteilung der faktischen Situation in einer Gesellschaft oder, wie es Kant selbst in der Schrift Über den Gemeinspruch formuliert hat, als „Vernunftprincip der Beurtheilung aller öffentlichen rechtlichen Verfassung überhaupt". Mit Hilfe einer so konzipierten kontraktualistischen Idee, welche transzendentale Bedeutung hat, läßt sich jede Form der rechtlichen Bevorzugung oder Diskriminierung nach Geschlecht, Rasse und Glauben kritisieren. Die im Gesellschaftsvertrag eingegangen normativen Verpflichtungen erweisen sich in ihrer universellen Geltung als intrinsische Werte, die um ihrer selbst willen zu beachten sind. In der Metaphysik der Sitten behauptet Kant, daß Freiheit, sofern sie gegenseitige Koexistenz unter Personen ermöglicht, als das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende Recht" verstanden wird.8 Das kontraktualistische Paradigma richtet sich primär an individuellen Interessen, artikuliert dennoch gleichsam eine moralische Normativität der universalen und gleichen Achtung, was vor allem im Falle der Menschen- und Bürgerrechte plausibel ist. Die zentrale Rolle des Vertragsarguments besteht darin, daß durch ihn eine Übereinkunft im Sinne der bürgerlichen Freiheit, Gleichheit und Anerkennung der Menschenwürde angestrebt wird. Es handelt sich, wie Kant in seinem Aufsatz Über den Gemeinspruch erläutert, um eine Vernunftidee, die „ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Unterthan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes". Eine staatliche Rechtsordnung, die auf dem Prinzip der Verallgemeinerung bzw. dem der universalen Konsensfähigkeit beruht, ist durch einen allgemeinen Willen des "

7 8 9

Vgl. Kants Argumentation am Anfang der Schrift ,Zum ewigen Frieden', in: Werke. AkademieAusgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 349. Kant, ,Über den Gemeinspruch', in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 289 f. Ebd., 302. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 6, Berhn 1907, 237. Ebd., 297.

„Der Republikanismus ist notwendig demokratisch"

137

Volkes im Sinne von Rousseaus volonté générale gesetzt. So gefaßt, fungiert er als „ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt". Kant ist sich durchaus darüber klar, daß eine gute und universalisierbare Staatverfassung nicht dazu beitragen kann, daß Menschen moralisch gut werden, aber sie vermag wenigstens „erzwingen", daß aus ihnen „gute Bürger" werden." Der primäre Zweck guter Staatverfassung ist, ein rechtmäßiges Verhalten der Bürger zu erreichen, um „den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen" in einem Staat so zu richten, „daß sie sich unter Zwangsgesetze zu und so den Friedenszustand, welchem Gesetze Kraft begeben einander selbst nöthigen 12 haben, herbeiführen müssen". Kant hat sich in seinen Schriften zur politischen Philosophie ausdrücklich und uneingeschränkt für die republikanische Verfassung ausgesprochen, weil sie allein auf den moralisch objektiv geltenden Prinzipien beruht, die als Gesetze des Staates Autonomie und individuelle Freiheit sichern und zugleich die Willkür des Einzelnen derart einschränken, daß die Menschen durch friedliche Koexistenz und gegenseitige Anerkennung eine conditio humana hervorbringen, in welcher allgemeingültige Normen sowie universelle Werte etabliert und die Abweichung von den geltenden Normen sanktioniert werden. Kants scharfsinnige Einsicht, daß Menschen nur als Vernunftwesen frei sein können, indem sie nach verallgemeinerbaren Maximen handeln, hat man oft mit den Errungenschaften der Französischen Revolution in Zusammenhang gebracht, an die Kant selbst große Erwartungen hinsichtlich der Verwirklichung des reinen Vernunftrechts hatte, obwohl er gleichfalls auf die Gefahr des revolutionären Mißbrauchs durch die Berufung auf den empirisch vollzogenen vereinigten Volkswillen verwiesen hat. Die durch die Revolution anerkannte und proklamierte prinzipielle Freiheit und Gleichheit jedes Einzelnen ist nach Kants Urteil aus dem allgemeinen Vernunftgesetz abgeleitet worden. Kants Behauptung im ersten „Definitivartikel" seiner Schrift Zum ewigen Frieden, daß 13 die bürgerliche Verfassung in jedem Staate republikanisch sein soll, haben seine Zeitgenossen als öffentliches Bekenntnis more philosophico zu den zentralen Ideen der Französischen Revolution verstanden.14 Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Schrift Zum ewigen Frieden bringt Schlegel in seiner ausführlichen Rezension seine Begeisterung über die Grundintention der I. Kant, .Streit der Facultäten', in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 7, Berlin 1907, 91. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 366. Ebd. Ebd., 349. Dazu vgl. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, hg. von O. Hoffe (Klassiker Auslegen), Berlin 1995, 23 ff. Schlegels Besprechung der Kantischen Schrift Zum ewigen Frieden erschien 1976 im 3. Band der von J.F. Reichardt herausgegebenen Zeitschrift Deutschland. Ursprünglich sollte der Aufsatz zusammen mit der Condorçet-Rezension in F.I. Niethammers Zeitschrift Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten veröffentlicht werden (vgl. F. Schlegel, Werke. Kritische Ausgabe, hg. von E. Behler u.a., Paderborn u.a. 1958ff, Sigle: KFSA, Bd.23, 258). Die Ma-

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Kantischen politischen Philosophie folgenderweise zum Ausdruck: „Der Geist, den die Kantische Schrift zum ewigen Frieden atmet, muß jedem Freunde der Gerechtigkeit wohltun, und doch die späteste Nachwelt wird auch in diesem Denkmale die erhabene Gesinnung des ehrwürdigen Weisen bewundern". Beachtenswert ist Schlegels Einsicht, daß im Hintergrund der Kantischen Argumentation über das Verhältnis beider Grundnormen, nämlich Freiheit und Gleichheit, die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. nach dem gemeinschaftlichen Leben in den staatlichen Institutionen stehe. In diesem Zusammenhang werden alle nicht-republikanischen Formen der Regierung als genuine Kants Grundthesen über die Struktur der Mißachtung der Gerechtigkeit staatlichen Ordnung sind im ersten Definitivartikel der Schrift formuliert:

gedeutet.17

„Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein. Die erstlich nach Principien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Unterthanen), und drittens die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, und auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet seyn muß ist die republikanische."

-

-

Schlegel widersetzt sich dieser Ansicht mit aller Entschiedenheit und behauptet, daß in Kants Beweisführung bei der Deduktion des Republikanismus das Prinzip der rechtlichen Abhängigkeit aller Menschen „als Unterthanen" völlig unangebracht sei: es sei nämlich „kein Merkmal des spezifischen Charakters der republikanischen Verfassung".1 Abhängigkeit der Untertanen von einer gemeinsamen Gesetzgebung gibt es auch in Unrechtsstaaten, und der primäre Zweck der demokratisch konzipierten Gesetzgebung ist es, zu ermöglichen, daß aus Untertanen Bürger werden. Das zweite Prinzip wird infolgedessen gestrichen, es bleiben lediglich die Bedingungen der individuellen Freiheit und der Gleichheit Aller. Damit aber die Idee der Freiheit und Gleichheit nicht bloß abstrakte Begriffe bleiben, bemüht sich Schlegel, diese beiden „aus der höhern welcher das positive Merkmal des Republikanismus abgeleipraktischen Position, von 20 tet ist", zu deduzieren. Schlegel kritisiert an Kants Argumentation, daß in ihr ein eindeutiger Zirkel der wechselseitigen Voraussetzung verborgen sei: die republikanische Verfassung, in wel-

nuskripte

beider Rezensionen wurden von Schlegel mit einem Brief bereits am 29. November 1795 an Niethammer geschickt. Schlegel war durch Niethammers Hinzufügung einer Anmerkung in seine Condorçet-Rezension ebenso verärgert wie durch die wiederholten Aufforderungen, den Kant-Aufsatz zu überarbeiten (vgl. KFSA 23, 292; 295), und entschloß sich bereits im Sommer 1796, seine Abhandlung in Reichardts Deutschland zu veröffentlichen. Vgl. Schlegels Brief an Reichardt vom 11. Juli 1796, KFSA 23, 320. KFSA 6, 11. Vgl. ebd., 16, 20. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 349. Vgl. KFSA 6, 11.

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eher alle Bürger frei und gleich sind, werde aus der Idee des contractus originarius deduziert, und die Idee des ursprünglichen Vertrags gründe wiederum auf dem Prinzip der Freiheit und Gleichheit aller Bürger. Der Zirkel läßt sich freilich im Kontext der Thematisierung des interindividuellen Zusammenlebens innerhalb der staatlichen Institutionen im Hinblick auf die Frage nach der Gerechtigkeit lösen. Kant vertritt nämlich, wie heute gesagt wird, einen „prozeduralistischen Gerechtigkeitsbegriff, der die Gerechtigkeit eines Gesetzes über das Verfahren seiner Entstehung bestimmt; Gesetze sind dann gerecht, wenn sich in ihrem Entstehungsverfahren das Einigungsverfahren des Vertrags reflektiert, wenn sie das einmütige Ergebnis einer Entscheidung sind, an der alle Betrof21 fenen gleichberechtigt beteiligt sind". Hiermit erreicht man die Quintessenz der kontraktualistischen Argumentation, in welcher sich die Verfassungsprinzipen der Freiheit und Gleichheit, das Konzept des Gesellschaftsvertrags und die Idee des vereinigten Volkswillens gegenseitig explizieren und wechselseitig stützen. Aufgrund der Behauptung, daß die republikanische Verfassung aus dem contractus originarius hervorgeht, ergibt sich notwendigerweise der Anspruch auf Gleichberechtigung aller Bürger vor den Gesetzen, wobei ipso facto jede Form der Diskriminierung und Privilegierung abgewiesen wird. Rechtliche Ungleichheit, so Kant, würde „der allgemeine Volkswille in einem ursprünglichen Vertrage (der doch das Princip aller Rechte ist) nie beschlie22 ßen". Otfried Hoffe meint, daß man die Vertragstheorie als ein nach dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit stattfindendes „Sichmiteinandervertragen" deuten könne: der „Gesellschaftsvertrag in legitimatorischer Absicht besteht zwar in einem Tausch; sein Gegenstand sind aber nicht die Waren, Dienstleistungen, oder Kapitalien, sondern Freiheitsverzichte. Und diese Verzichte sind kein willkürlicher Gegenstand, sondern 23 Bedingungen der Möglichkeit einer Freiheitskoexistenz". Vor dem Vertrag hat man keine Verpflichtungen gegenüber den Anderen, durch den Vertrag erfolgt eine freie Selbstverpflichtung unter Gleichen, die nach dem Modell der Tauschgerechtigkeit als ein wechselseitiges Geben und Nehmen stattfindet. Die im Freiheitsverzicht sich artikulierenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit verpflichten jeden Bürger auf kooperative Zusammenarbeit, damit eine gerechtigkeits- und menschenrechtsverpflichtete Rechtsordnung im Staat etabliert wird. Der Tauschvertrag betrifft ferner die gegenseitigen Verpflichtungen zwischen den einzelnen Personen sowie dem staatlichen Gemeinwesen; er setzt damit die Legitimation der Staatsordnung voraus und ermöglicht es gleichzeitig, daß aus Personen gute Bürger werden.

W. Kersting, ,Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein', in: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, 88-108, hier 93. Vgl. auch I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt/M. 1992. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 351. O. Hoffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt/M. 1994,449.

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John Rawls hat mit seiner Schrift A Theory of Justice (1971) der Vertragstheorie neue Impulse gegeben und nachzuweisen versucht, daß sich die Vertragsparteien vom unparteilichen Stanpunkt aus, den er metaphorisch als „Schleier des Nichtwissens" (veil of ignorance) bezeichnet, rational für Gerechtigkeitsgrundsätze zur Gestaltung ihrer politischen Institution entscheiden würden. Mit der Einführung des Schleiers des Nichtwissens hat Rawls die Kantische Position vom Standpunkt der Gerechtigkeit her zu vertiefen versucht, weil nach seiner Ansicht die Stabilität einer politischen Ordnung vom Maßstab der realisierten Gerechtigkeit abhängt. Die Überzeugungskraft der durch den Schleier des Nichtwissens erreichten original position bestehe darin, daß sich Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft innerhalb derselben für die Fairneß der Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden würden; dies ereignet sich „nicht aufgrund ihrer tatsächlichen Interessenlagen, sondern nur hinsichtlich ihrer fiktiven, in denen sie sich de facto nicht befinden, in die sie sich aber als kompetente und rationale Moralbeurteiler hinein4 versetzen können." Schlegel hat gleichsam als „ein rückwärts gekehrter die Tragweite dieses Gedankens vorhergesehen, indem er behauptete, daß Kants liberale Ideen aus der Schrift Zum ewigen Frieden in naher und ferner Zukunft „jedem Freunde der Gerechtigkeit" als unerschöpflicher Quell und Denkanstoß zur weiteren Denkinspiration dienen werden. Im Unterschied zu Kant meint Schlegel, daß man die praktische Notwendigkeit der politischen Freiheit und Gleichheit vom Standpunkt der „praktischen Grundwissenschaft" beachten und in der facettenreichen Vielfalt des gemeinschaftlichen Zusammenlebens analysieren sollte. Weil der Mensch ein nach Grundsätzen handelndes Wesen ist, bleibt es die primäre Aufgabe der „praktischen Wissenschaft" gemäß dem von Schlegel postulierten „praktischen Imperativ", das interindividuelle, praktische Leben und die damit zusammenhängenden Rechtsverhältnisse zu thematisieren.26 Schlegel versucht, die Grundthesen seiner im Anschluß an die traditionelle Philosophia practica konzipierten praktischen Wissenschaft folgendermaßen explizit zu machen:

Prophet"25

-

-

„Durch das theoretische Datum, daß dem Menschen, außer den Vermögen, daß das rein isolierte Individuum als solches besitzt, auch noch im Verhältnis zu andern Individuen seiner Gattung, das Vermögen der Mitteilung (der Tätigkeit aller übrigen Vermögen) zukomme; daß die menschliche Individuen durchgängig im Verhältnis des gegenseitigen natürlichen Einflusses wirklich stehen, oder doch stehen können, erhält der reine praktische Imperativ eine neue -

J. Nida-Rümelin, Demokratie und Wahrheit, München 2006, 103. KFSA 2, 176, Nr. 80. Vgl. A. Arndt, .Prophet und Engel der Geschichte. Historische Dialektik bei Schlegel und Benjamin', in: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, hg. von J. Rohbeck und H. Nagl-Docekal, Darmstadt 2003, 75-88. Manfred Frank behauptet in seinem lesenswerten Aufsatz über Schlegels Konzept des Republikanismus und der Demokratie, daß Kant so gut wie nichts „zur Aufklärung der intersubjektiven Verhältnisse" beigetragen hat, Schlegel dagegen habe hier „Pionierarbeit geleistet". M. Frank, .Versuch über den Republikanismus' in: Ethik Orientierungswissen? hg. von J.H.J. Schneider, Würzburg 2000, 95-111, hier 101. -

-

„Der Republikanismus ist notwendig demokratisch'

spezifische Modifikation,

welche das Fundament und

141

Objekt

einer

neuen

Wissenschaft

wird."

In Anschluß an Fichte entfaltet Schlegel aus dem praktischen Imperativ („das Ich soll sein") einen neuen Grundsatz („Gemeinschaft der Menschheit soll sein, oder das Ich soll mitgeteilt werden", welcher als „das Fundament und Objekt der Politik" fungieren 28 soll. Aufgrund der intersubjektiven Kommunikation ergeben sich nach Schlegels Ansicht innerhalb des menschlichen Zusammenlebens im politischen Gemeinwesen viele ethisch-politische Fragen, die in der Regel im Rahmen des Gesellschaftsvertrags und des mit ihm unmittelbar zusammenhängenden bürgerlichen Rechtszustands (status civi29 lis) intensiv diskutiert werden. Schlegel weiß, daß viele aufklärungsbedürftige Fragen aus der Anwendung der juridischen Normen und Gesetzen hervorgehen, wie beispielsweise das komplexe Problem der Subsumtion des jeweiligen Einzelfalles unter die für ihn zuständige Rechtsnorm bzw. der Applikation der allgemeinen Normen in strittigen oder zweifelhaften Fällen, wozu man eine dauernde Kultivierung der Bürger und ihrer Urteilsfähigkeit anstreben müsse: „Die Gleichheit und Freiheit erfordert, daß der allgemeine Wille der Grund aller besonderen politischen Tätigkeit sei (nicht bloß der Gesetze, sondern auch der anwendenden Urteile und der Vollziehung.) Dies ist eben der 30 Charakter des Republikanismus". Hieraus zieht Schlegel die konsequente Schlußfolgerung, daß eine Republik nur demokratisch sein kann und die Entscheidungen des Souveräns aus einem Allgemeinwillen zu rechtfertigen sind. Aufgrund der Tatsache, daß der Allgemeinwille nicht in der politischen Praxis der empirischen Welt vorkommen kann, sondern „nur in der Welt der reinen Gedanken existiert", entscheidet sich Schlegel für die pragmatische Lösung,31 wonach der Wille der Mehrheit „als Surrogat des allgemeinen Willens gelten" solle. Mit anderen Worten: in der empirischen Welt müssen wir mit empirischen Mehrheiten auskommen. Nur aufgrund der Respektierung der bestehenden Mehrheit ist eine Herrschaft von freien Menschen über die anderen freien Menschen zu rechtfertigen. Die Idee des „heiligen" Allgemeinwillens hat dabei die Funktion des Korrektivs für jeden empirisch vollzogenen Mehrheitswillen. Die „unendliche Kluft" zwischen beiden Bereichen kann allein durch unendliche Annäherung überwunden werden. Schlegel kennzeichnet seinen notwendigen Lösungsversuch als 32 eine „politische Fiktion" bzw. die „höchste fictio juris", die ihre rechtliche Fundierung KFSA 7,14 f. Ebd., 15. Dazu heißt es bei Kant: „Dieser Zustand der Einzelnen im Volke im Verhältnis untereinander heißt der bürgerliche (status civilis) und das Ganze derselben in Beziehung auf seine eigene Glieder der Staat (civitas), welcher seiner Form wegen, als verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustande zu sein, das gemeinsame Wesen (res publica latius sic dicta) genannt wird." {Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 6, Berlin 1907, 311) KFSA 7, 15. Ebd., 16 f.

Ebd., 17.

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ausdrücklich in dem „Gesetz der Gleichheit" findet, denn Gleichheit und Freiheit sind Ausgangsbasis dafür, daß der Allgemeinwille als Grund und Orientierungsideal für politische Entscheidungen in den demokratisch regierten Staaten fungieren soll. ,JJeilig ist", hebt dementsprechend Schlegel hervor, „was nur unendlich verletzt werden kann, wie die Freiheit und Gleichheit: der allgemeine Wille. Wie Kant also den Begriff der Volksmajestät ungereimt finden kann, begreife ich nicht. Die Volksmehrheit, als das einzige gültige Surrogat des33 allgemeinen Willens, ist in dieser Funktion des politisch Fingenten ebenfalls heilig". Jede Regierung bleibt mithin die real existierende „Kraft der Volksmehrheit", bzw. „der Inbegriff aller transitorischen Kraftäußerungen der poli4 tischen Macht." Konsequent gedacht, bleibt die reine Rechtsgesellschaft in Schlegels Augen eine direkte Demokratie, und die Frage ist nun, wie die demokratische Verfassung durch demokratische Herrschaftsform realisiert wird. Kant, der unter Republik einen repräsentativen Staat verstand, warnt davor, daß man „die republikanische Verfassung [...] mit der demokratischen verwechsele" und kennzeichnet paradoxerweise die demokratische Staatsform im eigentlichen Sinne des Wortes, als einen „Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist." 6 Dagegen spricht sich Schlegel für die Volkssouveränität aus und behauptet, daß Republiken „notwendig demokratisch" sein müssen. Er bestreitet die von Kant vertretene Möglichkeit, daß ein Staat in höherem Maße republikanisch durch eine Monarchie als durch die repräsentative Demokratie regiert werden kann. „Mit dieser Auffassung geriet 38 Schlegel damals in den Ruf eines Radikalen." Vom ewigen Frieden ließe sich nach Schlegels Urteil allein im Kontext eines demokratischen Internationalismus reden, wenn sich alle „kultivierte Nationen" als isonome und autonome Staaten föderalistisch vereinigten. In diesem Zusammenhang analysiert er ausführlich auch die dem Republikanismus entgegengesetzten Regierungsformen, namentlich den Despotismus, in welchem der „Privatwille" der Grund politischer Tätigkeit bleibt, indem er „den Schein des allgemeinen Willens usurpiert, und wenigstens für einige ihm interessante Zivil- und Kriminalfälle die Gerechtigkeit toleriert".39 Diese despotische Arroganz, in welcher der Privatwille als der allgemeine Wille selbst inthroje

Ebd.,21. Ebd., 17. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 351. Ebd., 352f. Zu dieser Bestimmung der Demokratie macht Schlegel eine kritisch-korrigierende

Bemerkung: „Im übrigen -

angemessen

zu

scheint der von Kant sein. Die Ochlokratie ist der

(KFSA 7, 19) KFSA 7, 17. K. Peter, Friedrich KFSA 7, 15 f.

Schlegel, Stuttgart 1978, 27.

gegebene Begriff der Demokratie der Ochlokratie Despotismus der Mehrheit über die Minorität."

„Der Republikanismus ist notwendig demokratisch"

143

nisiert wird, stellt nach

Schlegels Urteil ein „Maximum der Ungerechtigkeit" dar. Die praktischen Philosophen dürften nach Schlegels Überzeugung solche „Verwechslung des Bedingten und Unbedingten" mitnichten tolerieren: „Das Endliche darf die Rechte des Unendlichen nicht ungestraft usurpieren". Deshalb wird Kants umstrittene Ansicht, daß sich der Allgemeinwille auch durch Monarchen oder eine Gesellschaft der Aristokraten repräsentieren ließe, mit aller Entschiedenheit abgewiesen. Schlegel bleibt äußerst konsequent, wenn er gegen Kant behauptet, daß Republiken „notwendig demokratisch" sein müssen. Nur in Rahmen einer demokratisch organisierten Gesetzgebung können aus Untertanen Bürger werden. Schlegels republikanisch liberale Gesinnung kommt vor allem in seinem Plädoyer für ein allgemeines Wahlrecht zum Ausdruck sowie durch die explizite Kritik an Kants Versuch, die Geltung der Wahlstimmen „nicht nach der Zahl, sondern auch nach dem Gewicht (nach dem Grade der Approximation jedes Individuums zur absoluten Allgemeinheit des Willens) zu bestimmen".4 Kant hat nämlich aufgrund der mangelnden Selbständigkeit (sibisujficientia) die bürgerliche Persönlichkeit und somit auch das Wahlrecht den Frauen und wirtschaftlich unselbständigen Menschen (Gesellen, Dienstboten) abgesprochen. Aufgrund der allgemeingültigen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit behauptet Schlegel, daß „Armut und vermutliche Bestechbarkeit, Weiblichkeit und vermutliche Schwäche [...] wohl keine rechtmäßige Gründe [sind], um vom Stimmrecht ganz auszuschließen."4 Mit dieser Ansicht hat er, im Unterschied zu Kant, der hier in den Vorurteilen seiner Zeit gefangen blieb, einen beträchtlichen Beitrag zur Entwicklung des Wahlrechts in der modernen Demokratie geleistet. Eine der wichtigsten innovativen Errungenschaften des frühromantischen Denkens im Prozeß der Etablierung der Moderne war freilich die Bemühung, die basalen Prinzipien des Republikanismus, nämlich Freiheit und Gleichheit, ebenfalls auf die Idee der Gleichberechtigung unter beiden Geschlechtern zu übertragen. Schlegel tritt auch in diesem Bereich als Avantgardist der Moderne auf. Bereits in dem 1795 veröffentlichten Über die Diotima kritisiert

sexistische Ansichten des einflußreichsten Aufklärungsphilosophen eifrigen Verfechters der Humanitätsförderung und der Menschenwürde: „Das Beispiel der Sappho und der Griechischen Dichterinnen widerspricht der Meinung, die Rousseau mit so mächtiger Beredsamkeit vorgetragen hat, daß

Aufsatz

er

und des

40 41 42

43 44

Ebd., 16. Ebd.

Ebd., 17 Ebd. Kant begründet das Wahlrecht folgendermaßen: „Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d.i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei) die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgendein Eigenthum habe [...] welches ihn ernährt". (Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 295) KFSA 7, 17.

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die Weiber der ächten Begeisterung und hoher Kunst ganz unfähig seien. Eine Meinung, die aus Vernunftgründen nicht bewiesen werden kann, und welche die Erfahrung nicht begünstigt; zu geschweigen, daß eine unvollständige Erfahrung keinen vollständigen Beweis geben kann." Schlegel entfaltet seine Idee der komplementären Gleichberechtigung der Geschlechter, die man sogar vom Standpunkt der gegenwärtigen „Gender Studies" analysieren könnte, am ausführlichsten in dem berühmten, seiner Liebespartnerin Dorothea Veit gewidmeten Essay Über die Philosophie, der im Athenaeum erschien. Mit dem hier anvisierten Konzept der gleichberechtigten Komplementarität der Geschlechter bemüht sich Schlegel, das durch patriarchalische Stereotype bedingte Frauenbild abzuschaffen und ein neues Profil der Humanität im Blick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter zu entwickeln: „Der eigene Sinn, die eigene Kraft und der eigene Wille eines Menschen ist das Menschlichste, das Ursprünglichste, da Heiligste in ihm [...]; die Geschlechtsverschiedenheit ist nur eine Äußerlichkeit des menschlichen Daseins [...]. In der Tat sind die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen und getrieben werden, die gefährliche Hindernisse der Menschheit."

47

In der Zeitschrift Athenaeum wird das tradierte Frauenbild, wonach Frauen brave Mütter, edle Salondamen oder Huren sind, lächerlich gemacht: „Die Frauen müssen wohl prüde bleiben, so lange Männer sentimental, dumm und schlecht genug sind, ewige Unschuld und Mangel an Bildung von ihnen zu fordern".48 In den Vorlesungen zur Tran-

szendentalphilosophie (1800/01) entfaltet Schlegel seine emanzipatorischen Ansichten noch ausführlicher und radikaler durch die Aufforderung nach Änderung der Erbgesetze, weil eine demokratische Entwicklung der Gesellschaft unter den bestehenden Gesetzregelungen, wonach Frauen das Eigentums- und Erbrecht versagt bleibt, überhaupt nicht mehr möglich ist.4 In dem umstrittenen Roman Lucinde, den Schlegel als ein „religiöses Buch" konzipiert hat,50 wird eine auf bloßen Konventionen und bürgerlichen Interessen beruhende Ehe als ein unzeitgemäßes Phänomen karikiert: „Da liebt der Mann in der Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Qualitäten und seiner bürgerlichen Existenz, und beide in den Kindern nur ihr Machwerk und ihr Das gegenseitige Verhältnis von Mann und Frau ist in ihrem Kern komplementär. Die Emanzipation der Sinnlichkeit, wie sie die Liebenden erleben, wird in der Lucinde zur Vorbedingung für die Erscheinung des Geistigen: „Die Liebe ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Ge-

Eigentum."51

KFSA1.97. KFSA 8,45. KFSA 2, 170, Nr. 31. KFSA 12,47. Vgl. KFSA 16, 238, Nr. 78. KFSA 5, 33.

„Der Republikanismus ist notwendig demokratisch"

145

vom Sterblichen zum Unsterbgenwart. Sie ist nicht bloß eine Mischung, ein Übergang 52 liehen, sondern sie ist eine völlige Einheit beider." Die Veröffentlichung des Romans,

in dem ein außereheliches Liebesverhältnis verherrlicht wurde, löste einen Skandal aus: „Den moralischen Anstoß, den Schlegel in der Öffentlichkeit damit erregte, hat man ihm bis zu seinem Tode nie mehr ganz verzeihen können." Schlegel hat als wesentliche Grundbestimmungen der Moderne den Individualismus, den Republikanismus, das Recht der Kritik, die Autonomie des Handelns und die idealistische Philosophie, in der die Ideen der Selbstbestimmung und der Selbstverwirklichung des Menschen im Vordergrund stehen, hervorgehoben. Die mit Kant angesetzte Epoche der Kritik und Autonomie hat er noch im 1804 veröffentlichten Lessing-Aufsatz (1804) positiv gewürdigt: Die bewunderungswürdige Lehre des Idealismus der neuen Schule zeigt uns das Äußerste, was der Mensch bloß durch sich selbst vermag, durch die Kraft und Kunst des freien Denkens allein, und durch den festen Mut und Willen dazu, in steter Befolgung der einmal erkannten Grundsätze".54 Als eigenartige Charakteristik der Moderne erweist sich freilich die Interdependenz der im Denken konstituierten normativen Überzeugungen und der intendierten Verpflichtung, daß sich Menschen in ihrem Zusammenleben daran halten werden. Als scharfsinniger Kritiker und Promotor der „praktischen Philosophie" im weiteren Sinne des Wortes bemüht sich Schlegel, den politischen Zeitgeist genau und gewissenhaft zu charakterisieren. Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister kennzeichnete er in der Zeit des Athenaeum als „die größten Tendenzen des Zeitalters". Trotz der Begeisterung für die Ideen der Französischen Revolution als Verfechter und Protagonist der Moderne macht er auch nuancierte kritische Bemerkungen über die Entwicklung der damaligen politischen Situation: „An Gemeinschaft der Sitten ist die politische Kultur der Modernen noch im Stande der Kindheit gegen die der Alten, und kein Staat hat noch ein größeres Quantum von Freiheit und Gleichheit erreicht, als der britische." Schlegel ist der Meinung, daß die politische Philosophie der Moderne von den griechischen und römischen Formen der Demokratie noch viel zu lernen hat. Besonders beachtenswert erscheint ihm die Funktion des Tribuns in der römischen Republik: „Der hochheilige Tribun, zum Beispiel, war es nur im Namen des Volks, nicht in seinem eigenen; er stellte die heilige Idee der Freiheit nur mittelbar dar; er ist kein Surrogat, sondern nur ein Repräsentant des heiligen allgemeinen Willens." Als Kenner der klassischen Kulturgeschichte, der seinen Begriff des Republikanismus zum Teil auch aus der Sympathie für die griechischen Stadtrepubliken gebildet hat, spricht Schlegel immer wieder seine Bewunderung für das athenische Volk aus: „welch ein „

53 54 55 56 57

Ebd., 60. Peter, Friedrich Schlegel, 41. KFSA 3, 98. KFSA 2, 198, Nr. 216. KFSA 7, 18. Ebd., 21.

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Volk, das seine Häuser, sein Mutterland, das Land seiner Väter und Götter der Verwüstung Preis gab, um auf Schiffen die Freiheit zu retten und einige Ruhe zu erkämp-

fen".58

Vom hermeneutischen Standpunkt aus ist es kaum begreiflich, daß die Protagonisten der Frühromantik, einer geistesgeschichtlichen Bewegung, die an die Perfektibilität der Menschheit aus voller Überzeugungskraft geglaubt und sich an diesem Optimierungsprozeß der menschlichen Geschichte aktiv beteiligt haben, im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte als eine antiaufklärerische Strömung stigmatisiert werden konnten. Immerhin werden gelegentlich Schlegels Frühschriften als Zeugnisse einer „anderen Romantik" interpretiert, „die sich mit den liberalen Ideen auseinandersetzt, die das Aufklärungszeitalter prägen, anstatt sich von ihm zu distanzieren". Der Begründer der Literaturkritik und der modernen philosophischen Hermeneutik hat mit dem Hinweis auf die Gefahr, daß „das Auslegen ein Einlegen des Erwünschten" sein könne, keinen Erfolg gehabt. Die Intention der für eine verantwortliche Interpretation plädierenden Schriften61 wurde in der späteren Rezeption völlig mißachtet und verkehrt gedeutet. Habent sua fata libelli.

58 59

SO 61

KFSA 11,257. B. Wanning, Friedrich Schlegel zur Einführung, Hamburg 1999, 125; vgl. auch Die andere Romantik, hg. von H. Schanze, Frankfurt/M. 1967. KFSA 2, 169, Nr. 25. Vgl. dazu vom Verfasser: .Hermeneutische Verantwortung im Rahmen der Kohärenz. Erörterungen zu Flacius Illyricus und Friedrich Schlegel', in: Verantwortung. Hermeneutische Erkundungen, hg. von H. Ineichen und J. Zovko, Berlin 2005 (studia hermenéutica. Neue Folge), 99-130.

Vahidin Preljevic (Saraievo)

antiteleologische Geschichtsbild in Novalis' ,Christenheit oder Europa'

Das

1. Novalis Schrift Die Christenheit oder Europa gehört zu den Texten der deutschen Geistesgeschichte, denen eine angemessene Rezeption nicht beschieden war. Er wurde nach den spärlichen Zeugnissen, über die wir verfügen, im noch freisinnig-revolutionären frühromantischen Kreis wohl wegen seiner scheinbar abweichenden Tendenz missvon den späteren katholisch geprägten Romantikern trauisch beäugt und romantischen aber als Wegmarke der Frömmigkeit gefeiert, um dann von den Jungdeutschen und marxistischen Kritikern, als „geschichtsphilosophische Programmschrift der romantischen Reaktion" eingeschätzt zu werden.4 Dabei wurde der im November 1799 im engeren Kreise der Romantiker in Jena vorgelesene Text erst 1826 vollständig veröffentlicht; Novalis wollte ihn zwar ursprünglich ins Athenaeum aufgenommen wissen, die unschlüssigen Brüder Schlegel dabei stand

abgelehnt,1

-

soll sein bissig-ironisches Epikureisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporsts direkt nach Novalis Vortrag verfasst haben, in dem er nicht nur Novalis Aufsatz, sondern auch die sich abzeichnende religiöse Wende der Romantiker aufs Korn nahm. Friedrich Schlegel soll die Veröffentlichung beider Texte im Athenaeum erwogen haben, die Bedenken August Wilhelm Schlegels und vor allem Goethes Urteilsspruch haben den vollständigen Abdruck beider Texte verhindert. Siehe dazu Andreas Arndt und Wolfgang Virmonds ,Editorische Notiz' zum Widerporst in: Der Streit um die göttlichen Dinge 1799-1812. Quellenband, hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1999, 30-31. Siehe Tiecks Kommentar in R. Samuel, ,Einleitung' zur Christenheit oder Europa, in: Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Stuttgart 1977 ff. (im folgenden im Haupttext zitiert mit der Sigle HKA und der Bandnummer), Bd. 3, 502. G. Lukács, ,Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur', in: Romantikforschung seit 1945. hg. von K. Peter, Königstein/Ts. 1980, 40-52, hier 48. Zur kritischen Rezeption der Romantik siehe K.H. Bohrer, Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt/M. 1989; zur Rezeption der politischen Romantik im 20. Jahrhundert auch H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991, 521-558, sowie H. Kurzke, Romanik und Konservatismus. Das politische Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983.

Schelling

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Vahidin Preljevic

allem der ältere Schlegel dem Text ablehnend gegenüber fragten letztendlich Goethe um Rat, der von einer Veröffentlichung auch im Hinblick auf den von Fichte hervorgerufenen Atheismusstreit abriet. Die Sache schien sich aber schon damit erledigt zu haben, dass Novalis selbst einige Monate später von Friedrich Schlegel verlangte, ihm seine „Europa", wie er sie bezeichnete der spätere Titel stammt wohl entweder von den ersten Herausgebern Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck oder von dem vor

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zur Nacharbeitung zurückzuschicken,7 zu der es jedoch wegen der Arbeit am Roman Heinrich von Ofterdingen nicht mehr gekommen ist. Die Umstände der Niederschrift sind ebenfalls bezeichnend: im Herbst 1799 macht sich bei Novalis, wie seine Notizen aus dieser Periode belegen, ein sich gleichzeitig verstärkendes Interesse an Geschichte, Religion, Poetik und spekulativer Naturwissenschaft bemerkbar, während die transzendentalphilosophischen Präokkupationen stark abnehmen; höchstens kann man einen Hang zur naturphilosophischen Spekulation und auch zur politischen Philosophie feststellen. Unter anderem liest Novalis in der Zeit Kants späte Schriften, darunter vor allem die Abhandlung Zum ewigen Frieden, die er in der „Europa" verdeckt zitiert. Vieles deutet darauf hin, dass Novalis sich in dieser Zeit mehr für die praktische Ausführung als für rein theoretische Probleme interessiert. In dieser Phase drängen sich Novalis drei unterschiedliche Themenbereiche und drei völlig verschiedene Ansätze auf. Erstens ist allgemein im romantischen Kreis zu diesem Zeitpunkt die endgültige Wende zum romantischen Panästhetizismus vollzogen worden. Nur die Poesie „heilt die Wunden, die der Verstand schlägt" (HKA 3, 653). Die poetische Einbildungskraft ist bei Novalis scheinbar drauf und dran, den Geltungsbereich der transzendentalen Vernunft einzuschränken, wenn nicht gar sie zu beerben. Noch in seiner späten Phase, deutlich nach der Niederschrift des Europa-Werks, notiert Novalis:

Verleger

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Siehe I. Kauttlis, ,Von „Antinomien der Überzeugung" und Aporten des modernen Theismus', in: Der Streit um die göttlichen Dinge. Aufsatzband, hg. von W. Jaeschke, Hamburg 1999, 1-34. Zum Hintergrund des Abratens von der Veröffentlichung durch Goethe siehe R. Samuel, .Einleitung' und auch ders.: .Die Form von Friedrich von Hardenbergs Abhandlung „Die Christenheit oder Europa'", in: Stoffe, Formen und Strukturen. Studien zur deutschen Literatur, hg. von A. Fuchs u. H. Motekar, München 1962, 284-302, hier 294-286, sowie HJ. Mahl, ,Utopie und Geschichte in Novalis' Rede „Die Christenheit oder Europa'", in: Aurora 52 (1992), 1-16, hier 1-5. Novalis an Friedrich Schlegel, HKA 4, 517-518. „Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand" (HKA 3, 522). Besonders eindeutig in dem im Februar verfassten Brief an den Kreisamtmann Just (HKA 4, 321, Nr. 152): „Die Philosophie ruht jetzt bey mir nur im Bücherschranke. Ich bin froh, dass ich durch diese Spitzberge der reinen Vernunft durch bin, und wieder im bunten erquickenden Lande der Sinne mit Leib und Seele wohne"; vgl. ferner den Brief an Ludwig Tieck vom 23. Februar, wo Novalis von der Arbeit am Heinrich von Ofterdingen berichtet: „Es ist ein erster Versuch in jeder Hinsicht die erste Frucht der bey mir wieder erwachten Poesie, um deren Entstehung Deine Bekanntschaft das größeste Verdienst hat. Unter Speculanten war ich ganz Speculation geworden." (HKA 4, 322, Nr. 153) -

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis' ,Christenheit oder Europa'

„Es ist höchstbegreiflich,

149

Ende alles Poesie wird." (HKA 3, 654, Nr. 577). Es ist nicht davon auszugehen, dass Novalis die ästhetizistischen Prämissen seines Denkens, gewonnen aus der transzendentalphilosophischen Auseinandersetzung mit Fichte und Kant, je aufgegeben hat. Auch die oft apostrophierte Hinwendung zur Religion, die sich sowohl bei Novalis wie auch bei Friedrich Schlegel findet nicht zuletzt wegen der zweifellos starken Wirkung, die Schleiermachers Reden über die Religion im Romantikerkreis ausübten steht eindeutig im Zeichen der ästhetischen Grundorientierung: „Höchst sonderbar ist die Ähnlichkeit unsrer heiligen Geschichte mit Märchen Anfänglich eine Bezauberung dann die wunderbare Versöhnung etc. Die Erfüllung der Verwünschungsbedingung Wahnsinn und Bezauberung haben viel Ähnlichkeit. Ein Zauberer ist ein Künstler des Wahnsinns." (HKA 3, 639, Nr. 508) Der Vergleich mit dem Märchen liefert eine Analyse der biblischen Geschichte, in der eine poetische Struktur sichtbar wird. Das Moment der „Bezauberung" ist von entscheidender Bedeutung; auf die magischen Ursprünge des Denkens und Dichtens hat Novalis oft hingewiesen. In diesem Zusammenhang sieht er auch die Religion, die er offensichtlich wie auch den Begriff des Christentums so weit fasst, dass sie letztlich scheinbar zumindest in ihrer wesentlichen Ausrichtung mit der Kunst zusammenfällt. Zu Schleiermachers Konzept vermerkt Novalis: „Warum kann in der Religion keine Virtuosität stattfinden? Weil sie auf Liebe beruht. Schleiermacher hat eine Art von Liebe, von Religion verkündigt eine Kunstreligion beinah eine R[eligion] wie die des Künstlers, der die Schönheit und das Ideal verehrt." (HKA 3, 562, Nr. 48) Die „Liebe als synthetische Kraft" (HKA 2, 292),10 wie wir sie aus den späten Fichte-Studien kennen, bleibt auch hier das wichtigste Moment der Religion. Das Verhältnis von Liebe und Religion ist das einer Steigerung. Die Absolutierung der Liebe, unter Ausschaltung des Bedingten, setzt Novalis mit der Religion gleich. Die „Liebe kann durch absoluten Willen in Religion übergehn. Des höchsten Wesens wird man nur durch Tod wert" (HKA 2, 395, Nr. 57) und: „Alle absolute Empfindung ist religiös" (HKA 2, 395, Nr. 60) und sie steht in einem engen Zusammenhang mit dem schon erwähnten magischen Moment. „Alle Bezauberung geschieht durch partielle Identifikation mit dem Bezauberten den ich so zwingen kann, eine Sache so zu sehn, zu glauben, zu fühlen, wie ich will" (HKA 2, 395, Nr. 59), die partielle Identifikation ist eine notwendige Folge aus der Kritik an Fichte, der zu Unrecht alles „ins Ich hineingelegt hat", da wir, obwohl immer auf der Suche nach dem Unbedingten, „immer nur Dinge finden" (HKA 2, 412, Nr. 1). Analysiert man Novalis' Notizen zur Religion aus dem zeitlichen Umfeld der warum am

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Europa-Schrift, gibt es keine Anzeichen,

dass

er

wesentlich

von

der

transzendentalphi-

Liebesbegriff bei Empedokles ursprünglich als eines der zwei metaphysischen Grundprinzipien übernimmt Novalis von Hemsterhuis Siehe H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, geDen

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nannt Novalis, 120 ff. -

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150

Vahidin Preljevic

losophischen Bestimmung des Religiösen abweicht, das aus den Momenten der ästhetisch-magischen Verwandlung des Anderen (ästhetisch: sowohl im Sinne der aisthesis als auch künstlerisch) und der synthetischen Kraft der Liebe besteht. Die in der Forschung oft apostrophierte Hinwendung zum positiven Christentum ändert an dieser Prämisse kaum etwas. So denkt Ende 1799 und Anfang 1800 Novalis über das Konzept der angewandten Religion nach: „Alle unsere Neigungen scheinen nichts, als angewandte Religion zu seyn [...] Machen wir unsere Geliebte zu einem solchen Gott, so ist dies angewandte Religion."(HKA 2, 570, Nr. 104) Das Beispiel bestätigt die Grundorientierung des Religiösen an einer partiellen Absolutierung, mit der das Ich sich die Welt erschließen will. Doch das heißt für Novalis Auffassung des Religiösen, vor und nach der Niederschrift der „Europa", die im Zeichen der Empfindung oder Neigung erfolgte Bindung ist eine am Ich orientierte, und nicht von der Gewalt der Offenbarung als etwas radikal Anderem erscheinende Notwendigkeit, der sich das Subjekt beugt, und an die er fortan glaubt. Allerdings ändert sich die Perspektive in Novalis' Behandlung der Religion in seiner späteren Zeit schon. Doch es handelt sich nicht um eine grundsätzliche Änderung der Bestimmung, sondern darum, dass bei ihm auch im Zusammenhang mit der Rezeption ,

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Schillers und Herders das historische Interesse immer stärker wird, womit es bei ihm auch nicht grundsätzlich anders bestellt ist als bei anderen Zeitgenossen, wobei, wie noch zu zeigen sein wird, Novalis ein abweichendes Geschichtsbild entwickelt. Die Idee der Revolution und ihre tatsächliche Ausführung in Frankreich hat das Zeitbewusstsein grundlegend verändert. Der Sinn für den Zeitenwandel stellt sich ein, es formiert sich das Epochenbewusstsein; Reinhart Koselleck hat diese Veränderungen mit dem Begriff der Sattelzeit auf den Punkt gebracht. An das neue Paradigma der Geschichte schließt sich Novalis auch an und versucht, in diesem auch die Religion neu zu denken. In diesem Zusammenhang und nicht in einem der mystischen beginnt sich Novalis intensiver mit dem Christentum als einer besonderen Ausformung der Religion zu beschäftigen. Die Historisierung des Christentums führt dazu, dass Novalis sich über die wahren Hintergründe der Geburt Christi Gedanken macht: „Sollte sich eine Inspiration bey einer Frau nicht durch eine Schwangerschaft äußern können? Könnte ein römischer Soldat Vater Jesu seyn?" (HKA 3, 569, Nr. 97) Die christliche Religion wird unter dem Blickwinkel der Poesie und der Geschichte betrachtet. Gleich im Anschluss sagt Novalis: „Über die heilige Geschichte überhaupt ihre Poesie, ihre innre Evidenz. Wer hat die Bibel für geschlossen erklärt? Sollte die -

Bekehrung11

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In einer völligen Vernachlässigung des näheren und weiteren Kontextes postuliert beispielsweise Berbeli Wanning, dass die „Grunderfahrung der Hymnen an die Nacht [...] mystisch" sei, und dass also diese Texte Novalis' Verarbeitung dieser Erfahrung darstellten; dabei sei die Sprache „in diesem Sinne ein Werkzeug, das sich der Mystiker zurechtbiegen muss, um es benutzen zu können." (B. Wanning, Novalis zur Einführung, Hamburg 1996, 191-192)

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis' .Christenheit oder Europa'

151

Bibel nicht noch im Wachsen begriffen seyn? Der biblische Vortrag unendlich bunt Geschichtet,] Poesie, alles durcheinander" (HKA 3, 569 f., Nr. 97) Das ästhetische und geschichtliche Interesse am Christentum geht auch deutlich aus einem Fragment hervor, das Novalis irgendwann im Herbst 1799 niederschreibt, in demm auch an einer allgemeinen Geschichtsphilosophie gearbeitet wird: „Die Geschichte Xsti [Christi] ist eben so gewiß ein Gedicht, wie eine Geschichte, und überhaupt ist nur die Geschichte, Geschichte, die auch Fabel seyn kann." (HKA 3, 566, Nr 76). Die Geschichte hat für Novalis eindeutig poetischen Charakter. Sie gibt es nicht einfach an sich, sondern sie ist „ein eigentümliches Produckt des Willens und des Verstandes. Ohne deren Zutun giebt es keine Geschichte durch sie kann aber alles zum Beyspiel zum Bilde eines Gesetzes werden." (HKA 3, 556, Nr. zur Geschichte 4). Die Geschichte ist ein „Produckt", d. h. ein Konstrukt, die um überhaupt konstruiert zu werden, bestimmten Regeln der Konstruktion unterliegen muss, sie muss auf eine bestimmte Art gemacht und dargestellt werden, und damit fällt sie in den Bereich der Poesie. Die biblische Erzählung wiederum ist in Novalis Augen ein besonderes Beispiel dieser poetischen Geschichte, da in ihr Historie und Poesie „bunt" durcheinander gemischt werden. Das Interesse am Christentum ist vor allem das Interesse an einer Religion, die das Geschichtlichwerden der Poesie gewährleistet. Diese Überlegung steckt dahinter, wenn Novalis mehrfach davon spricht, dass „die ganze Geschichte Evangelium" (HKA 3, 537) ist. Doch es kann keine Rede davon sein, dass Novalis die Geschichte als eine untergeordnete Kraft gegenüber der Religion ansieht. Wenn er über den Begriff des Evangeliums nachdenkt, fragt er: „Läßt sich nicht die Verfertigung mehrerer Evangelien denken? Muß es durchaus historisch seyn? Oder ist die Geschichte nur Vehikel? Nicht auch ein Evangelium der Zukunft?" (HKA 3, 557, Nr. 9) Im Gegensatz zu Richard Samuel, der die Stelle so interpretiert, dass Novalis Geschichte als Mittel des Evangeliums behandelt und im letzteren teleologisch ihren Endzweck erlickt, ist die Stelle eher in dem Sinne zu deuten, dass die Geschichte geradezu aufgewertet wird, weil sie eben in ihrer Anfälligkeit für den Wandel überhaupt erst die „Verfertigung mehrerer Evangelien" als denkbar erscheinen lässt. Ihre grundsätzliche Unabgeschlossenheit ist für Novalis auch Anlass, in dem oben zitierten Fragment zu fragen, wer denn die Abgeschlossenheit der Bibel zu verantworten habe. Angesichts der Unabgeschlossenheit der Geschichte wäre nur eine Fortschreibung ins Unendliche angemessen. Die Geschichte beinhaltet zwar auch ein Moment, das in der christlichen Lehre besonders zum Ausdruck kommt, die Fähigkeit nämlich, das Zukünftige anschaulich zu machen; doch diese Fähigkeit gehört immanent zum Geschichtlichen, wie deutlich aus Novalis Konzeption der „Erinnerung" und „Ahnung" hervorgeht. Die Ge-

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schichte ist in Novalis Augen vielleicht ein „Evangelium der Zukunft", etwa wie die Natur auch ein Buch ist, sie ermöglicht die Lesbarkeit des Zukünftigen im Vergangenen ob jedoch diese Lesbarkeit eine wörtliche ist, und ob man deswegen wirklich von ei-

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Samuel, ,Die Form', 289.

152

Vahtdin Preuevic

eschatologischen Geschichtsbild bei Novalis sprechen kann, scheint fragwürdig schon angesichts des poetischen Charakters, den die Geschichte unverkennbar trägt und der gerade in der Verbindung mit dem Christentum deutlich wird. Die ästhetische Distanz, die auch zur Geschichte bzw. zu ihrer Darstellung nicht zuletzt gerade in der Europa-Schuft gehört („Ruhig und unbefangen betrachte der ächte Beobachter..."; HKA 3, 517), muss hingegen in jedem Versuch, das Geschichtliche und Utopische in Novanem

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lis' Werk zu bestimmen, mit bedacht werden. Die Analyse des Geschichtsbildes in Novalis Europa-Schuft erfordert noch einen weiteren Blick auf den unmittelbaren Kontext der Entstehung. Genauso wie die Revolution wird das Zeitbewusstsein auch von den der Revolution entsprungenen Kriege geprägt. Die Möglichkeit eines Friedens, der, wie Kant in seiner Friedens-Schuft meinte, nicht bloß ein Waffenstillstand wäre, wird als eine Frage der Permanenz in Freiheit verhandelt. Unter diesen Voraussetzungen der veränderten Zeitwahrnehmung ist es nur verständlich, dass die zahlreichen geschichtsphilosophischen Schriften der neunziger Jahre einen deutlichen politischen Charakter haben. Fast alle sind durch die Intention gekennzeichnet, das Prinzip Freiheit und das Prinzip Frieden, bzw. die Revolution oder Wandel und Dauer zu versöhnen. Novalis hat die geschichtliche Entwicklung, vor allem die andauernden Napoleonischen Kriege wie auch die theoretische Diskussion, aufmerksam Bedenkt man diesen Kontext, so wird zu erwarten sein, dass in Novalis Text Poetik, Religion und Politik unter der sich durchsetzenden Dominanz des geschichtlichen Paradigmas eine eigentümliche und komplizierte Verbindung eingehen; davon zeugt auch die Schwierigkeit, der Komplexität der £Kro/?a-Schrift durch einfache formale Zuordnungen gattungsmäßig gerecht zu werden.

verfolgt.1

2. Über den Charakter der Schrift herrscht in der Forschung bis heute Uneinigkeit.15 Sehr lange dominierte die Ansicht, dass es sich hierbei um eine politisch-religiöse Kampfschrift der Rekatholisierung handele. Einigen Interpreten diente sie geradezu als Schlüsselbeweis für den regressiven und restaurativen Charakter der ganzen romantischen Bewegung. Bis zu Richard Samuels wegweisender Interpretation wurde die rheto-

Vgl.

auch die

großangelegte bahnbrechende Studie HJ. Mahls, Die Idee des goldenen Zeitalters

Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965. Vgl. Samuel, .Einleitung'. Zur Übersicht siehe D.F. Mahoney, Friedrich von Hardenberg (Novalis), Stuttgart und Weimar im Werk des Novalis. Studien zur

2001.

Samuel, ,Die Form'.

153

Das anttteleologische Geschichtsbild in Novalis' Christenheit oder Europa'

des Textes völlig verkannt. Aufbauend auf Samuel sprach seiner Winfried Maisch in Analyse aus dem Jahr 1965 dem Text mehr oder weniger jeglichen diskursiven Bezug ab und erklärte die Schrift zu einem, cum grano salis, rein literarischen Gedankenspiel mit einigen allgemeinen utopischen Zügen, wobei allen Schlüsselbegriffen wie „Christenheit", „heiliger Sinn" etc. lediglich metaphorische Bedeutung zukäme.

risch-poetische Dimension

Wir wollen jedoch der schon angesprochenen Komplexität des Textes vielleicht ein Stück mehr gerecht werden, indem wir versuchen, keine seiner wichtigsten Schichten zu vernachlässigen und der einen oder der anderen den Vorzug zu geben. Das wäre im übrigen auch mehr im Sinne der frühromantischen Poetik, die, dem Postulat der Universalität folgend, danach strebte, Wirklichkeit und Poesie, aber auch Wissenschaft, Religion, Philosophie und überhaupt alle Disziplinen verschmelzen zu lassen und ununterscheidbar zu machen. „Die Welt muss romantisiert werden", vermerkt Novalis in einem seiner berühmten Blütenstaub-Fragmente gerade die Christenheit oder Europa scheint ein gelungenes Mischprodukt einer solchen romantisierenden Aneignung der Welt zu sein. 18 Und doch soll hier nicht einer Vereinseitigung auf den spielästhetischen Aspekt, der in der Romantik zweifellos eine wichtige Rolle spielte, und auch nicht einem durch den Dekonstruktivismus inspirierten Lob der Unverständlichkeit1 das Wort geredet werden. In einer Engführung von textimmanenter Analyse und diskursivem Umfeld sollte vielmehr der im vorliegenden Aufsatz sicherlich noch ungenügende Versuch unternommen werden, trotz der Vielschichtigkeit des Textes einige zentrale Tendenzen herauszugreifen, die zusammen genommen doch so etwas wie eine komplexe gedankliche Semantik des Geschichtlichen ergeben könnten. 20 In der Forschung ist die Struktur der Schrift oft analysiert worden. Bei allen Variationen und Untergliederungen geht man von einer Dreiteilung des Textes aus, wobei man einen analeptisch dargestellten vergangenheitsorientierten Teil, einen gegenwartsbezogenen und schließlich eine zukunftsbetonte proleptische Vorausdeutung unterscheidet. Bezieht man sich auf den Charakter der dargestellten Zeit, so wird weiter differenziert. Vor allem in der längsten, vergangenheitsorientierten Schicht lassen sich eine zeitlich nicht fixierte Vergangenheit und eine realgeschichtliche mit Verweisen auf konkrete historische Ereignisse unterscheiden. Die Einstellung des erzählenden oder vortragenden Subjekts wechselt ebenfalls häufig; während die Darstellung der unbestimmten Vergangenheit in ein positives Bild gerückt wird, wird die Darstellung der realgeschichtlichen Vergangenheit bzw. konkreter -

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Maisch, „Europa". Poetische Rede des Novalis. Deutung der französischen Revolution und Reflexion auf die Poesie in der Geschichte, Stuttgart 1965. R. Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der W.

Kunst, Frankfurt/M. 2000. E. Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit, Frankfurt/M. 2000. Vgl. die eingehendsten Analysen in Samuel, ,Die Form' sowie Maisch,

„Europa".

154

Vahidin Preuevic

historischer Phänomene differenzierter betrachtet, wobei sich trotz der affirmativ dargestellten Aspekte die Gesamttendenz als negativ erweist. Der bejahende Ton kehrt dann wieder am Ende in dem prospektiven Teil des Textes zurück, wobei diesmal nicht eine Perspektive des 21Verlustes gewählt wird, sondern eine anscheinend emphatisch-utopisehe Sichtweise. Diese Art der Einteilung lässt es als berechtigt erscheinen, im Text einige verschiedene Genres oder zumindest Gattungstendenzen zu unterscheiden: die Vergangenheitsutopie, die Zukunftsutopie, die kritische Geschichtsdarstellung und die Zeitkritik, wobei die beiden letzteren mehr oder weniger bruchlos ineinander übergehen, weshalb sie unter dem freilich nicht zufriedenstellenden Begriff der Kulturkritik zusammengefasst werden können. Die Vergangenheitsutopie trägt, wie in der Forschung vielfach registriert, deutliche Züge eines Ursprungsmythos, wie wir ihn in zahlreichen Religionen und Mythologien finden. Bei unserer folgenden Analyse wollen wir unser Augenmerk vor allem auf die Darstellung dieses Ursprungsmythos richten. In ihr dominiert eine äußerst poetisierte Darstellung einer zeitlich nicht näher bestimmten Zeit, die den Charakter einer alles durchdringenden und anscheinend eindeutig positiv konnotierten Einheit trägt. Bestimmte Wort-Signale wie „Ein Oberhaupt", „eine Christenheit", „acht katholische und acht christliche Zeiten" legen eine Verbindung zum Mittelalter nahe, doch wird diese zweifellos intendierte Andeutung auf eine realhistorische Epoche wiederum ganz bewusst vage gehalten. Zu dieser Unbestimmtheit trägt zunächst einmal die märchenhafte Formel „Es war einmal" bei, mit der der Text beginnt, die eine literarisierende Lesart nahelegt. Dadurch wird die dargestellte Epoche in eine unbestimmte Vorzeit gerückt, womit ihr ein scheinbar utopisch-ästhetischer und damit semimythischer Charakter verliehen wird. Außerdem werden im Gegensatz zum mittleren Teil des Textes keine geschichtlichen Ereignisse oder Personen genannt, die eine Konkretisierung erlauben würden. Auch die Worte „Oberhaupt", „Fürsten" lassen keine eindeutige Festlegung, sondern eher eine andeutende Vermutung zu; ähnlich verhält es sich mit allen anderen Begriffen aus der christlich-katholischen

Sphäre. Das entscheidende Merkmal dieser heit, die mehrmals apostrophiert wird

utopischen Zeit ist, wie schon erwähnt, ihre Ein(Europa, „ein christliches Land", „eine Christenheit, ein „gemeinschaftliches Interesse"). In vielen Mythen wird der Ursprung der Welt und der menschlichen Geschichte als ein Zustand der Ungeschiedenheit dargestellt. Aber auch die Gleichheit aller Einzelglieder, d. h. der Bürger („zu der jederman Zutritt Maisch, „Europa", 48, unterscheidet folgende Schichten. 1. Vorzeit als poetische Erinnerung an die einheitliche Christenheit, 2. Vergangenheit (Spätmittelalter, Reformation, Aufklärung, Revolution), 3. Gegenwart und 4. Peroratio. Samuel, ,Die Form', 293, unterscheidet sieben Teile: 1. Die „ächtkatholischen" Zeiten, 2. Ihr Verfall, 3. Reformation als Revolution, 4. Der vergebliche Versuch der Regeneration durch den Jesuitenorden, 5. das Zeitalter der Aufklärung, 6. Die neuen staatsumwälzenden Zeiten, 7. Das Heraufkommen des neuen Zeitalters.

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis'

,Christenheit oder Europa'

155

hatte"), spielt eine wichtige Rolle, dann auch eine allgemeine Achtung und auch Ver-

eigenen Leben gegenüber allesamt Merkmale, die kontrafaktisch

verrichtete Evangelium des Lebens") den Erscheinungen zählen, die zu den Topoi der späteren Kulturkritik gehören und als unausweichliche Begleiterscheinungen der Moderne dargestellt werden von der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Strukturen bis hin zur dazugehörigen Vereinzelung und Entfremdung. Bei genauer Lektüre stößt man jedoch auf textimmanente Widersprüche, die in der Forschung bis jetzt wenig beachtet blieben. So heißt es zunächst, dass das „Oberhaupt" der Christenheit „ohne große weltliche Besitzfhümer" (HKA 3, 507, Zeile 8) regierte, um später seine Machtherrlichkeit und Überlegenheit gegenüber den Fürsten zu betonen, die sich unter anderem darin äußerte, dass „alle Schätze" (HKA 3, 509, Zeilen 2-3) dahinflössen. Wohl können hier auch „geistige Schätze" gemeint sein, denn an einer anderen Stelle, wo der allgemeine Wohlstand während dieses „goldenen Zeitalters" geschildert wird, wird „der blühende Handelsverkehr mit geistigen und irdischen Waren" (HKA 3, 509, Zeile 15), nicht nur in dem „Umkreis von Europa", sondern bis in das „fernste Indien" herausgestrichen. Wenn jedoch für den Niedergang des geistlichen Reiches unter anderem auch der „Druck des Geschäftslebens" (HKA 3, 509, Zeile 20) verantwortlich gemacht wird, dann erscheint der blühende Handel wieder in einer anderen Sicht. Noch viel merkwürdiger jedoch ist angesichts der anfangs (im zweiten Satz der Rede) erklärten materiellen Bescheidenheit der klerikalen Herrschaft die Art und Weise, wie im fünften und sechsten Satz das hierarchische Verhältnis Oberhaupt Mönche Bevölkerung dargestellt wird: „Eine zahlreiche Zunft, zu der jedermann Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben [= dem Oberhaupt] und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohlthätige Macht zu befestigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost und Hülfe, Schutz oder Rath bei ihm suchten, und gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehen und Gehör, und alle pflegten diese auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer, wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete." (HKA 3, 507, Zeilen trauen dem

(„jeder

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zu

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9-18) Die „mannigfaltigen Bedürfnisse" der geistlichen Zunft, die von der Bevölkerung „gerne" versorgt werden, stehen im diametralen Widerspruch zu der postulierten allgemeinen Zugänglichkeit der Machtträger. Besonders wenn man das konditionale Verhältnis zwischen dem Ansuchen nach „Trost und Hülfe, Schutz und Rath" und der Befriedigung der Bedürfnisse jener, an die sich die gemeinen Leute wenden, berücksichtigt, dann kann man das, was Novalis hier beschreibt, eigentlich nur Korruption nennen, was freilich zur „wohltätigen Macht" des Oberhauptes im Widerspruch steht. Als aus religiöser Sicht geradezu blasphemisch muss man die klangliche und semantische Verbindung zwischen den „mannigfaltigen Bedürfnissen" und dem „mannigfachen Segen" einstufen. Wenn man noch die mit der rhetorischen Technik der Häufung deut-

Vahtdin Preuevic

156

lieh unterstrichene Unterwürfigkeit der Geistlichen gegenüber dem Oberhaupt („vollführte seine Winke und strebte mit Eifer") berücksichtigt, dann ergibt sich ein ganz anderes Bild der ,,schöne[n] glänzende[n] Zeiten", als das auch in der Forschung mehrfach bestätigte Bild einer idealisierten Epoche. Diese Widersprüche, die deutliche Risse in dem „goldenen Zeitalter" zeigen, wurden von Novalis-Interpreten stillschweigend übergangen. Richard Samuel hat mit seinem Hinweis auf die Form der Schrift wesentlich zu ihrem Verständnis als öffentlicher Rede und damit auch zur Entdeckung ihres rhetorischen Impetus beigetragen, und auch eine unverkennbare ironische Note hervorgekehrt. Dabei beruft sich Samuel unter anderem auf einige Fragmente Novalis, wo dieser über die Redekunst reflektiert: die Redekunst lehrt die Regeln der Aufeinanderfolge der Gedanken zur Erreichung einer bestimmten Absicht. Jede Rede setzt die Gedanken erst in Bewegung und ist so eingerichtet, daß man die Gedankenfinger in der leichteste Ordnung auf bestimmte Stellen setzt" (HKA 3, 562, Nr. 52) „...

Und doch scheint Samuel aus dieser Rhetorik nicht die Konsequenzen bei seiner eigevor allem in bezug im Hinblick auf ihre Diskursivität nen Interpretation der Schrift gezogen zu haben. So bleibt er mehr oder weniger der älteren Forschung verbunden, wenn er Novalis vorwirft, die Geschichte „gemodelt" zu haben und den Text letztlich doch als eine aufklärungskritische Kampfschrift behandelt, auch wenn er ihren Ideenreichtum und ihre komplexen Einsichten anerkennt. Auch Maisch, der die These von einem rundweg poetischen Charakter der Schrift vertreten hat, leugnet zwar eine direkte Beziehung zum Mittelalter, versteht die Darstellung der Vorzeit als eine extrem poetisierte und positiv besetzte Utopie, ohne die Ironie in der Darstellung zu bemerken. Angesichts des komplexen Verfahrens Novalis' verwundert das nicht. Schon mit den Eröffnungssätzen, mit dem durchweg gehaltenen hohen Ton der Darstellung, wird ein Rezeptionsmodus nahegelegt, der die positive Sichtweise des Dargestellten nahezu zwingend macht. Ähnlich, nur in umgekehrter Richtung, verhält es sich mit der späteren Darstellung der Reformation und des Protestantismus. Die Darstellungsweise dort ist eine sarkastische, auch wenn der (fiktive) Redner sich mit dem Lob keineswegs zurückhält. Die widersprüchliche Behandlung der historischen Gegenstände, in der der Modus und Inhalt der Darstellung einander zuwider laufen, muss wegen des poetisch-rhetorischen Charakters des Textes beabsichtigt worden sein. Es handelt sich offenbar um eine eigentümliche Novalis'sche Variante der frühromantischen Ironie, welche einen deutlichen Hang zum Unterschwellig-Komischen aufweist. In der Tat scheint Novalis im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Europa-Schrift oft über das Wesen des Komischen nachgedacht zu haben: -

-

„Sollte Kälte wirklich die Muskeln stärken wohl die

so

müßte Witz und Scherz und Leichtsinn auch

geistigen Muskeln stärken und erfrischen? und so [wäre] die Vermischung des Lusti-

Samuel, ,Die Form', 298.

-

157

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis' .Christenheit oder Europa' gen und Ernsthaften die Verwebung des Lächerlichen mit dem wohltätige und heilsame Verbindung". (HKA 3, 557, Nr. 14)

Heiigen vielleicht eine

sehr

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der Darstellung des Mönchtums, der Reliquienästhetik, der Tätigkeit des Jesuitenordens nicht genau diese „Verwebung des Lächerlichen mit dem Heiligen" vor? Es handelt sich offensichtlich um eine besondere Ausprägung des Humors oder der Ironie. Diese besteht in der überraschenden Vermischung, im Witz, „menstrum universale", der mit der Schlegelschen Universalpoesie sehr viel gemein hat, vor allem was den Aspekt der paradoxalen Vermengung des weit von einander Entfernten und auch Gegensätzlichen angeht. Auch die Bemerkung „Komische Gespräche zur Übung mit großen Ideen und ächter Poesie vermischt" (HKA 3, 563, Nr. 54) tendiert in diese Richtung, wie auch das Fragment Nr. 158 (HKA 3, 576.) Novalis nennt hier auch seine Quelle „Flögeis Gesch[ichte] der komischen Litteratur" und verlangt wieder die „Vermählung des Komischen mit der höchsten Poesie und dem Wichtigsten und Ernstesten überhaupt". Die „Buntheit", die er von dem biblischen Bericht verlangt, bezieht sich auch eindeutig auf die Darstellungsweise, auch wenn er festhält: „Mannichfaltigkeit in der Darstellung von Menschencharakteren nur keine Puppen keine sogenannten] Karaktere lebendige bizare, inconséquente, bunte Welt" (HKA 3, 558, Nr. 16). Die Inkonsequenz, die Mischung von Ernsthaftem und Lächerlichem im Sujet und in der Darbietung, die Neigung zur Blasphemie als „nothwendige Grobheit des Lustigen" (HKA 3, 576, Nr. 159) scheinen als poetische Methoden in der Europa Niederschlag gefunden zu haben. Diese zwangsweise nur umrisshafte Skizze zu Novalis Poetik der Geschichtsschreibung muss hier genügen, um uns im letzten Teil des Aufsatzes dem Geschichtsbild der £wro/?a-Schrift annähern zu können.

Liegt bei

-

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-

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3. In Anbetracht dieser Poetik des Widerspruchs darf die utopische Dimension der Rede angezweifelt oder zumindest ihre geschichtliche Relevanz in Frage gestellt werden. Die Darstellung des Mittelalters entspricht eben nicht dem Modus, in dem die Skizzierung einer erfolgen soll. So wird die „legendenhafte Stilisierung" des Mittelalters keineswegs zur Konstruktion eines utopischen ,,Urbild[s] künftiger Erneuerung". Ebensowenig ist die teleologische Ausrichtung des GeschichtsVerständnisses des Novalis so eindeutig, wie bisher meistens vermutet. Diese kann zumindest von der widersprüchlichen Darstellung der Vorzeit wie auch der realgeschichtlich greifbaren Abschnitten keineswegs bestätigt werden. Die dargestellten weltgeschichtlichen Ereignisse weisen bei Novalis immer einen doppelten Bo-

„Vergangenheitsutopie"23

Mähl, ,Utopie und Geschichte', 5.

Vahidin Preljevié

158

den auf, eine Zweideutigkeit, der er mit den Mitteln des Humors und der Ironie gerecht zu werden versucht. Zwar wird so der Protestantismus in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung insgesamt als einheitsauflösend und scheinbar negativ eingestuft, weil er die „Vertrocknung des heiligen Sinns" und die Oberherrschaft des Weltlichen zur Folge hat, doch erkennt Novalis trotzdem im gleichen Atemzug an, dass der Anfang des Protestantismus durch ein „Feuer des Himmels" glänzt, wenn auch nur ein vorübergehendes (HKA 3, 512). An anderer Stelle heißt es zum selben Thema, dass die Protestanten „gegen jede Anmaßung einer unbequemen und unrechtmäßig scheinenden Gewalt über das Gewissen" protestierten, um gleich danach ihnen vorzuwerfen, dass sie das „notwendige Resultat ihres Prozesses" vergaßen, und das „Untrennbare" trennten, und „sich frevelnd aus dem allgemeinen christlichen Verein" rissen (HKA 3, 511). Wenn also der in Novalis' Schilderung durchaus berechtigte revolutionäre Protest der Lutheraner die Auflösung der Einheit nach sich zog, dann ist dies ein „notwendiges Resultat". Dass diese jedoch diese unumgängliche dialektische Folge „vergaßen", ist nicht so sehr als kritischer Einwand des Autors im Namen einer Einheitsutopie zu verzeichnen, sondern als der ironische Kommentar zu einem geschichtlichen Verlauf, der immer am Ende etwas anderes produziert, als der Wille einzelner Gruppen und Individuen auf denselben projiziert. Ähnlich verhält es sich mit dem Willen der französischen Revolutionäre, die, wie Novalis prophezeit, mit ihrem Umsturz das Gegenteil von dem, was sie anstrebten, erreichen werden:

„Daß die Zeit der Auferstehung gekommen ist, und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen und ihren Untergang zu vollenden drohten, die günstigs-

Regeneration geworden sind, diese kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungselement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor."

ten Zeichen ihrer

(HKA 3, 517) Der Höhepunkt der säkularisierten Entwicklung, die Französische Revolution nämlich, erscheint zugleich als eine Chance für die Erneuerung religiöser Energien. Die Widersprüchlichkeit der Geschichte zeigt sich darin, dass sie anscheinend immer eine zu der von ihren Akteuren erwünschten konträre Wendung nimmt. Die Ohnmacht der politischen Subjekte und die nicht hintergehbare Übermacht der Geschichte wird im Sisyphus-Bild überdeutlich:

„Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer nicht wie Sisyphos vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht und schon rollt die mächtige Last auf der anderen Seite wieder herunter." (HKA 3, 517)

An einer anderen Stelle gibt es eine weitere konkrete Einlassung zu dem Wesen der Geschichte. Dort spricht Novalis davon, dass Zeiten einer „Oszillation", dem „Wechsel entgegensetzter Bewegungen" ausgesetzt sind, dass weiterhin diesen Bewegungen eine „beschränkte Dauer eigentümlich ist", dass also bestimmte Phänomene durchaus ver-

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis'

.Christenheit oder Europa'

159

schwinden können, wobei sich aber Novalis beeilt nachzutragen, dass sie auch einer „Auferstehung" oder „Verjüngung" fähig sind. „Was jetzt nicht die Vollendung erreicht", sagt er, „wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen oder bei einem abermaligen; vergänglich ist nichts was die Geschichte ergriff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Gestalten erneuert wieder hervor." (HKA 3, 510) Die Geschichte verdrängt ihre vergangenen Einzelmomente nicht, ganz im Gegenteil; was einmal in der Geschichte, war, könnte jederzeit wieder vorkommen, wenn auch in einer anderen Gestalt. Bemerkenswert scheint, dass Novalis dafür keine Wiederholungsregel anführt. Bei seinem Geschichtsbild handelt sich eben nicht um ein zyklisches. Er vergleicht die Geschichte mit einer sich immer vergrößernden „Evolution", wobei diese Vergrößerung in Novalis Sinne als eine Erhöhung der Vielfalt der Möglichkeiten für die Zukunft zu verstehen ist. Die Komplexitätssteigerung, und nicht ein geradliniger Verlauf hin auf einen Stillstand25 im goldenen Zeitalter, ist das wesentliche Merkmal des Geschichtsbildes des Novalis. Insofern wird der Zufall als Einzelereignis nicht nur nicht wahrscheinlich, sondern geradezu zur Regel des geschichtlichen Prozesses. Die einzig angemessene geschichtliche Darstellung ist, wie in der Europa-Schrift vorgeführt, eine solche, in der die Perspektive wechseln muss, auf dass nicht nur die unmittelbaren Ereignisse, sondern auch ihr oft entgegengesetztes „notwendiges Resultat" gesehen werden. Der unendlichen „Buntheit" des Geschehens muss auch ein vielseitiger Blick und eine bis zur Paradoxie durchmischte Sprache zur Seite gestellt werden.

4. Dem Geschichtsbild Novalis' in der Europa-Schrift ist mit den Erklärungsschemata des Utopismus und Chiliasmus, zumindest im gewöhnlichen Sinne dieser Begriffe, nicht beizukommen. Es sollte ein alternativer Zugang erwogen werden, auch wenn er hier zwangsweise skizzenhaft ausfallen muss und noch eine ausführlichere Ausarbeitung erfordert. Zunächst sollte die These aufgegeben werden, in Novalis' Auseinandersetzung mit der Geschichte äußere sich die Überwindung des transzendentalphilosophischen Standpunktes hin zu einem poetisch verklärten objektivistischen Positivismus. Es gibt nirgendwo Anzeichen, dass die Geschichte bei Novalis als eine abgetrennte vom Ich GülErnst Behler postuliert daher in seinem Aufsatz .Unendliche Perfektibilität Goldenes Zeitalter. Die Geschichtsphilosophie Friedrich Schlegels im Unterschied zu der von Novalis', in: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mahl zum 65. Geburtstag, hg. von K.-D. Müller u. a., Tübingen 1988, 138-158 eine falsche Alternative, die sich im Falle Novalis' auf Mahls These von dem chiliastischen Geschichtsbild stützt. -

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Vahidin Preljevic

tigkeit hat, was freilich ihren Eigenwert nicht mindert, ganz im Gegenteil. Es ist dabei wichtig, zu betonen, dass Novalis fast immer auch dort, wo er dies nicht ausdrücklich hervorhebt von der Geschichtsschreibung als von einem aktiven Umgang mit der Vergangenheit spricht. In einem Blüthenstaub-Fragment kommt das deutlich zum Aus-

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druck: „Der Geschichtsschreiber organisirt historische Wesen. Die Data der Geschichte sind die Masse, der der Geschichtsschreiber Form giebt durch Belebung. Mithin steht auch die Geschichte unter den Grundsätzen der Belebung und Organisation überhaupt und bevor nicht diese Grundsätze da sind, gibt es auch keine echten historischen Kunstgebilde sondern nichts, als hie und da. Spuren zufälliger Belebungen, wo unwillkürliches Genie gewaltet hat." (HKA 2, 455, Nr. 93) -

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Hier spielen also die noch aus den Fichte-Studien bekannten Reflexionen über Stoff und Form nach wie vor eine Rolle. Die unartikulierte Masse des Vergangenen, das „Chaos" wird erst durch den Akt der „Abstrakzion" (HKA 2, SW. 455 f., Nr. 95) zu einem „Kunstgebilde", das sich an Grundsätzen der (poetischen) „Belebung" durch die Einbildungskraft und der (philosophischen) „Organisation" durch Begriffe zu orientieren hat. Die Geschichte als Resultat der Geschichtsschreibung ist ein poetisch-philosophisches Konstrukt. In einer anderen Notiz aus den Hemsterhuis-Studien wird dieses wechselseitige Verhältnis noch expliziter: „Geschichte Philosophie Poesie Die Erste schafft an, die 2te ordnet und erklärt / Die Dritte hebt jedes Einzelne durch ausgesuchte Kontrastierung mit dem übrigen Ganzen" (HKA 2, 372, Nr. 32). Die Geschichte im Rohzustand, das „Unwillkürliche" vor dem Akt der immer philosophisch-poetischen Geschichtsschreibung, ist also eine Stoffmasse des Realen, die Materialien liefert für die Formgebung durch den Geist der Gedankengang ist analog den in den Fichte-Studien vorgenommenen Reflexionen über die Beziehung von Bewusstsein und Sein. Das „Nur-Seyn oder Chaos" entspricht auf dieser Ebene der Betrachtung der „Data", der „Masse" und den „Spuren" der Geschichte vor dem Akt der Geschichtsschreibung. Dieser jedoch stellt für den Novalis der Fichte-Studien kein Sein mehr dar, sondern ein „Seyn außer dem Seyn", das kein „rechtes Seyn" mehr ist, sondern „ein Bild". (HKA 2, 106, Nr. 2). Auch die artikulierte Geschichte wäre in dem Sinne ein solches „Bild des Seyns im Seyn". (ebd.). Andererseits jedoch ist das Bewusstsein in Novalis kritischer Auseinandersetzung mit der Fichteschen Philosophie ein Bewusstsein, das nur möglich ist, soweit es auf das Sein bezogen ist. Zu Recht bemerkt 27 Manfred Frank, dass das Bewusstsein bei Novalis nur als Intentionalität existiert. Auch sein Sein ist außerhalb seiner selbst, d. h. wiederum ein Bild. Novalis gelangt im Laufe der Fichte-Studien zu der Einsicht in die unhintergehbare Zeichenhaftigkeit allen -

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Siehe zum Begriff des Willkürlichen / Unwillkürlichen die Hemsterhuis-Studien, u.a. Nr. 18, HKA 2, 361. M. Frank, „Unendliche Annäherung". Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt/M. 1997, 804.

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis'

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.Christenheit oder Europa'

mittelbar oder medial zugänglich ist. Das Geschichtliche ist also das Bild und Zeichen des Seinsbewusstseins, damit als „Welt" ein „Universaltropus des Geistes, ein symbolisches Bild desselben", wie es in den Teplitzer Fragmenten heißt (HKA 2, 600, Nr. 30). Und unmittelbar im Anschluss an das oben zitierte Geschichtsschreibungs-Fragment in der Blütenstaub-Sammlung hält Novalis fest:

Seins, das also immer

nur

„Das erste Genie, das sich selbst durchdrang, fand hier den typischen Keim einer unermeßlichen Welt es machte eine Entdeckung, die die merkwürdigste in der Weltgeschichte sein mußte denn es beginnt damit eine ganz neue Epoke der Menschheit und auf dieser Stufe wird erst wahre Geschichte aller Art möglich denn der Weg, der bisher zurückgelegt wurde, macht nun ein eigenes, durchaus erklärbares Ganze aus." (HKA 2, 455, Nr. 94) -

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erst auf der Ebene der Selbstdurchdringung. Auch die Idee vom Goldenen Zeitalter steht bei Novalis im unmittelbaren Zusammenhang mit der transzendentalphilosophischen Bestimmung des Geschichtlichen und ist wie diese nur in der Logik der Reflexion des Seinsbewusstseins und vor allem der Behandlung des Absoluten zu verstehen. Das erkennt zwar Mahl in seiner Studie auch an, indem er die Idee auch in den philosophischen Studienheften verfolgt, doch liegt der grundsätzliche Fehler darin, zu verkennen, dass Novalis sich wie nicht zuletzt Frank dargestellt hat schon sehr früh von Fichte emanzipiert hat und eigene Wege gegangen ist. Seine eigenständige Weiterführung und komplexe Überwindung des Fichteschen Ansatzes, nicht zuletzt unter Einsatz eines originär entwickelten Prinzips des ordo inversus, führte auch zu einer eigentümlichen Bestimmung des Absoluten als einem binnendifferenzierten Sein. Novalis strebte daher keineswegs eine Vernichtung des Nicht28 Ich im Absoluten an, sondern hielt das Absolute ganz im Gegenteil für letztendlich 29 unerreichbar. Schon früh gab Novalis die Ambition auf, einen Erkenntnisweg zu dem Unbedingten zu bahnen; er bestand sogar darauf, dass es ein solches Unbedingtes und Absolutes gar nicht geben kann, hielt dieses aber nach wie vor für eine notwendige regulative Idee. Ein Erreichen des Absoluten, d. h. eines nicht weiter differenzierten einheitlichen Seins, hielt Novalis nicht nur für unmöglich, sondern sogar für unerwünscht, da dies das Ende jedes Erkennens und somit auch das Ende des Ich und allen Seins 30 wäre. Was für das Ich gilt, gilt auch für die Geschichte. Daher kann das Geschichtsverständnis des Novalis nicht wirklich von der Idee des Goldenen Zeitalters als einer Utopie der Einheit geprägt worden sein. Die Einheitsmetaphorik zu Anfang der Christenheit oder Europa bezieht sich nicht auf ein wirkliches geschichtliches oder ein ernsthaft anzustrebendes zukünftiges Sein. Wohl deswegen

„Wahre Geschichte" ist möglich

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Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters, 299. Frank, .Unendliche Annäherung', 854. „Inwiefern erreichen wir das Ideal nie? Insofern es sich selbst vernichten würde. Um die Wirkung eines Ideals zu thun, darf es nicht in der Sfäre der gemeinen Realität stehn. Der Adels des Ich besteht in reyer Erhebung über sich selbst folglich kann das Ich in gewisser Rücksicht nie absolut erhoben seyn denn sonst würde seine Wirkcksamkeit, Sein genuß i. e. sein Sieg kurz das Ich selbst würde aufhören." (HKA 2, 259, Nr. 508) -

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wird sie, wie wir oben gezeigt haben, nur als Oberflächenbild inszeniert und nicht als Tiefenstruktur aufgefasst. Diesen Widerspruch demonstriert auch Novalis, wie wir gesehen haben, in einer ironisch-komischen Darstellungsweise. Die Unerreichbarkeit des Ideals wird gerade an dem an das Mittelalterbild angelehnten Einheitsmythos demonstriert. Keine Auflösung der Widersprüche erwartete sich Novalis von der Entwicklung der Menschheit. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte" wäre Novalis sicherlich fremd gewesen. Aus seinen Äußerungen zum „Goldenen Zeitalter" darf vielmehr der ästhetische Als-ob-Modus nicht ausgeschaltet werden; die Unerreichbarkeit dieses Zustands als ein notwendiger Bestandteil der utopischen Rede, die man paradoxal nennen kann, muss begriffen werden. Dagegen fallen gerade an vielen Einlassungen zur Geschichte bei Novalis vor allem zwei Strukturprinzipien auf: die prinzipielle Unabgeschlossenheit und die ständige Verwandlungsfähigkeit der geschichtlichen Phänomene, sowie die dialektische Beziehung zwischen beiden. Diese Figuren lassen sich ebenfalls in einen engen Zusammen31 des Absoluten wie auch der Unendlichkeit bei Thematisierung hang mit der früheren 32 Friedrich Schlegel bringen. Die Unendlichkeit ist von einem unaufhörlichen Wechsel gekennzeichnet, der nirgendwo zu einem Stillstand kommt und auch von keiner endgültigen Synthese abgelöst werden kann. Auch die Geschichte, wie das Ich und wie die Natur, ist eine Entsprechung dieses Unendlichen. Eine teleologische Ausrichtung ist nicht zu erkennen. In der Europa-Schrift spricht Novalis deswegen den Menschen die Fähigkeit ab, der Geschichte wie auch der Menschheit irgendeinen Zweck aufzuzwingen: „O! daß der Geist der Geister euch erfüllte, und ihr abließet von diesem thörichten Bestreben die Geschichte und die Menschheit zu modeln und eure Richtung ihr zu geben, Ist sie nicht selbständig, nicht eigenmächtig, so gut wie unendlich liebenswerth und weissagend? Sie zu studiren, ihr nachzugehn, von ihr zu lernen, mit ihr gleichen Schritt zu halten, gläubig ihren Verheißungen und Winken zu folgen daran denkt keiner." (HKA 3, 518). -

Siehe dazu U. Zeuch, Das Unendliche. Höchste Fülle oder Nichts? Zur Problematik von Friedrich Schlegels Geist-Begriff und dessen geistesgeschichichtlichen Voraussetzungen, Würzburg 1991; M. Enders, ,Das romantische Unendlichkeitsverständnis Friedrich Schlegels', in: Deutsche Vierteljahresschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 14 (2000), 45-83; E. Behler, ,Zum Verhältnis von Hegel und Friedrich Schlegel in der Theorie der Unendlichkeit', in: ders., Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn u.a. 1993, 119-141. Vgl. F. Schlegel, Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. E. Behler u.a., Paderborn u.a. 1958ff., Bd. 18, 277 f.: „Das Unendliche ist reines Werden. Hierin gründet der nur scheinbare Widerspruch, daß die eine Idee in zwei aufgespalten sei, nämlich ,die Idee der unendlichen Einheit und die Idee der unendlichen Fülle'. Einheit und Fülle zeigen die dem Unendlichen an sich selbst wie als Idee wesentlich eigentümliche, immanente Gegensätzlichkeit an. Der aktuale Bezug zwischen den Gegensätzen ist allererst der Grund endlosen Werdens, und dieser ist mithin nichts anderes als der unaufhörliche Wechsel zwischen beiden."

Das antiteleologische Geschichtsbild in Novalis' ,Christenheit oder Europa'

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Selbständigkeit, Eigenmächtigkeit und unendliche Liebenswürdigkeit -; es ist ein geradezu antiteleologisches Geschichtsbild, das die Komplexität und Widersprüchlichkeit nicht reduziert, sondern zum grundlegendsten Prinzip des Geschichtlichen erhebt. Gerade die Europa-Schrift legt ein beredtes Zeugnis davon ab.

Heinz Kimmerle (Zoetermeer)

Die demokratische Intention und ihre friedensfördernde Bedeutung bei Kant, Hegel, Derrida und in der Afrikanischen Philosophie1

Krieg

und Frieden sind geschichtliche Phänomene. Sie nehmen in der Geschichte imwieder neue Gestalten an. Übergeschichtlich, im Wesen des Menschen verankert, ist die Sehnsucht nach Frieden. Sie führt unter bestimmten gesellschaftlich-geschichtlichen Bedingungen zu theoretischen und praktischen Bemühungen, den Krieg zu bekämpfen. Es ist mehr als fraglich, ob die Sehnsucht nach Frieden je erfüllbar und der Kampf gegen den Krieg je siegreich sein wird. Dabei ist zu beachten, dass Frieden nicht Spannungslosigkeit bedeutet und dass Krieg, wie das Beispiel Hegels zeigt, als ein nicht nur unvermeidlicher, sondern sogar wünschenswerter Ausdruck der Negativität, die immer zum menschlichen Leben gehört, im Verhältnis der Staaten zueinander aufgefasst werden kann. Im Folgenden wird es eine wichtige Frage sein, was es mit der Negativität im menschlichen Leben auf sich hat, inwieweit sie womöglich von Hegel falsch oder zu sehr in einem universalen Sinn aufgefasst worden ist, so dass sie ihn zu der erwähnten Einschätzung des Krieges bringen konnte. In der Konzeption eines ewigen Friedens, wie Kant sie vertritt, wird umgekehrt die Bedeutung der Negativität im politischen Leben vielleicht zu gering veranschlagt worden sein. Die Geschichte ist seit seinem Aufsehen erregenden Text Zum ewigen Frieden um nichts weniger kriegerisch verlaufen. Dementsprechend wird es nicht ausreichend sein, die Bedeutung der Negativität in der Politik und im menschlichen Leben überhaupt gegenüber der Auffassung Hegels einfach nur zurück zu stufen. Neben Negativität und Gegensätzen sind im politischen Leben auch (Gast-)Freundschaft und Differenz ins Spiel zu bringen. In dieser Frage werde ich mich auf Derrida beziehen. Er bringt jedoch bei aller Kritik die europäisch-westliche Form der Demokratie zu sehr in die Nähe der différance, die mehr ist als Gegensätzlichkeit und die den konkreten Formen politischen Lebens vorausliegt. Nach dem Ende des ,Kalten Krieges' ist die Demokratie europäisch-westlichen Stils zum Muster für alle anderen Teile der Welt erhoben worden. Die afrikanischen Philosophen bringen demgegenüber von der Tradition des politischen Geschehens in ihren Völkern aus ganz andere Vorstellungen ins Spiel, denen eine demokratische Intention nicht abzusprechen ist. Im Zeitalter der Globalisierung und des Neoliberalismus sind mer

Eine ausführlichere Fassung dieses Beitrags ist in dem Band H. Kimmerle, Rückkehr ins Die interkulturelle Dimension in der Philosophie, Nordhausen 2006, 53-83, erschienen.

Eigene.

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Heinz Kimmerle

alle Dimensionen der Wirksamkeit dieser Intention aufzubieten, um ihre friedensfördernde Bedeutung so stark wie möglich zu machen. Ich werde abschließend die Frage stellen, was die Philosophie zu ihrer Stärkung beitragen kann. Was ich hier demokratische Intention nenne, die in allen erwähnten politischen Konzeptionen wirksam ist, aber in keiner von ihnen eine adäquate Ausgestaltung bekommt, ist in dem doppelten Genetiv der Formulierung ,Regierung des Volkes' zusammengefasst. Damit wird sowohl eine Regierung durch das Volk als auch eine Regierung für das Volk zum Ausdruck gebracht. In der englischen Sprache steht hierfür eine sehr viel einfachere Formel: government of the people and for the people. Sie richtet sich auf das Handlungsziel, so viele Mitglieder des Volkes wie möglich an den politischen Entscheidungen mitwirken zu lassen, von denen zugleich sicher gestellt wird, dass sie dauerhaft dem Wohl des Volkes dienen. Dabei ist das Volk nicht notwendigerweise als das Volk eines nationalen Staates zu bestimmen, da dieser selbst als eine geschichtliche und das heißt vorübergehende Erscheinungsform politischer Ordnungsmacht und der damit verbundenen Souveränität zu gelten hat. Die demokratische Intention ist prinzipiell und überall auf die Vermeidung von Krieg und auf andere Mittel der Konfliktlösung gerichtet.

1. Die Aufdeckung einer demokratischen Intention in der politischen Philosophie Kants und Hegels Die politischen Auffassungen Kants, wie er sie in einer Reihe von Texten aus den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts formuliert hat, weisen bekanntermaßen mehrere innere Unstimmigkeiten auf. Das gilt auch für die Schrift Zum ewigen Frieden aus dem Jahr 1794. Diese Schrift ist bei ihrem Erscheinen relativ wenig beachtet worden, hat aber nach dem Ersten Weltkrieg und noch stärker nach den Zweiten mit der außerordentlichen Steigerung des Vernichtungspotentials der verfügbaren Waffen umfangreiche und tiefgehende Diskussionen ausgelöst. Sie ist zu einer Art Gründungsdokument der Friedensforschung geworden, die Ende der 1960er Jahre zur Blüte kam und sich später in Friedens- und Konfliktforschung umbenannte, um den Realitäten des politischen Lebens besser Rechnung zu tragen. In den genannten Diskussionen sind die Unstimmigkeiten in der Kantischen politischen Philosophie nicht übersehen worden. Eine wichtige innere Unstimmigkeit zeigt sich darin, dass Kant grundsätzlich die konstitutionelle Monarchie für die beste Staatsform hält, in seinem Enthusiasmus für die Französische Revolution und auch in der Friedensschrift jedoch für die Republik plädiert. Im Kontext der Friedensschrift widersprechen sich ferner die Konzeption der vollen nationalstaatlichen Souveränität und der Gedanke eines internationalen Rechts, an das auch die Nationalstaaten gebunden sind, ohne dass die Verfassung einer internationalen Staatlichkeit entworfen wird.

Die demokratische Intention und ihre friedensfördernde Bedeutung

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Der zuletzt genannte Widerspruch schwächt auch das Kernargument der Begründung des zu erwartenden ewigen Friedens. Die Analogie zwischen dem innerstaatlich befriedeten, rechtlich fundierten Zustand in einem republikanischen Verfassungsstaat und den Verhältnissen solcher Staaten unter einander. Das müsste nach Kant zu „einem Föderalismus freier Staaten" führen, die sich in einer Weltrepublik zusammenschließen. Ein „Völkerstaat", der die „positive Idee einer Weltrepublik" in die Wirklichkeit umsetzt, ist aber, wie Kant bedauernd feststellt, von der zu seiner Zeit herrschenden Auffassung des Völkerrechts nicht gewollt. Unter den bestehenden Verhältnissen bleibt nach der Darstellung Kants nur „das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden" Staatenbundes. Von der Wirksamkeit dieser Instanz ist er selbst nicht sehr Nach Kant ist der befriedete rechtlich fundierte Zustand, den er innenpolitisch für die Staaten Europas seiner Zeit konstatiert, aus dem „regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Welttheile" hervorgegangen. Die Ausbreitung dieses Zustandes auf die zwischenstaatlichen Beziehungen, die den ,ewigen Frieden' ermöglichen soll, bedeutet dann, dass Europa „wahrscheinlicher Weise allen anderen" Teilen der Welt „dereinst Gesetze geben wird". Derrida hat erkannt, dass sich der Kosmopolitismus Kants an dieser Stelle in einen „eurozentrischen Diskurs" verstrickt.4 Trotzdem gilt es festzuhalten, dass die „positive Idee einer Weltrepublik" im Blick auf die damit anvisierten weltweiten friedlichen Verhältnisse eine demokratische Intention enthält. Wenn wir nun einige Bemerkungen zu Hegels politischer Philosophie machen, zeigt sich, dass diese in der Friedensfrage zu ganz anderen Auffassungen kommt. Man wird nichtsdestoweniger auch hier von einer demokratischen Intention sprechen können. Das gilt insbesondere von Hegels Darstellung des .inneren Staatsrechts'. Darin zeigt sich, ( 1 ) dass nach seiner Auffassung im modernen konstitutionellen Staat die äußeren Institutionen des Staatsrechts und die innere Zustimmung der Bürger zusammen gehören und (2) dass ein Gleichgewicht zwischen den Kräften von oben (fürstliche Gewalt und Regierungsgewalt) und von unten (Volksvertretung und öffentliche Meinung) angestrebt wird. Es ist kein Zweifel, dass diese Konzeption darauf zielt, die Freiheit der einzelnen Bürger auch institutionell zu sichern. Eine erhebliche Schwierigkeit entsteht durch die Äußerungen Hegels zur innenpolitischen Wünschbarkeit von Kriegen. In einer ganzen Reihe von Passagen seines Werkes aus sehr verschiedenen Zeiten seiner Denkentwicklung erklärt Hegel gelegentliche Kriege innenpolitisch für wünschenswert. Sie sorgen dafür, dass die Bürger nicht selbstzufrieden und den gemeinsamen Interessen gegenüber gleichgültig werden. Sie

überzeugt.2

I. Kant, Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 8, 357. Ebd., 29. J. Derrida, Le droit à la philosophie du point de vue cosmopolitique, Paris 1997, 27-31; ders., Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!, Paris 1997, 50-58. H. Kimmerle, .Demokratische Intention und praktische Demokratie. Ansätze zur Analyse und Kritik der gegenwärtigren Demokratisierungsbewegung', in: Hegel-Jahrbuch 1993/1994, Berlin 1995, 326-332.

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Heinz Kimmerle

spielen im Leben der Völker die Rolle der Negativität, die allenthalben in der Natur und im menschlichen Leben Dynamik und Fortentwicklung hervortreibt. Hegel kommt auf diesen Gedanken unter der Voraussetzung der geschichtlichen Formen von Kriegen, die in seiner Zeit üblich waren und in denen so etwas wie relativ humane Bedingungen der Kriegführung eingeführt worden sind. Aber er wendet das Prinzip der Negativität, das in der Natur und in der menschlichen Welt eine kaum zu unterschätzende Bedeutung hat, zu wenig (selbst)kritisch an und kommt nicht zu differenzierteren Einschätzungen bestimmter natürlicher und gesellschaftlich-geschichtlicher Prozesse. Wenn es um die Bedeutung des Krieges im zwischenstaatlichen Verhältnis und die Möglichkeit seiner Vermeidung geht, widerspricht Hegel ausdrücklich der These Kants von dem zu erwartenden ,ewigen Frieden'. Dies mag ein Zeichen dafür sein, dass die demokratische Intention in Hegels politischer Philosophie weniger stark ist als in Kants Denken, das neben den rechtlichen Bedingungen auch moralische Impulse für die Erreichung eines dauerhaften Friedens aufbietet. Aber es zeugt zugleich von einem größeren Realitätsgehalt der Hegelschen Philosophie, wenn er die Erwartung eines ,ewigen Friedens' als nicht erfüllbar betrachtet. Es gibt nach seiner Auffassung keine Instanz, die gegenüber den souveränen Staaten eine Friedenspflicht garantieren und notfalls erzwingen kann. Die Geschichte nach Kant und Hegel scheint dem letzteren in dieser Frage Recht zu geben. Eine konsequent durchgehaltene demokratische Intention würde indessen dazu führen, trotz dieser Einschätzung der politischen Realität alle Kräfte auf die Vermeidung von Kriegen zu richten.

2. Die Kritik der heutigen europäisch-westlichen Demokratie auf der Grundlage der „Idee" einer „kommenden Demokratie" bei Derrida Die heutigen europäisch-westlichen Staaten nennen sich selbst demokratisch und verbinden damit den Anspruch, dass der Typus von Demokratie, der sich in ihnen historisch herausgebildet hat, als die einzig adäquate Verwirklichung der demokratischen Intention zu gelten hat. In der Tat hat dieser Typus von Demokratie etwas Besonderes. Er erweist seine Stärke darin, dass er für Kritik an den jeweiligen Beschlüssen und auch an der Staatsform selbst offen ist. Nach der Auffassung Derridas hat er die „Fähigkeit zu unendlicher Selbstkritik".

G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von J. Hoffmeister, 285 (§ 333, Anmerkung). J. Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt/M. 2006, 46.

Hamburg 41967,

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Im Sinne seiner politischen Philosophie im Allgemeinen ist es für Derrida wichtig, dass auch in der Demokratie Herrschaft ausgeübt wird, dass das kratein des demos auch ein kratein über den demos oder jedenfalls über einen Teil des demos ist. Auch die demokratischen Staaten müssen, um Staaten zu sein, Souveränität beanspruchen. Die Herrschaft in der Demokratie ist unter anderem deswegen vor dem Abgleiten in Willkür und Ungerechtigkeit geschützt, weil sie Herrschaft auf Zeit ist. Dass „man abwechselnd regiert wird und regiert", gehört zu der Freiheit, die die Demokratie gewährt. Und die Gleichheit der Mitglieder des Staates wird durch das Prinzip der Zahl ermöglicht. Die Abschaffung der Adelsprivilegien in der Französischen Revolution bedeutet, dass jeder die gleiche Stimme hat. Am Beispiel Algeriens, des Landes aus dem Derrida kommt, zeigt sich indessen eine tiefgehende Ambivalenz heutiger demokratischer Politik. An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Demokratie es für nötig erachten kann, den „Aufstieg eines für antidemokratisch gehaltenen Islamismus" durch den „Abbruch eines formell demokratischen Wahlvorganges" zu verhindern. Darin zeigt sich der von Derrida immer wieder hervorgehobene „autoimmunitäre", das heißt zugleich selbsterhaltende und selbstzerstörerische Charakter der Demokratie. Die bestehende europäisch-westliche wie jede mögliche andere Demokratie ist nicht die „wahre und echte Demokratie", die wirklich „mit der Idee der Demokratie in Einklang" steht. Woran die bestehende Demokratie zu messen ist, was ihr ihre Kraft gibt, heißt bei Derrida démocratie à venir, eine Demokratie, die im Kommen ist und im Kommen bleibt, kurz eine „kommende Demokratie". Die „kommende Demokratie" bedeutet in Hinsicht auf die bestehende, was in einem allgemeineren Sinn von der différance und ihrer Bedeutung für jegliches Denken gesagt wird. Sie ist ein „Verweis auf das andere und den anderen". Sie steht für die „unleugbare... Erfahrung der Andersheit des anderen, des Heterogenen, Singulären, Nicht-selben, Verschiedenen, der Asymmetrie und Heteronomie". Andersheit muss dabei nicht Gegensatz bedeuten, der zwischen Staaten nur durch Krieg aufgelöst werden kann. Sie steht für ein in sich gegliedertes Bedeutungsfeld von Unterschieden, zu denen entsprechende politische Handlungsmuster gehören. Dieser politische Aspekt war immer schon in der différance mitgedacht, von der es indessen in der Wirklichkeit allenfalls Spuren gibt, genauer gesagt: Spuren, die sich selbst wieder auswischen. Deshalb gilt auch von der kommenden Demokratie, dass es von ihr „immer nur Spuren" gibt, aber umgekehrt auch, dass es „immer Spuren von Demokratie" gibt. Damit „ist jede Spur eine Spur von Demokratie", wie sie eine Spur der différance ist.9 In ausführlichen Erörterungen im Anschluss an Carl Schmitt und vor allem an Heidegger macht Derrida deutlich, dass zu diesen Spuren der kommenden Demokratie zwar Kampf gehört, aber nicht Krieg (oder Kriege welcher Art auch immer: Kriege zwischen

Ebd., 54-58. Ebd., 61-63.

Heinz Kimmerle

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Staaten, Bürgerkriege, Partisanenkriege, Kriege gegen Terrorismus). Der Gedanke einer „Demokratie im Kommen" erweist sich als eng verwandt mit dem Motiv einer demokratischen Intention', wie es oben umschrieben worden ist. Wenn von dieser Grundlage aus die heutige europäisch-westliche Demokratie kritisiert oder sogar dekonstruiert wird, verdienen die Vereinigten Staaten von Amerika im Guten wie im Bösen besondere Beachtung. Einerseits besteht in ihnen traditionell eine „weitgehend demokratische Kultur und Rechtsordnung", so dass sie „sich Immigranten öffnen und ihnen ihre verletzliche Seite darbieten" konnten. Sie bildeten ein Musterbeispiel für demokratische Brüderlichkeit. Andererseits bot dies „Flugschülern, erfahrenen und ihrerseits selbstmörderischen Terroristen'" die Gelegenheit, sich „auf dem souveränen Boden der Vereinigten Staaten" auf ihren Angriff auf die beiden Türme des World Trade Center vorzubereiten. Die amerikanische Demokratie wendet sich so gewissermaßen gegen sich selbst. Auch hier tritt der autoimmunitäre Charakter der Demokratie deutlich zutage. Es kommt indessen in den USA zu einer Verkennung oder einem Vergessen dieses doppelten Charakters der Demokratie. Das dokumentiert sich in der Sprache, indem die politischen Führer der Vereinigten Staaten im Blick auf eine Reihe von Staaten, die zur „Achse des Bösen" gehören, von „Schurkenstaaten" (rogue states) sprechen. Dieser Terminus ist nicht zum ersten Mal von Präsident George W. Bush gebraucht worden, sondern schon von seinem Vorgänger Clinton und der Intention nach auch schon von Reagan. So zeigt sich, dass es hierbei um eine innere Problematik der amerikanischen Demokratie geht. Dementsprechend sind schon vor Bush und den Kriegen gegen Afghanistan und hak „Lybien... und der Sudan als Schurkenstaaten bombardiert worden". Kuba, Nikaragua, Nordkorea und der Iran stehen ebenfalls auf der Liste der so genannten Schurkenstaaten, während „Indien und Pakistan" mit ihrer amerikafreundlichen Politik „trotz ihrer gefährlichen Disziplinlosigkeit in der Atomwaffenfrage" nie als solche klassifiziert worden sind. Derrida macht ausführlich klar, dass ein Schurke ist, wer sich außerhalb der Rechtsordnung stellt und nach eigenen, vor anderen nicht zu verantwortenden Prinzipien handelt. Für seine Dekonstruktion des Begriffs Schurkenstaat' bezieht er sich auf die Anklageschrift Noam Chomskys, Rogue States. The Rule of Force in World Affairs (Cambridge, MA 2000). Darin wird scharf kritisiert, dass die amerikanische Weltpolitik seit dem Endes des ,Kalten Krieges' und dem Einsturz der Machtsphäre der Sowjetunion, wonach die USA als einzige Supermacht übrig blieb, zunehmend unilateral, ohne Mitwirkung und Mitverantwortung anderer europäisch-westlicher Staaten oder der Vereinten Nationen betrieben wird. Wenn dann ein Schurkenstaat so definiert wird, dass ein solcher Staat ist, „von welchem auch immer die Vereinigten Staaten sagen, er sei es", erweisen sich diese selbst eben dadurch als ein Schurkenstaat, der sein Handeln vor ,

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Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2000, 413-492. Ebd., 61-64.

J.

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legitimiert. In der selbstgewählten Stellung gänzlich außerhalb geteilter Verantwortung kann er schließlich als der „schurkischste der Schurkenstaaten" beanderen nicht

zeichnet werden. Diese Kritik nimmt Derrida auf, indem er konstatiert: „Der erste und 12 gewalttätigste rogue State" sind „die USA." Seither ist die Bush-Administration in ihrer zweiten Amtsperiode weniger offensichtlich durch unilaterale Beschlüsse und Kriege gekennzeichnet. Das ändert freilich nichts an dem grundsätzlichen Problem. Wie in dieser Situation tendenziell die beste Friedenssicherung oder wenigstens Vermeidung bewaffneter Konflikte aussieht, ist indessen schwer zu sagen. Die Erwartung eines .ewigen Friedens', die Kant mit der Möglichkeit einer weltweiten Ausweitung der republikanisch verfassten, im Inneren befriedeten europäischen Staaten konzipiert hat, lässt sich nach Derrida nicht auf die heutigen europäisch-westlichen demokratischen Staaten übertragen. „Bis heute ist Demokratie ein nationales und innerstaatliches politisches Ordnungsmodell, das die Grenzen des Staatswesens nicht überschreitet." Abgesehen davon, dass die Kantische „Weltrepublik [...] keine Demokratie ist" und die Funktion eines „Staatenbundes" und seiner Organisationen von Gebilden wie den Vereinten Nationen oder dem Weltwährungsfonds nicht übernommen werden können, kann man von der Bedeutung der Demokratie für die „zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Beziehungen, Rechtsverhältnisse und Institutionen" doch so viel sagen, dass auch sie „im Kommen" ist und dass sie „als kommende noch ganz und gar aussteht". Damit positioniert sich Derrida zwischen Kant und Hegel. Er zweifelt an der wirksamen Funktion bestehender Institutionen des internationalen Rechts oder sonstiger überstaatlicher Autoritäten, aber er bezieht ihre Möglichkeit in Betracht, indem er sie wie die Demokratie, freilich stärker noch als diese als „im Kommen" charakterisiert. Meine Frage ist jedoch, ob er damit nicht demselben Eurozentrismus verfällt, den er bei Kant kritisiert hat. Die kommende Demokratie und mit ihr die kommenden Institutionen internationalen Rechts gehen von einer Vorstellung von Demokratie aus, die am europäisch-westlichen Modell dieser Staatsform orientiert ist. Dass sich dieses DemokratieModell in einer Phase des Niedergangs befindet, hat Derrida selbst am Beispiel der unilateralen Weltpolitik der USA deutlich genug aufgezeigt. Seine diesbezügliche Analyse lässt sich erhärten und erweitern, indem der Nachweis geführt wird, dass die demokratische Intention auch in ganz anderen politischen Verhältnissen als den westlich-europäischen anzutreffen ist, zum Beispiel in Verhältnissen, wie sie in der afrikanischen politischen Philosophie thematisiert werden. -

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Ebd., 135-137.

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Heinz Kimmerle

3. Der Nachweis einer demokratischen Intention in der afrikanischen politischen Philosophie Nach dem Fall der Mauer in Berlin im Jahr 1989 und dem damit signalisierten Ende des ,Kalten Krieges' scheint eine Überwindung der diktatorischen Regierungsform im sozialistisch-kommunistischen Ostblock durch die Demokratien der westlichen Welt gesah damals definitiv das ,Ende der Geschichte' im Sinne Helungen zu sein. Fukuyama 13 führt in den Debatten der parlamentarischen Für Habermas gels gekommen. Demokratie ein Austausch rationaler Argumente zu den politischen Entscheidungen. Darin zeigt sich eine Übereinstimmung dieses politischen Systems mit den universalen Voraussetzungen der „prozeduralen Vernunft". Deshalb muss sich nach seiner Meinung die „Einbeziehung des Anderen" auf der Grundlage der Prinzipien dieser Entscheidungsfindung vollziehen.1 Dabei muss man bedenken, dass Habermas einen Vernunftbegriff gebraucht, der neben theoretisch-technischer vor allem auch praktisch-kommunikative Vernunft umfasst. Die letztere ist es, die als Grundlage einer „deliberativen Demokratie" gelten kann. Es passt zu Habermas' Position, dass er die Art des Debattierens im Parlament und die Beeinflussung der Masse des Volkes durch eher zweifelhafte, jedenfalls nicht rein rationale Argumente auch kritisch betrachten kann. Insbesondere auch durch den Einfluss der Medien verkommt nach seiner Auffassung die politische Debatte zu einem inhaltslosen Wettstreit um die Stimmen der Wähler. Schließlich bietet er eine Analyse der „postnationalen Konstellation", in der eine Verengung der Handlungsspielräume nationalstaatlicher Politik stattfindet und die multinationalen Unternehmen der nationalstaatlichen Rechtsordnung nicht mehr unterworfen sind. Eine positive „Zukunft der Demokratie" sieht Habermas in der Rückbesinnung auf rationale Begründungen sowie in der Einrichtung und Stärkung überstaatlicher Institutionen und völkerrechtlicher Verbindlichkeiten wie der Vereinten Nationen oder eines Internationalen Gerichtshofs.15 Wir gehen in den Überlegungen zu einer Theorie der Demokratie einen Schritt weiter als Derrida und Habermas. Wir suchen den Nachweis zu führen, dass in der afrikanischen politischen Philosophie gezeigt wird, dass auch in den traditionellen politischen Systemen des subsaharischen Afrika eine demokratische Intention am Werk ist. Gegen Auffassungen wie die von Habermas über die Einbeziehung des Anderen auf der Grundlage eigener Voraussetzungen und auch gegen das Bestreben, demokratische Verhältnisse im Sinn der europäisch-westlichen Demokratie den afrikanischen Staaten

F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1990. J. Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1996, 7-9. J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, Frankfurt/M. 1998.

Die demokratische Intention und ihre friedensfördernde B edeutung

173

verweisen afrikanische Philosophen auf den demokratischen Gehalt in ihtraditionellen rem politischen Leben und Denken. Wamba dia Wamba von der Universität Dar es Salaam kritisiert ausdrücklich die Demokratien europäisch-westlichen Stils, weil in ihren EntScheidungsprozessen, bei denen inhaltliche Kompetenz notwendig ist, numerische, rein zahlenmäßige Verhältnisse den Ausschlag geben. Und er wendet sich gegen eine dominant mode ofpolitics, wie sie in der Forderung zum Ausdruck kommt, die afrikanischen Staaten müssten das europäisch-westliche Modell von Demokratie übernehmen. Er stellt diesem Modell das afrikanische Pallaver entgegen, einer Form der Beratschlagung, an der die erwachsenen Mitglieder einer politischen Gemeinschaft teilnehmen, von denen in den betreffenden Fragen eine Entscheidungskompetenz erwartet werden kann. Jeder ist verpflichtet, seinen Standpunkt explizit zu vertreten. Es wird so lange geredet, bis ein einstimmiger Beschluss erzielt ist. Der Leiter in den Kämpfen um Unabhängigkeit und erste Präsident des unabhängigen Staates Tansania, Julius Nyerere, gebraucht für diese Art der Entscheidungsfindung die zusammenfassende Formulierung: We talk until we agree. Mit diesen Ausführungen sollen die schwierigen politischen Verhältnisse in den heutigen afrikanischen Staaten nicht beschönigt werden. Eine Erörterung der Gründe für die bestehenden Probleme ist selbstverständlich notwendig, kann aber hier aus Zeitgründen nicht ausgeführt werden. Auch angesichts dieser Schwierigkeiten verneint Eboh von der Universität Port Harcourt in Nigeria die Frage mit Nachdruck, ob „westliche Demokratie die Antwort auf das afrikanische Problem" sein könne.18 Diese Staatsform schließt nicht bei den traditionellen Prozessen gemeinsamer politischer Entscheidungen an. Die politische Theorie und Praxis in den traditionellen afrikanischen Staaten variieren ihrer äußeren Erscheinungsweise nach von streng autoritär bis zu strikt egalitär.1 Für die ersteren kann man die Königreiche im alten Kongo, für die letzteren die Regierungsform der Gikuyu in Kenia als Beispiele anführen. Lebenserfahrung und die Fähigkeit, politische Entscheidungen zu durchdenken und in die Praxis umzusetzen, spielen allenthalben eine wichtige Rolle. Auch ein autoritär herrschender Chief oder König hat sich dieser Fähigkeiten der Mitglieder seines Volkes zu bedienen. Ramose von der Universität von Südafrika in Pretoria führt ein Sprichwort der Basotho an, zu denen er selbst gehört: „Ein König ist ein König durch das Volk".

aufzuerlegen,

Der nigerianische Philosoph U.Th. Igwe macht in seinem Buch: Communicative Rationality and Deliberative Democracy of Jürgen Habermas. Towards Consolidation of Democracy in Africa, Münster 2004, in kritischem, aber im Kern durchaus positivem Sinn Gebrauch von Habermas'

Auffassungen. E. Wamba Dia Wamba, ,Beyond Elite Politics of Democracy in Africa', in: Quest. An International African Journal ofPhilosophy VI/1 (1992), 29-42. M.P. Eboh, ,1s Western Democracy the Answer to the African Problem?', in: Philosophy and Democracy in Intercultural Perspective, hg. von H. Kimmerle und F.M. Wimmer, Amsterdam/Atlanta GA 1997, 163-173. M. Fortes and E.E. Evans Pritchard, African Political Systems, Oxford 1940.

Heinz Kimmerle

174

Das bedeutet nach seiner Auffassung, dass der „König seinen Status, einschließlich aller Machtbefugnisse, die damit verbunden sind, dem Willen des Volkes" verdankt. Es gibt oder Chief seine Vorkehrungen verschiedener Art, die dazu dienen, dass ein König 20 Macht für das Wohl der Gesamtheit des Volkes zu gebrauchen hat. Wiredu, ein Philosoph aus Ghana, der aber seit vielen Jahren and der Universität von Südflorida in Tampa lehrt, bringt den Unterschied zwischen europäisch-westlichem und subsaharisch-afrikanischem DemokratieVerständnis auf den Punkt, wenn er das erstere als „Mehrheitsdemokratie", das letztere als „Konsensusdemokratie" charakterisiert. Die Mehrheitsdemokratie bedient sich politischer Parteien, die nach der Zahl ihrer Wähler im Parlament vertreten sind und entsprechende Machtpositionen einnehmen. Die Politik in der Konsensusdemokratie ist eine Non-Party Policy, die von den Lebenseinheiten in einem Volk, der erweiterten Familie, den Clans oder Familienzusammenschlüssen und den dörflichen oder städtischen Gemeinschaften ausgeht. Die Einstimmigkeit, die das Pallaver kennzeichnet, ist auch hier oberstes Gebot. Sie setzt sich von den kleineren Lebenseinheiten fort zu den größeren, so dass die Beschlüsse der politischen Leiter 21 schließlich nicht auf formaler, sondern auf moralischer Autorität beruhen. Man wird die Politik im Gebiet des subsaharischen Afrika, in der die demokratische Intention auf diese Weise wirksam ist, nicht als friedlicher bezeichnen können als in anderen Teilen der Welt. Der Friedensgedanke ist in diesem Teil der Welt indessen durchgehend von inhaltlichen Vorstellungen geprägt, die den Frieden mehr sein lassen als die Abwesenheit von Krieg. Der gesamte Kosmos und auch die menschliche Welt befinden sich in einem Zustand der Harmonie, die als ein dynamisches Gleichgewicht im Spiel natürlicher und geistiger Kräfte verstanden wird. Der periodische Machtwechsel, das Mehrparteiensystem und die Mehrheitsentscheidungen, die für das europäisch-westliche Demokratieverständnis kennzeichnend sind, bringen aus afrikanischer Sicht vor allem das Problem mit sich, dass eine Minderheit sich für bestimmte Perioden dem Willen der Mehrheit beugen muss. In dieser Hinsicht wird das Modell der Konsensusdemokratie, das auf Einstimmigkeit beruht, als demokratischer angesehen. Die traditionell gebräuchlichen Prozesse der politischen Entscheidungsfindung im subsaharischen Afrika sind indessen auf relativ kleine politische Lebenseinheiten bezogen und lassen sich nicht auf die Verhältnisse in einer Massendemokratie übertragen. Deshalb ist weder eine Ersetzung des einen Demokratiemodells durch das andere möglich noch lässt sich eine Synthese aus den unterschiedlichen Modellen herstellen. Es ist schon viel gewonnen, wenn deutlich wird, dass das europäischwestliche Modell nicht der einzige und maßgebliche Ausdruck der demokratischen Intention ist. Das führt zu der Offenheit, Elemente anderer Formen demokratischer Politik ernst zu nehmen und wenn möglich im Rahmen des eigenen Modells zu implemen-

-

M.B. Ramose, African Philosophy Through Ubuntu, Harare 1999, 144. K. Wiredu, Cultural Universals and Particulars. An African Perspective,

polis 1996, 182-190.

Bloomington/Indiana-

Die demokratische Intention und ihre friedensfördernde Bedeutung

175

tieren. Die Schwäche der heutigen europäisch-westlichen Demokratien und die dominante Art und Weise, wie von ihnen aus und in ihrem Namen undemokratische kriegerische Politik betrieben wird, sind Anlass genug, Wege zur Veränderung und Stärkung der Wirksamkeit der demokratischen Intention in diesen Staaten zu suchen.

4. Ein

neues

europäisches Denken

Die

Friedenspflicht, die sich aus der demokratischen Intention ergibt, hat für die europäischen Demokratien (unter der Leitung und dem Schutz der Vereinigten Staaten von Amerika) in der Zeit des ,Kalten Krieges' mit den Staaten des Ostblocks (unter der Leitung und dem Schutz der Sowjetunion) zu einer 45-jährigen Abwesenheit von Krieg geführt. Das gilt nicht für die Politik der Vereinigten Staaten selbst. Sie waren in dieser Zeit in den Krieg auf der koreanischen Halbinsel verwickelt und haben den Krieg gegen Vietnam geführt. In Verbindung mit der NATO haben sich neben US-amerikanischen auch Truppen europäischer Länder nach 1989 am Krieg auf dem Balkan beteiligt. Wie sich diese Kriege zur Friedenspflicht demokratischer Theorie und Praxis verhalten, lasse ich hier dahingestellt. Dass die Kriegshandlungen der USA, Großbritanniens und einiger anderer europäischer Länder gegen den so genannten Terrorismus, einschließlich der Kriege gegen Afghanistan und Irak, nicht von einer demokratischen Intention getragen waren, hat Derrida im Anschluss an Chomsky und andere deutlich gemacht. Die europäisch-westliche Politik ist demnach ebenso wenig als Vorbild für den Rest der Welt geeignet wie das zugehörige Demokratiemodell. Wer sich demgegenüber auf eine demokratische Intention oder eine nicht mehr am westlichen Demokratiemodell orientierte „Demokratie im Kommen" beruft, muss deshalb ein „neues europäisches Denken" versuchen, in dem eine „ganz neue Zielsetzung und Verantwortlichkeit Europas" formuliert wird. Ebendies versucht Derrida am Ende seines Buches über Schurken und Schurkenstaaten.22 Er bezieht sich für diesen Versuch erneut auf die Philosophie Immanuel Kants. Es gehört zu den Grundlagen dieser Philosophie, dass in der Vernunft ein Primat der praktischen über die theoretische Vernunft angenommen wird. Das ethisch begründete Handeln, Pflichtbewusstsein und Verantwortlichkeit stehen höher als das theoretische Erkennen und das technisch Machbare. „Das Vernünftige", das in Erweiterung der Kantischen Vernunftlehre auch die „Logik des Unbewussten" einbezieht, bleibt nach Derrida an diesem Primat orientiert, indem es sich nicht auf das rein Rationale des technisch Machbaren reduzieren lässt. 23 Die europäisch-westliche Politik wird nur dann weiterhin den Charakter eines „Versprechens" für die nicht-europäische Welt behalten, wenn sie sich an dem Maßstab der Machtverhältnisse innerhalb der Vernunft messen Derrida, Schurken, 214. Ebd., 212-214.

176

Heinz Kimmerle

lässt. Darüber hinaus ist es erforderlich, dass diese Politik sich öffnet für Kritik und Bereicherung aus anderen Teilen der Welt. Das bedeutet für die demokratische Intention, die immer eine Lösung von Konflikten auf kriegerischem Weg zu vermeiden sucht, dass ihre Wirksamkeit auf alle nur mögliche Weise und sicher auch durch eine neue Verantwortlichkeit Europas und durch die Einbeziehung des demokratischen Gehalts der politischen Verhältnisse in nicht-europäischen Kulturen gestärkt werden muss.

Davor Rodin (Zagreb)

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

I. Wenn eine politische Philosophie von Kant und Hegel überhaupt besteht, und wenn man sie zu der heutigen politischen Situation in Europa in Beziehung setzt, dann droht diesen Philosophien eher Anachronisierung als eine Aktualisierung. Das Anliegen von Hegel und Kant hat sich, aus prinzipiellen Gründen, nicht verwirklicht: Wir haben weder den ewigen Frieden noch den Staat als Verwirklichung der Freiheit in Europa erlebt. Was uns nach den zwei Weltkriegen und dem aktuellen Balkankrieg übrig geblieben ist, ist eine andere, eben aktuelle Lesart dieser Philosophien, d. h. diejenige, die das Vorhaben dieser großen Philosophien, die Frieden und Freiheit verwirklichen wollten, in Richtung neuer „Idealisierungen des Abwesenden"1 umzudenken versucht. Das Dogma des ganzen neuzeitlichen politischen Denkens war der Mythos der Verwirklichung eines rationalen Rechtes: später einer Utopie oder Ideologie, was im Kommunismus und Faschismus seine teuflische Seite offenbarte. Man kann eine politische oder eine Rechtsphilosophie nicht verwirklichen wie den Grundriss eines Hauses. Die Idee der Verwirklichung einer Philosophie oder eines Rechtes bzw. Verfassungsrechtes war eingewurzelt im Wesen der neuzeitlichen wissenschaftlichen Philosophie, und eben diese ist seit Husserls semantischer Wende auf die Probe gestellt. Man kann das politische Gemeinwesen nicht auf Grund eines Plans, den die Menschen selbst entworfen haben, erklären oder organisieren bzw. verwirklichen: Der Sohn kann nicht den Vater gebären. Anfangs schien es, als ob der Positivismus in der Naturforschung tadellos funktioniert, nicht aber in den Gesellschaftswissenschaften. Seitdem auch diese Fiktion entzaubert ist, blieben nur noch die Bemühungen des „Kehraus" mit Hegels wissenschaftlicher Philosophie auf dem Ideenmarkt übrig. Der „Kehraus" mit Hegel ist gleichzeitig „Kehraus" mit dem neuzeitlichen Republikanismus, der zusammen mit dem aufklärerischen Liberalismus auf dem Fundament der neuzeitlichen wissenschaftlichen Vernunft errichtet worden war. Das eigentliche politische Problem der Aufklärung war ihr strukturell vorkonstruiertes demokratisches Defizit. Und solange man noch immer in der EU

N. Luhmann, Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, 219.

178

Davor Rodin

demokratischen Defizit redet, ist man im Netz der Aporien der neuzeitlichen wissenschaftlichen Philosophie gefangen, die das politische Gemeinwesen der freien und gleichen Bürger nicht mit der demokratischen Mehrheit, sondern mit Wahrheit als dem höchsten Gut legitimieren wollte. Dieses strukturelle wir sagen nicht: ontologische demokratische Defizit sieht man am besten bei Rousseau dargestellt. Alles, was später von Kant und Hegel von Demokratie gesagt werden wird, sind Versuche, ein Gemeinwesen ohne demokratische Legitimation, also mit der Autorität der argumentativen Vernunft, als Einheit von potestas und auctoritas zu denken. Nun stellt sich die Frage, warum die politische Philosophie der Aufklärung die demokratischen Konsequenzen der Revolution vermeiden wollte oder sogar müsste. Dazu sei aus der heutigen Perspektive Derrida zitiert: „der Übergang zur Demokratie, die Demokratisierung ist stets mit Zügellosigkeit, einem Zuviel der Freiheit, mit Libertinage, Liberalismus bzw. Perversion, Delinquenz, Vergehen und Gesetzverstoß assoziiert: Alles ist erlaubt". Diese demokratische Zügellosigkeit, die wir heute besonders in den Schwellenländern erleben, sah auch Rousseau schon 1762 als Gefahr, als er seinen Gesellschaftsvertrag veröffentlichte. Er sah voraus, was passieren könnte, wenn man dem Pöbel die Zügel des Staates übergeben würde. Er verstand ganz genau die Bedeutung des Wortes Demokratie, d. h. Volksherrschaft. Hier seine bis zu unseren Tagen gültige Prophezeiung: vom

-

-

man das Wort in der ganzen Strenge seiner Bedeutung nimmt, so hat es noch nie eine wahre Demokratie gegeben und wird es auch nie geben. Das verstößt gegen die natürliche Ordnung, dass die größere Zahl regiere und die kleinere regiert werde. Es ist nicht denkbar, dass das Volk unaufhörlich versammelt bleibe, um sich den Regierungsgeschäften zu wid-

„Wenn

men

.

Es folgt sofort auch die Erklärung, weshalb die Demokratie eine unnatürliche Herrschaftsform ist: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine vollkommene Regierung passt für Menschen nicht". Dazu gibt es auch in unseren Tagen die resolute Meinung von Benjamin Barber: „Die Existenz von Mehrheiten und Minderheiten hingegen ist ein Symbol dafür, daß die Gemeinschaft in Auflösung begriffen ist". Kant blieb in dieser Frage Rousseau treu: er hoffte auf den ewigen Frieden zwischen vernünftigen Menschen, aber nur in einer unvorsehbar fernen Zukunft, wenn die Menschen den Göttern ähneln würden. Hegel dagegen wollte streng beweisen, dass diese Erst in den Diskussion

zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde Carl Schmitt klar, dass die Epoche der abgeschlossen ist. Vgl. C Schmitt, Die geistesgeshichtliche Lage des heutigen Parla-

mentarismus, Berlin 1979, 5. J. Derrida, Schurken. Zwei Essays über Vernunft, Frankfurt/M. 2003, 40. J.J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Leipzig 1963, 105. Ebd., 107. B. Barber, Starke Demokratie, Berlin 1994, 294.

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

179

ferne Zukunft nicht nur prinzipiell erreichbar, sondern stets geschichtlich anwesend ist, und dass demzufolge ein mit vernünftiger Freiheit eingeschränktes Gemeinwesen, oder der Staat, wirklich ist. Das Kantische Konzept des Staates verwarf Hegel als Verstandesstaat, der aus pragmatischen Gründen der Sicherheit der Person und des Eigentums, wenn nötig mit den Mitteln der gewaltsamen Einschränkung der Freiheit, bestehen würde. Dagegen meinte Hegel, dass der Staat nicht die zügellose Freiheit einzuschränken habe, sondern selbst die Verwirklichung der Freiheit sei. Nun aber: welcher Freiheit? Kant als liberaler Aufklärer meinte die menschliche Freiheit. Die von den Ketten des Feudalismus befreiten Menschen schließen Verträge, geben sich die Verfassung und gehorchen ihr als moralische, tugendhafte Personen, weil sie sie selber frei erließen. Diejenigen aber, die zum Bösen neigen, weil sie frei sind, werden sich vor dem Recht verantworten müssen, und wo die Moral nicht reicht, die Freiheit zu zähmen, dort reicht das Recht und die Polizei. Diese ganz realistische Einrichtung verwarf Hegel als bloßen Verstandesstaat, oder wie er in seiner Jugend sagte, als eine geistlose Maschine, die man aufheben müsse. Aber auch Hegel wendet sich scharf gegen jede demokratisch gemachte Verfassung, denn eine solche könnte für ein Volk der Götter geeignet sein, die Menschen dagegen sollen nach Hegel unter dem Gesetz des ewigen Geistes leben, d. h. nicht wie Götter, sondern göttlich. Hegel kommt zu dieser mythologischen Lösung durch die Frage: „Wer die Verfassung machen sollte! Diese Frage scheint deutlich zu sein, zeigt sich aber bei näherer Betrachtung sogleich sinnlos. Denn sie setzt voraus, daß keine Verfassung vorhanden, somit ein bloßer Haufen von Individuen beisammen sei. Wie ein Haufen [...] zu einer Verfassung kommen würde, müsste ihm überlassen bleiben, denn mit einem Haufen hat es der Begriff nicht zu tun. Setzt aber jene Frage schon eine vorhandene Verfassung voraus, so bedeutet das Machen nur eine Veränderung, und die Voraussetzung einer Verfassung enthält es unmittelbar selbst, dass die Veränderung nur auf verfassungsmäßigem Wege geschehen könne. Überhaupt aber ist es schlechthin wesentlich, daß die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; denn sie ist vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche, und Beharrende, und als über 7 der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist". Demzufolge „ist es die höchste Pflicht der Einzelnen Mitglieder des Staates zu sein". -

-

Es ist klar: Hegel versucht, mit seiner Philosophie des Rechts die postrevolutionäre Situation zu stabilisieren. Die neue Ordnung schien, als ob sie aus dem Nichts entstanden sei, und der neue Anfang glich einer creado ex nihilo. Dagegen meinte Hegel: „Einem Volke eine, wenn auch ihrem Inhalte nach mehr oder weniger vernünftige Verfassung a priori geben zu wollen, dieser Einfall übersähe gerade das Moment, durch welches sie -

G.W.F.

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 273, Erläuterung.

Ebd., §258.

180

Davor Rodin

mehr als ein Gedankending wäre. Jedes Volk hat deswegen die Verfassung, die ihm angemessen ist und für dasselbe gehört". Man könnte diese Sätze als credo aller heutigen Euroskeptiker deuten. Demnach ist die vorgeschlagene Verfassung Europas ein Gedankending, das man wie ein naturwissenschaftliches Projekt der Natur hier: den europäischen Völkern aufzwingen wollte. Das hieße, den Völkern ihre angemessen geschichtlich vorgebildeten Verfassungen zu nehmen und eine abstrakte, geschichtlich unvorfindliche und deswegen unlegitimierbare aufzuzwingen, was die Skeptiker, milde gesagt, als eine Illusion verwerfen. Es stellt sich die Frage, wie kann man solche und etliche andere Stellen des Hegelschen Rechtsdenkens aktualisieren? Anstatt sie zu aktualisieren, muss man sich dasjenige, was Hegel mit solchen Gedanken hervorbringen wollte, vor Augen stellen. Die Antwort ist klar: er wollte den Frieden in den nationalen Staaten und den Frieden zwischen den Staaten nicht, wie Kant, nur approximativ, sondern prinzipiell sichern. Das kann man aber, wenn man Hegel beim Wort nimmt, nur deshalb, weil der Friede schon im voraus ausgemacht ist, oder „die Staatsgeschäfte und Gewalten können nicht Privateigentum sein". Das Privateigentum in allen seinen Erscheinungsformen ist aber das Prinzip der Neuzeit, und wenn man es aus dem staatlichen Gemeinwesen ausschließt, um den Ursachen aller Übel der bürgerlichen Gesellschaft vorzubeugen, dann verfällt man in die bekannte Begriffsmythologie oder in jenen aristotelischen Republikanimus einer Polis jenseits der realen Ungleichheit der Menschen im Oikos, d. h. in das Paradox der neuzeitlichen bürgerlichen Gesellschaft der universal gleichen und gleichzeitig ungleichen Menschen. Bei allem Respekt vor Hegel: sein Versuch, den permanenten Ausnahmezustand, der im neuzeitlichen Prinzip der universalen Freiheit und Gleichheit aller Männer und Frauen lauert, mit den Mitteln der spekulativen Dialektik in praktischer Anwendung zu lösen, ist inzwischen obsolet geworden; nicht aber das Problem selbst: die freien und gleichen Menschen in einem politischen Gemeinwesen zu vereinen. Im Mittelpunk der Kehraus-mit-Hegel-Strategie stehen die Begriffe Demokratie, Souveränität, Recht, Politik und Staat. Hegel unterscheidet und bearbeitet diese Begriffe unter der Voraussetzung ihrer geistigen Einheit. Im Prinzip der Teilung der Gewalten, wie es der Verstand fasst, liegt „die falsche Bestimmung der absoluten Selbständigkeit der Gewalten gegeneinander, teils die Einseitigkeit, ihr Verhältnis zueinander als ein Negatives, als gegenseitige Beschränkung aufzufassen. [...] Nur die Selbstbestimmung des Begriffs in sich [...] ist es, welche den absoluten Ursprung der -

-

Ebd., § 274, Erläuterung. Ebd., §277. Vgl. ebd., §260: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheuere Stärke und Tiefe, das

Prinzip

der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen, und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten."

181

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

unterschiedenen Gewalten enthält, und um deretwillen allein die Staatsorganisation als das in sich Vernünftige und Abbild der ewigen Vernunft ist". Das Anliegen der Kehraus-mit-Hegel-Strategie ist es, die Demokratie, die Politik, das Recht und die Verfassung als besondere und selbständige Medien in ein anderes, nicht mehr spekulativ-dialektisches Verhältnis zu bringen. Dass dieses Vorhaben allen Traditionalisten und Euroskeptikern die Haare zu Berge stehen lässt, kann man nur dadurch erklären, dass die rein wissenschaftliche Polemik zwischen den Dekonstruktivisten, Systemtheoretikern und Medientheoretikern einerseits und den Verfechtern der Theorie des Nationalstaates als dem Höhepunkt des neuzeitlichen Gemeinwesens, in dem sich die erwähnten Begriffe dialektisch vereint haben, andererseits, bereits politisch aufgeladen ist. Worum es dabei geht, zeigen wir erstens durch die Darstellung der veränderten Bedeutung der Demokratie, die sich in der späten Neuzeit von der Volksherrschaft im aristotelischen Sinne zur „transzendentalen" Bedingung der Möglichkeit des Zugangs zum staatlichen Gewaltmonopol entwickelte und heute eventuell für weitere Bedeutungsverschiebungen offen ist; zweitens durch die Darstellung des kritischen Potentials der Differenztheorien.

II. Nach Foucault ist die Demokratie „weder Volksherrschaft noch das Regieren des Volkes". Die Frage, die wir zu beantworten versuchen lautet: Wenn die Demokratie weder Volksherrschaft noch eine besondere Art der Beherrschung des Volkes ist, kann sie dann noch etwas anderes werden? Wenn es in der europäischen politischen Geschichte die Demokratie im wörtlichen Sinne als {demos und kratein) gab, wurde sie von allen maßgebenden Denkern der Politik und des Politischen von Aristoteles bis Marx und Nietzsche als die schlechteste Regierungsform verworfen. Ist dem so, weil die Demokratie keine politische Regierungsform ist, sondern ein eigenständiges Medium, das die Funktionen hat, die Regierenden von den Regierten zu unterscheiden, um so den Raum für eine besondere Art von Politik zu eröffnen? An und für sich, d. h. ohne die Unterscheidung der Regierenden von den Regierten, ist der Demos als singularia tantum weder klug noch edel noch stark. Wenn man heute von Demokratisierung eines faschistisch oder kommunistisch regierten Gemeinwesens spricht, versteht man die Demokratisierung stets als Zügellosigkeit, zuviel Freiheit, als Libertinage, Liberalismus, Perversion, Delinquenz, Vergehen und Gesetzes verstoß. Aus der Schule wissen wir, dass die Demokratie, wenn man sie als politische Form versteht, eine sehr gefährliche Regierungsform ist, weil sie als Herrschaft der Mehrheit das rule 1-3

-

-

12 13

Ebd., § 272, Erläuterung. M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität, 2 Bde., Frankfurt/M. 2004, 393.

Davor Rodin

182

of law aufheben und so in die Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit ausarten kann. Andererseits besteht auch weiter das alte Paradox der demokratischen Regierungsform: sie kann sich zum einen selbst mehrheitlich aufheben, zum anderen aber müssen sich Diejenigen, die in der Minderheit geblieben sind, dem Willen der Mehrheit, mit dem sie nicht einverstanden sind, fügen, woraus das moralische Dilemma entsteht. Nun es ist von Anfang an so, dass die demokratische Regierungsform, wenn sie überhaupt besteht, nur dann annehmbar ist, wenn sie rechtlich eingeschränkt ist. Das Verhältnis von Rechtssystem und System der demokratischen Herrschaft wird in der Neuzeit unter dem Begriff des Rechtsstaates beleuchtet. Es ist damit von Anfang an vorausgesetzt, dass das Rechtssystem das politische und das demokratische Handeln einzuschränken hätte. Damit ist nicht gesagt, dass die Demokratie mit der Politik identisch ist; die Demokratie ist ein eigenständiges Medium das sensibel für Politik und Recht ist. Das heißt, man kann die Demokratie rechtlich und politisch sensibilisieren oder affizieren und umgekehrt. Was dieses gegenseitige Irritieren des Rechts, der Politik und der Demokratie bedeutet, versuchen die gegenwärtigen Differenztheorien zu beantworten.

Anders als in der Tradition Kants und Hegels sind weder die Teilung der Gewalten, noch das Recht, die Politik oder die Demokratie Erscheinungsformen der Staatseinheit als der verwirklichten vernünftigen Freiheit, sondern jedes Medium besteht unabhängig neben den anderen. Der Staat ist nicht ihre höhere Einheit, sondern eine eigenständige Praxis mit eigener Raison. Dazu Luhmann: „Das Gesamtarrangement von Recht, Demokratie und Politik verlöre seinen Sinn, wenn Recht nichts Anderes wäre als die angewandte Politik, oder Politik nichts Anderes als ausgeführte Verfassung". Dieser sinnlose Bezug zwischen Recht, Politik und Demokratie entstammt der aufklärerischen These, dass man die willkürliche politische und demokratische Macht und Gewalt rational, d. h. rechtlich (rule of law) einschränken muss. Das Paradox liegt aber in dem Umstand, dass das rationale Recht kausal von der Macht der Klügsten bei Piaton, der moralisch Edelsten bei Aristoteles und der politisch Stärksten bei Hobbes abhängt, dass es also von derjenigen Macht bestimmt ist, die sie einschränken sollte, also von einer höheren Macht außerhalb des Rechtes selbst. Das ist heute problematisch geworden. Die antike und die neuzeitliche Tradition haben das Recht von Anfang an nur als Mittel der politischen Macht der Besseren und Stärkeren verstanden, und zwar auch dann, als man das Recht als eigenwillige Einschränkung der Macht der Guten und Starken, des Volkes und seiner politischen Elite reklamierte. Das Recht war immer als ein Mittel der Einschränkung der Macht und nicht als ein autopoietisches Medium verstanden worden. -

-

15

N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt/M. 1999, 155. Ebd.

Beiträge

zur

Rechtssoziologie

und Rechtstheorie,

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

183

Gegen die Demokratie als unmittelbarer Macht des Volkes traten die Aufklärer und letzten Endes Hegel mit der These auf, dass die Vernunft oder das vernünftige Recht die mächtigste Macht ist, der sich die Guten und Starken und selbst das Volk oder seine bevollmächtigten Vertreter fügen müssen. Das war natürlich eine rationale Utopie. Dasjenige, was als Macht der Besseren, der Stärkeren und des Volkes fungiert, ist die eingeborene Freiheit und Gleichheit aller Bürger im Zugang zu staatlichen Machtmitteln, derer sich die Starken und Guten zügellos bedienen könnten, wenn sie nicht durch ein vernünftiges Recht eingeschränkt wären. Wer ist aber für die rechtliche Einschränkung der Macht der Guten und Starken zuständig, als diese selbst? Das ist der Circulus vitiosus des neuzeitlichen republikanischen politischen Denkens. Die Neuzeit veränderte die Wege zum Machtmonopol des Staates, indem sie die Demokratie nicht mehr wörtlich als Volksherrschaft verstand, sondern als Bedingung der Möglichkeit des Zugangs zu staatlichen Machtmitteln. Demokratie wurde als eine leere Form angesehen oder als Bedingung der Möglichkeit des Zugangs zu staatlichen Machtmitteln, derer sich die freien und gleichen Bürger unter gleichen demokratischen Bedingungen für welche Zwecke auch immer gute oder teuflische bedienen konnten. Mit diesem nicht mehr geerbten, sondern demokratisch bedingten Zugang zu staatlichen Machtmitteln ist aber das überkommene kausale Verhältnis von Politik Demokratie und Recht nicht verändert. Das Recht wird auch unter den herrschenden formalen demokratischen Bedingungen des Zugangs zu Machtmitteln stets von den Mächtigeren, d. h. von den quantitativ Stärkeren gestaltet, denn, wie Luhmann über dieses Demokratieverständnis mit kritischen Abstand sagte: „Ohne jede Möglichkeit der Erzwingung bliebe das Rechtssystem eine Farce". Dieses transzendentale Verständnis der Demokratie herrscht heute in den nationalen Rechtsstaaten und stellt das wichtigste Hindernis für ein politisch vereintes Europa dar, denn kein Nationalstaat ist bereit, seine vom Volke legitimierte Souveränität zugunsten eines außerhalb des nationalen Staates bestehenden, quantitativ stärkeren oder besseren, vernünftigeren europäischen oder universalen Volkes aufzugeben, auch dann nicht, wenn dieses stärkere „Übervolk" vernünftig, d.h rechtlich eingeschränkt wäre. Wenn nämlich ohne die Gewaltanwendung das Recht eine Farce ist, dann brauchen die EU und die globale Weltordnung für ihr Bestehen immer stärkere Gewalt. Dieser Gewalt, wie man am Beispiel des europäischen demokratischen Defizits und der Kriege in Afghanistan und Irak sieht, widersetzen sich die EU und die globale Gemeinschaft. Das Recht, das nur mit Gewalt durchführbar ist, ist Unrecht. Aber auch umgekehrt: ein Recht ohne Gewaltanwendung ist eine Farce. Der demokratisch bedingte Zugang zu Machtmitteln, den das übernationalstaatliche -

Recht Rousseau bar. Mit

europäische

-

erzwingen könnte, gilt bis heute den Nationalstaaten als unannehmgesprochen ist es unnatürlich, dass die Mehrheit über die Minderheit

Ebd., 158 Vgl. N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. 1989.

184

Davor Rodin

entscheidet. Zwar ist es so im Rahmen des Nationalstaates, gilt aber nicht und kann auch nicht für die EU gelten. Darin liegt das ganze Missverständnis mit der vorläufig

gescheiterten europäischen Verfassung. Die eben geschilderte Demokratie als

formale Bedingung der Möglichkeit des Zukönnte man vorläufig zusammenfassen, ist exekutiven staatlichen so Macht, gangs nicht das geeignete Mittel, das imstande wäre, das Verhältnis des Rechts einerseits zur demokratisch bedingten Staatsmacht in einem übernationalstaatlichen Gemeinwesen wie der EU andererseits auf annehmbare Weise zu lösen. In derselben Richtung kann man das sogenannte demokratische Defizit, wie gezeigt worden war, nicht nur als eine empirische Tatsache des multinationalen Europas, sondern auch als eine paradoxale Struktureigenschaft des neuzeitlichen politischen Denkens von Kant bis heute verstehen. Das Volk darf nicht regieren, denn es könnte die Gesetze, die es selbst erließ, mit den Füßen treten. Man kann die Demokratie weder als leere Form im Kantischen, formal geschlossenen, noch im Carl-Schmittschen, dezisionistisch offenen Sinne ex nihilo auf ein geschichtlich vorgeprägtes Gemeinwesen anwenden. Wie soll man also die Demokratie als Volksherrschaft bzw. als Beherrschen des Volkes redefinieren? Wenn wir also eine Kehr-aus-mit-Hegel-Strategie verfolgen wollen, dann dürfen wir den überkommenen Begriff der Demokratie weder als ein leeres Mittel, das den Zugang zu Zwangs- und Machtmitteln in einem politischen Gemeinwesen durch verschiedene 18 Wahlsysteme ermöglicht, noch als ein geschichtlich vorkonstruiertes weltanschauliches Mittel zur Erlangung der Macht im Staate voraussetzen. Wir müssen dagegen die Demokratie als ein eigenständiges autopoietisches wie auch autoimmunes Medium, das relativ unabhängig von der politischen Macht und der rechtlichen Einschränkung als seiner Umwelt besteht, zu denken versuchen. Man muss also die Demokratie getrennt von der Macht denken, denn die These, dass das Volk herrscht, vertreten diejenigen, die an seiner Stelle herrschen. Derrida spricht, mit einer von Rousseau aufgenommenen Wendung, von einer kommenden Demokratie. Denn die Demokratie war auch in Athen nicht die Volksherrschaft oder Herrschaft aller, sondern nur die Herrschaft der Patriarchen: die Frauen und Sklaven, die Fremden und Barbaren waren ausgeschlossen. Die neuzeitliche Demokratie erfand andere Wege der Differenzierung der universal freien und gleichen Frauen und Männer. Die Demokratie wurde zum Medium, das den Zugang zum Machtmonopol im Staate ermöglichte, und damit schuf sie eine innere Ausschließung oder Differenzierung der prinzipiell gleichen Bürger in Herrschende und Beherrschte. Nun kann man auch diese transzendentale Funktion der Demokratie dekonstruieren, um ihr paradoxales autoimmunes Wesen freizulegen und zu zeigen, dass jenseits der zur

bestehenden formalen Demokratie als

Bedingung

der

Möglichkeit

des

Zugangs

zum

Verschiedene Wahlsysteme sind in der Neuzeit entstanden, als die Demokrate nicht mehr als Volksherrschaft verstanden wurde, sondern nur als ein Mittel zum Erlangen der Kontrolle im Staate.

185

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

Machtmonopol eine noch ausbleibende Demokratie besteht, die weder qualitativ leer noch mit geschichtlichem Bewusstsein und Fraternalismus behaftet ist, sondern von einem anderen anwesend-abwesenden Kriterium der Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten mitbestimmt ist. Eine solche unbedingte Demokratie ist offen für dasjenige, was nicht bedingt werden kann: das Ereignis der noch nicht dagewesenen Unterscheidung der freien und gleichen Menschen. Oder, wenn man die Demokratie als ein Medium beschreibt, dann kann man sie nach Luhmann als die paradoxale „Anwesenheit des Ausgeschlossenen" bestimmen. Was ist aber aus der Demokratie ausgeschlossen? Eben dasjenige, was die Demokratie selber ausschließt, denn sie ist ein autogeneratives Medium, das zwischen den Herrschern und Beherrschten nach verschiedenen Maßstäben unterscheidet, sonst wäre sie sinnlos. Die antike Volksherrschaft unterscheidet nach Herkunft und Wohnort; die repräsentative ist komplizierter, sie unterscheidet nicht nur die Position und Opposition, die Mehrheit und Minderheit in der Volksvertretung (Parlament), sondern auch zwischen den Bürgern außerhalb des Parlaments und ihren Vertretern im Parlament. Im europäischen Parlament unterscheidet sie nicht Position und Opposition, sondern Parteifraktionen, weil die EU kein Staat ist; sie herrscht weder über die Nationalstaaten noch wird sie dies tun können. Außerhalb des EU Parlaments bleiben die nationalstaatlichen Demokratien weiter bestehen. Nun geht es heute um die Frage, ob die Demokratie noch eines anderen, noch abwesenden Unterscheidungsprinzips zwischen Herrschern und Beherrschten, das für das multinationale Europa geeignet wäre, fähig ist, oder ob die EU langfristig im demokratischen Defizit bleibt, d. h. mit multikulturellen Bewohnern (Bevölkerung), die in der EU nur die Sicherheit hält, nicht aber mit politischen Bürgern, weil niemand in der EU bereit ist, eine andere Demokratie als die repräsentative, die in Nationalstaaten besteht, anzunehmen. Um das zu erklären, muss man wiederum die Kehr-aus-mit-Hegel-Strategie plausibel machen. Um die Hegeische spekulativ-vernünftige Einheit der Legislative, Exekutive und Judikative medial zu unterscheiden, versucht Luhmann ähnlich wie Derrida in einem ersten Schritt, das Recht von der Politik zu trennen und damit die repräsentative Demokratie nicht mehr als den einheitlichen Legitimationsgrund des Rechts und der Politik zu denken. Demzufolge bezieht sich das Recht als Medium auf die Gerechtigkeit und das Gesetz, die Politik als Medium auf die demokratisch erzeugten Fraktionen des Volkes bzw. der Bürger innerhalb und außerhalb der politischen Institutionen. Mit der Trennung des Rechts von der Politik hat sich auch die Demokratie zu einem autonomen Medium ausdifferenziert, das nicht nur die Herrschenden von den Beherrschten unterscheidet, sondern auch autopoietisch sensibel dafür ist, worüber man demokratisch entscheiden kann und worüber nicht. Die Demokratie ist beispielsweise -

N. Luhmann, Die Politik der

Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, 47.

-

Davor Rodin

186

nicht sensibel für wissenschaftliche Erkenntnisse, religiöse Gesinnungen oder ästhetische Geschmacksurteile. Demokratie als ein Medium, das auf immer andere Weise zwischen den Herrschern und den Beherrschten differenziert, überlässt das Prinzip der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz dem Recht. Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz ist nicht eine demokratische Frage, sondern eine Frage des Rechts und der Verfassung. Die Demokratie kann weder über die rechtliche Gleichheit der Bürger noch über das Recht der Bürger, die eigenen Interessen frei zu vertreten, verfügen. Beide Medien, das Recht und die Demokratie, können sich gegenseitig affizieren, aber nicht determinieren, denn wo wäre die Gerechtigkeit, wenn man über sie demokratisch entscheiden würde, und wo wäre die Demokratie, wenn sie rechtlich vorbestimmt und eingeschränkt wäre, wie sie zwischen den Regierenden und Regierten zu unterscheiden hätte. Indem das Recht, die Politik und die Demokratie als eigenständige autopoietische Medien auf verschiedene Weise für ihre Umwelt empfindlich und irritierbar sind, kann man die Teilung der Gewalten als Garantie der bürgerlichen Sicherheit nicht, wie das Carl Schmitt tat, als eine liberale Illusion beurteilen, die man demokratisch aufheben kann, denn die reine politische Gewalt kann man nicht in den juristischen Kontext hi20 neinschreiben und damit dem Rechte jede Autonomie rauben. Die drei autonomen Systeme das Recht, die Politik und die Demokratie beziehen sich weder kausal noch teleologisch oder als Teile des Ganzen aufeinander, sondern semantisch; und indem sie sich gegenseitig semantisch affizieren, verstehen sie sich als verschiedene, teilweise übersetzbare, aber keinesfalls identische Sprachen: „Die Systeme verstehen die Sys21 teme", obwohl sie sich gegenseitig nicht determinieren. Sie stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis, sondern gleichursprünglich parallel nebeneinander wie die Farben der französischen Trikolore. Trotzdem steht die Praxis in den nationalen Staaten noch immer näher zu Kant und Schmitt. Die demokratisch legitimierten Vertreter der Nationalstaaten in der EU wollen das demokratisch legitimierte Recht in ihren Ländern nicht leicht aus der Hand geben und bestehen auf der These, dass das autonome, autogenerative Recht eine Illusion ist. Doch das europäische Recht ist der Beweis dafür, dass sich das Recht mit rechtlichen Mitteln, ohne die demokratische Prozedur, durchsetzen kann. Das geschieht durch die fast unbeobachtbare Starkmachung des abwesenden Naturrechts, das auf das gültige positive Recht semantisch einwirkt und es auf eine rechtlich autonome Weise entwicklungsfähig macht. Die Ausdifferenzierung des Rechts als eines autopoietischen Systems, das sich gegenüber dem politischen und demokratischen System verselbständigt hat, ist nur so zu denken, dass das Rechtssystem einerseits für seine demokratische und politische -

G. Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt/M. 2004, 72. N. Luhmann, ,The autopoiesis of social systems', in: Geyer und J. van der Zouwen, London 1986, 172-192.

-

Sociocybernetic Paradoxes, hg.

von

F.

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

187

Umwelt empfindlich bleibt, anderseits aber auch von dem unmarkierten Naturrecht, welches keine Politik und keine Demokratie verfügen kann, affiziert ist. Damit ist die Konzeption des Staates im Hegelschen Sinne als die spekulativ vernünftige Einheit von rationalem Recht und willkürlicher Politik auch in ihrer eventuellen demokratischen Umdeutung obsolet geworden. Wenn das Recht und die Politik zwei verschiedene Systeme, zwei verschiedene Handlungsweisen und zwei verschiedene Medien sind, dann ist der neuzeitliche Rechtssaat zu einer fiktionalen Einheit, zu einer Organisation oder Institution geworden, ja zu einer Praxis, auf die sich das Recht und die Politik auf verschiedene Weise beziehen können. Der Staat ist nicht mehr eine vernünftige spekulative Einheit von Recht und Politik, sondern diese drei Seiten stehen im Verhältnis einer offenen, unabschließbaren Sinnaffektion oder weichen Inkommensurabilität. Luhmann sagt, sie stehen im Verhältnis einer strukturellen Koppelung, die jedenfalls nicht unreguliert ist, sondern durch ein „Dieses Arrangement kennen wir, nach Luhmann, unter Arrangement reguliert wird. 22 dem Namen Verfassung". Die Verfassung ist somit nicht der Grundriss des Staates, den man politisch verwirklichen soll, sondern eine lose Verabredung verschiedener demokratischer und politischer Fraktionen. Die Verfassung bürgt für den höheren Grad der Freiheit des Rechtssystems, der Demokratie und des politischen Systems, die sich innerhalb der Verfassungsordnung selbständig organisieren, d. h. autopoietisch innerlich differenzieren können. Die Politik bezieht sich frei auf die politischen und sozialen Mächte, die in seiner Umwelt wirken, und das Recht bezieht sich auf die abwesend-anwesende Gerechtigkeit (auf das Naturrecht), die als Spur (Derrida) innerhalb des positiven Rechtes anwesend ist. Das Rechtssystem und das politische System stehen somit nicht in einer wechselseitigen Determination oder von außen berechenbaren Wechselwirkung, sondern im Bezug der wechselseitigen semantischen Irritation3 ohne das höhere Dritte, sei es Gott, Volk oder Vernunft, wie es in der Tradition galt. Im Bezug auf die unmarkierten politischen Mächte und die rechtlich unmarkierte Gerechtigkeit müssen das Recht wie auch die Politik mit Risiken umgehen, denn die Entscheidungen in beiden Systemen sind weder im voraus normiert, noch geschehen sie ex nihilo. Man muss erst in der Umwelt unterscheiden können, um sich politisch oder rechtlich, oder demokratisch entscheiden zu können. „Das Zukunftsverhältnis von rechtlichen, politischen und demokratischen Entscheidungen läßt sich somit nur im Begriff des Risikos

fassen".24

Die Luhmannsche semantische oder sogar dekonstruktivistische Analyse des neuzeitlichen Rechtstaates als der vernünftigen Einheit von Recht und Politik führte damit zur Trennung beider Systeme. An die Stelle der Einheit trat bei Luhmann ein neues semantisches Arrangement zwischen beiden Systemen und machte zugleich dieses Arran-

Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, 391. Ebd., 394. Ebd., 433. N.

188

Davor Rodin

gement, d. h. die Verfassung, zugänglich für die Beobachtung beider Handlungsweisen. Die Verfassung ist jetzt nicht mehr der mit dem politischen Willen des Volkes konstruierte Grundriss des Staates, den man politisch verwirklichen kann, weil er im voraus aus dem einheitlichen, geschichtlich vorkonstruierten Volksgeist hervorgegangen ist, sondern ein stets in der Gegenwart revidierbares Arrangement zwischen Recht, Politik und Demokratie. Die Demokratie ist zuerst aus dieser strukturellen Koppelung zwischen Politik und Recht herausgefallen. Sie ist als Bedingung der Möglichkeit des Zugangs zum Machtmonopol des Staates bei Luhmann von der Politik aufgesaugt worden, und im Rechtssystem hat die Demokratie sowieso nichts zu suchen. Die Demokratie aber als ein eigenständiges Medium, das die Herrschenden von Beherrschten unterscheidet, ist in diesem Sinne keinesfalls mit der Politik identisch, denn die Politik ist für die „kollektiv bindenden Entscheidungen", d. h. für die Homogenisierung dessen, was die Demokratie unterscheidet, sensibel. Die repräsentative Demokratie, die nach Carl Schmitt eine leere Form ist, welche auch eine Diktatur legitimieren kann, hat darüber hinaus noch eine wichtige Eigenschaft. Durch das demokratische Wahlverfahren, in dem alle universal freien und gleichen Bürger um die Kontrolle des Machtmonopols des Staates wetteifern dürfen, ist die Demokratie auch ein Sieb, an dem die anonymen politischen Kräfte unerwartet, d. h. ereignishaft in Erscheinung treten können, und die erst, nachdem sie demokratisch markiert worden sind, die Politik sensibilisieren können. Die Politik muss danach zeigen, ob sie auch diese Neukömmlinge aus der demokratischen Umgebung zu kollektiv bindenden Entscheidungen mobilisieren kann, d. h. ob sie imstande ist, die neugekommenen politischen Akteure durch innere Differenzierung autopoietisch in das bestehende politische System zu integrieren; andernfalls kommt es zum Scheitern des bestehenden politischen Systems, zum Paradigmenwechsel, wie in den großen Revolutionen. So stehen die Dinge, wenn man die repräsentative Demokratie als eigenschaftslose Form oder als blinde Bedingung der Möglichkeit für den Zugang gleichberechtigter Bürger zum Gewaltmonopol des Staates denkt. Falls man aber die Demokratie beim Wort nimmt und als Volksherrschaft versteht, dann ist der Staat weder die Repräsentation des Volkes noch das Volk die Repräsentation des Staates. Das Volk steht weder für den Staat noch der Staat für das Volk. Wozu also die Repräsentation? Wer brauchte in der Tradition die Repräsentation als Rechtfertigung für das eigne Handeln: das Volk oder der Staat? Damit sind wir an die Schwelle lauter Paradoxien gelangt. Der Mythos des Volkes diente dazu, den repräsentationsbedürftigen Staat zu legitimieren. Er, der Staat, will im Namen eines Anderen handeln. Mit dem Mythos des Volkes als der undifferenzierten Einheit der Gleichen bzw. mit dem Mythos der Brüderlichkeit Aller wurde der demokratische Unterschied von Herrschern und Beherrschten verdeckt. Wenn man aber diesen Unterschied von Herrschern und Beherrschten aufhebt, hebt man auch die Demokratie als Volksherrschaft und als Herrschen über das Volk

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auf. Wenn man also im Namen der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Bürger von der realen Herrschaft der Einen über die Anderen abstrahiert, wie in den kommunistischen und faschistischen Regimes, die nur die Herrschaft über die Dinge, nicht aber über die Partei- und Volksgenossen zulässt, dann verliert der Begriff der Demokratie jeden Sinn. Die neuzeitliche repräsentative Demokratie als eigenschaftslose leere Form, für die alle Bürger gleich sind, verdeckte den differenzierenden Sinn der Demokratie, die nur soweit bestehen kann, wie sie imstande ist, zwischen Herrschern und Beherrschten zu unterscheiden. Wenn man diese Unterscheidungsfunktion aufhebt, dann hebt man auch die Demokratie auf, und mit ihr auch das Politische, denn für eine absolute Gleichheit aller Vernunftwesen, aller Menschen, aller Volks- und Parteigenossen ist die Politik entbehrlich, weil sie keine demokratische Umgebung hat, die nach demokratischen Maßstäben zwischen Bürgern unterscheidet. Die uns am besten bekannten Formen der Demokratie, die unmittelbare und die reerzeugen auf verschiedene Weise die Differenz von Herrschern und Bepräsentative, 27 herrschten. Demokratie hat eben diese inklusive und exklusive Funktion: sie entscheidet nicht nur, wer der Bürger eines Gemeinwesens ist, wer herrscht und wer beherrscht wird, sondern via facti auch, über welche Eigenschaften des Individuums als dem Mitglied eines demokratischen Gemeinwesens in einer demokratischen Entscheidungsprozedur demokratisch zu entscheiden ist, und über welche nicht. Heute ist die EU mit der Krise der repräsentativen Demokratie konfrontiert. Die EU hat kein Volk, das sie repräsentieren könnte. Die Politik wirkt in einer Umgebung mit vielen Differenzen, die nicht demokratisch erzeugt sind, und die man deswegen schwer durch „kollektiv bindende politische Entscheidungen" integrieren kann. Andererseits ist die Demokratie blockiert, weil sie in einer so pluralistischen Umgebung nicht die Kriterien fand, nach denen die Bürger Europas bereit wären, zwischen Herrschenden und Beherrschten zu unterscheiden. Der Begriff der Volksrepräsentation und seine Surrogate Kulturidentität und all dergleichen sind obsolet geworden. „Der Begriff der Repräsentation kann nicht mehr dazu dienen, politische bzw. demokratische Herrschaft durch Ableitung aus nichtpolitischen (wirtschaftlichen, sprachlichen, kulturellen, wissen-

schaftlichen) Geltungsgründen

zu

legitimieren".

28

Das bedeutet nach Luhmann, dass man den Pluralismus der realen gesellschaftlichen Struktur in der EU nicht mehr durch den Gegenbegriff des einheitlichen Volkes verdekken kann. Mit dem Begriff .Volk' hat man früher den Unterschied von Herrschern und Beherrschten nationalstaatlich invisibilisiert und heute wirkt er nach außen, d.h. der Unterschied der Völker ist in Richtung EU nationalstaatlich überbeleuchtet. Ebd., 429. Oder, wie das Derrida formulierte: „Das bedeutet, daß sich die Demokratie schützt und erhält, indem sie sich beschränkt (differenziert) und damit sich selbst bedroht und selbstmörderisch wird." J. Derrida, Schurken, Frankfurt/M. 2003, 59. C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1970, 204. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 333.

Davor Rodin

190

Wenn man die Politik nicht als Repräsentation nichtpolitischer Geltungsgründe, sondern als ein System, das in der Umgebung verschiedener demokratisch konstituierter durchaus unsicher, ob die Demokratie politischer Mächte handelt, versteht, dann ist es 29 ist". Die politischen Unterschiede zwischen durch und durch ein politischer Begriff den EU-Ländern sind nicht der europäischen Demokratie entsprungen, sie sind die geschichtliche Erbschaft des nationalstaatlich und natürlich nationaldemokratisch organisierten Europas. Die europäische Politik ist, real gesehen, von beiden Formen der Demokratie abgekoppelt und sucht die „kollektiv bindenden Entscheidungen" ohne die übliche demokratische Unterscheidung derjenigen, die in Europa entscheiden, und derer, die sich den Entscheidungen fügen müssen. Das ist besonders sichtbar im Europäischen Parlament, das keine Opposition und Position unterscheidet, sondern nur Parteifraktionen. Ist das EU-Parlament eine demokratische Institution im überkommenen Sinne, oder stellt es schon eine neue Form der Demokratie dar? In ihm sind zwar die Bürger Europas vertreten, aber nur wenn sie ihre Nationalstaatlichkeit besitzen, und als solche können sie nicht „kollektiv bindende Entscheidungen" in der EU treffen. Dieses Paradox führt man unter dem Euphemismus einer Demokratie sui generis, der immerhin die Spur einer neuen Demokratie ahnen lässt. Wenn man also die Demokratie als ein selbständiges Medium, das für die Differenzierung zwischen Herrschern und Beherrschten sensibel ist, versteht, dann schwebt die europäische Politik im leeren Raum des konstitutiven demokratischen Defizits. In einer bestimmten Demokratie ist auch eine bestimmte Politik möglich. Wenn es aber keine demokratische Umgebung der Politik gibt, dann funktioniert die Politik in der EU angelehnt an nichtdemokratische Geltungsgründe wie Kultur, Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Religion, Wille zum Frieden usw. Es bleibt dann bloß fraglich, wie das politische System ohne demokratische Unterscheidung der politischen Kräfte das Politische in seiner mit zahllosen nichtpolitischen Kommunikationen besiedelten UmWir meinen keinesfalls durch die Schmittsche Feind-Freund Untergebung erkennt. 30 sondern durch die Politisierung nichtpolitischer Kommunikation. Man Scheidung, spricht von der Identität Europas, von gemeinsamer Kultur, von Wissenschaft, Technik, Ökonomie, vom Dekalog, und das alles steht als Ersatz für die demokratische Unterscheidung gleichberechtigter Bürger in Herrschende und Beherrschte. Man sieht: die europäische Politik handelt in der Umgebung pluraler und kontingenter Entscheidungen, die keiner demokratischen Prozedur unterworfen sind. In den Wissenschaften, in der Religion, im Recht, in der Kultur, in der Technik kann man natürlich weder demokratisch noch politisch entscheiden. Ist also die überkommene Demokratie in der EU obsolet geworden, weswegen man eine künftige suchen soll, oder ist sie in „

Derrida, Schurken, 62. Luhmann schlägt eine andere Definition der Politik vor: „Sie ist das Bereithalten der kollektiv bindenden Entscheidungen" (Die Politik der Gesellschaft, 84).

Kapazität zu

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pluralistischen, multinationalen Europa grundsätzlich unmöglich, wie das Kant, Hegel und, besonders radikal und universalistisch, Rousseau meinte? Die These, die wir vertreten lautet: Wenn die Demokratie als autopoietisches System weder politisch noch staatlich repräsentiert ist, dann repräsentiert sie autogenerativ sich selbst und ist damit die Voraussetzung einer künftigen übernationalstaatlichen europäidem

schen Demokratie. Von ihr erwartet man, dass sie die Gleichheit, Freiheit und selbstbestimmte Lebensführung aller Individuen als Bewohner der EU ermöglicht, aber das ist, 31 wie gezeigt worden ist, eine Utopie, die die Gleichheit des Ungleichen propagiert. Wenn man aber, nach Luhmann, die Einheit der Vielheit nicht nur der Völker, sondern auch der autogenerativen Medien neu fassen will, dann muss man sie als Identität des Spieles der Nichtidentischen miteinander fassen. Ein solches Spiel ist nur dann möglich, wenn man die Demokratie auch als eine Methode zur Bezeichnung der unmarkierten Stellen oder als den Weg zur Lösung politischer Krisen, welche die verschiedenen Spieler nicht allein, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen Spielern lösen können, versteht (der Effekt des blinden Fleckes, nach dem man beim Handeln sich selber nicht sieht). Kehren wir zurück zur gegenwärtigen repräsentativen Demokratie, die in EU so mangelhaft funktioniert. Hegel als Republikaner war zu seiner Zeit auch gegen jede Repräsentation der Stände im Staat, denn er meinte, dass die Stände am besten sich selber repräsentieren, weil sich in ihnen die einheitliche Vernunft selbst repräsentiert. Hegel war natürlich auch gegen jede demokratische Repräsentation, weil über dem Demos der Geist des Volkes steht und der Geist braucht keine Instanz, die an seiner Stelle zu handeln hätte. Nun ist aber sichtbar geworden, dass die absolute Vernunft, bzw. das Volk als die unhinterfragbare Selbstrepräsentation oder Souveränität, paradox ist. Das Paradox der Volkssouveränität liegt im Begriff der Einheit: „Einheit erfordert, wenn es denn Einheit vor Herrschaft sein soll, ein letztes, nicht eliminierbares Moment der Willkür. Denn jede Einschränkung von Willkür würde die Souveränität auf den übergehen lassen, der über die Einschränkung disponiert". Wer steht aber über der Willkür des souveränen Volkes als volontée genérale, wenn wir auf Gott, das Hegeische Absolute, das absolute kosmopolitische Volk und auf die Menschheit selber verzichten? Die Antwort lautet: Nicht nur die Unverfügbarkeit und Unzugänglichkeit des Willens von zahlreichen Individuen mit ihren Rechten und Meinungen, sondern auch die anonyme Umwelt, über die selbst das souveräne Volk nicht verfügt. Und eben diese auf der inneren und äußeren Seite unverfügbare, schlechthin unbekannte Umgebung der Volksherrschaft eröffnet ihr die Möglichkeit der inneren Differenzierung oder der Entwicklung der bestehenden zu einer künftigen Demokratie, die es noch nie gegeben hat. Die Demokratie im wörtlichen Sinne und die Staatsform des politischen Systems als zwei verschiedene autogenerative Systeme sind natürlich nicht gegenseitig isoliert, son-

Ebd., 357. Ebd., 358.

192

Davor Rodin

dein sie verhalten sich sinnirritierend als gegenseitige Umwelten. Im Verhältnis zur Demokratie muss sich die Politik damit abfinden, dass sie die Demokratie voraussetzen muss, aber nicht kontrollieren kann: „sie kann die Demokratie irritieren, aber nicht determinieren". Die politische Unkontrollierbarkeit der Demokratie hat das Scheitern des Sozialismus als politische Regierungsform herbeigeführt. Daraus folgt die Paradoxie der Politik selbst: sie lebt in der utopischen Illusion, dass sie die Umwelt und die Demokratie gestalten kann, ohne doch in ihr operieren zu können. Wir wissen aber, dass keine Politik für einen sicheren Wahlsieg bürgen kann. Damit ist auch das neuzeitliche, strukturell bedingte demokratische Defizit auf eine andere Weise erklärbar. Die nationalen Staaten als funktionale Autonomien des politischen Systems können die künftige europäische Demokratie nur irritieren, aber nicht kontrollieren. Das heißt, wenn man die gegenwärtige Demokratie als Bedingung der Möglichkeit des Zugangs zum Machtmonopol des Staates in ihre ursprüngliche Funktion der Unterscheidung von Regierenden und Regierten zurückversetzt, kann man hoffen, dass die demokratischen Prozesse in der EU das politische System der Nationalstaaten semantisch so beeinflussen werden, dass sich die Nationalstaaten als politische Systeme an die europäische Demokratie semantisch anpassen werden, d. h. an eine Demokratie, die nicht die übernationalstaatliche politische Herrschaft in der EU legitimieren, sondern neue Kriterien der Unterscheidung von Herrschern und Beherrschten, die für die Mehrheit der Europäer annehmbar werden, anbieten wird. Damit wird diese neue Demokratie die europäischen nationalen politischen Institutionen und das nationale politische System semantisch irritieren und innerlich verändern. Der allmähliche Austritt der Demokratie aus der repräsentativen Funktion, die das Staatsmonopol über die Macht in den nationalen Staaten und nach einer schlechten Analogie auch in der EU legitimieren soll, setzt die Entwicklung frei hin zu einer differenzierenden Funktion, die aber mit dem Euphemismus Gemeinwesen sui generis verdeckt ist. Die künftige Demokratie wird die Politik in nationalen Staaten und in der EU weder legitimieren noch determinieren, sondern nur irritieren. Die demokratische Unterscheidung von Herrschern und Beherrschten wird öffentlich sichtbar nicht durch kausale, sondern nur durch semantische Konsequenzen für das politische System (Verfassung) und die Politik in nationalen Staaten. Luhmanns These, dass der Staat eine fiktionale Einheit von Recht und Politik sei, also ein Arrangement, das von einer veränderlichen Verfassung reguliert wird, muss jetzt durch den Begriff der autogenerativen Demokratie ergänzt werden. In diesem Bezug zwischen autogenerativem Recht und der autopoietischen Politik ist nicht nur der Staat als geschichtliche Form des politischen Gemeinwesens eine Fiktion, sondern auch die Demokratie. Der Begriff Fiktion bezieht sich auf jedes Medium, denn das Medium vermittelt nicht zwischen zwei Gegebenheiten, es dient nicht der Milde-

Ebd., 373. Ebd., 407.

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

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rung der Extreme im Sinne der aristotelischen Phronesis, sondern ist bestimmt als die Anwesenheit des Abwesenden. Das bedeutet: die Demokratie unterscheidet zwischen den Herrschenden und Beherrschten, ohne zu wissen, was die Bürger als Einzelpersonen innerlich meinen; sodann irritiert sie das Recht, die Politik und den Staat, ohne in ihnen operativ anwesend zu sein. Man kann in einem Rechtsverfahren oder im politischen Handeln nicht nach dem unzugänglichen Volkswillen, sondern einerseits nach dem Recht und anderseits nach der demokratisch erzeugten pluralen Umgebung der Politik handeln. Das bedeutet, die Richter und die Politiker verstehen die öffentliche Meinung der Bürger, obwohl sie mit ihr weder rechtlich noch politisch disponieren können oder gar mit ihr identisch sind, wie das Carl Schmitt, der von der Einheit des Führers und des Volkes erzählt, meinte, denn das wäre nicht nur totalitär, sondern absurd, gleich der Landkarte, die mit der Landschaft, die sie darstellt, identisch wäre. Die Richter, Politiker und Staatsbeamten können der Demokratie nicht genügen, weil sie den Richtern, Politikern und Bürokraten nur auf eine fiktionale, d. h. abwesende Weise, nämlich nur im Medium des Rechtes, der Politik und der Staatsorganisation zugänglich ist, aber nicht unmittelbar oder authentisch wie bei Hegel, bei dem diese verschiedenen Medien auf die verschiedenen Stufen des absoluten, sich selbst wissenden Wissens reduziert sind. Das Recht und die Politik handeln nicht im Namen der Demokratie und die Demokratie handelt nicht in Namen des Rechtes und der Politik. Die Politik das Recht und die Demokratie sind verschiedene Gegebenheitsweisen dessen, für das sie als Medien in ihrer bekannten und unbekanten Umgebung selektiv irritierbar, d. h. empfindlich sind. Die Medien fungieren als blinder Fleck, an dem man am besten sieht, nur sich selbst nicht. Indem die Demokratie, die Politik und das Recht weder sich selbst in ihrem Handeln noch die Folgen ihrer Handlungen sehen können, suchten sie in der Tradition immer eine andere Instanz, die ihnen die Selbstbeobachtung oder Alleinherrschaft ermöglichen sollte. Sie brauchten Repräsentation, weil sie legitimationsbedürftig waren. Man brauchte den Gott, das Volk, den Tyrannen, um seine eigene Herrschaft durch eine übergeordnete fiktive Fremdherrschaft, in deren Namen man quasi herrscht oder die man repräsentiert, zu legitimieren. Die Postmoderne hat diese ideologische Funktion der Repräsentation durchschaut. Man darf aber das postmoderne politische Denken nicht nach dem Etikett zweite Moderne pragmatisch als Handlungsanweisung im Sinne der neuzeitlichen Natur- und Gesellschaftswissenschaften verstehen, wie das letzten Endes Ulrich Beck vorschlägt. Das postmoderne Denken operiert nur mit demjenigen sprachlichen und schriftlichen Wissen von Politik, Recht und Demokratie, das eben in diesem sprachlich-schriftlichen

Vgl. C. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, Stuttgart 1993; D. Rodin, ,Der Fall Hamlet', in: Endlich Philosophieren. Spielräume und Grenzen, eine Tradition fortzusetzen, hg. von A. Mones und R. Wansing, Köln 2000. Vgl. U. Beck und E. Grande, Das kosmopolitische Europa, Frankfurt/M. 2007.

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Medium als Wissen besteht. Oder, wie Umberto Eco gegen Shakespeare sagt, für den der Name nichts ist: „a rose by any name"; nur das Wort hat eine Realität, die Materie aber, die Rose ist nichts. Dieses Denken weiß, dass es mit dem, was es sprachlich und schriftlich bearbeitet, nicht außerhalb der Sprache und Schrift disponieren kann. Das Wissen selbst ist ein besonderes Medium oder eine Fiktion, welche die Anwesenheit des Abwesenden darstellt. Solches Wissen ist nicht unmittelbar anwendbar; es wirkt auf andere Medien nur semantisch, d. h. es besteht als ihre Umgebung, die sie affiziert, aber mit der sie nicht disponieren können. Dieses Wissen ist autonom, aber nicht anarchisch. Auf andere Handlungsweisen oder Medien der bekannten und unbekannten Umgebung kann das Wissen nur semantisch korrigierend einwirken. Jede Handlungsweise ist ein blinder Fleck, der sich selber nur in einem anderen Medium sehen kann, aber nur auf eine paradoxale Weise, d. h. als abwesende Anwesenheit oder Fiktion. In der heutigen EU bestehen selbstredend rudimentär alle alten Formen der Demokratie und auch die traditionellen demokratischen Entscheidungsprozeduren, aber auf eine weitere Entwicklung dieser Rudimente der Demokratie in der EU zu hoffen, ist eine Utopie, die die Theoretiker der sogenannten Zweiten Moderne vertreten. Man muss sogar fürchten, dass diese alten Formen der Demokratie durch das immer mögliche Reentry Europa auf die Gleise einer Regression in Richtung der national, sozial oder konfessionell eingeschränkten Demokratie zurückschieben. Eine kommende Demokratie muss nach Derrida und Luhmann in der heutigen europäischen rechtlichen und politischen Umgebung durch innere Differenzierung eine neue Empfindlichkeit nicht nur für die Unterscheidung der Herrschenden von den Beherrschten, sondern auch für die Maßstäbe entwickeln, nach denen unterschieden wird, über welche Eigenschaften von Privatpersonen man demokratisch entscheiden kann und über welche nicht; anders gesagt: für diejenigen Eigenschaften, die institutionell geschützt sind, und diejenigen, die außerhalb der Gesetze bestehen, oder sogar noch ganz anonym sind, die man also erst markieren muss, um sie überhaupt ins Visier zu bekommen. Die Demokratie muss für diese anonyme Umgebung, die außerhalb der heutigen europäischen Institutionen besteht, offen und sensibel sein. Eine gute Regierung ist nicht diejenige, die die eigenen Institutionen kontrolliert und die ihre Normen der bekannten und anonymen Umgebung aufzwingt, sondern diejenige, die weiß, dass sie ihre bekannte und anonyme Umgebung nie beherrschen, sondern mit ihr permanent kollaborieren wird. Man muss hoffen, dass die demokratische Politik diese neuen Gegebenheiten, die Foucault unter den Namen der Gouvernementalität führt, rechtzeitig entdecken wird. Das ist noch wichtiger in bezug auf außereuropäische politische Kulturen, die man nicht beherrschen kann, und mit denen man eben deshalb einen modus vivendi suchen

muss.

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III. „Wir leben im

Übergang, und in dessen Strudel sind nur kleine Züge möglich. Da mögen die

Ziele nützlich sein, damit Hannah Arendts Albtraum vom schwarzen Ende der Die Menschen, so schrieb sie, schickten sich an, in sterilster Passivität zu enden' und sich in eine ,Tiergattung' zu verwandeln, in der jeder Einzelne nur noch Funktionsträger der großen Produktionsmaschine ist. Sozial, also gesellschaftlich, wäre es, gegen diese Möglichkeit zu arbeiten". alten und

neuen

Arbeitsgesellschaft nicht wahr wird.

Es ist gezeigt worden, dass die Demokratie eine inklusive und eine exklusive Funktion hat. Sie ist für die Unterscheidung der Herrschenden und der Beherrschten sensibel. Diese Bestimmung der Demokratie teilen verschiedene Arten der postmodernen Differenztheorien, die die gegenwärtige funktional differenzierte Gesellschaft untersuchen: Die Medientheorie, die Systemtheorie und die Dekonstruktivisten. Die vorher durchgeführte Unterscheidung der autonomen autopoietischen Medien des Rechts, der Politik und der Demokratie vertreten alle angeführten Differenztheorien. Jedes System oder Medium hat seine funktional begrenzte Sensibilität, mit der er verschiedene Teile seiner Umgebung ein- oder ausschließt und sich damit auch innerlich differenziert. Zum Beispiel hat die Wissenschaft eine andere inklusiv-exklusive Sensibilität als die Religion, Politik oder Ökonomie. Nun stellt sich die Frage, welches gesellschaftskritische Potential die angeführten Differenztheorien besitzen. Um das festzustellen, muss eine andere Deutung des Verhältnisses zwischen dem System und seiner Umgebung vorgenommen werden, denn vom Standpunkt der Differenztheorien aus ist das Hegeische Modell, nach dem sich die Unterscheidung System-Umwelt in der höheren dialektischen Einheit aufhebt, außer Kraft gesetzt. Wenn es aber keine höhere Einheit von System und Umwelt gibt, dann waltet der Grundsatz: tertium non datur. Die funktional differenzierten autopoietischen Systeme z. B. die Unterscheidung von Recht und Unrecht, von heben die Codedifferenzen Unwahrheit nicht auf: die Unterschiede bleiben und die Systeme stehen Wahrheit und im Verhältnis der ständigen semantischen Irritation parallel nebeneinander, zwar übersetzbar, aber ohne Aufhebung in eine höhere Einheit; ohne Hoffnung auf die Aufhebung des Unrechts in einer künftigen gerechten Gesellschaft. Die höhere Einheit des Verschiedenen wirkte in der klassischen kritischen Theorie als das utopische Ziel der Kritik der bestehenden ungerechten Gesellschaft. Diese höheren Einheiten sind uns unter den Namen Nationalstaat, Kommunismus, konfliktlose Gesellschaft, Humanismus, Kosmopolitismus, Messianismus bekannt. Wenn solche Ziele nicht mehr bestehen und die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten unaufhebbar sind, unter anderem auch deshalb, weil die autopoietischen Systeme -

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Greffrath, ,Die Dreizeitgesellschaft', in: Der Tagesspiegel, 30.08.2005; www.der-leserbrief.de/rss/artikel.php?id=504. M.

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im Modus der Gegenwart operieren, dann stellt sich die Frage nach den kritischen Potenzen der Politikwissenschaft und der Soziologie. Die autopoietischen Systeme sind nach den Differenztheorien weder durch ihre inneren Möglichkeiten, noch durch externe Notwendigkeiten, sondern durch Kontingenzen und Ungewissheiten ihrer präsen38 ten, unverfügbaren und teilweise anonymen Umwelt mitbestimmt. Wie soll man ohne die temporale Perspektive eines im voraus beschriebenen besseren Ausgangs des sozialen Dramas zu einen kritischen Verhältnis zur gegenwärtigen sozialen und politischen Ordnung kommen? Die gegenwärtige Forschung schlägt zwei Möglichkeiten vor: die Distanzierung von der bestehenden Ordnung und das Engagement in ihr. Nach diesen Forschungen distanziert sich Luhmann von der bestehenden Ordnung und Pierre Bourdieu ist in ihr kritisch nur

tätig/"

Wir überprüfen diese Stellungnahmen. Die Differenztheorien, die die gegenwärtige Gesellschaft untersuchen, stehen vor zwei Möglichkeiten der Kritik der bestehenden sozialen und politischen Ordnung. Erstens können sie die ganze Umgebung der sozialpolitischen Ordnung untersuchen und sich damit der Gefahr der Identifikation mit kosmopolitischen und humanistischen Utopien aussetzen; zweitens können sie die sozialpolitische Umwelt aus der Sicht des funktional eingeschränkten Standpunkts untersuchen und damit im Einklang mit ihrer besonderen funktionalen Sensibilität bestimmte Teile der Umgebung ein- oder ausschließen. Damit verzichten sie auf die generelle Reparatur der ganzen Gesellschaft zugunsten der Reparatur einzelner Teile. Die funktionalen Systeme, wie Demokratie, Politik, Staat und das Recht, haben hoch differenzierte Strukturen und demgemäß immer ein hohes Ein- und Ausschlusspotential, mit dem sie ganze Teile der Bevölkerung aus den demokratischen, politischen, staatlichen und rechtlichen Strukturen auszuschließen vermögen. Statt Bürger werden die Menschen nur Bewohner eines Territoriums. Große Teile der Bevölkerung im Inland und Ausland bleiben damit außerhalb dieser Systeme oder auf ihrer niedrigsten Ebene: „sie haben keinen Zugang zur Arbeit, keinen Zugang zur Wirtschaft, keine Aussicht, gegen die Polizei, oder vor Gericht Recht zu bekommen. Die Exklusionen verstärken sich wechselseitig, und von einer gewissen Schwelle ab absorbiert das Überleben als Körper alle noch verbliebene Zeit und alle Kräfte". „Was dem Einzelnen für dessen ist der Überleben, bleibt, Hunger, Gewalt, Sexualieigene Körper, Sorge ziehen? tät".41 Kann vielleicht die Religion daraus Nutzen Dieser elende Zustand und die Verzweiflung der funktional ausgeschlossenen Bevölkerung haben nach Derrida die Prozesse der Autoimmunisierung der hochdifferenzierten funktionalen Systeme des Westens verursacht. Was der Westen als Schutz vor den ge-

N. Luhmann, Ökologische Kommunikation, Opladen 1986, 79. Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, hg. von Armin Nassehi und Gerd Nollmann, Frankfurt/M. 2004, 259. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, 242. Ebd., 303.

Der Staat als die fiktionale Einheit von Recht und Politik

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internen Gefahren aufbaute, bekommt er heute in Gestalt äußerer Bedrohung als Retourkutsche, die mit der allgemeinen Katastrophe droht, zurück. Nach den Voraussagen der Differenztheorien hat der hoch differenzierte Westen mit seinen funktionalen Exklusionen sich selbst bedroht, indem er seine eigenen Verteidigungsmechanismen immunisierte. Die westliche Gesellschaft ist nicht mehr Gesellschaft der Exploitation der Menschen und der Natur, von der Karl Marx sprach: weil man nichts mehr findet, „was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre".4 Die Unterdrückung der bestehenden Naturquellen und der Menschen im klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts ist durch die Ausbeutung der Innovationen ersetzt, d.h. jener Potenzen, die man nicht bloß vorfindet, sondern die man erst wissenschaftlich erzeugen muss, um sie dann auszunützen. Die Produktion von Innovationen ist aber sehr stark wissensbasiert und teuer, so dass die Prozesse der Innovation auf dramatische Weise große Teile der Weltbevölkerung ausschließen, die nicht imstande ist, die Innovationen zu erzeugen und damit ihre Vorteile zu genießen. Markus Schroer führt in diesem Zusammenhang die Prognose von Manuel Castells an: „Wir bewegen uns von einer Situation sozialer Ausbeutung zu einer Situation funktionaler Irrelevanz. Wir werden einen Tag erleben, an dem es ein Privileg sein wird, zu werden, denn noch schlimmer als Ausbeutung ist, ignoriert zu werausgebeutet 43 den « Theoretiker der jüngeren Generation wie Georg Kneer und Markus Schroer untersuchen die kritischen Potenzen der Differenztheorie, aber sie finden keine Antwort auf die Frage, warum die Exklusionsprozesse zu den genannten sozialen Skandalen der multiplizierten Exklusion führen. Die Irrelevanz, die noch schlimmer als die Ausbeutung ist, ist die Ausgeburt der innovativen Wissensgesellschaft. Diese Gesellschaft erzeugt im Weltmaßstab die Ignoranz und Inkompetenz, die für die Menschen in der dritten Welt, aber auch für die Menschen im entwickelten Westen, schlimmer als die Ausbeutung ist. Bestimmte Bevölkerungsschichten werden unbrauchbar für jegliche Ausbeutung oder Kooperation, womit sie automatisch unsichtbar und daher ignoriert werden. Die traditionalen Gesellschaften haben mit brutalen Mitteln gegen den Fortschritt gekämpft. Die moderne Gesellschaft kann nur bestehen, wenn sie ständig alle vorgefundenen Quellen des Wissens, der Menschen und der Natur erneuert. Die Opfer des Fortschritts sind die Ignoranten, die ihm weder zu folgen noch ihn nachzuahmen oder gar zu erzeugen wissen. Sie sind dem allmählich kulminierendem Prozess des Kommunikationsbruches mit den entwickelten Systemen ausgeliefert, so dass die Menschen ganzer Weltregionen nur noch als Leiber, mit denen die entwickelte Welt nicht mehr umzugenannten

.

.

K.U. Hellmann, Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview mit Niklas Luhmann', in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 1 (1994), 53-69. M. Castells, ,Die zweigeteilte Stadt Arm und Reich in den Städten Lateinamerikas, der USA und Europas', in: Die Welt der Stadt, hg. von Tilo Schabert, München 1990, 199-216.

Vgl.

,

-

198

Davor Rodin

hen weiß, bestehen. Die Verwaltung des Elends wird so zu einer neuen Aufgabe der Vertreter der Wissensgesellschaft. Diese entwickelte Welt, die auf ihrer anderen Seite die Rückständigkeit erzeugt, kritisieren die Differenztheorien ganz anders als die klassische kritische Theorie des Kapitalismus. Die gegenwärtige Gesellschaft des Wissens ist den Ungewissheiten, Unverfügbarkeiten und unmarkierten Stellen ausgesetzt, die außerhalb der Kontrolle irgendwelchen funktionalen Systeme bestehen. Diese Gesellschaft fühlt sich nicht bedroht von den bekannten Folgen der Innovationen, sondern von denjenigen, die unbekannt und unbezeichnet sind. Sie fürchtet nicht das Reentry schon gesehener Aufstände der Elenden, sondern das Potential der Ausgeschlossenen, das ihnen selber unbekannt und damit unverfügbar ist. Eine von diesen unvorgesehenen, unverfügbaren Gefahren war der Terrorismus, ebenso die Weltseuchen, denen man mit dem bestehendem Gesundheitssystem nicht vorbeugen kann, dazu kommen noch die unkontrollierbaren biologischen und atomaren Waffen. Die Gewalt ist, mit einem Wort, nicht mehr sichtbar, sie ist verdeckt in allen funktionalen Strukturen der gegenwärtigen Reproduktion der Gesellschaft und besonders in der Produktion des neuen Wissens. Die sichtbaren Grausamkeiten der Gewalt in unserer Welt werden in den Medien produziert, um dadurch die strukturelle Gewalt unsichtbar zu machen. Die funktional differenzierten autopoietischen Systeme erzeugen auf ihrer anderen Seite nicht nur das Elend der Ausgeschlossenen, sondern auch das Bewusstsein von den unvorhersehbaren Gefahren, die diese Exklusion herbeiführen. Derrida, wie bekannt, bezeichnet das mit dem Begriff der Autoimmunität des System gegen eigene Verteidi-

gungsmechanismen.

Über welches kritische Potential verfügen die Differenztheorien gegenüber der so beschriebenen Situation? Wenn man die von Derrida, Luhmann, Bourdieu, Foucault u. a. vertretenen Theorien im Auge behält, dann kann man nicht die vorhin angeführte Diagnose vertreten, nach der hinter der ganzen Misere etwas steht, das man aufdecken oder sichtbar machen muss, um damit die Kräfte der Befreiung zu befreien. Das wäre bloß die Entzauberung der Welt im Weberschen Sinne. Es ist nicht so, dass hinter allem bestimmte gesellschaftliche Kräfte stehen, die etwas verheimlichen, weil sie auf dieses Geheimnis ihre Macht gründen. Im Gegenteil, die gegenwärtige Wissensgesellschaft ist mit einem Nichtwissen konfrontiert, das keine verheimlichte Wahrheit ist, mit der man wie mit der Lüge manipulieren kann; es geht vielmehr um ein strukturelles Unwissen, über das niemand weder schon verfügt noch jemals verfügen kann. Dieses strukturelle Unwissen nennt Luhmann blinder Fleck. Mit dieser Metapher will er sagen: Wir sehen die Sonne, aber nicht die Sicht, mit der man sie sieht; oder die Sprache dient nicht nur der Kommunikation, sondern die Kommunikation ermöglicht die Selbstbestimmung. Diese strukturelle Blindheit behebt Luhmann nicht mit der Entzauberung des Geheimnisses, sondern mit der Kommunikation der maßgebenden Beob-

achter. Der Andere sieht, dass ich beim Gehen die Hindernisse vermeide, und damit wird ihm die Funktion der Sicht klar. Die Kritik der gegenwärtigen Wissensgesellschaft ist vom Standpunkt der Differenztheorien nicht in utopischen Zielen, sondern in der Kommunikation der kompetenten Beobachter aus verschiedenen Systemen begründet. Luhmann und Derrida verstehen ihre Theorien nicht als anwendbare Entwürfe für die Verbesserung der Gesellschaft. Aus dem applikativen und meliorativen Verständnis der Theorien ist es zur gegenwärtigen strukturellen Gewalt über die Menschen und Natur gekommen, das man Wissensgesellschaft als Euphemismus für Neoliberalismus nennt. Das kritische Potential der Differenztheorien liegt nicht in ihrer Anwendbarkeit in der Praxis. Im Gegenteil, sie machen die strukturelle Blindheit der neuzeitlichen Theorien sichtbar, die angewandt worden waren und damit die heutige strukturelle Gewalt über die Menschen und die gesamten Natur verursacht haben. Das gegenwärtige kritische Denken versucht, den in Holzwegen irrenden Menschen semantisch zu orientieren, wie Heidegger die Situation, in die die neuzeitlichen applikativen Wissenschaften die Menschen geführt haben,44 bezeichnet. Vom Standpunkt des strukturell unanwendbaren Denkens sind Theoretiker wie Anthony Giddens und Ulrich Beck nur die Apologeten des bestehenden neoliberalen Kapitalismus, die diese Welt verbessern wollen. Nach ihnen weiß diese Welt mit den verfügbaren Ressourcen des Wissens zu manipulieren, und zwar mit den zuverlässigen Mitteln der Selbstverteidigung durch Selbsttäuschung, d. h. mit dem Angebot einer besseren Zukunft und, wenn es nötig ist, mit dem Reentry der vergangenen Werte. Luhmann schlägt keine bessere Gesellschaft vor, er gibt auch keine Diagnosen der bestehenden Gesellschaft, aufgrund deren man sie heilen könnte. Als Beobachter zweiter Stufe markiert er die verpassten Möglichkeiten der bestehenden Lage, die man mit keinem Projekt, weder zeitlich noch räumlich, transzendieren, sondern nur semantisch aufklären kann. Nur die Hilfe im Modus der Gegenwart gilt, alles andere ist philanthropisches Trübsalblasen. Nur ein neues Wissen kann uns in der gegenwärtigen Situation helfen. Die Kritik der bestehenden Gesellschaft, die von den Differenztheorien angeboten wird, soll man nicht als Engagement oder Distanzierung etikettieren. Die Vertreter der Differenztheorien wissen, dass die gegenwärtige funktional differenzierte Gesellschaft mit ihrer radikalen Exklusion und Entwertung all dessen, was nicht funktional ist, durch sich selbst bedroht wird. Den Ausweg aus dieser Sackgasse suchen sie nicht in humanistischen Utopien, sondern durch das Markieren dessen, was unsichtbar bleibt, wenn man schaut, d. h. mit der Erforschung dessen, was dem Gesellschaftsbetrieb strukturell -

-

unsichtbar geblieben ist. Selbstredend ist das Abwesende im Anwesenden nicht eo ipso das Rettende; das wäre Messianismus. Das Abwesende könnte noch schlimmer sein als das Bestehende, aber damit muss man rechnen. Die heutige Flut der regionalen Ethiken,

M.

Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 1963, 69,

105.

200

Davor Rodin

mit denen man den Fortschritt in in verschiedenen funktionalen Systeme sichern zu können glaubt, ist das Zeichen solcher Gefahr. Solche ethischen Entwürfe entbehren der Einsicht, dass eine kreative ethische Entscheidung gleichzeitig annehmbar und unannehmbar sein kann.

Jean-François Kervegan (Paris)

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, Supranationalität:

ein widersprüchliches Verhältnis?

„In Rücksicht auf eigentliche bürgerliche Gesetze und die Gerechtigkeitspflege würde weder die Gleichheit der Gesetze und des Rechtsgangs Europa zu einem Staate machen, sowenig als die Gleichheit der Gewichte, Maße und des Geldes, noch hebt ihre Verschiedenheit die Einheit eines Staats auf"'

Das Thema Krise oder Untergang der Souveränität also die Frage nach dem, was das wesentliche Merkmal des modernen Staates ausmacht ist keineswegs neu. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ist es mehrfach auf die Tagesordnung gesetzt worden; man streitet darüber am Ende des Ersten Weltkrieges, indem der Völkerbund (mit wohlbekanntem Erfolg) entsteht; dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, beim Nürnberger Gerichtshof oder zur Zeit der Stiftung der UNO; dann während des Prozesses der europäischen Einigung (man denke an die Kontroverse zwischen den so genannten „Souveränisten" und „Europäern"). Endlich haben seit einem oder zwei Jahrzehnten neue Typen von Konflikten die Frage nach der Notwendigkeit bzw. nach der Legitimität der so genannten „humanitären Kriege" (die keine eigentlichen Kriege sind, weil sie keine zwischenstaatlichen Konflikte sind) gestellt, d. h. solcher Kriege, die zwischen der „internationalen Gemeinschaft" und einem ihrer Glieder (z.B. Irak, Serbien) stattfinden, wenn letztere gewisse überstaatlich gültige Prinzipien (z.B. Rechte der Minderheiten oder Normen des Völkerrechts) tatsächlich oder vermeintlich verletzen. Solche Debatten haben immer dringender eine Frage gestellt, die eigentlich während der ganzen Entwicklung des modernen Konstitutionalismus vorhanden war und die implizit durch die Art und Weise gestellt wurde, nach welcher die Französische Revolution die Souveränität der Nationen und die Unantastbarkeit der Menschenrechte miteinander koppeln wollte. Diese Frage nämlich ist die nach der Kompatibilität des so genannten „Dogmas der Souveränität", mithin des politischen Ordnungstypus „Staat", mit der eigentlich nicht neuen (sie ist von den Gründern der modernen Naturrechtslehre, von Grotius und sogar von Hobbes direkt oder indirekt behauptet worden) Anerkennung der „unverjährbaren Naturrechte" des Menschen als solchem, d.h. nicht bloß des „Staatsbürgers". Versuchen wir, diese verwickelten, oft konfus gestellten Fragen etwas präziser zu for-

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G.W.F.

Hegel, Die Verfassung Deutschlands,

in: Werke, Frankfurt/M. 1970, Bd. 1, 475.

Jean-François Kervegan

202

mulieren: kann der Begriff der Souveränität, mit welchen Veränderungen auch immer, weiter bestehen, wenn die Forderung der Rechtsstaatlichkeit unbedingt gelten soll und wenn sich eine Menge Fragen stellen, die nicht im Rahmen der klassischen politischen nämlich nicht innerhalb des Staates gelöst werden können? Es müssen nur die Probleme des Umweltschutzes oder der „Globalisierung" der Produktion und des Tausches erwähnt werden, um den dringenden Charakter dieser Fragestellung festzustellen.

Ordnungen,

1.

Begriff und Bedingungen der Souveränität

Fangen wir an mit der berühmten Definition der Souveränität, die Jean Bodin am Anfang seiner Sechs Bücher über die Republik gibt: „La souveraineté est la puissance absolue et perpétuelle d'une République". Obwohl Bodin selbst versucht, dem Begriff eine Art Universalität zu verleihen, indem er die vermutlichen Äquivalente des Wortes in der lateinischen, griechischen, italienischen und hebräischen Sprache angibt, zeigt dieser Begriff eindeutig die Prägung durch die Bedingungen an, unter denen der moderne Staat (ob es einen anderen Staat gibt, als den modernen, bleibt frage würdig) sich entwickelt hat. Diese Bedingungen hängen weitgehend mit dem zusammen, was man „Säkularisierung" des Politischen und der dazu gehörenden Vorstellungen nennt. Kurz gesagt, der moderne Staat konstituiert sich als souverän, indem er sich äußerlich wie innerlich als einziger Repräsentant des durch ihn vereinigten Volksganzen behauptet; das ist das bekannte Paradox der repräsentativen Selbstinstitution des Volkes dank der Souveränität, das die Lehre der authorisation im Kap. 16 des Leviathan musterhaft darstellt. Das Wesensmerkmal der Souveränität ist das Monopol der Gesetzgebung; die erste der „marques de souveraineté", so Bodin, ist, „donner loi à tous en général et à chacun en particulier [...] sans le consentement de plus grand, de pareil, ni de moindre que soi". Die Souveränität (die des Fürsten bei Bodin, später die des Volkes) ist also eine Ermächtigung, „den Untertanen Gesetze zu geben" und auch „unnötige Gesetze zu brechen oder zu vernichten, um andere zu Bodin selbst macht diese Definition Schwierigkeiten, was die Kompatibilität dieses Begriffs mit der Anerkennung der Existenz von göttlichen und natürlichen Gesetzen betrifft. Um die Gründe zu schildern,

geben".4

J.

Bodin, Les six livres de la République [République], 1.1, chap. VIII,

1, Paris 1986, 179. Zur S. Goyard-Fabre, Jean Bodin et le droit de la RépuLehre der Souveränität bei Bodin siehe blique, Paris 1989; J. Franklin, Jean Bodin and the Rise of Absolutist Theory, Cambridge 1973; J.-F. Spitz, Bodin et la souveraineté, Paris 1998; grundlegend O. Beaud, La puissance de l'Etat, Paris 1974,47 ff. „(...) allen im allgemeinen und jedem insbesondere Gesetze geben, ohne die Zusage von Höherem, Gleichem oder Kleinerem als sich selbst". J. Bodin, République, 1.1, chap.X, t. 1, 306. J. Bodin, République, 1.1, chap. VIII, t. 1, 191. t.

-

u.a.

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, SupraNationalität

203

die Idee der Souveränität unter die Bedingungen der gegenwärtigen Welt gewisse Schwierigkeiten machen kann, scheint es mir nicht unnötig, einige Merkmale des modernen Souveränitätsbegriffs (eine eigentlich pleonastische Prägung) schon im voraus darzustellen und die Bedingungen seiner Bildung zu bestimmen. 1. Der Begriff der Souveränität ist ein Produkt des „Säkularisierungsprozesses", aus welchem der moderne Staat entstanden ist. Ich kann und will mich hier nicht in die dazu gehörende Debatte einmischen; sie ist bekanntlich von Carl Schmitt in seiner ersten Politischen Theologie eingeführt worden und wurde dann von Löwith und Blumenberg während der 50er Jahre fortgeführt, als sie über die Abhängigkeit der Modernität von den „theologischen" Vorstellungen, daher über die „Legitimität der Neuzeit" polemisiert haben; diese Debatte ist jüngst von Marcel Gauchet weitergeführt worden.5 Ich möchte hier nur an eine ziemlich evidente Tatsache erinnern: der moderne Staat und das „Prinzip der Souveränität" stammen aus der Notwendigkeit, den politisch-religiösen Streit zu überwinden, der infolge der Reformation das ganze westliche Europa zerschnitten hatte. Wegen der Unmöglichkeit, die Legitimität der politischen Autorität auf bloß theologischen, nunmehr kontrovers gewordenen Prinzipien zu begründen, müsste man ihr nun eine enttheologisierte Begründung geben. Von Grotius und Hobbes bis zu Rousseau und zum deutschen Idealismus geben die Naturrechtslehren eine konsistente Antwort auf dieses Bedürfnis, deren späterer Ausdruck die Lehre der Volkssouveränität ist. In diesem Sinn folgen der moderne Staat und sein wesentliches Prädikat aus einer „Neutralisierung" (so Carl Schmitt) des Religiösen, der das Schlagwort des Juristen Albericus Gentilis: „Silete theologi in muñere alieno" einen emblematischen Ausdruck warum

gibt.6

2. Aus einem anderen, mit dem vorigen kompatiblen Standpunkt hängt das Prinzip der Souveränität von dem Prozess der „Rationalisierung der Welt" ab, den Max Weber als das typische Merkmal der Modernität beschreibt.7 Dass der moderne Staat als einziger ein „rationaler" Staat ist, d.h., dass er die Rationalität seines Handelns und seiner Gründe beansprucht und dabei ein Legitimitätsprinzip findet, kann verschiedenartig verstanden werden. Hier will ich nur zwei Aspekte jener Rationalisierung hervorheben. Erstens ist selbstverständlich die Entwicklung von Lehren zu betonen, welche darauf abzielen, der Souveränität eine rationale bzw. „natürliche" Begründung zu verleihen; es handelt sich dabei in erster Linie um die Naturrechtslehren. Zweitens ist die steigende Bedeutung der Methoden der „Verwaltung" in der „rationalen" Leitung der sozialen Welt zu betonen. Arbeiten wie z. B. die von Paul de Lagarde haben festgestellt, dass die Geburt des modernen souveränen Staates direkt mit der Entwicklung von systematiSiehe C. Schmitt, Politische Theologie, Kap. 3, Berlin 1979; K. Löwith: Weltgeschichte und in: Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983; H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1996 [1. Auflage 1966]; M. Gauchet, Le désenchantement du monde. Une histoire politique de la religion, Paris 1999. Siehe C. Schmitt, Der Nomos der Erde, Berlin 1988, 92, 96, 129-131. Siehe M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, 504 f., 815 f.

Heilsgeschehen,

204

Jean-François Ker vegan

sehen, „rationalen" (obzwar im Sinne Hegels nicht notwendig vernünftigen) Praktiken der Verwaltung der „Gesellschaft" durch eine immer mehr sachlich kompetente und spezialisierte Staatsbürokratie einhergeht. Weber schreibt zum Beispiel: „Der Typus des

legalen Verwaltungsstabs ist universaler Anwendung fähig und er ist das im Alltag wichtigste. Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung". Selbstverständlich besteht zwischen diesen beiden Voraussetzungen des modernen Staates eine enge Beziehung. Säkularisierung (besser gesagt Enttheologisierung) und Rationalisierung laufen zusammen, indem die Entwicklung von rationalen Macht- und Argumentationstechniken ein mächtiges Mittel gewesen ist, um die Entlegitimierung der „traditionalen" Herrschaft im Sinne Webers auszugleichen, wie sie im vermutlichen vormodernen Staat herrschte. Als Prädikat eines abstrakten Subjektes eher als einer physischen Person, und indem sie auf dem einfachen Postulat der Rationalität menschlicher Handlung beruht, gehört erstrangig die Souveränität zu der Ersetzung des „theologischen" Paradigmas durch das der funktioneilen Rationalisierung. 3. Eine weitere, nicht so nahe liegende Bedingung des Souveränitätsprinzips soll auch erwähnt werden: die Territorialität, deren Bedeutung sich nicht mit der territorialen Kontinuität erschöpft. In Land und Meer, später im Nomos der Erde, hat Carl Schmitt betont, dass die Territorialität und, wenn man sagen darf, die Irdigkeit, Wesensmerkmale des souveränen Staates sind. Der moderne Staat ist erstrangig ein landgebundener Staat, ein durch leicht erkennbare Grenzen begrenztes Territorium, „ein einheitlicher, in sich geschlossener Flächenraum europäischen Bodens, der zugleich als ein ,magnus homo' repräsentiert wird". Deshalb sollte die maritime Orientierung der europäischen Großmächte und die Landnahme einer „neuen Welt" ihre innere Ordnung nach und nach verrücken. Zum Beispiel müsste man verschiedene Kriegsnormen (jus in bello) für Seekrieg und (europäischen) Landeskrieg erlassen: man denke nur an den Einsatz von irregulären, jedoch mit einem Rechtsstatus bekleideten Kämpfern wie die Seeräuber als Staatspiraten. Man müsste auch den typisch landgebundenen Begriff der Grenze modifizieren, um ihn auf die Bedingungen des Seeraums (die so genannten amity lines1 ) und einer unermesslich gewordenen, geographisch noch geheimnisvollen, doch aufteilungsbedürftigen Welt einzustellen. Kurz gesagt sollten letzten Endes der moderne Staat und das Prinzip Souveränität durch all das erschüttert werden, was dazu nötigte, ihre territoriale und landgebundene Definition zu überschreiten. 4. Ein letztes Merkmal des modernen souveränen Staates ist die innige Verknüpfung von Souveränität und Repräsentation. Bei so verschiedenen Autoren wie Hobbes, Locke, den amerikanischen Founding Fathers oder Sieyès (sowie bei Kant und Hegel) ist die Rechtfertigung des Souveränitätsprinzips durch die Demonstration bedingt, dass der Souverän den politischen Körper irgendwie repräsentiert. Ein Musterbeispiel jener Ver-

rationalen

Ebd., 126. C. Schmitt, Der Nomos der Erde, 117. Ebd., 54-70.

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, Supranationalst

205

knüpfung von Souveränität und Repräsentation liefert das schon erwähnte Kapitel 16 der englischen Fassung des Leviathans. Die ganze Lehre der Souveränität beruht dort auf dem Prinzip, dass „it is the Unity of the Représenter, not the Unity of the Represented that maketh the Person One".u Anders gesagt, verdankt die Einheit des Volkes der Institution einer repräsentativen Person (es sei ein Individuum oder eine Versammlung) seine Existenz. Darin genau besteht die Souveränität jener Person. Ohne solche „repräsentative Souveränität" gibt es kein Volk oder keinen politischer Körper (populus), sondern nur noch eine zerstreute Menge (multitudo) von egoistischen Individuen, d. h. einen Naturzustand. Eine Menge ist eine Gruppe von Personen, die keine Einheit besitzt, und welcher deshalb „keine Handlung und kein Recht" zugeschrieben werden kann.12 Ernstlich gesagt ist sie nicht, wenigstens nichts anderes als ein konfuses Nebeneinander von widersprüchlichen Handlungen und Willensakten. Im Gegenteil ist ein Volk „un certain corps, et une certaine personne, à laquelle on peut attribuer une seule Es ist keine (so groß sie auch sei) Summe von Indivivolonté et une action Existenz aus dem Vertrag herkommt, durch weldessen duen, sondern ein Individuum, chen die Individuen sich verpflichten, diesem Wesen zu gehorchen, das sie deswegen schaffen. Demgemäß ist das Volk nur dank der Handlung, die den Souverän schafft; es hat kein unterschiedliches Wesen von dem, was durch diese Handlung zustande kommt. In einer Monarchie also ist das Volk der König („le roi est ce que je nomme le sowie es in einer Demokratie die Versammlung der Staatsbürger ist. Das Volk ist nichts außer oder neben der politischen Vereinigung der Menge, d. h. außer der Repräsentation, die die absolute Unterwerfung der Menge unter den einzigen Träger dieser artifiziellen Einheit (den Souverän) voraussetzt. Dank diesem Beispiel versteht man sofort, dass der Begriff der Repräsentation, der im Zentrum der modernen Lehre des souveränen Staates liegt, stark verschieden ist von dem, der sich nach der Revolutionen des 18. Jahrhunderts durchgesetzt hat, deren Ziel, Hobbes lässt so Thomas Paine, es war „de greffer la représentation sur la démocratie". uns verstehen, dass die Koppelung von Souveränität und Repräsentation nicht notwendig die Form der „repräsentativen Demokratie" oder des representative government annimmt. Aber das, was der „repräsentative Souveränität" von Hobbes und der „souveränen Repräsentation" vom Federalist und von Sieyès gemeinsam ist, ist folgendes: infolge des Mangels einer nunmehr unwirklich gewordenen transzendenten Legitimierung ist der repräsentative Charakter (wie immer er verstanden wird und was immer auch die Art der Ernennung der Repräsentanten sei) die einzige Legitimationsgrundlage der absoluten oder nicht absoluten Macht, die der souveräne Staat über seine Untertanen

propre".13

peuple"14),

12

13 14

15

Th. Hobbes, Leviathan, ed. McPherson, London 1988, chapter 16, 220. Siehe Th. Hobbes, Le Citoyen [De Cive], VI. 1, trad. Mairet, Paris 1996, 120, und De corpore politico, II, 8, 9. Th. Hobbes, Le Citoyen [De Cive], XII.8, 196. Ebd. Th. Paine, Les droits de l'homme [1791], Paris 1987, 209.

Jean-François Kervegan

206

oder seine Bürger ausübt. Der moderne Souverän, sei es der „große und mächtige Leviathan" von Hobbes oder die nationale Repräsentation der französischen Revolutionäre, darf sich nicht auf die göttliche Salbung berufen, selbst wenn diese als Symbol der Souveränität beibehalten wird. Obgleich die vier erwähnten Faktoren (Säkularisierung, Rationalisierung, Territorialität, Repräsentation) ungleichartig sind, bestimmen sie trotzdem die eigenartige Gestalt des modernen Staates. Zuerst geben sie von seinem sichtbarsten Merkmal Rechenschaft: sein erstes Handlungsmodus ist das Gesetz. Die erste der „vraies marques de souveraineté", so Bodin, ist, wie schon gesagt, „la puissance de donner loi à tous et à chacun en particulier". Wenn man auf die Typologie der Staatsformen Bezug nimmt, die Carl Schmitt in der Nachfolge von Weber entworfen hat,17 liegt es auf der Hand, dass der moderne Staat dem Typus des Gesetzstaates korrespondiert, während der mittelalterliche Staat zuallererst ein Juridiktionsstaat war, und der gegenwärtige, „postmoderne" Staat immer mehr ein Verwaltungsstaat ist: sein Werkzeug ist nicht so sehr das Gesetz (welches formell jedoch der Schlussstein seiner rechtlichen Konstruktion bleibt), sondern die administrative Maßnahme.

2. Menschenrechte und Souveränität Ich möchte nun das komplexe, wenn nicht widersprüchliche Verhältnis zwischen Souveränität und Menschenrechten in der theoretischen Konstruktion des modernen Staates behandeln. Mein Zweck ist es nicht, zu behaupten, dass die Inanspruchnahme solcher Grundrechte (welche sonst eine präzise Definition brauchen) mit dem Prinzip der Souveränität nicht verträglich ist; es handelt sich vielmehr darum, die scheinbare Evidenz ihrer Verknüpfung in der herrschenden Meinung zu bestreiten. Chronologisch wie begrifflich scheint es naheliegend zu sein, dass die Menschenrechte (oder die Grundrechte, oder die öffentlichen Freiheiten: die Wahl der Terminologie ist selbstverständlich hoch bedeutend!) mit dem modernen Staat verbunden sind, dessen Hauptprädikat die Souveränität ist, und besonders mit dem nachrevolutionären Staat, welcher diese Rechte zur Grundlage sowie zum Hauptzweck seiner rechtlichen Verfassung erhoben hat. Wie in der Präambel der ersten französischen Erklärung der Menschenrechte steht, bestimmen die „ewigen, unveräußerlichen und heiligen Naturrechte des Menschen" „den Zweck jeder politischen Einrichtung". Es muss aber betont werden, dass es sich trotz der verständlichen Neigung, den Menschenrechten einen IQ

-

Bodin, République, 1.1, chap.X, t. 1, 306. Siehe C. Schmitt, ,Legalität und Legitimität', in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, 263 ff. Siehe dazu vom Verfasser ,Les droits de l'homme', in: Notions de Philosophie, bouchner, Bd. 2, Paris 1995, 637-696.

hg.

von

D. Kam-

207

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, SupraNationalität

„ewigen", ihre grundlegende Stellung bekräftigenden Charakter zu verleihen um einen typisch modernen Begriff handelt. Die Vorstellung „Mensch", der Menschheit in ihrer Allgemeinheit, konnte erst im Rahmen der Moderne aufbrechen, welche die Folgen aus jener Vorstellung zu ziehen wusste. Die Arbeit der Moderne hat nach und nach -

die Idee der Menschheit von all den statutarischen besonderen Prädikaten getrennt, die in den vormodernen Gesellschaften davon untrennbar sind. Man denke nur an das römische Recht der Persönlichkeit, welches die volle Persönlichkeit mit einer dreifachen statutarischen Bedingung (status libertatis, status familiae, status civitatis) verbindet. „Der Mensch" als abstraktes Subjekt gewisser rechtlicher und politischer Bestimmungen, ist ein Produkt der Ausdifferenzierung des Sozialen und Politischen, welche mit der Entstehung des modernen Staates erfolgt. Hegel betont z. B., dass der Mensch ein Produkt der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist: „Im Rechte ist der Gegenstand die Person, im moralischen Standpunkt das Subjekt, in der Familie das Familienglied, in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt der Bürger (als bourgeois) hier auf dem Standpunkte der Bedürfnisse ist es das Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt; es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede".

-

Man erinnert sich auch daran, dass Karl Marx im Kapital den „freien Arbeiter" zur historischen Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise macht, die durch den Prozess der ursprünglichen Akkumulation zustande gebracht wurde.20 Übrigens ist der Mensch etwas so tief modernes, dass er von denen verworfen wurde, die sich von der Modernität und von ihren politische Folgen abkehrten: ich meine die Gegenrevolutionäre, die daran Anstoß nahmen, dass die Revolution im Zentrum ihres Diskurses eine Abstraktion, den Menschen, gesetzt hat, die niemand niemals und nirgendwo „getroffen" hat. J. de Maistre macht z.B. der sehr mittelmäßigen Verfassung von 1795 den Vorwurf, sie sei „wie ihre älteren Schwestern" von 1789 und 1793 „für den Menschen" gemacht. Aber „der Mensch" ist eine Abstraktion, eine Erdichtung der Philosophen: „il n'y a point d'homme dans le monde", sondern „des Français, des Italiens, des Russes, etc." Also beruht die ganze Lehre der Menschenrechte auf einem „Irrtum in der Theo-

rie".21

Vorstellung, der Mensch als solcher habe Rechte, also die Vorstellung von subjektiven Rechten der Menschheit als solcher, überaus modern. Selbstverständlich darf man dabei die mittelalterlichen Ursprünge des Begriffs des subjektiZweitens ist auch die

G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (= RPh), § 190, Anmerkung. Siehe die bekannten Ausführungen von Marx über die Gestalt des „freien Eigentümers des Arbeitsvermögens", Das Kapital, Buch I, Kap. 4 (K. Marx und F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin

1968, 182). J. de Maistre, Considérations sur la France [1796], Paris 1980, 64—65: „Il n'y a point d'homme dans le monde, mais des Français, des Italiens, des Russes, etc". Deshalb beruht die ganze Lehre vom Menschen auf „une erreur de théorie", auf einem theoretischen Irrtum. Siehe auch in derselben Richtung E. Burke, Considérations sur la révolution de France, Paris 1989, 74-78.

Jean-François Kervegan

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Rechts nicht übersehen; grundlegend ist aber, dass die Vorstellung der „natürlichen und un verjährbaren Rechte" des Menschen als solchem, die Vorstellung von Rechten, die dem Individuum als solchem konstitutiv angehören und die deshalb seiner Zugehörigkeit zu dieser oder jener politischen Unterstruktur logisch vorhergehen, nur im Rahmen des modernen Denkens aufblühen konnte. Die Idee von Rechten des Menschen setzt also eine bestimmte Auffassung des Menschen voraus, eines Menschen, der nunmehr „Herr und Besitzer der Natur", und nicht nur ein Geschöpf des einzigen Inhabers von Rechten, des Schöpfers ist; ein Geschöpf, welches insofern nur Pflichten haven

ben konnte. Es geht hier nicht darum, die Entstehung der revolutionären Vorstellung von Menschenrechten in der Moderne zu beschreiben. Durch die tiefen Analysen Webers über das „revolutionär geschaffene Recht", die von Gauchet und anderen fortgesetzt wurden, darf man als gesichert betrachten, dass eine starke, obwohl auf den ersten Blick paradoxe Verknüpfung zwischen der rechtlichen Konstruktion des souveränen Staates auch mit dem Gesicht des „großen mächtigen Leviathan"- einerseits und der scheinbar antistaatlichen Problematik der Menschenrechte andererseits besteht; nicht zufällig hat sich Hobbes, als Begründer einer radikal absolutistische Auffassung des Staates, auf die damals völlig neue Vorstellung vom Recht des Menschen als Ausdruck seines tiefsten Seins gestützt. Wie dem auch sei, von Hobbes bis zur Erklärung der Menschenrechte von 1789 hat sich die moderne Lehre des souveränen Staates in Zusammenhang mit der Lehre von den subjektiven natürlichen Rechten der Menschen, von ihren rechtlichen Folgen und von ihrer Wirksamkeit (oder Nicht-Wirksamkeit) innerhalb einer konstituierten staatlichen Ordnung entwickelt. Zu betonen ist, dass dieses Verhältnis von Menschenrechten und Staat zweideutig, wenn nicht widersprüchlich ist. Einerseits können nämlich die subjektiven Naturrechte, indem sie vorstaatliche Rechte sind, dem Staat entgegengesetzt werden, dessen legitime Befugnisse und Handlungsweisen sie prinzipiell begrenzen und dessen Zwecke sie teilweise bestimmen. Darauf weisen in voller Klarheit die Artikel 2 und 16 der Erklärung der Menschenrechte von 1789: „Le but de toute association politique est la conservation 25 des droits naturels et imprescriptibles de l'homme". „Toute société dans laquelle la garantie des droits n'est pas assurée, ni la séparation des pouvons déterminée, n'a point de constitution". -

Villey, ,Les origines de la notion de droit subjectif, in: ders., Leçons d'histoire de la philosophie du droit, Paris 1962, 221 ff; M.-F. Renoux-Zagamé, Les origines médiévales du concept moderne de propriété, Genève 1987. Siehe Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 496 ff. Siehe M.

M.

Gauchet, La révolution des droits de l'homme, Paris 1989. „Ziel von jedem politischen Verband ist die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Rechte des Menschen".

„Jede Gesellschaft, worin die Garantie der Rechte nicht gesichert, und die Gewaltentrennung nicht bestimmt ist, hat keine Verfassung."

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, SupraNationalität

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Andererseits

gelten diese subjektiven Naturrechte als normativer Grund der vertragsmäßigen Begründung von Staat und Souveränität; trotz aller sonstigen Unterschiede kann man das bei Hobbes sowie bei Rousseau musterhaft feststellen. Bei ihnen ist es nämlich die (partielle oder totale, konditionale oder nicht-konditionale) Übertragung ihrer natürlichen Rechte durch die Kontrahenten zugunsten der repräsentativen Person (sie sei „ein Mensch oder eine Versammlung", so Hobbes), welche diese als souverän im vollen Sinn des Wortes konstituiert. In solcher Perspektive, die man als die 27 des „modernen Humanismus" oder des „juristischen Humanismus" beschrieben hat, sind die Menschenrechte zugleich das Prinzip der Souveränität (denn durch ihre Übertragung bzw. durch ihre Transformation wird diese konstituiert), und zugleich auch28 das, die was sie prinzipiell begrenzt, sofern man mit Locke, wohl aber schon mit Hobbes, 29 Existenz von unübertragbaren Naturrechten annimmt, und zwar die Selbsterhaltung 30 (in der Hobbesschen Sprache) oder „Leben, Freiheit, Eigentum" (so Locke im Second Treatise). Sicherlich war diese Konstruktion potentiell hochgefährlich; sie war aber in diesem Rahmen notwendig. In der Tat: um die sichere Nutzung seines Naturrechts oder seiner Naturrechte zu erhalten, und ausschließlich darum, verpflichtet sich das Individuum durch den Bürgervertrag, auf einen Teil jener Rechte zu verzichten. Zum Beispiel verzichtet es bei Hobbes auf das jus in omnia, das es im Naturzustand nutzt, oder akzeptiert bei Rousseau eine Umwandlung der Stellung seines Naturrechts, indem die durch eine „totale Veräußerung" zugunsten des Souveräns „übertragenen" Rechte unter der Form von positiven, durch die kollektive Organisation der Macht garantierten Rechten zurückgewonnen werden. Selbstverständlich hat man die ziemlich gut begründete Hoffnung, das „gute" Gleichgewicht zwischen den Rechten des Einzelnen und denen des Souveräns, zwischen unübertragbaren und übertragbaren Rechte, zwischen Freiheit und Macht zu bestimmen: das ist das Ziel des modernen Konstitutionalismus. Die Architektur der ganzen Einrichtung enthält jedoch eine Spannung zwischen den zwei gegensätzlichen Forderungen nach Freiheit und Sicherheit, welche bis zum Widerspruch ausarten kann, falls die Logik der souveränen Macht und der dadurch institutionell garantierten Rechte und die Logik der subjektiven vor- und gegenstaatlichen Rechte aufeinander einwirken. Genau diese Lage ist entstanden, als sich die Problematik der sozialen Rechte infolge der steigenden sozialen Spannungen entwickelt hat; der Rechte, deren Nutzung der Staat infolge des durch die Maxime der „fraternité" ausgesagten Verteilungsprinzips Siehe A. Renaut, Histoire de la philosophie politique, Bd. 2: Naissances de la modernité, Paris, 1999, 8 ff. Siehe darüber vom Verf.: .Société civile et droit privé. Entre Hobbes et Hegel', in: Architectures de la Raison. Mélanges Alexandre Matheron, hg. von P.-F. Moreau, Paris 1996, 145-164. Siehe Hobbes, Leviathan, chapter 14, 189: „The right of Nature is the Liberty each man has, to use his own power, as he will himself, for the preservation of his own Nature". Siehe Locke: The second Treatise of Government, chapter 7, §87, London 1995, 157: „his property, that is, his life, liberty and estate".

210

Jean-François Ker vegan

seinen Bürgern, insbesondere den ärmsten unter diesen, garantieren soll. Es ist hier nicht nötig, eine Argumentation zu entwickeln, deren Bestandteile wohlbekannt sind: sie betrifft den Konflikt zwischen Teilhabe- und Freiheitsrechten, zwischen „libertés" und „créances" in der Sprache Sieyès, letzten Endes zwischen Gleichheit und Freiheit. Hierüber darf man sich auf die von Carl Schmitt in seinen Schriften der 20er und Anfang der 30er Jahre entwickelten Analysen stützen, ohne die stark antiliberalen Folgen 31 derselben zu übernehmen. Ich möchte aber vorerst betonen, dass diese theoretisch sowie praktisch zu besorgende Spannung die zweideutige Stellung der politisch-staatlichen Sphäre im Rahmen der Moderne enthüllt. Der moderne Staat, der „große mächtige Leviathan", hat beständig danach gestrebt, die Hegemonie jener Sphäre und der dazu gehörenden Interessen über die anderen, zum „niedrigen" Stand privater Tätigkeiten herabgesetzten, Dimensionen menschlichen Handelns zu sichern; diese „Neutralisie-32 rung", so Carl Schmitt, betrifft in erster Linie die Sphäre der religiösen Vorstellungen. Indem aber der moderne Staat sich das „Monopol des Politischen" verschaffte, indem er sich das Recht herausnahm, zwischen dem, was politisch relevant und nicht-relevant ist, zu diskriminieren, hat er sich, und mit ihm die ganze politische Sphäre, der Gefahr ausgesetzt, als ein Bereich des menschlichen Handelns unter anderen angesehen zu werden, ein Bereich, der die anderen nur insofern übersteigt, als er ihnen wenigstens eine Teilunabhängigkeit von ihm konzediert. Die Feststellung, dass die Gesellschaft sich nicht auf den Staat (die politische Gesellschaft) reduziert, das Bewusstsein, dass die Einzelnen als „sociétaires" oder als „bourgeois" Rechte beanspruchen dürfen, die nicht mit denjenigen Rechten identisch sind, die der Staat ihnen gewährt, die vielleicht sogar mit den staatlichen Vorrechten in Konflikt geraten können: solche Fragen treten während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den öffentlichen Debatten auf und veranschaulichen den prekären Stand des Politischen, sogar die Aporie der Souveränität im Kontext der Moderne. Das Politische nämlich ist einerseits „Zentralgebiet" (insofern die Hierarchie der Fragen und der Domäne aus ihm und durch ihn bestimmt ist) und andererseits Stück oder Komponente einer globalen und etwas unbestimmten Struktur, der „Gesellschaft". Anders gesagt, der souveräne Staat, auch unter seinen absolutesten Gestalten, ist kein totaler Staat, weil er Individuen voraussetzt, die anders als durch ihn allein (mit anderen Worten: schon in einem „Naturzustand") konstituiert sind, und verschiedene Interaktionsstrukturen vorfindet, die er zwar beherrschen muss, aber nur damit sie selbst wirksam werden können. Die Lehre des Rechtsstaats, welche im besonderen Kontext des deutschen Vormärz entstanden ist, ist ein gutes Beispiel hierfür. Einerseits soll der Rechtsstaat ein Staat sein, d. h. wenigstens: er soll über das Monopol der Definition und der Lösung der eiSiehe C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1958, 200ff; ferner ders.: ,Freiheitsrechte und institutionelle Garantien' (1931) und .Grundrechte und Grundpflichten' (1932), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 140 ff. und 181 ff. Siehe C. Schmitt, ,Das Zeitalter der Neutralisierungen und der Entpolitisierungen', in: Der Begriff des Politischen, Berlin 1979, 79 ff.

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, SupraNationalität

211

gentlich politischen Fragen verfügen. Vielleicht aus diesem Grund haben die ersten Theoretiker des Rechtsstaats (Rudolf Gneist, Robert von Mohl u. a.) keine Forderung nach einer tiefen parlamentarischen oder demokratischen Umbildung der Institutionen 33 und des politischen Lebens erhoben. Andererseits soll der Rechtsstaat ein Rechtsstaat sein, also sich selbst begrenzen, indem er seinen Bürgern gewisse Grundrechte (persönliche Freiheit, Sicherheit, Eigentum von Güter etc.) gewährt, deren Urheber er nicht ist: er soll sie nur garantieren, auch gegen seine eigene Tendenz, in die Privatsphäre einzugreifen. Daher stammt der nahe liegende Einwand seitens der Anhänger des Macht(von Treitschke bis zu Carl Schmitt): wie soll ein Staat, wenn Macht eine wesentliche Komponente der Staatlichkeit ist, seine Macht selbst begrenzen, und, falls er es tut, ist er dann noch des Namens eines Staates würdig? Seit Montesquieu und Locke hat das konstitutionelle Denken immer wieder versucht, solche Einwände überzeugend aufzuheben. Die Antwort dreht sich immer um die beiden Merkmale des „republikanischen" Staates im Sinne Kants. Es soll erstens der Frage „wie wird es regiert?" ein Vorrang gegenüber der klassische Frage „wer soll regieren?" gegeben werden; man soll also den Primat der juristischen Formen der Ausübung der staatlichen Tätigkeit über den „politischen" Inhalt derselben gewährleisten (Verrechtlichung der Politik). Es soll zweitens den eigentlichen Grundrechten, d. h. dem unpolitischen Kern der „natürlichen" Rechte des Menschen und der „Methode" der Gewaltenteilung (bzw. des Gleichgewichts, der balance), ein absoluter Wert verliehen werden. Der dezisionistische Einwand gegen die Lehre der Selbstbegrenzung des Staates, daher gegen das Prinzip des republikanischen Rechtsstaats, bleibt jedoch ein starker: wie vermag der Souverän seine eigene Macht zu begrenzen, ohne auf seine Souveränität zu verzichten? Wie kann er die Existenz einer Sphäre von unantastbaren Rechtsgütern anerkennen, ohne den Primat der politisch-staatlichen Sphäre zu erschüttern, den der Begriff der Souveränität jedoch staats

verlangt? Auf diesen Einwand gibt Kant eine zweifache Antwort, der die Theoretiker des Rechtsstaats nachher beigetreten sind. Erstens soll die Anerkennung des „transzendentalen" Prinzips der Publizität die Unantastbarkeit der Souveränität mit der Achtung vor Prinzipien kompatibel machen, die jene eigentlich voraussetzt. Zweitens soll eine treffende Hierarchie der normativen Ordnungen es erlauben, dass die auf ihrer eigenen Ebene unbestreitbare innere Souveränität (die souveräne Macht ist, so Kant, „unwiderstehlich", selbst wenn die Untertanen „glauben, er [der Staat] habe seinerseits das Funhöheren Prinzipien untergeordnet ist, und zwar den damentalgesetz zuerst

übertreten"36)

Siehe O. Jouanjan, présentation', in: Figures de l'Etat de droit, hg. von O. Jouanjan, Strasbourg 2001, 7ff.; dazu im selben Band die Beiträge von C. Argyriadis-Kervégan über Gneist (235 ff), J. Hummel über den Vormärz ( 125 ff.) und von W. Zimmer über Bahr und Gierke (219 ff). Siehe I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, in: Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 348-351. Ebd., Anhang II, 381. Ebd., Anhang II, 382. von

Jean-François Kervegan

212

Prinzipien der Staatengemeinschaft, wie sie im „Staatenrecht" sowie im „weltbürgerlichen Recht" niedergelegt sind. Was Letzteres betrifft, bin ich gegen die herrschende Lehre37 der Meinung, dass es eine ganz bestimmte Bedeutung innerhalb der Kantschen Systematik hat: das sogenannte Weltbürgerrecht formuliert die Prinzipien eines internationalen Privatrechts, das sich gegen die staatlichen Interessen durchsetzt, obgleich die Souveränität der Staaten auf der inneren wie auf der zwischenstaatlichen Ebene unangetastet bleibt. Wie dem auch sei; es scheint mir klar zu sein, dass innerhalb der Kantischen Systematik das Völkerrecht und das weltbürgerliche Recht, zusammen mit dem Prinzip der Publizität, die Elemente einer Lösung des Dilemmas des modernen öffentlichen Rechts ausmachen: Wie kann man das Prinzip Souveränität und die Achtung der Menschenrechte gemäß dem problematischen Begriff des Rechtsstaats kompatibel machen? Im letzten Teil meiner Ausführungen wird nur eine Seite der Frage behandelt werden: kann das Prinzip Souveränität im Formalismus einer wirksamen internationalen Rechtsordnung Bedingungen finden, die es ihm erlauben, sich legitim und völlig durchzusetzen, aber unter Achtung der Grundrechte?

3.

Supranationalität als mögliche Lösung der Aporie einer Selbstbegrenzung der Souveränität?

Eine Spannung, nicht notwendig ein Widerspruch besteht zwischen dem Prinzip Souveränität und den Menschenrechten; diese Spannung ist in der Lehre des Rechtsstaats musterhaft veranschaulicht. Gegen eine neben Anderen auch von Habermas vertretene Ansicht kann man ja vermuten, dass diese Spannung besonders lebendig ist, wenn die Souveränität demokratisch ausgeübt wird: Spinoza hat es gespürt, als er schrieb, das 38 Imperium sei in der Demokratie „omnino absolutum". Wenn dies stimmt, folgt daraus wenigstens, dass sie sich den Beschränkungen im Prinzip, wenn nicht notwendig de facto, schwierig anpasst, welche ihr eine Erklärung der „natürlichen und unverjährbaren Rechte" auferlegt. Ich will natürlich nicht behaupten, dass die Demokratie mit den Menschenrechten unvereinbar ist, sondern dass zwischen der Logik der demokratischen Souveränität und der Logik der Menschenrechte eine potenzielle Spannung besteht, der man sich bewusst sein muss, wenn man nicht wünscht, dass sie explosiv wird. Dieser Standpunkt ist also dem Habermasschen direkt entgegengesetzt, nach welchem es eine notwendige Korrelation zwischen dem „von Rousseau und Kant entfalteten demokratischen Gedanken" und dem „Begriff des modernen Rechts" gibt, dessen Kern die Prob-

Siehe ebd., Dritter Definitivartikel, 357ff. Die herrschende Lehre ist z.B. von J. Habermas in .Kants Idee des ewigen Friedens' (in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996) vertreten worden. B. Spinoza, Tractatus politicus, XI, 1 ; siehe auch VIII, 3. -

213

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, SupraNationalität

lematik der subjektiven Rechte ist. Eine ähnliche Spannung scheint mir zwischen Souveränität und Supranationalität zu bestehen. Übrigens wirken beide Fragen direkt aufeinander ein, wie Kant im Ewigen Frieden betont, indem er aus der republikanischen Form des Staates die Bedingung einer friedlichen internationalen Ordnung macht. Worin besteht eigentlich die Aporie? Einerseits ist das Bestehen von gültigen und wirksamen überstaatlichen Ordnungen (wie die EU oder bis zu einem gewissen Punkt die UNO) eine evidente, bewusst eingeführte Beschränkung des Prinzips der staatlichen Souveränität, indem die innere Rechtsordnung, wenigstens was gewisse Fragen angeht, einer „höheren", überstaatlichen Ordnung untergeordnet ist. Solche Unterordnung impliziert logischerweise früher oder später eine Verschmelzung der inneren und der „äußeren" Rechtsordnung und sollte, wie Kelsen betont, zur Bildung eines Weltstaates führen, von dem die verschiedenen nationalen Rechtsinstitutionen die Vorläufer sind: „Die ganze hier angedeutete rechtstechnische Bewegung hat letzten Endes die Tendenz, die Grenzlinie zwischen Völkerrecht und einzelstaatlicher Rechtsordnung zu verwischen, so dass als das letzte Ziel der realen, auf zunehmende Zentralisation gerichteten Rechtsentwicklung die

organisatorische Einheit einer universalen Weltrechtsgemeinschaft, dung eines Weltstaates erscheint".

das heißt die Ausbil-

Andererseits liefert aber die Überstaatlichkeit (d. h. die Existenz partieller überstaatlicher, eine gewisse Wirksamkeit besitzender Ordnungen) eine mögliche (vielleicht illusorische) Beantwortung der Frage nach dem Zirkel der Selbstbeschränkung der Souveränität. Wird es nicht immer deutlicher, dass die „internationale Gemeinschaft", obwohl sie gewissermaßen noch virtuell ist, sich direkt in das traditionelle ausschließliche Kompetenzfeld der inneren staatlichen Souveränität einmischt, sei es um die Grundrechte der Einzelnen gegen gerichtliche Entscheidungen zu schützen (man denke an den Europäischen Gerichtshof, der eine Zwangsbefugnis gegen die Staaten besitzt), oder um Staaten zu zwingen, Rechte von Minderheiten (wie im Fall der sogenannten „humanitären Kriege") oder internationale Verpflichtungen (wie im Fall der „politischen" Kriege) zu respektieren. Dass solche Rechtsverfahren der internationalen Gemeinschaft gegenüber gewissen Staaten durch Kräfte geführt werden sollen, die tatsächlich von anderen Staaten abhängen, ist selbstverständlich eine dauernde Quelle von Schwierigkeiten und ein Grund der Infragestellung der Legitimität solcher Einmischungen, die deswegen öfters im Verdacht stehen, eher politische als gerichtliche Aktionen zu sein. Wenn man sich die Habermassche Ansicht zueigen macht, lösen sich die beiden (inneren sowie äußeren) die Beschränkung der staatlichen Macht betreffenden Arten von Schwierigkeiten auf einmal: „das Weltbürgerrecht ist eine Konsequenz der Rechts-

J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. "1998, 50. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, 351: „die republikanische noch die Aussicht in die gewünschte Folge, nämlich den ewigen Frieden". H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Ausgabe, Wien 2000, 328.

Verfassung [...]

hat

Jean-François Kervegan

214

Staatsidee", wie ebenso auf der Ebene des Nationalstaates „ein interner Zusammen-

hang von Recht und politische Macht" besteht.43 Wenn es so ist, dann stens im Prinzip mit etwas zu tun haben, das ziemlich nahe an

wird man wenigdem Kantischen steht ebenso Kant war selbstverständlich kein Völkerbund klaren Unterschieden: (mit Demokrat!): nach Kant ist, wie gesagt, die republikanische Form der inneren Verfassung jedes Staats die Bedingung einer friedlichen und stabilen internationalen Rechtsordnung. Man darf aber der Meinung sein, und zwar gegen Habermas, dass die auf den beiden Ebenen bestehenden Schwierigkeiten kumulative Folgen haben könnten. In diesem Fall würden die innere Selbstbeschränkung der Souveränität (also der Rechtsstaat) und der internationale Schutz der von Unrechtsstaaten gefährdeten individuellen und kollektiven Rechte (also der Völkerbund) auf ähnliche Schwierigkeiten stoßen. Auf beiden Ebenen nämlich ist es die Möglichkeit einer totalen Verrechtlichung der Politik, die Schwierigkeiten schafft. Solche Verrechtlichung, die bei Kant eindeutig durchgesetzt werden soll, setzt selbst eine gewisse „Moralisierung" des Rechts voraus, welche bei Kelsen u. a. einen kräftigen Protest erweckte. Das ist bei Habermas selbst auffallend: obgleich er die Meinung vertritt, dass in der notwendigen Verknüpfung von Recht und Demokratie der demokratische Prozess „die ganze Bürde der Legitimation" trägt, obgleich er auch den klassischen Versuch einer „moralischen Begründung von Recht" als unnötig und unfruchtbar beseitigt, meint er doch, und zwar im Unterscheid zu Kant und sicherlich zu Kelsen, dass das Recht kein „narzisstisch in sich abgeschlossenes System" ist, und dass es sich infolgedessen mit den moralischen und sittlichen Gesinnungen der Bürger / Untertanen nährt. An diesem Punkt treffen alle Schwierigkeiten zusammen, die dem Versuch inhärent sind, eine nicht nur faktische, sondern normative Begrenzung der Souveränität zu begründen. Mir scheint, dass sich diese Schwierigkeiten in zwei Reihen einordnen lassen. 1. Wenn man die Politik auf Kantische oder Habermassche Weise verrechtlichen will, ist man nicht der Gefahr ausgesetzt, „die Wahrheit, die in der Macht liegt" (so Hegel), zu übersehen? Anders gesagt, riskiert man nicht zu übersehen, dass die eigenartige, von der ganzen Konstruktion des modernen souveränen Staates abgebildete Logik des Politischen nicht deshalb völlig verdrängt werden kann, weil dieses Modell des souveränen Staates in eine tiefe, wahrscheinlich endgültige Krise geraten ist? Auch im Kontext der „Auflösung" der staatlichen Souveränität im klassischen Sinn des Wortes besteht meines Erachtens eine Überschreitung des Politischen über die normativen Formen hinaus, die seine normale Funktionsweise regulieren sollen. Deshalb scheint Habermas, ,Kants Idee des ewigen Friedens aus dem historischen Abstand Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996, 234. Habermas, Faktizität und Geltung, 170. Ebd., Nachwort zum 4. Auflage, 664. Ebd., 677. Ebd., 678. Hegel, Die Verfassung Deutschlands, 529. Die

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von

200 Jahren', in:

215

Souveränität, Rechtsstaatlichkeit, SupraNationalität

mir die Erwartung einer vollen Verrechtlichung der politischen Sphäre illusorisch zu sein. Das zu behaupten bedeutet aber nicht notwendig, sich zu einem Dezisionismus à la Carl Schmitt zu bekennen, bei dem man genau weiß, zu welchen Folgen er führen kann. Es handelt sich nur darum, daran zu erinnern, dass es illusorisch ist, zu denken, man könne die konfliktuelle, agonistische Dimension der Politik übersehen. 2. Selbst wenn es möglich wäre, die Politik zu verrechtlichen, wäre es das sieht man anhand des Beispiels der Habermasschen Konstruktion vermutlich nur möglich auf Kosten einer gewissen Moralisierung des Rechts, von der die heutige Parole der „Einmischungspflicht" ein gutes Beispiel abgibt. Solche heutzutage gängige Moralisierung würde sich dem Bestreben des modernen Rechts (insbesondere des „politischen" Rechts im Sinne von Rousseau, d.h. des Verfassungsrechts und des internationalen Rechts) widersetzen, die Autonomie und Konsistenz einer spezifischen Normensphäre zu gewinnen. Sie könnte daher eine Art „Wiedertheologisierung" des Rechts implizieren, deren Folgen sehr beunruhigend sein könnten, indem sie den Weg zur Rehabilitierung des „gerechten Kriegs" bahnen würde. Aber diese beunruhigende Rückkehr zu einer vormodernen (theologischen) Kriegsproblematik würde gewissermaßen konsequent sein. Wenn es stimmt, dass das moderne Staatsrecht auf der „Neutralisierung" der religiösen bzw. der theologischen Instanz beruht, könnte es wohl der Fall sein, dass die Relativierung der Souveränität im Namen der Menschenrechte und der universellen Werte der Völkergemeinschaft die Vernachlässigung der von der modernen Rationalität gezogenen Grenze zwischen Religion, Moral und Recht mit sich bringt. -

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Siehe z.B. Michael Walzer, Just and injust wars; New York 1977.

a

moral argument with historical illustrations,

Walter Jaeschke (Bochum)

Die klassische deutsche Philosophie vor dem Völkerrecht

I. (1) Das Völkerrecht, vor dem die Klassische Deutsche Philosophie steht, ist das heute so genannte „klassische Völkerrecht", das von den .Vätern des Völkerrechts' in der frühen Neuzeit ausgearbeitet worden ist von Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, Christian Wolff und vielen anderen, bis hin zu Emmerich von Vattel. Diese Auskunft erhält -

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gewöhnlich; sie ist auch nicht abwegig, doch ist sie für eine rechts- und bewußtseinsgeschichtliche Aufklärung dieses Problembereichs nicht allein unzureichend,

man

heute

sondern irreführend. Sie unterstellt, es habe im 17. und 18. Jahrhundert ein .Völkerrecht' etwa in der uns geläufigen Bedeutung gegeben und dies trifft nicht zu. Denn der lateinische Ausdruck „ius gentium", der dann im Deutschen zu „Völkerrecht" wird, bedeutet in der Zeit seiner Entstehung, im römischen Imperium, ein Recht, das „den Rechtsverkehr zwischen den römischen Bürgern und den nichtrömischen Privatpersonen auf dem Gebiet des römischen Imperiums" regelt. Von der frühen Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert versteht man unter Berufung auf die Justinianischen Institutionen unter dem „ius gentium" zunächst ein „Recht, das die natürliche Vernunft zwischen allen Menschen eingesetzt hat, das bei allen Völkern gleichmäßige Beachtung findet, jus gentium genannt wird, da es ein Recht ist, das alle Nationen befolgen." Es gilt also als ein dem „Naturrecht" inhaltlich weitgehend analoges Recht, dessen Geltungsgrund aber nicht in der „Natur", sondern im übereinstimmenden rechtsetzenden Willen oder in der Praxis der Völker liegt. Dasjenige Recht also, das einerseits aus der ,Natur der Sache' bzw. speziell ,aus der Natur des Menschen', „ex ipsa hominis natura", abgeleitet werden kann, kann auch durch die übereinstimmende Rechtspraxis aller (oder zumindest mehrerer) Völker begründet oder doch hierdurch ergänzt werden. Deshalb kann auch die ,rechtsvergleichende Forschung' (wenn ich für diese frühe Zeit einmal so sprechen darf) einen empirischen Beitrag zur Erkenntnis des Naturrechts liefern. Es handelt sich, wie es ja auch im Titel etwa von Pufendorfs Werk heißt, um ein „ius naturae et gen-

O. Kimminich, u.a.

2

Einführung

1983,59.

Lib. I, Tit. II,

§ 1.

in das Völkerrecht. 2.

vollständig

überarbeitete

Auflage.

München

Walter Jaeschke

218

hum",3 und nicht anders

auch noch in Christian Wolffs „Institutiones iuris naturae et gentium", in den „Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts". Dieser Dual bezeichnet nicht zwei verschiedene Geltungsbereiche des Rechts, sondern zwei unterschiedliche Begründungsweisen des einen Rechts eine „natürliche" und eine „willentliche", wobei der „Wille" nicht der Wille eines einzelnen, sondern der übereinstimmende Wille mehius naturae et gentium beziehen sich aber auf die rerer Völker ist. Beide Formen Vielfalt der Bereiche des täglichen menschlichen Lebens. Deshalb wird innerhalb dieses ,Natur- und Völkerrechts' nicht etwa ein spezifischer Teil als ,Naturrecht', ein anderer als Völkerrecht' ausgezeichnet auch wenn es plausibler Weise zutrifft, daß auf den Charakter als „Völkerrecht" vermehrt dort abgehoben wird, wo Rechtssätze die Intereswie etwa bei der Behandlung von Kriegsgefangenen. sen mehrerer Völker tangieren Unter das „Völkerrecht" können aber auch andere Inhalte fallen, z.B. spezifische, bei den Völkern übereinstimmende Formen des Eigentumserwerbs, als deren Grund eben nicht die „Natur", sondern die bei mehreren Völkern übereinstimmende Rechtspraxis ausgemacht wird. Der Titel für den Bereich, der später als „Völkerrecht" bezeichnet wird, ist hingegen „Kriegs- und Friedensrecht". Um zur Veranschaulichung noch einmal Pufendorfs sehr einflußreiche Darstellung heranzuziehen: Im siebenten und achten Buch seines ,Natur- und Völkerrechts' geht er auf die ich sage abgekürzt: .politische' Thematik ein, und in diesem Kontext schließlich in den Kapiteln 8-10 auf das „ius belli", das Kriegsrecht, und das „ius pacis", das Friedensrecht. Dies ist die genuine Bezeichnung, die man ja auch schon im Titel des Werkes von Hugo Grotius findet: De iure belli ac pacis („Vom Recht des Kriewobei übrigens zu beachten ist, daß das Kriegsrecht' in ges und des Friedens") beiden Fällen am Anfang steht und erst von ihm aus zum ,Friedensrecht' übergegangen wird. Dieses ,Kriegs- und Friedensrecht' wird aber nicht in spezifischer Weise als Völkerrecht' verstanden; vom „ius gentium" ist in diesem Kontext gar nicht die Rede. Neben der auf die Antike zurückgehenden Bezeichnung des Völkerrechts als des von den Völkern übereinstimmend befolgten Rechts, die etwa bei Grotius bei weitem domi-

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S. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo. Editio secunda, auctior multo. Francofurti ad Moenum 1694, in: S. Pufendorf, Gesammelte Werke, hg. von W. Schmidt-Biggemann, Bd.4, Berlin 1998, insbesondere 842ff: De jure belli usf. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Natur- und Völkerrecht s. Buch II, §23, mit Bezug auf Thomas Hobbes: De Cive, cap. 14, §§4f, ebd., Bd. 4, 160 f. Nicht anders betitelt auch noch Christian Wolff die Kurzfassung seines .Naturrechts' als .Institutiones iuris naturae et gentium' (Halle 1750, in: Chr. Wolff, Gesammelte Werke, U. Abteilung, Bd. 26, Hildesheim 1969). H. Grotius, De jure belli ac pacis libri tres. Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, Paris 1625 nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707. Neuer deutscher Text und Einleitung von W. Schätzel, Tübingen 1950. -

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Die klassische deutsche Philosophie vor dem Völkerrecht

niert,5

219

jedoch schon bei ihm, wenn auch sehr isoliert, gelegentlich die etwa wenn er schreibt, ein beneuere, spezifische Bedeutung von .Völkerrecht' stimmtes Recht gelte zwar übereinstimmend bei Völkern, aber es betreffe „nicht das Völkerrecht in seinem eigentlichen Sinn; denn es bezieht sich nicht auf den Verkehr zwischen den Völkern, sondern auf die Ordnung innerhalb eines jeden Volkes." Dieses .Völkerrecht' „in seinem eigentlichen Sinn" wird somit nicht nur als eine mehreren Völkern gemeinsame Rechtsüberzeugung und -praxis verstanden, sondern speziell als eine solche, die ihre Beziehungen zueinander regelt. Von diesem spezifischen Völkerrecht' ist jedoch bei Grotius wenig die Rede, und auch in dem auf ihn folgenden Jahrhundert setzt sich dieser Sprachgebrauch nicht durch, bis hin zu Christian Wolffs „Institutionen". Den rechtsgeschichtlich begrüßenswerten Schritt vom traditionellen „ius belli ac pacis" zum „Völkerrecht" im heutigen Sinn, aber auch den terminologisch unglücklichen Schritt zur Fixierung des Namens „ius gentium", „Völkerrecht" für dieses findet sich

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Recht vollzieht, soweit ich sehe, erst Emmerich von Vattel, der letzte bedeutende, allem an Christian Wolff orientierte Vertreter der naturrechtlichen Tradition: Er nennt sein Werk Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqués à la conalso: Die Anwendung des Naturduite et aux affaires des nations et des souverains neue vor

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Vom Völkerrecht' im Sinne eines Rechtes, das die Beziehungen der Völker zu einander regelt, ist bei diesem „Klassiker des Völkerrechts" nur wenig und zudem wenig präzise die Rede, um so mehr vom ,Naturrecht'. Grotius unterscheidet vom Naturrecht ein „willkürliches", im menschlichen oder göttlichen Willen begründetes Recht, und unter dem „menschlichen Recht" nochmals entweder „innerstaatliches Recht" oder Recht mit engerer oder weiterer Geltung. Das Recht mit engerer Geltung umfasse „die Gebote des Vaters, des Sklavenhalters und ähnliches", und schließlich heißt es: „Das Recht mit weiterer Geltung ist das Völkerrecht, welches durch den Willen aller oder vieler Völker seine verbindliche Kraft erhalten hat. Ich habe gesagt .vieler', weil außer dem Naturrecht ein Recht, und selbst ein sogenanntes Völkerrecht, kaum zu finden ist, das bei allen Völkern gilt. Vielmehr ist oft in einem Teil der Erde etwas völkerrechtsgemäß, in dem andern aber nicht, wie sich bei der Lehre von der Gefangenschaft und der Rückkehr aus derselben ergeben wird. 2. Der Beweis für dieses Völkerrecht wird ebenso wie bei dem ungeschriebenen innerstaatlichen Recht aus der stetigen Übung und dem Zeugnis erfahrener Männer geführt." (53f; Buch I, Kapitel 1, §XIV) Insofern also ist das Völkerrecht, könnte man sagen, ein bei mehreren Völkern übereinstimmendes Gewohnheitsrecht, und als solches hat es eine Regelungsfunktion auch dort, wo kein streng naturrechtlicher Beweis geführt wird. So gelten beispielsweise die Bestimmungen, daß „das Kind meiner Sklavin mir gehört" oder daß ein „Kriegsfeind auch überall getötet werden" kann (479f.; Buch III, Kap. 7, §11 bzw. Kap. 6, §XXVI), als Rechtssätze des

.Völkerrechts'. Grotius, De iure belli ac pacis, 214 (Buch II, Kap. VIII, § 1). E. de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains, Leyden 1758; deutsch: Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsober-

häupter.

Deutsche

Übersetzung von W. Euler, Einleitung von P. Guggenheim, Tübingen

1959. -

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Walter Jaeschke

rechts „auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter" wird nun als Völkerrecht' bezeichnet obschon es doch eigentlich die Beziehungen nicht zwischen Völkern, sondern zwischen Staaten regelt. Die Klassische Deutsche Philosophie und als ihr erster großer Vertreter Kant hat also eigentlich kein Völkerrecht' vor sich, sondern ein ,Kriegs- und Friedensrecht'. Fraglos stellt auch dieses Recht eine großartige gedankliche Leistung dar und doch überrascht es nun nicht, daß die vorhin von mir genannten drei großen Rechtslehrer Grotius, Pufendorf, Vattel für Kant lediglich „lauter leidige Tröster" sind. Denn sie werden „immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs angeführt". Und dies ist keineswegs ein krasser, verfälschender Mißbrauch ihrer Werke. Der Krieg gilt als „ultima ratio" im Verhältnis der Staaten zueinander, und oft genug ist er die „paenultima ratio" aber doch immerhin „ratio". Das Kriegs- und Friedensrecht' regelt die Beziehungen „zwischen den Souveränen als unabhängigen, gleichberechtigten Herreben dies liegt ja im Begriff der schern, die keinen Höheren über sich anerkennen" Souveränität. Und weil die Souveräne niemanden über sich anerkennen, sind sie keiner rechtlichen Bindung unterworfen. Deshalb kann, was sie tun, auch nicht Unrecht sein, ebensowenig wie im gedachten Naturzustand, in dem der Mensch ein „Recht auf alles" hat eben weil es keine Instanz gibt, die sein Recht einschränkt und damit erst Recht im strengen Sinne setzt. Da die Souveräne alle Rechte haben, haben sie auch das Recht zum Kriege, das „ius ad bellum", ebenso wie sie auch das Recht zum Friedensschluß haben und niemand kann sie deshalb rechtlich belangen. Wenn keine gegenteiligen Verträge vorliegen, ist ein Kriegsbeginn kein Rechtsbruch, ja überhaupt kein Rechtsakt, sondern ein politischer Akt. Deshalb gibt es auch kein ,Kriegsverbrechen'. Man kann im Kriege wohl Verbrechen begehen, aber der Krieg ist kein Verbrechen und dies übrigens bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Es gibt keinen gerechten und keinen ungerechten Krieg, sondern nur Kriege, die mit oder ohne „fortune" geführt werden. Doch wenn sie geführt werden, sollten sie im Rahmen der Regeln geführt werden, die das Kriegsrecht festlegt und auch dies bedeutet sehr viel in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg: Hierdurch wird ein entscheidender Schritt in Richtung auf eine .Humanisierung des Krieges' vollzogen. Das ,Kriegs- und Friedensrecht' setzt den damals geschaffenen politischen Zustand voraus und formuliert Regeln für sein Funktionieren; es -

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Vattel geht auch insofern über das Kriegs- und Friedensrecht hinaus, als er den Büchern III und IV, die diesem Recht gewidmet sind, zwei Bücher vorangehen läßt, in denen er „Die Nation für sich allein" bzw. sie „in ihren Beziehungen zu den anderen Nationen" betrachtet. Während das erste Buch, seinem Titel gemäß, nur dem innerstaatlichen Recht gewidmet ist, entfaltet Vattel im zweiten Buch die Thematik des späteren Völkerrechts. Zur Einbürgerung des deutschen Wortes „Völkerrecht" siehe insbesondere D.H.L. von Ompteda, Litteratur des gesammten sowohl natürlichen als positiven Völkerrechts, Bd. 1, Regensburg 1785. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 8, Berlin 1912, 355. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 71.

Die klassische deutsche Philosophie vor dem Völkerrecht

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ist „ein wertneutrales Gefüge von Rechtsnormen für den Verkehr von Souveränen und Staaten in Krieg und Frieden". Und zudem: Das .Kriegs- und Friedensrecht' ist ein ,Naturrecht', vielleicht auch nur ein Völkergewohnheitsrecht', doch jedenfalls kein striktes, geltendes Recht, auf dessen Verletzung eine Sanktion folgte. Es ist in philosophischen Büchern niedergelegt, die nicht den Status von Gesetzbüchern haben, und insofern ist im strengen Sinne auch niemand an es gebunden. Es macht sich zwar gut, wenn man sich daran hält und damit schmückt, aber es passiert auch nichts, wenn man es ignoriert zumal, wie Kant beklagt, die „Versammlung der Generalstaaten im Haag" ohnehin nicht mehr zusammentritt, um eine Art Schiedsrichterfunktion zu übernehmen. Und zu kriegerischen Abenteuern hat diese Anarchie der souveränen Staaten ohnehin die Lizenz. (2) Das „Völkerrecht", vor dem die Klassische Deutsche Philosophie steht, ist somit gar kein „Völkerrecht". Es ist ohnehin kein „Recht" im strikten Sinne, sondern ein philosophischer, naturrechtlicher Entwurf, und zwar eines „Kriegs- und Friedensrechts". Seine Wirkung besteht allenfalls darin, den Regierenden einen Spiegel vorzuhalten und hierdurch ein wenigstens unterschwelliges Unbehagen hervorzurufen. Daß die Staaten die genannten Naturrechtslehrer zur „Rechtfertigung eines Kriegsangriffs" anführen, deutet, wie Kant bemerkt, ja doch auf ein solches Unbehagen an der herrschenden Rechtlosigkeit hin oder wie Kant sagt: Es beweist, „daß eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei, über das böse Princip in ihm (was er nicht ableugnen kann) doch einmal Meister zu werden und dies auch von andern zu hoffen". Damit allerdings führt Kant ein Wort in diesen Kontext ein, das traditionell nicht in ihn gehört und wenn man es hier für angebracht hält diesen Kontext aufbricht: das Wort „böse". Und genau dies ist Kants Absicht: das von ihm vorgefundene „Recht der Staaten" aufzubrechen und in ein wirkliches „Recht" zu transformieren: die Souveränitätsanarchie durch ein „foedus pacificum", einen „Friedensbund", zu ersetzen. Kant kennt das ,Kriegs- und Friedensrecht', und er paraphrasiert es in seiner Metaphysik der Sitten: Staaten stehen gegeneinander in einem nicht-rechtlichen Zustand, und dieser Zustand ist ein Kriegszustand, auch wenn er „nicht wirklicher Krieg und immerwährende Befehdung" ist. Aber Kant referiert diese Position stets in kritischer Stoßrichtung und mit der Energie des Hobbes'schen „exeundum esse e statu naturali" („man muß den Naturzustand hinter sich lassen"). Die damals verbreitete und im Interesse der Bindungslosigkeit der Regierenden durchaus erwünschte Sichtweise, daß die souveränen Staaten nicht in einem Rechtsver-

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Ebd., 73. Kant, Werke, Bd. 8, 350. Ebd., 355. Th. Hobbes, De cive; vgl. Hobbes, Leviathan.

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hältnis, sondern gleichsam im ,Naturzustand' gegeneinander leben, legt in der Tat die

analoge Anwendung

dieses Fundamentalsatzes der Staatsphilosophie auf die zwischenstaatlichen Verhältnisse nahe. Aber warum „soll" man eigentlich den Naturzustand hinter sich lassen woraus entspringt dieses „Sollen"? Für Hobbes ist dies unproblematisch: Sein „Sollen" hat Kantisch gesprochen den Charakter eines ,Imperativs der Klugheit' : Das Interesse an meiner Selbsterhaltung legt mir nahe, mich zu den anderen Menschen in ein Verhältnis des Rechts und nötigen Falls auch des Zwangs zu setzen. Diese Begründung reicht Kant jedoch nicht tief genug: Kurz vor der Metaphysik der Sitten formuliert er deshalb in der kleinen, aber überaus erfolgreichen Schrift Zum ewigen Frieden, daß „die Vernunft vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch ohne einen Vertrag der Völker unter sich nicht gestiftet oder gesichert werden kann." Auch hier rekurriert Kant erneut auf die .moralische Gesetzgebung' der Vernunft. Das absolute Friedensgebot läßt sich ja problemlos aus dem kategorischen Imperativ herleiten. Hinter dem „exeundum esse" steht also hier die nicht bloß hypothetische, sondern kategorische Forderung der Vernunft. Durch diese moralische Fundierung des Hobbes'sehen „exeundum esse" verleiht Kant seiner Friedensforderung kategorischen' Nachdruck. Sein Gedankengang läßt sich leicht in Form eines Syllogismus formulieren: -

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1. 2. 3.

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Das natürliche Verhältnis der Staaten zueinander ist ein (zumindest latenter) Kriegszustand, analog dem Verhältnis der Einzelmenschen zueinander. Die Vernunft gebietet aber, daß kein Krieg sein solle. Also muß der Naturzustand auch der Staaten verlassen und in einen Friedensbund transformiert werden.

Dies sieht überzeugend aus, und doch ist die Konklusion erschlichen was Kant übrigens selbst als erster und am besten gewußt und deshalb nach Kräften versteckt hat. (3) Die Erschleichung steckt, wie leicht ersichtlich, im zweiten Halbsatz der Konklusion. Die Analogie des „exeundum esse e statu naturali" der Menschen und Staaten fordert ja keineswegs ein „foedus paeificum" und auch keinen „Völkerbund", sondern die Herstellung eines staatsähnlichen Verhältnisses also eines „Weltstaats", einer „civitas maxima". Auch die einzelnen Menschen vereinigen sich ja nicht in einen „Föderalism freier Menschen" (damit wäre auch recht wenig gewonnen), sondern sie unterwerfen sich einem Souverän, der das Gewaltmonopol innehat. Daß es im „Zweiten Definitivartikel zum ewigen Frieden" heißt: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein",16 ist natürlich plausibel aber es ist banal, weil es innerhalb -

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Kant, Werke, Bd. 8, 356. Ebd., 354.

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eines „Weltstaates" ja kein Völkerrecht gibt, sondern nur Staatsrecht. Doch die Begründung dafür, daß es überhaupt ein „Völkerrecht" geben solle, ist keineswegs stichhaltig. Deduziert ist lediglich die universale, zwangsbewehrte Rechtsordnung der einen „civitas maxima", auch wenn diese als „civitas civitatum" oder „civitas gentium" ausgeformt sein mag. Deshalb ist es überaus bezeichnend, daß Kant am Ende seiner Ausführungen zu diesem „Zweiten Definitivartikel", der den „Föderalism freier Staaten" im Titel führt, die eigentliche Folgerung der vernunftrechtlichen Analogie ungeschminkt ausspricht: „Für Staaten im Verhältnisse unter einander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als daß sie so wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden."

eben

widerspricht aber den Forderungen eines „Völkerrechts" wie auch eines „Völkerbundes". Um diesen Widerspruch abzumildern, bemüht Kant sich, die Reichweite der Analogie einzugrenzen, um nicht zu dieser Folgerung genötigt zu sein, daß erst die „civitas civitatum" die erforderliche Rechtssicherheit zu gewährleisten im Stande sei. Hierfür bietet er zunächst nicht weniger als fünf nun doch etwas sophistische Argumente auf. Ich möchte sie hier nicht referieren und widerlegen, da ich dies neulich in anderem Rahmen getan habe.18 Ohnehin läßt Kant schließlich die pragmatische Katze aus dem zunächst ethisch und juridisch stilisierten Sack: Der geforderte „freie Föderalism" sei „das Surrogat des bürgerlichen Gesellschaftsbundes", und die Vernunft müsse diesen Föderalism „mit dem Begriff des Völkerrechts notwendig verbinden", „wenn überall etwas dabei zu denken übrig sein soll." Diesen eindeutig negativ konnotierten Begriff des Surrogats verwendet Kant im gleichen Kontext nochmals: „nach der Vernunft" gebe es keine andere Lösung als öffentliche Zwangsgesetze und einen universalen Völkerstaat. Diese durch die

Analogie nahegelegte

Einsicht

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„Da sie (sc. die Völker) dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee

Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindlichen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs". einer

Als „positive Idee" zeichnet Kant also die Weltrepublik aus, doch angesichts der herrschenden Unvernunft müsse wenigstens der fragile Friedensbund als „das negative Sur-

Ebd., 357. Siehe vom Vf., ,Der Weg zum ewigen Frieden', in: Die Aktualität der chumer Ringvorlesung Sommersemester 2004, hg. von K. Schmidt, K. sisch, Amsterdam/Philadelphia 2005, 89-104. Kant, Werke, Bd. 8, 356.

Philosophie Kants. BoSteigleder und B. Moj-

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rogat" an ihre Stelle treten, damit überhaupt ein Schritt aus der Misere getan werde. Doch gibt es wenig Anlaß, sich dieses Surrogats wegen einen Lorbeerkranz zu winden. Im gleichen Kontext greift Kant, der angebliche Vordenker des Völkerbundes, erneut zu einer moralischen, sogar religiös-moralischen Kategorie: Er spricht von der „großen Versündigung", „die das menschliche Geschlecht sich noch immer zu Schulden kommen läßt, sich keiner gesetzlichen Verfassung im Verhältniß auf andere Völker fügen zu wollen". Doch auch der „Föderalism freier Staaten" oder der „Congreß", in dessen Forderung das Kapitel „Völkerrecht" in der Metaphysik der Sitten kulminiert, ist ja keine „gesetzliche Verfassung"; er ist „nur 20eine willkürliche, zu aller Zeit auflösliche Zusammentretung verschiedener Staaten" und kann also jederzeit, etwa in einer machtpolitisch günstigen Situation, widerrufen werden. Und dies ist sehr wahrscheinlich anNatur, die sich gesichts der von Kant angeprangerten „Bösartigkeit der menschlichen 21

im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken läßt". Also ist der „Föderalism" ebenfalls eine „Versündigung" allenfalls die etwas kleinere, aber deshalb keine läßliche Sünde. (4) Ist damit Kants „süßer Traum" vom Ewigen Frieden notwendig ausgeträumt? Oder gibt es einen anderen Weg, diesen Traum trotz der desillusionierenden Rechtslage wahr werden zu lassen? Kant prüft zunächst noch einen weiteren Weg, ihn ebenfalls zu verfehlen die Hoffnung auf „die Natur". Ich will diesen Weg nicht nachgehen, da Kant auch diesem auf „die Natur" gestützten Argument keine große Beweiskraft zubilligt, wie sein abschließender und zum nächsten Versuch überleitender Satz zeigt: „Noch Ungewisser" (nämlich noch Ungewisser als der Versuch, durch Kenntnis des „Mechanism der Natur" den ewigen Frieden zu verwirklichen) „ist ein auf Statute nach Ministerialplanen vorgeblich errichtetes Völkerrecht, welches in der That nur ein Wort ohne Sache ist und auf Verträgen beruht, die in demselben Act ihrer Beschließung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten."22 Man muß diesen Satz (mindestens) zweimal lesen, um die Wucht der von Kant erhobenen Anklagen erfassen zu können: Ein auf Statute nach Ministerialplanen vorgeblich errichtetes Völkerrecht ist nur ein Wort ohne Sache und beruht auf Verträgen, die in demselben Akt ihrer Beschließung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten und dies auch und gerade dann, wenn eben dies durch den Wortlaut des Vertrages ausgeschlossen wird. Doch trotz dieses ernüchternden Blicks in das Reich der Natur und in das noch erheblich ungewissere Reich der politischen Verträge und des Völkerrechts glaubt Kant sich im Besitze eines Schlüssels zur Lösung des bisher ungelösten Rätsels, was denn zur Hoffnung auf den ewigen Frieden berechtige. Diesen Schlüssel aber hat Kant erst in -

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Ebd., 357; vgl. I. Kant, Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 6, Berlin 1907, 350. Kant, Werke, Bd. 8, 355. Ebd., 377.

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ignorierten „Anhang" zu seiner Schrift versteckt. Hier rekapituliert er die Grundprobleme seiner praktischen Philosophie, schließlich auch den Gegensatz eines materialen und eines formalen Prinzips (also der Vorstellung eines Zweckes oder der Pflicht) und nun wird klar: Es ist ohnehin der falsche Weg, einen Zweck und sei es den Ewigen Frieden so geradezu anzustreben, ohne ihn erst „aus dem formalen Prinzip der Maximen äußerlich zu handeln" abzuleiten. Ohne Rückgang auf die Grundlagen der Ethik so könnte man sagen ist selbst das Streben nach dem Ewigen Frieden eitel, weil es dann nur mit den „Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre" 23 dem zumeist

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unternommen wird.

Und so kulminiert Kants verschlungene, ja doppel- und mehrbödige Beweisführung in dem Zuruf: „Trachtet allererst nach dem Reiche der praktischen Vernunft und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch euer Zweck (die Wohlthat des ewigen Friedens) von selbst zufallen." Wo dieser Zweck unvermittelt angestrebt und nicht erst nach jener Gerechtigkeit getrachtet wird, dort bleiben alle Verträge bloßes, wenn auch mit Schnörkeln und Staatssiegeln verziertes geduldiges Papier mit all ihren kunstvoll formulierten Präliminar- und Definitivartikeln einschließlich sämtlicher Geheimartikel, der veröffentlichten und der unveröffentlichten. Doch gilt auch umgekehrt: Wo nach dieser Gerechtigkeit getrachtet wird, dort orientiert sich das Handeln nicht an einer Materie, an einem Zweck, und sei es an dem des Ewigen Friedens oder des Völkerrechts, sondern und dann wird auch der ersehnte Zweck „von selbst" zur an der sittlichen Pflicht Wirklichkeit werden. Und wenn schon der „Föderalism freier Staaten" ein bloß „negatives Surrogat" der „civitas maxima" ist: Die prätentiöse vertragsrechtliche Stiftung eines Friedensbundes und des darauf basierenden Völkerrechts kommt sogar in den „Schlangenwendungen" einer vermeintlichen und vorgeblichen, in Wahrheit aber unmoralischen Staatsklugheitslehre daher; sie kann deshalb nicht einmal als ein solches „negatives Surrogat" für sittliches Verhalten gelten. Mit größerer Parrhesie haben nicht einmal Hobbes oder Hegel ihre Völkerrechtsskepsis vorgetragen. Kants Schrift Zum ewigen Frieden beginnt mit dem falschen Glanz eines polierten Vertragsentwurfs, und sie endet mit der Rückführung des Rechts und insbesondere des Völkerrechts auf die Ethik: Nur von dieser aus führt der Weg zum Ewigen Frieden, und jeder Versuch, ihn unter Umgehung der Moral durch Vertragsschlüsse zu erreichen, ist nicht ein bloßer Umweg, sondern ein Abweg vielleicht ja gar ein gut gebahnter Weg in die Katastrophe. Um Anschauungsmaterial muß man nicht lange verlegen sein: Man braucht nur an das Schicksal des Völkerbundes im 20. Jahrhundert zu erinnern, und Beispiele der allerjüngsten Geschichte drängen sich so auf, daß man sich scheut, sie auszusprechen. (5) Ich habe mich bei Kant länger aufgehalten, weil die harte Wahrheit seiner moralischen Botschaft von der gängigen Rezeption im Interesse einer politischen Aktualisie-

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Ebd., 375.

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rung unter den Teppich gekehrt wird. Allerdings haben sich schon Kants Nachfolger von der prächtigen Eingangsfassade der Schrift Kants Zum ewigen Frieden blenden lassen, ohne die hinter ihr versteckte rein moralische Lösung zur Kenntnis zu nehmen. Dies gilt sogar für Fichte. Er hat Kants Schrift sehr zustimmend rezensiert, doch ist er über den für Kant entscheidenden „Anhang" mit den nichtssagenden Worten hinweggegangen, er enthalte „eine Menge treffend gesagter Wahrheiten, deren reifliche Beherzigung jeder, dem Wahrheit und Geradheit am Herzen liegt, wünschen muß." Kants mo4 ralische Unterminierung des Völkerrechts übergeht Fichte hier und ebenso in dem „Grundriss des Völker- und Weltbürgerrechts", den er nach dem Erscheinen von Kants 25 Metaphysik der Sitten seinem „Naturrecht" als einen „Anhang" hinzufügt. Hier mündet auch Fichtes „Völkerrecht" in den Gedanken eines Völkerbundes, durch dessen Verbreitung über die ganze Erde der „ewige Friede" eintreten werde. Doch tritt in Fichtes „Völkerrecht" das Kantische, im Sittengesetz wurzelnde Gewaltverbot deutlich in den Hintergrund: Gegen den Krieg spricht nicht so sehr, daß in ihm Gewalt ausgeübt wird, als daß man kein Mittel finden kann, „durch welches der, der die gerechte Sache hat, stets der Sieger wäre". Vor allem aber unterscheidet Fichtes Naturrecht sich von Kants Metaphysik der Sitten durch eine unterschiedliche Fundierung: Sein „Völkerrecht" ist nicht von dem Grundsatz „exeundum esse", von dem Vernunftgebot zur Überwindung des Naturzustands bestimmt, sondern durch den Vertragsgedanken, der sein „Naturrecht" insgesamt prägt. Anders als Kant ist Fichte Kontraktualist, und so bringt er den Gedanken der wechselseitigen vertraglichen „Anerkennung" der Staaten als Grundlage auch des Völkerrechts zur Geltung. Er vindiziert dem Staat sogar ein „Zwangsrecht auf die Anerkennung" und das heißt: Er spricht dem Staat, dem die Anerkennung verweigert wird, das Recht zum Kriege zu. Hierdurch führt er ein Moment in das Völkerrecht ein, das diesem bei Kant fehlt. Doch so fruchtbar sich die vertragstheoretische Begründung für den Aspekt der „Anerkennung" der Staaten erweist: In anderer Hinsicht wirft sie dieselben Probleme auf, die bereits für Fichtes Konzeption eines „Staatsbürgervertrags" virulent sind: Das Fehlen oder gar der Bruch eines Vertrags haben die gänzliche Rechtlosigkeit zur Folge. Aus Fichtes vertragstheoretischer Begründung eines „Rechts zum Kriege" im Falle der Verweigerung der Anerkennung eines Staates folgt die Unterscheidung gerechter und ungerechter Staaten wie auch gerechter und ungerechter Kriege und hieraus zieht er noch weitergehende, ebenso konsequente wie problematische Folgerungen: Das Fehlen eines vertraglich begründeten Rechtsverhältnisses gebe dem verletzten Staat -

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Fichte, [Rezension:] ,Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant, Königsberg, bei Nicolovius, 1795, 104, 8' in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von R. Lauth u. a., Stuttgart-Bad Cannstatt, Abt. I, Bd. 3, 221-228. J.G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Teil 2, Jena und Leipzig 1797, in: Gesamtausgabe, Abt. I, Bd.4, 151-165. J.G.

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ungerechten Staat zu bekriegen, bis er ihn als für sich bestehenden und seine Unterthanen mit sich selbst vereinigt habe". „Das Recht des Staat, ausgetilgt, Kriegs ist [...] unendlich. Der bekriegte hat keine Rechte, weil er die Rechte des kriegführenden Staats nicht anerkennen will. [...] der natürliche Zweck des Kriegs ist immer die Vernichtung des bekriegten Staats". Es sind dann eher Nützlichkeitserwägungen, die den siegreichen Staat von der Verwüstung des eroberten Landes und der Ausplünderung der vormaligen Untertanen des Gegners abhalten, die nun seine eigenen sind. Diese reichlich martialischen Formulierungen sucht Fichte zwar durch sehr menschenfreundliche, fast possierliche Behauptungen wieder zu entschärfen doch dies ändert nichts am unvermeidlichen Dilemma einer durch weder moralische noch sonstige vernunftrechtliche Argumente ausbalancierten rein vertragstheoretischen Begründung des Rechts überhaupt: Entsteht alles Recht nur durch Vertrag, so herrscht ohne Vertrag völdas Recht, „den

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lige Rechtlosigkeit. (6) Schelling und Schleiermacher haben zum Thema Völkerrecht' keine signifikanten Einsichten beigesteuert. Deshalb übergehe ich ihre verstreuten Notizen,2 um mich Hegel zuzuwenden sicherlich nicht mit der Erwartung, in seiner Rechtsphilosophie eine tragfähige Grundlegung des Völkerrechts zu finden. Hegels Distanz zum Völkerrecht ist allgemein bekannt, und ich habe nicht den Ehrgeiz, diesen Eindruck als unzu-

treffend zu erweisen. Doch trotz oder wohl besser: wegen seiner Distanz lassen sich seinen knappen Ausführungen einige weiterführende Hinweise entnehmen. Hegel spricht zwar gelegentlich auch vom „Völkerrecht", doch teilt er diesen Themenbereich und stellt ihn unter die Titel „Souverainetät gegen Außen" und „äußeres Staatsrecht". Damit ist Hegel konsequenter als Kant. Dieser ist ja ebenfalls der Ansicht, daß es hier um das „Recht der Staaten" gehe, welches deshalb eigentlich „Staatenrecht (ius publicum civitatum)" heißen sollte. Ich halte deshalb als ein erstes, rasches Resultat fest: Das Völkerrecht, vor dem die Klassische Deutsche Philosophie steht, ist ein Staatenrecht, das nur so Kant „nicht ganz richtig im Deutschen das Völkerrecht genannt 7 wird." Durch seine suggestive Dreigliederung des „Öffentlichen Rechts" in „Staatsrecht, Völkerrecht, Weltbürgerrecht" scheint Kant leider den sprachgeschichtlich entscheidenden Schub gegeben zu haben, dieses selbst heute und zumal damals „nicht ganz richtige" Wort in die deutsche Sprache einzubürgern. Derart unrichtig gebildete Wörter können gefährlich sein; sie wecken falsche Assoziationen und dadurch unter Umstän-

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Schelling, System des transscendentalen Idealismus (1800), hg. von H. Körten und P. Ziehe, Stuttgart 2005 (Kritische Ausgabe 1, 9), 285; F. Schleiermacher, Vorlesungen über die Lehre vom Staat, hg. von Walter Jaeschke, Berlin und New York 1998 (Kritische Gesamtausgabe II, 8), S.

555-557.

Kant, Werke, Bd. 6, 343. Der begriffsgeschichtliche Umschlag vom „Recht des Kriegs und zum „Völkerrecht" scheint mir noch nicht hinreichend erforscht, sondern durch die Retrojektion des Wortes „Völkerrecht" in frühere Theoriekontexte verwischt zu sein.

Friedens"

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den politische Illusionen. Dies gilt sowohl für das Wort Völkerrecht', das für Kant ja ein „Wort ohne Sache" ist, als auch und mehr noch für das ebenfalls durch Kant ins Deutsche eingebürgerte Wort Völkerbund', das schließlich und irrtümlich als autochthones Äquivalent für „League of Nations" oder „Société des Nations" zu ebenso kurzfristiger wie fragwürdiger politischer Bedeutung gelangt ist, als es leere Erwartungen gesäht hat und Enttäuschungen geerntet wurden. Nochmals: Das „Völkerrecht", vor dem die Klassische Deutsche Philosophie steht, ist ein „Staatenrecht". Es beruht auf dem Willen der Staaten, und es reicht so weit wie dieser Wille. Die Staaten sind Individuen, und sie sind „souveräne" Individuen. Zum Begriff eines Individuums gehört essentiell die negative Beziehung auf andere Individuen. Sie muß sich natürlich nicht in Kriegshandlungen ausdrücken dies ist trivial. Sie wird sich aber so Hegel in Kriegshandlungen ausdrücken, wenn die Relationen zwischen den staatlichen Individuen nicht rechtlich geregelt sind: wenn über ihren potentiell konfligierenden Willen kein höherer, von ihnen autorisierter Wille etabliert ist, der von ihnen unabhängig ist, der Macht über sie hat und dem sie sich auch nicht einfach durch Austritt aus einem „Völkerbund" oder „Congreß" entziehen können. Hegel hat ja keinen Einwand gegen eine Instanz, die den potentiellen Streit zwischen Staaten schlichtet. Er benennt nur zum einen den „Völkerbund" Kants angemessen als „Fürsten-" oder „Staatenbund", und er insistiert darauf, daß ein solcher „Staatenbund, welcher jeden Streit schlichtete", die „Einstimmung der Staaten" voraussetze, „welche auf moralischen, religiösen oder welchen Gründen und Rücksichten, überhaupt immer auf besondern souverainen Willen beruhte, und dadurch mit Zufälligkeit behaftet bliebe". Und die Alternative hierzu spricht er unumwunden aus: daß der Streit der Staaten, „insofern" und ich unterstreiche dieses „insofern" „die besonderen Willen keine Uebereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden" könne (§ 333). Dies ist eine betrübliche Auskunft aber sie hat sich leider bis heute nicht als falsch erwiesen. Von seinen Vorgängern Kant und Fichte unterscheidet Hegel sich nicht durch die Diagnose, daß einzelne Staaten, die in einem rechtlich nicht geregelten Verhältnis leben, „im Naturzustande gegen einander" stehen (§ 333). Deshalb gilt auch hier implizit der Fundamentalsatz der neuzeitlichen Staatsphilosophie: „exeundum esse e statu naturali". Hegel unterscheidet sich jedoch von Kant und Fichte dadurch, daß er unumwunden einräumt, nicht sehen zu können, auf welchem Wege souveräne Staaten diesen „Naturzustand" verlassen können. Daß sie mit einander Verträge schließen oder sich eidies bleibt ihnen ja alles unbenomnem externen Schiedsspruch unterwerfen können men. Aber es bleibt auch unerheblich angesichts der nicht eben seltenen Situation, daß die konfligierenden Willen nicht zur Übereinstimmung finden und die Staaten ihre „konkrete Existenz" zum „Princip ihres Handelns" machen. Und auch die Assoziation mehrerer Staaten sieht Hegel und ich sage: zurecht nicht als Ausweg an. Denn dieser Weg steht ja allen, auch konfligierenden Staaten offen, um ihren besonderen Willen doch etwas naiven Vision nur um so machtvoller durchzusetzen. Hegel mißtraut der -

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Fichtes, daß ein einmal konstituierter Völkerbund „sich weiter verbreitet, und allmählig 28 die ganze Erde umfaßt", so daß der Ewige Friede eintrete. Dieser Illusion gibt auch Kant sich nicht hin; er sieht, daß ein zu großer Völkerstaat ineffektiv wird, während 29 „eine Menge solcher Corporationen aber wiederum einen Kriegszustand herbeiführt".

Hegel hat diese Logik der politischen und militärischen Blockbildung präzise ausgesprochen: „Wenn also auch eine Anzahl von Staaten sich zu einer Familie macht, so muß sich dieser Verein als Individualität einen Gegensatz creiren, sich einen Gegensatz, einen Feind erzeugen." Hiermit hat er zugleich die Entwicklung der politischen Strukturen des 20. Jahrhunderts mit unerhörter Klarheit prognostiziert. Ein Einwand bleibt dennoch richtig: Auch hier, wie in fast allen seiner politischen Schriften, von der ersten Württemberg-Schrift bis zur späten Reformbill-Schrift, gelangt Hegel nicht hinaus über klare Analysen der internen Verhältnisse einer Welt der souveränen Staaten, in der es kein „machthabendes Allgemeines" gibt, und über hellsichtige 31 Prognosen ihrer Entwicklung. Er diagnostiziert den „Naturzustand" und seine prekären Folgen, zeigt den Staaten aber keinen Weg aus diesem „Naturzustand". Kants moralische Forderung, nach dem Reich der praktischen Vernunft und seiner Gerechtigkeit zu trachten, hätte Hegel wenn er sie als den Kern der Kantischen Lösung erkannt hätte für unpolitisch und rechtsfremd gehalten. Und der vertragstheoretischen Lösung Fichtes ist er mit gutem Grund nicht gefolgt. Gegen Fichtes Axiom der „völligen Rechtlosigkeit" bei Vertragslosigkeit greift Hegel implizit auf das alte „ius belli" zurück: daß „auch im Kriege, dem Zustande der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Zufälligkeit, ein Band" zwischen den streitenden Staaten erhalten bleibe, „so daß im Kriege selbst der Krieg als ein Vorübergehensollendes bestimmt ist". Dieses „Band" beruht für ihn allerdings nicht auf einem Rechtsverhältnis, sondern teils auf den „Sitten der Nationen", die im „ius publicum europaeum" (immerhin einem rudimentären ,Rechtssystem') vereint sind, teils wohl auch auf einem durchaus legitimen Pragmatismus. In der Tat: Den „höheren Prätor", der über die Staaten richtet, hat Hegel nur im „Weltgericht" der Weltgeschichte erkannt, doch hat er keine politische Utopie entwickelt, wie über den nun wahrhaft nicht vernunftgemäßen „Naturzustand" der Staaten hinauszugehen sei. Doch statt mit visionärer Kraft Wege zur Überwindung der gegebenen verfassungsrechtlichen Situation zu imaginieren, hat er mit seiner Analyse, warum bestimmte Wege nicht zum Ziel führen, zugleich die Bedingungen implizit formuliert, die gegeben sein müssen, um diesen Zustand doch einmal zu überwinden Bedingungen allerdings, die -

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auch heute erst in Ansätzen verwirklicht sind.

Fichte, Grundlage des Naturrechts, 162. Kant, Werke, Bd. 6, 350. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Rechts, hg. von K.-H. Ilting, Cannstatt 1973, Bd.4, 735. Siehe vom Vf.: Hegel-Handbuch. Leben Werk Schule, Stuttgart 2003, 315f, 318. -

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Stuttgart-Bad

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II. dem Völkerrecht": Dies bedeutet zunächst: Sie ist am sogenannten ,klassischen Völkerrecht' orientiert. Damit ist der ohnehin reichlich vage Begriff des Klassischen gleich zweimal, und in verschiedener Bedeutung verwandt. Denn im Begriff der Klassischen Deutschen Philosophie schwingt wie verschämt oder verhalten auch immer doch noch die Konnotation des Zeitlosen, schlechthin Gültigen mit. Beim Völkerrecht hingegen sagt das Adjektiv .klassisch' nichts Werthaftes mehr aus: ,Klassisch' heißt es nur, weil es dem ,modernen Völkerrecht' vorausgeht. Angemessener wäre es als .antiquiertes Völkerrecht' zu bezeichnen. „Die Klassische Deutsche Philosophie vor dem Völkerrecht" bedeutet deshalb aber auch: Sie gehört insgesamt der Epoche vor dem modernen Völkerrecht an und damit vor einem Völkerrecht, das die Probleme der zwischenstaatlichen Beziehungen in prinzipiell neuer Weise und mit besseren Erfolgsaussichten zu lösen unternimmt. Es würde zur Prägnanz der Terminologie beitragen, insbesondere das naturrechtliche „ius belli ac pacis" des 17. und 18. Jahrhunderts überhaupt nicht als „Völkerrecht" anzusprechen und erst das „moderne Völkerrecht" so zu bezeichnen obwohl das Wort „Völkerrecht" selbst hier noch unzutreffend ist. Denn auch das moderne Völkerrecht regelt nicht das Verhalten von Völkern, sondern die Handlungen der Staaten und einiger weniger internationaler Organisationen, denen der Status von Völkerrechtssubjekten zugesprochen worden ist. (2) Es bedarf fraglos keiner Begründung dafür, daß ich hier nicht ausführlich über das moderne Völkerrecht spreche. Hierfür fehlt mir nicht allein die Zeit, sondern vor allem die Berufung. Ich möchte jedoch wenigstens in der Perspektive der bisher verhandelten Thematik vier Stichwörter nennen und sie kurz kommentieren. Das moderne Völkerrecht ist hervorgegangen aus der Erfahrung der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, also von Katastrophen, die sich auf dem Boden des .klassischen Völkerrechts' ereignet haben, auf der Basis der Voraussetzung souveräner und deshalb über das „ius ad bellum" verfügender Staaten. Dieser Prozeß steht insofern in gewisser Analogie zur Herausbildung der modernen Staatlichkeit und des staatlichen Rechts aus den Katastrophen, die die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts über Europa gebracht haben. Wie damals eine neue Form von Staatlichkeit und eine neue Staatenordnung entstanden sind, so jetzt eine neuartige internationale Ordnung, in deren Rahmen dem Staat eine gewandelte, eingeschränkte Rolle zukommt.

(1) „Die Klassische deutsche Philosophie

vor

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Durch diese Einschränkung ist die Basis sowohl des ,klassischen' Versuchs zur Grundlegung des Völkerrechts als auch zu ihrer Bestreitung aufgehoben. Deshalb hat das moderne Völkerrecht auch einen entschieden weiteren Inhalt als die ,klassischen' Konzeptionen, die hierunter fast ausschließlich den gegenseitigen Gewaltverzicht und vielleicht noch eine darüber hinausgehende Schutzverpflichtung verstehen. Es ist ein der Tendenz

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Die klassische deutsche Philosophie vor dem Völkerrecht

nach umfassendes Rechtssystem zur Regelung sämtlicher Fragen von zwischenstaatlicher Relevanz im weiten Sinne. Das moderne Völkerrecht ist kein Naturrecht, sondern positives Recht, wenn auch ein positives Recht neuer Art. Seinen eigentümlichen Rechtscharakter hat die Völkerrechtswissenschaft eindrucksvoll herausgearbeitet: Es handelt sich um ein „genossenschaftliches" Recht, um ein Koordinationsrecht im Unterschied zum staatlichen Subordinationsrecht. Es entsteht weder durch Akte eines staatlichen Gesetzgebers noch einer internationalen Legislative', sondern durch die Handlungen der Rechtsgenossen, vor allem der Staaten, aber auch internationaler Organisationen, und zwar durch eine Praxis, die von einem rechtserzeugenden Willen getragen ist. Seine Quellen sind Verträge, aber auch Gewohnheit und anerkannte Rechtsprinzipien. Weil es ein positives Recht ist, unterliegen Verstöße gegen es zumindest im Prinzip einer Sanktion auch wenn die Durchführung derartiger Sanktionen erheblich problematischer ist als im staatlichen Recht. Die Wirkung des Völkerrechts beruht jedoch nicht primär auf der Sanktionsandrohung, sondern auf Konsensbildung und Ausformung eines übereinstimmenden -

rechtskonformen Handelns. Das moderne Völkerrecht enthält neben partikulärem Recht einen Kembestand von universell gültigen Normen. Hierin liegt ein entscheidender Gewinn gegenüber dem traditionellen Ansatz, der die Gültigkeit von Normen jeweils von der ausdrücklichen Zustimmung der Völkerrechtssubjekte abhängig gemacht hat. Allerdings scheinen mir die Grundlegungsfragen hier noch nicht alle zur Zufriedenheit geklärt. Die Normen des universellen Völkerrechts binden auch diejenigen Völkerrechtssubjekte, die ihrer Erzeugung nicht ausdrücklich zugestimmt haben obschon die Erzeugung völkerrechtlicher Normen gemeinhin an den Konsens der Rechtsgenossen gebunden ist. Die Prinzipien der Rechtserzeugung durch Konsens einerseits und der allgemeinen BindungsWirkung andererseits lassen sich, scheint mir, nicht spannungslos mit einander vermitteln. Versucht wird dies durch eine Konstruktion, die sich auf die spezifische Rechtsquellenlehre des Völkerrechts stützt: Der Geltungsgrund des universellen Völkerrechts liege in der übereinstimmenden Staatengewohnheit und der übereinstimmenden Rechtsüberzeugung, die somit für die Gültigkeit universeller Normen supponiert wird. Darüber hinaus nimmt das moderne Völkerrecht sogar „zwingende" Normen an, und der Geltungsgrund solcher „zwingender Normen" liegt plausibler Weise nicht in der Zustimmung der Völkerrechtssubjekte. Als „zwingend" gelten solche Normen des Völkerrechts, „die im Interesse der ganzen Staatengemeinschaft bestehen und tief im und „unentbehrliche Verfassungsgrundallgemeinen Rechtsbewußtsein verankert sind" 2 sätze" der Völkerrechtsgemeinschaft sind. In dieser Annahme eines „zwingenden Rechts" liegt der größtmögliche Dissens zur traditionellen Herleitung des Völkerrechts -

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aus

dem Willen souveräner Staaten. Ich verkenne nicht, daß der Rückgriff auf A. Verdross, Die

Quellen des universellen Völkerrechts, Freiburg i. Br. 1973, 27, 21.

derartige

Geltungsprinzipien wie „allgemeines Rechtsbewußtsein" und „unentbehrlicher Verfassungsgrundsatz" auch erhebliche Probleme in sich birgt. Daß er aber im Interesse der Ausbildung einer Völkerrechtsordnung heute unternommen wird, beweist zur Genüge den völlig unterschiedlichen Charakter der heutigen Rechtserzeugung. Das moderne Völkerrecht hat sein Zentrum im Gewaltverbot und in der strikten Er-

haltung des Friedens ungeachtet des immensen Themenspektrums, das sich inzwischen ausgeformt hat. Damit unterscheidet es sich inhaltlich vom „ius belli ac pacis", das eben den Eintritt des Krieges und die Bedingungen des Krieges rechtsförmig regelt, aber auch von Fichtes Begriff des „gerechten Krieges", doch berührt es sich in diesem Ziel, wenn auch nicht in der Begründung, mit Kants Gewaltverbot. Das allgemeine Gewaltverbot bildet den Kern des „zwingenden Rechts". Man kann fragen, ob ein solches generelles Gewaltverbot nicht vielleicht zu weit gehe insbesondere dann, wenn es -

-

auch ein Verbot von Intervention einschließt und sogar einer Intervention, die im humanitären Interesse erfolgt, etwa zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen. Hier scheint die Souveränität des Staates, die das moderne Völkerrecht auf dem Gebiet der Rechtsbegründung transzendiert hat, als Gegenstand des Schutzes durch eben dieses Recht wieder aufzuleben. Und doch scheint dies eine notwendige Asymmetrie zu sein denn welche Verbrechen sind nicht schon im ,humanitären Interesse', im Namen der Menschheit verübt worden? Ich führe dazu nur einen etwas älteren Satz an, der diese Einschätzung kondensiert und mit einer ungeschminkten und deshalb fast erschreckenden Hellsichtigkeit ausspricht: .„Menschheit' ist ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanitären Form 33 ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus." Dem ist heute nichts -

-

hinzuzufügen. Nichts jedenfalls,

-

außer einem zurückblickenden und abschließenden Gedanken. Das

Völkerrecht, mit dem sich die Klassische Deutsche Philosophie beschäftigt, fällt rechts-

geschichtlich in eine vergangene Epoche vergangen, weil ihre Völkerrechtskonzeption auf Prämissen beruht hat, die durch die geschichtlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts revidiert werden mußten. Daran gemessen ist es von sekundärer Bedeutung, ob sie versucht hat, auf der Basis dieser problematischen Prämissen das Völkerrecht als ein „Wort ohne Sache" zunächst auf einen „Föderalism freier Staaten" zu gründen, um als Lösung dann doch nur eine (fruchtlose) moralische Paränese zu präsentieren, oder ob sie lediglich die auf der Basis eben dieser Prämissen entstehenden Probleme schonungslos offenlegt. Doch weder die Klassische Deutsche Philosophie noch die auf sie folgende hat die Lösung antizipiert, die sich seit etwa einem halben Jahrhundert trotz aller beklagenswerten Rückschläge als allein erfolgversprechend abzeichnet und dies nicht etwa, weil die Eule der Minerva den Anbruch des Tages aus eigener Schuld verschlafen hätte, sondern weil es in der Natur derart komplexer und epochaler Entwick-

-

C.

Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), 7. Nachdruck, Berlin 2002, 55.

Die klassische deutsche Philosophie vor dem Völkerrecht

233

lungen liegt, daß sie nicht vom Schreibtisch aus und schon gar nicht auf Jahrhunderte voraus antizipierbar sind. Doch nachdem dieses Recht nun ohne maieutische Hilfestellung der Philosophie in die Wirklichkeit getreten ist, sollte sie von ihm Kenntnis nehmen und seine Neuartigkeit nachträglich ins allgemeine Bewußtsein heben. Ebenso sollte sie an der spezifischen, von der Bindung an den Willen des staatlichen Gesetzgebers befreiten Natur des modernen Völkerrechts neue Einsichten in den Rechtsgedanken überhaupt gewinnen. Und schließlich sollte sie an der gegenwärtigen Entwicklung des Völkerrechts teilnehmen. Um brisante Themen muß sie dabei nicht verlegen sein.

34

Dies habe ich bereits vor zwei Jahrzehnten in meiner Antrittsvorlesung erfolglos angeregt: .Die Philosophie und das Völkerrecht', in: Jahrbuch der Ruhr-Universität Bochum, Bochum 1987, 43-56. Doch ist dies ja kein Grund, eine solche Anregung nicht zu wiederholen. Sie bleibt immer noch richtig und wichtig.

Zu den Autoren

Samir Arnautovic,

geb. 1965, ordentlicher Professor und Vizerektor der Universität in

Sarajevo. Veröffentlichungen : Philosophie und Wissenschaft (Filozofija i znanost(i)) (Hg. mit Stipe Kutlesa), Sarajevo-Zagreb 2006. Kantovo pitanje metafizike (Kants Frage nach der Metaphysik), Sarajevo 2005. Filozofijska ishodista moderne (Philosophische Ausgänge der Moderne), Sarajevo 2004. Otvorena znacenja Aristotelove metafizike (Offene Bedeutungen der aristotelischen Metaphysik), Zagreb 2003. Andreas Arndt, geb. 1949, apl. Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin und Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Veröffentlichungen : Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss (Hg. mit C. Iber und G. Knick), Berlin 2006 Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004.

Hegels „Phänomenologie des Geistes" heute (Hg. mit E. Müller), Berlin 2004 Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003. Werner BECKER, sität, Gießen.

geb. 1937, emeritierter Professor für Philosophie, Justus Liebig Univer-

Veröffentlichungen : Das Dilemma der menschlichen Existenz. Die Evolution der Individualität und das Wissen um den Tod, Stuttgart u.a. 2000.

Elemente der Demokratie,

Stuttgart 1985. Die Freiheit, die wir meinen. Entscheidung für die liberale Demokratie, München HANS-GEORG BENSCH, versität Hannover.

1982.

geb. I960, apl. Professor, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni-

236

Veröffentlichungen : Perspektiven des Bewußtseins Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes, Würzburg -

2005.

,Zum unmittelbaren Wissen bei Hegel und in der Geschichte der Philosophie', in: Die Ge-

schichtlichkeit des philosophischen Denkens in Europa, hg. v. G. Kapriev u. G. Mensching, Sofia 2004. ,Zum Begriff der wissenschaftlichen Arbeit', in: Neue Texte, neue Fragen: Zur Kapital-Edition in der MEGA, hg. von CE. Vollgraf u.a., Hamburg 2002 (Beiträge zur Marx-EngelsForschung, Neue Folge 2001). Paul Cruysberghs, ven

geb. 1944, Professor Ordinarius an der Katholieke Universiteit Leu-

(Belgien)

Veröffentlichungen: Hegel-Lexikon, Darmstadt 2006 (mit P. Cobben, L. De Vos und P. Jonkers). Immediacy and Reflection in Kierkegaard's Thought (Hg. mit J. Taels und K. Verstrynge), Leuven 2003 (Louvain Philosophical Studies, 17). ,Hegel has no Ethics. Climacus's Complaints against Speculative Philosophy', in: Kierkegaard Yearbook (1995), Berlin 1995 (Kierkegaard Studies). Kazimir Drilo, chen.

geb.

1957. Promotion in Heidelberg, Lehraufträge in Berlin und Mün-

Veröffentlichungen : ,Hansjürgen Verweyens Fundamentaltheologie im Anschluss an Fichte', in: Fichte Studien, Amsterdam/New York [erscheint vorauss. 2008]. ,Das absolute Wissen als Lebensform und Geschichtlichkeit. Fichte und Hegel ein Vergleich' in: Transzendentalphilosophie und Person, hg. von Ch. Asmuth, Bielefeld 2007, -

,

413^128. der Perspektive des Absoluten. sophie Hegels, Würzburg 2003.

Leben

aus

Perspektivwechsel und Aneignung in der Philo-

,Selbsterfahrung und Wirklichkeitserkenntnis bei Jonas und Hegel', in: Synthesis philosophica, Nr. 35-36, Zagreb 2003, 103-113. FRANCK FISCHBACH,

Le Mirail

geb. 1967, Professor an der Universität Toulouse

(Frank-

-

reich).

Veröffentlichungen : Spinoza, Paris 2005. L'être et l'acte. Enquête sur les fondements de l'ontologie moderne de l'agir, Paris 2002.

La production des hommes. Marx

avec

237

Zu den Autoren

La reconnaissance. Fichte et

Hegel, Paris 1999. Du commencement en phüosophie. Etude sur Hegel et Schelling, Paris

1999.

Walter JAESCHKE, geb. 1945, Professor am Institut für Philosophie und Direktor des Hegel-Archivs der Ruhr-Universität Bochum.

Veröffentlichungen : Hegel-Handbuch. Leben, Werk, Schule, Stuttgart 2003. Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart 1986. Jean-François Kervégan, Professor für Philosophie an der Universität Pantheon-Sorbonne (Paris I)

Veröffentlichungen: L'effectif et le rationnel.

Hegel et l'esprit objectif, Paris 2006.

Hegel et l'hégélianisme, Paris 2005. Hegel, Principes de la Philosophie du Droit (présentation, traduction et annotations de J.-F. Kervégan), Paris 2003. Heinz Kimmerle,

geb. 1930, emeritierter Professor der Erasmus-Universität in Rotterdam

(Niederlande).

Veröffentlichungen : Rückkehr ins Eigene. Die interkulturelle Dimension in der Philosophie, Nordhausen 2006. Afrikanische Philosophie im Kontext der Weltphilosophie, Nordhausen 2005. Georg Wilhelm Friedrich Hegel interkulturell gelesen, Nordhausen 2005. Jacques Derrida interkulturell gelesen, Nordhausen 2005. VLADIMIR MILIS A VLJE VIC, geb. 1966, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie, Belgrad (Serbien).

Veröffentlichungen : Identitet i refleksija: problem samosvesti u Hegelovoj filozofiji (Identität und Reflexion: Das Problem des Selbstbewusstseins in Hegels Philosophie), Belgrad 2006; mehrere Aufsätze über die Philosophie des Deutschen Idealismus und die französische Philosophie der Gegenwart. Vahidin Preljevic, geb. 1975, wissenschaftlicher Oberassistent für deutschsprachige Literatur und Kultur an der Universität Sarajevo (Bosnien-Herzegowina).

238

Veröffentlichungen : Estetika fragmenta. Robert Musil na tragu njemackog romantizma. (Die Ästhetik des Fragments. Robert Musil und die deutsche Romantik), Zagreb 2007 [im Erscheinen]. ,„Der Glaube wie Schmecken und Sehen". Johann Georg Hamanns Beitrag zur Säkularisierung und Ästhetik der Moderne', in: Der Mnemosyne Träume. Festschrift für Joseph P. Strelka zum 80. Geburtstag, hg. von I. Slawinski in Zusammenarbeit mit V. Preljevic und R. Weigel, Tübingen [im Erscheinen]. Verfallsbilder und Ordnungskritik. Die Negativität der Moderne in Rainer Maria Rilkes. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften'", in: Pismo II/l (2004), 187-209. ,Die Funktion des Inneren Monologs in Schnitzlers Erzählungen', in: Radovi Filozofskog

fakulteta u

Sarajevu XII (2000), 299-319.

Andrzej Przytebski, geb. 1958, Professor für Philosophie an der Universität Poznan (Polen).

Veröffentlichungen : Gadamer, Warszawa 2006. Lebenswelt und Technologie

(Hg. mit G. Abel u. R.Cristin), Berlin 2006. Nietzsche (Hg. mit G. Hübinger), Frankfurt/M. 2006. Hermeneutyczny zwrot filozofii (Die hermeneutische Wende der Philosophie), Poznan 2004. DAVOR Rodin, geb. 1936, emeritierter Professor an der Fakultät für politische Wissenschaften Zagreb (Kroatien).

Veröffentlichungen : Predznaci postmderne ( Die Vorzeichen der Postmoderne), Zagreb 2004. Putovi politologue (Die Wege der Politologie), Zagreb 2001. Prijepis politike (Schriftliche Dekonstellation der Politik), Zagreb 1995. LEO SESERKO, geb. 1948, außerordentlicher Professor für soziale Philosophie Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Ljubljana (Slovenien).

an

der

Veröffentlichungen: Das wirkliche Triebwerk des Kapitals und seine Kapital neu lesen, Münster 2006, 102-127.

Beziehung zu Hegels Logik, in: Das

,Die Auflösung der Symbiose von Religion und Metaphysik bei Kant', in: Kants „Ethisches Gemeinwesen". Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, hg. von M. Städtler, Berlin 2005, 257-267.

239

Zu den Autoren

,Drasticna metaforika v strukturalizmu' (Drastische Metaphorik im Strukturalismus), in:

Teorija in praksa 26/11 u. 12 (1989), 1599-1607. Vojaska protikultura kot druzbeni tabor (Militärische Gegenkultur als Gesellschaftslager). Casopis za kritiko znanosti, Ljubljana 1989, st. 119/120, 19-49. Jure ZOVKO, geb. 1957, seit 1990 am Institut für Philosophie der Universität Zagreb, seit 2000 Professor für Ontologie

an

der Universität Zadar.

Veröffentlichungen : Friedrich Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie. Mit einer Einleitung und Anmerkungen, hg. von A. Arndt und J. Zovko, Hamburg 2007. Kroatische Philosophie im europäischen Kontext, St. Augustin 2003. Ogledi o Platonu (Essays über Piaton), Zagreb 1998 (2. erweit. Aufl. 2006). Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990.

Personenregister

Acheson, D., 17

Adelung, J. Ch., 14 Agamben, G., 186 Aischylos, 20 Alegría, C, 10 Angehrn, E., 31 Arendt, H., 195

Argyriadis-Kervégan, C, 211

Aristoteles, 127, 180-182, 193

Arndt, A., 9, 13, 147 Athene, 20 f. Bahr, O., 211 Barber, B., 178 Baruch.B., Ill Beaud, O., 202 Beck, U., 193, 199 Behler, E., 9, 137, 159, 162 Bel vaux, R., 82 Berija, L., 111 f., 118 f. Blumenberg, H., 67, 203 Bodin, J., 202, 206 Bohr, N., 113 Bohrer, K.H., 147 Bondeli, M., 94 Bonsiepen, W., 17,34,72,100 Bonzel, A., 82 Bourdieu, P., 196, 198 Burke, E., 207 Bush, G.W., 170 f. Cassirer, E., 124 Castells, M., 197 Chirac, J., 117 Chomsky, N., 16 f., 170, 175 Churchill, W., 113 Clinton, B., 16, 170 Derrida, J., 6, 10, 14-16, 84, 165, 167-172, 175, 178, 184 f., 187, 189 f., 194, 196, 198 f. Drilo.K, 36,41

Eboh, M.P., 173 Eco, U., 194 Enders, M., 162

Epikur, 91

Erasmus von Rotterdam, 76, 84 Evans Pritchard, E.E., 173

Fichte, J.G., 60-65, 89, 103, 141, 148 f., 160 f., 226-229

Findlay, J.N., 71

Fortes, M., 173 Foucault, M., 49 f., 181, 194, 198

Frank, M., 140, 160 f. Franklin, J., 202 Freud, S., 77 Frey, B., 26 Fukuyama, F., 172 Gans, E., 85 Gauchet, M., 203, 208 Gentilis, A., 203 Gerhardt, V., 10 Giddens, A., 199 Gierke, O. von, 211 Gneist, R., 211 Goethe, J.W. von, 9, 145, 147

Görres, J., 10

Goyard-Fabre, S., 202

Grande, E., 193 Greffrath, M., 195 Grotius, H, 201,203, 217-219, 220 Habermas, J., 96, 127, 133, 172 f., 212-215 Hamlet, 44 Hardt, M., 82 Heidegger, M., 124, 169, 199

Hellmann, K.U., 197 Henrich, D., 95

Herder, J.G. von, 150 Hinrichs, H.F.W., 31 Hirschman, A.O., 11 Hobbes, Th., 25, 48-50, 54, 56,59,89,113-116, 118, 128, 135, 182, 201, 203-206, 208 f., 218, 221 f., 225 Hoffe, O., 10, 92, 135, 137, 139

Holloway, D.,

112

Honneth, A., 54 Hoon, Geoff, 117 Hösle, V., 39, 40, 69 f. Humboldt, W. v., 10 Hummel, J., 211 Husserl, E„ 177 Igwe, U. Th., 173 Ilting, K.H., 37 f., 85, 229 Jaeschke, W., 6, 13, 32 f., 41,75, 106 f., 148,217, 223, 227, 229 Jesus Christus, 150 f. Jouanjan, O., 211 Kapitsa, P.L., 111 f. Karsenti, B„ 56 Kauttlis, I., 148 Kelsen,H„213f. Kersting, W., 139 Kervégan, J.-F., 48,52, 56, 59, 96, 206, 209 Kierkegaard, S., 83 f. Kimmerle, H., 165, 167 Kimminich, O., 217, 220 Kneer.G., 197 Kojève.A., 51,54 Koselleck, R., 150 Kurzke, H., 147 Lafontaine, M.-J., 76 Lagarde, P. de, 203 Lawrence, E., 113 Levinas, E., 84

242

Litwak, R.S., 16 Locke, J., 204,209, 211 Löwith, K, 203 Ludwig XIV., 81 Luhmann, N., 177, 182 f., 185-191, 194, 196, 198 f. Lukács, G., 147 Lutz-Bachmann, M., 12 Machiavelli, N., 50 Mahl, HJ., 148, 152, 157, 159, 161 Mahoney, D.F., 152 Maistre, J. de, 207 Maisch, W., 153 f., 156 Mandeville, B., 11 Marx, K, 63, 70, 110, 181, 197,207

Mephistopheles, 9

Mohl, R. von, 211 Molotov, W.M., 111 Montesquieu, Ch. de, 81, 211

Moses, 127 Napoleon, 85, 95

Negri, A., 82 Niethammer F.I., 138 Nietzsche, F., 79 f., 181 Novalis (Friedrich von Hardenberg), 147-63 Nyerere, J., 173 Ompteda, D.H.L von, 220 Ottmann, H, 40 f., 130, 132 f.

Paine, Th., 205 Peter, K, 142 Piaton, 116, 182 Poelvoorde, B., 82 Pufendorf, S., 217 f., 220 Ramose, M.B., 173 f. Rawls.J., 89, 127, 133,140 Reagan, R., 170 Reichardt, J.F., 137 Renaut, A., 209 Renoux-Zagamé, M.-F., 208 Rhodes, R., 113, 122 Rodin, D., 193 Roosevelt, F., 113 Rousseau, J.-J., 89, 105, 143, 178, 183 f., 191,203,209, 212,215 Samuel, R., 147 f., 151-154, 156

Sappho, 143 Schelling, F.W.J., 60, 147, 227

Schiller, F. von, 100, 150 Schlegel, F., 9 f., 137 f., 140-149, 157, 162 Schleiermacher, F., 149, 227 Schmidt, H„ 105 Schmitt, C, 59, 96, 169, 178,184, 186, 188 f., 190, 193, 203 f., 206, 210 f., 215,232 Schroer, M., 197 Schumacher, E., 153

Shakespeare, W.,

194

Sichirollo, L., 67, 68 Siemek, M.J., 124-126 Sieyès.E.J., 204 f., 210

Sisyphos,

158

Sokrates, 88

Sonderegger, R., 153 Spinoza, B., 212 Spitz, J.-F., 202 Stalin, ]., 111, 112 Stangneth, B., 12 Szilard,L., 113 Tieck, L., 147 f. Treitschke, H. von, 211 Uerling, H., 147, 149 Vattel, E. von, 217, 219 f. Vaubel, R., 26 Veit, D., 144 Verdross, A., 231 Villey, M., 208 Virmond, W., 147 Walzer, M., 127,215 Wamba dia Wamba, E., 173 Wanning, B., 146, 150 Weber, M., 198, 203 f., 208 Wede, E., 26 Wiredu, K., 174 Wolff, Ch., 217, 219 Wundt, M., 69,71 Zenker, G., 90, 96 Zeuch, U., 162 Zimmer, W., 211 Zovko, J., 146