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German Pages 183 [186] Year 2019
Dahan Fan Die Problematik der Interesselosigkeit bei Kant
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 200
Dahan Fan
Die Problematik der Interesselosigkeit bei Kant Eine Studie zur „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-054489-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054612-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054507-4 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2018934242 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Compuscript, Ireland Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2016 von der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen wurde. Hier möchte ich vor allem Prof. Otfried Höffe für seine sachkundige und einfühlsame Betreuung danken. Er zeigte mir auf lebendige Weise, was Philosophieren heißt. Prof. Ulrich Schlösser als mein Mitbetreuer bot mir konstruktive Kritik an, mit der ich mich künftig noch weiter auseinandersetzen werde. Frau Prof. Friedrike Schick (Tübingen), Prof. Heiner Klemme (Halle) und Prof. Christian Helmut Wenzel (Taipei) haben sich die Zeit genommen, das Manuskript zu lesen und Kommentare zu geben. Im Oberseminar von Prof. Höffe, das in jedem Semester stattfindet und in Wirklichkeit ein Doktorandenkolloquium ist, haben mir die Kommilitonen viele Denkanstöße gegeben. Frau Irene Kosel, Herr Florian Grauer und Herr Dr. Moritz Hildt haben die Mühe auf sich genommen, diese Arbeit sprachlich zu korrigieren, was aber auch oft zu gedanklicher Klärung führte. Außerdem möchte ich mich bei meinem Magisterbetreuer, Prof. Han Shuifa (Universität Peking), dafür bedanken, dass er mich auf den Weg der Kant-Forschung geführt hat. Zuletzt und von ganzem Herzen bedanke ich mich bei meiner Ehefrau, Junjun Zhao, meinen Eltern und meinen zwei Kindern für die Unterstützung in einem Ausmaß, das nicht selbstverständlich ist. Dahan Fan, Tsinghua-Universität in Beijing Oktober 2017
https://doi.org/10.1515/9783110546125-202
Inhaltsverzeichnis Vorwort v Zitierweise und Abkürzungen
xi
1 Einleitung 0.1 Projektvorstellung 1 0.2 Mehrschichtige Interesselosigkeit im Geschmacksurteil 0.3 Drei Teile der vorliegenden Arbeit 8
5
I Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft 1 1.1 1.2 1.3
2 2.1 2.2 2.3 2.4
3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2
Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung 15 Der handlungstheoretische Begriff Interesse 16 Semantische Inkonsequenz beim Begriff Vernunftinteresse? 22 Absorption der semantischen Elemente von interessant in andere Begriffe 24 29 Das interesselose Wohlgefallen als Gunst Gunst: verpflichtet, aber nicht geschuldet 30 Ein Machen „aus der gegebenen Vorstellung“ und „in mir selbst“ 32 Angenehm, Gut und Schön 34 Das interesselose Wohlgefallen als Gunst: eine Antriebskraft der Entwicklung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft 38 Exposition des Geschmacksurteils als Kontext von „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ 41 Exposition des Geschmacksurteils als Kontext von „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ 41 Interesselosigkeit als Einstellung des Geschmacksurteils 44 Einstellung des ästhetischen Urteils vs. Einstellung der ästhetischen Erfahrung 46 Rechtfertigung der Kantischen Interesselosigkeit vor Dickies Angriff auf Theorien der ästhetischen Einstellung 49
viii
Inhaltsverzeichnis
4 4.1
Die Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Erhabenen 53 Die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene und ihre Begründung 53 Kontemplation und das Erhabene 56 Das Wohlgefallen am Erhabenen: Zwei Lesarten 59
4.2 4.3
II Interesselosigkeit, allgemeine Mitteilbarkeit und Erkenntnisvermögen 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
6 6.1 6.2 6.3
7 7.1 7.2 7.3 7.4 8 8.1 8.2 8.3
Die Struktur der Beurteilung: Interpretation zu § 9 67 Die Interpretationsschwierigkeiten von § 9 und die Relevanz dieses Paragraphen für die vorliegende Arbeit 67 Die Interpretationen von Guyer und Ginsborg 68 Beurteilung des Gegenstandes, anstatt der Beurteilung der Lust oder des Gemütszustandes 71 Beurteilung des Gegenstandes im Hinblick darauf, ob seine Vorstellung allgemein mitteilbar ist 72 Die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes und die Lust 79 81 Interesselosigkeit und die Bewegung der Momente Das Verhältnis der ästhetischen Beurteilung zum Geschmacksurteil 81 Qualität als das erste Moment der Analytik des Schönen 84 Interesselosigkeit des Wohlgefallens und das zweite Moment der Analytik: Interpretation zu § 6 87 Die Interesselosigkeit und das freie Spiel der Erkenntnisvermögen 93 Der ästhetische Vergleich 94 Vorstellung des Gegenstandes als Grund des freien Spiels 95 Zweckfreier Gebrauch der Erkenntnisvermögen im freien Spiel? 97 Stark beeinträchtigte Fähigkeit zum Geschmacksurteil 99 103 Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen Darstellung vs. Ausdruck 104 Urbild und Nachbild 106 Bestimmte Form des Objekts und willkürliche Form der produktiven Einbildungskraft 107
Inhaltsverzeichnis
ix
III Interesselosigkeit, Denkungsart und moralisch bezogene Begründung des Geschmacks 9 9.1 9.2 9.3
Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40 Geschmack als „eine Art von sensus communis“ 113 Maxime der Urteilskraft und Interesse 117 Kants Andeutung des Interesses an der allgemeinen Mitteilbarkeit 119
113
10 10.1
Das empirische und intellektuelle Interesse am Schönen 123 Das soziale Interesse am Schönen und die Erwartung der allgemeinen Mitteilbarkeit: Interpretation zu § 41 124 10.2 Das intellektuelle Interesse am Schönen der Natur: Interpretation zu § 42 127 10.2.1 Der Widerstreit über die Verbindung des Interesses am Schönen mit der moralischen Denkungsart 128 10.2.2 Die Herkunft des intellektuellen Interesses an der Naturschönheit: ein Haupt- und ein Nebenargument 129 10.2.3 Zwei Hintergrundaufgaben 132 11 11.1 11.2 11.3 11.4 12 12.1 12.2 12.3
Die auf Moral bezogene Begründung des Geschmacks in der Dialektik 135 Antinomie und deren Auflösung: die Einführung des Begriffs des Übersinnlichen 136 Die Struktur der Dialektik und das Wesen der moral-bezogenen Begründung des Geschmacks 142 Idealismus vs. Realismus: § 58 als Höhepunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft 145 Geschmack als Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen 150 Ästhetische Autonomie im Dienst der Moral? 155 Ein Vorrang der praktischen Vernunft zur ästhetischen Urteilskraft? 157 Ein immanenter, unabhängiger Wert des Ästhetischen? Das Interesse der ästhetischen Urteilskraft? 163
Literatur
167
Personenregister Sachregister
171 173
159
Zitierweise Kants Schriften werden nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1900 ff.), der „Akademieausgabe“, zitiert, z. B. V 105 = Band V, Seite 22. Bei Bedarf wird gelegentlich auch die Nummer der Zeile hinzugefügt. Die Zitate werden in vorsichtig modernisierter Schreibweise wiedergegeben. Auf die Kritik der ästhetischen Urteilskraft (in Band V der Akademieausgabe) wird ohne den Band-Zusatz und in der Regel auch ohne die Angabe, dass es sich um die Kritik der ästhetischen Urteilskraft handelt, verwiesen. Zum Beispiel, wenn ohne Buchtitel nur „§ 31, 279“ angegeben wird, dann handelt es sich um die Akademieausgabe der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, § 31, Seite 279. Um aber Missverständnisse zu vermeiden, wird gelegentlich vor dem Paragraphen und der Seitenzahl auch die Abkürzung KäU angegeben. Für die Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (=A) und vor allem die der zweiten Auflage (=B) angegeben. Auf die sonstige Literatur wird im Allgemeinen durch den Verfassernamen, das Erscheinungsjahr und die Seitenangabe Bezug genommen.
Abkürzungen Anthropologie Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (VII 117-334) Aufklärung Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (VIII 33-42) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385-463) KäU Kritik der Urteilskraft, erster Teil: Kritik der ästhetischen Urteilskraft (V 201-356) KpV Kritik der praktischen Vernunft (V 1-163) KrV Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1-252; B: III 1-552) Kritik der Urteilskraft (V 165-485) KU Logik Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. von G. B. Jäsche (IX 1-150) MS Die Metaphysik der Sitten (VI 203-493) MS-TL Die Metaphysik der Sitten, zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI 373-493)
Einleitung 0.1 Projektvorstellung Die Forschung zur Kritik der ästhetischen Urteilskraft ist seit langem auf das Problem der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils fokussiert. Außerdem wird auch viel über die Konzeption vom freien Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand, über die Urteilskraft als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft sowie über den epistemischen Bezug der Begründung des Geschmacks etc. diskutiert. Im Kontrast dazu hat das Problem der Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft (des Urteils über das Schöne und über das Erhabene) viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dies liegt wohl hauptsächlich daran, dass die am Anfang der Kritik der ästhetischen Urteilskraft (§§ 2-5) aufgestellte These – das Wohlgefallen oder Missfallen am Schönen, das dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, sei ohne alles Interesse – eher den nachfolgenden und entscheidenden Inhalt einzuleiten scheint, anstatt schon selbst einen wesentlichen Teil dieser Kritik auszumachen. Um dies zu belegen, führt Karl Ameriks (1983) an, dass sich in §§ 32-33, wo die zwei „Eigentümlichkeiten des Geschmacksurteils“ thematisiert werden, keine Erwähnung der Interesselosigkeit findet. Zu diesem Forschungsstand, dass das Problem der Interesselosigkeit viel weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, hat auch die Skepsis gegenüber Kants These der Interesselosigkeit beigetragen.1 Kants These scheint der alltäglichen Erfahrung eher zu widersprechen. Die Erfahrung besagt doch, dass man auf die Existenz der Schönheit viel Wert legt: Für schöne Kunstwerke wird oft ein hoher Preis bezahlt und viele Museen werden gebaut, um sie zu bewahren. Andererseits, wenn man über die Kant-Forschung im engeren Sinn hinaus auf die ideengeschichtliche Rezeption schaut, lässt sich beobachten, dass der Begriff der Interesselosigkeit wohl eine der einflussreichsten Konzeptionen aus der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ist. 1) Der Ästhetizismus, als eine literarische, künstlerische und kulturelle Strömung, verstand (oder eher missverstand) Kants Theorie der Interesselosigkeit als eine seiner wichtigsten theoretischen Quellen. Er sah in Kants Analyse des ästhetischen Urteils eine über das ästhetische Urteil hinausgehende und dem Leben überhaupt zugrunde zu legende Existenzart. Der Moral sei nur eine sekundäre Bedeutung beizumessen; erst der Bereich des Ästhetischen, ein von der Moral unabhängiger und über sie hinausragender Bereich, sei das, was
1 Zu einer Zusammenfassung dieser Skepsis siehe Ginsborg 2008, S. 63. Zu meiner Stellungnahme dazu siehe Ende des Abschnitts 3.1 in der vorliegenden Arbeit. https://doi.org/10.1515/9783110546125-001
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Einleitung
vornehmlich zähle. 2) Im Kreis der Philosophen besteht eine mit dem Ästhetizismus vergleichbare Tendenz, die von Schopenhauer ausgeht und in Heidegger (siehe Heidegger 1961, S. 126-134) gipfelt: Diese Tendenz verbindet ebenfalls die Interesselosigkeit, die bei Kant eigentlich dem Ästhetischen eigen ist, mit der menschlichen Existenz überhaupt. 3) Außerdem bestand in der Kunsttheorie und Ästhetik vor Kant eine Tradition des Interessanten: in einem künstlerischen Werk macht das, was unseren Geist inspirieren kann, dasjenige aus, was dieses Werk für uns interessant werden lässt und diesem Werk einen Wert verleiht. Kant gründet aber, mit anderen Denkern im 18. Jahrhundert, eine neue Tradition der Interesselosigkeit. Seitdem ist das Thema zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand geworden, der später in der ästhetischen Forschung immer wieder diskutiert wurde und wird. 4) Nicht zuletzt gilt die Kantische Interesselosigkeit als eine der wichtigsten Inspirationsquellen der Theorien der ästhetischen Einstellung, die vom Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in der ästhetischen Debatte ein beachtliches Thema darstellten. Kants Konzeption der Interesselosigkeit hat mehrere historische Vorlagen: Shaftesbury, Hutcheson, auch Burke, in Deutschland Riedel und Mendelssohn unter anderen, hatten das gleiche oder ein ähnliches Thema abgehandelt (vgl. Strube 1979). Kant rekonstruiert einerseits solche historischen Vorlagen und gelangt mit seiner Version der Interesselosigkeit zu einer kaum zu überbietenden Radikalität. Andererseits ist diese Konzeption bei ihm selbst ein Gedankengefüge, das aus einem inneren Wachstum entsteht: Die Redewendung „ohne alles Interesse“ taucht nicht zuerst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, sondern schon in der Kritik der praktischen Vernunft auf, und zwar wird es dort als Prädikat dem Bewusstsein von der Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft beigelegt (KpV, V 81). Uninteressiertheit macht in der Tat einen Grundgedanken der Kritik der praktischen Vernunft aus: Nach ihrem Lehrsatz II in § 3 gehören „alle materiellen praktischen Prinzipien“ „unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit“ (KpV, V 22), wobei materielle praktische Prinzipien diejenigen sind, die die „Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache“, d.h. ein Interesse, als den Bestimmungsgrund des Begehrens aufnehmen (ebd.). Der Wille bleibt unrein, wenn er von einem Interesse bestimmt wird. Dieser Gedanke wird in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft auf folgende Weise formuliert: Das reine moralische Urteil „gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor“ (§ 2, 205, Fußnote). Die vorliegende Arbeit ist eine systematische Interpretation zur Problematik der Interesselosigkeit in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Unter „systematisch“ wird dabei verstanden, die mehrfachen Aspekte dieses Problems darzustellen und, wenn möglich, sie in einen Zusammenhang zu bringen. Mit der Konzeption der Interesselosigkeit sind eine Reihe von Problemen verbunden, so dass man schon
Projektvorstellung
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von der Problematik der Interesselosigkeit in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft sprechen kann: Im ersten Moment der Analytik des Schönen wird die These der Interesselosigkeit herausgestellt; zum Anfang des zweiten Moments (in § 6) ist dann eine Verbindung zwischen der Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Schönen mit dem Anspruch auf die allgemeine Mitteilbarkeit dieses Wohlgefallens dargestellt; in der Entfaltung der Analytik des Schönen – so noch in § 11, 12, 13 und 17 – kommt Kant immer wieder zurück auf das Thema der Interesselosigkeit und der damit verbundenen Unterscheidung zwischen gut, angenehm und schön. Nachdem die Analytik und die Deduktion vollendet worden sind, greift Kant das Thema der Interesselosigkeit wieder auf, dieses Mal aber mit der These, dass zweierlei Interesse, ein empirisches, soziales Interesse und ein intellektuelles Interesse sich dem Geschmacksurteil doch anschließt. Das Wohlgefallen ohne Interesse spielt zuletzt sogar noch in der Dialektik eine Rolle: Es weist auf die Spontaneität des ästhetischen Subjekts hin und macht von daher einen Bestandteil der Analogie, d.h. der strukturellen Ähnlichkeit zwischen dem Geschmacks- und dem moralischen Urteil aus. Der Keim, von dem aus diese Studie Stück um Stück gewachsen ist, waren meine Überlegungen zu der Frage, wie das Vernunftinteresse, das in den ersten zwei Kritiken vielfältig entfaltet wird und einen wesentlichen Bestandteil der Kritischen Philosophie ausmacht, sich in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft artikuliert2. Kants Begriff der Vernunft geht weit über ihre logische und epistemische Funktion hinaus, in ihrem spekulativen sowie reinen praktischen Gebrauch sind die menschliche Vernunft und das Interesse wesentlich miteinander verbunden. Schon in der Kritik der reinen Vernunft artikuliert sich das Vernunftinteresse auf vielfältige Weise. So kann zum Beispiel zwischen verschiedenen Interessen der Vernunft ein Widerstreit entstehen (KrV, B694 ff.), so dass ein Prinzip benötigt wird, um ihn zu schlichten. Nach der Primatslehre in der Kritik der praktischen Vernunft vereinigen sich nicht nur die verschiedenen Interessen der spekulativen
2 Im deutschsprachigen Raum des 20. Jahrhunderts hat zuerst Erkenntnis und Interesse, von Habermas 1968, die Kant-Forschung auf den Begriff Vernunftinteresse aufmerksam gemacht. Seitdem ist die relevante Diskussion auf zwei Probleme fokussiert: 1. das Verhältnis der Vernunft zum Interesse (Gerhardt 1976a); 2. das Verhältnis der Kritik der reinen Vernunft zum Vernunftinteresse (Höffe 2003 und Hutter 2003). Höffe vertritt die These, dass das moralische Interesse ein Grundmotiv der Kritik der reinen Vernunft ist: „Der Vernunft kommt es ebenso wie der Kritik am Ende aufs Moralische an“ (S. 29). Hutter versteht das Kritische Projekt Kants als eine Ausführung der Vernunft in ihrem eigenen Interesse sowie eine Koordination der verschiedenen Vernunftinteressen zu einer Einheit. Raedler (2015) bietet neuerdings eine Darstellung, wie das Vernunftinteresse dem Wesen der menschlichen Vernunft innewohnt und wie es mit dem philosophischen Projekt Kants verbunden ist.
4
Einleitung
Vernunft, sondern alle Interessen aller Gemütsvermögen unter dem Endzweck der reinen praktischen Vernunft. Von der Frage geleitet, wie sich das Vernunftinteresse im ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft ausdrückt, unternahm ich die Studien, die später zu der vorliegenden Arbeit geworden sind, und zwar mit der Erwartung, dass sich eine Spielart des Vernunftinteresses, das Moralinteresse, als das Grundmotiv des Kantischen Projekts der Kritik der ästhetischen Urteilskraft erweisen würde. Was sich ergab, war aber zuerst die Begegnung mit einer „Sperre“. Schon von Anfang an unterscheidet Kant prinzipiell zwischen dem Vernunftinteresse und dem ästhetischen Wohlgefallen: Durch die These der Interesselosigkeit wird das Vernunftinteresse streng vom ästhetischen Wohlgefallen ausgeschlossen. Das Vernunftinteresse kann zwar hinterher, so gemäß § 42, doch eine apriorische Beziehung zum Geschmacksurteil haben. Von Anfang bis zum Ende der Kritik der ästhetischen Urteilskraft besteht Kant aber unbeirrt auf der Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft. Von daher lotet die vorliegende Arbeit das Wesen und die Tragweite der These der Interesselosigkeit aus und prüft, inwiefern Kant diese These durchsetzen kann. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit liegt deshalb in der Prüfung, ob die Entfaltung dieses Gedankens schließlich nicht doch durch die Einschaltung des Vernunftinteresses unterbrochen wird. In der Kant-Forschung fehlen zwar Monographien zum Thema der Interesselosigkeit in Kants Ästhetik. Es gibt aber gleichwohl eine nicht geringe Anzahl an Beiträgen dazu. Es ist hier besonders hervorzuheben, dass mehrere sachlich wichtige Probleme eng mit dem Thema der Interesselosigkeit verbunden sind: so zum Beispiel, was das Ästhetische für das menschliche Leben bedeutet, wie sich die Moral zur ästhetischen Kontemplation verhält, und nicht zuletzt, inwiefern sich die ästhetische Kontemplation auf die Vernunft bezieht. Eine Interpretation zur Kantischen Konzeption der Interesselosigkeit wird sich deshalb unumgänglich mit solchen prominenten Fragen, mindestens teilweise, auseinandersetzen. Umgekehrt kann man auch sagen: um Kants Ansichten zu diesen Fragen auszuschöpfen, bietet uns seine Interesselosigkeits-These einen guten Ansatzpunkt, ihnen weiter nachzugehen. Eine auf den ersten Blick nur lokale Problematik hat so in der Tat eine eminente und umfangreiche Bedeutung. Was die Interpretationsmethode angeht, besteht meine Bemühung darin, den Kantischen Text selbst das Wort führen zu lassen, d.h. dem Text und der eigentlichen Intention treu zu bleiben. Auf der Basis eines solchen Verständnisses versuche ich, Kant möglichst zu verteidigen, anstatt von der eigenen Perspektive aus ihn ungehemmt zu kritisieren. Es wird vor sachlicher Überlegung aber nicht zurückgeschreckt: In Anbetracht der starken Wirkung der Kantischen Interesselosigkeit auf die sachlichen Debatten, kann eine sachliche Überlegung, im Rahmen einer Interpretationsarbeit, der Herausarbeitung der eigentlichen Kantischen Position behilflich sein.
Mehrschichtige Interesselosigkeit im Geschmacksurteil
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Die in dieser Arbeit niedergelegten Gedanken sind oft nur skizzenhaft formuliert. Eine Ursache dafür sind die immer wieder vorgenommenen Veränderungen der Lösungen und sogar der Perspektiven der Fragestellungen im Prozess der Entstehung des Manuskripts. Hinter der vorliegenden Arbeit stehen eine Menge von aufgegebenen Konzeptionen und Plänen. Selbst ihre jetzige Form ist immer noch eine Zwischenbilanz; sie ist das, was nach meiner derzeitigen Beurteilung eine ungefähre Stabilität erreichen kann. Die Kritik der Urteilskraft ist aber auch ein Werk, das man kaum ausdiskutieren kann und in dem man stets neue Anregungen findet. Im Folgenden wird die Thematik der Interesselosigkeit von zwei Gesichtspunkten aus eingeleitet. 1) Zunächst wird in groben Zügen dargestellt, auf welche Ebenen des Geschmacksurteils sich die Interesselosigkeit bezieht. Dadurch lässt sich ein Einblick in den Inhalt der Interesselosigkeits-These gewinnen. 2) Diesem folgt ein Resümee der Methoden der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Der Sinn dieses Resümees besteht nicht darin, eine neue Darstellung der Kantischen Methoden zu bieten, sondern darin, durch die Darstellung, wie Kant seinen Gedankengang Schritt um Schritt vertieft, auf den Stellenwert der Interesselosigkeit in jedem Schritt der Entfaltung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ansatzweise hinzuweisen. Auf diese Weise erhält man einen Überblick über die Spannweite der Interesselosigkeits-These. Daran anschließend folgt eine kurze Vorstellung über das Thema jedes Kapitels.
0.2 Mehrschichtige Interesselosigkeit im Geschmacksurteil „Ohne alles Interesse“ ist bei Kant vornehmlich eine Eigenschaft des Wohlgefallens am Schönen. So schreibt Kant z. B. am Schluss des ersten Moments der Analytik: Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Missfallen ohne alles Interesse (§ 5, 211).
Das Wohlgefallen ohne alles Interesse wird in der Metaphysik der Sitten auch „bloß kontemplative Lust oder untätiges Wohlgefallen“ genannt und steht im Gegensatz zur praktischen Lust: „Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so affiziert) notwendig verbunden ist, praktische Lust nennen“ (MS, Einleitung I, VI 212). Die kontemplative Lust, d.h. das Wohlgefallen ohne Interesse, bezieht sich objektiv auf die bloße Form des Gegenstandes, subjektiv auf das Verhältnis des Gegenstandes zum Subjekt. Ein Gegenstand wird als schön geschätzt, nicht wegen dessen Existenz, sondern aufgrund seiner Form. Die Form zwingt den Beifall aber
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Einleitung
nicht ab. Denn das Subjekt befindet sich beim Beifall in einem „freien“ Verhältnis zum Gegenstand, welches Kant als „Gunst“ bezeichnet. „Ohne alles Interesse“ ist bei Kant nicht nur das Attribut zu einer besonderen Art des Wohlgefallens. Dieses Attribut wird auch dem reinen Geschmacksurteil zugeschrieben: Ein Urteil über einen Gegenstand des Wohlgefallens kann ganz uninteressiert, aber doch sehr interessant sein, d.i. es gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor; dergleichen sind alle reine moralische Urteile. Aber die Geschmacksurteile begründen an sich auch gar kein Interesse. (§ 2, Anmerkungen, 205)
Wenn ein Urteil über einen Gegenstand des Wohlgefallens sich auf keinem Interesse gründet, ist dieses Urteil, so das Zitat, „ganz uninteressiert“. Wenn es zugleich auch gar kein Interesse begründet, ist es in diesem Fall ohne alles Interesse. Das Geschmacksurteil ist dergestalt. Auch im folgenden Zitat bezieht sich das Interesse bzw. die Interesselosigkeit auf das Urteil, anstatt auf das bloße Wohlgefallen: Ein jeder muss eingestehen, dass dasjenige Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt, sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil sei. Man muss nicht im mindesten für die Existenz der Sache eingenommen, sondern in diesem Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen. (§ 2, 205)
Wenn allein das Wohlgefallen ohne Interesse das Geschmacksurteil bestimmt, ist das Geschmacksurteil entsprechend nicht mehr „parteilich“ und somit „rein“. Interesselosigkeit, Unparteilichkeit und Reinheit können sowohl Beschreibungen des betreffenden Geschmacksurteils sein: Sie beschreiben nämlich, um was für ein Geschmacksurteil es sich hier handelt. Sie können sich aber auch als Aufgabe ergeben: Wenn man ein Geschmacksurteil fällt, d.h., wenn über „schön“, anstatt über „angenehm“ geredet wird, sollte ausschließlich das Wohlgefallen ohne Interesse der Bestimmungsgrund des Urteils sein. Falls sich „das mindeste Interesse“ einmischt, würde das Urteil „sehr parteilich“ sein, wie das obige Zitat zeigt. Bezüglich eines Geschmacksurteils kann die Interesselosigkeit deshalb sowohl in einem deskriptiven Sinn gemeint sein, als auch in einem normativen Sinn gefordert werden. Wenn Kant schreibt: „Alles Interesse verdirbt das Geschmacksurteil und nimmt ihm seine Unparteilichkeit“ (§ 13, 223), so richtet sich sein Augenmerk offensichtlich auf die Ebene des Urteils. Der moralisch abwertende Ausdruck „verdirbt“ zeigt, dass es hier nicht bloß um ein falsches Urteil, sondern um ein Urteil aus einer ungebührlichen Maxime geht. In § 40 der Kritik der Urteilskraft
Mehrschichtige Interesselosigkeit im Geschmacksurteil
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thematisiert Kant die „Maxime der Urteilskraft“, d.h. die Maxime der erweiterten Denkungsart: Man beweist seine „erweiterte Denkungsart“, wenn man sich „über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils [...] wegsetzen kann“ und „sich in den Standpunkt anderer versetzt“ (§ 40, 295). Obwohl die angeführte Maxime als Maxime „des gemeinen Menschenverstandes“ nicht zur Geschmackskritik gehört, kann sie aber „doch zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen“ (§ 40, 294). Um des interesselosen, reinen Geschmacksurteils willen bedarf es schon einer Maxime des allgemeinen Standpunkts. Interesselosigkeit als Forderung für das Geschmacksurteil muss aber nicht immer eine Denkungsart oder Maxime betreffen. Im folgenden Satz handelt es sich zwar um eine Forderung, aber bloß um eine semantische: Wenn mich jemand fragt, ob ich den Palast, den ich vor mir sehe, schön finde, so mag ich zwar sagen: ich liebe dergleichen Dinge nicht, die bloß für das Angaffen gemacht sind […]. Man kann mir alles dieses einräumen und gutheißen; nur davon ist jetzt nicht die Rede. (§ 2, 204 f.)
Semantisch gesehen geht es bei der Schönheit nicht um die pragmatische oder moralische Berücksichtigung, sondern um das „Angaffen“. Beim Reden darüber, ob etwas schön ist, ist die pragmatische und moralische Berücksichtigung auszuschließen. Nachdem die Interesselosigkeit auf der Ebene des Urteils diskutiert wurde, kann sie jetzt auch in ihrer Beziehung zur Ebene der Beurteilung erwähnt werden. In Kapitel 5 wird dieses Thema noch näher diskutiert werden. Wenn ich jetzt auf eine vereinfachte Weise diese Beurteilung als den Akt der Erkenntnisvermögen deute, stellt sich die Frage: Betrifft die Ebene der Beurteilung schon die Interesselosigkeit? Eine Art des reflektierenden Gebrauchs der Urteilskraft, nämlich der Vergleich zwischen der Form des Gegenstandes und den Erkenntnisvermögen, begleitet nach Kant ständig die Auffassung der Form eines Gegenstandes in die Erkenntnisvermögen. Dieser Gebrauch der Urteilskraft schließt sich der Anschauung vom Gegenstand ganz dicht an und ist als eine Tatsache anzuerkennen. Er muss nicht absichtlich durchgeführt werden, weil er tatsächlich schon immer stattfindet. Bezüglich dieses Aspekts der Beurteilung kann die Interesselosigkeit – in einem etwas abgewandelten Sinn, Absichtslosigkeit oder Zwecklosigkeit – weder gefordert noch absichtlich vollzogen werden. Die Beurteilung als Akt der Erkenntnisvermögen betrifft außerdem noch das freie Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand. Die Frage, wie sich dieses freie Spiel zur Interesselosigkeit des Wohlgefallens verhält, wird in Kapitel 7 behandelt.
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Einleitung
Die Mehrschichtigkeit der Interesselosigkeit kann auf folgende Weise zusammengefasst werden: 1) Interesselosigkeit bezieht sich bei Kant vor allem auf das Wohlgefallen, das dem Geschmacksurteil zugrunde liegt. 2) Die Eigenschaft der Interesselosigkeit des Wohlgefallens lässt sich auf das betreffende Geschmacksurteil übertragen, so dass auch dieses Urteil interesselos sein kann. Diesbezüglich hat Kant zwischen einem Urteil, das zwar uninteressiert, aber „sehr interessant“ ist, nämlich dem reinen moralischen Urteil, und dem Geschmacksurteil, das ohne alles Interesse ist, unterschieden. „Ohne alles Interesse“ bedeutet hier, dass das Geschmacksurteil sich weder auf einem Interesse gründet, noch ein Interesse hervorbringt. 3) Die Interesselosigkeit des Geschmacksurteils kann sowohl im deskriptiven als auch im normativen Sinn, nämlich als eine Forderung, gemeint sein. Der normative Sinn lässt sich wieder in die semantische Forderung und diejenige Forderung unterteilen, die mit der Denkungsart und der Maxime zusammenhängt. 4) Die ästhetische Beurteilung kann auch das Problem der Interesselosigkeit betreffen.
0.3 Drei Teile der vorliegenden Arbeit Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft will weder eine Methodenlehre zur Kultur des Geschmacks noch eine Propädeutik zum künstlerischen Schaffen sein. Die zugrundeliegende Absicht der Kantischen Ästhetik besteht vielmehr darin, die Beziehung zwischen Urteilskraft und Gefühl der Lust und Unlust zu untersuchen und das apriorische Prinzip des ästhetischen Gebrauchs der Urteilskraft so weit wie möglich aufzuhellen. Um diese transzendentale Absicht durchzusetzen, unternimmt Kant methodisch drei Schritte. Anders als die heutzutage übliche Vorgehensweise, nimmt Kant nicht die ästhetische Erfahrung, sondern das ästhetische Urteil als Ansatzpunkt seiner Untersuchung. Eine phänomenale Beschreibung der ästhetischen Erfahrung ist in diesem Werk nur minimal enthalten, denn es geht Kant zunächst eher um eine andere Aufgabe, nämlich darum, das Geschmacksurteil semantisch und logisch zu analysieren. Und im Rahmen dieser semantischen und logischen Analyse werden die Arten der Erfahrung, mit Kants Worten, die verschiedenen Arten des Wohlgefallens (angenehm, schön, gut), im Hinblick auf ihre Quellen und ihr Wesen, anstatt im Hinblick auf die phänomenale Verschiedenheit, streng unterschieden. Und es wird durch die Analyse des Urteils des Geschmacks, anstatt durch Beobachtung der phänomenalen Beschaffenheit, herausgestellt, dass das Wohlgefallen des Schönen sich vom Wohlgefallen des Angenehmen und des Guten unterscheidet und mit der Vorstellung der Existenz des Gegenstandes nichts zu tun hat.
Drei Teile der vorliegenden Arbeit
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Bei Kant ist die semantische und logische Analyse des Geschmacksurteils so ausgeführt, dass sie in eine epistemische Untersuchung mündet; das Geschmacksurteil wird demzufolge durch seine Beziehung zur Urteilskraft, zur Einbildungskraft und zum Verstand erläutert. Durch die logische Analyse kann aufgezeigt werden, dass das Geschmacksurteil einen Anspruch auf die Allgemeingültigkeit impliziert und es ein synthetisches Urteil a priori ist. Sie führt im Hinblick auf die Momente eines Geschmacksurteils zwar zu der Fragestellung, wie ein solches Urteil möglich sein kann, ist alleine aber nicht kompetent, dieses Problem zu lösen. Unter diesen Umständen werden Urteilskraft, Einbildungskraft und Verstand in die Kritik der ästhetischen Urteilskraft eingeführt. Dass der Geschmack mit der Urteilskraft zu tun hat und dass der Verstand und die Einbildungskraft die zuständigen Erkenntnisvermögen sind, die dem Wohlgefallen des Schönen zugrunde liegen, ist weder eine Selbstverständlichkeit, die der Leser als Tatsache einfach akzeptieren kann, noch beruht diese Bestimmung auf einer empirischen Vermögenspsychologie. Der Text Kants (zum Beispiel, dass in der Fußnote vom § 1 die Urteilskraft schon zum Thema des Geschmacks einbezogen wird) kann den Eindruck erwecken, dass Kant von Anfang an schon angenommen habe, Urteilskraft, Einbildungskraft und Verstand seien die Erkenntnisvermögen, die für das Geschmacksurteil verantwortlich sind. In der Tat aber wird erst im Teil der Deduktion, genauer erst in § 35 dargelegt, warum die Einbeziehung der Urteilskraft nötig ist, um den Geschmack zu erklären. Dabei besteht die Rolle der Interesselosigkeit darin, dass sie bei dem Übergang von der logischen Analyse zur epistemischen Begründung einen Zwischenschritt ausmacht. Aus der Interesselosigkeit des Wohlgefallens kann man ersehen, dass das Geschmacksurteil vom Begehrungsvermögen unabhängig ist. So kann das, was mit dem Begehrungsvermögen verbunden ist, nämlich die bloßen Empfindungen und die reine praktische Vernunft, kein Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils sein. Wenn ein Wohlgefallen weder durch eine Beziehung zum Begehrungsvermögen erklärt werden, noch auf einer unvermittelten Lust beruhen kann – sonst wäre dieses Wohlgefallen nur eine Annehmlichkeit –, bleibt unter den Gemütsvermögen nur noch das Erkenntnisvermögen übrig, um das Wohlgefallen des Schönen zu erklären. Kant geht aber noch einen Schritt weiter: Das Verhältnis des Ästhetischen zur Moral bildet ebenfalls eine unentbehrliche Perspektive, um den Geschmack zu verstehen. Das Geschmacksurteil hat zwar einen selbständigen Status gegenüber der Moral, ein Verhältnis der Analogie zwischen dem sittlich Guten und der Schönheit ist aber für ein vollständiges Verständnis der Schönheit und auch für ihren Stellenwert im menschlichen Leben unerlässlich. Dieser Drei-Schritte-Methode entsprechend, aber nur in einem beschränkten Maß entsprechend, sind die 12 Kapitel der vorliegenden Arbeit in drei Teile gegliedert.
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Einleitung
Im ersten Teil werden verschiedene Themen unter dem Titel „Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft“ gruppiert. Kapitel 1 ist eine semantische Untersuchung zu Interesselosigkeit und Interesse, und damit auch eine semantische Vorbereitung für alle nachfolgenden Diskussionen. In Kapitel 2 wird das erste Moment der Analytik des Schönen interpretiert und zwar unter einem besonderen Gesichtspunkt, nämlich wie Kant selbst das interesselose Wohlgefallen, das einem Geschmacksurteil zugrunde liegt, auslegt: Er legt es als das einzige freie Wohlgefallen aus und bezeichnet es als Gunst. Diese Art der Auslegung ist für die weitere Entfaltung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft richtunggebend. Kapitel 3 hebt den Rahmen der Kantischen These der Interesselosigkeit hervor: Sie gehört zur Analyse des ästhetischen Urteils anstatt zur Beschreibung der ästhetischen Erfahrung. Die Herausarbeitung dieses Rahmens kann der Klärung dienen, wie sich die Theorien der ästhetischen Einstellung zu Kants Konzeption der Interesselosigkeit verhalten. Dieses Kapitel enthält meine sachliche Überlegung zur ästhetischen Einstellung. In Kapitel 4 wird die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene behandelt. Verschiedene Lesarten werden hier ausprobiert. Im zweiten Teil „Interesselosigkeit, allgemeine Mitteilbarkeit und Erkenntnisvermögen“ wird die Interesselosigkeit im Hinblick auf ihre Verbindung zu anderen Momenten sowie ihre Verbindung zum freien Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand untersucht. Kapitel 5 ist eine Interpretation zu § 9, dem sogenannten Schlüssel zur Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Es dient zur Vorbereitung auf Kapitel 6, lässt sich zugleich aber auch als ein selbständiger Beitrag verstehen, in dem ich in der Auseinandersetzung mit Guyer und Ginsborg meine eigene Ansicht zur Struktur der ästhetischen Beurteilung darstelle. Kapitel 6 diskutiert, warum die Interesselosigkeit des Wohlgefallens von Kant als das erste Moment der Analytik des Schönen hingestellt wird und es wird auch geprüft, inwiefern der Anspruch auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Wohlgefallens auf dem Bewusstsein von der Interesselosigkeit des Wohlgefallens basiert. Kapitel 7 behandelt das Thema, wie sich die Interesselosigkeit des Wohlgefallens zum freien Spiel der Erkenntnisvermögen verhält, und ob die erstere aus dem letzteren abzuleiten ist. Dieses Kapitel lässt sich auch als eine Weiterführung der vorher in Kapitel 3 behandelten Thematik der ästhetischen Einstellung verstehen. Kapitel 8 thematisiert den Begriff der ästhetischen Idee und zwar im Hinblick darauf, ob er die Interesselosigkeits-These beeinträchtigt. Der dritte Teil „Interesselosigkeit, Denkungsart und moralisch bezogene Begründung des Geschmacks“ behandelt Themen, die sich auf verschiedene Weise auf das Vernunftinteresse beziehen. Dieser Teil ist deshalb eine Auseinandersetzung unter mehrfachen Aspekten mit dem Problem, wie sich die Interesselosigkeit zum Vernunftinteresse verhält. Zunächst wird in Kapitel 9, anhand des
Drei Teile der vorliegenden Arbeit
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Texts von § 42, betrachtet, wie die „Maxime der Urteilskraft“, sich beim Denken an die Stelle eines jeden anderen zu versetzen, mit der Forderung des Geschmacksurteils, interesselos und deshalb unparteilich zu bleiben, verhält. In Kapitel 10 wird das soziale und intellektuelle Interesse an der (Natur)Schönheit erläutert. Der Schwerpunkt dieses Kapitels ist, zu zeigen, dass das intellektuelle Interesse zwar nicht zum eigentlichen Geschmacksurteil gehört, dass Kant aber beabsichtigt, durch die Erläuterung dieses Interesses den Stellenwert des Geschmacks im System der Gemütsvermögen aufzudecken. Kapitel 11 ist ein Versuch, die Struktur und Aufgabe der Dialektik dieser Kritik darzustellen, mit der Absicht, klarzustellen, inwiefern die Moral in der Begründung des Geschmacks eine Rolle spielen kann und eventuell die These der Interesselosigkeit beeinträchtigt. Das Ergebnis meiner Betrachtung ist aber eher negativ: Die Berücksichtigung der Moral beteiligt sich keinesfalls direkt am Urteil des Geschmacks, sie findet ihre Rolle im Geschmacksurteil eher auf eine subtile, indirekte Weise, nämlich in der Reflexion über die Analogie zwischen Moral und Schönheit. Die vorliegende Arbeit schließt mit Kapitel 12 ab, in dem eine Überlegung darüber angestellt wird, wie sich die auf der Interesselosigkeit begründete ästhetische Autonomie zum Primat der praktischen Vernunft verhält. Diese Überlegung wagt eine kühne Bilanz: Obwohl das Primat der praktischen Vernunft vor den Interessen der anderen Vermögen anzuerkennen ist, findet dieses Primat zur ästhetischen Urteilskraft wenig Anwendung.
I Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft
1 Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung Vor Kant ist der Begriff Interesse schon in der englischen und französischen Philosophie häufig thematisiert worden.3 Darunter zählen bedeutende Autoren wie Thomas Hobbes (1588–1679), John Locke (1632–1704) und Claude Adrien Helvétius (1715–1771), nicht zuletzt auch Francis Hutcheson (1694–1746) und JeanJacques Rousseau (1712–1778), die Kant beide gut kannte. Deutschsprachig ist jener Begriff durch die Abhandlung Einige Gedanken über das Interessierende (1771/72) von Christian Garve (1742–1798) populär geworden. Kant aber ist der erste deutsche Philosoph, der den Begriff Interesse systematisch und vielfältig entwickelt, er verwendet den Terminus Interesse „in der theoretischen und praktischen Philosophie sowie auch in seinen ästhetischen, politischen und anthropologischen Schriften“ (Gerhardt 1976b, S. 488). Durchgehend in Kants Vernunftkritik, von der Kritik der reinen Vernunft an, weiterhin in der Kritik der praktischen Vernunft, außerdem in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, nicht zuletzt in der Kritik der Urteilskraft, hat der Begriff Interesse, teilweise in seiner negativen Form, nämlich in der Kombination ohne Interesse, einen systematisch unentbehrlichen Stellenwert. Nicht erst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, sondern schon in der Kritik der praktischen Vernunft kommt das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit vor: Die reine praktische Vernunft ist in dem Sinne uninteressiert, dass sie sich durch keinerlei vorgegebenes Interesse bestimmen lässt; sie bestimmt vielmehr für sich selbst ihr eigenes Interesse. In diesem Kapitel wird erstens betrachtet, wie Kant den Begriff Interesse und Interesselosigkeit in der Kritik der Urteilskraft und in seinen ethischen Werken bestimmt. Zweitens werde ich andere Kontexte – Interesse der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der praktischen Vernunft – in Betracht ziehen. Es wird diskutiert, ob eine semantische Inkonsequenz zwischen Vernunftinteresse als Triebfeder zu einer Handlung, d.h. als Wohlgefallen an der Existenz des Gegenstandes, und Vernunftinteresse im Sinne dessen, wonach die Vernunft strebt, besteht. Drittens nehme ich einen kurzen Rekurs auf den historischen Hintergrund von Interesse und Interesselosigkeit in der Ästhetik. Es bestand einst in der Kunsttheorie und Ästhetik eine Interesse-Tradition. Diese
3 Siehe dazu ausführlicher Gerhardt 1976b, S. 486–487. https://doi.org/10.1515/9783110546125-002
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Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung
Tradition scheint zwar von Kant durch seine These der Interesselosigkeit abgelehnt zu werden, ein Großteil der Elemente dieser Tradition wird aber in Kants neue Theorie integriert.
1.1 Der handlungstheoretische Begriff Interesse Im Lateinischen bedeutet interesse: von Wichtigkeit sein. Es besteht aus inter (zwischen) und esse (sein); mihi interest heißt dann: mir ist an etwas gelegen. Ursprünglich wurde dieses lateinische Wort juristisch terminologisch gebraucht: Es bezeichnete den „aus einer Ersatzpflicht resultierenden Schaden“ (Duden, Band 4, S. 1722). Von daher stammt die spätere Bedeutung: Nutzen, Vorteil, Gewinn. Im allgemeinen Gebrauch, wie im Duden beschrieben, kann das Wort unter anderem bedeuten: 1) „geistige Anteilnahme, Aufmerksamkeit“, oder 2) „das, woran jmdm. sehr gelegen ist, was für jmdn. od. etw. wichtig od. nützlich ist“, bzw. „Bestrebung, Belange“ (ebd.). Kants Bestimmung des Interesses distanziert sich vom ersteren Sinn der geistigen Anteilnahme und Aufmerksamkeit. Falls Interesse Aufmerksamkeit bedeutet, kann das Wohlgefallen am Schönen gar nicht ohne alles Interesse sein. Kants Gebrauch des Wortes nähert sich vielmehr dem angeführten zweiten Sinn: Interesse als das, woran jemandem sehr gelegen ist. Das sogenannte „Interesse der Vernunft“ in der Kritik der reinen Vernunft lässt sich eben in die Richtung dieser Bedeutung verstehen. Bezüglich eines Geschmacksurteils ist die Sache aber ambivalent: Mir ist an einem schönen Gegenstand, aufgrund dessen ästhetischen Werts, schon etwas gelegen; was dabei geschätzt wird, ist aber nicht dessen Wert in Bezug auf das Begehrungsvermögen. Bei Kant erfährt deshalb der Sinn von Interesse: das, woran jemandem gelegen ist, eine Einengung, indem er Interesse auf dessen bloße Beziehung zum Begehrungsvermögen beschränkt. Im Folgenden werde ich zunächst betrachten, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft die Begriffe Interesse, interessant und uninteressiert bestimmt. Als Ergänzung wird dann die Gebrauchsweise des Begriffs Interesse in Kants moralischen Werken angeführt. Interesse wird das Wohlgefallen genannt, was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein solches hat daher immer zugleich Beziehung auf das Begehrungsvermögen, entweder als Bestimmungsgrund desselben, oder doch als mit dem Bestimmungsgrunde desselben notwendig zusammenhängend. (§ 2, 204)
Weil in der Forschungsliteratur diese Definition schon viel diskutiert worden ist, werde ich nicht auf alle ihre Einzelheiten eingehen. Es werden nur relevante Punkte im Rahmen dieser Arbeit aufgegriffen.
Der handlungstheoretische Begriff Interesse
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Die Bestimmung des Interesses in § 2 der Kritik der Urteilskraft unterscheidet sich deutlich von den damals üblichen Bestimmungen des Begriffs durch Aufmerksamkeit und geistige Anteilnahme, welche beide bis heute noch in der ästhetischen Forschung gebraucht werden. Die semantischen Elemente von „Aufmerksamkeit“ und „geistige Anteilnahme“ sind bei Kant in verschiedene Bereiche aufgelöst und durch andere Ausdrücke ersetzt. Aufmerksamkeit und geistige Anteilnahme können zum Geschmacksurteil gehören, wo sie dann „Rücksicht“ bzw. „Achthaben“ des Geschmacksurteils (§ 1, 203, Anmerkung) heißen. Sie können sich aber auch auf das Wohlgefallen am Schönen beziehen, denn Wohlgefallen steht nicht nur im Gegensatz zum Missfallen, sondern auch zur Gleichgültigkeit. Im Abschnitt 1.3 ist dies noch näher zu diskutieren. Bezüglich Kants Bestimmung des Interesses stellt sich die Frage: Von welchem Umfang sind die dabei benutzten Begriffe „Existenz“ und „Gegenstand“? In Kants theoretischer Philosophie wird der Begriff Existenz im Sinne des Daseins des Dinges bzw. Gegenstandes behandelt. Die Vorstellung des Dinges bzw. des Gegenstandes ist das, woran die vielfältigen Prädikate angeknüpft sind. Wahrnehmungen sind an der Vorstellung vom Gegenstand synthetisiert, wodurch die objektive Erkenntnis möglich wird. In der Kritik der reinen Vernunft wird zwischen Ding als Gegenstand der Erfahrung und Ding an sich unterschieden. Entsprechend werden Gegenstände in Phaenomena und Noumena eingeteilt (KrV, B311). Im Rahmen meiner Diskussion sind die zwei Fragen relevant: Kann man eine Erkenntnis als Gegenstand ansprechen? Sind mentale Ereignisse und Dispositionen Gegenstände? Erstens: Wenn die Rede von der Existenz der Erkenntnis auch in Kants Rahmen erlaubt ist, so ist das Wohlgefallen an der Gewinnung, d.h. an der Existenz einer Erkenntnis, so nach Kants Definition des Interesses, auch ein Interesse, und zwar ein Erkenntnisinteresse. Dieses Problem ist relevant, weil „ohne Begriff“ auch ein Merkmal des reinen Geschmacksurteils ist und es sich fragt, ob „ohne Begriff“ eine Variante von „ohne Interesse“ ist und sich von „ohne Interesse“ ableiten lässt. Es stellt sich nämlich die Frage, ob durch die These der Interesselosigkeit auch das Streben nach Begriff und Erkenntnis mit ausgeschlossen wird. Zweitens: Wenn die Rede von der Existenz der mentalen Ereignisse bzw. der mentalen Dispositionen in Kants Rahmen erlaubt ist, so darf das Wohlgefallen des Subjekts an der Existenz der eigenen sittlichen Denkweise oder das Wohlgefallen des Subjekts an der Verwirklichung der eigenen übersinnlichen Bestimmung auch „Interesse“ genannt werden. In der Lehre des Erhabenen spielt das Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung eine signifikante Rolle. Es fragt sich folglich, ob das aus diesem Bewusstsein entstandene Wohlgefallen ein Interesse ist, und ob dieses Wohlgefallen durch die These der Interesselosigkeit auch ausgeschlossen wird – Kant vertritt einerseits die Ansicht, dass das Urteil über
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Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung
das Erhabene auch interesselos ist; andererseits bezieht er das Wohlgefallen am Erhabenen auf das Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung (dies wird in Kapitel 4, einem Kapitel über das Erhabene, noch näher erläutert). Kants folgender Text in § 2, die Erläuterung am Beispiel des Palasts (§ 2, 204 f.), spricht dafür, dass er mit „Interesse“ eher das Wohlgefallen am wahrnehmbaren Gegenstand meint, der eine anschauliche Form hat und somit Gegenstand der ästhetischen Beurteilung sein kann. Was pauschal in der Definition von Interesse „Gegenstand“ heißt, differenziert sich dann in § 4 zu „Objekt“ oder „Handlung“: „ein Wohlgefallen am Dasein eines Objekts oder einer Handlung, d.i. irgend ein Interesse“ (§ 4, 207). Nicht nur in § 2 oder § 4, sondern immer, wenn Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft über Interesselosigkeit spricht, bezieht er sich damit, so scheint es, auf die wahrnehmbaren Gegenstände oder die Handlung, durch die ein Begehren erfüllt werden kann. Das Wohlgefallen an der Existenz von Gegenständen wie Erkenntnissen, mentalen Ereignissen oder mentalen Dispositionen ist, so scheint es, nicht das Interesse, was er mit der These der Interesselosigkeit von dem eigentlichen Wohlgefallen des Schönen ausschließen will. Andererseits aber: Mit der These der Interesselosigkeit wird das Wohlgefallen der Neigung und der Vernunft ausgeschlossen und nur das Wohlgefallen der ästhetischen Urteilskraft als das, das einem reinen ästhetischen Urteil eigentlich zugrunde liegt, bestimmt – dies ist eben das, was Kant mit der Gegenüberstellung von angenehm, gut und schön erläutern möchte. So ist das Wohlgefallen an der Verwirklichung der übersinnlichen Bestimmung, das Wohlgefallen an der erweiterten, d.h. verallgemeinerbaren Denkungsart oder das Wohlgefallen an der Gewinnung der Erkenntnis doch das, was nicht zum eigentlichen Wohlgefallen des Schönen (und auch des Erhabenen) gehört und als Interesse ausgeschlossen werden soll. Dieses Problem kann in diesem Kapitel, einer semantischen Untersuchung, noch nicht befriedigend gelöst werden. Dazu wird noch eine inhaltliche Diskussion erforderlich sein. Die Begriffe uninteressiert und interessant werden ebenfalls in § 2 eingeführt: Ein Urteil über einen Gegenstand des Wohlgefallens kann ganz uninteressiert, aber doch sehr interessant sein, d.i. es gründet sich auf keinem Interesse, aber es bringt ein Interesse hervor; dergleichen sind alle reine moralische Urteile. Aber die Geschmacksurteile begründen an sich auch gar kein Interesse. Nur in der Gesellschaft wird es interessant, Geschmack zu haben, wovon der Grund in der Folge angezeigt werden wird. (§ 2, 205)
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So sind nicht nur Geschmacksurteile, sondern auch „alle reine moralische Urteile“ uninteressiert.4 Um zwischen moralischen Urteilen und Geschmacksurteilen zu unterscheiden, ist über Uninteressiertheit hinaus noch das Kriterium Nicht-interessant einzuführen. Interessant ist ein Urteil, wenn es ein Interesse hervorbringt. „Aber die Geschmacksurteile begründen an sich auch gar kein I nteresse“. Interesse als Triebfeder des Willens zu einer Handlung gehört zur Grundstruktur einer Handlung. Kant hat in allen dreien seiner moralphilosophischen Hauptwerke (GMS, KpV, MS) den Begriff Interesse eigens erläutert. Ich werde mich hier mit den Erläuterungen in den beiden letzteren Werken befassen, und dabei nur das aufgreifen, was für den Rahmen meiner Arbeit relevant ist. In der Kritik der praktischen Vernunft sind Kants Gedanken bezüglich Interesse vielfältig ausgeführt: 1. Der Begriff eines Interesses „entspringt“ (KpV, V 79) dem einer Triebfeder. Im Unterschied zur Triebfeder als elater anima (KpV, V 72) kann Interesse „niemals einem Wesen, als was Vernunft hat“ beigelegt werden. Interesse bedeutet „eine Triebfeder des Willens“, „so fern sie durch Vernunft vorgestellt wird“ (KpV, V 79). Anders als die Lebewesen ohne Vernunft ist der Mensch befähigt, sich von der Triebfeder zu distanzieren, weil sie ihn nicht mehr unmittelbar lenkt, sondern „durch Vernunft vorgestellt“ wird. Die deutsche Redewendung „an etwas Interesse nehmen“ kann diese aktive Beziehung der Willkür zum Gegenstand implizieren: Das Wort nehmen deutet darauf hin, dass das Subjekt fähig ist, in Bezug auf Interesse auszuwählen, anzuerkennen und eventuell zu negieren. Kant gebraucht beim Handlungsbegriff Interesse anstatt „Interesse haben“ immer den Ausdruck „an etwas Interesse nehmen“ (KpV, V 80; KäU § 4, 209; § 17, 236; § 54, 331). 2. Die Vernunft hat die Struktur der Triebfeder nicht nur umgestaltet, so dass der Gegenstand jetzt „durch Vernunft vorgestellt“ wird und insofern seinen unmittelbar bestimmenden Einfluss auf die Willkür verliert. Vielmehr kann und soll die Vernunft auch der einzige Bestimmungsgrund des Interesses sein. Interesse unterteilt sich ins Interesse der reinen praktischen Vernunft und ins Interesse der Neigungen. Nur „ein reines sinnenfreies Interesse der bloßen praktischen Vernunft“ (KpV, V 79) ist qualifiziert, als moralisches Interesse bezeichnet zu werden. Rein heißt hier sinnenfrei.
4 Die Uninteressiertheit der reinen moralischen Urteile wird in der Kritik der praktischen Vernunft bereits thematisiert. Im weiteren Teil dieses Abschnitts wird dies wieder aufgegriffen werden.
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Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung
3. Das reine Interesse der bloßen praktischen Vernunft ist ein Resultat der alleinigen Bestimmung des Willens durch bloße praktische Vernunft; die praktische Vernunft selbst, als Gesetzgeberin, wird nicht wieder durch irgendein Interesse bestimmt. In diesem Zusammenhang kommt der Ausdruck „ohne alles Interesse“, welcher in der Kritik der Urteilskraft eine bedeutende Rolle spielt, auch in der Kritik der praktischen Vernunft vor: Bei der Erklärung der Achtung als Selbstbilligung der praktischen Vernunft schreibt Kant, dass man sich dazu ohne alles Interesse bloß durchs Gesetz bestimmt erkennt und sich nunmehr eines ganz anderen, dadurch subjektiv hervorgebrachten Interesse, welches rein praktisch und frei ist, bewusst wird, welches an einer pflichtmäßigen Handlung zu nehmen, nicht etwa eine Neigung anräthig ist, sondern die Vernunft durchs praktische Gesetz schlechthin gebietet und auch wirklich hervorbringt (KpV, V 81).
Die Bedeutung von „ohne alles Interesse“ in diesem Kontext ist enger als in der Kritik der Urteilskraft: In der Letzteren bedeutet es, dass das Geschmacksurteil sich weder auf Interesse gründet noch ein Interesse hervorbringt. Im obigen Zitat aus der Kritik der praktischen Vernunft bezieht sich der Ausdruck „ohne alles Interesse“ hingegen bloß auf die erste Ebene, nämlich dass die Verbindlichkeit des Gesetzes sich nicht auf Interesse gründet. Was damit gemeint ist, ist eine Kernansicht dieser Kritik: Der Begriff des Guten kann dem praktischen Gesetz nicht als Grund dienen, er ist vielmehr aus dem vorhergehenden praktischen Gesetz abzuleiten. Die reine Vernunft bestimmt nicht von einem vorgegebenen Begriff des Guten her ihren Gegenstand, sie bestimmt vielmehr für sich selbst das Prinzip und entsprechend ihren Gegenstand. Das heißt: die reine Vernunft ist uninteressiert, bringt aber Interessen hervor. Die Problematik der Interesselosigkeit ist deshalb nicht etwas, das erst in der Kritik der Urteilskraft auftaucht. Schon im Bereich der Moral setzt Kant sich mit dieser Problematik auseinander. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung macht einen Grundgedanken der Kritik der praktischen Vernunft aus und wird in diesem Werk zunächst in § 2, „Lehrsatz I“, vorgestellt. Die begrifflichen Instrumentarien, die in der dritten Kritik zur Auseinandersetzung mit der Problematik der Interesselosigkeit zur Verfügung stehen, z. B. „Wohlgefallen“, „Lust“, „Vorstellung der Existenz“, die Gegenüberstellung vom Guten zum Angenehmen, wurden schon in der Kritik der praktischen Vernunft zur Erläuterung der Uninteressiertheit der reinen Vernunft gebraucht (siehe KpV, V 58). In der Metaphysik der Sitten, und zwar im ersten Paragraphen der Einleitung, stellt Kant seine Gedanken über das Verhältnis des Begehrungsvermögens zum Gefühl der Lust und Unlust systematisierend dar. In diesem Zusammenhang
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definiert Kant wieder Interesse, im Wesen unverändert, aber übersichtlicher und mit schärferer Kontur: Es gibt zwei Arten von Lust, nämlich praktische oder kontemplative Lust. Die Lust, welche mit Begehren „notwendig verbunden“ ist, kann „praktische Lust“ genannt werden. Dagegen würde man die Lust, die mit dem Begehren des Gegenstandes nicht notwendig verbunden ist, die also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des Objekts der Vorstellung ist, sondern bloß an der Vorstellung allein haftet, bloß kontemplative Lust oder untätiges Wohlgefallen nennen können. Das Gefühl der letztern Art von Lust nennen wir Geschmack (MS, VI 212).
Interesse heißt „die Verbindung der Lust mit dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subjekt) gültig zu sein geurteilt wird“ (MS, VI 212). Praktische Lust gleicht noch nicht ohne weiteres einem Interesse. Eine Begierde kann beim Entscheidungsprozess des Subjekts aufgrund einer anderen, gewichtigeren Begierde oder aus moralischer Überlegung zurückgewiesen werden. Die zurückgewiesene Begierde ist in diesem Fall dann kein Interesse. Diese Unterscheidung ist im Vergleich zu früheren Werken nur in der Metaphysik der Sitten explizit ausgedrückt, indem Kant hier schreibt: „sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subjekt) gültig zu sein geurteilt wird“. Bevor ich mir dem etwas verwirrenden Ausdruck „Vernunftinteresse“ im nächsten Abschnitt zuwende, ist noch Folgendes anzumerken: Der handlungstheoretische Begriff Interesse wird von Kant auf eine konsequente Weise gebraucht. Der Formulierungsunterschied zwischen der Kritik der Urteilskraft und anderen Werken kann dadurch erklärt werden, dass die Definition in der Kritik der Urteilskraft auf das Bedürfnis des Kontextes abgestimmt ist. Um die Verschiedenheit zwischen Interesse und Wohlgefallen an der Form des Gegenstandes beim Geschmacksurteil hervorzuheben, benutzt Kant hier in der Definition den Ausdruck „Existenz eines Gegenstandes“. Nach der Definition von Interesse in anderen Werken spielt der Verstand bzw. die Vernunft immer eine regelnde Rolle, so dass Interesse, ein menschliches Vermögen, sich von der tierischen Triebfeder unterscheidet. Dieser Punkt tritt in der Definition in der Kritik der Urteilskraft eher zurück, weil er für den Kontext nicht direkt relevant ist. Problematisch ist aber, dass es eine Unterart des Interesses gibt, die dem Interesse der Neigung gegenübersteht und Vernunftinteresse heißt. Dieses Vernunftinteresse hat aber über den handlungstheoretischen Rahmen hinaus noch
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Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung
einen anderen Kontext. Der Ausdruck „Vernunftinteresse“ kann eventuell auch eine andere Bedeutung haben. Wenden wir uns jetzt derselben zu.
1.2 Semantische Inkonsequenz beim Begriff Vernunftinteresse? Ein Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit besteht in der Behandlung des Problems, ob das Vernunftinteresse doch in Kants Erklärung des Geschmacksurteils Eingang gefunden hat, so dass Kant seine These der Interesselosigkeit des Geschmacksurteils letztlich nicht durchgesetzt hat. Als Vorbereitung auf die Lösung dieses Problems ist in diesem Abschnitt zu klären, was Vernunftinteresse eigentlich heißt und inwiefern es durch Interesselosigkeit ausgeschlossen wird. Der handlungstheoretische Begriff Interesse steht in der Konstellation von Triebfeder, Maxime, Zweck und Bedürfnis. Interesse und Interesse der Vernunft können als Ober- und Unterbegriff verstanden werden: Interesse als Triebfeder des Willens hat seinen Ursprung entweder in der Neigung oder in der Vernunft, Interessen lassen sich demgemäß in Interessen der Neigung und Interessen der Vernunft unterteilen. Interesse der Vernunft ist aber nicht immer als Triebfeder zu verstehen. Im Rahmen der Vernunftkritik entwickelt Kant den Begriff Interesse der Vernunft noch auf eine andere Weise (vgl. Burggraf 2005). Der Ausdruck „Interesse der Vernunft“ kennzeichnet noch den Zweck, den die Vernunft für sich selbst setzt, bzw. das, woran der Vernunft gelegen ist, wobei die Vernunft nicht nur die Quelle des Interesses ausmacht, sondern zugleich auch sozusagen das Subjekt des Interesses ist: In der Kritik der reinen Vernunft differenziert sich das Vernunftinteresse ins „architektonische“ (A475=B503), „formale“ (A616=B644), „spekulative“ (A466=B494, A666=B694 etc.) und „praktische“ Interesse (A466=B494) aus. Außerdem ist die Rede noch vom „Interesse der Vernunft“ „bei ihrem Widerstreit“ (A462=B490), vom „einander widerstreitenden Interesse“ (A654=B682) und vom „verschiedenen“ sowie „einzigen“ Interesse der Vernunft (A666=B694). In der Kritik der praktischen Vernunft koexistieren der Begriff Interesse als Triebfeder des Willens und der Begriff Interesse der verschiedenen Gemütsvermögen. Im Paragraphen Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft wird auf eine systematische Weise dargestellt, was Interesse eines Gemütsvermögens heißt und worin die Interessen der praktischen und spekulativen Vernunft jeweils bestehen: Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d.i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das
Semantische Inkonsequenz beim Begriff Vernunftinteresse?
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ihrige aber sich selbst. Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori, das des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks. (KpV, V 119 f.)
Was hier thematisiert wird, ist nicht mehr das Interesse speziell als Gegenstand des Begehrungsvermögens, sondern das Interesse als Prinzip für das jeweilige Gemütsvermögen: Es ist „ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird“ (ebd.). Der Handlungsbegriff Interesse unterscheidet sich zwar von dem, was mit dem „Interesse“ im Ausdruck „Vernunftinteresse“ bzw. „Interesse der Vernunft“ im Zusammenhang der Vernunftkritik gemeint ist. Es ist jedoch problematisch, wenn man den Begriff Interesse der Vernunft im Sinne der Triebfeder des Willens und den Begriff Interesse der Vernunft als die Bedingung, unter welcher die Ausübung der Vernunft befördert wird, voneinander gänzlich trennt. Das im zweiten Sinn gemeinte Interesse der Vernunft kann in einer konkreten Situation die Verwirklichung eines bestimmten Gegenstandes fordern: In diesem Fall deckt sich das Interesse der Vernunft in beiden Bedeutungen. Kant selbst scheint zwischen zwei verschiedenen Gebrauchsweisen von „Interesse der Vernunft“ jedoch eher nicht unterschieden zu haben. Er hat eine solche Unterscheidung zumindest niemals direkt formuliert; die Interessen unterteilt er in die der Neigungen und die der Vernunft, so dass es sich hier wörtlich gesehen eher um eine begriffliche Kontinuität als um eine Inkonsequenz handelt. Und die Unterteilung des Interesses in das der Neigungen und das der Vernunft deutet darauf hin, dass Kant in der Erläuterung des Handlungsbegriffs Interesse wohl immer sein systematisches Denken vom Vernunftinteresse im Hinterkopf hat. Die Erläuterung des Interesses der Gemütsvermögen in der Primatslehre sieht zwar anders aus als die Bestimmung des Interesses im Sinne der Triebfeder des Willens. Wenn wir uns aber daran erinnern, dass nach Kant „alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der spekulativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist“ (KpV, V 121), so dürfen wir annehmen, dass im Denken Kants ein einheitlicher Rahmen bezüglich des Vernunftinteresses besteht:5 Nicht nur das spekulative Interesse der Vernunft steht in einer Beziehung zum praktischen Interesse der Vernunft, sondern auch das Interesse im Sinne des Wohlgefallens an der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes steht in einem Zusammenhang mit dem Interesse der reinen praktischen Vernunft. Zumindest semantisch besteht kein prinzipielles Hindernis zur Einbeziehung von Kants
5 Nach Pascher (1991) seien die Variationen des Vernunftinteresses dem jeweiligen Kontext so angepasst, dass ein ihnen gemeinsamer Kern sich nicht mehr finden lasse.
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Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung
Gedanken des Vernunftinteresses in die Erforschung seiner These der Interesselosigkeit des reinen Geschmacksurteils. Das Problem, ob zwischen „Interesse der Vernunft“ als Triebfeder des Willens und „Interesse der Vernunft“ als Beförderungsprinzip für die Vernunft eine semantische Kontinuität besteht, diskutieren wir hier nicht bloß aus einer philologischen Absicht, sondern auch um dem nachzugehen, ob der Begriff Vernunftinteresse, welcher eine wesentliche Konzeption der Kantischen Kritischen Philosophie ist und mehrere Aspekte hat, in einem Zusammenhang mit der Problematik der Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft steht. Es stellen sich nämlich die Fragen: 1) ob in der These der Interesselosigkeit nicht nur das Interesse an der Existenz des betrachteten Gegenstandes, sondern auch das Interesse der Vernunft an der Verwirklichung ihrer eigenen übersinnlichen Bestimmung vom Wohlgefallen, das dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, ausgeschlossen wird; 2) ob die Interesselosigkeit des Urteils der ästhetischen Urteilskraft auch einen wesentlichen Bestandteil der Kantischen Konzeption des Vernunftinteresses ausmacht, so dass diese Konzeption nicht nur eine positive Seite hat, nämlich dass die Vernunft für sich selbst ihr Interesse bestimmt, sondern zugleich auch eine negative Seite enthält, dass die Vernunft (in einer ihrer Spielarten, der Urteilskraft) auch interesselos verfährt, um sich durchzusetzen. Eine Zwischenbilanz könnte so lauten: Vernunftinteresse als Beförderungsprinzip (nach der Bestimmung der Primatslehre) ist zwar etwas anderes als Vernunftinteresse als Triebfeder des Willens zu einer Handlung. In dem Streben nach dem Vernunftinteresse der ersten Art wird aber der Gegenstand der praktischen Vernunft bestimmt und an diesem Gegenstand hängt das Vernunftinteresse der zweiten Art, nämlich im Sinne der Triebfeder, so dass beide Arten von Vernunftinteresse sachlich doch miteinander verbunden sind. Ob das Vernunftinteresse als Beförderungsprinzip der Vernunft im Geschmacks- und Erhabenheitsurteil eine Rolle spielt, wird in späteren Kapiteln durch inhaltliche Diskussion behandelt. Die semantische Erläuterung dieses Abschnitts dient bloß als eine Vorbereitung darauf.
1.3 Absorption der semantischen Elemente von interessant in andere Begriffe Ideengeschichtlich gesehen sind Interesse und Interesselosigkeit nicht nur in der Moraltheorie, sondern auch in der Ästhetik (und Kunsttheorie) ein bedeutendes Begriffspaar (siehe Wölfel 2001, S. 138 ff.). Im letzteren Bereich sind zuerst die Begriffe interessant und Interesse populär geworden, und der Begriff Interesselosigkeit folgt als eine Gegenaktion zur Hochkonjunktur jener Begriffe. Kant ist ein
Absorption der semantischen Elemente von interessant in andere Begriffe
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bedeutender Vertreter der Interesselosigkeit, vor und nach ihm haben sich aber noch viele Denker in dieser Richtung bewegt. In der Begriffsgeschichte der Ästhetik sind viele Fäden mit dem Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit verbunden6. In diesem Abschnitt beschränke ich mich auf eines, nämlich skizzenhaft zu erörtern, warum Interesse und interessant in der Geschichte der Theorie der schönen Künste, vor allem im 18. Jahrhundert, eine Hochkonjunktur erleben konnten7. Von daher kann geprüft werden, ob und inwiefern Kant sich mit seiner These der Interesselosigkeit gegen die begriffliche Stärke von Interessant behaupten kann. Die folgende Darstellung wird zeigen, dass es sich bei Kant mit seiner These der Interesselosigkeit nicht um eine bloße Zurückweisung der InteresseTradition, die vor ihm in der Ästhetik und Kunsttheorie entstand, handelt. Denn Elemente dieser Tradition werden teilweise in manche Kantische Begriffe absorbiert. Die Interesse-Tradition lebt in der Tat durch Kant teilweise weiter. Johann Georg Sulzer (1720–1779) hat die erste deutschsprachige ästhetische Enzyklopädie Allgemeine Theorie der schönen Künste (1. Aufl. 1774) veröffentlicht. Dem Vorbild von Diderots Encyclopédie folgend, strebte er eine Systematisierung aller Erkenntnisse der Ästhetik an. Der Artikel interessant in diesem maßgeblichen Werk bietet uns einen guten Zugang zum Verständnis, welch eine begriffliche Stärke den Begriffen interessant und Interesse innewohnt und warum diese Begriffe in der damaligen Theoriebildung der Ästhetik und Kunsttheorie so attraktiv sein konnten. Im allgemeinen Sprachgebrauch, so Sulzer, steht „interessant“ „gleichgültig“ gegenüber. Alles, was unsere Aufmerksamkeit reizt, kann auch „interessant“ genannt werden. Als ein Terminus bezeichnet „interessant“ aber nur das, was den Geist in Wirksamkeit und den Gedanken in Gang setzen kann. Wir nennen eine Situation in dem epischen oder dramatischen Gedicht interessant, nicht insofern sie uns bloß gefällt, oder in so fern sie angenehme oder unangenehme Empfindungen erweckt, sondern nur insofern es eine Angelegenheit für uns selbst wird, dass die Sachen, nach der Lage, darin wir sie sehen, einen gewissen Ausgang nehmen. (S. 691)
6 Das Standardlexikon der Ästhetik Ästhetische Grundbegriffe widmet 37 Seiten dem Artikel „Interesse / interessant“, um die komplizierte historische Wandlung zu verfolgen (Wölfel 2001, S. 138–174). 7 Wölfel fasst die Hochkonjunktur, die der Begriff Interesse im 18. Jahrhundert erlebte, auf folgende Weise zusammen: „Interesse ist in den terminologischen Grundbestand ästhetischer Theorien eingegangen und kaum einer der Leitfäden für den akademischen Unterricht, kaum eines der Lehrbücher und lexikalischen Werke versäumt es, ihm einen eigenen Paragraphen zu widmen“ (2001, S. 147). Auf der gleichen Seite, in Fußnote 54, wird als Beleg dafür die damalige Literatur, die den Begriff Interesse behandelt, aufgelistet.
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Das Begriffspaar Interesse und Interesselosigkeit: Eine semantische Untersuchung
Sulzer unterscheidet zwischen dem ruhigen Genuss angenehmer Empfindungen und der inneren Wirksamkeit. Schöne Künste dürften sich nicht damit begnügen, dass sie uns bloß Genuss anbieten: Denn ob es gleich scheint, dass der ruhige Genuss angenehmer Empfindungen der erwünschteste Zustand sei, so zeigt sich doch bei näherer Untersuchung, dass die innere Wirksamkeit, oder Tätigkeit, wodurch wir uns selbst, als freie aus eigenen Kräften handelnde Wesen verhalten, die erste und größte Angelegenheit unserer Natur sei. (S. 692)
Von daher ist „interessant“ die „wichtigste Eigenschaft ästhetischer Gegenstände, weil der Künstler dadurch alle Absichten der Kunst auf einmal erreicht“ (S. 692). Die Absichten der Kunst werden durch das Interessante erreicht, indem erstens das Interessante uns am meisten gefällt, weil es dem Verlangen unseres Wesens nach Tätigkeit am besten entspricht; und zweitens indem interessante Gegenstände die innere Wirksamkeit des Geistes vermehren. Während die Nerven, so Sulzer, durch einen bloßen Genuss gleichsam gelähmt werden, können die schönen Künste dieses Einschlafen des Geistes verhindern, indem sie uns durch interessante Gegenstände zur Wirksamkeit reizen (ebd.). Sulzer ist nicht der einzige, der in dem Interessanten eine Veranlassung zur inneren Wirksamkeit sieht. In verschiedenen Variationen wurde der Gedanke von mehreren Autoren aufgegriffen. Nach Christian Garve (1742–1798), dem Autor von „Einige Gedanken über das Interessierende“ (1771/72), sei die subjektive Wirkung eines interessierenden Gegenstandes „ein vollkommeneres Wachen, ein höherer Grad von Leben“ (S. 222). Marcus Herz (1747–1803), ein Schüler und Korrespondent Kants, schreibt, dass die Kontemplation am interessanten Gegenstand das „Selbstgefühl“ der Seele „ungemein erhöhet, und sie die Realität ihres Daseins auf die sanfteste Weise empfinden lässt“ (1776, zitiert nach 2. Aufl. 1790, S.163). Lessing spricht in seinem ästhetischen Briefwechsel mit Mendelssohn vom Bewusstsein „eines größeren Grads unsrer Realität“ (Datum 2.2.1757, zitiert nach Ausgabe 1919, S. 31). Solche Formulierungen weisen gemeinsam auf die Erfahrung hin, dass wir uns bei manchen vorzüglichen ästhetischen Gegenständen eines ausgeprägten Existenzgefühls bewusst werden, indem das Bewusstsein wie auf eine klarere Stufe eingestellt wird. Dass der Begriff interessant diese signifikante ästhetische Erfahrung zum Ausdruck bringt, ist eine erste begriffliche Stärke von interessant. In der Prägung dieses Begriffs ist zugleich das Nicht-zufriedengeben mit dem bloßen Genuss enthalten: Es wird theoretisch versucht, eine tiefere, geistige Quelle der ästhetischen Befriedigung zu erschließen. Dies ist die zweite begriffliche Stärke von interessant. Die so beschriebene Erfahrung lässt aber wegen ihres subjektiven Charakters einen großen Interpretationsraum zu, so dass es schwierig ist, festzustellen, ob es sich bei den oben angeführten verschiedenen Autoren um den gleichen
Absorption der semantischen Elemente von interessant in andere Begriffe
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Erfahrungskern handelt. Bei Kant finden wir eine auf den ersten Blick ähnliche Formulierung: „Lebensgefühl“. Sie bringt aber in der Tat keine ästhetisch signifikante Erfahrung zum Ausdruck. Sie ist bei Kant vielmehr ein anderer Name für „Gefühl der Lust und Unlust“ (siehe KäU § 1, 204). Es ist das „Gefühl des Wohl- oder Übelbefindens, d.i. […] Beförderung oder Hemmung der Lebenskräfte“ (KäU, allgemeine Anmerkung, 278). Im Fall des Geschmacksurteils artikuliert sich das Lebensgefühl als „Tätigkeit des Subjekts“, „Belebung der Erkenntniskräfte“, „innere Kausalität“ (siehe KäU § 12, 222, wo alle diese Ausdrücke aufgetaucht sind) etc. Sachlich gesehen, besteht eine teilweise Entsprechung bzw. Ähnlichkeit zwischen der Stärkung der Erkenntnisvermögen, die bei Kant durch diese Formulierungen zum Ausdruck gebracht wird, und der angeführten Beförderung der inneren Wirksamkeit durch den interessierenden Gegenstand bei Sulzer. Von daher lässt sich nicht behaupten, dass Kant die Interesse-Tradition der Ästhetik gänzlich abgelehnt hat. Die belebende Wirkung des ästhetischen Gegenstandes, die traditionell durch den Begriff „interessant“ zum Ausdruck gebracht wurde, findet bei Kant eine Differenzierung: Affekt, Reiz und Rührung, die eine Unterart jener belebenden Wirkung sind, werden von Kant aus dem reinen Geschmacksurteil strikt ausgeschlossen, weil sie mit dem Materiellen der Vorstellung des Gegenstandes verbunden sind. Die Belebung auf der geistigen Ebene findet in Kants Theorie hingegen vielfältigen Ausdruck. Was traditionell durch Interesse und interessant pauschal ausgedrückt wurde, ist bei Kant also teilweise zurückgewiesen und teilweise durch andere Ausdrücke ersetzt und in sie aufgenommen.
2 Das interesselose Wohlgefallen als Gunst Ideengeschichtlich gesehen ist Kant weder der Urheber des Ausdrucks „das uninteressierte Wohlgefallen“ noch der Erste, der über die betreffende Sache nachdenkt8. Aber durch Kant, dies ist auch allgemein anerkannt, ist der Ausdruck zu einem „Topos der ästhetischen Sprache geworden” (Strube 1979, S. 148). Wenn Kant zu diesem Grundbegriff der Ästhetik wesentlich beigetragen hat, worin besteht dann sein Beitrag? Er besteht geschichtlich gesehen nicht nur darin, dass Kant diesen Gedanken in eine fein artikulierte Architektonik einfügt und ihn mit einer Reihe wichtiger Konzeptionen, wie z. B. dem freien Spiel der Vorstellungskräfte und dem allgemeinen Anspruch des Geschmacksurteils, in Verbindung bringt. Viel wichtiger ist, dass Kant dem Gedanken, dass das Wohlgefallen am Schönen unabhängig vom Begehrungsvermögen ist, eine neue Auslegung gibt: Im Gegensatz zu Hutcheson, der mit einem speziellen Sinn (common sense) die Schönheit erklärt – Wohlgefallen am Schönen würde in diesem Modell bloße Perzeption sein und zur Rezeptivität gehören –, zugleich auch im Gegensatz zur physiologischen Erklärung der Schönheit von Burke, sieht Kant in dieser Unabhängigkeit vom Begehrungsvermögen eine Freiheit: die Freiheit einer besonderen Art des Wohlgefallens (§ 5, 210, Zeile 13) und die Freiheit einer besonderen Art des Urteils (§ 5, 210, Zeile 22). Dass diese Freiheit sinnlicher Art ist, widerspricht wiederum der deutschen rationalistischen Tradition des Perfektionismus: Wolff und Baumgarten sehen das ästhetische Wohlgefallen als eine Art der Kognition der objektiven Vollkommenheit (vgl. Guyer 1993, S. 83 ff.). Die Freiheit, die im Wohlgefallen ohne alles Interesse enthalten ist, nennt Kant terminologisch Gunst, einen Begriff, der im Gegensatz zu Achtung und Neigung steht. Kants „kopernikanische Wende“ im ästhetischen Bereich, wenn man sie im Text der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ganz genau lokalisieren will, lässt sich nicht erst in § 9, wo die ästhetische Beurteilung der Lust vorangestellt wird, sondern
8 Strube (1979, S. 148 f.) stellt detailliert dar, welche Denker als Kants Vorläufer angesehen werden können: Im englischen Sprachraum haben Shaftesbury, Hutcheson, Burke und im deutschen Sprachraum Riedel, Moritz und Mendelssohn dieses Thema behandelt. Riedels Ausdruck „das […] an sich uninteressierte Wohlgefallen“ ist vermutlich die Paraphrase einer Textstelle von Burke; es ist aber auch möglich, dass Riedel den Ausdruck „plaire sans intérêt” von Charles Batteux übernommen hat. Kant kannte Batteux und hat selber in der Kritik der Urteilskraft (§ 33, 284) explizit auf ihn Bezug genommen. Zu einer ausführlicheren Darstellung der Geschichte des Begriffs Interesselosigkeit siehe auch Wölfel 2001. https://doi.org/10.1515/9783110546125-003
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Das interesselose Wohlgefallen als Gunst
schon im ersten Moment der Analytik finden, wo Kant in dem Wohlgefallen ohne alles Interesse eine Freiheit des Wohlgefallens sieht. In diesem Kapitel will ich den originellen Gedanken Kants, dass das interesselose Wohlgefallen am Schönen ein freies Wohlgefallen ist, hervorheben und erläutern. Im ersten Abschnitt wird der Begriff Gunst in der Metaphysik der Sitten herangezogen, um zu zeigen, dass die Struktur jenes Begriffs – zwar verpflichtet, aber nicht schuldig zu sein – hier für die ästhetische Gunst ebenfalls zutreffend ist. Im zweiten Abschnitt wird erläutert, dass die ästhetische Gunst auf einem „Machen“, das eine Struktur von „in mir selbst“ und „aus einer Vorstellung“ hat, beruht. Drittens erläutere ich anhand von Kants Unterscheidung zwischen angenehm, gut und schön seinen Gedanken, dass das Wohlgefallen am Schönen das einzige freie Wohlgefallen ist. Zuletzt ziehe ich Karl Ameriks als Gesprächspartner hinzu. Damit will ich aufzeigen, dass es zu einer radikalen Kritik an Kant führen kann, wenn man den Gedanken der Gunst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft übersieht. Die diesem Kapitel zugrunde liegende Intention liegt darin, die Reichhaltigkeit des Kantischen Gedankens des interesselosen Wohlgefallens darzustellen. In der Erläuterung dieses Gedankens hat Kant schon angedeutet, dass zwischen der gegebenen Vorstellung und dem Wohlgefallen noch ein „Machen“, d.h. eine Spontaneität des Subjekts besteht. Diese Interpretation kann dazu führen, dass wir die Tragweite des ersten Moments der Analytik des Schönen erneut zu bewerten haben. Am Ende des Kapitels wird skizziert, inwiefern das interesselose Wohlgefallen als Gunst mit anderen Teilen der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zusammenhängt. Ich will dadurch aufzeigen, dass eine Ausarbeitung des Gedankens vom interesselosen Wohlgefallen als Gunst eine der Antriebskräfte der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ausmacht.
2.1 Gunst: verpflichtet, aber nicht geschuldet Von „Gunst“ wird auch in Kants späterem Werk, der Metaphysik der Sitten, gesprochen. In der Bestimmung der Liebespflicht gegen andere Menschen bezeichnet Kant die Wohltätigkeit gegenüber Menschen in Not als eine „Gunst“ (MS-TL, § 23, VI 448). Wir erkennen uns gegenüber einem „Armen“ zwar als „verpflichtet“, wohltätig zu sein, diese Wohltätigkeit ist aber keine „schuldige Pflicht“, sondern eine Leistung, die „verdienstlich“ ist (ebd.). Die Gunst ist deshalb in diesem Fall eine Großmut, zu der man zwar verpflichtet ist, die aber keine Schuldigkeit ausmacht. Analog verhält es sich mit der ästhetischen Gunst in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Das Wohlgefallen im Geschmacksurteil ist dem Gegenstand gegenüber sozusagen nicht geschuldet: Nichts an der Vorstellung des
Gunst: verpflichtet, aber nicht geschuldet
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Gegenstandes kann unseren Beifall erzwingen. Trotzdem ist der Betrachter gleichsam verpflichtet, an einem schönen Gegenstand Wohlgefallen zu haben – hier „verpflichtet“ in dem Sinne, dass man glaubt „Grund zu haben, jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten“ (§ 6, 211)9. Mit Gunst bezeichnet Kant die Freiheit des interesselosen Wohlgefallens: „Gunst ist das einzige freie Wohlgefallen“ (§ 5, 210). Das Schöne ist dadurch vom Angenehmen und vom Guten abgegrenzt. Diese Gunst bzw. Freiheit besteht, negativ gesehen, darin, dass kein Interesse das Wohlgefallen erzwingt: Man kann sagen: dass unter allen diesen drei Arten des Wohlgefallens das des Geschmacks am Schönen einzig und allein ein uninteressiertes und freies Wohlgefallen sei; denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab (§ 5, 210).
Genau aus der Interesselosigkeit des Wohlgefallens entwickelt Kant noch eine positive Bestimmung dieser Freiheit: Sie ist eine „Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“ (§ 5, 210; siehe auch § 2, 205, Zeile 10 f.). Das interesselose Wohlgefallen als Gunst beinhaltet vielfältige Verhältnisse: 1) Mit Uninteressiertheit ist vornehmlich das Verhältnis zwischen Begehrungsvermögen und Geschmack zum Ausdruck gebracht. 2) Indem Kant dieses interesselose Wohlgefallen als Gunst bezeichnet, kommt der Aspekt vom Verhältnis zwischen Gegenstand und Subjekt hinzu: Das betreffende Wohlgefallen ist kein geschuldetes, sondern ein ungezwungenes Wohlgefallen am Gegenstand: Das Wohlgefallen hat seinen Ursprung nicht im Gegenstand; das Subjekt macht vielmehr aus sich selbst die Lust. 3) In der Entwicklung vom ersten zum zweiten Moment kommt ein drittes Verhältnis hinzu, das zwischen einem Urteilenden und jedem anderen: Wenn ein Urteilender sich in Ansehung des Wohlgefallens völlig frei fühlt, so kann er nicht annehmen, dass der Grund seines Wohlgefallens in Privatbedingungen besteht, und er muss folglich jedem anderen ein ähnliches Wohlgefallen zumuten (§ 6, 211). 4) Des Weiteren wird sogar noch ein viertes Verhältnis, das zwischen den Erkenntnisvermögen, eingeführt, um dieses freie Wohlgefallen zu begründen.
9 Das Wort „verpflichten“ benutzt Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft nicht. „Pflicht“ wird aber in diesem Werk durchaus gebraucht: siehe § 40, 292, Zeile 12; § 59, 353, Zeile 15. Ob ein ästhetisches Wohlgefallen auch eine Pflicht im moralischen Sinne werden kann, kann im vorliegenden Kapitel 2 zuerst unberücksichtigt bleiben. Was ich hier mit „verpflichten“ meine, ist eher im metaphorischen Sinne, mit der Absicht, die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der ästhetischen Gunst und Gunst im praktischen Bereich hervorzuheben.
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Das interesselose Wohlgefallen als Gunst
Wenn Gunst ein ungezwungenes Verhältnis zwischen Gegenstand und Subjekt bezeichnet, aber Interesselosigkeit sich eher auf ein Verhältnis zwischen Begehren und Geschmack bezieht, das ein dem Subjekt innewohnendes Verhältnis ist, so entstehen die Fragen, durch welche argumentativen Schritte sich diese Aspekte verbinden lassen und warum das interesselose Wohlgefallen und die ästhetische Gunst von Kant als äquivalent angesehen werden können. Dies ist das Thema des nächsten Abschnitts.
2.2 Ein Machen „aus der gegebenen Vorstellung“ und „in mir selbst“ Kants Auslegung des Wohlgefallens ohne Interesse als Gunst beginnt mit einer semantischen Erklärung, nämlich darüber, was man mit „schön“ eigentlich ausdrücken will. Dadurch soll die Struktur des Geschmacksurteils, die schon immer in der allgemeinen Rede von der Schönheit impliziert ist, zutage gefördert werden. Mit der Frage, ob etwas schön sei, will man nicht wissen, „ob uns oder irgend jemand an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen sei, oder auch nur gelegen sein könne; sondern, wie wir sie in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion) beurteilen“ (§ 2, 204). Semantisch betrachtet, so Kant, ist die Existenz des Gegenstandes nicht relevant. Was hier zählt, ist bloß die von der Realität abgelöste Erscheinung: Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag (§ 2, 205).
Zunächst sind bloß zwei Elemente des Geschmacksurteils festgestellt: die bloße Vorstellung des Gegenstandes als das, worauf sich das Wohlgefallen bezieht, und das Wohlgefallen als der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils. Im auf das Zitat direkt folgenden Satz ist allerdings herausgestellt, dass zwischen beidem, der Vorstellung und dem Wohlgefallen, noch ein Machen ist: Ich mache etwas „aus dieser Vorstellung in mir selbst“ (§ 2, 205, Zeile 10 f.); und dieses gemachte Etwas ist eigentlich das, worauf es im Geschmacksurteil ankommt, wie Kant hier formuliert: Man sieht leicht, dass es auf das, was ich aus dieser Vorstellung in mir selbst mache, nicht auf das, worin ich von der Existenz des Gegenstandes abhänge, ankomme, um zu sagen, er sei schön, und zu beweisen, ich habe Geschmack. (§ 2, 205)
Ein Machen „aus der gegebenen Vorstellung“ und „in mir selbst“
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Die Beschaffenheit dieses Machens besteht in einem Aus – „aus der Vorstellung“ – und einem In – „in mir selbst“: 1) Die gegebene Vorstellung fungiert hier sozusagen bloß als Rohstoff. Denn das Subjekt bleibt bei der gegebenen Vorstellung nicht stehen, es macht stattdessen aus der Vorstellung noch etwas; die gegebene Vorstellung bildet zwar den Ausgangspunkt, das Subjekt geht aber darüber hinaus. Die eigentlich zu beurteilende Vorstellung des Gegenstands ist zu einem noch zu verarbeitenden Stoff geworden. Das Subjekt muss die Gegebenheit der Vorstellung aufheben, d.h. aufbewahren und auflösen, um etwas daraus zu machen. Nur dadurch kann das Subjekt schließlich die Beurteilung der gegebenen Vorstellung ausführen. 2) Dieses daraus gemachte Etwas hat seinen Ort „in mir selbst“. Es wird zwar in § 2 noch nicht hinreichend erläutert, was eigentlich „in mir selbst“ heißt. Es wird hier aber schon darauf hingewiesen, dass es bei dem gemachten Etwas um etwas Subjektives geht. Dadurch ist ein objektives Machen, wie z. B. die physische Bearbeitung des betreffenden Gegenstandes, ausgeschlossen. Und damit ist auch die praktische Bezugnahme – die Herstellung von etwas oder Erreichung eines Zwecks – ausgeschlossen. Dass das angesprochene Machen ein Machen „in mir selbst“ ist, deutet darauf hin, dass das Machen nicht auf die Existenz eines Gegenstandes zielt. So ist dieses Machen in zweierlei Hinsicht eine Tätigkeit der Spontaneität: Es ist aktiv, sowohl gegenüber der gegebenen Vorstellung, weil es über die gegebene Vorstellung hinausgeht, als auch gegenüber dem Wohlgefallen, weil das Wohlgefallen kein bloß Gegebenes ist, sondern auf dem Machen des Subjekts beruht. Also ist im ersten Moment der Analytik die Entdeckung eines freien Raumes des Machens zwischen der gegebenen Vorstellung und dem Wohlgefallen gelungen10. Die Beschaffenheit dieses Raums ist in dieser beginnenden Phase aber noch nicht zur Gänze erschlossen: Kant erörtert noch nicht, ob das, was gemacht wird, bloß das Wohlgefallen ist, oder ob dazwischen nicht noch ein Vermittlungselement das eigentliche Gemachte ist. Die Identifizierung des Vermögens, das dieses Machen vornimmt, die Art und Weise sowie das Produkt des Machens: das alles
10 C. H. Wenzel (2000, S. 80) hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Interesselosigkeit „einen Freiraum für eine besondere Eigenleistung des Urteilenden“ ermöglicht. Meine Interpretation ist deshalb in dieser Hinsicht nicht neu. Ich möchte diesen Raum der Eigenleistung des Urteilenden besonders hervorheben und bin der Ansicht, dass nur so erst ausreichend verstanden werden kann, was Kant mit seiner Analyse dieses ersten Moments der Analytik eigentlich darstellen will.
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wird im ersten Moment der Analytik noch nicht herausgestellt. Strategisch geht Kant bewusst einen Umweg: Er leitet die genaue Struktur der Beurteilung nicht unmittelbar aus dem interesselosen Wohlgefallen selbst ab. Vielmehr, wie unten noch zu diskutieren sein wird, entwickelt Kant zunächst das Bewusstsein der allgemeinen Mitteilbarkeit aus dem Bewusstsein des uninteressierten Wohlgefallens (§ 6, 211). Am Leitfaden dieses Bewusstseins der Allgemeinheit analysiert er dann die ästhetische Beurteilung und die dabei betroffene Tätigkeit der Einbildungskraft und des Verstandes. Auf diese Weise wird die Grundstruktur des Geschmacksurteils erst herausgestellt. Ein eventueller Raum aber zwischen der gegebenen Vorstellung und dem Gefühl der Lust, der in § 9 dahingehend befragt wird, ob nicht die Beurteilung der Lust vorangehen muss, erschließt sich schon im ersten Moment anhand des interesselosen Wohlgefallens: Wenn das Wohlgefallen auf der bloßen Betrachtung der Vorstellung des Gegenstandes beruht, muss es dazwischen noch ein Machen geben. Das Machen mit seiner Beschaffenheit – aus der Vorstellung und in mir selbst – ist die positive Bestimmung des Wohlgefallens, die Kant aus der negativen Bestimmung des Wohlgefallens – einem Wohlgefallen ohne alles Interesse – ausgearbeitet hat. Machen ist keine zufällige Formulierung, die in Kants weiteren Ausführungen verschwinden würde. In § 5, dem abschließenden Paragraphen des ersten Moments, spricht Kant noch einmal vom Machen. Da steht das Machen im Zusammenhang mit der ästhetischen Gunst: Gunst als die „Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“ (§ 5, 210). Aus dieser Formulierung ist ersichtlich, dass das Machen seine Struktur des Woraus und des Worin (in „uns selbst“) immer noch mit sich führt. Das Machen wird jedoch in dem Zitat nachdrücklich als eine Freiheit bezeichnet und in den Begriff Gunst absorbiert.
2.3 Angenehm, Gut und Schön Um die Interesselosigkeit des Wohlgefallens, das einem reinen Geschmacksurteil zugrunde liegt, zu erläutern, wendet sich Kant den andersartigen Urteilen und den mit ihnen verbundenen Arten des Wohlgefallens zu. In diesem Abschnitt werde ich beschreiben, wie Kant zwischen angenehm, gut und schön unterscheidet. Meine Aufmerksamkeit richtet sich dabei darauf, wie Kant durch diese Gegenüberstellung von angenehm, gut und schön zu seiner These kommt, dass Gunst, als das Wohlgefallen am Schönen, „das einzige freie Wohlgefallen“ ist (§ 5, 210). Es ist kein selbstverständlicher Gedanke, dass man gegenüber der Existenz des Gegenstandes „ganz gleichgültig“ sein muss, um in Sachen des Geschmacks „den Richter zu spielen“ (§ 2, 205). In § 2 formuliert Kant diesen Gedanken noch einmal
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auf folgende Weise: „Ein jeder muss eingestehen, dass dasjenige Urteil über Schönheit, worin sich das mindeste Interesse mengt, sehr parteilich und kein reines Geschmacksurteil sei“ (ebd.). Eigentlich sollten alle Urteile, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, so zum Beispiel Erkenntnisurteile, unparteilich sein. Warum ist die Unparteilichkeit im Fall des Geschmacksurteils zusätzlich noch durch den Ausschluss der Berücksichtigung der Existenz zu erreichen? Man kann es auch so formulieren, wenn man den erst in § 40 vorkommenden Ausdruck „Maxime der Urteilskraft“ benutzt: Die Maxime der Urteilskraft, d.h. die Maxime vom „allgemeinen Standpunkte“ (§ 40, 295) artikuliert sich beim ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft noch in der Forderung: Abstrahiere von der Vorstellung der Existenz des Gegenstandes! Kant nennt das einen Gedanken „von vorzüglicher Erheblichkeit“ (§ 2, 205) und führt in §§ 3-5 durch einen Vergleich zwischen angenehm, gut und schön diesen Gedanken aus. Warum ist die Unparteilichkeit im Fall des Geschmacksurteils durch Interesselosigkeit zu erreichen? Angenehm, gut und schön, alle drei Ausdrücke bezeichnen „Komplazenz“ (§ 5, 210), d.h. Wohlgefallen an einem Gegenstand. Sie alle drücken „Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust“ (§ 5, 209) aus. Kant bestimmt ihre Verschiedenheit durch die zugrundeliegenden Gemütsvermögen: „Angenehm ist das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt“ (§ 3, 205); „Gut ist das, was vermittelst der Vernunft, durch den bloßen Begriff, gefällt“ (§ 4, 207); Schönheit stammt jedoch weder aus den Sinnen noch aus der Vernunft. Außerdem bestimmt Kant diese Verschiedenheit noch durch das jeweilige Wesen des Wohlgefallens, was ich hier näher diskutieren will: Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt; schön, was ihm bloß gefällt; gut, was geschätzt, gebilligt, d.i. worin von ihm ein objektiver Wert gesetzt wird. (§ 5, 210)
Nach diesem Zitat sind schön, gut und angenehm voneinander wesentlich verschieden. Die Bestimmung der Schönheit als das, was „ihm bloß gefällt“, bringt das Spezifische des Wohlgefallens am Schönen profiliert zum Ausdruck: Obwohl angenehm, gut und schön jeweils eine spezifische Art des Wohlgefallens bezeichnet, bezieht sich schön jedoch, im Vergleich zu angenehm und gut, auf das Wohlgefallen auf eine eminente Weise. In der Bestimmung des Schönen als das, was einem bloß gefällt, ist die unmittelbare Beziehung der Schönheit zum Wohlgefallen zum Ausdruck gebracht: Das Wort „Wohlgefallen“ ist ja mit dem Wort „gefallen“ eng verbunden. Nur beim Schönen geht es ausschließlich um ein bloßes, unmittelbares Wohlgefallen, so dass der Begriff Wohlgefallen durch das Wort gefallen direkt in die begriffliche Bestimmung vom Schönen eingeht: Das Schöne ist das, was jemandem „bloß gefällt“. Beim Angenehmen und Guten geht
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es um etwas mehr, nämlich über das Gefallen hinaus noch um einen Zweck und dessen Erfüllung. Beim Schönen hingegen weilt das Subjekt beim Wohlgefallen und bleibt auch dort. Von daher kann Kant schon im ersten Moment der Analytik vom „spielen“ sprechen, dass nämlich „der sittliche Geschmack“, im Unterschied zur moralischen Forderung, mit den Gegenständen des Wohlgefallens „nur spielt, ohne sich an einen zu hängen“ (§ 5, 210). Interesselosigkeit deutet deshalb schon auf die Konzeption des Spiels hin; und in der Wesensbestimmung – schön heißt das, was einem „bloß gefällt“ – ist Interesselosigkeit und Spiel implizit enthalten. Das nachher thematisierte Spiel der Erkenntnisvermögen miteinander soll als Erweiterung und Vertiefung des Gedankens vom Spiel des Geschmacks verstanden werden. Das Wort bloß ist in § 5 „Vergleichung der drei spezifisch verschiedenen Arten des Wohlgefallens“ ungewöhnlich häufig verwendet: „bloß durch die Vorstellung des Gegenstandes“ (209); „bloß der Gegenstand“ (209); „bloß kontemplativ“ (209); „bloß gefällt“ (210). Alle diese Bloß-Ausdrücke weisen gemeinsam auf eine spezifische Bescheidenheit des Geschmacksurteils hin: Es bezieht sich, ohne praktische Intention, nur auf die Vorstellung des Gegenstandes und somit nur auf das Wohlgefallen an dieser Vorstellung. Jetzt wenden wir uns der Frage zu, wieso die Unparteilichkeit des Geschmacks vornehmlich durch Interesselosigkeit zu erreichen ist. Schon im gemeinen Sprachgebrauch hängt die Parteilichkeit mit Interesse zusammen: Parteilich heißt, das Interesse von irgendeiner Gruppe zu vertreten. Die Unparteilichkeit, d.h. keine voreingenommene Position einzunehmen, artikuliert sich im Fall des Geschmacksurteils, wegen des Charakters des Geschmacksurteils, noch differenzierter, nämlich als nicht von Begehren eingenommen zu sein: Wenn man von der neutralen Position, die hier heißt, nur im Hinblick auf die Form des Gegenstandes ein Urteil zu fällen, abweicht und pragmatische Kalkulation bzw. moralisches Interesse einbezieht, dann weicht das Urteil entsprechend von einem Urteil über die Schönheit ab und wandelt sich zu einem anderen Urteil, nämlich zu dem, ob ich den Gegenstand will. Diese Abweichung von der eigentlich festzuhaltenden Beurteilungseinstellung ist eben Parteilichkeit, wobei der Bloß-Charakter des Geschmacks verloren geht. Genau wegen der Interesselosigkeit ist das Wohlgefallen des Schönen ein „freies“ Wohlgefallen (§ 5, 210), und zwar „das einzige freie Wohlgefallen“ (ebd.) (vgl. Höffe 2015, S. 218). In der Kant-Forschung wird, soweit ich sehe, nicht die nötige Aufmerksamkeit auf die Freiheit des Wohlgefallens als ein
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Pendant zur Freiheit des Willens gerichtet11. Freiheit des Wohlgefallens und des Willens korrespondieren jeweils einem Gemütsvermögen: Dort handelt es sich um das Gefühl der Lust und Unlust, hier um das Begehrungsvermögen. Ein Ausdruck wie „Freiheit des Gefühls der Lust und Unlust“ enthält in sich selbst einen Widerspruch, weil das Gefühl der Lust und Unlust eine bloße Empfänglichkeit ist und nur affiziert werden kann. Der passende Ausdruck für die Freiheit im Bezug auf das Gefühl der Lust und Unlust ist deshalb die Freiheit des Wohlgefallens. Und in einem davon abgeleiteten Sinn lässt sich ein Geschmacksurteil auch als „frei“ (§ 5, 210, Zeile 22) bezeichnen, sofern diesem Urteil ein freies Wohlgefallen zugrunde liegt. Im Vergleich zur Freiheit des Willens geht es hier um eine ganz andere Art der Freiheit. Sie betrifft nicht das Reale, die Welt oder die Handlung. Es handelt sich hier bloß um den Beifall. Die Freiheit des Wohlgefallens besteht lediglich darin, dass dieser Beifall ungezwungen und deshalb eine Gunst ist, die das Subjekt dem Objekt erweist. Hingegen lässt uns das Wohlgefallen an „das schlechterdings, in aller Hinsicht Gute“ (§ 4, 209) „keine Freiheit“, „uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“, weil der Gegenstand „durch ein Vernunftgesetz uns zum Begehren auferlegt wird“ (§ 5, 210). Höffe (2015, S. 21 ff.; S. 213) weist darauf hin, dass „Freiheit“ verschiedene Bedeutungen hat und die Freiheitsphänomene sehr facettenreich sind, und dass es methodisch wichtig ist, sich die Fülle der Freiheitsphänomene vor Augen zu führen, um eine Verengung des Verständnisses zu vermeiden. Dieser Hinweis ist für die eigenartige Freiheit des Wohlgefallens im Geschmacksurteil auch angebracht. Sie ist vergleichbar weder mit der Willens-, noch mit der Handlungsfreiheit, geschweige denn mit der politischen oder gesellschaftlichen Freiheit. Bei allen diesen Freiheiten handelt es sich um die Wirklichkeit, indem es bei ihnen um Dasein oder Daseinsweise des Gegenstandes bzw. des Subjekts geht. Die Freiheit des Wohlgefallens am Schönen fordert aber nicht zum Handeln heraus und betrifft nur die Vorstellung eines Gegenstandes. Positiv kann die Freiheit dieses Wohlgefallens auch als „der bloße Beifall“ ausgedrückt werden. Um das „bloß“ in diesem Ausdruck näher zu verstehen, hat
11 Ginsborg (2008) hat ebenfalls den Ausdruck „Freiheit des Wohlgefallens“ benutzt. Aber sie meint: „Wenn Kant die Freiheit des Wohlgefallens am Schönen unterstreicht, will er es damit vom Wohlgefallen am Angenehmen und am Guten abgrenzen“ (S. 63). Ich bin hingegen der Meinung, dass Kant das Wohlgefallen am Schönen von dem Wohlgefallen am Angenehmen und am Guten abgrenzt, um die Freiheit des Wohlgefallens am Schönen zu erläutern.
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man sich der negativen Bestimmung der Freiheit dieses Wohlgefallens zuzuwenden, nämlich der Interesselosigkeit. Sofern das Wort „bloß“ eigentlich bedeutet: nicht anders und nicht mehr als etwas, lässt es sich nur durch einen Anschluss an eine negative Bestimmung verstehen, nämlich was der thematisierte Gegenstand nicht ist. Wenn etwas bloß gefällt, bedeutet bloß, beim Beifall aufzuhören und keinen Schritt weiter zur Erlangung oder Aufrechterhaltung der Sache zu tun. Der negative und positive Sinn der Freiheit des Wohlgefallens ist deshalb in eins verschmolzen.
2.4 Das interesselose Wohlgefallen als Gunst: eine Antriebskraft der Entwicklung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft Karl Ameriks (1983) ist der Ansicht, dass zwischen den vier Momenten des Geschmacksurteils keine wesentliche Verbindung bestehe. Vor allem sei das erste Moment, die Beziehung zwischen dem Geschmacksurteil und der Interesselosigkeit, ein bloß kontingentes (S. 4), d.h. es gehöre nicht zur wesentlichen Struktur des Geschmacksurteils. Nach Ameriks bedarf die Formulierung und die Legitimation des Anspruchs des Geschmacksurteils keiner besonderen Erwähnung der Interesselosigkeit. „The basic features that Kant always stresses in his arguments are what can be called the universality and the non-conceptuality of aesthetic judgements“ (S. 5). Hier sind also die Allgemeingültigkeit und Begriffslosigkeit aus ihrem Zusammenhang mit dem interesselosen Wohlgefallen als Gunst herausgelöst. Mit der bloßen Konzentration auf die Allgemeingültigkeit und Begriffslosigkeit des Geschmacksurteils kommt Ameriks zu dem radikalen Schluss („radical conclusion“, so nennt er selbst das Resultat seiner Untersuchung, S. 3), der Kants Theorie in der Sache wesentlich korrigieren sollte: Kants Ansicht, dass das Geschmacksurteil ein subjektives Urteil sei, ist nach Ameriks nicht gut begründet; „a Kantian ought to acknowledge the objectivity of taste (which, in this context, means it rests on objectively beautiful and immediately perceivable natural forms)“ (1983, S. 3). Die Schönheit, so Ameriks, sei eine objektive Eigenschaft der Form des Gegenstandes. Und er glaubt, dass diese Behauptung sogar allen Merkmalen des ästhetischen Urteils, einschließlich der Interesselosigkeit, nicht widerspricht (S. 15 f.). Auf den ersten Blick widerspricht die These von Ameriks, dass Schönheit eine objektive Eigenschaft der Form des Gegenstandes sei, nicht der Interesselosigkeit des Geschmacksurteils. Das Geschmacksurteil ist nach ihm wie ein Wahrnehmungsurteil: Bei der objektiven Erkenntnis von Farbe oder Geruch eines Gegenstandes spielt Interesse ebenfalls keine Rolle. Meines Erachtens besteht
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das Problematische seiner Interpretation darin, dass er die Allgemeingültigkeit und Begriffslosigkeit einseitig hervorhebt, sie von deren Zusammenhang mit dem interesselosen Wohlgefallen ablöst und übersieht, dass Kant das interesselose Wohlgefallen als Gunst versteht, „womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt“ (§ 58, 350). Wenn die Schönheit, wie Ameriks meint, eine objektive Eigenschaft der Form des Gegenstandes ist, würde das Wohlgefallen am Schönen eine Gunst sein, die die Natur uns entgegenbringt, nicht Gunst, mit der wir die Natur aufnehmen. Wenn man die Richtung dieser Gunst (nämlich „womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt“) übersieht, würde man die formale Zweckmäßigkeit der Schönheit auf eine verkehrte Weise verstehen: Die Vorstellung des Gegenstandes würde nicht mehr als Anlass, wie es sein sollte, sondern als Ursache bzw. als das, was das Wohlgefallen abzwingt, fungieren. In diesem Fall handelt es sich dann um Heteronomie, nicht mehr Autonomie der Urteilskraft. Die zweckmäßige Form ruft zwar das Wohlgefallen hervor, kann es aber nicht erzwingen, weil der Gönner, der die Gunst erweist, nicht der gegebene Gegenstand, sondern das Subjekt selbst ist. Eine bloße Lehre der formalen Zweckmäßigkeit der Schönheit, wie sie in der Einleitung VII zur Kritik der Urteilskraft zum Ausdruck kommt, ist deshalb zur Bewahrung der ästhetischen Gunst nicht ausreichend, weil sie allein die Richtung der Gunst nicht eindeutig bestimmen kann. Dafür muss sie um eine Theorie des freien Spiels der Vorstellungskräfte ergänzt werden. Sie bekommt auch in der Theorie des freien Spiels für ihr Wesen eine genauere Bestimmung. Die Theorie des freien Spiels ihrerseits entwickelt sich in der eigenen Dynamik zur Theorie der ästhetischen Ideen und erhält dadurch eine genauere Bestimmung. Die philosophiegeschichtlich originelle Einsicht, dass wir mit dem interesselosen Wohlgefallen dem Gegenstand eine Gunst erweisen, ist auch für die Entfaltung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft in dreierlei Hinsicht maßgeblich: 1. Dieser Gedanke macht den Ausgangspunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft aus, indem er als das erste Moment der Analytik des Schönen dargestellt wird. Nur vor dem Hintergrund des interesselosen Wohlgefallens als Gunst kann der Anspruch auf Allgemeingültigkeit und dessen Begründung hinreichend verständlich werden. (In Kapitel 6 wird dies noch diskutiert werden.) 2. In § 58 wird Kant den Gedanken des interesselosen Wohlgefallens als Gunst wieder aufgreifen: Das Wohlgefallen des Schönen ist eine Gunst, „womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt“ (§ 58, 350). Um diese Richtung der Gunst sicherzustellen, wird dort die Idealität der Zweckmäßigkeit der Natur und der Kunst, im Gegensatz zum Prinzip des ästhetischen Realismus, als das „alleinige Prinzip der ästhetischen Urteilskraft“ festgelegt
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Das interesselose Wohlgefallen als Gunst
(siehe die Überschrift des § 58). Deshalb hat der Gedanke, dass wir mit dem interesselosen Wohlgefallen dem Gegenstand eine Gunst erweisen, die Entwicklungsrichtung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft bestimmt (dazu näher in Abschnitt 11.3). 3. Zwischen der gegebenen Vorstellung und der Lust an dieser Vorstellung besteht ein Raum für das Subjekt zum freien Machen; das Subjekt macht sich selbst aus der Vorstellung einen Gegenstand des Wohlgefallens: Wie oben erläutert, ist dies schon in der Interesselosigkeit des Wohlgefallens impliziert. Es entsteht folglich eine Spannung zwischen der Gegebenheit der Vorstellung und dem Machen des Subjekts. Die Suche nach der Lösung dieses Problems führt endlich zur Theorie der ästhetischen Ideen, die in Kapitel 8 behandelt werden wird. Kants Lösung lässt sich auf folgende Weise skizzieren: Die Vorstellung ist nicht nur vom Gegenstand gegeben, sondern auch vom Subjekt als ein Entwurf der produktiven Einbildungskraft gemacht. Diesen scheinbaren Widerspruch löst Kant vermittels des Verhältnisses von Nachbild und Urbild auf: Die Vorstellung, die die Einbildungskraft in ihrer Freiheit, aber in Übereinstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit entwirft, ist der Archetypon (Urbild), und die bestimmte Vorstellung, in der der Gegenstand gegeben ist, ist der Ektypon (Nachbild). Wenn das Subjekt in einer gegebenen Vorstellung ein Bild sieht, das seine Einbildungskraft gerne entwerfen würde, würde das Subjekt die gegebene Vorstellung billigen und ihr ein Wohlgefallen erweisen. In dieser Begegnung des Subjekts mit der gegebenen Vorstellung ist die gegebene Vorstellung bloß ein Nachbild, während das frei entworfene Bild der Einbildungskraft das Urbild ausmacht.
3 Exposition des Geschmacksurteils als Kontext von „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ 3.1 Exposition des Geschmacksurteils als Kontext von „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ In der Rezeptionsgeschichte wurde Wohlgefallen ohne alles Interesse oft vom ursprünglichen Zusammenhang bei Kant, dem Kontext der Exposition des ästhetischen Urteils, losgelöst, und die ursprüngliche Konstellation dieses Theoriestücks bei Kant, das Wohlgefallen ohne Interesse als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils, wurde eher verdrängt. (Auf ein typisches Beispiel solcher Rezeption, die Theorien der ästhetischen Einstellung, werde ich in 3.2 eingehen.) Das Wohlgefallen ohne alles Interesse wurde bei Schopenhauer sogar zu einer Seinsweise, die nicht nur im ästhetischen Bereich, sondern allgemeiner, für das Leben überhaupt, als vorbildlich gilt. Schopenhauers Kant-Kritik (in: Die Welt als Wille und Vorstellung), bezüglich der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, richtet sich vornehmlich genau darauf, dass Kant vom Urteil des Geschmacks ausgeht: „Er [Kant] geht immer nur von den Aussagen Anderer aus, vom Urteil über das Schöne, nicht vom Schönen selbst“ (S. 629). So verliere Kant in der bloßen Behandlung vom Urteil über das Schöne das eigentliche Schöne aus den Augen. Von daher verhalte er sich wie „ein hochverständiger Blinder“, der „aus genauen Aussagen, die er über die Farben hörte, eine Theorie derselben“ kombiniere (ebd.). Von der Kantischen Perspektive her gesehen, so müssen wir sagen, ist es keine willkürliche Entscheidung, dass methodisch vom Urteil über das Schöne, anstatt vom Schönen selbst auszugehen ist, weil es keine eigenständige Schönheit, die auch außerhalb des Geschmacksurteils besteht, geben kann. Die transzendentale Untersuchung hängt notwendig mit der Untersuchung des Urteils zusammen. Denn die zugrundeliegende Frage derselben lautet: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? In der Kritik des Geschmacks verhält es sich ebenfalls so. Kant entwickelt das Theoriestück „Wohlgefallen ohne alles Interesse“ nicht, um die ästhetische Erfahrung12 zu beschreiben, obwohl der
12 Der Sinn des Ausdrucks ästhetische Erfahrung ist nicht eindeutig. Es ist eigentlich fragwürdig, auf welche Weise dieser Begriff in der Kant-Interpretation zu benutzen ist. Andrea Kern (2000, S. 10 ff.) sieht in ihrer Kant-Forschung die Lust als das vornehmliche Merkmal der ästhetischen Erfahrung. Ich schließe mich ihr vorläufig an und rede hier von der ästhetischen Erfahrung im Sinne der Lust, die in der ästhetischen Betrachtung entstanden ist. https://doi.org/10.1515/9783110546125-004
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Exposition des Geschmacksurteils als Kontext von interesselosem Wohlgefallen
Charakter der ästhetischen Erfahrung dadurch auch mit aufgehellt wird, sondern um das Geschmacksurteil, ein ästhetisches Urteil a priori, und die Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft zu erläutern. Eine Untersuchung des ästhetischen Urteils kann nicht ausgeführt werden ohne Beobachtung der betreffenden ästhetischen Erfahrung. Sie muss aber von den verschiedenartigen Erfahrungen, die auf unterschiedliche Weise mit dem Gefühl des Schönen verknüpft sind, das herausgreifen, was dem reinen ästhetischen Urteil zugrunde liegt13. In dem 1764 veröffentlichten Werk Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen wird die Sache im Vergleich zur Kritik der ästhetischen Urteilskraft von einer ganz anderen Perspektive aus behandelt. Der Titel jenes Werkes deutet schon auf die Methode der Untersuchung hin: Dem Gegenstand der Untersuchung, nämlich dem „Gefühl des Schönen und Erhabenen“ entsprechend, wird „Beobachtung“ als Methode gewählt. Das Wort „Urteil“ taucht in diesem früheren Werk nur einige Male auf und spielt keine nennenswerte Rolle. Stattdessen ist dort „Gefühl“ das Stichwort: Zur Beschreibung des Gefühls des Schönen und Erhabenen werden allerlei Beobachtungen aufgeführt. Dass Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft von der Analyse des Urteils des Schönen und des Erhabenen ausgeht, um das Phänomen der Schönheit und Erhabenheit zu verstehen, lässt sich nicht als eine bloße Veränderung der Forschungsstrategie verstehen. Denn es gibt nach der Kritik der ästhetischen Urteilskraft in der Tat keinen anderen Zugang zum Verständnis des Schönen und Erhabenen. Das Wesen des Gefühls des Schönen kann nur durch diesen Zugang verstanden werden, weil dieses Gefühl aus dem entsprechenden Urteil stammt, und weil der Anspruch auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls des Schönen auch auf diesem Urteil beruht. Es besteht keine Empfindung oder Eigenschaft des Gegenstandes, die von sich aus, d.h. vom Geschmacksurteil unabhängig, als Schönheit gelten kann. Wenn Kant stattdessen von der empirischen Beobachtung ausgegangen wäre, würde er nicht zur der Einsicht gelangen, dass das Gefühl des Schönen sich weder auf einem Interesse gründet noch ein Interesse hervorbringt. Denn das
13 Vgl. Kulenkampff 1978, S. 15 ff.; Wieland 2001, S. 78 ff. Die beiden Autoren betonen, das ästhetische Urteil sei der Leitfaden der Kantischen ästhetischen Untersuchung. Kulenkampffs Augenmerk richtet sich darauf, dass der Beitrag der Kritik der Urteilskraft nicht in der Aufdeckung der Erscheinungen liegt, sondern darin, dass Kant in der Logik des ästhetischen Urteils ein philosophisches Problem aufdeckt; Wieland richtet seine Aufmerksamkeit darauf, dass nicht das Vermögen der Urteilskraft selbst den Anfangspunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ausmacht, diese Kritik vielmehr einen Umweg geht: Es sind anstatt der Urteilskraft die ästhetischen Urteile, als die Leistungen bzw. die Resultate der Tätigkeit der Urteilskraft, die zuerst ins Auge gefasst werden.
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Wohlgefallen am Schönen wird oft von Interessen begleitet. Nach Kant können sogar „alle Vorstellungen […] subjektiv mit Vergnügen oder Schmerz […] verbunden werden“ (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 277). Weil Kant vom Urteil des Geschmacks ausgeht, kommt jetzt nur ein spezielles Wohlgefallen, das dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, infrage. Andere Arten des Wohlgefallens werden als irrelevant ausgeschlossen: Sie können dem Geschmacksurteil angehängt sein; sie gehören aber nicht zum Geschmacksurteil selbst. Diese Art der Behandlung – die Untersuchung des Wohlgefallens im Hinblick auf dessen Beziehung zum Geschmacksurteil – grenzt sich von derjenigen Untersuchung ab, die die ästhetische Erfahrung nicht auf das ästhetische Urteil bezieht und sie bloß pauschal beobachtet. An diesem Punkt, nämlich bezüglich der Interesselosigkeit und der mit ihr verbundenen philosophischen Methode, ist es interessant, Kant und Burke, mit dem Kant sich in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ausdrücklich auseinandergesetzt hat (siehe „Allgemeine Anmerkung zur Exposition“ in KäU, 277), zu vergleichen. Denn auch bei Burke wird Schönheit und Erhabenheit nicht von der Sinnenlust und Brauchbarkeit her erklärt. Insofern kann man Burke als einen Vorläufer der Kantischen Interesselosigkeit bezeichnen. Methodisch aber geht Burke einen ganz anderen Weg. Der Hauptgegenstand seiner Untersuchung sind die Leidenschaften. Alle Leidenschaften lassen sich, so Burke, auf die Leidenschaft zur Selbsterhaltung und die Leidenschaft zur Gesellschaft zurückführen. Erhabenheit und Schönheit entsprechen jeweils einer jener beiden Leidenschaften. Sofern Kant die Schönheit und Erhabenheit auch mit der Sinnlichkeit anstatt mit der Begrifflichkeit verbindet, nähert Kant sich Burke an. Anders als Burke, der die Sinnlichkeit, die der Schönheit und Erhabenheit zugrunde liegt, als Leidenschaft bestimmt und sie empirisch beobachtet, wird das Sinnliche der Schönheit von Kant als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils festgelegt. Kant untersucht das Sinnliche der Schönheit im Hinblick auf dessen Beziehung zum Geschmacksurteil, anstatt es als ästhetische Erfahrung psychologisch oder physiologisch zu beobachten. Von der Methode der psychologischen Beobachtung geleitet, setzt Burke hingegen das Schöne und das Erhabene in den Zusammenhang des Vergnügens und des Schmerzes und gelangt von daher zu einem von Kant wesentlich verschiedenen Ergebnis. Ein vielfach erwähnter Einwand gegen Kants Konzeption, dass das Wohlgefallen des Schönen interesselos sei, besteht darin, dass wir an Objekten, die wir schön finden, doch Interesse nehmen. Zum Beispiel ist unsere Bemühung, durch Kunstmuseen die schönen Kunstwerke zu bewahren, eben eine Verkörperung dieses Interesses (zu einer Zusammenfassung dieser Problematik siehe Ginsborg 2008, S. 63). Demzufolge lasse sich höchstens behaupten, dass das Geschmacksurteil auf keinem Interesse gründet; Kants Ansicht, dass es auch gar
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kein Interesse hervorbringe, sei unbegründet und widerspreche der Wirklichkeit. Das Folgende ist mein Versuch, diesen Einwand gegen Kant zu entkräften: Es verhält sich tatsächlich so, dass man auf die Existenz der schönen Kunstwerke Wert legt. Auch Kant erkennt an, dass wir Interesse am (Natur-) Schönen nehmen (siehe §§ 41-42). Was Kant aber mit seiner These der Interesselosigkeit behauptet, ist, dass das Urteil des Geschmacks weder auf Interesse gründet noch ein Interesse hervorbringt (siehe § 2, Fußnote). Die Tatsache, dass wir die schönen Kunstwerke in Museen gut erhalten wollen und man solche Kunstwerke oft auch zum hohen Preis erwerben will, kann aus verschiedenen Perspektiven erklärt werden. Das Urteil des Geschmacks kann zwar bei der Entstehung solcher Tatsachen auf gewisse Weise mitgewirkt haben; es ist aber gar nicht eindeutig ersichtlich, dass dieses Urteil selbst der Grund ist, warum man solche schönen Kunstwerke wertschätzt. Hierzu werde ich nur zwei relevante Punkte nennen: 1) Ein Grund solcher Wertschätzung kann darin bestehen, dass man diese Werke als Kulturgut bewahren will, so wie man auch andersartiges Kulturgut schätzt und es in technische, historische Museen etc. aufnimmt. Als Kulturgut ist der Gegenstand Ausdruck der menschlichen Anstrengungen und Leistungen und ist von daher schon erhaltenswert. 2) Zudem ist zu beachten: Wenn man auf die Existenz eines Gegenstandes Wert legt, spielt dabei die Willkür die entscheidende Rolle. Hinsichtlich eines schönen Gegenstandes kann es sein, dass das Urteil des Geschmacks der Willkür die Information vermittelt, dieser Gegenstand sei schön, und dass dann die Willkür aus eigener Überlegung – hier können verschiedene Möglichkeiten gedacht werden, worin diese Überlegung besteht – Wert auf die Existenz dieses Gegenstandes legt.
3.2 Interesselosigkeit als Einstellung des Geschmacksurteils Kant ist nicht der Initiator der Theorien der ästhetischen Einstellung (vgl. Stolnitz 1961). Er spielt aber sicherlich eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung dieser Theorien14. Kaum ein Lehrbuch oder Lexikon der Ästhetik erwähnt beim Thema der ästhetischen Einstellung Kant nicht, wobei die Interesselosigkeit den Anknüpfungspunkt Kants zu diesem Thema ausmacht. Oft wird die
14 Zu einer ausführlichen kritischen Geschichte der Theorien der ästhetischen Einstellung siehe D. Fenner, 1996.
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Interesselosigkeit als das einzige Merkmal der ästhetischen Einstellung angesehen. (Gelegentlich wird sie, wie bei Stolnitz, als eines der Elemente der ästhetischen Einstellung angesehen. Das andere Element sei nach Stolnitz Sympathie: „sympathetic“ bedeutet „accept the object on its own terms to appreciate it“: 1960, S. 36.) Andererseits wird der Begriff „ästhetische Einstellung“ auch oft zur Interpretation der Kritik der ästhetischen Urteilskraft benutzt (z. B. Prauss 1981: „Kants Theorie der ästhetischen Einstellung“; Pieper 2001: „Geschmacksurteil und ästhetische Einstellung“). Es ist allerdings vielfach bemerkt worden, dass Kants Theorie doch manche Verschiedenheiten im Vergleich zu den modernen Theorien der ästhetischen Einstellung aufweist. Mary MacCloskey (1987) widmet ein Kapitel ihrer Interpretation den Fragen, ob Kant eine solche Theorie wie die der ästhetischen Einstellung im 20. Jahrhundert vertritt und ob die Kritik gegen diese letztere auch auf Kant anwendbar ist. James Shelley (2015) weist seinerseits darauf hin, dass der Terminus „ohne Interesse“ bei Kant eher ein Attribut des Wohlgefallens ist, dass er aber bei den Theorien der ästhetischen Einstellung zu einem Attribut der Einstellung geworden ist. Außerdem macht David E. Cooper (1992, S. 23) darauf aufmerksam: Kant gebraucht „ohne Interesse“ nicht wie bei den Theorien der ästhetischen Einstellung zur Unterscheidung des Ästhetischen vom Nicht-ästhetischen, sondern zu einer Unterscheidung innerhalb des ästhetischen Urteils, nämlich zwischen einerseits dem Urteil über das Schöne und das Erhabene und andererseits dem Urteil über das Angenehme und über das Gute. In diesem Abschnitt werde ich versuchen, zwischen der Einstellung der ästhetischen Erfahrung und der Einstellung des Geschmacksurteils zu unterscheiden: Die Theorien der ästhetischen Einstellung wie von Edward Bullough (1912), Jerome Stolnitz (1961), sowie von derjenigen, die von Dickie in The Myth of the Aesthetic Attitude (1964) kritisiert werden, sind als Theorie der Einstellung der ästhetischen Erfahrung zu bezeichnen; Kants Interesselosigkeit hingegen kann nicht zu dieser Kategorie gezählt werden, sie bedarf einer besonderen Behandlung und kann als Einstellung des Geschmacksurteils bezeichnet werden. Damit will ich aufzeigen: 1. Der Rahmen der Interesselosigkeit bei Kant ist ein anderer als der von den Theorien der ästhetischen Einstellung, Kant lässt sich nicht ohne weiteres als Ressource für dieselben anführen; 2. Dickies Kritik an den Theorien der ästhetischen Einstellung, dass eine ästhetische Einstellung, die sich durch Interesselosigkeit von anderen Einstellungen unterscheidet, bloß ein Mythos sei, ist auf Kant nicht anwendbar. Dickie hat selber sogar, zwar unabsichtlich, aber doch einen möglichen Raum für die Art der Kantischen Interesselosigkeit gelassen.
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3.2.1 Einstellung des ästhetischen Urteils vs. Einstellung der ästhetischen Erfahrung Ich stelle zunächst kurz vor, was „ästhetische Einstellung“ heißt und was mit „Theorien der ästhetischen Einstellung“ gemeint ist: Zum Begriff ästhetische Einstellung kann eine Definition von Stolnitz (1960) angeführt werden: „aesthetic attitude“ sei „disinterested and sympathetic attention to and contemplation of any object of awareness whatever, for its own sake alone“ (S. 34 f.). „Disinterested“ heißt dabei „no concern for any ulterior purpose“ (S. 35); „sympathetic“ heißt „accept the object on its own terms to appreciate it“ (S. 36). Mit Stolnitz teilweise übereinstimmend, hat Franz von Kutschera (1988) den Begriff „ästhetische Einstellung“ folgendermaßen definiert: Ästhetische Einstellung ist die Einstellung, „in der wir uns auf Erscheinungsweise konzentrieren“ und die der ästhetischen Erfahrung zugrunde liegt (S. 74). Dabei heißt „ästhetische Erfahrung“ „eine Form äußeren Erlebnisses, in der die Aufmerksamkeit sich auf die sinnliche Erscheinungsweise des Gegenstandes richtet“ (ebd.). Es bestehen mehrfache Variationen der Theorie der ästhetischen Einstellung, so dass man in der Regel von „Theorien“ der ästhetischen Einstellung spricht. Unter diesen Theorien dürften die von Bullough und von Stolnitz als bedeutendste Vertreter gelten. Der Kern der Theorien der ästhetischen Einstellung, falls eine Gemeinsamkeit überhaupt zu finden ist,15 kann ungefähr auf folgende Weise formuliert werden: Eine Erfahrung ist ästhetisch, wenn sie in der ästhetischen Einstellung erlebt wird. Dies kann wiederum auf folgende Weise erläutert werden: Wenn man in einer eigentümlichen Einstellung, nämlich der ästhetischen Einstellung, den Gegenstand betrachtet, gelangt man entsprechend zu einer eigentümlichen Erfahrung, nämlich der ästhetischen. Bezüglich der ästhetischen Einstellung will ich in diesem Abschnitt eine Frage stellen und anhand dieser Frage Kants Besonderheit im Vergleich zu den genannten Theorien der ästhetischen Einstellung hervorheben. Die Frage lautet: Worauf bezieht sich die ästhetische Einstellung, bzw. um welches Subjekt handelt es sich bei dieser Einstellung? Ist sie eine Einstellung der Aufmerksamkeit, die zu einer besonderen Erfahrungsweise führt, oder ist sie eine Einstellung des Urteils, die zu einem unparteilichen Urteilsspruch, ob der Gegenstand schön sei, führt. Falls man von der ästhetischen Einstellung spricht, sollte man sich darüber klar
15 Zur näheren Klassifizierung und Zusammenfassung der Theorien der ästhetischen Einstellung siehe Dickie 1964, S. 56.
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werden, von welcher dieser beiden Möglichkeiten die Rede ist. Die sogenannte ästhetische Einstellung kann meines Erachtens zwei verschiedene Zusammenhänge betreffen, so dass zwei verschiedene Begriffe im Ausdruck „ästhetische Einstellung“ verborgen sind. Einer der zwei Zusammenhänge wird von Kant in § 2 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft folgendermaßen beschrieben: Nun will man aber, wenn die Frage ist, ob etwas schön sei, nicht wissen, ob uns oder irgend jemand an der Existenz der Sache irgend etwas gelegen sei, oder auch nur gelegen sein könne; sondern, wie wir sie in der bloßen Betrachtung (Anschauung oder Reflexion) beurteilen. [...] Man will nur wissen, ob die bloße Vorstellung des Gegenstandes in mir mit Wohlgefallen begleitet sei, so gleichgültig ich auch immer in Ansehung der Existenz des Gegenstandes dieser Vorstellung sein mag. (§ 2, 204-5)
Die Interesselosigkeit bezieht sich hier auf die Beantwortung der Frage, ob etwas schön sei oder nicht. Um diese Frage zu beantworten, sollte man die Rücksicht auf die Interessen ausschalten und ausschließlich erwägen, ob ich an der bloßen Vorstellung des Gegenstandes ein Wohlgefallen finde. Es geht hier um eine Abstrahierung im Urteil: Es kann sein, dass die Existenz des Gegenstandes mir sehr gelegen ist; trotzdem schalte ich in meinem Urteil diesen Gesichtspunkt gänzlich aus. Einen zweiten Zusammenhang der ästhetischen Einstellung findet man bei den Theorien der ästhetischen Einstellung im 20. Jahrhundert. Sie verstehen die Interesselosigkeit in der Regel nicht als eine Abstrahierung im Urteil, sondern als einen tatsächlich vorhandenen Gemütszustand. Sie meinen, dass dieser eigentümliche Gemütszustand einen Zugang zu einer eigentümlichen Erfahrungsweise erschließt. Der Kürze halber nenne ich die Interesselosigkeit im ersten Zusammenhang die Einstellung des Geschmacksurteils und die im zweiten Zusammenhang die Einstellung der ästhetischen Erfahrung. Bei diesen Theorien der ästhetischen Einstellung ist die ästhetische Einstellung im Sinne einer Art von mode of attention gemeint. Schon Bullough, der die Diskussion um die ästhetische Einstellung im 20. Jahrhundert begonnen hat, spricht von attention als dem Bezugspunkt der Einstellung: „the ‘attention’ to the features objectively consituting the phenomenon“ (1912, S. 88). Bei Stolnitz ist es ebenfalls so: „a certain mode of attention is indispensible to and distinctive of the perception of beautiful things“ (1961, S. 131). Diesbezüglich beruft er sich sogar auf Kant: „We meet it in Kant, Schopenhauer, Croce, Bergson“ (ebd.). Der Hauptvertreter gegen die Theorien der ästhetischen Einstellung, George Dickie, der die ganze Rede von der ästhetischen Einstellung als Mythos entblößen
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will, analysiert und widerlegt ebenfalls die Einstellung der Aufmerksamkeit: „In general, I conclude that ‘disinterestedness’ or ‘intransitiveness’ cannot properly be used to refer to a special kind of attention“ (1964, S. 60). Bei der aesthetic attitude as a mode of attention ist die Aufmerksamkeit (attention) in einem schlichten Sinn gemeint: Die geistige Aufnahmefähigkeit richtet sich in einer spezifisch ästhetischen Weise auf den Gegenstand und demzufolge entsteht die ästhetische Erfahrung. In diesem Modus der Einstellung ist die ästhetische Erfahrung das, was aus der Einstellung resultiert; dabei spielt die Einstellung im Sinne einer Art der Aufmerksamkeit die entscheidende Rolle für die Entstehung der ästhetischen Erfahrung: Sie vermittelt nämlich zwischen der ästhetischen Erfahrung und den Eigenschaften des Gegenstandes. Die Theorie von Bullough kann uns hier als ein Beispiel zur Erläuterung dienen, was es heißt, dass in jenen Theorien die ästhetische Einstellung als Modus der Aufmerksamkeit fungiert. Nach ihm hindern uns Affektionen und pragmatische Interessen bzw. „our practical, actual self“ daran, den Gegenstand objektiv, d.h. ihn in seiner eigentlichen Erscheinung als solcher, zu betrachten. Wenn man aber gelegentlich, bei manchem günstigen Anlass die Aufmerksamkeit auf die Eigenschaften, die objektiv die Phänomene ausmachen, richtet, könnte die Erscheinung des Gegenstandes sich in dem Maß drastisch verwandeln, dass ein in der Regel Ungefälliges oder Banales zu einem Gefälligem wird. Der Seenebel z. B. bedeute für die meisten Schiffspassagiere eine Erfahrung der akuten Ungefälligkeit, weil er unsichtbare Gefahren birgt und die nervende Sirene sowie eine heftige Taktik der Seeleute zur Folge hat. Wenn aber alle Interessen ausgeschaltet werden, oder nach Bulloughs Wort: wenn man sich in einer „psychischen Distanz“ zur Umgebung befindet, könnte die Erscheinung des Seenebels in dessen Halbtransparenz, die die Profile aller Sachen verwischt, sich plötzlich, wie es in manchem günstigen Augenblick passiert, zu etwas Verwunderlichem, Anmutigem werden. Nachdem Sorgen und Erwartungen suspendiert werden, kommt die bloße Erscheinung des Gegenstandes, wie sie ist, was im pragmatischen Leben oft übersehen wird, zur Geltung; z. B. können Farben und Gerüche jetzt in vollem Maß auf den Betrachter einwirken. Dieses Sich-Zeigen des eigentlichen Gesichts eines Gegenstandes beinhaltet nach Bullough einen ästhetischen Wert. Die Einstellung des ästhetischen Urteils ist anders. Sie bezieht sich nicht direkt auf die ästhetische Erfahrung, sondern auf das reine ästhetische Urteil. Die Einstellung im Rahmen des ästhetischen Urteils und diejenige ohne diesen Rahmen, nämlich ein Modus der Aufmerksamkeit bloß zur ästhetischen Erfahrung, sind voneinander doch wesentlich verschieden. Die Theorie Bulloughs unterscheidet sich vom Projekt Kants vor allem darin, dass bei Bullough die
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Distanz des Betrachters vom Gegenstand eine psychische ist, und dass bei ihm zwischen dem ästhetischen Wohlgefallen und der distanzierten Betrachtung keine Beurteilung vermittelt, während sich bei Kant alles um das Urteil des Geschmacks dreht. Eine Ursache solcher Verschiedenheit zwischen Kant und Bullough liegt darin, dass es bei Bullough nicht so etwas wie das Urteil und den Bestimmungsgrund des Urteils gibt, wodurch gefiltert werden kann, welches Wohlgefallen dem Geschmacksurteil zugehört und welches nur daran angehängt ist. Mit dem bloßen Modus einer Aufmerksamkeit, der unvermittelt zu einer ästhetischen Erfahrung führen kann, ist eine gewisse passive Beziehung des Subjekts zum Gegenstand verbunden: Nach der Beschreibung der Theorien der ästhetischen Einstellung bedarf die Erscheinung des Gegenstandes, die da vorhanden liegt, nichts anderes als lediglich einer Aufmerksamkeit des Subjekts, um im vollen Maß wahrgenommen zu werden, wobei es die Selektivität und Kalkulation des alltäglichen praktischen Interesses ist, die die vollständige Wahrnehmung der Erscheinung verhindert hat. Die hier betreffende ästhetische Einstellung beinhaltet zwar auch eine Spontaneität, sofern das Subjekt die Interessen ausschaltet und die Vorstellung des Gegenstandes in vollem Maße auf sich einwirken lässt; die ungehinderte vollständige Wahrnehmung des Gegenstandes ist aber ein vollständig passives Geschehen: Was das Subjekt leistet, ist bloß die Ausschaltung der subjektiven Faktoren, damit der Gegenstand so erscheine, wie er für sich eigentlich ist. Ein Vorzug, den diese Unterscheidung zwischen Urteilseinstellung und bloßer Aufmerksamkeitseinstellung mit sich bringt, liegt darin, dass die erstere gegenüber Dickies Angriff auf den Begriff „ästhetische Einstellung“ besser gewappnet ist. Dies ist der Inhalt des nächsten Unterabschnitts.
3.2.2 Rechtfertigung der Kantischen Interesselosigkeit vor Dickies Angriff auf Theorien der ästhetischen Einstellung Der Begriff ästhetische Einstellung hat zwar einen festen Status in jedem Lehrbuch der Ästhetik. Seit Jahrzehnten aber, insbesondere durch die kritischen Prüfungen der Analytischen Philosophie, wird dieser Begriff in Zweifel gezogen. Unter den Kritiken zählt George Dickies The Myth of the Aesthetic Attitude (1964) zu den maßgeblichsten. Der Begriff ästhetische Einstellung wurde so massiv angegriffen, dass nicht nur seine Gültigkeit, sondern auch seine Verständlichkeit fragwürdig geworden ist. Diese Situation führte in den letzten Jahrzehnten zu einem Abebben der Diskussion über die ästhetische Einstellung (siehe Kemp 1999, S. 392).
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Nach Dickie ist schon der Ausdruck „disinterested attention“ selbst problematisch. Es lässt sich nach ihm zwar zwischen intensiver und nicht intensiver, oder zwischen abgelenkter und nicht abgelenkter Aufmerksamkeit, aber nicht sinnvollerweise zwischen uninteressierter und interessierter Aufmerksamkeit unterscheiden. There is only one way to listen to (to attend to) music, although the listening may be more or less attentive and there may be a variety of motives, intentions, and reasons for doing so and a variety of ways of being distracted from the music. (Dickie 1964, S. 58)
Was man mit dem Ausdruck „Uninteressierte Aufmerksamkeit“ ausdrücken will, ist in der Tat bloß die nicht abgelenkte Aufmerksamkeit, während „interessierte Aufmerksamkeit“ Nicht-Konzentriertheit, bzw. Unaufmerksamkeit meint. Im Fall der sogenannten interessierten Aufmerksamkeit richtet sich die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Sache, sondern auf das Interesse, so dass es sich in der Tat um eine abwesende Aufmerksamkeit handelt. Von daher kann es, so Dickie, eine spezifisch ästhetische Aufmerksamkeit, die sich von anderen Modi der Aufmerksamkeit durch Uninteressiertheit prinzipiell unterscheidet, nicht geben. Attending to an object, of course, has its motives but the attending itself is not interested or disinterested according to whether its motives are of the kind which motivate interested or disinterested action (S. 60).
Dickie zieht daraus den Schluss, dass die ästhetische Einstellung, die sich durch Uninteressiertheit von anderen Einstellungen unterscheidet, ein bloßer Mythos, d.h. eine Illusion ist. Dickies Einsicht besteht vor allem darin, dass durch bloße Aufmerksamkeit und deren verschiedene Motivationen die ästhetische Erfahrung sich von einer anderen Erfahrungsweise nicht prinzipiell unterscheiden lässt. Motivationen können zwar zur Ablenkung oder Konzentration der Aufmerksamkeit führen, woraus sich aber keine spezifisch ästhetische Erlebnisqualität, die sich vom normalen Erlebnis prinzipiell unterscheidet, herleiten lässt. Aus der Kantischen Perspektive ist Dickies Argument ebenfalls Recht zu geben: Das Urteil über das Schöne kann durch verschiedene Interessen, wie z. B. das Interesse der Geselligkeit, veranlasst werden; Interessen müssen dieses Urteil aber nicht beeinflussen; sofern das Wohlgefallen, das als Bestimmungsgrund des Urteils fungiert, interesselos ist, bleibt das ästhetische Urteil rein. Meines Erachtens gilt Dickies Angriff auf die Konzeption der ästhetischen Einstellung nur für die von mir oben genannte Einstellung der ästhetischen Erfahrung, die tatsächlich als Mythos zu entblößen ist. Übertrieben ist seine Behauptung, die ästhetische Einstellung überhaupt sei ein Mythos. Denn es kann noch auf eine
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andere Weise eine ästhetische Einstellung geben, nämlich die Einstellung des ästhetischen Urteils, wie bei Kant. Hier will ich nachdrücklich darauf hinweisen, dass auch Dickie selber einen möglichen Raum für meine Behauptung implizit offen gelassen hat: In general, I conclude that ‚disinterestedness‘ or ‚intransitiveness‘ cannot properly be used to refer to a special kind of attention. ‚Disinterestedness‘ is a term which is used to make clear that an action has certain kinds of motives. Hence, we speak of disinterested findings (of boards of inquiry), disinterested verdicts (of judges and juries) and so on. (S. 60)
Hier billigt Dickie der Rede von disinterested verdicts (of judges and juries) im alltäglichen Sprachgebrauch ein Recht zu, während er die Rede von der Uninteressiertheit als „a special kind of attention“ ablehnt. So lässt Dickie, wie das Zitat zeigt, einen Raum für die Rede von der uninteressierten Rechtsprechung der Richter oder der Jury als möglich offen. Auch Dickie gibt zu, wie das Zitat zeigt, dass ein Urteil bzw. eine Beurteilung uninteressiert sein kann: „disinterested findings (of boards of inquiry), disinterested verdicts (of judges and juries) and so on“. Es gibt jedoch nicht nur in der Jurisprudenz Urteil und Beurteilung, sie bestehen auch im Bereich des Geschmacks. Urteile lassen sich im Hinblick darauf, ob sie interessiert oder uninteressiert sind, voneinander unterscheiden, und zwar nicht nur, wie Dickie anführt, in der Jurisprudenz, sondern auch im Geschmacksurteil. Aufmerksamkeiten lassen sich dadurch, ob sie mit Interessen behaftet sind, nicht sinnvollerweise unterscheiden, wie Dickie überzeugend aufzeigt; beim Urteil verhält es sich aber nicht so. Beim Geschmacksurteil lässt sich schon sinnvollerweise unterscheiden, ob es uninteressiert oder mit Interesse behaftet ist.
4 Die Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Erhabenen Interesselos ist nach Kant nicht nur das Urteil über das Schöne, sondern auch das Urteil über das Erhabene. Von daher ist Interesselosigkeit eine generelle Eigenschaft alles Urteils der ästhetischen Urteilskraft. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene in groben Zügen beschrieben. Im zweiten Abschnitt wird sie im Hinblick auf ihren Bezug zum Begriff Kontemplation und Rührung näher betrachtet. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt in der Diskussion des dritten Abschnitts: Inwiefern ist das Urteil über das Erhabene ein reines ästhetisches Urteil, wie Kant es bezeichnet? Das Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung der Vernunft macht, so scheint es, einen wesentlichen Bestandteil der Beurteilung über das Erhabene aus, und das Wohlgefallen am Erhabenen kommt von diesem Bewusstsein her. Es stellen sich deshalb die Fragen: Ist das Wohlgefallen an der Verwirklichung der übersinnlichen Bestimmung der Vernunft nicht ein Interesse? Ist das Wohlgefallen am Erhabenen nicht deshalb mit Interesse behaftet? Um diese Probleme zu lösen, habe ich zwei mögliche Lesarten konstruiert. In der Erwägung dieser zwei Lesarten werde ich versuchen, die Kantische These der Interesselosigkeit so weit wie möglich zu rechtfertigen. Die Erwägung führt zuletzt aber zu einem offenen Ergebnis.
4.1 Die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene und ihre Begründung Gemäß der Analytik des Schönen bezeichnen Angenehm, Gut und Schön „drei verschiedene Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust, in Beziehung auf welches wir Gegenstände oder Vorstellungsarten von einander unterscheiden“ (§ 5, 209 f.). Dieses Modell der Dreiteilung – nach der Analytik des Schönen gibt es drei, und nur diese drei Arten von Gegenständen und Vorstellungsarten (vgl. den letzten Absatz in § 2 und auch den Titel vom § 5: „Vergleichung der drei spezifisch verschiedenen Arten des Wohlgefallens“) – ist wohl eine Ursache dafür, dass manche Literatur ein verengtes Verständnis von der Kantischen Interesselosigkeit hat: Sie bezieht die Interesselosigkeit einseitig auf das Geschmacksurteil und übersieht, dass das Urteil über das Erhabene
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Die Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Erhabenen
auch interesselos ist16. In der Analytik des Erhabenen wird das Modell der Dreiteilung zu einer Vierteilung verändert. Jetzt stehen das Angenehme, das Gute, das Schöne und das Erhabene nebeneinander: In Beziehung auf das Gefühl der Lust ist ein Gegenstand entweder zum Angenehmen, oder Schönen, oder Erhabenen, oder Guten (schlechthin) zu zählen (iucundum, pulchrum, sublime, honestum) (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 266).
Die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene bzw. die Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Erhabenen wird mehrmals zum Ausdruck gebracht. Hierzu einige Belege: 1) „Denn als Urteil der ästhetischen reflektierenden Urteilskraft, muss das Wohlgefallen am Erhabenen eben sowohl als am Schönen […] der Qualität nach ohne Interesse sein“ (§ 24, 247). 2) In der mathematischen und in der dynamischen Erhabenheit, wo die Bewegung des Gemüts „durch die Einbildungskraft entweder auf Erkenntnis- oder auf das Begehrungsvermögen bezogen“ wird, ist „die Zweckmäßigkeit der gegebenen Vorstellung nur in Ansehung dieser Vermögen (ohne Zweck oder Interesse) beurteilt“ (§ 24, 247). 3) „Weil alles, was der bloß reflektierenden Urteilskraft ohne Interesse gefallen soll, in seiner Vorstellung subjektive und als solche allgemeingültige Zweckmäßigkeit bei sich führen muss“ (§ 26, 253). Aus den obigen Zitaten ist ersichtlich, dass die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene eine These ist, die Kant unter dem Blickwinkel der generellen ästhetischen Urteilskraft aufstellt. Das heißt, eben als Urteil der ästhetischen reflektierenden Urteilskraft ist das Urteil über das Erhabene interesselos. So wie unsere Erforschung des Grundes der Interesselosigkeit des Geschmacksurteils nicht beim Geschmacksurteil aufhören darf, sondern hindurch dringen und zur Ebene der ästhetischen Urteilskraft gelangen soll, so soll auch die Suche nach dem Grund der Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Erhabenen ebenfalls auf die Ebene der ästhetischen Urteilskraft emporgehoben werden. Denn die Beschaffenheit der ästhetischen Urteilskraft ist der gemeinsame Grund der Interesselosigkeit sowohl im Fall der Schönheit als auch im Fall der Erhabenheit.
16 Das maßgebliche Lexikon „Ästhetische Grundbegriffe“ (6 Bände) kann als ein Beispiel bzw. Zeichen dieses Zustandes gelten. Unter dem Artikel „Interesse / interessant“ widmet es ca. drei Seiten dem Abschnitt: „Uninteressiertes Wohlgefallen: Kant“ (Band 3, S. 156 ff.), in dem die Erhabenheit gar nicht erwähnt wird.
Die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene und ihre Begründung
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Dass die ästhetische Urteilskraft in der Lage ist, ohne Interesse zu verfahren, d.h. dass sie unabhängig vom Begehrungsvermögen eine Lust oder Unlust hervorbringen kann, lässt sich aus ihrer Leistung, dem reinen ästhetischen Urteil, ersehen. Durch das Attribut „rein“ ist das reine ästhetische Urteil vom empirischen ästhetischen Urteil, das auf Sinneninteressen beruht, abgegrenzt; durch „ästhetisch“ ist es wieder von dem zwar reinen, aber intellektuellen Urteil, das ein moralisches Interesse hervorbringen kann, abgetrennt. Von daher hängt „reines ästhetisches Urteil“ begrifflich mit der Interesselosigkeit zusammen. In der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ist die Interesselosigkeit der ästhetischen Urteilskraft nicht das letzte Ergebnis, sondern ein Zwischenschritt: Sie ist eines der Ergebnisse der Exposition der ästhetisch reflektierenden Urteile und führt zum Kern der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, nämlich wie ein reines ästhetisches Urteil möglich ist. Im folgenden Zitat vergleicht Kant das Schöne und das Erhabene in Hinblick auf das Interesse: Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, dass es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt. (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 267)
Bei diesem Zitat verhält es sich nicht so, dass die Erhabenheit im Hinblick auf Interesselosigkeit einen Gegenpol zur Schönheit ausmacht und Kant so seine zuvor aufgestellte These, dass das Wohlgefallen am Erhabenen ohne Interesse ist, jetzt aufgibt. Die These der Interesselosigkeit erfährt beim Urteil über das Erhabene vielmehr eine Steigerung: Das Wohlgefallen am Erhabenen geht über die Interesselosigkeit hinaus und befindet sich nun im Widerstand gegen das Interesse der Sinne. Bei Schönheit macht „ohne alles Interesse“ die Wesensbestimmung, nicht den Grund des betreffenden Wohlgefallens aus. Bei Erhabenheit aber wird „Widerstand gegen das Interesse der Sinne“ zum Grund des Wohlgefallens. Dies kennzeichnet Kant mit dem Wort „durch“: „E r h a b e n ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“. Die Wechselwirkung zwischen dem Interesse der Sinne und dem Widerstand gegen dieses Interesse macht die Dynamik aus, aus der das Wohlgefallen am Erhabenen entsteht. Mit „Interesse der Sinne“ meint Kant im Fall des Mathematisch-Erhabenen wohl eher das Interesse der Einbildungskraft: Die Aufgabe der Einbildungskraft, die Vorstellungen des Gegenstandes zu einer Totalität zu synthetisieren, sei hoffentlich nicht zu schwer. Im Fall des Dynamisch-Erhabenen besteht das Interesse der Sinne wohl darin, dass wir uns in
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„Sicherheit“ befinden (§ 28, 261). Der Widerstand gegen das Interesse der Sinne kommt vom folgenden Grund her: Es ist nämlich für uns Gesetz (der Vernunft) und gehört zu unserer Bestimmung, alles, was die Natur als Gegenstand der Sinne für uns Großes enthält, in Vergleichung mit Ideen der Vernunft für klein zu schätzen (§ 27, 257).
Man kann interpretatorisch wohl Folgendes ausdrücken: Im Widerstand gegen das „Interesse der Sinne“ wird das Interesse der Vernunft gesichert. Die Interesselosigkeit des Urteils über das Erhabene, die Kant behauptet, bezieht sich eher auf das Objekt: nämlich dass wir „am Objekt gar kein Interesse haben“ (§ 25, 249). Wie verhält sich das Interesse der Vernunft an ihrer eigenen übersinnlichen Bestimmung, d.h. das Wohlgefallen der Vernunft an der Verwirklichung ihrer eigenen übersinnlichen Bestimmung, zum Wohlgefallen am Erhabenen? Hat das Interesse der Vernunft für ihre eigene übersinnliche Bestimmung doch einen Bestandteil am Urteil über das Erhabene? Das werde ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels diskutieren. Hier noch eine Bemerkung zum Interesse der Sinne und dem Widerstand gegen es: Nicht nur bei der Schönheit, sondern auch bei der Erhabenheit handelt es sich um „das subjektive Spiel der Gemütsvermögen“ (§ 27, 258), hier aber um ein Spiel, das sich gerade durch den „Kontrast“ zwischen Einbildungskraft und Vernunft als „harmonisch“ zeigt, indem die „subjektive Zweckmäßigkeit der Gemütskräfte“ gerade durch den „Widerstreit“ beider dargestellt wird (§ 27, 258). Sowohl das Interesse der Sinne als auch der Widerstand gegen dieses Interesse bezieht sich bloß auf das „Spiel“ anstatt auf das „Geschäft“ der Gemütsvermögen (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 268). Das heißt, mit dem Widerstand gegen das Interesse der Sinne erweist sich das Subjekt nicht wirklich als sittlich. Es handelt sich bei der Kontemplation über das Erhabene nur um ein Spiel der Gemütsvermögen, „die echte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen“ ist nur in der Handlung zu finden (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 268).
4.2 Kontemplation und das Erhabene Um die Interesselosigkeit des reinen ästhetischen Urteils zum Ausdruck zu bringen, gebraucht Kant in der Kritik der Urteilskraft die Formulierung Kontemplation. Schon im lateinischen Contemplatio sind die zwei Bedeutungselemente: 1) Betrachtung, Anschauung und 2) in sich gekehrt, tatenlos, enthalten,
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die dem Wesen des reinen ästhetischen Urteils bei Kant entsprechen: 1) das Urteil bezieht sich auf die Anschauung und basiert nicht auf Begriffen; 2) dieses Urteil und das Begehrungsvermögen sind voneinander unabhängig. Deshalb kommt der Ausdruck Kontemplation Kant zur Beschreibung der Interesselosigkeit der ästhetischen Betrachtung besonders entgegen und wird als Gegensatz zu „praktisch“ gebraucht. Kontemplativ ist nicht nur das Geschmacksurteil, sondern auch das Urteil über das Erhabene: Die Lust am Erhabenen spricht Kant einmal als „Lust der vernünftelnden Kontemplation“ an (§ 39, 292). Indem der Begriff Kontemplation sowohl der Schönheit als auch der Erhabenheit zugeschrieben wird, tritt eine Gemeinsamkeit von beidem im Hinblick auf die Interesselosigkeit hervor. Zugleich aber lässt der Ausdruck „vernünftelnde Kontemplation“ auch den Unterschied zwischen beidem erkennen: Die Kontemplation am Erhabenen ist eine vernünftelnde, indem ihr das Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung zugrunde liegt, während die Lust am Schönen nicht eine Lust „der vernünftelnden Kontemplation nach Ideen, sondern der bloßen Reflexion“ ist (ebd.). An einer anderen Stelle stellt Kant der „Bewegung des Gemüts“ bei der Kontemplation am Erhabenen die „ruhige Kontemplation“ am Schönen gegenüber (§ 24, 247): Durch „bewegt“ und „ruhig“ werden die verschiedenen Arten der Stimmung des Gemüts zum Ausdruck gebracht. Im Gegensatz zur ruhigen Kontemplation am Schönen, handelt es sich gegenüber dem Erhabenen um eine Kontemplation mit Bewegung des Gemüts. Mit der „Bewegung des Gemüts“ ist noch der Begriff „Rührung“ verbunden. Rührung ist bei Kant „eine Empfindung, wo Annehmlichkeit nur vermittelst augenblicklicher Hemmung und darauf erfolgender stärkerer Ergießung der Lebenskraft gewirkt wird“ (§ 14, 226). Kant ist der Ansicht, dass das Gefühl der Rührung mit der Erhabenheit „verbunden“ ist, während es „gar nicht zur Schönheit“ „gehört“ (§ 14, 226). Jedoch ist Rührung nicht immer mit dem Gefühl des Erhabenen gleichzusetzen. Denn Rührung ist letztlich nur eine Empfindung; wenn stürmische Gemütsbewegungen „auf die Ehre einer erhabenen Darstellung Anspruch machen“, können sie nicht bloß pathologisch zweckmäßig sein, „sonst gehören alle diese Rührungen nur zur Motion, welche man der Gesundheit wegen gerne hat“ (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 273). Nur diejenige Rührung, die den Anstoß zum Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung der menschlichen Vernunft gibt, kann als das Gefühl des Erhabenen bezeichnet werden. Die Rührung und „die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer“ (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 269), ist
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zwar für das Gefühl des Erhabenen charakteristisch. Sie muss sich aber noch mit etwas Gegensätzlichem verbinden, damit das Wohlgefallen am Erhabenen möglich wird: Die erregte Bewegung des Gemüts muss sich „mit dem Ruhestande desselben“ verbinden, um „so der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns […] überlegen zu sein“ (ebd.). An einer Stelle, wo Kant die „Idee der Erhabenheit einer Religion“ erläutert, drückt er es so aus: „um die göttliche Größe zu bewundern“, ist „eine Stimmung zur ruhigen Kontemplation und ganz freies Spiel erforderlich“ (§ 28, 263). Wenn ein Mensch sich vor Gott wirklich fürchtet, ist das noch keine „Ehrfurcht für das Erhabene, sondern Furcht und Angst vor dem übermächtigen Wesen“ (§ 28, 264). „Ruhestand des Gemüts“ und „ruhige Kontemplation“ bildet also nicht nur einen Gegensatz zur Gemütsverfassung des Erhabenen, sie macht vielmehr mit der Bewegung des Gemüts zusammen die Gemütsverfassung des Erhabenen aus. Als ein Erhabenes ist die mächtige Natur furchterregend; der Urteilende kann sich vor der Natur jedoch nicht wirklich fürchten: Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urteilen, so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, über das Schöne (§ 28, 261).
Wenn ein Mensch „durch Neigung und Appetit eingenommen ist“, ist seine Fähigkeit zum reinen Geschmacksurteil durch intensive Interessen stark beeinträchtigt. In diesem Fall ist er nicht mehr in der Lage, ein Geschmacksurteil sachgemäß zu fällen. In ähnlicher Weise macht die Furcht eine Beurteilung über das Erhabene nicht mehr möglich. Denn die Furcht erschüttert die Gleichgültigkeit des Urteilenden gegenüber der Realität, die zu einem reinen ästhetischen Urteil nötig ist: „es ist nicht möglich, an einem Schrecken, der ernstlich gemeint wäre, Wohlgefallen zu finden“ (§ 28, 261). Furcht steht in einem gewissen Sinn im Gegensatz zum Interesse: Interesse ist ein Wohlgefallen an der Existenz eines Gegenstandes; Furcht ist aber eine Spielart des Missfallens an der Existenz dieses Gegenstandes, und wenn man sich vor einem Gegenstand fürchtet, will man ihn fliehen. Furcht kann deshalb als eine Art des negativen Interesses bezeichnet werden. Dass die Natur als ein dynamisch-erhabener Gegenstand sich als furchtbar darstellt, dass sie aber dem Urteilenden nicht mit wirklicher Gefahr drohen darf, wenn ein Urteil über das Erhabene noch überhaupt möglich sein sollte, lässt sich als ein Aspekt der Interesselosigkeit des Wohlgefallens am Erhabenen ansehen: Die Gleichgültigkeit des Urteilenden gegenüber der Realität, nämlich die Interesselosigkeit, bedingt nicht nur das Geschmacksurteil, sondern auch das Urteil über das DynamischErhabene.
Das Wohlgefallen am Erhabenen: Zwei Lesarten
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4.3 Das Wohlgefallen am Erhabenen: Zwei Lesarten Dass Kant auf die Frage, ob das Urteil über das Erhabene ein reines ästhetisches Urteil sein kann, eine eindeutig positive Antwort gibt, können folgende Zitate belegen: 1) „Allein das Erhabene der Natur – wenn wir darüber ein reines ästhetisches Urteil fällen, welches nicht mit Begriffen von Vollkommenheit als objektiver Zweckmäßigkeit vermengt ist ...“ (§ 30, 279); 2) „dass, wenn das ästhetische Urteil rein (mit keinem teleologischen als Vernunfturteile vermischt) und daran ein der Kritik der ästhetischen Urteilskraft völlig anpassendes Beispiel gegeben werden soll, man nicht das Erhabene an Kunstprodukten (z.B. Gebäuden, Säulen u.s.w.) wo ein menschlicher Zweck die Form sowohl als die Größe bestimmt, noch an Naturdingen, deren Begriff schon einen bestimmten Zweck bei sich führt (z. B. Tieren von bekannter Naturbestimmung), sondern an der rohen Natur [...] aufzeigen müsse“ (§26, 252 f.); 3) „Ein reines Urteil über das Erhabene aber muss gar keinen Zweck des Objekts zum Bestimmungsgrunde haben, wenn es ästhetisch und nicht mit irgend einem Verstandes- oder Vernunfturteile vermengt sein soll“ (§ 26, 253); Das Urteil über das Erhabene ist deshalb ein reines ästhetisches Urteil, weil, dies ist aus all diesen Zitaten ersichtlich, kein bestimmter Begriff von dem Gegenstand – nämlich was der „Zweck“ des Gegenstandes ist bzw. worin die Vollkommenheit des Gegenstandes besteht – dem Urteil zugrunde liegt. Wenn ein solcher Begriff zugrunde liegt, handelt es sich dann, anstatt um ästhetische, um „Verstandes- oder Vernunfturteile“, und anstatt um eine subjektive, um eine „objektive Zweckmäßigkeit“ des Gegenstandes. Das Problem ist aber, dass „Achtung für unsere eigene Bestimmung“ eigentlich ein Wohlgefallen ist, das auf der Idee der übersinnlichen Bestimmung beruht und deshalb mit dem moralischen Interesse, und genauer dem Interesse an der Verwirklichung der übersinnlichen Bestimmung, verbunden ist. Im Zusammenhang des Mathematisch-Erhabenen, und zwar um die „Qualität des Wohlgefallens“ am Erhabenen zu erörtern, erläutert Kant in § 27 den Begriff „Achtung“ und legt das Gefühl des Erhabenen als „Achtung für unsere eigene Bestimmung“ aus. (Diese Bestimmung des Gefühls des Erhabenen als Achtung gilt aber auch für das Dynamisch-Erhabene, vgl. § 28, 263). Wie kann Kant das Wohlgefallen am Erhabenen als Achtung auslegen und zugleich auf dem ästhetischen Charakter dieses Wohlgefallens bestehen? Es ist für das Anliegen der vorliegenden Arbeit wichtig, klar zu stellen, worin das Wohlgefallen am Erhabenen eigentlich besteht. Kommt es vom Bewusstsein
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von der menschlichen übersinnlichen Bestimmung her, wobei dieses Bewusstsein auf die Natur übertragen wird, so dass der Naturgegenstand zum Gegenstand des Wohlgefallens wird? In diesem Fall würde die Lust am Erhabenen nur eine abgeleitete Form des moralischen Gefühls sein und eine intellektuelle, d.h. begriffliche Quelle haben. Oder hat das Wohlgefallen am Erhabenen eher eine eigene Basis, nämlich dass es aus dem Spiel der Vernunft mit der Einbildungskraft resultiert? In diesem Fall würde die Lust am Erhabenen eine ästhetische Vorstellung von dem „harmonischen“ Spiel der Einbildungskraft und der Vernunft sein und daher eine pur ästhetische Quelle haben. Mit anderen Worten, es bestehen für die Interpretation zwei Optionen: Das Wohlgefallen am Erhabenen hat entweder einen intellektuellen Grund: Ein Interesse an der objektiven Gültigkeit der Ideen, das dem Moralbewusstsein entstammt, wird durch ein (vielleicht psychologisches) Verfahren der sogenannten Übertragung auf den Gegenstand projiziert; oder die Struktur des Wohlgefallens am Erhabenen steht bloß analog zum moralischen Gefühl und hat einen eigenen Entstehungsmechanismus, der im „harmonischen“ Spiel der Vernunft mit der Einbildungskraft besteht. Wenn man die erste Lesart akzeptiert, so ist das Urteil über das Erhabene in zwei Schritte zu zerlegen. Nehmen wir hier das Mathematisch-Erhabene als Beispiel: Im ersten Schritt ist die Einbildungskraft, gefordert durch die Vernunft mit ihrer Idee der Totalität, bestrebt, den Gegenstand als ein Ganzes aufzufassen; das Auffassen ergibt sich aber als sehr anspruchsvoll und ein Missfallen entsteht. Es ist der ästhetische Gebrauch der Urteilskraft, der für diesen Schritt zuständig ist. Im zweiten Schritt wird die subjektive Schwierigkeit der kontinuierlichen Auffassung des Gegenstandes durch ein Verfahren der Projektion zur Darstellung der übersinnlichen Bestimmung, wobei sich das Missfallen in Wohlgefallen verkehrt. In diesem zweiten Schritt spielt das Bewusstsein von der menschlichen übersinnlichen Bestimmung und mithin das Denken eine entscheidende Rolle. Was für diesen zweiten Schritt verantwortlich ist, ist nicht mehr die ästhetische Urteilskraft, sondern eine Reflexion darüber, was die ästhetische Urteilskraft im genannten ersten Schritt leistet. Diese Reflexion sowie die Umkehr des Missfallens zum Wohlgefallen und das Bewusstsein von Ideen, das alles ist von intellektueller Art. Hier wird der Rahmen des reinen ästhetischen Urteils überschritten und ein Interesse ist in diesem Schritt einbezogen. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Interesse an der Existenz eines gewissen Gegenstandes auf der Welt, sondern um ein Interesse an der übersinnlichen Bestimmung des Subjekts. Wenn man diese erste Lesart zugrundelegt, handelt es sich beim Wohlgefallen am Erhabenen um kein ästhetisches Wohlgefallen mehr, es ist vielmehr ein Wohlgefallen mit intellektuellem Ursprung. Ästhetisch besteht nur ein Missfallen. Der zu beurteilende Gegenstand gibt dabei bloß eine äußere Veranlassung zum
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Bewusstsein von der menschlichen übersinnlichen Bestimmung, dieses Bewusstsein selbst basiert auf Begriffen. Die zweite Lesart enthält eine kompliziertere Beschreibung. Nach dieser Lesart bildet das Spiel der Vernunft mit der Einbildungskraft die Grundlage der ästhetischen Beurteilung, und das aus dem Spiel entstandene Wohlgefallen ist entsprechend nicht mehr eine Wirkung der bloßen Vernunft, wie im Fall des Moralbewusstseins, wo die reine Vernunft allein bestimmt. Das Wohlgefallen ist vielmehr ein Ergebnis aus dem Spiel der Erkenntnisvermögen: Das Spiel der Einbildungskraft mit der Vernunft ist zwar höchst anspruchsvoll, aber doch „harmonisch“, indem die Vernunft sich als kompetent zeigt, die Grenze der Einbildungskraft zu überschreiten, und die Einbildungskraft die Forderung der Vernunft zwar nicht gänzlich erfüllen kann, sich ihr aber vollkommen widmet. Diese zweite Lesart kann der Kantischen Behauptung, dass das Urteil über das Erhabene reines ästhetisches Urteil sei, besser entsprechen. Im Folgenden versuche ich, zuerst diese zweite Lesart konkreter darzustellen, jeweils anhand des Mathematisch-Erhabenen und des Dynamisch-Erhabenen. Zuletzt stelle ich meine Ansicht zu diesen zwei möglichen Lesarten dar. Bezüglich des Mathematisch-Erhabenen spricht Kant mehrmals vom „Denken“ der Vernunft (siehe § 26, 254-6). Es handelt sich dabei aber nicht um das Denken der Vernunft hinsichtlich ihrer eigenen übersinnlichen Bestimmung, sondern um ein Denken, das sich direkt auf die Einbildungskraft bezieht: In einer ästhetischen Größenschätzung, im Unterschied zur mathematischen Größenschätzung, dauert die Auffassung der Einbildungskraft immer fort, um eine „Zusammenfassung“ von der Anschauung des Gegenstandes zu erlangen; sie erreicht aber bald die Grenze ihrer Fähigkeit, „weil die zuerst aufgefassten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben“ (§ 26, 252). Die Vernunft ist in dieses Szenarium einbezogen, indem sie „zu allen gegebenen Größen“ „Totalität fordert“ (§ 26, 254): Alle Teilvorstellungen sollten in eine Anschauung zusammengefasst werden. Dies übertrifft den Maßstab der Einbildungskraft und führt zur Unlust seitens der Einbildungskraft. Im Fall des Dynamisch-Erhabenen stellt die Natur sich als eine Macht dar und zeigt sich als furchtbar. Die Vernunft übt jedoch eine Gewalt darüber aus, d.h. eine Macht, die dem Widerstand jener Macht überlegen ist. Diese Gewalt besteht darin, „Güter, Gesund und Leben“, sowie alles, worum wir besorgt sind, als klein anzusehen und dass wir uns vor ihnen nicht beugen dürfen, „wenn es auf unsre höchste Grundsätze und deren Behauptung oder Verlassung ankäme“ (§ 28, 262). Bezüglich dieser Kantischen Beschreibung des Dynamisch-Erhabenen ergeben sich die Fragen: Worin besteht die Tätigkeit der Einbildungskraft? Und wodurch kann sich das Gefühl des Erhabenen vom moralischen Wohlgefallen, das auf sittlichen Ideen beruht, unterscheiden? Denn Kants Beschreibung sieht
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so aus, dass die Gewalt, die die Vernunft über die Sinnlichkeit ausübt, auf dem vernünftigen Gesetz beruht und es das Interesse der Vernunft sei, das dem Interesse der Sinnlichkeit widersteht. Trotzdem findet sich beim Dynamisch-Erhabenen eine Rolle der Einbildungskraft, so dass es sich hier nun wieder, wie beim Mathematisch-Erhabenen, nicht um eine Vernunft handelt, die das Subjekt unmittelbar fordert und ihm ein Wohlgefallen erzwingt, sondern um eine Vernunft, die eine Dynamik mit der Einbildungskraft entfaltet: Die Einbildungskraft ist von der Vernunft beauftragt, „die Natur als ein Schema“ (§ 29, 265) für die sittlichen Ideen zu behandeln: Also heißt die Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zu Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung selbst über die Natur sich fühlbar machen kann. (§ 28, 262)
Mit dieser Erklärung, nämlich durch die Einbeziehung der Einbildungskraft und ihrer Leistung, der Darstellung, präsentiert Kant wieder ein Reflexionsurteil, anstatt eines moralischen Urteils. Die Beziehung zwischen Vernunft und Einbildungskraft ist als diejenige zwischen Ideen und deren Darstellung bestimmt. „Buchstäblich genommen und logisch betrachtet“, können Ideen nicht dargestellt werden (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 268). Jedoch wird das Gefühl der Unerreichbarkeit der Ideen für die Einbildungskraft selbst zur „Darstellung der subjektiven Zweckmäßigkeit unseres Gemüts im Gebrauch der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung“ (ebd.). Die oben beschriebenen zwei Lesarten können in Kants Text jeweils Unterstützung finden: Einerseits äußert Kant tatsächlich, dass wir das Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung und zugleich auch das Wohlgefallen an dieser Bestimmung auf die Natur übertragen – dies ist der Kern der ersten Lesart. Andererseits entwickelt Kant auch tatsächlich jeweils am Mathematisch-Erhabenen und Dynamisch-Erhabenen eine Konzeption des Spiels der Einbildungskraft mit der Vernunft – das ist es, worauf die zweite Lesart ihre Aufmerksamkeit richtet. Die zweite Lesart scheint zwar mehr Chancen zu haben, das Wohlgefallen am Erhabenen erfolgreich als ein ästhetisches Wohlgefallen zu erklären. Ihre Schwäche zeigt sich aber auch gerade an diesem Punkt. Kant bezeichnet das Spiel der Einbildungskraft mit der Vernunft zwar von daher als „harmonisch“ (§ 27, 258), weil dieses Spiel die subjektive Zweckmäßigkeit des Gemüts im Gebrauch der Einbildungskraft für dessen übersinnliche Bestimmung darstellt. Dieses harmonische Spiel unterscheidet sich aber wesentlich von dem Spiel der Erkenntnisvermögen an der Vorstellung des Schönen: Das Spiel dieser letzten Art hat tatsächlich eine Lust zur Folge, und diese Lust ist eine ästhetische Vorstellung von der subjektiven Zweckmäßigkeit des Gegenstandes; das Spiel der
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Erkenntnisvermögen an der Vorstellung des Erhabenen hat aber von sich aus keine Lust zur Folge, obwohl es auch ein harmonisches Spiel ist – darin liegt der Unterschied zwischen dem Erhabenen und dem Schönen. Ein Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung der Vernunft ist für die Entstehung der Lust im Fall des Erhabenen unentbehrlich. Von daher, auch wenn man in der Interpretation die Rolle des Spiels der Einbildungskraft mit der Vernunft hervorhebt, bleibt es immer noch eine Schwierigkeit oder sogar Unmöglichkeit, das Wohlgefallen am Erhabenen als ein ästhetisches Wohlgefallen zu erklären. Ästhetisches Wohlgefallen ist ein Wohlgefallen, das sich auf die Beschaffenheit der Vorstellung des Gegenstandes richtet und nicht auf Begriffen beruht. Ein solches Wohlgefallen ist nur bei der Schönheit zu finden. Jetzt versuche ich, eine Bilanz zu ziehen, aber sie kann nur eine offene Zwischenbilanz sein, da die hier entfaltete Diskussion noch nicht ausreicht, um den Charakter des Wohlgefallens am Erhabenen bei Kant festzustellen. Eventuell ist über die Kant-Interpretation hinaus noch eine sachliche Untersuchung zum Phänomen des Erhabenen nötig, um Kants Lehre des Erhabenen zu erhellen und zu bewerten. Meine momentane Bilanz lautet wie folgt: 1) Was das Erhabene betrifft, besteht in der ästhetischen Hinsicht nur ein Missfallen, kein Wohlgefallen. Das Wohlgefallen, das durch das Urteil über das Erhabene ausgedrückt wird, hat vielmehr einen intellektuellen Ursprung, der darin besteht, dass das Subjekt sich der übersinnlichen Bestimmung der Vernunft bewusst wird. Das Wohlgefallen, das mit diesem Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung verbunden ist, kommt von der Forderung der Vernunft her. 2) Wenn Kant betont, dass das Urteil über das Erhabene ein reines ästhetisches Urteil ist, richtet sich sein Augenmerk darauf, dass dem Urteil über das Erhabene kein Begriff vom Gegenstand zugrunde liegt. Von diesem Aspekt her lässt sich behaupten, dass kein Interesse am Naturgegenstand das Urteil über das Erhabene bestimmt. Es besteht jedoch ein anderer Aspekt: Ein Begriff von der übersinnlichen Bestimmung der Vernunft ist zwar kein Begriff vom Gegenstand, er ist aber zweifelsohne ein Begriff und dieser Begriff ist dem Wohlgefallen am Erhabenen unentbehrlich. Im Hinblick auf diesen Aspekt werden wir sagen, dass ein Interesse der Vernunft an der eigenen übersinnlichen Bestimmung aber doch am Urteil über das Erhabene beteiligt ist und dass gerade dieses Interesse das Wohlgefallen ausmacht, das auf den Naturgegenstand übertragen wird und von daher das Wohlgefallen am Erhabenen als Naturgegenstand bedingt. 3) Eine Interpretationsmöglichkeit, die die oben genannten Punkte 1) und 2) eventuell ungültig machen kann, besteht darin, dass im Missfallen selbst schon ein Wohlgefallen enthalten ist. Das heißt, beim Gefühl des Erhabenen
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ist das Missfallen und Wohlgefallen eigentlich eins und es muss kein psychologischer Prozess bestehen, in dem sich das Missfallen ins Wohlgefallen umkehren wird. Wenn das Missfallen mit dem Wohlgefallen eigentlich eins ist, dann ist das, was das Spiel der Einbildungskraft mit der Vernunft hervorbringt, nicht nur Missfallen, sondern auch zugleich schon Wohlgefallen. Falls es so ist, dann hat das Wohlgefallen wesentlich einen ästhetischen Charakter, obwohl es außerdem noch einen intellektuellen Bezug hat, nämlich den, dass es mit dem Bewusstsein von der übersinnlichen Bestimmung zusammenhängt. Für eine derartige Interpretation bedarf es einer Erklärung, die das Bewusstsein der übersinnlichen Bestimmung ins Spiel der Einbildungskraft mit der Vernunft so gut integrieren kann, dass dieses Bewusstsein sich nicht mehr außerhalb des Spiels befindet und nicht mehr durch eine bloße psychologische Assoziation mit dem Spiel verbunden ist, sondern dieses Bewusstsein selbst einen unentbehrlichen Bestandteil des Spiels ausmacht. Eine solche Interpretationsmöglichkeit kombiniert die oben angeführte Lesart 1 und 2 und scheint Kants These, dass das Urteil über das Erhabene ein reines ästhetisches Urteil sei, am besten rechtfertigen zu können. Zu dieser Interpretation bedarf es aber einer genaueren Beschreibung, wie das Bewusstsein der übersinnlichen Bestimmung beim Spiel der Einbildungskraft mit der Vernunft fungiert, wobei dieses Bewusstsein nicht nur auf dem Gesetz der Vernunft beruht, sondern auch selbst einen ästhetischen Quell haben sollte. Es scheint aber paradox zu sein, dass beim Erhabenen das Bewusstsein der übersinnlichen Bestimmung und somit das Wohlgefallen einen solchen Charakter der Doppelgesichtigkeit hat: Einerseits beruht Wohlgefallen auf der Idee der übersinnlichen Bestimmung und der Forderung der Vernunft, diese Bestimmung zu erfüllen; andererseits sollte es aus dem Spiel der Gemütskräfte selbst stammen, anstatt dass dieses Spiel das Subjekt bloß daran erinnere, dass es eine übersinnliche Bestimmung hat. Kants Text gibt uns, so scheint mir, nicht genug Hinweis, wie diese beiden Seiten zu vereinigen sind. Ich werde mich deshalb in dieser Arbeit mit einem vorläufigen Hinweis auf diese Interpretationsmöglichkeit begnügen. Auf die Beurteilung, ob sich diese Möglichkeit der Interpretation bestätigen lässt, werde ich in dieser Arbeit verzichten. Denn eine genauere Beschreibung, wie sich das Spiel der Gemütskräfte zum Bewusstsein der übersinnlichen Bestimmung verhält, ist für eine solche Interpretation nötig; nach meiner momentanen Studie fehlt sie aber im Text Kants.
II Interesselosigkeit, allgemeine Mitteilbarkeit und Erkenntnisvermögen
5 Die Struktur der Beurteilung: Interpretation zu § 9 5.1 Die Interpretationsschwierigkeiten von § 9 und die Relevanz dieses Paragraphen für die vorliegende Arbeit Eine Interpretation zu § 9, dessen Überschrift lautet: „Untersuchung der Frage: ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe“ (§ 9, 216), ist für jeden Versuch, die Kritik der ästhetischen Urteilskraft systematisch zu verstehen, unentbehrlich, weil es sich bei diesem Paragraphen um den „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ handelt (§ 9, 216). Aber in mehrfacher Hinsicht ist § 9 nicht leicht zu verstehen: 1) Es scheint, dass ein Circulus vitiosus bezüglich der Reihenfolge der Beurteilung des Gegenstandes und der Lust besteht. Einerseits urteilt der Geschmack durch die Lust bzw. Unlust, so dass die Lust bzw. die Unlust in gewissem Sinn eine Voraussetzung für das Geschmacksurteil ist. Andererseits behauptet Kant in § 9, dass die Beurteilung des Gegenstandes vor der Lust vorhergehen muss, denn sonst würde die Lust „keine andere als die bloße Annehmlichkeit in der Sinnenempfindung sein und daher ihrer Natur nach nur Privatgültigkeit haben können“ (§ 9, 217). 2) Es ist schwierig, das Verhältnis der in diesem Paragraphen thematisierten „Beurteilung des Gegenstandes“ zur Reflexion, die im Hinblick auf die Momente des Geschmacksurteils stattfindet, zu bestimmen. Ein Teilstück dieser letzteren Reflexion kann man in § 6 finden: Wenn der Urteilende sich bewusst wird, dass sein Wohlgefallen von Privatbedingungen frei und deshalb interesselos ist, würde er für sein Geschmacksurteil den Anspruch auf Gültigkeit für jedermann erheben (§ 6, 211 f.). 3) Ein Kernpunkt in diesem Paragraphen wird später in der Dialektik, und zwar im ebenfalls nicht leicht zu erfassenden § 57 – „Auflösung der Antinomie des Geschmacks“ – wieder aufgegriffen, so dass es schwer fällt, die architektonische Struktur der Kritik der ästhetischen Urteilskraft zu begreifen. In § 9 wird erläutert, dass die Beurteilung der Lust vorangehen muss, weil sonst das Urteil bloße Privatgültigkeit haben würde. Nach dem dritten Absatz von § 57 aber würde das Geschmacksurteil, soweit es die gegebene Vorstellung, anstatt auf einen Begriff, bloß auf die Lust und Unlust bezieht, immer noch „nur ein Privaturteil“ sein. Ich kann hier ohne Diskussion des § 9 nicht auskommen, weil das oben genannte Problem 2) und 3) jeweils § 6 und § 57 betrifft, welche beide jeweils in Kapitel 6 https://doi.org/10.1515/9783110546125-006
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Die Struktur der Beurteilung: Interpretation zu § 9
und 11 dieser Arbeit behandelt werden. Das Problem 1) betrifft die Frage, wie die Grundstruktur des Geschmacksurteils zu verstehen ist, und ist im Hinblick auf folgende Punkte für die vorliegende Arbeit wichtig: 1) Das Wohlgefallen ohne alles Interesse – ein Stichwort der vorliegenden Arbeit – wird von Kant als der Grund des Geschmacksurteils bestimmt. Es soll dabei verdeutlicht werden, was es heißt, dass das Wohlgefallen ohne alles Interesse das Geschmacksurteil „bestimmt“, bzw. was es heißt, dass der Geschmack „durch“ das Wohlgefallen ohne alles Interesse urteilt. Nur dadurch kann in einem späteren Teil meiner Arbeit diskutiert werden, ob das Interesse, das in der Dialektik durch moral-bezogene Begründung des Urteils des Schönen (und des Erhabenen) einbezogen wird, die These der Interesselosigkeit des reinen ästhetischen Urteils beeinträchtigt. 2) Kapitel 7 dieser Arbeit macht sich die Erwägung zur Aufgabe, 1. auf welcher Ebene oder welchen Ebenen in einem Geschmacksurteil sich die Interesselosigkeit befindet; 2. wie sich die Interesselosigkeit des Wohlgefallens zum freien Spiel der Erkenntnisvermögen verhält. Die Lösung dieser Probleme setzt ein Verständnis der Grundstruktur des Geschmacksurteils voraus. In § 9 findet sich eine zwar nicht ausführliche, aber tiefgründige Behandlung dieser Struktur. Meine Diskussion zu § 9 wird sich hauptsächlich um einen Punkt drehen, nämlich wie die dort thematisierte „Beurteilung“, die vor der Lust vorhergehe, zu verstehen ist. Durch philologische und argumentative Klärung dieses Problems versuche ich, sozusagen eine Synthese der Lesarten von Guyer und Ginsborg, die zueinander eigentlich einen Gegensatz bilden, anzubieten. Durch die Klärung der Frage, was die ästhetische Beurteilung des Schönen ist, lassen sich zudem auch Probleme, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit relevant sind, beantworten.
5.2 Die Interpretationen von Guyer und Ginsborg Zu § 9, dem „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ (§ 9, 216), wird von Guyer (1979) eine Interpretationsmöglichkeit entfaltet, die vielerlei Kritik hervorruft. Nach ihm sind zwei Akte der Reflexion im komplexen Prozess des Geschmacksurteils voneinander zu unterscheiden: Der erste sei das freie Spiel, und das Wohlgefallen des Schönen resultiere aus diesem freien Spiel der Erkenntnisvermögen; der zweite sei die Reflexion über „context and history of one’s own mental states“. „And it is on the basis of this reflection on one’s pleasure that a claim of taste can be erected“ (1979, S. 8). Die Kritik an dieser Interpretation konzentriert sich darauf, dass auch Guyer selbst zugesteht, dass Kants Formulierung in § 9 seiner Interpretation widerspricht.
Die Interpretationen von Guyer und Ginsborg
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Denn Kant behauptet hier anscheinend genau das Gegenteil: Nicht die Reflexion über die Lust bringt den Anspruch auf die Allgemeingültigkeit hervor, sondern die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes hat die Lust zur Folge. Der Text lautet: Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muss. (§ 9, 217)
Guyer nimmt an, dass diese Formulierung Kants eher seine frühere Ansicht widerspiegelt und seiner reifen Ansicht widerspricht. Es verwundert deshalb nicht, dass Guyers Interpretation, die eine Kernaussage Kants auf diese Weise annulliert, viel Kritik hervorgerufen hat. Hanna Ginsborg (1990; 1991; 2008) setzt sich mit Guyers Zwei-AkteInterpretation auseinander und entwickelt daraus eine eigene Lesart. Sie gibt sich mit Guyers Unterscheidung zwischen der Beurteilung, die vor der Lust vorhergeht, und der Beurteilung, die das Geschmacksurteil hervorbringt, nicht zufrieden. Nach Ginsborg handelt es sich stattdessen um einen und denselben Akt der Beurteilung, der sowohl eine Lust zur Folge hat als auch für den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit zuständig ist. Das Geschmacksurteil enthält nämlich eine Selbstbezüglichkeit: Es ist ein Urteil über die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des eigenen Gemütszustandes, wobei der betreffende Gemütszustand genau der Gemütszustand ist, in dem sich das Subjekt bei dieser Beurteilung befindet. Ginsborg selbst nennt das „an unusual and initially counter-intuitive model“ (1991, S. 292). Es handelt sich nach ihr um ein Urteil über die Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes, wobei der betreffende Gemütszustand derjenige ist, in den dieses Urteil das Subjekt hineinversetzt. Mit dieser Lesart sind eine Reihe von Problemen verknüpft: 1) Man findet schwerlich eine innere Beziehung des von Ginsborg beschriebenen Geschmacksurteils zur Form des Gegenstandes, diese letztere hat keinen substanziellen Bestandteil in Ginsborgs Version des Geschmacksurteils; 2) Man versteht schwerlich, wie es möglich ist, dass einerseits das Geschmacksurteil ein Urteil über den Gemütszustand sein soll, andererseits der Gemütszustand der ist, in den dieses Urteil das Subjekt hineinversetzt; 3) Die Lust ergibt sich nach Ginsborg als eine Folge der Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gemütszustandes. Es stellt sich entsprechend die Frage, ob die Lust, die auf der allgemeinen Mitteilbarkeit beruht, eine Lust aus dem Begriff, nämlich ein Wohlgefallen an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gemütszustandes ist; dies würde der Kantischen Ansicht, dass die Lust des Geschmacksurteils eine unmittelbare Lust an der Form des Gegenstandes sei, widersprechen.
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Ginsborgs Vorschlag ist trotzdem hilfreich. 1) Kant formuliert einmal selbst, dass die reine Urteilskraft „sich selbst subjektiv Gegenstand sowohl als Gesetz ist“ (§ 36, 288, meine Hervorhebung). Es ist Ginsborg deshalb zuzustimmen, dass im Geschmacksurteil eine selbstbezügliche Komponente enthalten ist. 2) Ginsborg weist meines Erachtens in eine richtige Richtung, nämlich dass die ästhetische Beurteilung eine Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit ist und es diese Beurteilung ist, die vor der Lust vorhergeht. Ich will aber Ginsborgs Ansicht auf folgende Weise umformulieren: Das, was beurteilt wird, ist primär nicht die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes, sondern die der Vorstellung des gegebenen Gegenstandes. Denn wenn es, wie Ginsborg formuliert, primär um die Beurteilung des Gemütszustandes geht, und der betreffende Gemütszustand wiederum der bei dieser Beurteilung ist, e ntsteht meines Erachtens ein unlösbarer Zirkel. Ginsborg meint zwar ihrerseits, dass sie diesen Zirkel auflösen kann. Ich glaube aber, dass wir eine solche unnötige Schwierigkeit tilgen können, indem wir die Sache auf eine neue Weise beschreiben. Meine Interpretationsthese bezüglich § 9 lautet: Die ästhetische Beurteilung, die in diesem Paragraphen thematisiert wird, ist primär eine ästhetische Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit der Vorstellung des gegebenen Gegenstandes; erst von dieser allgemeinen Mitteilbarkeit aus ist die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes verständlich und zu rechtfertigen. Ein entscheidender Schritt in Ginsborgs Interpretation, so formuliert sie selbst, ist der Versuch, das Wohlgefallen und das Geschmacksurteil als ein und dasselbe („one and the same“, S. 5) zu verstehen: The effect of the interpretation that I am suggesting is to collapse aesthetic response and aesthetic judgment into one another. (S. 28)
Und weiter: It makes sense, I want to suggest, to regard an aesthetic judgment, not as a claim which is made on the basis of having a certain feeling of pleasure, but simply as the experience of the pleasure itself. (S. 29)
Hierzu muss ich aber mit Nachdruck anmerken, dass nach Kant das Wohlgefallen den Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausmacht. Das Wohlgefallen, das dem Geschmacksurteil zugrunde liegt, und das Geschmacksurteil sind also voneinander prinzipiell zu unterscheiden. Ginsborgs Versuch, das Wohlgefallen und das Geschmacksurteil für dasselbe zu halten, stimmt deshalb mit Kants Ansicht nicht überein. Dieser Versuch von Ginsborg gründet jedoch auf einer wichtigen Ansicht, dass nämlich das als Bestimmungsgrund des Urteils fungierende Wohlgefallen in sich schon eine bewertende Unterscheidung enthält und
Beurteilung des Gegenstandes, anstatt Beurteilung der Lust
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in gewissem Maße ein Urteil genannt werden kann. Eine Reflexion über die ästhetische Beurteilung, und zwar im Hinblick darauf, ob das sich dabei ergebende Wohlgefallen interesselos und ob diese angeführte ästhetische Beurteilung allgemein mitteilbar sei, ist von einer anderen Art als die ästhetische Beurteilung. Dieses Thema wird aber nicht hier, sondern in Kapitel 6 behandelt werden.
5.3 Beurteilung des Gegenstandes, anstatt der Beurteilung der Lust oder des Gemütszustandes Die Kant-Interpretation beschäftigt sich schon seit langem mit der Unterscheidung zwischen Urteil und Beurteilung des Geschmacks.17 Außer dem philologischen Grund, dass Kant manchmal von Urteil, manchmal von Beurteilung spricht, besteht der Grund der Unterscheidung hauptsächlich darin, dass einerseits das interesselose Wohlgefallen das Geschmacksurteil bestimmen sollte, andererseits aber nach § 9 die „Beurteilung“ des Gegenstandes dem Wohlgefallen vorangehen müsste. Ein Widerspruch, so manche Kommentatoren, könnte somit nur durch die Unterscheidung zwischen dem ästhetischen Urteil und der ästhetischen Beurteilung vermieden werden: Das Wohlgefallen liegt dem Urteil zugrunde, während die Beurteilung diesem Wohlgefallen vorangeht. Wie im Abschnitt 6.1 noch näher zu erläutern ist, unterscheidet Kant zwischen Beurteilung und Urteil wahrscheinlich jedoch nicht so prinzipiell, dass Beurteilung bloß ein Akt sei, während Urteil die Ausformung und Ausformulierung der Beurteilung ausmache. Kants Formulierungen legen nah, dass bei ihm die ästhetische Beurteilung schon ein ästhetisches Urteil ist. Kant kann dies vermutlich deswegen annehmen, weil in seinem Verständnis das Urteil eine „Beziehung“ ist: Wenn der Verstand die gegebene Vorstellung auf das Objekt bezieht, dann handelt es sich um ein logisches Urteil; wenn das Subjekt aber die gegebene Vorstellung auf sich selbst, und zwar auf das Gefühl der Lust und Unlust, bezieht, handelt es sich um ein ästhetisches Urteil (siehe § 1). Auf diese Weise lässt sich eine ästhetische Beurteilung schon als Urteil bezeichnen. Außerdem, so glaube ich, kann der Widerspruch bzw. Zirkel der Reihenfolge zwischen Beurteilung und Lust nicht durch eine Unterscheidung zwischen Geschmacksurteil und ästhetischer Beurteilung aufgehoben werden. Denn selbst
17 Eine Zusammenfassung der entsprechenden Diskussionsgeschichte findet sich bei Fricke 1990, S. 44 f. Zu dem Problem wird explizit oder implizit Stellung genommen von Tumarkin 1906, Bartuschat 1972, Crawford 1974, Kulenkampff 1978, Guyer 1979, Kaulbach 1984. Neuerlich hat Allison (2001, S. 112) einer solchen Unterscheidung teilweise recht gegeben.
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wenn wir annehmen, dass die Beurteilung ein bloßer Akt der Vorstellungskräfte und noch kein Urteil ist, besteht der Widerspruch bzw. Zirkel zwischen Lust und Beurteilung immer noch: Die Lust soll einerseits eine Folge der Beurteilung sein; sie ist aber andererseits der Grund der Beurteilung und sollte insofern vor der Beurteilung vorhergehen. Deshalb müssen wir die Struktur der Beurteilung bei Kant näher betrachten, um eine Lösung für den scheinbaren Zirkel zu finden. Eine erste entscheidende Frage bezüglich der Beurteilung ist: Was wird eigentlich in der „Beurteilung“ beurteilt? Das Wort „Beurteilung“ kommt in § 9 insgesamt viermal vor (dreimal im Text, einmal in der Überschrift), jedes Mal hat Kant einen Genitiv hinzugefügt: Zweimal lautet es „Beurteilung des Gegenstandes“, einmal „Beurteilung der Gegenstände“ und einmal „Beurteilung des Gegenstandes, oder der Vorstellung, wodurch er gegeben wird“. Kants Gebrauch des Wortes „Beurteilung“ ist in § 9 deshalb konsequent: Es bezeichnet die Beurteilung, die sich auf die durch Vorstellung gegebenen Gegenstände bezieht. Die Feststellung, dass die betreffende Beurteilung eine „Beurteilung des Gegenstandes, oder der Vorstellung, wodurch er gegeben wird“ ist, scheint harmlos zu sein. Es ist aber bemerkenswert, dass die anderen, in der Kant-Forschung thematisierten Beurteilungen, z. B. die Beurteilung (bei Guyer), ob die betreffende Lust allgemein mitteilbar ist, oder die Beurteilung (bei Ginsborg), die die Urteilskraft selbstbezüglich ausführt, in gewisser Hinsicht mit der Beurteilung des Gegenstandes zwar identisch sein könnten, aber nur einen abgeleiteten Status haben, indem sie von der Beurteilung des Gegenstandes getragen werden müssen.
5.4 Beurteilung des Gegenstandes im Hinblick darauf, ob seine Vorstellung allgemein mitteilbar ist Des Näheren aber, was wird an diesem gegebenen Gegenstand, bzw. an der Vorstellung, wodurch der Gegenstand gegeben wird, beurteilt, wobei diese Beurteilung vor der Lust vorhergehen sollte? Hier handelt es sich um ein entscheidendes Problem, entscheidend in dem Sinn, wie man die Aufgabe selbst, die den „Schlüssel zur Kritik des Geschmacks“ ausmacht (§ 9, 216) – und noch nicht die Lösung dieser Aufgabe – verstehen soll. Die Leitfrage von § 9 lautet, „ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe“ (§ 9, 216). Was heißt in dieser Leitfrage „Beurteilung des Gegenstandes“? Über das Thema, welches vor welchem vorhergehen sollte, wird in diesem Paragraphen, abgesehen von der Überschrift, nur zweimal explizit gesprochen.
Beurteilung des Gegenstandes im Hinblick auf seine Vorstellung
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In beiden Fällen lässt sich nicht unmittelbar feststellen, was eigentlich mit der Beurteilung, die vor der Lust vorhergeht, gemeint ist. Einmal heißt es am Anfang des Paragraphen: Ginge die Lust an dem gegebenen Gegenstande vorher, und nur die allgemeine Mitteilbarkeit derselben sollte im Geschmacksurteile der Vorstellung des Gegenstandes zuerkannt werden, so würde ein solches Verfahren mit sich selbst im Widerspruche stehen. (§ 9, 216 f.)
In diesem Satz ist leider das Wort „Beurteilung“ nicht vorgekommen. Die zweite Stelle ist das folgende: Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes, oder der Vorstellung, wodurch er gegeben wird, geht nun vor der Lust an demselben vorher und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen. (§ 9, 218)
Hier taucht zwar das Wort „Beurteilung“ auf und es wird ausdrücklich formuliert, dass die Beurteilung vor der Lust vorhergehe. Es wird aber nicht direkt dargetan, um was für eine Beurteilung es hier geht. Obwohl das am Anfang des Satzes stehende „diese“ ein Zeichen dafür sein kann, um welche Beurteilung es sich handelt, gibt der davorstehende Absatz kein eindeutiges Anzeichen. Handelt es sich hier um die Beurteilung, ob die Vorstellung des Gegenstandes schön sei? Auf diese Frage kann man nur mit Vorbehalt mit „ja“ antworten. Ja, weil die in § 9 thematisierte Beurteilung freilich zum Urteil, ob die Vorstellung schön sei, führen kann. Es kann dies aber nur mit Vorbehalt bejaht werden, weil – hier greife ich vor, was eigentlich erst unten näher erläutert werden wird – die angeführte ästhetische Beurteilung ein Akt ist, der die Auffassung des Gegenstandes durch Einbildungskraft und Verstand immer begleitet. Die ästhetische Beurteilung, als eine subjektive Spiegelung der Auffassung der Vorstellung durch Einbildungskraft und Verstand, findet schon immer, auch unabsichtlich, statt. Dies formuliert Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft auf folgende Weise: jene Auffassung der Formen in die Einbildungskraft kann niemals geschehen, ohne dass die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche (KU, Einleitung VII, 190).
Die ästhetische Beurteilung bzw. „Vergleichung“ unterscheidet sich an einem entscheidenden Punkt vom Geschmacksurteil: Sie findet tatsächlich schon immer mit der Auffassung des Gegenstandes statt und erhebt deshalb noch keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, obwohl sie selbst allgemein mitteilbar ist. Das Geschmacksurteil erhebt hingegen einen Anspruch auf seine allgemeine Gültigkeit und beantwortet die ausdrückliche Frage, ob der Gegenstand schön
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sei oder nicht. Die ästhetische Beurteilung liegt also dem Geschmacksurteil zugrunde und ist mit ihm doch noch nicht ganz identisch. (Es bedarf noch einer Reflexion, die das in der ästhetischen Beurteilung enthaltene Urteil, ein Urteil, llgemein mitteilbar ist, aber noch keinen ausdrücklichen Anspruch auf das zwar a diese Mitteilbarkeit erhebt, zu einem echten Geschmacksurteil transformiert. Dies ist der Grund, warum wir in der Kant-Interpretation noch einen zweiten Akt der Reflexion, wie Guyer dies tut, annehmen müssen.) Wenn die ästhetische Beurteilung noch nicht das ausdrückliche Urteil ist, ob die Vorstellung des Gegenstandes schön sei, ergeben sich die Fragen: Wie ist dann diese Beurteilung näher zu bestimmen? Was an der Vorstellung des Gegenstandes wird beurteilt? Eine Option zur Antwort lautet, dass es sich hier um die Beurteilung handelt, ob die betreffende Lust allgemein mitteilbar ist. Diese Option ist von Kant im zweiten Absatz des Paragraphen verneint: Ginge die Lust an dem gegebenen Gegenstande vorher, und nur die allgemeine M itteilbarkeit derselben sollte im Geschmacksurteile der Vorstellung des Gegenstandes zuerkannt werden, so würde ein solches Verfahren mit sich selbst im Widerspruche stehen (§ 9, 216–7).
Guyers Beschreibung der Beurteilung – das freie Spiel der Erkenntnisvermögen als der erste Schritt, der eine Lust zur Folge hat, die Reflexion über die allgemeine Mitteilbarkeit dieser Lust als der zweite Schritt – erregt deshalb so viel Zweifel, weil sie, so scheint es mindestens, genau das, was Kant im obigen Zitat negiert, vertritt. Es wird in Guyers Modell nämlich gerade eine Lust vorausgesetzt, damit die Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit der Lust möglich sein kann. Eine andere Option, wie sie Ginsborg vorschlägt, lautet, dass es sich hier primär um eine Beurteilung der Urteilskraft im Hinblick auf sich selbst handelt. Die Schwierigkeit dieser Lesart wurde oben bereits erwähnt. Wie wäre es nun, wenn mit der „Beurteilung“ die Beurteilung der Vorstellung des Gegenstandes gemeint ist, und zwar eine Beurteilung im Hinblick darauf, ob und inwiefern die Vorstellung allgemein mitteilbar sei? Dies ist eben die Lesart, die ich vorschlagen will. Eine direkte und kräftige Unterstützung dieser meiner Lesart, nämlich dass die angesprochene Beurteilung eine Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit der gegebenen Vorstellung ist, bietet der folgende Text: Soll nun der Bestimmungsgrund des Urteils über diese allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung bloß subjektiv, nämlich ohne einen Begriff vom Gegenstande, gedacht werden, so kann er kein anderer als der Gemütszustand sein, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zu einander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen. (§ 9, 217, meine Hervorhebung)
Beurteilung des Gegenstandes im Hinblick auf seine Vorstellung
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In diesem Zitat ist das „Urteil“ als „über diese allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung“ angesprochen. Die hier erwähnte „Vorstellung“ meint nicht die Lust oder das Urteil als Vorstellung, sondern, dies zeigt der Kontext, ganz allgemein alle Vorstellung. Dabei beziehen die Vorstellungskräfte die gegebene Vorstellung auf „Erkenntnis überhaupt“. Der Begriff „Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung“ ist auf den ersten Blick nicht leicht verständlich und bedarf einer Erläuterung: Mitteilbarkeit bedeutet hier nicht, ob etwas überhaupt in Sprache gefasst werden kann, d.h. ob etwas überhaupt aussprechbar ist. „Mitteilbar“ heißt vielmehr, dass ich den Anderen zumuten darf, dass sie mit mir etwas Gemeinsames teilen (vgl. Schlösser 2015, S. 231). Alle Vorstellungen, soweit sie zur Erkenntnis gehören, sind, so dürfen wir bei Kant annehmen, im Prinzip allgemein mitteilbar; d.h. es besteht keine Vorstellung, die in einem Verhältnis der Erkenntnis stehe und trotzdem gar nicht allgemein mitteilbar sei. Dies ist so, weil die Erkenntnis nach Kant objektive Gültigkeit hat, was impliziert, dass die Erkenntnis, auch die empirische Erkenntnis, für jeden die nämliche Gültigkeit hat, und sie von daher allgemeine Mitteilbarkeit besitzt. Es ist dabei anzumerken, dass die Empfindung als das Reale der Anschauung per se nicht allgemein mitteilbar ist. Denn um die Erlebnisqualität der Empfindung mitteilen zu können, muss bei jedem das gleiche Sinnesorgan vorausgesetzt werden, in Wirklichkeit hat man aber nicht immer das gleiche Sinnesorgan (vgl. § 39, 291). Die Empfindung weist allerdings auf die zeitliche und räumliche Bestimmung des Gegenstandes hin und gehört insofern auch zur Erkenntnis, sie kann deshalb in dieser Hinsicht auch als allgemein mitteilbar angesehen werden. Deshalb würde die Vorstellung des gegebenen Gegenstandes, soweit sie zur Erkenntnis gehört, immer allgemein mitteilbar sein. In dieser Hinsicht ergibt, so scheint es, der Ausdruck „Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung“ nicht viel Sinn, weil ein solches Urteil im Prinzip immer ein positives Ergebnis zur Folge haben würde. Alle Vorstellungen sind nämlich von der „ursprünglichen Apperzeption“ notwendig begleitet, so dass sie alle meine Vorstellungen sind (vgl. KrV, § 16); alle Wahrnehmungen des Gegenstandes können deshalb im Prinzip zur Erkenntnis des Gegenstandes gehören und allgemein mitteilbar sein. Inwiefern ist die Thematisierung des Urteils über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung aber noch sinnvoll, wenn dieses Urteil immer positiv ausfällt? Es handelt sich hier um einen Kerngedanken der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, der aber nicht leicht zu verstehen ist: Kant meint tatsächlich, dass nicht alle Vorstellungen in gleichem Maße zur Erkenntnis tauglich sind; manche
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Vorstellungen kommen mehr, manche kommen weniger der subjektiven Bedingung zur Erkenntnis entgegen, so dass das Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung doch ein unterschiedliches, obwohl im Prinzip immer positives Ergebnis zur Folge haben wird. Auf der transzendentalen Ebene unterliegen alle Wahrnehmungen der ursprünglichen Apperzeption und können deshalb Erkenntnis werden; in der Gestaltung einer empirischen Erkenntnis erweisen sich die Wahrnehmungen allerdings als für die Erkenntnisvermögen unterschiedlich angebracht. Das Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung ist eben das Urteil darüber, inwiefern diese Vorstellung den Erkenntnisvermögen entgegenkommt. Die Thematisierung des Urteils über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung ist vor allem im Zusammenhang der Untersuchung des ästhetischen Urteils, d.h. des Urteils, das die Vorstellung nicht auf den Begriff des Gegenstandes, sondern auf das Subjekt und die Lust und Unlust bezieht, sinnvoll. Denn subjektiv gesehen, durch die Empfindung des Gemütszustandes, zeitigt das Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit von verschiedenen Vorstellungen ein unterschiedliches Ergebnis, weil die verschiedenen Vorstellungen den Erkenntnisvermögen unterschiedlich entgegenkommen. Hingegen wird ein objektives Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung, d.h. ein begriffliches Urteil, ob diese Vorstellung zur empirischen Erkenntnis tauglich und deshalb allgemein mitteilbar ist, immer ein positives Ergebnis zeitigen. Der Gedanke, dass das Urteil über das Schöne ein Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung ist, und dass nicht alle Vorstellungen gleichermaßen zur Erkenntnis tauglich sind und das subjektive Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung deshalb ein unterschiedliches Ergebnis zeitigen kann, hat Kant auf unterschiedliche Weise formuliert. Eine besonders ausgeprägte Formulierungsform davon ist die Rede von der Zweckmäßigkeit der Vorstellung für die Erkenntnisvermögen: Das Geschmacksurteil ist eben ein subjektives Urteil über diese Zweckmäßigkeit und die Vorstellungen können in unterschiedlichem Maß für die Erkenntnisvermögen zweckmäßig sein. Dazu siehe folgendes Zitat aus der Einleitung VII zur Kritik der Urteilskraft: Denn jene Auffassung der Formen in die Einbildungskraft kann niemals geschehen, ohne dass die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche. Wenn nun in dieser Vergleichung die Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauungen a priori) zum Verstande (als Vermögen der Begriffe) durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmung versetzt und dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird, so muss der Gegenstand alsdann als zweckmäßig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden. Ein solches Urteil ist ein ästhetisches Urteil über die Zweckmäßigkeit des Objekts [...]. (KU, Einleitung VII, 190)
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In dieser Passage beschreibt Kant, wie der ästhetische Vergleich zwischen der Vorstellung und den Erkenntnisvermögen abläuft. Der in § 9 gebrauchte Ausdruck „Urteil über diese allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung“ meint eigentlich dasselbe wie die hier thematisierte „Vergleichung“, die eben das „Urteil über die [subjektive] Zweckmäßigkeit des Objekts“ – ein Ausdruck, der am Ende des obigen Zitats steht – ist. Das subjektive Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung fällt in demselben Maß positiv aus, wie sich die Vorstellung des Gegenstandes bei der „Vergleichung“ als für die Erkenntnisvermögen zweckmäßig erweist. Eine andere Variation der Formulierung jenes Kerngedankens ist die Rede in § 38 – „Deduktion der Geschmacksurteile“ – von den „subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt“. Diese sind „dasjenige Subjektive, welches man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen kann“ (§ 38, 290). Das Urteil über „die Übereinstimmung einer Vorstellung mit diesen subjektiven Bedingungen der Urteilskraft“ (§ 38, 289) ist eben das in § 9 angesprochene Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung. Die subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt können deshalb bei allen Menschen vorausgesetzt werden, „weil sich sonst Menschen ihre Vorstellungen und selbst das Erkenntnis nicht mitteilen könnten“ (§ 38 Fußnote, 290, meine Hervorhebung). Aufgrund der Beziehung zur Erkenntnis können die subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt allgemein vorausgesetzt werden, und auch aufgrund deren sind Vorstellungen allgemein mitteilbar. Was ist der Sinn dieser Lesart? Die Debatte über die Kritik der ästhetischen Urteilskraft und über § 9 hat sich inzwischen zu einer hochgradigen Subtilität entwickelt. Guyer und Ginsborg haben sich bei verschiedenen Anlässen immer wieder zur Struktur des Geschmacksurteils geäußert. In Anbetracht dieser Subtilität des Forschungsstandes glaube ich nicht, dass das Verständnis seitens Guyers oder Ginsborgs von Grund auf falsch ist. Was ich in diesem Kapitel unternehme, ist eher eine Reformulierung der beiden Interpretationen und der Versuch, den Gegensatz, den die beiden bilden, dadurch abzuschwächen und die beiden Positionen sogar in Verbindung zu bringen. Es scheint mir aber auffällig, dass in Guyers Erläuterung des sogenannten ersten Schrittes des Geschmacksurteils der Begriff „freies Spiel des Verstandes mit der Einbildungskraft“ stark hervorgehoben wird, während die Rede von der ästhetischen „Vergleichung“, die dieses freie Spiel immer begleitet, kaum auftaucht. Mit meiner Interpretation will ich gerade diesen Punkt betonen und darauf hinweisen, dass in diesem subjektiven Vergleich zwischen der Vorstellung
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und den Erkenntnisvermögen schon ein Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit enthalten ist, so dass die allgemeine Mitteilbarkeit als das, worüber das Geschmacksurteil urteilt, nicht wie bei Guyer so spät, erst im zweiten Schritt, nämlich in der Reflexion über die eigene Beurteilung, auftauchen kann. Sie ist vielmehr von Anfang an, nämlich schon in der ästhetischen Beurteilung, im Blickpunkt. Ginsborgs Interpretation scheint rätselhaft und nebulös zu sein. Man möchte genauer wissen, was sie mit der Selbstbezüglichkeit der Beurteilung meint. Meine Interpretation kann dagegen die Tugend der Einfachheit beanspruchen. Demnach ist die in § 9 besprochene Beurteilung eben der ästhetische Vergleich zwischen der Vorstellung des Gegenstandes und unseren Erkenntnisvermögen, der die Auffassung der Vorstellung immer begleitet. Die Beurteilung der gegebenen Vorstellung des Gegenstandes, und zwar im Hinblick auf ihre allgemeine Mitteilbarkeit, hat eine Selbstbezüglichkeit: Die gegebene Vorstellung zeigt nicht per se, ob und vornehmlich in welchem Sinn sie zur Erkenntnis tauglich und deshalb allgemein mitteilbar ist; das Urteil darüber muss vermittelst des Einsatzes der Einbildungskraft und des Verstandes stattfinden und dieser Einsatz der beiden Erkenntnisvermögen ist ein Verfahren der Urteilskraft. Das von mir angeführte subjektive Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung lässt sich verstehen als ein Urteil der reflektierenden Urteilskraft über ihr eigenes Verfahren. Das heißt, das ästhetische Urteil über die Vorstellung des Gegenstandes muss durch das subjektive Urteil über das Verfahren der Urteilskraft selbst verwirklicht werden. In diesem Sinn handelt es sich um eine Selbstbezüglichkeit der Urteilskraft. Die Pointe von Ginsborgs Lesart besteht darin, dass sich das Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit nicht wie bei Guyer erst im zweiten Schritt des Geschmacksurteils durchsetzt. Es fällt aber auf, dass sie dieses Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit nicht sofort in Verbindung mit dem Urteil über die Vorstellung des Gegenstandes bringt, sondern das Urteil als ein Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes versteht, so dass man schwer verstehen kann, inwiefern dieses Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes auch ein Urteil über die Vorstellung des Gegenstandes sein kann. Die Schwierigkeit in Ginsborgs Interpretation ist aber meines Erachtens keine substanzielle Schwierigkeit, sondern eher eine, die durch Umformulierung aufgelöst werden kann. Ich habe deshalb folgende Perspektive der Interpretation gewählt: Das betreffende Urteil ist eben das Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung. Mit der Erläuterung dieser Perspektive will ich Ginsborgs Pointe aufrechterhalten und zugleich die Schwierigkeit ihrer Interpretation vermeiden.
Die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes und die Lust
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5.5 Die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes und die Lust Nachdem ich die Beurteilung als Beurteilung der Vorstellung im Hinblick auf ihre allgemeine Mitteilbarkeit erläutert habe, bin ich jetzt im Stande, den Text zu erklären, dessen Verständnis in der Forschung sehr umstritten ist: Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muss. (§ 9, 217)
Die Schwierigkeit, die dieses Zitat bereitet, liegt vor allem darin, dass es nach diesem Text, wörtlich gesehen, die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes ist, die die Lust am Gegenstand zur Folge hat. Diese Formulierung scheint aber von derjenigen Erklärung Kants abzuweichen, nach der die Lust am Gegenstand eine Folge des freien Spiels der Erkenntnisvermögen sein soll. Und nun scheint die Lust auf einen anderen Ursprung zurückgeführt zu werden: Nicht aufgrund des freien Spiels der Erkenntnisvermögen, sondern wegen der allgemeinen Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes kommt es zu einer Empfindung der Lust. Guyer nimmt an, dass diese Formulierung eine frühere Ansicht Kants widerspiegelt, die unglücklicherweise in die Kritik der ästhetischen Urteilskraft Eingang gefunden hat und Kants reiferer Ansicht widerspricht. Allison (2001, S. 115) nennt diese Formulierung Kants mangelhaft und schlägt eine textliche Revision vor: „die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes“ soll durch „der mitteilungsfähige Gemütszustand“ ersetzt werden, wodurch „much of the air of paradox surrounding the text“ behoben werden könnte. Im Kontrast dazu bildet dieser Text bei Ginsborg einen Grundstein ihrer Interpretation der Struktur des Geschmacksurteils: Sie versteht das Geschmacksurteil eben als das Urteil über die in diesem Zitat thematisierte „allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung“. Ich bin der Ansicht, dass der zitierte Text keine falsche und deshalb zu korrigierende Formulierung ist. Zugleich ist in diesem Text auch keine so gewichtige Information enthalten, so dass unser Bild der Kantischen Ästhetik als einem Ganzen erneuert werden müsste. Die genannte Schwierigkeit lässt sich aufklären, wenn wir den Kontext dieser Textstelle näher betrachten: § 9 ist der letzte Paragraph des zweiten Moments der Analytik, nämlich des Moments der Quantität; die Quantität der Allgemeinheit wurde in §§ 6–8 schon ausdrücklich behandelt. Es wurde in § 8 festgestellt, dass „das Geschmacksurteil eine ästhetische Quantität der Allgemeinheit, d. i. der Gültigkeit für jedermann, bei sich
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Die Struktur der Beurteilung: Interpretation zu § 9
führt“ (§ 8, 215). In diesem Fall muss man überlegen, was Kant mit dem Ausdruck „subjektive Bedingung des Geschmacksurteils“ in dem problematischen Passus meint. Eine Option ist, dass die genannte subjektive Bedingung des Geschmacksurteils diejenige ist, die das Geschmacksurteil bestimmt. Allisons Korrektur, dass es nicht die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes, sondern der allgemein mitteilungsfähige Gemütszustand ist, der als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils diesem Urteil zugrunde liegt, impliziert eben diese Lesart. Es kann aber noch eine andere Option – dies ist die Lesart, die ich vorschlagen will – geben, wenn man den oben genannten Kontext in Betracht zieht: Die subjektive Bedingung des Geschmacksurteils muss nicht diejenige sein, die das Geschmacksurteil überhaupt möglich macht, d.h. die die Unterscheidung zwischen schön und nicht-schön ermöglicht; die subjektive Bedingung des Geschmacksurteils kann nämlich auch diejenige Bedingung sein, unter der ein Element des Geschmacksurteils, die Allgemeinheit, erst möglich ist. Versteht man die in der Textstelle angeführte „subjektive Bedingung“ als die subjektive Bedingung der Allgemeinheit des Geschmacksurteils, so scheint der Originaltext Kants in der Formulierung passender zu sein als das, was Allison als Korrektur vorschlägt: Es ist die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, die die Allgemeinheit des Geschmacksurteils subjektiv bedingt und in diesem Sinn dem Urteil zugrunde liegt. Zusammengefasst: Falls man vom Grund des Geschmacksurteils überhaupt spricht, so wäre der Ausdruck, dass der allgemeine mitteilungsfähige Gemütszustand in der gegebenen Vorstellung dieser Grund ist, angebracht; falls man aber vom Grund der Allgemeinheit des Geschmacksurteils spricht, kann die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes als dieser Grund angesprochen werden, wie Kant es tut. Ein anderes Hindernis, dem man bei der Lektüre jener Textstelle begegnet, besteht darin, dass nach ihr, so scheint es, die Lust eine Folge der allgemeinen Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes ist, was der These widerspricht, dass die Lust eine Folge des freien Spiels der Erkenntnisvermögen ist. Meine oben vorgestellte Lesart kann auch dieses Problem auflösen: Im Geschmacksurteil geht es nicht um das Wohlgefallen an der allgemeinen Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes, diese Mitteilungsfähigkeit ist vielmehr nur der Grund der Allgemeinheit jenes Wohlgefallens. Der zitierte Text ist nicht so zu verstehen, dass die Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes eine Lust als Folge hervorbringt. Im problematischen Text will Kant, so meine ich, ausdrücken, dass die Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes der Grund der Allgemeinheit des Geschmacksurteils ist und die Lust als Folge des Geschmacksurteils haben muss. Mit dieser Lesart besteht beim oben zitierten Satz dann kein gravierendes Hindernis mehr.
6 Interesselosigkeit und die Bewegung der Momente Die Analytik des Schönen entfaltet sich in vier Momenten. Die Qualität des Geschmacksurteils macht das erste Moment der Analytik aus, und eben in der Analyse dieses Moments stellt Kant seine These der Interesselosigkeit heraus. Béatrice Longuenesse (2006) ist der Ansicht, dass keine Abhängigkeit zwischen den vier Momenten bestehe. In diesem Kapitel will ich aufzeigen, dass die Reflexion sich zwangsläufig von einem Moment zum anderen bewegt und dass diese Bewegung sich besonders darin deutlich zeigt, dass das Moment der Quantität auf das der Qualität folgt: Vom Bewusstsein der Interesselosigkeit des Wohlgefallens ausgehend, erhebt der Urteilende den Anspruch auf die Allgemeinheit seines Urteils. Als eine Vorbereitung darauf erläutere ich in 6.1, was für eine Rolle die Rücksicht auf die Momente für ein Geschmacksurteil spielt. Dies ist zugleich auch ein Teil meines Versuches, die Struktur des Geschmacksurteils bei Kant herauszuarbeiten. In 6.2 wird diskutiert, warum die Analytik des Schönen mit dem Moment der Qualität beginnt. 6.3 ist eine Interpretation zu § 6 und erläutert die Beziehung zwischen dem ersten und dem zweiten Moment.
6.1 Das Verhältnis der ästhetischen Beurteilung zum Geschmacksurteil Mindestens dreierlei Reflexionen sind mit einem Geschmacksurteil verbunden. Eine davon, die ästhetische Beurteilung, wurde im letzten Kapitel anhand der Interpretation von § 9 behandelt. Sie ist die subjektive (d.h. in Bezug auf Lust und Unlust) Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit der Vorstellung im Hinblick darauf, ob und inwiefern die gegebene Vorstellung des Gegenstandes für die Erkenntnisvermögen zweckmäßig ist. Eine zweite Art der Reflexion betrifft die „Rücksicht“, die der Urteilende auf die vier Momente des Geschmacksurteils nimmt. In der Anmerkung zu § 1 äußert Kant sich zu diesem Thema, und die ganze Analytik des Schönen entfaltet sich gemäß dieser „Rücksicht“ des Urteilenden auf die vier Gesichtspunkte eines Geschmacksurteils. Unter den Momenten, „worauf die Urteilskraft in ihrer Reflexion Acht hat“, ist es das Moment der Qualität, auf das „das ästhetische Urteil über das Schöne […] zuerst Rücksicht nimmt“ (§ 1, 203, Anmerkung). Eine dritte Reflexion wird von Kant in der Dialektik eingeführt: Das Geschmacksurteil muss sich auf einen unbestimmten Begriff, den Begriff des Übersinnlichen, beziehen, sonst „wäre der Anspruch des Geschmacksurteils auf allgemeine Gültigkeit nicht zu retten“ (§ 57, 339–340). https://doi.org/10.1515/9783110546125-007
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Es ist eine Aufgabe der Kant-Interpretation, den jeweiligen Status der drei Reflexionen zu bestimmen und wenn möglich, das Geschmacksurteil als ein integrales Ganzes der drei Arten von Reflexion zu rekonstruieren. In diesem Abschnitt werde ich mir einen Teil dieser Aufgabe vornehmen, nämlich das Verhältnis zwischen der oben genannten ersten und zweiten Art der Reflexion zu klären. Einerseits entfaltet Kant die Analyse der vier Momente des Geschmacksurteils, andererseits befasst er sich mit der subjektiven Bedingung der Beurteilung, die zugleich auch die subjektive Bedingung der Urteilskraft ist. Es stellt sich von daher die Frage, ob die Rücksicht der Urteilskraft auf die vier Momente des Geschmacksurteils einen Bestandteil der ästhetischen Beurteilung des Gegenstandes ausmacht, oder ob die Berücksichtigung der Momente der ästhetischen Beurteilung bloß nachträglich stattfindet. Meines Erachtens kann diese Berücksichtigung nur nach der ästhetischen Beurteilung, die im letzten Kapitel behandelt wurde, stattfinden. Es bedarf nämlich außer und nach der ästhetischen Beurteilung einer andersartigen Reflexion, wodurch sich der ästhetische Vergleich zu einem Geschmacksurteil weiterentwickelt. Das Folgende soll dies näher erläutern. Die ästhetische Beurteilung – in Einleitung VII zur Kritik der Urteilskraft bezeichnet Kant sie auch als „Vergleichung“ zwischen der gegebenen Vorstellung und den Erkenntnisvermögen (190) – begleitet immer die Auffassung des Gegenstandes. Andererseits fällt man freilich nicht jederzeit ein Geschmacksurteil. Das Geschmacksurteil beruht auf der ästhetischen Beurteilung, d.h. auf dem schon immer stattfindenden ästhetischen Vergleich; es ist aber nicht mit dem ästhetischen Vergleich, der mit der Wahrnehmung des Gegenstandes schon immer stattfindet, gleichzusetzen. Der Hauptunterschied zwischen beidem besteht vornehmlich noch nicht darin, dass man das Geschmacksurteil, welches eine Proposition ist, einer logischen Analyse unterziehen kann, während die mit der Wahrnehmung des Gegenstandes stattfindende Beurteilung eine Tätigkeit ist und nicht die Form einer Proposition hat. Kant scheint eher der Ansicht zu sein: wenn ich einen Gegenstand mit Lust wahrnehme und beurteile, handelt es sich schon um ein Urteil anstatt um einen bloßen Akt der Beurteilung. Kant versteht das Urteil, wie aus § 1 ersichtlich ist, als eine Beziehung, wobei das Subjekt die Vorstellung des Gegenstandes entweder auf den Begriff des Objekts oder auf die Lust und Unlust bezieht. In diesem Sinn dürfte das, was durch den ästhetischen Vergleich vollbracht wird, schon als Urteil gelten. Eine Textstelle in der Einleitung VII (190, Zeile 11) kann dies belegen. Hier spricht Kant die „Vergleichung“ zwischen der gegebenen Vorstellung und den Erkenntnisvermögen schon als „ästhetisches Urteil“ an. Der Hauptunterschied zwischen einem Geschmacksurteil und einer ästhetischen Beurteilung, die die Auffassung des Gegenstandes begleitet, besteht darin, dass das Geschmacksurteil Rücksicht auf die Allgemeingültigkeit dieses Urteils
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nimmt und der Anspruch auf diese Allgemeingültigkeit eine unentbehrliche Komponente dieses Urteils ausmacht, während der ästhetische Vergleich zwischen der Vorstellung des Gegenstandes und der eigenen Erkenntnisvermögen zwar an sich schon ein Urteil über die allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung ist, wie im letzten Kapitel erläutert, aber noch keinen Anspruch auf diese allgemeine Mitteilbarkeit erhebt. Zu diesem Thema lässt sich ein Passus aus § 37 anführen: Also ist es nicht die Lust, sondern die Allgemeingültigkeit dieser Lust, die mit der bloßen Beurteilung eines Gegenstandes im Gemüte als verbunden wahrgenommen wird, welche a priori als allgemeine Regel für die Urteilskraft, für jedermann gültig, in einem Geschmacksurteile vorgestellt wird. Es ist ein empirisches Urteil: dass ich einen Gegenstand mit Lust wahrnehme und beurteile. Es ist aber ein Urteil a priori: dass ich ihn schön finde, d.i. jenes Wohlgefallen jedermann als notwendig ansinnen darf. (§ 37, 289)
Hier unterscheidet Kant zwischen dem Geschmacksurteil, welches ein Urteil a priori ist, und dem empirischen Urteil durch Lust und Unlust. Wenn „ich einen Gegenstand mit Lust wahrnehme und beurteile“, handelt es sich immer noch um ein bloßes empirisches Urteil. Hingegen ist im Geschmacksurteil ein Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit enthalten und in diesem Sinn gilt dieses Urteil als ein Urteil a priori. Nach meiner Interpretation im letzten Kapitel ist die ästhetische Beurteilung des Gegenstandes eine Beurteilung im Hinblick darauf, ob die gegebene Vorstellung für die Erkenntnisvermögen zweckmäßig ist, oder anders ausgedrückt, ob diese Vorstellung allgemein mitteilbar ist. Die genannte Beurteilung einer einzelnen Vorstellung ist schon eine Beurteilung der allgemeinen Mitteilbarkeit der Vorstellung und der allgemeinen Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes. Trotzdem handelt es sich immer noch um ein bloßes empirisches Urteil, falls das Subjekt die allgemeine Mitteilbarkeit dieser Lust nicht beansprucht – empirisch in dem Sinn, dass das Subjekt die Vorstellung des Gegenstandes bloß auf die Lust und Unlust, die sich im ästhetischen Vergleich ergibt, bezieht, ohne diese Lust in ein allgemeines Verhältnis zu setzen, nämlich anzunehmen, dass jeder andere ebenfalls eine solche Lust oder Unlust empfinden würde. Sobald aber das Subjekt solche Rücksicht nimmt, verwandelt sich der ästhetische Vergleich bzw. die Beurteilung zum Geschmacksurteil, einem Urteil a priori. Die genannte Rücksicht, die ein empirisches ästhetisches Urteil in ein Urteil a priori verwandelt, ist, so meine ich, genau die Rücksicht, die Kant in Fußnote von § 1 anspricht: Das Moment der Qualität wird von Kant zuerst in Betracht gezogen, weil das ästhetische Urteil über das Schöne darauf „zuerst Rücksicht nimmt“ (203). Dadurch, dass die genannte Rücksicht sich in vier Momenten entfaltet, entsteht und konstatiert sich der Anspruch auf die Allgemeinheit, der in einem Geschmacksurteil enthalten ist.
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6.2 Qualität als das erste Moment der Analytik des Schönen In der Anmerkung zu § 1 schreibt Kant, dass er die „Momente, worauf diese Urteilskraft in ihrer Reflexion Acht hat“, „nach Anleitung der logischen Funktionen zu urteilen aufgesucht“ hat (§ 1, 203). Die der Qualität habe ich zuerst in Betrachtung gezogen, weil das ästhetische Urteil über das Schöne auf diese zuerst Rücksicht nimmt (§ 1, 203).
Hier folgt das Verfahren der Analytik dem des Geschmacksurteils: Weil das letztere zuerst auf die Qualität Rücksicht nimmt, entfaltet sich die Analytik ebenfalls in dieser Reihenfolge. Es bedarf einer interpretativen Klärung, warum die Reflexion des Geschmacksurteils zuerst auf die Qualität Rücksicht nimmt. C. H. Wenzel (2000, S. 76–78 und S. 90) hat eine detaillierte Erklärung dafür angeboten. Der Kern dieser Erklärung besteht darin: 1) Nach der Kritik der reinen Vernunft ist das Moment der Qualität eines Urteils das der Bejahung oder Verneinung. 2) Das Moment der Bejahung oder Verneinung ist genau das, worauf es bei einem Geschmacksurteil ankommt: Gemäß § 1 besteht nämlich die Aufgabe des Geschmacks eben darin, „zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht“ (§ 1, 203). Das Geschmacksurteil nimmt deshalb zuerst auf das Moment der Bejahung und Verneinung, d.h. auf das Moment der Qualität Rücksicht. Diese Erklärung hat meines Erachtens zwar Recht, reicht aber noch nicht aus. Um die eigentliche Aufgabe des Geschmacks zu erfüllen, nämlich zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, wendet die Reflexion ihre Aufmerksamkeit sachgemäß zuerst auf das Moment der Qualität. Die Rücksichtnahme des Moments der Qualität alleine reicht allerdings nicht aus, um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht. Dazu müssen noch andere Momente berücksichtigt werden. Ob das Moment der Qualität qualifiziert ist, als das Anfangsmoment zu fungieren und die Dynamik der Reflexion zu entfalten, bleibt vor Beginn der Reflexion jedoch noch unentschieden. Es muss durch die Entfaltung der Reflexion selbst nachgewiesen werden, dass dieses Moment tatsächlich im Stande ist, den Ausgangspunkt der Reflexion auszumachen. Deshalb sollte Wenzels Erklärung noch um zwei Perspektiven ergänzt werden, um zu verstehen, warum die Analytik des Schönen mit dem Moment der Qualität anfängt. Eine erste Perspektive besteht darin, dass die weitere Entfaltung der Reflexion eine Basis benötigt und die Reflexion über den qualitativen Aspekt des Geschmacksurteils eben diese Basis bieten kann. Es ist von erheblicher Wichtigkeit zu betonen, dass der Anspruch des Geschmacksurteils auf die Allgemeingültigkeit keine unvermittelte, bloß gegebene Vorstellung ist. Dieser Anspruch ist nach Kant zwar dem Geschmacksurteil
Qualität als das erste Moment der Analytik des Schönen
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tatsächlich beigelegt. Das Bewusstsein der allgemeinen Mitteilbarkeit des Wohlgefallens am Gegenstand ist aber keine irrationale, unhintergehbare, unmittelbar gegebene Tatsache. Es ist vielmehr eine abgeleitete Vorstellung: Der Urteilende muss sich selbst über die Beschaffenheit seines Wohlgefallens einigermaßen im Klaren sein und nur von daher kann er dann dieses Wohlgefallen für allgemein mitteilbar halten. Es kann zwei Arten der Fragestellung bezüglich der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils geben: Eine handelt von der Möglichkeit dieser Allgemeingültigkeit und ist mit dem generellen Problem der Transzendentalphilosophie verbunden: Wie sind synthetische Urteile a priori (hier das Geschmacksurteil) möglich? (Siehe § 36, 289, Zeile 3–5). Eine andere handelt davon, wie der Urteilende auf die Vorstellung der allgemeinen Gültigkeit seines Geschmacksurteils gekommen ist. Während die erste Frage eine Rechtfertigung, also eine Deduktion fordert, bedarf es zur Antwort auf die zweite Frage einer Klärung des Vorgangs der Reflexion, nämlich von welchem Vorgang der Reflexion her der Urteilende zu dem Glauben („glauben“ § 6, 58, Zeile 28) kommt, dass er Grund hat, jedem Anderen ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten. In § 6, dem ersten Paragraphen des zweiten Moments, ist ein solcher Vorgang der Reflexion beschrieben: Das Bewusstsein des Urteilenden, dass sein Wohlgefallen ohne alles Interesse ist, führt zum Anspruch auf die allgemeine Mitteilbarkeit dieses Wohlgefallens. Die Reflexion kann nicht mit der Rücksicht auf das Moment der Quantität beginnen, weil die Allgemeinheit, welche sich bei der Analyse der Quantität des Urteils ergibt, sich auf die Kenntnis des Urteilenden vom qualitativen Wesen des Wohlgefallens stützen muss (vgl. Kap Hyun Park 2009, S. 137). Von daher beginnt Kant zu Recht die Analytik des Geschmacksurteils mit dem Moment der Qualität und erschließt dadurch das qualitative Wesen dieses Wohlgefallens. Aus der Analyse der Qualität des Geschmacksurteils ergibt sich dreierlei: 1) Nach § 1 ist das Geschmacksurteil ein ästhetisches Urteil und steht dem Erkenntnisurteil gegenüber. Dadurch wird das Gefühl der Lust und Unlust als Bestimmungsgrund des Urteils festgelegt. Mit der These der Interesselosigkeit des Wohlgefallens wird herausgestellt, 2) dass seitens des Gegenstandes die Form, nicht die Existenz den Grund des Urteils ausmacht, und 3) dass seitens des Subjekts die Gunst, die im Vergleich zum Guten und Angenehmen das einzige freie Wohlgefallen ist, den subjektiven Grund des Urteils bildet. Kant stellt nicht nur aus der Überlegung, dass die Qualität sich auf Bejahung und Verneinung bezieht, die Qualität des Urteils als das Anfangsmoment der Reflexion hin. Er tut dies auch aus einem inhaltlichen Grund: Die oben genannten drei Komponenten des Geschmacksurteils, die im Moment der Qualität enthalten sind, sind alle für die Entfaltung der nachfolgenden Reflexion grundlegend.
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Man kann dies noch durch eine zweite Perspektive ergänzen, die darin besteht, dass das Wohlgefallen des Schönen primär mit der Qualität verbunden ist. Dies ergibt sich ebenfalls im Verlauf der Entfaltung der Reflexion und gerät vor deren Entfaltung noch nicht in den Blick. In § 23, dem ersten Paragraphen über das Erhabene, bestimmt Kant das Wesen des Schönen und des Erhabenen jeweils anhand der Qualität und der Quantität: Also ist das Wohlgefallen dort [am Schönen] mit der Vorstellung der Qualität, hier [am Erhabenen] aber der Quantität verbunden. (§ 23, 244).
Nach dieser Textstelle hat das Wohlgefallen am Schönen primär eine Verbindung mit der Qualität, so wie dasjenige am Erhabenen primär mit der Quantität zu tun hat. Was das letztere betrifft, ist dies leicht nachzuvollziehen. Der Begriff „erhaben“ hängt nämlich direkt mit Quantität zusammen: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist“ (§ 25, 248). Aber inwiefern ist das Wohlgefallen am Schönen mit der Vorstellung der Qualität verbunden? Und was heißt im Zitat „Vorstellung der Qualität“? Bezieht sich dieser Ausdruck auf die Qualität des Urteils, auf die Qualität der gegebenen Anschauung des Gegenstandes oder auf die Qualität des Wohlgefallens? Meines Erachtens können mit der „Vorstellung der Qualität“ im Zitat zugleich die dreierlei Qualitäten – die Qualität des Wohlgefallens, die der Anschauung und die des Urteils – gemeint sein. Im obigen Zitat, wo die Schönheit mit der Erhabenheit kontrastiert wird, bezieht sich die Quantität und Qualität zunächst auf die Anschauung: Das Erhabene betrifft die Quantität der Anschauung, während es im Schönen um die Qualität der Anschauung geht. „Qualität der Anschauung“ bedeutet hier eben, wie sich die Form der Anschauung verhält, ob sie eine für die Erkenntnisvermögen zweckmäßige Beschaffenheit hat. Die im Zitat genannte Qualität ist zugleich im Hinblick auf das Wohlgefallen gemeint: Anders als im Fall des Erhabenen, wo die Lust noch eine Unlust voraussetzt, handelt es sich im Fall des Schönen ausschließlich um die Lust, das positive Gefühl. Im ersten Moment wird die qualitative Seite dieser Lust bzw. dieses Wohlgefallens dargestellt, nämlich als interesseloses Wohlgefallen, d.h. als Gunst. Mit der Analyse der Qualität des Urteils ist zugleich die Beschaffenheit der Qualität des Wohlgefallens, also die Interesselosigkeit, und die Beschaffenheit der Qualität der Anschauung, dass wir an der Form der Anschauung Lust empfinden, herausgearbeitet. Diese dreierlei Qualitäten sind deshalb miteinander verbunden. An diesem Punkt lässt sich eine kurze Anmerkung über eine Beschaffenheit der Analytik des Schönen anschließen: Einerseits bezieht sie sich, architektonisch gesehen, auf vier logische Funktionen des Urteils; andererseits aber erscheint ein
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jeweiliger Gesichtspunkt des Wohlgefallens das zu sein, was tatsächlich analysiert wird18. Die Vorgehensweise der Analytik des Schönen, dass die Analyse nach einem logischen Moment des Geschmacksurteils in der Tat durch eine Analyse nach einem Gesichtspunkt des Wohlgefallens ausgeführt wird, lässt sich so verstehen: Die vier Momente werden zwar „nach Anleitung der logischen Funktionen zu urteilen aufgesucht“, die Analyse der Momente ist aber der Spezialität des Geschmacks angepasst; es wird nach einem jeweiligen Gesichtspunkt des Wohlgefallens analysiert, weil das Wohlgefallen bzw. Missfallen selbst eine Unterscheidung ist, anhand derselben beurteilt wird, ob es schön sei oder nicht. Wenn das Urteil des Schönen vornehmlich mit der Vorstellung der Qualität verbunden ist, wird es konsequent sein, dass der Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit des Urteils auf einer Selbstklärung des Urteilenden über die Qualität des Urteils beruhen muss. In § 6 ist eben eine solche Selbstklärung und Schlussfolgerung auf die allgemeine Gültigkeit enthalten.
6.3 Interesselosigkeit des Wohlgefallens und das zweite Moment der Analytik: Interpretation zu § 6 Dass das Schöne als Gegenstand des Wohlgefallens ohne alles Interesse erklärt wird, ist nicht nur eine begriffliche Bestimmung in einer Untersuchung; das Bewusstsein von der Absonderung des Geschmacksurteils von allem Interesse fungiert vielmehr schon beim Subjekt als ein Zwischenschritt in der Durchführung der Reflexion und führt zum Anspruch auf die allgemeine Mitteilbarkeit des
18 Dieses zeigt sich ganz ausgeprägt beim vierten Moment: die Überschrift dieses Moments heißt: „Moment des Geschmacksurteils nach der Modalität des Wohlgefallens an dem Gegenstande“: das Moment der Modalität handelt hier ausdrücklich vom Wohlgefallen. Das erste Moment heißt zwar „Erstes Moment des Geschmacksurteils der Qualität nach“. Was den Inhalt angeht, handelt es sich aber ebenfalls um die Qualität des Wohlgefallens. Dies zeigt sich in den Überschriften von §§ 2–5: So z. B. heißt § 2 „Das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil bestimmt, ist ohne alles Interesse“. Im zweiten Moment verhält es sich ebenso: die thematisierte Quantität, die Allgemeinheit, bezieht sich in der Durchführung der Analyse dieses Moments primär auf das Wohlgefallen: Die Überschrift von § 8 zeigt dies, indem sie lautet: „Die Allgemeinheit des Wohlgefallens wird in einem Geschmacksurteile nur als subjektiv vorgestellt“. Die Überschrift von § 6, die dies ebenfalls impliziert, lautet: „Das Schöne ist das, was ohne Begriffe als Objekt eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt wird“. Das 3. Moment lässt sich aber nicht reibungslos in dieses Modell einordnen: in diesem Moment werden die Geschmacksurteile dargelegt „nach der Relation der Zwecke, welche in ihnen in Betrachtung gezogen wird“, so lautet die Überschrift des dritten Moments (219).
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Wohlgefallens. § 6 beschreibt einen solchen Reflexionsvorgang. Der Kern dieser Bewegung der Reflexion ist das Folgende: Indem der Urteilende sich bewusst wird, dass sein Wohlgefallen interesselos ist, „kann er keine Privatbedingungen als Gründe des Wohlgefallens auffinden, an die sich sein Subjekt allein hinge, und muss es daher als in demjenigen begründet ansehen, was er auch bei jedem andern voraussetzen kann“ (§ 6, 211). Bezüglich der Schlussfolgerung vom Sich-bewusst-werden, dass es hier um ein Wohlgefallen ohne alles Interesse geht, auf den Anspruch der Allgemeingültigkeit, haben Allison und Wenzel ganz Verschiedenes herausgelesen. Allison sieht eine extrem „verteidigende“, d.h. zurückhaltende Einstellung von Kant gegenüber dieser Schlussfolgerung („the extremely guarded nature of Kant’s language in the passage in question“: 2001, S.100): Kant benutzt in diesem Passus die Ausdrücke: „das kann derselbe nicht anders als so beurteilen“, „muss es daher als in demjenigen begründet ansehen“ und „muss er glauben“. Solche Formulierungen werden von Allison als Ausdruck des Vorbehalts gegenüber der Gültigkeit der Schlussfolgerung betrachtet: Kant habe zwar diese Schlussfolgerung dargestellt, aber mit dem Bedenken, dass diese Schlussfolgerung keine zwingende logische Kraft habe. Nach Allison resultiert die Zurückhaltung Kants aus zweierlei Bedenken: 1) Der Urteilende ist nicht in der Lage, durch Introspektion mit Gewissheit festzustellen, dass sein Wohlgefallen wirklich ohne alles Interesse ist. An diesem Punkt verhält es sich dem moralischen Urteil analog: Man ist nicht in der Lage, mit Gewissheit zu erkennen, dass die Motivation des eigenen Handelns rein moralisch ist. 2) Die Schlussfolgerung vom Bewusstsein des Wohlgefallens ohne alles Interesse zum Anspruch auf die Allgemeingültigkeit ist nicht hinreichend begründet, es handelt sich hier, so Allison, eher um ein vorbereitendes Argument, das als eine Brücke zwischen der Interesselosigkeit und dem Geltungsanspruch funktionieren sollte. Wenzel (2000, S. 89–96) sieht in diesem Passus anstatt der zurückhaltenden Position Kants eine logische Notwendigkeit der Ableitung. Er ist zwar ebenfalls der Ansicht, dass sich der Urteilende der Interesselosigkeit seines Wohlgefallens nie gewiss sein kann. Sofern aber der Urteilende sich der Interesselosigkeit seines Wohlgefallens bewusst wird, muss er annehmen, so Wenzel, dass seine Beurteilung einen Grund des Wohlgefallens für jedermann enthält. Der psychologische Zwang, dass der Urteilende „nicht anders als so beurteilen“ muss, beruht auf einer logischen Notwendigkeit der Schlussfolgerung. Um diese Reflexionsbewegung von der Interesselosigkeit des Wohlgefallens zu der Erwartung, dass jeder ein solches Wohlgefallen habe, zu prüfen, werde ich zunächst die Frage behandeln: Inwiefern ist eine solche Reflexionsbewegung nötig? Muss die Zumutung der Allgemeinheit auf dem Bewusstsein der
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Interesselosigkeit des Wohlgefallens beruhen? Kann noch ein anderer Reflexionsvorgang ebenfalls zur Erwartung der Allgemeinheit des Wohlgefallens führen? Dies ist eben das Problem, ob der Weg vom Bewusstsein der Interesselosigkeit des Wohlgefallens zum Anspruch der allgemeinen Mitteilbarkeit dieses Wohlgefallens einzig und unersetzbar ist. Mit der Lösung dieses Problems kann auch geklärt werden, ob die Bewegung vom ersten zum zweiten Moment des Geschmacksurteils bloß eine lockere Verbindung zwischen beiden Momenten bildet und beide Momente in der Tat nur parallel und voneinander unabhängig stehen, oder ob vielmehr eine notwendige Beziehung zwischen den beiden Momenten besteht. Es scheint, dass Kant in § 9 eine andere Bewegungslinie der Reflexion, die zum Anspruch auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Wohlgefallens führt, entfaltet. Diese Bewegungslinie kann auf folgende Weise beschrieben werden: 1) Der Urteilende wird sich in der Auffassung des Gegenstandes bewusst, dass sich seine Vorstellungskräfte zueinander in einem Verhältnis befinden, das zur „Erkenntnis überhaupt“ erforderlich ist. 2) Nicht nur der Gemütszustand in der Vorstellung einer bestimmten Erkenntnis, sondern auch der Gemütszustand in einer bloßen Betrachtung des Gegenstandes zum Behuf der Erkenntnis überhaupt ist allgemein mitteilbar – dies ist nicht nur ein Ergebnis der transzendentalphilosophischen Untersuchung, sondern auch eine Kenntnis, die jedem, wenngleich sie auch verworren sein kann, zugänglich ist. 3) So wird der Urteilende sich bewusst, dass sein Gemütszustand im freien Spiel der Vorstellungskräfte, sofern diese sich zueinander so stimmen, wie es zur „Erkenntnis überhaupt“ erforderlich ist, auch allgemein mitteilbar ist. Kann dieser in § 9 enthaltene Reflexionsgang die in § 6 beschriebene Bewegung der Reflexion ersetzen? Ein Vergleich zwischen diesen zwei Reflexionsbewegungen kann meines Erachtens zwei Ergebnisse erbringen: 1) Ohne die Reflexionsbewegung, die in § 6 beschrieben wird, kann der in § 9 enthaltene Reflexionsvorgang nicht auskommen. Dieser letztere setzt nämlich die erstere voraus. Denn der Urteilende muss zuerst prüfen, ob sein Wohlgefallen auf der Neigung beruht und falls es so wäre, würde er den weiteren Reflexionsvorgang, z.B. die Reflexion darüber, ob sich seine Vorstellungskräfte bei der Auffassung der Form des Gegenstandes in einem zur „Erkenntnis überhaupt“ schicklichen Verhältnis befinden, abbrechen. 2) Anhand des Bewusstseins der Interesselosigkeit des Wohlgefallens kann der Urteilende sich noch nicht über den Grund dieses Wohlgefallens und über den Grund der Allgemeinheit dieses Wohlgefallens klar werden. Dazu muss noch andere Reflexion, wie z. B. die Reflexion über die Beziehung der ästhetischen Beurteilung zur „Erkenntnis überhaupt“, ergänzend hinzukommen – eben das ist es, was der Reflexionsvorgang, der in § 9 beschrieben wird, leistet.
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Das oben genannte erste Ergebnis weist darauf hin, dass das Bewusstsein von der Interesselosigkeit des Wohlgefallens eine Voraussetzung für den Anspruch auf die Allgemeinheit ausmacht. Jede weitere Reflexion des Geschmacksurteils muss sich auf dieses Bewusstsein gründen. Das oben genannte zweite Ergebnis begrenzt aber die Tragweite des ersten Moments: Das Bewusstsein von der Interesselosigkeit des Wohlgefallens, und mithin das erste Moment, macht zwar den Ausgangspunkt der Reflexion aus, aber Ausgangspunkt nicht im Sinne dessen, dass sich von diesem Ausgangspunkt aus alle weiteren Beschaffenheiten des Geschmacksurteils logischerweise ableiten Nachdem festgestellt wurde, dass das zweite Moment (Anspruch auf die Allgemeinheit) das erste Moment (die Interesselosigkeit des Wohlgefallens) voraussetzt, werde ich als Nächstes diskutieren, ob die Schlussfolgerung vom Bewusstsein der Interesselosigkeit des Wohlgefallens auf den Anspruch der Allgemeinheit dieses Wohlgefallens gut begründet ist. In diesem Reflexionsvorgang tritt eine Komponente des Begriffs Interesselosigkeit, nämlich die Unabhängigkeit von Neigungen, im Vergleich zu einer anderen Komponente des Begriffs, der Unabhängigkeit vom Interesse, das dem reinen praktischen Urteil entspringt, eher in den Vordergrund. Neigung kann bei verschiedenen Menschen jeweils anders sein und ist deshalb etwas bloß Privates. Indem der Urteilende erkennt, dass seine Beurteilung interesselos ist, glaubt er, dass das Wohlgefallen, das seiner Beurteilung zugrunde liegt, von allen Neigungen unabhängig ist und deshalb nicht durch Privatbedingungen beschränkt wird. Er muss somit den Grund seines Wohlgefallens als allgemein mitteilbar ansehen und folglich auch dieses Wohlgefallen bei jedem Anderen als allgemein mitteilbar beanspruchen. Einen beachtlichen Einwand hierzu finden wir bei Longuenesse (2006, S. 202)19, die meint: Was Kant hier anbietet, sei „a bad argument“ (S. 202). Denn nicht nur in der von Kant thematisierten ästhetischen Betrachtung, sondern auch in „spielenden Aktivitäten“ (Longuenesse benutzt die Ausdrücke „playful activities“ und „Games“) sei Wohlgefallen vorzufinden, welches ebenfalls interesselos ist; der Grund des interesselosen Wohlgefallens in den spielenden Aktivitäten könne bei verschiedenen Menschen aber jeweils anders sein. Longuenesse will dadurch beweisen, dass die Interesselosigkeit des Wohlgefallens nicht auf einen allgemein vorauszusetzenden Grund dieses Wohlgefallens hinweise. Es kann sein, so Longuenesse, dass in spielenden Aktivitäten Lust besteht, die interessiertes Wohlgefallen enthält; nachdem man von der Lust, die mit Interesse
19 Ein ähnlicher Einwand ist auch bei Guyer (1979, S. 117) zu finden.
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verbunden ist, abstrahiert, kann bei den spielenden Aktivitäten immer noch etwas übrig bleiben, so glaubt Longuenesse, das ein interesseloses Wohlgefallen ist. Der Einwand von Longuenesse beruht auf einer eher intuitiven Ansicht, dass das Spiel vom ernsthaften Zweck befreit sei und es eine Aktivität sei, die um ihrer selbst willen unternommen werde und in diesem Sinn ein interesseloses Wohlgefallen enthalte. Longuenesse fordert in der Tat diejenige Ansicht Kants heraus, dass es ausschließlich dreierlei Wohlgefallen geben kann, nämlich Wohlgefallen, das entweder auf der Neigung, oder auf der Bestimmung der reinen praktischen Vernunft, oder auf dem ästhetischen Reflexionsurteil beruht. Die bekannte Überlegung von Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen (1953) über das Spiel steht zwar in einem anderen Zusammenhang, kann aber an einem Punkt für die hiesige Absicht hilfreich sein. Nach ihm fehlt für das Wort „Spiel“ eine eindeutige Begrenzung, mit der man unterscheiden kann, was ein Spiel ist und was nicht. Bei einem in Extension so verworrenen Begriff Spiel muss man deshalb, so meine ich, genauer hinweisen, in was für einem Spiel ein interesseloses Wohlgefallen vorzufinden ist und worin der Grund dieses Wohlgefallens eigentlich bestehen kann. Einem pauschalen Hinweis darauf, dass interesseloses Wohlgefallen mit dem alltäglichen Spiel verbunden ist, wie Longuenesse ihn gibt, droht die Gefahr, dass dieser Hinweis leer sein kann. Longuenesses Einwand ist nämlich in zweierlei Hinsicht zu präzisieren: ein genaues Beispiel für das Spiel und eine genaue Erläuterung des Grundes der Interesselosigkeit des Wohlgefallens, das in einem Spiel enthalten ist. Soweit diese beiden Verdeutlichungen fehlen, dürfen wir annehmen, dass Spiele doch oft/immer mit Zwecken verbunden sind und das von Longuenesse gemeinte interesselose Wohlgefallen an einem Spiel bloß eine Lust ist, die zwar nicht mit einem ernsthaft zu verwirklichenden Zweck verbunden ist, aber immer noch auf der Neigung beruht und privat bedingt ist.
7 Die Interesselosigkeit und das freie Spiel der Erkenntnisvermögen Bezüglich zwei Aspekte des Geschmacksurteils gebraucht Kant das Wort frei: 1) Die Erkenntniskräfte „sind hierbei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt“ (§ 9, 217, meine Hervorhebung); 2) das interesselose Wohlgefallen wird von Kant als Gunst bezeichnet: „Gunst ist das einzige freie Wohlgefallen“ (§ 5, 210, meine Hervorhebung). Der genannte erste Aspekt der ästhetischen Freiheit betrifft das Verhältnis der Einbildungskraft zum Verstand; was den zweiten Aspekt angeht, handelt es sich vornehmlich um das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. Wie verhalten sich diese beiden Aspekte zueinander? Ist einer die Bedingung des anderen, und welcher von welchem? Oder sind sie nur zwei Seiten einer Sache? Die erwähnte doppelte Freiheit sollte freilich einheitlich sein, wobei allerdings zu erwägen ist, um was für eine Einheit es sich handelt. Dieses Problem ist für die vorliegende Arbeit in zweierlei Hinsicht wichtig. Erstens: Ich habe die Beurteilung des Schönen als ästhetische Beurteilung der gegebenen Vorstellung im Hinblick auf ihre allgemeine Mitteilbarkeit erklärt. Eine Vorstellung, so Kant, kann nur allgemein mitgeteilt werden, „sofern sie zum Erkenntnis gehört“ (§ 9, 217). Deshalb ist die ästhetische Beurteilung der gegebenen Vorstellung im Hinblick auf ihre allgemeine Mitteilbarkeit in Wirklichkeit die ästhetische Beurteilung dessen, ob und auf welche Weise diese betreffende Vorstellung sich auf Erkenntnis überhaupt beziehen lässt. Es ist für meine Interpretation daher erforderlich, zu klären, inwiefern der Einsatz der Einbildungskraft und des Verstandes zur Kontemplation am Schönen – den ich im Folgenden der Kürze halber ästhetischen Gebrauch der Erkenntnisvermögen nenne – anders ist als der normale Gebrauch der Erkenntnisvermögen zum Erkenntnisurteil. Dadurch wird deutlich werden, ob in meiner Lesart der ästhetische Gebrauch der Einbildungskraft und des Verstandes noch von ihrem Gebrauch zum Erkenntnisurteil prinzipiell unterscheidbar ist. Zweitens ist das Problem auch für die Diskussion über die „ästhetische Einstellung“ von erheblicher Wichtigkeit. Wie in 3.2 erwähnt, haben sich die Theoretiker der ästhetischen Einstellung oft auf Kant als eine Inspirationsquelle berufen. Dabei kommt folgende Lesart zu Kants Text der Theorie der ästhetischen Einstellung sehr entgegen: Die Einbildungskraft kann in der Kontemplation deshalb frei sein, weil das Subjekt eine weder erkennende noch praktische Einstellung einnimmt; es ist die interesselose Einstellung des Subjekts, die die Einbildungskraft und zugleich auch den Verstand befreit hat; eine interesselose Einstellung wird vom freien Spiel der Erkenntnisvermögen vorausgesetzt; das Subjekt kann sich zu https://doi.org/10.1515/9783110546125-008
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einer solchen Einstellung aktiv verhalten, d.h. es kann sich in eine solche Einstellung hineinversetzen, kann aber auch Abstand davon nehmen. In der vorigen Diskussion (in Abschnitt 0.2) über die Mehrschichtigkeit der Interesselosigkeit wurde gezeigt, dass die Interesselosigkeit bei Kant nicht nur ein Attribut des Wohlgefallens ist, sondern auch eine Eigenschaft des Geschmacksurteils sein kann. Zum Beispiel formuliert Kant einmal, wann ein Urteil über einen Gegenstand des Wohlgefallens ganz „uninteressiert“ ist (§ 2, 205, Fußnote); Kant sagt auch, dass das Geschmacksurteil nicht mehr rein ist, wenn sich das mindeste Interesse einmischt (§ 2, 205). Was die Interesselosigkeit als Eigenschaft des Geschmacksurteils angeht, kann sie sich auf doppelte Weise auf das Geschmacksurteil beziehen: Sie ist entweder ein deskriptives Attribut: Ein gewisses Geschmacksurteil ist interesselos, ein anderes ist aber mit Interesse gemischt. Sie kann aber auch eine normative Bedeutung haben: Wenn man ein Geschmacksurteil fällt, sollte das Urteil interesselos sein. Auf die Frage, ob die Interesselosigkeit des Geschmacksurteils bei Kant eine Bedingung der Freiheit der Einbildungskraft ausmacht, oder ob sie vielmehr bloß ein Resultat der reinen ästhetischen Beurteilung ist, kann man bei Kant schwerlich eine direkte Thematisierung und entsprechend auch schwerlich eine eindeutige Antwort finden. Kant würde aber, falls er danach gefragt würde, meines Erachtens zu der folgenden Ansicht neigen: 1) Die Freiheit des Spiels der Erkenntnisvermögen in der Vorstellung des Schönen macht den Grund der Interesselosigkeit des Geschmacksurteils aus, hier Interesselosigkeit in der deskriptiven Bedeutung, anstatt umgekehrt, dass die Interesselosigkeit das freie Spiel der Erkenntnisvermögen möglich mache; 2) die Interesselosigkeit in der normativen Bedeutung, nämlich als eine Forderung, dass das Geschmacksurteil interesselos sein soll, ist bloß eine Forderung zur Abstrahierung des Urteilens von andersartigen Wohlgefallen: Beim Urteil über das Schöne soll nur ein interesseloses Wohlgefallen zur Geltung kommen. Nur in diesem Sinn ist die interesselose Einstellung als ein Erfordernis zu verstehen. Bei der interesselosen Einstellung handelt es sich um keine Einstellung, die zum freien Spiel der Erkenntnisvermögen und folglich auch zur Lust führen würde. Das Folgende ist eine nähere Erläuterung zu diesem Problem, und zwar unter vier Aspekten.
7.1 Der ästhetische Vergleich Der ästhetische Vergleich, der die Auffassung der Vorstellung des Gegenstandes in die Einbildungskraft schon immer begleitet, macht den ersten Aspekt meiner Erläuterung aus. Um den ästhetischen Vergleich einzuleiten, bedarf es keiner ästhetischen Einstellung im Sinne der Bereitschaft zu einer ästhetischen Beurteilung.
Vorstellung des Gegenstandes als Grund des freien Spiels
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Jene Auffassung der Formen in die Einbildungskraft kann niemals geschehen, ohne dass die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche. (KU, Einleitung VII, 190)
Der Vergleich der Form des Gegenstandes mit dem Erkenntnisvermögen begleitet die Auffassung dieser Form deshalb immer, weil der Vergleich nicht außerhalb der Auffassung stattfindet; er ist vielmehr eine ästhetische Vorstellung von der Auffassung der Form, bzw. ein ästhetisches Bewusstwerden dessen, ob die Erkenntnisvermögen in der Auffassung der Vorstellung zueinander passen. Der Akt der Auffassung der Form hat eine Wirkung auf das Gemüt, nämlich die Empfindung der Lust oder Unlust. Ein solches Bewusstsein, das die Auffassung des Gegenstandes immer begleitet und durch das Gefühl der Lust und Unlust stattfindet, bedarf von daher nicht zusätzlich einer eigentümlichen Einstellung bzw. Bereitschaft, um den ästhetischen Vergleich, der schon mit der Auffassung der Form tatsächlich immer stattfindet, einzuleiten. Dabei ist anzumerken: Weil der ästhetische Vergleich schon immer die gemeine Erfahrung begleitet, kann er durchaus mit Interessen koexistieren. Das heißt, der ästhetische Vergleich kann sowohl ohne als auch mit einem Interesse, das das Subjekt an einem Gegenstand nimmt, erfolgen. Auch im Fall der Vorhandenheit der Interessen kann immer noch zwischen der gegebenen Vorstellung und den Erkenntnisvermögen ästhetisch verglichen werden.
7.2 Vorstellung des Gegenstandes als Grund des freien Spiels Der zweite Aspekt behandelt die Frage: Ist es die Interesselosigkeit des Subjekts oder die Beschaffenheit der Vorstellung des Gegenstandes, die als Grund des freien Spiels der Einbildungskraft mit dem Verstand anzusehen ist? Kants Text spricht, so meine ich, eher für die Lesart, dass nicht durch eine interesselose Einstellung, sondern durch die Vorstellung des Gegenstandes die Erkenntnisvermögen ins freie Spiel gesetzt werden. Im Folgenden nenne ich einige Textstellen als Beleg hierfür. Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele [...]. (§ 9, 217)
Es ist zwar nicht anzunehmen, dass die passive Formulierung im Zitat („gesetzt werden“) auf Passivität der Erkenntniskräfte hindeutet, nämlich dass die Erkenntniskräfte durch die Vorstellung des Gegenstandes zu einer gewissen Art der Tätigkeit determiniert werden. Kants Ausdrucksweise kann aber dem Leser die Information vermitteln, dass die gegebene Vorstellung des Gegenstandes zwar nicht als Ursache, aber doch als Grund dafür, warum sich die Erkenntniskräfte in einem freien Spiel
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befinden, zu gelten hat, indem Kant schreibt, dass „durch diese Vorstellung“ die Erkenntniskräfte „ins Spiel gesetzt werden“. Trotz der Spontaneität der spielenden Erkenntnisvermögen kann die gegebene Vorstellung immer noch als Grund des Spiels der Erkenntnisvermögen gelten, sonst kann „schön“ nicht mehr wie eine objektive Eigenschaft dem Gegenstand zugeschrieben werden. Im Anschluss an das obige Zitat schreibt Kant: Die Erkenntnisvermögen sind in einem freien Spiel, weil „kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt“ (§ 9, 217). Nach dieser Formulierung verhält es sich nicht so, dass sich die Einbildungskraft selbst auf keine besondere Erkenntnisregel einschränkt. Vielmehr gibt es keinen bestimmten Begriff, der die Einbildungskraft auf eine bestimmte Weise einschränkt. Es ist nämlich von der Besonderheit der Vorstellung des betreffenden Gegenstandes her, dass die Erkenntnisvermögen nicht auf eine besondere Regel eingeschränkt werden. instellung Die beiden Zitate deuten darauf hin, dass nicht eine Einstellung – E im Sinne einer besonderen Art des Gebrauchs der Erkenntnisvermögen – die Erkenntnisvermögen in den Zustand des freien Spiels versetzt. Der Gebrauch der Erkenntnisvermögen im freien Spiel unterscheidet sich nicht gänzlich von deren Gebrauch zur Erkenntnis. In der Beurteilung richten sich die Erkenntnisvermögen auf die „Erkenntnis überhaupt“, so dass die Gedankenfülle, die durch Assoziation mit der gegebenen Vorstellung verknüpft ist (siehe § 59), die Erkenntnisvermögen in eine unbestimmte und zugleich einhellige Tätigkeit führt. Die begriffliche Unbestimmtheit ist keine absichtliche Entscheidung des Subjekts bzw. keine willkürlich einnehmbare Einstellung, sie beruht vielmehr auf der Unerschöpflichkeit der Gedankenfülle, die assoziativ mit der gegebenen Vorstellung verknüpft ist. Die Einschaltung des freien Spiels der Erkenntnisvermögen ist deshalb mit der Beschaffenheit des Gegenstands notwendig verbunden. Es muss nicht zuerst jede Erkenntnisabsicht ausgeschaltet werden, wie die Theoretiker der ästhetischen Einstellung meinen, damit ein ästhetischer Gebrauch der Erkenntnisvermögen stattfinde. In der Reflexion über den Gegenstand, also in der Suche nach passenden Begriffen an der gegebenen Vorstellung des Gegenstandes, begegnet die Urteilskraft einer unerschöpflichen Gedankenfülle, so dass der Verstand und die Einbildungskraft in ein unbestimmtes Verhältnis zueinander treten. So bedarf die Beurteilung des Schönen, die nach § 9 vor der Lust vorhergeht, nicht um ihrer eigenen Möglichkeit willen wiederum einer sogenannten ästhetischen Einstellung, der Interesselosigkeit20.
20 Zum Beleg dafür, dass die Beschaffenheit der Vorstellung des Gegenstandes zu einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen führt, kann außerdem auch Folgendes zitiert werden: „diese Stimmung der Erkenntniskräfte hat nach Verschiedenheit der Objekte, die gegeben werden, eine verschiedene Proportion“ (§ 21, 238).
Zweckfreier Gebrauch der Erkenntnisvermögen im freien Spiel?
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7.3 Zweckfreier Gebrauch der Erkenntnisvermögen im freien Spiel? Einen dritten Aspekt macht die folgende Fragestellung aus: Kann man das freie Spiel der Erkenntnisvermögen auf die Weise verstehen, dass der Verstand und die Einbildungskraft von Zweckorientiertheit losgelöst sind und jeweils interesselos verfahren? In dieser Fragestellung wird der Begriff „Zweckorientiertheit“ auf die Erkenntnisvermögen angewendet, so dass das jeweilige Erkenntnisvermögen gleichsam auch Zwecke zu erreichen suchen kann. Diese Frage ist durch die Überlegung veranlasst, ob die Loslösung des Verstandes von seinem gewöhnlichen begrifflich bestimmten Gebrauch als Interesselosigkeit des Verstandes verstanden werden kann, hier Interesselosigkeit im Sinne der Zwecklosigkeit. Im Text Kants scheinen die Erkenntnisvermögen eine Struktur der QuasiHandlungen zu haben: Die Erkenntnisvermögen können jeweils wie das Subjekt Absicht, Bestrebung, Bedürfnis, Interesse haben; Interessen der Erkenntnisvermögen könnten sich sogar gegebenenfalls widerstreiten (KpV, V 120–1). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit werde ich mich nicht mit dem Problem auseinandersetzen, ob eine solche Struktur der Quasi-Handlungen der Erkenntnisvermögen hilosophie ist und (bzw. der Gemütsvermögen) eine Schwäche der Kantischen P ob sie gerechtfertigt werden könnte. Ich versuche hier lediglich zu diskutieren, ob es begründet ist, sich auf diese Struktur der Quasi-Handlungen zu berufen und die folgende These aufzustellen: der unbestimmte Gebrauch der Erkenntnisvermögen beim freien Spiel sei eine interesselose Tätigkeit dieser Vermögen. In Kants Text wird das Attribut „ohne Interesse“ in der Regel dem Geschmacksurteil oder dem Wohlgefallen zugeschrieben, in dieser These wird „interesselos“ jedoch auf den Verstand und die Einbildungskraft angewendet. Sind der Verstand und die Einbildungskraft beim freien Spiel interesselos? Wenn jene These stimmt, so gehört Kants Konzeption des freien Spiels der Erkenntnisvermögen zu seiner Theorie der Interesselosigkeit des Geschmacksurteils. Obwohl der Gebrauch der Erkenntnisvermögen in der Beurteilung des Schönen anders als deren Gebrauch zu einer bestimmten Erkenntnis ist, schreibt Kant dem ersteren Gebrauch ein inneres Verhältnis zur Erkenntnis zu: Der ästhetische Gebrauch der Erkenntnisvermögen selbst besteht genau darin, dass sie „eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen“ (§ 9, 217). Der Begriff „Erkenntnis überhaupt“ ist der Schlüssel zur Interpretation der Verschiedenheit und zugleich der Verwandtschaft vom Erkenntnisgebrauch und dem ästhetischen Gebrauch der Erkenntnisvermögen. Obwohl die Erkenntnisvermögen die gegebene Vorstellung auf die Erkenntnis überhaupt beziehen, ist die ästhetische Kontemplation „nicht auf Begriffe gegründet,
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oder auch auf solche abgezweckt“ (§ 5, 209). Eben mithilfe dieser Beziehung der Beurteilung des Schönen zur Erkenntnis überhaupt will Kant die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes bei der Beurteilung des Schönen rechtfertigen. Es verhält sich nicht so, dass eine Ähnlichkeit oder Analogie zwischen dem freien Spiel der Erkenntnisvermögen und dem Gebrauch der Erkenntnisvermögen zur Erkenntnis überhaupt bestehe; vielmehr beziehen die Erkenntnisvermögen beim freien Spiel die Vorstellung schon auf die Erkenntnis überhaupt, wie Kant selbst die Sachlage beschreibt (siehe § 9, 217, Zeile 19–20). Was dem Begriff „Erkenntnis überhaupt“ gegenübersteht, ist der Begriff „bestimmte Erkenntnis“. Sie unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht: 1. Im Vergleich zur bestimmten Erkenntnis ist die Erkenntnis überhaupt unbestimmt. Die Anschauung von dem Gegenstand enthält „reichhaltigen unentwickelten Stoff für den Verstand“ in einem solchen Maß, dass dieser Stoff über die „Einstimmung zum Begriffe“ hinausgeht und nicht mehr erschöpfbar ist (§ 49, 317). Eine solche Vorstellungsart, die für die Erkenntnis nicht irrelevant ist, die aber zu keiner bestimmten Erkenntnis führt, spricht Kant als „Erkenntnis überhaupt“ an, im Gegensatz zu einer bestimmten Erkenntnis. 2. Die bestimmte Erkenntnis bezieht sich auf Gegenstände, die Realität haben oder haben können, d.h. die tatsächlich existieren oder existieren können. Wenn jemand über einen Gegenstand denkt oder spricht, wobei die Realität dieses Gegenstandes, nämlich dessen Existenz, seinem Denken oder Sprechen gleichgültig ist, handelt es sich in diesem Fall nicht um Erkenntnis mit objektiver Gültigkeit, sondern nur um ein Spiel der Erkenntnisvermögen21. Ein solcher Gebrauch der Erkenntnisvermögen, der sich von der Realität des Gegenstandes loslöst, ist bloß auf „Erkenntnis überhaupt“ bezogen. Beim Geschmacksurteil handelt es sich genau um eine Beurteilung, die die Existenz des Gegenstandes nicht berücksichtigt und bloß über seine Form urteilt. „Erkenntnis überhaupt“ bezeichnet deshalb im Kontext der Beurteilung des Schönen die bloße „Betrachtung“ oder „Kontemplation“, d.h. eine Auffassung der Form des Gegenstandes, wobei die Berücksichtigung der Existenz des Gegenstandes ausgeschaltet wird (vgl. Tumarkin 1906, S. 358).
21 In der KrV wird der Begriff „Spiel“ oft in dem Sinn benutzt, dass die Vorstellung an objektiver Gültigkeit fehlt. So z. B.: „Wir würden auf solche Weise nur ein Spiel der Vorstellungen haben, das sich auf gar kein Objekt bezöge“ (B239); „Ohne dieses haben sie gar keine objektive Gültigkeit, sondern sind ein bloßes Spiel, es sei der Einbildungskraft oder des Verstandes, respektive mit ihren Vorstellungen“ (B298); „Läge unserer reinen Vernunfterkenntnis von denkenden Wesen überhaupt mehr als das cogito zum Grunde; würden wir die Beobachtungen über das Spiel unserer Gedanken und die daraus zu schöpfende Naturgesetze des denkenden Selbst auch zu Hilfe nehmen“ (B405); „Denn wenn ich in Ansehung dessen auch nichts als Meinung habe, so ist alles nur Spiel der Einbildung ohne die mindeste Beziehung auf Wahrheit“ (B850).
Stark beeinträchtigte Fähigkeit zum Geschmacksurteil
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Die Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung einhelliger Tätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört, ist die Empfindung, deren allgemeine Mitteilbarkeit das Geschmacksurteil postuliert. (§ 9, 219)
In diesem Zitat bringt Kant unmissverständlich zum Ausdruck, dass die unbestimmte, aber einhellige Tätigkeit der beiden Vermögen zu einer Erkenntnis überhaupt „gehört“, was dagegen spricht, dass das freie Spiel der Erkenntnisvermögen eine vom Zweck, hier Zweck der Erkenntnis, befreite und insofern interesselose Tätigkeit sei. Wenn man außerdem die Bedeutung des freien Spiels näher betrachtet, kann auch festgestellt werden, dass das freie Spiel bei Kant keine Zwecklosigkeit impliziert. Was dem „Spiel“ gegenübersteht, ist „Geschäft“. Mit „Spiel“ wird, wie oben erläutert, die Tätigkeit der Erkenntnisvermögen, die keine objektive Gültigkeit der Erkenntnis beansprucht, bezeichnet. „Frei“ im Ausdruck „freies Spiel“ steht „bestimmt“ gegenüber: Die Einbildungskraft wird dabei nicht auf einen Begriff eingeschränkt; dies bedeutet aber nicht, dass die Einbildungskraft ohne Zweck verfährt. Des Weiteren muss man sich nicht unbedingt des Begriffs ästhetischer Einstellung bedienen, um das freie Spiel der Erkenntnisvermögen von der Tätigkeit zur bestimmten Erkenntnis zu unterscheiden. Bei Kant zeigt sich eine andere Möglichkeit zur Unterscheidung dieser beiden Tätigkeiten, nämlich durch die Art und Weise der Erkenntnis als solcher. Bei der ersteren Tätigkeit geht es um eine besondere Art der Erkenntnis, oder vielleicht genauer: eine von der Erkenntnis abgeleitete Vorstellungsart, nämlich die „Erkenntnis überhaupt“. Auf die Konzeption, dass man den Begriff ästhetische Einstellung annehmen müsse, weil sonst die zwei verschiedenen Gebrauchsarten der Erkenntnisvermögen nicht mehr unterschieden werden können, kann deshalb verzichtet werden.
7.4 Stark beeinträchtigte Fähigkeit zum Geschmacksurteil Ein vierter Aspekt meiner Betrachtung besteht darin: Im Vergleich zur interesselosen Einstellung im Sinne des interesselosen Zustandes des Gemüts, handelt es sich bei Kant um eine abgemilderte Voraussetzung: Soweit der Geschmack nicht durch Neigung sehr beeinträchtigt wird, ist er im Stande, die Lust an der Form des Gegenstandes zu empfinden und über das Schöne zu urteilen. Dies ist aus dem folgenden Text ersichtlich: Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urteilen, so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, über das Schöne. (§ 28, 261)
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Nach diesem Zitat ist jemand nicht mehr in der Lage, über das Schöne zu urteilen, wenn er „durch Neigung und Appetit eingenommen ist“. Neigung und Appetit sind etwas natural gegebenes und bei jedem vorhanden; wenn sie aber das Subjekt stark in Anspruch nehmen, so dass dieses Subjekt die Empfänglichkeit für die subjektive Zweckmäßigkeit der bloßen Form des Gegenstandes verliert, ist es nicht mehr kompetent, ein Geschmacksurteil zu fällen. Diese Äußerung ist weit entfernt von der Annahme der Theorien der ästhetischen Einstellung, dass man zuerst eine interesselose Einstellung einnehmen müsse, um zur ästhetischen Erfahrung zu gelangen. Im Vergleich dazu handelt es sich bei Kant um eine viel schwächere Bedingung: Das Subjekt muss sich nicht zuerst in einen interesselosen Zustand des Gemüts hineinversetzen, um eine Lust an der Form des Gegenstandes zu empfinden; soweit es nicht durch Neigung und Appetit so „eingenommen“ ist, dass seine Empfänglichkeit der Lust gegenüber der Form des Gegenstandes stark beeinträchtigt wird, ist die Bedingung zur Empfindung der Lust schon erfüllt. Einen ähnlichen Sinn kann man auch im folgenden Zitat finden: Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht. (§ 13, 223)
Bei einem „barbarischen“ Geschmack fehlt also nicht nur eine erweiterte Denkungsart, auch die Empfänglichkeit für das „trockene“ Wohlgefallen ist mangelhaft, so dass es zum Wohlgefallen noch der „Beimischung der Reize und Rührungen“ bedarf. In diesem Fall ist der Geschmack nicht mehr in der Lage, ein reines Geschmacksurteil zu fällen. Jetzt können wir eine Bilanz ziehen: 1) Der ästhetische Vergleich zwischen der gegebenen Vorstellung des Gegenstandes und den Erkenntnisvermögen findet schon tatsächlich und stets mit der Auffassung der Vorstellung in die Einbildungskraft statt. Zu diesem Vergleich wird keine interesselose Einstellung benötigt. 2) Ob die Freiheit der Einbildungskraft ihrerseits eine interesselose Einstellung voraussetzt, dazu hat Kant sich nicht explizit geäußert. Der Text legt aber nah, dass bei Kant die bloße Form des schönen Gegenstandes schon in der Lage ist, das Subjekt in das freie Spiel der Erkenntnisvermögen zu versetzen. 3) Im Begriff „das freie Spiel der Erkenntnisvermögen“ ist nicht impliziert, dass die Einbildungskraft und der Verstand interesselos sind (interesselos heißt in diesem Fall: vom Interesse nach Erkenntnis frei zu sein). Die betreffende Tätigkeit, so Kant, gehört nämlich immer noch zur Erkenntnis überhaupt. 4) Falls die Empfänglichkeit der sozusagen trockenen Lust am Schönen und außerdem die Fähigkeit, gegenüber der Form des Gegenstandes unparteilich zu urteilen, stark beeinträchtigt wird, ist das Subjekt allerdings nicht mehr in der Lage, ein Geschmacksurteil zu fällen.
Stark beeinträchtigte Fähigkeit zum Geschmacksurteil
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Kant begründet ein eigentümliches, von der theoretischen und der praktischen Gesetzgebung unabhängiges Feld des Ästhetischen. Er unterscheidet prinzipiell zwischen einem ästhetischen Urteil und einem Erkenntnisurteil und auch zwischen Gut, Angenehm und Schön. Und er stellt die These der Interesselosigkeit des Wohlgefallens im Geschmacksurteil nachdrücklich auf. Deshalb wird in der Regel angenommen, dass eine enge Verbindung zwischen Kant und den Theorien der ästhetischen Einstellung besteht. Bei einer näheren Betrachtung von Kants Text zeigt sich aber, dass Kant schwerlich in die Theorie der ästhetischen Einstellung einzuordnen ist. Wie ich im Abschnitt 3.2 gezeigt habe: Falls man Kant in die Debatte um die ästhetische Einstellung einbeziehen will, ist darauf zu achten, dass es sich bei Kant eher um eine Einstellung der reinen ästhetischen Beurteilung und nicht um eine bloße Einstellung der Aufmerksamkeit handelt. Eine solche Einstellung der Beurteilung kann im Vergleich zur Einstellung der Aufmerksamkeit gegen den Angriff von Dickie besser verteidigt werden. Das vorliegende Kapitel kann als eine nähere Erläuterung dazu angesehen werden: Die interesselose Einstellung bei Kant ist nur in dem Sinn zu verstehen, dass der Urteilende vom irrelevanten Wohlgefallen absieht und nur das interesselose Wohlgefallen an der Form des Gegenstandes berücksichtigt. Dass eine interesselose Einstellung im Sinne des interesselosen Zustandes des Gemüts zu einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen und folglich zur Lust führt, dazu finden wir in Kants Text eher wenig Unterstützung. Sachlich ist es eine schwierige Aufgabe, einen benutzbaren Begriff der „ästhetischen Einstellung“ auszuarbeiten. Man kann durch Kant die Komplexität der Sache in den Blick bekommen, selbst wenn man ihm nicht in jeder Einzelheit zustimmt.
8 Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen Kants Ansicht, dass das reine Geschmacksurteil vom Interesse frei ist, ist seit der Publikation der Kritik der Urteilskraft zu einem Gemeingut der Ästhetik geworden. Adorno bezeichnet sie als eine „seitdem unverlorene Erkenntnis“ (Adorno 1970, S. 23). Es wurde allerdings der Versuch – darunter zählt Friedrich Theodor Vischer als der bedeutendste Vertreter – unternommen, der einerseits auf der Kantischen Tradition der Interesselosigkeit besteht, paradoxerweise aber zugleich ein Interesse, und zwar ein inhaltliches Interesse, ausarbeiten will. Beides schien Vischer wünschenswert: einerseits die Interesselosigkeit und somit die Selbständigkeit des ästhetischen Bereichs, und andererseits eine inhaltliche Bedeutsamkeit, die den Betrachter interessiert, belehrt und womöglich erweckt (Vischer 1898, S. 37–47 und 82 f.). Vischer prägt dafür den Ausdruck „interesseloses Interesse“ (S. 83). Die Schönheit sollte demzufolge nicht bloß aufgrund der Form gefallen, weil inhaltliche Bedeutsamkeit ebenfalls unentbehrlich sei. Es besteht eine ganze Reihe von Interpretationsversuchen (Gotshalk 1967, Guyer 1977, Rogerson 1986, Kern 2000), die glauben, in Kants Ästhetik zwei verschiedene, eventuell sogar gegenläufige Modelle über Schönheit gefunden zu haben. Modell I sei die bekannte formalistische Erklärung über Schönheit; Modell II befinde sich hauptsächlich in der Kunsttheorie und sei dann von Kant zu einer allgemeinen Erklärung der Schönheit überhaupt erweitert worden. Dieses Modell II sei die Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen (§ 51, 320). Guyer meint, dass es hier um eine Spannung („tension“) zwischen Formalismus und Expressionismus geht22. Andrea Kern ist hingegen der Ansicht, dass sich die Kantische Ästhetik dabei in einen Konflikt verstrickt. Expressionismus bedeutet hier (zum Beispiel in Guyers Diskussion) nicht die Stilrichtung der Kunst im ausgehenden 19. Jahrhundert, sondern ein Verständnis über Schönheit, exemplarisch bei Hegel und Friedrich Theodor Vischer, nach dem nicht die bloße Form des Gegenstandes, sondern das Verhältnis der anschaulichen Form zum Begriff, und zwar Form als Ausdruck und Begriff als dem auszudrückenden Inhalt, für die Schönheit maßgebend sei. Meine Intention in diesem Kapitel ist, erstens aufzuzeigen, dass der Gegensatz zwischen diesen zwei Modellen bloßer Schein ist. Die oben genannten
22 Guyer versucht aber zu zeigen, dass hier kein Widerspruch bestehen muss: Die zwei Modelle lassen sich als kompatibel verstehen: die Theorie der Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen sei eine Weiterentwicklung der Theorie des freien Spiels der Vorstellungskräfte, und letztere korrespondiere dem Formalismus. https://doi.org/10.1515/9783110546125-009
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Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen
Interpretationen beruhen auf Verwechselung der Darstellung bzw. Versinnlichung mit dem Ausdruck. Bei der Definition der Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen handelt es sich nicht um die Versinnlichung, ein Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung, sondern um ein Verhältnis von der ästhetischen Idee zum Objekt, und zwar ein Verhältnis der Vorstellungen der produktiven Einbildungskraft als Urbild zur Form des gegebenen Gegenstandes als Nachbild. Zweitens will ich aufzeigen, dass Kant durch die Bestimmung der Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen die Spannung zwischen Gegebenheit und Faktum effektiv abmildern kann: In der gegebenen Form des Gegenstandes trifft man das an, was man selbst in der Einbildungskraft produziert; die Begegnung mit einem schönen Gegenstand ist eine Wiederbegegnung mit dem eigenen schöpferischen Werk in der Einbildungskraft. In Kapitel 2 wurde erläutert, dass das Subjekt in sich selbst und aus der gegebenen Vorstellung etwas „macht“. Dieses gemachte Etwas kann das Wohlgefallen und die ihm entsprechende Lust sein. Das gemachte Etwas korrespondiert aber auch mit dem, was Kant mit „ästhetischer Idee“ meint: dem Entwurf der produktiven Einbildungskraft.
8.1 Darstellung vs. Ausdruck In der Kritik der Urteilskraft spricht Kant an verschiedenen Stellen und aus unterschiedlichen Anlässen über „Ausdruck“. So bestehe beispielsweise das Ideal der menschlichen Gestalt „in dem Ausdrucke des Sittlichen“ (§ 17, 235, Zeile 15). In § 51 führt Kant drei Arten des Ausdrucks an, „dessen sich Menschen im Sprechen bedienen“ (§ 51, 320): Wort, Gebärde und Ton. Eine allgemeine Theorie Kants über den Ausdruck will der vorliegende Text nicht skizzieren. Ich will nur nachdrücklich darauf hinweisen, dass der Begriff „Ausdruck“ in Kants Formulierung „Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen“ eine ganz besondere Bedeutung hat. Ein gewöhnliches Verständnis von „Ausdruck“ lässt sich auf diese Formulierung Kants nicht übertragen. Hier ist deutlich zwischen Darstellung und Ausdruck zu unterscheiden. Bei der Darstellung, also Hypotypose (siehe den zweiten Absatz in § 59, 351), geht es um die Versinnlichung des Begriffs durch Anschauungen (schematisch oder symbolisch). Bei der Definition der Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen aber handelt es sich nicht um die Versinnlichung, ein Verhältnis zwischen Begriff und Anschauung, sondern um ein Verhältnis zwischen dem Objekt und der ästhetischen Idee. Kant versteht die Schönheit bzw. das Schöne nicht als
Darstellung vs. Ausdruck
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Ausdruck der Begriffe, sondern als Ausdruck der ästhetischen Ideen. Dies grenzt Kant von der Inhaltsästhetik ab. Ein Kerntext ist der folgende: Man kann überhaupt Schönheit (sie mag Natur- oder Kunstschönheit sein) den Ausdruck ästhetischer Ideen nennen: nur dass in der schönen Kunst diese Idee durch einen Begriff vom Objekt veranlasst werden muss, in der schönen Natur aber die bloße Reflexion über eine gegebene Anschauung ohne Begriff von dem, was der Gegenstand sein soll, zur Erweckung und Mitteilung der Idee, von welcher jenes Objekt als der Ausdruck betrachtet wird, hinreichend ist. (§51, 320)
Am Ende dieses Zitats ist das „Objekt“ gerade als der Ausdruck der (ästhetischen) Idee gekennzeichnet. Es ist außerdem darauf zu achten, was das Wort „Schönheit“ am Anfang des Zitats bedeutet. Ohne bestimmten Kontext kann Schönheit sowohl das Schönsein als auch den schönen Gegenstand bedeuten. Das Wort „Schönheit“ am Anfang des Zitats verweist in diesem Kontext eher auf den schönen Gegenstand, indem bei der Naturschönheit das „Objekt“ bzw. der Gegenstand „der Ausdruck“ der ästhetischen Ideen ist, wie das Ende des Zitats zeigt. Unter einer ästhetischen Idee versteht Kant „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“ (§ 49, 314). Vier Ebenen, so meine ich, lassen sich bezüglich einer ästhetischen Idee ausdifferenzieren, wenn man Kants Formulierungen über ästhetische Ideen an verschiedenen Stellen zusammenfasst: 1) ein „Thema“ (§ 53, 329) bzw. ein Begriff, was der Gegenstand sein soll. Bei der Naturschönheit fehlt diese Ebene, hier findet sich nur die Reflexion über eine gegebene Anschauung, ohne Begriff davon, was der Gegenstand sein soll; 2) die Form des Objekts, die den Ausdruck der ästhetischen Ideen ausmacht; 3) die ästhetische Idee, die ein Entwurf der produktiven Einbildungskraft ist; 4) „eine unnennbare Gedankenfülle“ (§ 53, 329). Zwischen 4) der unnennbaren Gedankenfülle und 3) der ästhetischen Idee besteht ein Verhältnis von Assoziation: Die ästhetische Idee als sinnliche Vorstellung kann sich nur durch Assoziation auf die unendliche Gedankenfülle beziehen (siehe § 49, 315 f.). Das Verhältnis, das in dem sogenannten „Ausdruck“ besteht, findet zwischen Ebene 2) und 3) statt. In der Erörterung der bildenden Künste formuliert Kant dieses Verhältnis besonders deutlich: Die ästhetische Idee (Archetypon, Urbild) liegt zu beiden [Plastik und Malerei] in der Einbildungskraft zum Grunde: die Gestalt aber, welche den Ausdruck derselben ausmacht (Ektypon, Nachbild), wird entweder in ihrer körperlichen Ausdehnung (wie der Gegenstand selbst existiert) oder nach der Art, wie diese sich im Auge malt (nach ihrer Apparenz in einer Fläche), gegeben [...]. (§ 51, 322)
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Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen
8.2 Urbild und Nachbild Zwei Begriffe, die für die Interpretation der ästhetischen Idee und des Ausdrucks entscheidend sind, kommen im obigen Zitat zur Sprache: „Urbild“ und „Nachbild“. Kant versteht die ästhetische Idee als das Urbild, bzw. Archetypon. Die „Gestalt“, nämlich die Form des Gegenstandes, ist das Nachbild, Ektypon. Der Ausdruck und das Auszudrückende beziehen sich hier jeweils auf das Nachbild und Urbild. Die ästhetische Idee als Urbild hat ihren Ursprung und Sitz bloß in der Einbildungskraft. Die ästhetische Idee, ein Entwurf der produktiven Einbildungskraft, der ursprünglich in der Einbildungskraft besteht, findet ihre Ausprägung bei einem Gegenstand und spiegelt sich in der Form desselben. Dies gilt sowohl für die künstlerische Schöpfung als auch für die bloße ästhetische Betrachtung. Im Fall der Kunstschönheit ist die ästhetische Idee die „einem gegebenen Begriff beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft“ (§ 49, 316, Zeile 19–20). Das Verhältnis dieser ästhetischen Idee zu diesem gegebenen Begriff ist die Darstellung (siehe auch: „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört [...]“ (§ 49, 314–5, meine Hervorhebung); die ästhetische Idee sucht sogar eventuell einer „Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen“ (§ 49, 314). Dieses Verhältnis der Darstellung der bestimmten Begriffe macht bei Kant jedoch nicht das Wesen der Schönheit aus und lässt sich nicht auf die Naturschönheit übertragen. Nur in der Kunstschönheit ist beiderlei Verhältnis enthalten: einerseits ein Verhältnis des Ausdrucks zwischen dem Urbild in der Einbildungskraft und seinem vergegenständlichten Nachbild, andererseits ein Verhältnis der Darstellung eines Begriffs. Nehmen wir einen bedeutenden Vertreter der Inhaltsästhetik, Friedrich Theodor Vischer, zum Vergleich, so erhält Kants Theorie vom Ausdruck der ästhetischen Ideen ein deutlicheres Profil. Bei Vischer ist das Schöne „ausdrucksvolle Form, formgewordener Ausdruck, Einheit von Ausdruck und Harmonie“ (Vischer 1898, S. 78). Der Ausdruck ist bei Vischer ein Verhältnis zwischen Form und Inhalt, wobei Wahrheit, Begriff oder Idee den Inhalt ausmachen. Schönheit ist nach ihm also eine formale Beschaffenheit der Darstellungsweise eines Begriffs: Je vollständiger und passender sich das Innerliche äußert, desto schöner ist es. Bei Kant aber ist das Ausgedrückte nicht der Inhalt bzw. der Begriff, sondern eine ästhetische Idee, eine sinnliche Vorstellung. Diese Besonderheit des Kantischen Gedankens hat ihren Grund zum Teil darin, dass nach Kant die Vernunftidee sich nicht direkt sinnlich darstellen lässt (siehe KäU, § 57 Anmerkung I, 343–4; § 59, 352–3). Beim Hegelianer Vischer hingegen lässt sich auch die (absolute) Wahrheit ästhetisch unmittelbar darstellen. Diese Besonderheit Kants besteht meines
Bestimmte Form des Objekts und willkürliche Form der produktiven Einbildungskraft
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Erachtens aber hauptsächlich darin, dass nach ihm ein reines ästhetisches Urteil einen bestimmten Begriff als Bestimmungsgrund ganz und gar ausschließt. Wenn meine Interpretation richtig ist, so ist Rogersons interpretatives Projekt, zwischen dem Formalismus Kants und der Theorie des Ausdrucks zu vermitteln, gänzlich schief gelaufen, weil die am Anfang stehende, das Projekt leitende Fragestellung schon falsch ist. the early sections of the text [KäU] seem to claim that form is all important to beauty, and yet the later sections argue that something is beautiful only if it can symbolize or ‚express‘ such Ideas as ‚the kingdom of the blessed, hell, eternity, & c.‘ (Rogerson, 1986, S. 1)
Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass Rogerson das Symbolisieren („symbolize“), welches eine Art der Darstellung ist, und das Ausdrücken („express“) für ein und dasselbe hält. Und in seinem Interpretationsprojekt verwechselt er Ausdruck („expression“) und Darstellung bzw. Versinnlichung gänzlich. Nur aus dieser Verwechslung kann die vermeintliche Interpretationsaufgabe entstehen, wie zwischen dem Formalismus Kants mit seinem inhaltlichen Ansatz zu vermitteln ist. In der Tat hat Kant die Schönheit nie allgemein durch inhaltliche Bestimmung erklärt. Dies ist meine Stellungnahme zu den oben genannten Interpretationsversuchen, welche der Ansicht sind, in Kants Ästhetik stehe ein Expressionismus (Ausdruckstheorie) bzw. eine inhaltliche Bestimmung der Schönheit dem Formalismus entgegen. Die sogenannte Spannung zwischen dem formalistischen und dem expressionistischen Modell lässt sich somit als eine bloß scheinbare auflösen. Rogerson will Kants Theoriestück „die Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Idee“ auf das Theoriestück „Schönheit als Symbol des sittlich Guten“ anwenden. In der Interpretation des § 59 schreibt er: „Kant [...] states specifically how the mechanism of symbolic expression operates“ (1986, S. 103). Die Formulierung „symbolic expression“ zeigt deutlich, dass Rogerson zwei eigentlich nicht zusammengehörige Sachen verschmolzen und insofern verwechselt hat. Der Weg, durch die Theorie der Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen die Schönheit als Symbol des sittlich Guten zu interpretieren, ist nicht begehbar.
8.3 Bestimmte Form des Objekts und willkürliche Form der produktiven Einbildungskraft Auf den ersten Blick scheint es seltsam zu sein, zwischen Urbild und Nachbild, nämlich zwischen der Form eines gegebenen oder geschaffenen (künstlichen) Gegenstandes und der Vorstellung der Einbildungskraft zu unterscheiden, und
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Schönheit als Ausdruck der ästhetischen Ideen
das Verhältnis von beiden als Ausdruck zu kennzeichnen. Ist die Form des Gegenstandes nicht eigentlich schon eine Vorstellung der Einbildungskraft? Wieso will Kant diese zwei Ebenen noch unterscheiden und sie durch ein Verhältnis von Ausdruck wieder verbinden? Das folgende Zitat, so meine ich, kann uns viel darüber verraten, wieso der Begriff Ausdruck im Sinne des Verhältnisses von Urbild und Nachbild für Kant wichtig ist: Wenn nun im Geschmacksurteile die Einbildungskraft in ihrer Freiheit betrachtet werden muss, so wird sie erstlich nicht reproduktiv, wie sie den Assoziationsgesetzen unterworfen ist, sondern als produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen) angenommen; und ob sie zwar bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes der Sinne an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden ist und sofern kein freies Spiel (wie im Dichten) hat, so lässt sich doch noch wohl begreifen: dass der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde. (KäU, Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik, 240 f.)
In der ästhetischen Kontemplation des Betrachters fungiert die Einbildungskraft „produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen)“, wie das obige Zitat zeigt. Und in diesem Sinn ist die Freiheit der Einbildungskraft zu verstehen. Andererseits begegnet die Einbildungskraft einer Schranke, weil sie „an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden“ ist. Für den Urteilenden ist der Gegenstand gegeben und dessen Form bestimmt. Die Einbildungskraft befasst sich also in der ästhetischen Beurteilung mit zwei Arten von Formen: einerseits mit den willkürlichen Formen möglicher Anschauungen, und in diesem Fall ist die Einbildungskraft die Urheberin; andererseits noch mit „eine[r] bestimmte[n] Form“ des gegebenen Gegenstandes. Die Form, die im Geschmacksurteil beurteilt wird, hat deshalb einen doppelten Charakter: Sie muss von der Einbildungskraft selbst gemacht und zugleich von dem gegebenen Gegenstand bestimmt sein. Ohne den ersten Charakter ist die Einbildungskraft nicht mehr frei und produktiv; ohne den zweiten Charakter ist das Geschmacksurteil nicht mehr ein Urteil über den gegebenen Gegenstand, sondern ein bloßes Urteil über irgendeine in der Einbildungskraft schwebende Phantasie. Wie ist es aber möglich, dass die Form, mit der die Einbildungskraft sich befasst und spielt, einerseits von der Einbildungskraft selbst gemacht und andererseits vom Gegenstand gegeben ist? Um dieses Problem zu lösen, muss Kant die zweifache Form zuerst unterscheiden und dann verbinden. Die Unterscheidung liegt darin, dass Kant darauf besteht, dass hier zwei unterschiedliche Arten von Form bestehen müssen: Die eine Art der Form hat ihren Ursprung in der produktiven Einbildungskraft und
Bestimmte Form des Objekts und willkürliche Form der produktiven Einbildungskraft
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Kant nennt sie schließlich ästhetische Idee; die andere ist eine bestimmte Form, die vom Gegenstand gegeben ist. Die Verbindung der zwei Arten der Form liegt darin, dass diese bestimmte Form nicht bloß eine gegebene, sondern zugleich ein Ausdruck der ästhetischen Idee ist. Diese bestimmte Form ist nach Kant ein Nachbild. Sie kann ein Nachbild werden, indem die Einbildungskraft in der bestimmten Form eines gegebenen Gegenstandes die ästhetische Idee, die sie selber entwirft, entdeckt. Dies formuliert Kant im obigen Zitat auf folgende Weise: „dass der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde.“
III Interesselosigkeit, Denkungsart und moralisch bezogene Begründung des Geschmacks
9 Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40 In § 40 bestimmt Kant das Verhältnis vom Geschmack zum sensus communis. Vermittels des Begriffs sensus communis will Kant in diesem Paragraphen nicht nur den ästhetischen Charakter (in sensus impliziert) und die Mitteilbarkeit des Geschmacks (in communis impliziert) erläutern. Denn im vierten Moment der Analytik, genauer, in §§ 20–22, ist das schon anhand des Begriffs „Gemeinsinn“ geschehen. Kant führt in § 40 vielmehr aus, wie man sich beim Denken an die Stelle jedes anderen versetzen muss, um von privaten Beschränkungen zu abstrahieren und zu einem Urteil mit Allgemeingültigkeit zu gelangen. Von dieser Perspektive aus wird der Geschmack definiert als „das Vermögen, die Mitteilbarkeit der Gefühle, welche mit gegebener Vorstellung (ohne Vermittlung eines Begriffs) verbunden sind, a priori zu beurteilen“ (§ 40, 295–6). In diesem Kapitel werde ich § 40 interpretieren, und zwar im Hinblick darauf, wie sich das Geschmacksurteil zur normativen Denkungsart, nämlich der „Maxime der Urteilskraft“, sich an der Stelle jedes anderen zu denken, verhält. In 9.1 wird erläutert, wie Kant das Thema „Denkungsart“ zur Erläuterung des Geschmacks einführt. In 9.2 wird ausgelegt, was für ein Interesse der Begriff „Maxime der Urteilskraft“ impliziert. In 9.3 wird der letzte Absatz von § 40, ein Absatz über das eventuelle Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit, diskutiert.
9.1 Geschmack als „eine Art von sensus communis“ Die Überschrift von § 40 lautet: „Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis“. Wenn Geschmack eine Art von sensus communis ist, würde er als ein Unterbegriff an Merkmalen des Oberbegriffs sensus communis teilhaben. Durch die Bestimmung als eine Art von sensus communis wird er deshalb in den weiteren Zusammenhang des Oberbegriffs sensus communis gestellt. Dies lässt sich als eine Erweiterung des Forschungshorizontes ansehen, wodurch der Geschmack jetzt aus der Perspektive der Ausübung der Urteilskraft im Allgemeinen und nicht nur als bloße ästhetische Urteilskraft betrachtet werden wird. Kant hält den Geschmack und den sensus communis nicht für identisch. Obwohl er schreibt, „dass die ästhetische Urteilskraft eher als die intellektuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne“ (§ 40, 295), ergänzt er dies durch eine Bedingung: „wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüt brauchen will“ (§ 40, 295). Zugleich schlägt er, um der Genauigkeit willen, in der Fußnote vor, dass man den Geschmack als https://doi.org/10.1515/9783110546125-010
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Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40
sensus communis aestheticus, und den gemeinen Menschenverstand als sensus communis logicus bezeichnen könnte (§ 40, 295). Der Geschmack ist also nicht mit dem sensus communis gleichzusetzen, sondern ist nur eine Art von sensus communis. Eine andere Art ist der sensus communis logicus, d.h. der logische Gebrauch des sensus communis. Im zweiten Absatz des Paragraphen erläutert Kant den sensus communis als „die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“, nämlich eines Beurteilungsvermögens, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urteil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluss haben würde. (§ 40, 293)
Kant spricht vom sensus communis als der „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ anstatt einfachhin als dem „gemeinschaftlichen Sinn“, wohl aus der Überlegung, dass dem Begriff sensus communis keine demonstrative Anschauung zugrunde liegen kann und mit ihm eher ein Anspruch verbunden ist, dass man mit dem Begriff des sensus communis sein Denken regeln sollte. Der Begriff des sensus communis beinhaltet in der Tat ein Verfahren des Denkens bzw. der Reflexion, welches von Kant anschließend als „Maxime der Urteilskraft“ in das System der Maximen bzw. der Denkungsarten des Menschenverstandes eingeführt wird (§ 40, 294). (Die drei Maximen lauten: „1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken“: § 40, 294.) Dadurch, dass Kant den sensus communis als „die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ und diese Idee – an der Stelle jedes andern zu denken – als die Maxime der Urteilskraft erklärt und zugleich schon im Titel des Paragraphen der Geschmack als eine Art von sensus communis bestimmt wird, steht jetzt der Geschmack in einer Verbindung mit der Maxime der Urteilskraft. Eine Maxime, die die Denkungsart regelt, lässt sich aber nicht ohne Bedenken auf die Beurteilung des Schönen anwenden. Denn die in einem Geschmacksurteil enthaltene Reflexion ist kein Denken in bestimmten Begriffen. Kant dürfte auch aus dieser Überlegung geschrieben haben: „Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören zwar nicht hieher, als Teile der Geschmackskritik“. Er fügt aber sofort hinzu, dass die betreffenden Maximen doch der „Erläuterung ihrer Grundsätze dienen“ können (§ 40, 294). Dass eine Maxime der Denkungsart auch zur Erläuterung der Grundsätze der Geschmackskritik dienen kann, lässt sich wohl so erklären: 1. Das Geschmacksurteil erhebt wie das Erkenntnisurteil den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit; 2. selbst der für das begriffliche Denken zuständige Verstand spielt auch im Geschmacksurteil eine Rolle (siehe § 1).
Geschmack als „eine Art von sensus communis“
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Es ist bemerkenswert, wie Kant hier das Verfahren beschreibt, wie die Reflexion die subjektiven Privatbedingungen ausschaltet, um zum allgemeinen Standpunkt zu gelangen. Nach der Logik kann „die Vergleichung unserer eigenen mit Anderer Urteilen“ als „[e]in äußeres Merkmal oder ein äußerer Probierstein der Wahrheit“ gelten (Logik, IX 57): Die Unvereinbarkeit meines Urteils mit dem eines anderen kann darauf hinweisen, dass mein Urteil eventuell problematisch ist. Das Urteil des anderen wird dabei wirklich einbezogen und betrachtet. Das in § 40 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft entwickelte Verfahren der Reflexion behandelt aber nicht einen wirklichen Vergleich, sondern ein Urteil a priori, d.h. dass „man ein Urteil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll“ (§ 40, 294). Dieses geschieht nun dadurch, dass man sein Urteil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urteile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt [...]. (§ 40, 294)
Um aber das eigene Urteil an die möglichen Urteile der anderen zu halten und sich in die Stelle jedes anderen zu versetzen, nämlich um a priori zu beurteilen, wird ein Ansatzpunkt zur Durchführung der Reflexion benötigt. Dieser Ansatzpunkt besteht darin, dass „man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert“ (§ 40, 294). Dazu bedürfen wir allerdings wiederum eines konkreteren Verfahrens der Reflexion. Dieses besteht nach Kant darin, „dass man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel möglich weglässt und lediglich auf die formalen Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat“ (§ 40, 294). Diese Operation der Reflexion, was in dem „Vorstellungszustande“ zur Materie, bzw. zur Empfindung gehört, wegzulassen und ausschließlich die formalen Eigentümlichkeiten der Vorstellung zu berücksichtigen, stimmt, wie man sehen kann, mit dem Verfahren des Geschmacksurteils überein: Beim Geschmacksurteil kommt es ebenfalls darauf an, das, was zur Materie der gegebenen Vorstellung gehört, wegzulassen und sich lediglich mit der formalen Beschaffenheit der Vorstellung zu befassen. Diese Übereinstimmung ergibt sich nicht zufällig: Nur mit einem solchen Verfahren der Reflexion ist erst ein Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit möglich, beim Geschmacksurteil verhält es sich ebenfalls so. Die in § 40 entwickelte Operation der Reflexion als ein Verfahren der Urteilskraft überhaupt stimmt des Weiteren auch mit dem in § 6 entwickelten Reflexionsvorgang überein: Das Subjekt wird sich bewusst, dass sein Wohlgefallen am Gegenstand interesselos ist; von daher sollte das betreffende Wohlgefallen von den subjektiven zufälligen Bedingungen frei und in etwas gegründet sein, das bei jedem anderen vorausgesetzt werden kann; das Subjekt mutet deshalb jedem ein ähnliches Wohlgefallen zu. Obwohl Kant selber nicht explizit zum Ausdruck
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Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40
bringt, dass die Maxime der Urteilskraft auch eine Maxime des Geschmacks sei, sollte der allgemeine Standpunkt, den „die erweiterte Denkungsart“ fordert, auch für das reine Geschmacksurteil gelten. Von daher gehört die erweiterte Denkungsart bzw. Maxime der Urteilskraft zwar „nicht hierher, als Teile der Geschmackskritik“ (§ 40, 294), sie kann aber eine Bedingung der Reinheit des Geschmacksurteils zum Ausdruck bringen. Die normativen Bedingungen, die ein reines Geschmacksurteil erfüllen soll, wird schon in der Analytik des Schönen behandelt23. Dort werden sie anhand der semantischen und (geschmacksurteils-)logischen Analyse ausgearbeitet. Im ersten Moment der Analytik wird nämlich die normative Bedingung erläutert, dass ein Geschmacksurteil rein, also interesselos sein sollte. Diese Forderung basiert aber auf dem Charakteristikum des Geschmacksurteils: Um ein Geschmacksurteil fällen zu können, sollte der Urteilende ausschließlich dasjenige Wohlgefallen als Grund seines Urteils wählen, das ohne alles Interesse ist. In § 40 ändert sich der Blickwinkel: Die Unparteilichkeit bzw. der allgemeine Standpunkt ist nicht mehr eine Forderung, die bloß auf dem Charakter des Geschmacksurteils beruht. Es handelt sich hier vielmehr um eine Forderung des Denkens im Hinblick auf sein Urteil. Die in § 40 angeführte normative Bedingung, nämlich der allgemeine Standpunkt, geht also über die semantische und (Geschmacksurteils-)logische Normativität hinaus: Wenn man das Geschmacksurteil, ein ästhetisches Reflexionsurteil, mit dem Sinnenurteil verwechselt, handelt es sich, so nach der Analytik des Schönen, entweder um ein semantisches Missverständnis dessen, was „schön“ heißt, oder um ein falsches Verständnis der Eigentümlichkeiten des reinen ästhetischen Urteils, oder um einen Mangel an Kultur des Geschmacks. Jetzt, gemäß § 40, kann es sich dabei auch um eine problematische Denkungsart handeln. Mangel an Kultur und problematische Denkungsart sind bei Kant wesentlich zu unterscheiden. Denn wie Textstellen in der Kritik der Urteilskraft (z. B. „moralische Denkungsart“: 210; „moralisch-gute Denkungsart“: 299) und in anderen Werken zeigen, hängt „Denkungsart“ oft mit der Art der Gesinnung im Bereich der Moral zusammen; eine beschränkte Denkungsart, d.h. eine Denkungsart, die nicht vom verallgemeinerbaren Standpunkt ausgeht, kann auch zur nicht verallgemeinerbaren Maxime und entsprechenden Gesinnung führen.
23 Zu den Bedingungen, die ein reines Geschmacksurteil erfüllen soll, siehe Allison 2001, S. 144: Unter den vier Momenten der Analytik des Schönen sieht er die Momente der Qualität, der Quantität und der Relation als Reinheitsbedingungen des Geschmacksurteils, während das Moment der Modalität alle diese Bedingungen vereinheitlicht.
Maxime der Urteilskraft und Interesse
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Auch die Deduktion des Geschmacksurteils behandelt nicht einen solchen normativen Standpunkt: Sie rechtfertigt anhand epistemischer Ressourcen die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils; der in § 40 angeführte allgemeine Standpunkt macht aber sozusagen ein Interesse der Urteilskraft aus und ist für sich schon wertzuschätzen. Mit der Erweiterung des Horizontes, dass die Unparteilichkeit, die eigentlich eine normative Bedingung des reinen Geschmacksurteils ist, jetzt als die Maxime der Urteilskraft überhaupt aufgestellt wird, wird ein weiterer Zusammenhang des Geschmacks, nämlich der zweckmäßige Gebrauch der Urteilskraft überhaupt, thematisiert. Nicht bloß die ästhetische Urteilskraft, sondern der generelle Gebrauch der Urteilskraft soll den allgemeinen Standpunkt einnehmen.
9.2 Maxime der Urteilskraft und Interesse Den allgemeinen Standpunkt einzunehmen, nämlich an der Stelle jedes anderen zu denken, ist die Maxime der Urteilskraft. In Betracht dessen, dass Maximen mit Interessen zusammenhängen, wobei Kant sogar formuliert: „[a]uf dem Begriffe eines Interesse gründet sich auch der einer Maxime“ (KpV, V 79), kann man vermuten, dass ein Interesse an der Allgemeinheit des Denkens und des Urteils, und zwar ein Interesse mit apriorischem Quell, bestehen sollte. In diesem Abschnitt versuche ich, dieses Interesse im Hinblick auf sein Wesen und sein Verhältnis zum Geschmacksurteil zu diskutieren. Dies dient zur Entfaltung des folgenden Inhalts, es wird in diesem Abschnitt deshalb keine Vollständigkeit beansprucht. Erstens, um was für ein Interesse handelt es sich hier? Es ist schwierig, das hier betreffende Interesse genau zu identifizieren. Es beschränkt sich nicht auf Gesinnung und moralisches Urteil, sondern betrifft eine gründliche Forderung an allen Gebrauch der Urteilskraft und macht eine subjektive Bedingung des theoretischen und praktischen Gebrauchs der Vernunft aus. Insofern ist das betreffende Interesse wohl nicht von einem anderen Interesse der theoretischen oder praktischen Vernunft abzuleiten, es liegt vielmehr den anderen Interessen der theoretischen und praktischen Vernunft zugrunde. Um dem Interesse, das der Maxime der Urteilskraft zugrunde liegt, auf die Spur zu kommen, können wir in den Blick nehmen, wie Kant die Maxime der Urteilskraft begründet. Es sieht so aus, dass Kant hier nicht auf die durch die Kritik der reinen Vernunft ausgearbeiteten Ressourcen zurückgreift. Vergleichbar ist Kants Begründung der Maxime des Verstandes, nämlich des Selbstdenkens, im Essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784). Dort geht es ebenfalls um die Denkungsart: Durch die Revolution kann „niemals wahre Reform der Denkungsart [meine Hervorhebung] zu Stande kommen“ (Aufklärung, VIII 36).
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Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40
Es lassen sich in der Kritik der reinen Vernunft zwar manche Anknüpfungspunkte finden, um diese drei Maximen zu erläutern: Spontaneität der oberen Erkenntnisvermögen kann eventuell als eine Entsprechung zur „Maxime einer niemals passiven Vernunft“ (§ 40, 294) angesehen werden; für die Maxime der Vernunft, „nämlich die der konsequenten Denkungsart“, kann man sich vielleicht auf Kants Erläuterung zur „Vernunft überhaupt“ und zum „logischen Gebrauche der Vernunft“ in der Kritik der reinen Vernunft (KrV, B355 ff.) berufen. Was die genannten Maximen betrifft, handelt es sich um „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ (§ 40, 294), und zwar zum „zweckmäßigen Gebrauch“ der Erkenntnisvermögen (§ 40, 295). Die Aufstellung dieser Maximen hängt eher mit der allgemeinen Logik, und zwar nicht mit den objektiven Gesetzen des Denkens, sondern mit der subjektiven Bedingung des Denkens zusammen. In der Einleitung der uns überlieferten Logik Kants, herausgegeben von Jäsche, sind die drei Maximen in dem Paragraphen „VII. B) Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Relation nach“ aufgelistet (Logik, IX 57). Da gelten sie als „[a]llgemeine Regeln und Bedingungen der Vermeidung des Irrtums überhaupt“ (Logik, IX 57). Das heißt: Um Irrtum zu vermeiden, sind diese Regeln zu beachten. Und auch von daher können sie in der Logik, also einer „Wissenschaft des richtigen Verstandesund Vernunftgebrauchs überhaupt“ (Logik, IX 16) einen Platz haben. Andererseits betrifft der allgemeine Standpunkt nicht nur Sachen des richtigen, sondern auch des moralischen Denkens und der Begriff Denkungsart hat bei Kant oft eine moralische Konnotation. Die Begründung dieses Standpunktes bezieht sich deshalb nicht nur auf ein logisches, sondern auch auf ein moralisches Interesse. Zweitens liegt ein größeres Problem darin: Wie verhält sich die erweiterte Denkungsart zu dem Geschmacksurteil? Wie oben erwähnt, ist die angeführte Maxime der Urteilskraft nur eine Maxime des „gemeinen Menschenverstandes“ (§ 40, 294). Bei ihr handelt es sich um das begriffliche Denken, sie lässt sich deshalb nicht direkt auf das Geschmacksurteil, ein ästhetisches Urteil, anwenden. Die Erläuterung dieser Maxime „gehört“ deshalb „nicht hierher“ (§ 40, 294). Andererseits aber wird der Geschmack doch als eine Art von sensus communis bestimmt, so dass ein Zusammenhang vom Geschmack mit der „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurteilungsvermögens [...], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt“ (§ 40, 293), hergestellt wird. In der Anmerkung zu § 1 sagt Kant, dass das Geschmacksurteil auf die Momente des Urteils „Acht hat“, bzw. „Rücksicht nimmt“ (§ 1, 203). Diese Rücksichtnahme lässt sich auch als eine Bedingung des Geschmacksurteils verstehen: Das Geschmacksurteil, als ein ästhetisches Urteil a priori, beinhaltet die Forderung, auf das Wohlgefallen ohne Interesse, auf die Allgemeinheit ohne Begriff
Kants Andeutung des Interesses an der allgemeinen Mitteilbarkeit
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und auf die subjektive Zweckmäßigkeit Rücksicht zu nehmen, unter der Bedingung, dass man ein Geschmacksurteil fällen will. Die genannte Forderung, auf die Momente des Geschmacksurteils Rücksicht zu nehmen, muss jedoch nicht auf einem Interesse basieren, es ist vielmehr der Charakter des Geschmacksurteils selber, der diese Rücksichtnahme verlangt. Wenn Kant jetzt die „Maxime der Urteilskraft“ in die Szene einführt, sieht es so aus, dass die Rücksicht auf die Momente des Urteils, darunter auch die Rücksicht auf die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls, nicht nur ein Erfordernis ist, das aus dem Charakter des Geschmacksurteils stammt, sondern noch auf einem Interesse am allgemeinen Standpunkt des Urteils überhaupt, das sich nicht auf das bloße ästhetische Urteil beschränkt, beruht. Es drängt sich also die Frage auf: Wie verhält sich die Anforderung der Maxime der Urteilskraft, sich an der Stelle jedes anderen zu denken, zu dem Anspruch der allgemeinen Gültigkeit des Geschmacksurteils? Ist jene Anforderung mit dem Geschmacksurteil nur äußerlich verbunden, so dass sie mit dem Anspruch des Geschmacksurteils bloß zufällig übereinstimmt und zur Erläuterung des Grundsatzes des Geschmacksurteils dienen kann? Oder ist sie am Geschmacksurteil wesentlich beteiligt und gehört die Darstellung dieser Maxime wesentlich zur Geschmackstheorie? Jetzt wende ich mich dem letzten Absatz von § 40 zu. Dort erhalten die oben genannten Fragen eine profiliertere Form.
9.3 Kants Andeutung des Interesses an der allgemeinen Mitteilbarkeit Am Ende des § 40 steht der Satz, der in der Forschung viel diskutiert wird: Wenn man annehmen dürfte, dass die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefühls an sich schon ein Interesse für uns bei sich führen müsse (welches man aber aus der Beschaffenheit einer bloß reflektierenden Urteilskraft zu schließen nicht berechtigt ist): so würde man sich erklären können, woher das Gefühl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde. (§ 40, 296)
In diesem Konjunktivsatz werden drei Dinge in eine Verbindung gebracht: „die bloße allgemeine Mitteilbarkeit“ des Gefühls, das Interesse und das Gefühl, das „gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde“. Die im Modus des Konjunktivs ausgedrückte Proposition findet aber im folgenden Text, vor allem in § 41 und § 42, weder eine explizite Bestätigung noch eine Negation. Wegen des empirischen Charakters kann das in § 41 thematisierte soziale Interesse am Schönen nicht erklären, warum das Gefühl gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet wird. In § 42, in dem das intellektuelle Interesse am Schönen thematisiert wird,
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Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40
handelt es sich zwar um ein notwendiges Interesse, aber nicht um ein Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit, wie es im obigen Zitat angeführt wird, sondern um ein Interesse am Dasein der Schönheit der Natur. Die Formulierung in § 40, dass „das Gefühl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde“, wird in § 59 eine Spiegelung finden: „[…] Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumutet“ (§ 59, 353). Bezüglich dieser Formulierung stellt sich eine Reihe von Problemen: 1) Weil in der Analytik des Schönen diese Formulierung nicht auftaucht, stellt sich die Frage, ob Kant mit der Formulierung „gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet“ jetzt ein neues Element des Geschmacksurteils, das die zuvor behandelten vier Momente nicht kennen, einführen will. 2) Weil diese Formulierung sich in § 40 befindet und dieser Paragraph den §§ 30–38, in denen die Deduktion der Geschmacksurteile enthalten ist, nah steht, kann man fragen: Wie verhält sie sich zur Deduktion? Es wird in der Kant-Forschung diskutiert24, ob es sich hier um eine Fortsetzung der unabgeschlossenen Deduktion handelt. 3) Diese Formulierung kommt noch einmal am Ende der Dialektik, nämlich in § 59, vor, so dass es aussieht, als ob erst durch die in § 59 behandelte Analogie zwischen Schönheit und Sittlichkeit verstanden werden kann, wieso dieses Gefühl jedem anderen als Pflicht zugemutet wird. Es stellt sich also die Frage, was für eine Aufgabe die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft und die Theorie der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit eigentlich erfüllt. Alle diese Fragen sind von umfassender Bedeutung und beziehen sich darauf, wie sich die verschiedenen Teile der Kritik der ästhetischen Urteilskraft sich zueinander verhalten. Eine exakte Erklärung dieser Textstelle kann deshalb zur Klärung ihrer Makrostruktur dienen. Was diese Textstelle selbst angeht, taucht ihr Thema, so scheint es auf den ersten Blick, eher unerwartet auf. In der Interpretation wird sie auch oft von ihrem Kontext, dem § 40 als einem Ganzen, abgelöst diskutiert – so verhält es sich zum Beispiel bei Guyer und Allison, über die ich unten noch näher diskutieren werde. In diesem Kapitel habe ich versucht zu zeigen, dass der vorangegangene Text in § 40 die Fragestellung in diesem letzten Absatz vorbereitet hat. In der Rede von der Maxime des allgemeinen Standpunktes ist schon ein Interesse, und zwar ein Interesse an der allgemeinen Gültigkeit des Urteils, impliziert. Allison (2001, S. 220 ff.) ist der Ansicht, dass Kant mit diesem Absatz nicht das Thema des Anspruchs auf die Allgemeinheit behandelt, sondern sich einer neuen Problematik zuwendet, der Problematik nämlich, dass die Kultur des
24 Exemplarisch ist Försters Interpretation (2007, S. 285).
Kants Andeutung des Interesses an der allgemeinen Mitteilbarkeit
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Geschmacks eine „Pflicht als ob“ sei. Die Formulierung „gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet“ wird von Allison so verstanden: The duty, as it were, is to develop this faculty [faculty of taste] as a condition of the possibility of taking a purely intellectual interest in natural beauty [...]. (Allison 2001, S. 220)
Das infrage kommende Interesse, das von der bloßen allgemeinen Mitteilbarkeit mit sich geführt wird, wird von Allison entsprechend als das in § 42 thematisierte intellektuelle Interesse an der Naturschönheit verstanden. Allisons Lesart beruht auf der Ansicht, dass die Deduktion des Geschmacksurteils schon im vorangegangenen § 38 abgeschlossen wurde. Kant wollte demnach, so Allison, in diesem Absatz ein neues Problem anstatt des alten Problems der Allgemeinheit behandeln. Allisons Verständnis dieses Absatzes hängt außerdem auch mit seiner starken Hervorhebung der moralischen Signifikanz des Geschmacks, nämlich der Funktion des Geschmacks als eines Übergangs vom Angenehmen zum moralisch Guten, zusammen. Wenn man aber vom Ganzen des § 40 ausgeht und diesen letzten Absatz des Paragraphen in Verbindung mit der Idee des sensus communis und der Maxime der Urteilskraft liest, kann man von diesem Absatz ein anderes Verständnis als dasjenige von Allison erhalten. Es kann hier nicht eine (Quasi-) Tugendpflicht zur Kultur des Geschmacks gemeint sein. Kants Augenmerk richtet sich vielmehr immer noch auf die allgemeine Mitteilbarkeit, die eventuell ein Interesse mit sich führt, und die gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet wird. Guyer (1979, S. 20 ff.) weist, basierend auf handschriftlichen Reflexionen Kants und studentischen Notizen der Vorlesungen, darauf hin, dass Kant zunächst folgende Ansicht vertreten hatte: Die Mitteilbarkeit des Wohlgefallens am Schönen kann zugleich den Grund des Wohlgefallens am Schönen ausmachen, weil man in der Gesellschaft ein Wohlgefallen an demjenigen hat, das sich mitteilen lässt. Diese Ansicht wird, so nach Guyers Rekonstruktion, von Kant jedoch aufgegeben, nachdem er eine Theorie des apriorischen Prinzips des Geschmacks ausgearbeitet hat, weil das auf dem sozialen Interesse gegründete Wohlgefallen an der Mitteilbarkeit des Gefühls nicht ausreicht, um das Wohlgefallen mit einem Anspruch auf die Notwendigkeit zu erklären. Zugleich meint Guyer, dass Kant trotzdem immer noch nicht im Stande sei, zwischen der allgemeinen Mitteilbarkeit als Quelle der Lust und der als Bedingung des Geschmacksurteils deutlich zu unterscheiden: Obwohl die Kritik der ästhetischen Urteilskraft die letztere als offizielle Lösung aufnimmt, wobei die Quelle der Lust ausschließlich das freie Spiel der Erkenntnisvermögen ist und die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls bloß eine Bedingung des Geschmacksurteils ausmacht, taucht die allgemeine Mitteilbarkeit aber als Quelle der Lust, so Guyer, noch im dritten Absatz des § 9 auf, in dem die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes als Grund und die Lust als Folge formuliert wird.
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Geschmacksurteil und Denkungsart: Interpretation zu § 40
Im Abschnitt 5.5 habe ich die betreffende Textstelle von § 9 behandelt. Meines Erachtens kann sie nicht belegen, dass jene frühere Ansicht Kants Eingang in die Kritik der ästhetischen Urteilskraft gefunden habe. Bezüglich des im letzten Absatz von § 40 thematisierten Interesses und der allgemeinen Mitteilbarkeit bin ich der folgenden Ansicht: Obwohl Kant darauf verzichtet, mithilfe des sozialen Interesses das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Wohlgefallens am Schönen zu erklären, hat er es nicht aufgegeben – hierin unterscheide ich mich von Guyer –, dem Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit weiter auf die Spur zu kommen. Dies wird eben im letzten Absatz von § 40 ausgedrückt: Die bloße allgemeine Mitteilbarkeit wird ausdrücklich in eine Verbindung mit einem Interesse gebracht, und zwar so, dass „die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefühls an sich schon ein Interesse für uns bei sich führen müsse“ (§ 40, 296). Dabei ändert Kant seine Fragestellung im Vergleich zu seiner früheren Ansicht ab: Es soll jetzt ein Interesse aufgedeckt werden, das nicht mehr nur mit der generellen Mitteilbarkeit, sondern mit der strikt allgemeinen Mitteilbarkeit verbunden ist. Kants Antwort darauf finden wir aber erst am Ende der Kritik des Geschmacks, nämlich in §§ 59–60. Dazwischen ist noch ein hoch komplizierter Gedankengang zu entwickeln. Hier ein kurzer Ausblick auf denselben, der in den zwei folgenden Kapiteln noch näher dargestellt werden wird: § 42 dient zwar nicht ausschließlich der Absicht, ein solches Interesse aufzudecken, bildet aber einen wichtigen Zwischenschritt in diese Richtung: Dieser Paragraph erläutert die Analogie zwischen dem reinen ästhetischen und dem moralischen Urteil. Das nächste Kapitel der vorliegenden Arbeit, das die §§ 41–42 interpretiert, wird auch diese behandeln. Was in der Dialektik, genauer, in den §§ 59–60 aufgedeckt wird, lässt sich auch nicht auf eine einfache Weise als moralisches Interesse oder ein Interesse, das sich vom moralischen Interesse ableitet, zusammenfassen. Die in der Dialektik entwickelte Begründung des Geschmacks lässt sich nicht als moralische Begründung bezeichnen. Man kann sie höchstens eine moral-bezogene Begründung nennen. Entscheidend sind dabei die zwei Fragen: 1) Ist das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit ein immanenter Faktor des Geschmacksurteils, oder ist es an ihm bloß angehängt und hat auf das Urteil als solches keinen Einfluss? 2) Bleibt das Geschmacksurteil immer noch ein ästhetisches Urteil, wenn das genannte Interesse am Geschmacksurteil teilhat? Kapitel 11 der vorliegenden Arbeit wird die Dialektik, die darin enthaltene Begründung und das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit behandeln.
10 Das empirische und intellektuelle Interesse am Schönen Indem Kant von der Analyse des ästhetischen Urteils, und näher, von der Analyse des reinen ästhetischen Urteils, anstatt von der Beschreibung der ästhetischen Erfahrung ausgeht, ist er in der Lage, das, was zum reinen Geschmacksurteil gehört, von dem, was nicht zu ihm gehört und ihm nur anhängt, zu unterscheiden. Ohne den Bezugspunkt des reinen ästhetischen Urteils würde beides sich vermischen. Es kann verschiedenartiges Wohlgefallen geben, das sich mit der Betrachtung des Schönen verbindet; nur das Wohlgefallen, das den Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ausmacht, soll interesselos sein. Nachdem dieser Punkt „hinreichend dargetan worden“ ist (§ 41, 296), fängt Kant an, das Interesse am Schönen, das dem Geschmacksurteil nicht innewohnt, sondern nur anhängt, zu behandeln. Mit dem empirischen und intellektuellen Interesse am schönen Gegenstand, d.h. an der Existenz des schönen Gegenstandes, ist das ästhetische Subjekt nicht mehr ein bloßer Weltbeschauer, sondern zugleich auch ein Weltbürger25: Es besteht zwischen ihm und der Welt jetzt eine reale Verbindung. Der ästhetische Kosmopolitismus Kants26 besteht aus zwei Teilen: 1. Die Allgemeingültigkeit, welche ein eigentliches Thema des Kosmopolitismus ist, macht auch im ästhetischen Bereich ein Kernthema aus. Der Elitarismus sowie Partikularismus wird im ästhetischen Bereich wie im Bereich der Erkenntnis und Moral von Kant abgelehnt. 2. Das Subjekt als ein Weltbürger, der sich für die Moral und für die Mitteilung seiner Gefühle interessiert, interessiert sich von daher auch für die Schönheit der Welt. Das Interesse an der Schönheit, das aus dem Trieb zur Gesellschaft stammt, bildet den empirischen Baustein des ästhetischen Kosmopolitismus; einen anderen, apriorischen Baustein desselben macht das intellektuelle Interesse an der Naturschönheit aus. Im Folgenden werde ich § 41: „Vom empirischen Interesse am Schönen“ und § 42: „Vom intellektuellen Interesse am Schönen“ vorstellen und interpretieren. In der Interpretation zu § 41 wird der Schwerpunkt darauf gelegt, wie sich das empirische, soziale Interesse am Schönen zur Erwartung der allgemeinen Mitteilbarkeit verhält und was für einen Stellenwert diese Lehre im Gesamtprojekt
25 Zum Begriffspaar „Weltbeschauer“ und „Weltbürger“ siehe AA XV, Reflexionen zur Anthropologie, S. 518, Nr. 1170. 26 Zu den mehrfachen kosmopolitischen Perspektiven, die Kants Philosophie enthält, siehe Höffe 2007. In diesem Beitrag, beim Teil über die Kritik der Urteilskraft, wird nur auf die teleologische Urteilskraft Bezug genommen. https://doi.org/10.1515/9783110546125-011
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Das empirische und intellektuelle Interesse am Schönen
der Kritik der ästhetischen Urteilskraft nimmt. Die Interpretation zu § 42 entfaltet sich in drei Unterabschnitten, die jeweils erörtern, 1) wie Kant bezüglich des Verhältnisses des Interesses am Schönen zur moralischen Denkungsart einen Widerstreit konstruiert und seine eigene Ansicht dazu einführt; 2) wie Kant die Quelle des intellektuellen Interesses an der Naturschönheit erklärt, wobei ich zwei Argumente von Kant darstellen und vergleichen werde; 3) inwiefern § 42 eine transzendentale Vermittlung zwischen der Gesetzgebung der Vernunft und der des Verstandes durch die Urteilskraft enthält.
10.1 Das soziale Interesse am Schönen und die Erwartung der allgemeinen Mitteilbarkeit: Interpretation zu § 41 Wegen der „Neigung zur Gesellschaft“ (§ 41, 297) interessiert uns die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gegenstandes. Ein Gegenstand, der eigentlich wenig Wohlgefallen des Genusses mit sich führt, kann „in der Gesellschaft wichtig und mit großem Interesse verbunden“ sein (§ 41, 297). Dabei ist „Gesellschaft“ zunächst in einem engeren Sinn zu verstehen: Die Neigung zur Gesellschaft bezieht sich nämlich erstlich auf den Kreis der Menschen, mit denen man irgendwie einen persönlichen Umgang haben kann. Nachdem man seinen Horizont erweitertet hat, so dass das eigene Interesse nicht mehr auf bloß Persönliches beschränkt ist, nimmt man jetzt Interesse nicht nur an der Mitteilung mit den persönlich Bekannten, sondern genereller auch an der Mitteilbarkeit mit den Menschen, mit denen man eventuell nie persönlichen Kontakt haben wird. Zuletzt nimmt man Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit, d.h. der Mitteilungsmöglichkeit mit jedem Anderen. Gesellschaft in diesem Zusammenhang bedeutet dann die Gesamtheit der Menschheit. Das soziale Interesse am Schönen ist „empirisch“ in dem Sinne, dass der Grund dieses Interesses, die Neigung zur Gesellschaft, eine Gegebenheit der menschlichen Natur ist. An diesem Punkt unterscheidet sich dieses Interesse von dem in § 42 thematisierten intellektuellen Interesse an der Naturschönheit, wobei „intellektuell“ heißt: „a priori durch Vernunft bestimmt werden zu können“ (§ 41, 296). Dieses soziale Interesse am Schönen zeigt sich nicht in dem Wunsch, diesen Gegenstand zu besitzen, um ihn zu verzehren oder zu gebrauchen. Es drückt sich vielmehr dadurch aus, dass der betrachtete Gegenstand einschließlich seiner Existenz wertgeschätzt wird. Ein Ausdruck dieser Wertschätzung besteht darin, dass man sich gerne die Mühe macht, die Gegenstände so umzugestalten, dass sie Träger der mitteilbaren Gefühle oder Gedanken werden, wobei das, was man genießt, weniger der Gegenstand selbst, sondern eher die dadurch möglich gewordene Mitteilung ist. Anfangs bemalt man sich, so stellt Kant sich
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das primitive Inselleben vor (siehe § 41, 297), mit Farben oder schmückt sich mit Blumen, Muschelschalen oder Vogelfedern, die reizende Farben haben; mit der Zeit lernt man auch auf schöne Formen Wert zu legen, die eigentlich gar keinen sinnlichen Genuss anbieten können, und benutzt sie zur Dekoration. Mitteilbare Gegenstände können uns interessieren, weil es in der Gesellschaft darauf ankommt, „nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein“ (ebd.). Mit der Verfeinerung der Neigung schrumpft der Wert der sinnlichen Befriedigung, die durch die Stimulation des Gegenstands hervorgebracht wird, wobei der Wert des Gegenstandes wegen seiner allgemeinen Mitteilbarkeit aber „beinahe unendlich vergrößert“ wird (ebd.). Der Versuch, einen naturhaften Trieb als Grund des Wohlgefallens am Schönen anzusehen und in der Zweckmäßigkeit des Gegenstandes für diesen Trieb das Wesen der Schönheit zu suchen, kann als ästhetischer Naturalismus bezeichnet werden27. Schon der methodisch erste Schritt Kants in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft – nicht von der ästhetischen Erfahrung, sondern vom ästhetischen Urteil auszugehen – unterscheidet Kant vom ästhetischen Naturalismus. Und im methodisch zweiten Schritt, nämlich in der epistemischen Begründung, werden die Erkenntnisvermögen anstatt irgendeines Triebs als Grund des Geschmacksurteils festgestellt. Im Gegensatz zum Trieb, der als das Gegebene unter der Bestimmung der Natur steht, sind die Erkenntnisvermögen etwas Aktives, ihre Spontaneität zeigt sich in ihrem freien Spiel bei der Vorstellung des Gegenstandes. Der Trieb zur Gesellschaft wird nun zwar in § 41 thematisiert, er kann in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft aber nur eine sehr periphere Stellung einnehmen, da das diesem Trieb entspringende Interesse am Schönen dem Geschmacksurteil bloß anhängt und nicht zu ihm gehört. Auch in der Anthropologie wird der Trieb zur Gesellschaft und die damit zusammenhängende Rücksicht auf die Mitteilung behandelt. Dort zeigt dieser Trieb aber ein anderes Gesicht: der soziale Trieb in seiner ausgearteten Form. Von diesem Trieb bestimmt, ahmt man nach, „um bloß nicht geringer zu erscheinen als andere, und zwar in dem, wobei übrigens auf keinen Nutzen Rücksicht genommen wird“ (Anthropologie § 71, VII 245). Dabei bestimmt die Mode das „Gesetz“ dieser Nachahmung. Kant bezeichnet diese blinde Nachahmung als „Eitelkeit“ (ebd.). In § 41 der Kritik der Urteilskraft ist die negative Seite des sozialen Triebs,
27 Ein Exempel dafür ist Edmund Burke (1757). Er erklärt das Gefühl für Schönheit als das Gefühl der Liebe. Liebe ist nach ihm eine Leidenschaft, die dem Trieb zur Gesellschaft entstammt. Das Wesen der Schönheit, so Burke, besteht weder in der Brauchbarkeit noch in der Vollkommenheit des Gegenstandes; die Schönen erregen in uns die Leidenschaft der Liebe, wir wünschen sie „nahe bei uns zu haben“ und „treten bereitwillig in Beziehung zu ihnen“ (zitiert nach der deutschen Ausgabe 1980, S. 77).
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dass er zu Eitelkeit und Torheit führen kann, nicht erwähnt. Kants Augenmerk richtet sich hier vielmehr auf die positive Seite des Triebs zur Gesellschaft: Die „Geselligkeit“, d.h. die „Tauglichkeit und der Hang“ zum gesellschaftlichen Trieb, ist eine „zur Humanität gehörige Eigenschaft“ (§ 41, 297). Eine Komponente des Geschmacksurteils, die Rücksicht auf die Allgemeingültigkeit, lässt sich mit dem gesellschaftlichen Interesse am Schönen verknüpfen. Aus diesem Interesse nämlich „erwartet und fordert ein jeder die Rücksicht auf allgemeine Mitteilung von jedermann, gleichsam als aus einem ursprünglichen Vertrage, der durch die Menschheit selbst diktiert ist“ (§ 41, 297). Das Geschmacksurteil erhält dadurch einen anthropologischen Grund für seine Rücksicht auf die allgemeine Mitteilbarkeit: Der Trieb zur Gesellschaft ist dem Menschen „natürlich“ und der Mensch ist ein „für die Gesellschaft bestimmtes Geschöpf“; von daher schätzt der Mensch die Mitteilung des Gefühls und der Gedanken mit den Anderen, zugleich schätzt er von daher auch die Träger solcher Mitteilungsmöglichkeit, und das Schöne ist ein solcher Träger. Der oben genannte „anthropologische Grund“ der Berücksichtigung der allgemeinen Mitteilbarkeit ist kein Grund dafür, warum das Wohlgefallen am Schönen allgemein mitteilungsfähig ist, sondern ein Grund dafür, warum man überhaupt erwartet und fordert, dass jeder auf die allgemeine Mitteilung dieses Wohlgefallens Rücksicht nimmt. Dieser anthropologische Grund ist aber weder der alleinige noch der notwendige Grund dafür. Vor allem stammt die Rücksicht auf die allgemeine Mitteilbarkeit aus der Kenntnis des Urteilenden, dass sein Wohlgefallen eigentlich allgemein mitteilbar ist. Es ist die Beschaffenheit dieses Wohlgefallens, dass es allgemein mitteilbar ist, die zu der Erwartung führt, dass auch jeder andere an diesem Gegenstand Wohlgefallen hat. Daran schließt sich ein Interesse an der Mitteilungsfähigkeit an, und zwar ein Interesse, das aus der Natur der Menschheit stammt. Es bleibt aber noch zu erläutern – dies wurde am Ende meines letzten Kapitels teilweise diskutiert – ob es außer diesem empirischen Interesse noch ein notwendiges Interesse an der Mitteilungsfähigkeit geben kann. Das Interesse am Schönen aus dem Trieb zur Gesellschaft ist dem Schönen bloß „angehängt“ (§ 41, 297). Durch das Wort „angehängt“ bringt Kant zum Ausdruck, dass dieses Interesse eigentlich keine Komponente des Geschmacksurteils ausmacht. Das betreffende Interesse ist „für uns hier von keiner Wichtigkeit“ (ebd.). Systematisch wichtig ist hingegen „was auf das Geschmacksurteil a priori, wenn gleich nur indirekt, Beziehung haben mag“ (ebd.). Diese apriorische Beziehung ist wichtig, weil durch sie die Stellung des Geschmacks in der Kette der Gemütsvermögen aufgedeckt werden kann, was zu einer Vertiefung der Einsicht in den Geschmack führt: Der Geschmack an sich, als ein apriorisches Beurteilungsvermögen, ist in den vorangegangenen Paragraphen der Kritik der
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ästhetischen Urteilskraft schon zum großen Teil dargelegt; der Geschmack als „ein Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori, von denen alle Gesetzgebung abhängen muss“ (ebd.), bleibt bis zu § 41 aber noch nicht erörtert. Das apriorische Interesse an der Naturschönheit wird zur Lösung dieses Problems führen. Dadurch wird die Vermittlung zwischen dem Verstand und der Vernunft durch die Urteilskraft, die eines der Hauptthemen der Einleitung der Kritik der Urteilskraft (siehe Einleitung IX) und zugleich auch ein Hauptinteresse der Kritik der Urteilskraft ausmacht, teilweise ausgeführt. Die Lehre vom empirischen Interesse am Schönen ist in Kants Geschmackskritik zwar sehr peripher. Ihre Unentbehrlichkeit besteht aber darin, dass durch sie eine empirische Bedeutsamkeit der Schönheit und des Geschmacks erläutert wird. Die Kultivierung des Geschmacks ist dem Übergang vom Angenehmen zum Guten förderlich, indem das Gemüt durch diese Kultivierung empfänglicher wird für das, was sich mitteilen lässt bzw. was sich verallgemeinern lässt. Jedoch lässt sich das soziale Interesse am Schönen, weil es selber auf Neigung beruht, „mit allen Neigungen und Leidenschaften [...] gerne zusammenschmelzen“. Deshalb kann dieses Interesse „einen nur sehr zweideutigen Übergang vom Angenehmen zum Guten abgeben“ (§ 41, 298).
10.2 Das intellektuelle Interesse am Schönen der Natur: Interpretation zu § 42 Der Geschmack selber ist keine Quelle des Interesses. Wenn irgendein Interesse mit dem Geschmacksurteil verbunden ist, kann diese Verbindung daher „immer nur indirekt sein“ (§ 41, 296). Das Interesse am Schönen kann nur etwas anderem als dem Geschmack entstammen, das aber mit dem Geschmacksurteil irgendwie verbunden ist. In § 42 sucht Kant nach diesem „Anderen“ („etwas anderem“: § 41, 296, Zeile 21; „dieses Andere“: § 41, 296, Zeile 26), das sich auf den Geschmack a priori bezieht und dem ein apriorisches Interesse am Schönen entstammt. Auf den ersten Blick gehört dieses „Andere“ nur peripher zur Kantischen Untersuchung des Geschmacksurteils und ist anscheinend ein bloßes Anhängsel der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Näher betrachtet lässt sich aber feststellen, dass das „Andere“, womit die Vernunft mit ihrem Interesse an der objektiven Gültigkeit ihrer Ideen gemeint ist, und dessen Beziehung zum Geschmack, einen wesentlichen Bestandteil der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ausmacht. Denn durch die Erörterung des intellektuellen Interesses an der Naturschönheit soll, so Kant, die ästhetische Urteilskraft als „Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori […] als ein solches dargestellt werden“ (§ 41, 298).
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10.2.1 Der Widerstreit über die Verbindung des Interesses am Schönen mit der moralischen Denkungsart Am Anfang von § 42 konstruiert Kant einen Widerstreit und leitet durch das Schlichten desselben seine eigene Ansicht ein. Eine Partei des Streites meint, dass das „Interesse am Schönen überhaupt“, d.h. nicht nur das Interesse am Schönen der Natur, sondern auch am Schönen der Kunst, das Zeichen eines guten moralischen Charakters sein kann. Diese Stellungnahme stammt zwar aus „gutmütiger Absicht“, wird aber von der oppositionellen Partei anhand der Erfahrung als naiv kritisiert: Die Virtuosen des Geschmacks seien „nicht allein öfter, sondern wohl gar gewöhnlich eitel, eigensinnig und verderblichen Leidenschaften ergeben“, so dass ein Interesse am Schönen „mit dem moralischen [Gefühl] schwer, keineswegs aber durch innere Affinität vereinbar sei“ (§ 42, 298). Es muss deshalb differenzierter bestimmt werden, in was für einer Verbindung das Interesse am Schönen mit der moralischen Denkungsart und mit dem moralischen Gefühl steht. Das Interesse am Schönen der Kunst, so Kant, kann „gar keinen Beweis“ der moralischen Denkungsart abgeben (ebd.). Die Erfahrung kann dies erweisen. Hingegen, wenn man ein unmittelbares Interesse am Schönen der Natur nimmt, kann dies „jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele“ sein (ebd.). Folgende Situation wird von Kant beschrieben: Ein Liebhaber der Natur wendet sich von der Gesellschaft ab, um in der Natur die „Wollust für seinen Geist“ zu finden; in der Einsamkeit versucht er die „figürlich“ sprechende „Chiffreschrift“ der Natur zu entziffern (299 ff.). Dies lässt sich wohl als ein Gedankenexperiment verstehen, das aufzeigen kann: 1) dass das betreffende Interesse, das dieser Mensch an der Naturschönheit nimmt, kein Interesse ist, das aus dem sozialen Trieb stammt. Denn dieser Mensch befindet sich jetzt einsam in der Natur; 2) dass es immer noch ein Interesse am Schönen, und zwar am Schönen der Natur, geben kann, nachdem vom sozialen Trieb der Gesellschaft abstrahiert wird. Die einsame Wanderung und Meditation in der Natur, ein Thema, das in der Poesie oft vorkommt, bekommt in § 42 eine philosophische Erläuterung zu ihrem Wesen und Ursprung. Dabei ist anzumerken, dass Kant sich die auf Erfahrung basierende Kritik gegen jene „Virtuosen des Geschmacks“ zu Eigen gemacht hat. Angesichts der üblichen Denkungsart der Virtuosen des Geschmacks wird Kant in späteren Paragraphen einen Begriff des „echte[n] Geschmack[s]“ (§ 60, 356) entwickeln: Die „wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks“ wird in „die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls“ (ebd.) versetzt. Nur so könnte der Geschmack „eine bestimmte unveränderliche Form annehmen“ (ebd.). Die Dynamik der Natur kann nämlich einen Menschen vom puren Wohlgefallen
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an der schönen Form des Gegenstandes abbringen, so dass er in dem Genuss der Schönheit versinkt und allmählich in eine eitle, eigensinnige und den Leidenschaften ergebene Denkungsart verfällt, falls man seine moralische Denkungsart nicht festigt.
10.2.2 Die Herkunft des intellektuellen Interesses an der Naturschönheit: ein Haupt- und ein Nebenargument Kant stellt das intellektuelle Interesse an der Naturschönheit dem moralischen Interesse, das ein „auf objektive Gesetze gegründetes Interesse“ ist, gegenüber und bezeichnet das erstere als ein „freies“ Interesse (§ 42, 301). Diese Gegenüberstellung, die Kant selber macht, kann deutlich zeigen, dass das thematisierte intellektuelle Interesse nicht eo ipso schon ein moralisches Interesse ist. Es ist vielmehr nur „der Verwandtschaft nach moralisch“ (§ 42, 300). So gründet sich bei Kant das intellektuelle Interesse, wie unten noch zu erläutern ist, zwar auf dem moralischen Interesse, lässt sich aber nicht auf dieses letztere verkürzen und bleibt davon spezifisch verschieden. Das Interesse an der Naturschönheit, das sich aus dem moralischen Interesse ableitet, aber davon spezifisch verschieden ist, bezeichnet Kant als „intellektuelles Interesse“. Der Ausdruck „intellektuell“ kennzeichnet hier die Quelle dieses Interesses: Es stammt nämlich aus der Vernunft und steht deshalb „empirisch“ gegenüber. Zugleich steht es aber auch dem Begriff „ästhetisch“ gegenüber (vgl. Bartuschat 1972, S. 143). Es weist nämlich darauf hin, dass das betreffende Interesse nicht aus der ästhetischen Betrachtung selbst stammt, sondern einen intellektuellen, begrifflichen Ursprung hat. Kants Erklärung, warum es ein intellektuelles Interesse an der Naturschönheit gibt, besteht in einer „ziemlich knappe[n] und gleichzeitig komplexe[n] Argumentation“ (Kohler 2008, S. 148). Meines Erachtens lassen sich hier zwei Argumente finden, ein Haupt- und ein erläuterndes Nebenargument. Das erstere ist sozusagen offiziell und mit Notwendigkeit der Vernunft verbunden, das letztere ist eher psychologisch begründet. Das erste Argument ist im siebten Absatz des Paragraphen enthalten (§ 42, 300 f.). Der Gedankengang ist folgender: 1) Es interessiert die Vernunft, dass die Ideen, und genauer diejenigen Ideen, „für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt“, auch objektive Realität haben. 2) Deshalb interessiert die Vernunft auch, dass „die Natur wenigstens eine Spur zeige oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund“, kraft dessen wir annehmen dürfen, dass eine gesetzmäßige Übereinstimmung der Natur zum Subjekt besteht. Dabei muss die Äußerung der Natur selbst keine Übereinstimmung der
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Natur mit der Bestimmung der reinen praktischen Vernunft implizieren. Soweit sie auf eine solche Übereinstimmung deutet, genügt sie, als ein „Wink“ zu gelten. 3) In der Schönheit der Natur, die eine Übereinstimmung der Naturprodukte zu unserem, von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen erweist, findet die Vernunft einen solchen Wink. „Das Gemüt kann über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden“. Weil dieser Gedankengang, eine „Deutung ästhetischer Urteile auf Verwandtschaft mit dem moralischen Gefühl“, „zu studiert“ aussieht, ergänzt Kant ihn im achten Absatz des Paragraphen um eine Erläuterung. Weil das in der Erläuterung enthaltene Argument etwas anders ist als das, was im siebten Absatz zum Ausdruck gebracht wurde, kann es als ein Nebenargument dafür, warum das Subjekt an der Naturschönheit Interesse nimmt, gelten. Diese Argumentationslinie kann auf folgende Weise beschrieben werden: 1) In der Betrachtung der Naturschönheit wird das Subjekt sich der „Analogie“ zwischen dem reinen Geschmacksurteil ohne alles Interesse und dem moralischen Urteil bewusst; 2) Dieses Bewusstsein führt „auch ohne deutliches, subtiles und vorsätzliches Nachdenken, auf ein gleichmäßiges unmittelbares Interesse“ an dem Gegenstand der Naturschönheit, so wie das Subjekt Interesse am Gegenstand der praktischen Vernunft nimmt. Das Argument II ist eigentlich als eine Erläuterung zu dem „zu studiert“ aussehenden Argument I verfasst. Insofern darf man I und II nicht als wesentlich verschieden ansehen. Trotzdem lässt sich indes ein Unterschied zwischen beiden ausmachen: Argument I betrifft ein Interesse, das zwar von der praktischen Vernunft geleitet, aber im Wesen eher spekulativ ist: Die Vernunft sucht in der Natur eine „Spur“ bzw. einen „Wink“, die oder der deutet, dass die Natur mit der Willensbestimmung durch reine Vernunft übereinstimmen kann. In dem Argument II ist das Interesse an der Naturschönheit jedoch von dem Interesse an einem Gegenstand, dessen Verwirklichung die praktische Vernunft fordert, hergeleitet: Wenn sich das Subjekt der Analogie zwischen dem interesselosen Geschmacksurteil und dem moralischen Urteil bewusst wird, nimmt es ein Interesse am betreffenden Gegenstand der Natur, „so wie“ am Gegenstand der reinen praktischen Vernunft. Dabei handelt es sich nicht um das Interesse an der objektiven Gültigkeit der Ideen, es verhält sich vielmehr so: Das Subjekt projiziert sein Interesse am praktischen Gegenstand auf einen betrachteten Naturgegenstand, sobald es sich bewusst wird, dass zwischen beiden Urteilen und somit zwischen beiden Gegenständen eine Analogie besteht. Weil das Argument I „gar zu studiert“ aussieht, ergänzt Kant das Argument II, damit seine Theorie des intellektuellen Interesses an der Naturschönheit verständlicher und überzeugender wird. Das Argument II ist jedoch eher psychologisch begründet und ermangelt der Zwangsläufigkeit der Vernunft. Deshalb, wenn
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wir annehmen dürfen, dass es zwei Argumente gibt, sollte das erste als gewichtiger angesehen werden. Bei I ist das Interesse an der Naturschönheit vom notwendigen Interesse der Vernunft an der objektiven Gültigkeit der Ideen abgeleitet, und in diesem Sinn verdient das betreffende Interesse, wie in I ausgeführt, mehr als das in II beschriebene Interesse den Namen „intellektuelles Interesse“. Das erste Argument ist stärker, weil es sich auf ein notwendiges Interesse der Vernunft an der objektiven Gültigkeit der Ideen bezieht: Wenn die Vernunft in der Natur einen Wink auf die mögliche Übereinstimmung der Natur zum Subjekt antrifft, wird sie notwendigerweise ein Interesse am betreffenden Gegenstand nehmen. In dem zweiten Argument entsteht das Interesse an der Naturschönheit auf eine sozusagen natürliche Weise, es ist nämlich eher psychologisch begründet: Es basiert auf einer psychologischen Übertragung des Interesses am Gegenstand des reinen Willens auf die Naturschönheit. In beiden Erklärungen macht die Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem reinen moralischen Urteil und das Bewusstsein von dieser Analogie den Grund dieses Interesses aus. Im achten Absatz dieses Paragraphen, in dem die Argumentationslinie II enthalten ist, spricht Kant ausdrücklich von „Analogie“: […] und dann führt die Analogie [meine Hervorhebung] zwischen dem reinen Geschmacksurteile, welches, ohne von irgend einem Interesse abzuhängen, ein Wohlgefallen fühlen lässt und es zugleich a priori als der Menschheit überhaupt anständig vorstellt, und dem moralischen Urteile, welches eben dasselbe aus Begriffen tut, […] auf ein gleichmäßiges unmittelbares Interesse an dem Gegenstande des ersteren, so wie an dem des letzteren: nur dass jenes ein freies, dieses ein auf objektive Gesetze gegründetes Interesse ist (§ 42, 301).
Es ist eben diese Analogie, die im Argument II zu einem unmittelbaren Interesse am schönen Gegenstand der Natur führt. Aus diesem Zitat ist ersichtlich, dass Kants Augenmerk sich bei dieser Analogie gerade auf die Uninteressiertheit von beiden Arten der Urteile richtet. Die Analogie besteht eben darin, dass beide Urteile uninteressiert sind und zugleich Anspruch auf apriorische Gültigkeit erheben. Im Argument I verhält es sich ebenso: Nur aufgrund der Analogie von beiden kann das Subjekt sich in der Suche nach der „Spur“ für einen schönen Gegenstand der Natur interessieren. Im sechsten Absatz des Paragraphen vergleicht Kant noch „das Vermögen der bloß ästhetischen Urteilskraft“ mit der intellektuellen Urteilskraft, wobei der Fokus ebenfalls darin liegt, dass in keinem von beiden Fällen „dieses Urteil sich auf einem Interesse gründet“ (§ 42, 300). Dasselbe Theoriestück: die Analogie zwischen der Schönheit und der Sittlichkeit, bzw. zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem reinen moralischen Urteil, ist der Grundstein sowohl von § 59, als auch von § 42. Was die Analogie
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zwischen beiden Arten der Urteile betrifft, bietet sich in § 59 inhaltlich nicht mehr an als in § 42. In verschiedene Kontexte gesetzt, erfüllt dieses Theoriestück aber verschiedene Aufgaben. In § 42 möchte Kant mit ihm darstellen, wie die Existenz der Naturschönheit den Betrachter interessieren kann, wobei dieses Interesse keinen Bestandteil des Geschmacksurteils ausmacht und ihm bloß anhängt. In der Dialektik ist der Theorie der Analogie jedoch eine andere Aufgabe zugewiesen: Mit ihr soll gezeigt werden, wieso die Reflexion des Geschmacksurteils auf dem Grund eines unbestimmten Begriffs des Übersinnlichen die Allgemeingültigkeit beansprucht, wobei das Bewusstsein von der Analogie dem Geschmacksurteil nicht mehr bloß anhängt, sondern innewohnt.
10.2.3 Zwei Hintergrundaufgaben Kant entwickelt seine Theorie des intellektuellen Interesses an der Naturschönheit mit zwei Hintergrundaufgaben. Die erste wurde am Ende von § 40 formuliert: Die allgemeine Mitteilbarkeit des Gefühls „müsse“ „schon ein Interesse für uns bei sich führen“, und von daher würde man „sich erklären können, woher das Gefühl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde“ (296). Die Lösung dieses Problems lässt sich in § 42 nicht finden, weil in diesem Paragraphen das Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit nicht thematisiert wird. In dieser Hinsicht verhält es sich in § 42 anders als in § 41: Das in § 41 behandelte gesellschaftliche Interesse ist zwar auf den ersten Blick kein Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit, sondern ein Interesse an dem schönen Gegenstand. Dieses Interesse gründet sich aber darauf, dass dieser Gegenstand der Träger des allgemein mitteilbaren Gefühls sein kann. Dieses Interesse ist deshalb letztlich ein Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls. Nach § 42 hängt mit dem Geschmacksurteil ein notwendiges, intellektuelles Interesse zusammen. Die Vernunft interessiert sich dafür, dass die Naturschönheit eine ästhetische Zweckmäßigkeit für die Erkenntnisvermögen darstellt, weil diese einen „Wink“ darauf geben kann, dass die Natur in sich einen Grund dafür enthalte, dass die praktisch relevanten Ideen der Vernunft objektive Realität haben können. Die Entwicklung dieses Gedanken, wie § 42 zeigt, hat mit der allgemeinen Mitteilbarkeit des Gefühls wenig zu tun. Trotzdem wird ein wesentlicher Bestandteil von § 42, die Analogie zwischen dem reinen ästhetischen Urteil und dem moralischen Urteil, an einer späteren Stelle, nämlich in §§ 59–60 wieder aufgegriffen. Und anhand dieser Analogie wird Kant dort endlich doch erklären, „woher das Gefühl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde“.
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Eine zweite Aufgabe ist am Ende von § 41 formuliert: Es soll ein Interesse am Schönen herausgefunden werden, das auf der apriorischen Beziehung des Geschmacks zu einem „Anderen“ beruht, so dass die Urteilskraft als „Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori, von denen alle Gesetzgebung abhängen muss“, „als ein solches dargestellt werden“ kann (§ 41, 298). Von daher kann die Erläuterung dieses Interesses doch eine systematische Bedeutung gewinnen, obwohl das betreffende Interesse nicht aus der ästhetischen Urteilskraft selbst stammt und keinen Bestandteil des Geschmacksurteils ausmacht. Im Folgenden werde ich die Lösung dieser Aufgabe betrachten und zwar im Hinblick darauf, auf welche Weise und inwiefern die Stellung der Urteilskraft im System der Gemütsvermögen, nämlich als „ein Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori“ (§ 41, 298), durch das intellektuelle Interesse an der Naturschönheit entdeckt werden kann. Die Vernunft interessiert sich für die Naturschönheit, indem die ästhetische Zweckmäßigkeit der Naturgegenstände auf einen Begriff der Natur deutet, der den Begriff der bloß deterministisch bestimmten Natur eventuell durchbrechen kann und sich demjenigen Begriff der Natur nähert, nach dem die Natur mit der Kausalität der reinen Vernunft übereinstimmt. Angesichts dessen lässt sich schon sagen, dass der Begriff der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Naturschönheit zwischen dem deterministischen Naturbegriff, der ein Ergebnis der Gesetzgebung des Verstandes ist, und dem Naturbegriff, den die praktische Vernunft fordert, vermittelt. Demzufolge kann auch von einer Vermittlung zwischen Verstand und Vernunft durch Urteilskraft gesprochen werden. „Vermittlung“ ist in dem Sinn zu verstehen, dass wir dadurch sehen können, dass zwischen beiden kein Widerspruch bestehen muss. Durch die Analyse des Geschmacksurteils ist bloß die ästhetische Zweckmäßigkeit offengelegt. Zwischen dem Naturbegriff, dass manche Gegenstände der Natur uns ästhetisch zweckmäßig sind, wobei noch unbestimmt bleibt, ob dies der Zweck der Gegenstände der Natur sei, und dem Naturbegriff, den die praktische Vernunft fordert, besteht noch ein großer Abstand. In dem Sinn, dass die Urteilskraft bzw. der Geschmack zwischen den Naturbegriffen des Verstandes und der Vernunft vermittelt, bildet die Urteilskraft bzw. der Geschmack das Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft. Schon in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft bietet ein regulatives Prinzip der Urteilskraft – „das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur (in der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze)“ (KU, Einleitung V, 181) – die Vermittlung zwischen der Gesetzgebung des Verstandes und der der Vernunft (siehe KU, Einleitung IX). In der Kritik der ästhetischen Urteilskraft versucht Kant noch einmal, zwischen der Natur und der Freiheit transzendental zu vermitteln, aber auf einer neuen Basis.
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Das empirische und intellektuelle Interesse am Schönen
Es ist dabei Folgendes anzumerken: Methodisch gesehen kann nur auf eine sehr bescheidene Weise dargestellt werden, dass die Urteilskraft bzw. der Geschmack das „Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori, von denen alle Gesetzgebung abhängen muss“ ausmacht (vgl. Düsing 1990). Die Beziehung der ästhetischen Urteilskraft zur Vernunft wird in § 42, und später noch in § 59, zwar thematisiert, eine definitive Bestimmung der Beziehung zwischen der ästhetischen Urteilskraft und der reinen Vernunft liegt jedoch jenseits der Möglichkeit der Erkenntnis, weil wir dazu die Einsicht in den gemeinsamen Grund der Urteilskraft und der Vernunft brauchen, die aber nicht möglich ist. Die Kritik muss sich dabei mit einem Hinweis auf die Analogie zwischen beiden begnügen. Durch die Vermittlung der ästhetischen Urteilskraft kann man nur einen „Wink“ bzw. eine „Spur“ in die Hand bekommen, der oder die darauf hindeutet, dass zwischen Vernunft und Verstand, zwischen Freiheit und Natur kein Widerspruch bestehen muss.
11 Die auf Moral bezogene Begründung des Geschmacks in der Dialektik Unumstritten ist, dass die Moral in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft eine signifikante Rolle spielt. Es wird sogar von einer „moralischen Grundlegung der Ästhetik“ (P. Giordanetti 2005, S. 297) gesprochen. Eine genuine moralische Grundlegung für den Geschmack kann aber nicht möglich sein, weil die reine praktische Vernunft nicht der Bestimmungsgrund der ästhetischen Urteilskraft ist: Das Moralische und das Ästhetische sind zwei wesentlich verschiedene Bereiche und haben jeweils ein eigenes Prinzip a priori. Was in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft bezüglich des Verhältnisses zwischen beidem festgestellt werden kann, ist eine bloße Theorie der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit, „der Geschmack im Grund“ wird entsprechend schließlich als „Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide)“ bestimmt (§ 60, 356). Dass die Begründung des Geschmacks in der Dialektik bloß in einem bescheidenen Maß moralisch bezogen sein darf, hat einen erkenntnistheoretischen Grund: Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft muss sich mit einem Hinweis auf die Analogie zwischen dem Urteil der ästhetischen Urteilskraft und dem der praktischen Vernunft begnügen, weil der gemeinsame Grund, d.h. das Substrat der ästhetischen Urteilskraft und der praktischen Vernunft, übersinnlich und nicht erkennbar ist. Im Gegensatz zu dem Verständnis, dass in der Dialektik der Geschmack schließlich durch seine Beziehung zur Moral erklärt wird, versuche ich in diesem Kapitel aufzuzeigen, dass es Kant in der Dialektik hauptsächlich darauf ankommt, einen unbestimmten Begriff zu entwickeln, nämlich den Begriff des übersinnlichen Substrats der Natur außer uns und in uns. Mit diesem Begriff erhält das Geschmacksurteil eine Stütze, wodurch sein Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit „gerettet“ werden kann. Gerade in Bezug auf diesen unbestimmten Begriff wird die Moral in die Erklärung des Geschmacksurteils einbezogen. Die Rolle der Moral in dieser Erklärung liegt in Folgendem: Indem der Urteilende sich bewusst wird, dass sein reines ästhetisches Urteil in der Reflexionsstruktur eine Analogie zum reinen moralischen Urteil aufweist und die Vorstellung des Gegenstandes insofern als Versinnlichung der sinnlichen Ideen angesehen werden kann, „sieht“ der Urteilende „hinaus“ auf den gemeinsamen Grund von der ästhetischen Urteilskraft und der reinen Vernunft, der zugleich auch der Grund der Natur und Freiheit ist. Eine Reflexion über dieses Substrat erbringt zwar keine Erkenntnis, weil es jenseits der Grenze der Erkenntnis liegt; die Reflexion über die Beziehung der Form des Gegenstandes zu diesem übersinnlichen Substrat kann auch kein bestimmtes Ergebnis hervorbringen. Doch ist der https://doi.org/10.1515/9783110546125-012
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Die auf Moral bezogene Begründung des Geschmacks in der Dialektik
Begriff des übersinnlichen Substrats und die Reflexion über diesen Begriff ein Anhaltspunkt, anhand dessen der Anspruch des Geschmacksurteils auf die Allgemeinheit erst gerettet werden kann. Der erste und zweite Abschnitt dieses Kapitels dienen zur Entfaltung des oben genannten Gedankens. Der dritte Abschnitt interpretiert § 58, einen oft vernachlässigten Paragraphen, der meines Erachtens aber eine Schlüsselposition innehat und sogar als Höhepunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft angesehen werden kann. Der im Kapitel 2 diskutierte Begriff Gunst sowie gewisse Inhalte der Kantischen Lehre des intellektuellen Interesses am Schönen (in § 42) findet endlich in § 58 Aufklärung und Vollendung. Im vierten Abschnitt dieses Kapitels wird das neu eingeführte Wohlgefallen einer zweiten Stufe diskutiert, welches zwar mit Interesse behaftet ist, aber gerade egenstandes, dem auf dem interesselosen Wohlgefallen an der bloßen Form des G Wohlgefallen der ersten Stufe, basiert.
11.1 Antinomie und deren Auflösung: die Einführung des Begriffs des Übersinnlichen Zu der Frage, ob die Antinomie und ihre Auflösung die Aufgabe der Deduktion wieder behandelt und in diesem Sinn redundant ist (Allison nennt es „question of redundancy“: 2001, S. 242), bedarf es eigentlich einer eigenständigen Diskussion, welche den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Es ist für diese Arbeit aber unentbehrlich, dieses Problem kurz zu behandeln, weil die Notwendigkeit der moral-bezogenen Begründung des Geschmacks und die Ungewöhnlichkeit dieser Begründung eben mit diesem Problem verbunden sind. In der folgenden Diskussion über die Rolle der Antinomie, besonders im Hinblick darauf, ob sie redundant ist, werde ich nur die wichtigsten Punkte aufgreifen. Falls man die Aufgabe der Deduktion der Geschmacksurteile bloß in der Frage formuliert: „wie sind Geschmacksurteile möglich?“ (§ 36, 288), würde es schwierig sein, festzustellen, inwiefern die Antinomie und ihre Auflösung ein anderes Problem als das der Deduktion behandelt. Auf die Frage „wie sind G eschmacksurteile möglich?“ kann nämlich auf verschiedene Weise geantwortet werden. Das ist daher der Fall, weil die Möglichkeit des Geschmacksurteils verschiedene Aspekte enthält. Z. B., lässt sich in § 58 eine Antwort auf diese Frage finden: Gemäß dem letzten Absatz dieses Paragraphen ist der Idealismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit des Gegenstandes „die einzige Voraussetzung, unter der allein die Kritik die Möglichkeit eines Geschmacksurteils [...] erklären kann“ (§ 58, 351). Wenn die Frage „wie sind Geschmacksurteile möglich?“ als Aufgabe der Deduktion der Geschmacksurteile gestellt wird, wie es Kant in § 36 tut, hat diese
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Frage eine spezielle, und zwar nur der Deduktion entsprechende Bedeutung: Als Aufgabe der Deduktion wird in dieser Fragestellung nach der Rechtfertigung der Gesetzgebung a priori der Urteilskraft gefragt. In § 36 formuliert Kant exakt, worin die „Aufgabe einer Deduktion der Geschmacksurteile“ besteht: [Einem Geschmacksurteil] muss etwas als Prinzip a priori zum Grunde liegen, welches allenfalls ein bloß subjektives sein mag (wenn ein objektives zu solcher Art Urteile unmöglich sein sollte), aber auch als ein solches einer Deduktion bedarf, damit begriffen werde, wie ein ästhetisches Urteil auf Notwendigkeit Anspruch machen könne. (288)
Nach diesem Zitat ist das dem Geschmacksurteil zugrundeliegende Prinzip a priori, und zwar „ein bloß subjektives“ Prinzip, das, was einer Deduktion bedarf. Im gleichen Absatz schreibt Kant noch, dass die Aufgabe der Deduktion „die Prinzipien a priori der reinen Urteilskraft in ästhetischen Urteilen betrifft“ (288). Hierbei werden zwei Punkte, die für meine Interpretation wichtig sind, benannt: 1. Das durch Deduktion gerechtfertigte Prinzip a priori ist ein bloß subjektives. Falls das betreffende Prinzip ein objektives wäre, würde die Urteilskraft die Anschauung unter dieses Prinzip subsumieren können. So würde es sich um bestimmende, statt reflektierende Urteilskraft handeln. 2. Beim betreffenden Prinzip a priori handelt es sich um ein Prinzip der Urteilskraft. Wenn wir im Hinblick auf diese zwei Punkte die Aufgabe der Deduktion und die Auflösung der Antinomie vergleichen, zeigt sich ein scharfer Kontrast zwischen ihnen. 1. Der Begriff, der durch die Auflösung der Antinomie entdeckt wird, ist der Begriff des Übersinnlichen. Dieser Begriff spielt in der Beurteilung des Schönen eine ganz andere Rolle als die des subjektiven Prinzips der Urteilskraft. 2. Der betreffende Begriff des Übersinnlichen ist von Kant in § 57 unmissverständlich als „Vernunftbegriff“ (340) bestimmt. Während das subjektive Prinzip a priori, dessen Rechtfertigung die Aufgabe der Deduktion ausmacht, ein Prinzip der Urteilskraft, d.h. eine Gesetzgebung der Urteilskraft ist, handelt es sich hier, beim Begriff des Übersinnlichen, um einen Begriff der Vernunft. Von daher ist ersichtlich, dass Kant durch die Aufstellung und Auflösung der Antinomie ein anderes Problem als die Deduktion, die das subjektive Prinzip a priori der Urteilskraft rechtfertigt, behandelt. Und entsprechend der Verschiedenheit der Problematik ergibt sich auch die Verschiedenheit der Lösung. Die Antinomie und ihre Auflösung ist nicht zu verstehen als eine alternative bzw. ersetzende Strategie zur Lösung der Aufgabe der Deduktion. Die Antinomie und die Deduktion bezieht sich vielmehr jeweils von einer eigenen Seite her auf die generelle Frage, wie ein Geschmacksurteil möglich ist. Man sollte nicht
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annehmen, dass Kant in der Auflösung der Antinomie mit einem neuen Prinzip, und zwar einem Vernunftbegriff, die Gesetzgebung der Urteilskraft ersetzen wollte. Kant formuliert ausdrücklich, dass er in der Dialektik die Ergebnisse der Analytik aufrechterhalten28 und zugleich durch den neuen Begriff des Übersinnlichen den Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit „retten“ will (§ 57, 340). Was ist dann das Problematische, das er in der Antinomie vor Augen hat? Wenn die Rechtfertigung des subjektiven Prinzips a priori der Urteilskraft nicht das Problem ausmacht, das Kant hier lösen will, kann es nur die Struktur der Reflexion, die in einem Geschmacksurteil enthalten ist, sein, um die es ihm hier geht. Was die vorangegangene Analytik betrifft, so kann eines Kant immer noch nicht zufriedenstellen, so dass er es wieder aufgreift und die Schwachstelle beheben will. Es handelt sich um das Wohlgefallen als den Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils: Die Lust ist die Wirkung des freien Spiels der Erkenntnisvermögen auf das Gemüt, und das Geschmacksurteil wird „in Beziehung auf“ bzw. „durch“ die Lust gefällt. Nur so kann das Geschmacksurteil immer noch ein ästhetisches Urteil genannt werden. Die Antithese der Antinomie ist ein Angriff genau auf diesen Punkt: Antithesis. Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich ungeachtet der Verschiedenheit desselben darüber auch nicht einmal streiten (auf die notwendige Einstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch machen). (§ 56, 338 f.)
Nach der Antithese kann das Geschmacksurteil sich nicht bloß auf Wohlgefallen gründen, es muss sich vielmehr auf Begriffen gründen. Im dritten und vierten Absatz von § 57 äußert Kant näher sein Bedenken darüber, dass das bloße Wohlgefallen als der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils nicht in der Lage ist, den Anspruch auf die Einstimmung aller Anderen hinreichend zu unterstützen. Im dritten Absatz heißt es: Nun geht das Geschmacksurteil auf Gegenstände der Sinne, aber nicht um einen Begriff derselben für den Verstand zu bestimmen; denn es ist kein Erkenntnisurteil. Es ist daher, als auf das Gefühl der Lust bezogene anschauliche einzelne Vorstellung, nur ein Privaturteil: und sofern würde es seiner Gültigkeit nach auf das urteilende Individuum allein beschränkt sein: der Gegenstand ist für mich ein Gegenstand des Wohlgefallens, für andre mag es sich anders verhalten [...]. (§ 57, 339)
28 Kant formuliert ausdrücklich, dass die Antinomie und ihre Auflösung auf der Richtigkeit der Analytik aufgebaut sind: Die als These und Antithese dargestellten Prinzipien sind „nichts anders […] als die oben in der Analytik vorgestellten zwei Eigentümlichkeiten des Geschmacksurteils“ (§ 57, 339), und „[d]er hier aufgestellten und ausgeglichenen Antinomie liegt der richtige Begriff des Geschmacks, nämlich als einer bloß reflektierenden ästhetischen Urteilskraft, zum Grunde“ (§ 57, 341).
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Zuerst eine kleine Anmerkung zu diesem Zitat: Es ist auffällig, dass Kant hier die „auf das Gefühl der Lust bezogene anschauliche einzelne Vorstellung“ schon „Privaturteil“ nennt. In welchem Sinn kann eine Vorstellung schon Urteil sein? Es stellt sich auch die Frage, was hier mit „Vorstellung“ gemeint ist. Meint hier die „Vorstellung“ das Geschmacksurteil oder die gegebene Vorstellung des Gegenstandes? In § 1 kann man die Antwort auf diese Fragen finden: Kant versteht das ästhetische Urteil als eine Beziehung, und zwar eine Beziehung der Vorstellung auf das Gefühl der Lust und Unlust (siehe 203 f). Von daher kann eine gegebene einzelne Vorstellung des Gegenstandes auch Urteil genannt werden, sofern sie auf das Gefühl der Lust und Unlust bezogen wird. Kants Bedenken könnte darin liegen: Im Geschmacksurteil ist die einzelne Vorstellung des Gegenstandes auf das Gefühl der Lust und Unlust bezogen; von diesem Aspekt aus kann es bloß ein Privaturteil sein, dementsprechend kann sein Gültigkeitsanspruch auch nur auf das urteilende Individuum beschränkt bleiben. Selbst wenn die betreffende Lust auf einer Spontaneität der Erkenntnisvermögen – dem freien Spiel der Einbildungskraft mit dem Verstand – beruht, bleibt die zugrundeliegende Struktur des Urteils, nämlich dass es sich um eine Beziehung der gegebenen Vorstellung zum Gefühl der Lust und Unlust handelt, immer das gleiche. In dieser Grundstruktur findet der Urteilende keinen Ansatzpunkt für den Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Im nächsten Absatz entfaltet Kant diesen Gedankenstrang weiter: Gleichwohl ist ohne Zweifel im Geschmacksurteile eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts) enthalten, worauf wir eine Ausdehnung dieser Art Urteile als notwendig für jedermann gründen: welcher daher notwendig irgend ein Begriff zum Grunde liegen muss [...]. (§ 57, 339 f.)
Was kann hier „eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts)“ heißen? Die Beziehung, die im Geschmacksurteil enthalten ist, hat, wie oben erläutert wurde, sozusagen zwei Enden: Eines ist die gegebene einzelne Vorstellung des Gegenstandes, ein anderes die Lust oder Unlust. Wenn nun die Beziehung von diesen beiden Enden eine erweiterte ist, kann diese Erweiterung entweder seitens der Vorstellung des Gegenstandes oder seitens des Subjekts sein. Gemäß Kants Formulierung „eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts)“ sollte es eine Erweiterung sowohl seitens der Vorstellung des Gegenstandes als auch seitens des Subjekts sein. In Bezug auf den im gleichen Absatz angesprochenen „Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, was dem Gegenstande (und auch dem urteilenden Subjekte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung zum Grunde liegt“ (§ 57, 340), kann die erweiterte Beziehung wohl so formuliert werden: Aufseiten des Objekts bezieht sich das Geschmacksurteil nicht nur auf die Vorstellung des Gegenstandes, es bezieht diese Vorstellung zugleich noch auf den
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Begriff des Übersinnlichen, das der Erscheinung dieses Gegenstandes zugrunde liegt. Die reflektierende Urteilskraft vergleicht zwischen der gegebenen Vorstellung und diesem Begriff. Dieser Vergleich kann aber kein bestimmtes Ergebnis erbringen, weil keine gegebene Vorstellung des Gegenstandes diesem Begriff des Übersinnlichen korrespondieren kann. Aufseiten des Subjekts bezieht sich das Geschmacksurteil nicht bloß auf das Gefühl der Lust und Unlust, sondern es bezieht dieses Gefühl auch auf den Begriff des Übersinnlichen, das dem Subjekt zugrunde liegt. Kants Kritik des Geschmacks erfährt in der Auflösung der Antinomie eine erhebliche Revision (oder eher eine erhebliche Ergänzung?): Er hatte bislang immer darauf bestanden, dass der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils ein Wohlgefallen, und zwar ein Wohlgefallen der sinnlichen Art ist, und nur darum das Geschmacksurteil ein ästhetisches Urteil bleibt; jetzt soll das Geschmacksurteil sich auf einen Begriff beziehen, weil die Grundstruktur eines bloßen ästhetischen Urteils – die bloße Beziehung der Vorstellung des Gegenstandes auf das Gefühl der Lust und Unlust – dem Anspruch der allgemeinen Gültigkeit des Urteils nicht entsprechen kann. Diese Revision bzw. Ergänzung wird im folgenden Zitat deutlich zum Ausdruck gebracht: Nun fällt aber aller Widerspruch weg, wenn ich sage: das Geschmacksurteil gründet sich auf einem Begriffe (eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft) [...]; es bekommt aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann [...]: weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht im Begriffe von demjenigen liegt, was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann. (§ 57, 340)
Nach diesem Zitat gründet sich das Geschmacksurteil also doch auch auf einen Begriff. Dies bildet einen scharfen Kontrast zu der vorherigen Ansicht Kants, dass der Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils sinnlicher Art sein muss. Die schon komplizierte Struktur des Geschmacksurteils ist jetzt noch komplizierter geworden: a) Die einem ästhetischen Urteil zugrundeliegende Struktur besteht nach § 1 darin, dass wir die Vorstellung des Gegenstandes nicht auf das Objekt, sondern auf das Gefühl der Lust und Unlust beziehen. b) Dieses „Beziehen“ basiert im Fall der Unterscheidung, ob der Gegenstand schön ist, auf einem ästhetischen Vergleich (in Kants Wort „Vergleichung“: KU, Einleitung VII, 190) zwischen der gegebenen Form und unseren Erkenntnisvermögen, der die Auffassung der Form des Gegenstandes schon immer begleitet. Dabei sind es die Einbildungskraft und der Verstand, die für die Auffassung der Form zuständig sind. Dieser Vergleich ist nach Kant schon ein Urteil, aber ein bloßes empirisches Urteil, weil die betreffende Beziehung der Vorstellung zum Gefühl der Lust und Unlust bloße Privatgültigkeit hat,
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obwohl die zugrundeliegende subjektive Bedingung der Urteilskraft eben die Bedingung ist, die zur „Erkenntnis überhaupt“ erforderlich ist und insofern schon allgemein mitteilbar ist. Hier ist zu betonen, dass der ästhetische Vergleich potenziell allgemein mitteilbar ist, d.h. er lässt sich eigentlich schon allgemein mitteilen, das Subjekt muss sich aber zuerst darüber verständigen und kommt erst dann zu der Kenntnis der allgemeinen Mitteilbarkeit dieses ästhetischen Vergleichs und beansprucht daraufhin tatsächlich die allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefühls der Lust und Unlust. Diese Selbstverständigung und der Anspruch der Allgemeinheit, der dem Urteil beigelegt wird, ist noch nicht im ästhetischen Vergleich enthalten und kann erst durch eine weitere Reflexion vollbracht werden. c) Das Geschmacksurteil ist ein Urteil a priori, weil in ihm die Allgemeingültigkeit vorgestellt wird. Die Umgestaltung des ästhetischen Vergleichs – dieser ist schon ein Urteil, aber ein bloßes empirisches Urteil – zu einem Urteil a priori, erfolgt durch eine Reflexion, die die vier Momente des Geschmacksurteils berücksichtigt. Durch diese Reflexion wird dem Geschmacksurteil tatsächlich ein Anspruch auf allgemeine Gültigkeit beigelegt. d) Gemäß der Auflösung der Antinomie sollte es noch eine Reflexion geben, die die Struktur des bloß ästhetischen Urteils, nämlich die Beziehung einer gegebenen Vorstellung auf das Gefühl der Lust und Unlust, erweitert. Diese Erweiterung der Beziehung sollte eine doppelte sein: Die Beziehung betrifft einerseits nicht nur die Vorstellung des Gegenstandes, sondern auch den Begriff des Übersinnlichen, das der Erscheinung zugrunde liegt; andererseits betrifft sie nicht bloß die Lust und Unlust, sondern auch den Begriff des übersinnlichen Grundes des subjektiven Vermögens. Beide Begriffe des übersinnlichen Grundes verbünden sich zu dem Begriff „eines Grundes überhaupt von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft“, auf den sich das Geschmacksurteil „gründet“ (§ 57, 340). Es muss hier mit Nachdruck darauf hingewiesen werden: was die Auflösung der Antinomie betrifft, ist nicht das Übersinnliche selbst, sondern der Begriff des Übersinnlichen. Der Begriff des Übersinnlichen hat im Geschmacksurteil eine Rolle zu spielen: Auf ihn „muss sich das Geschmacksurteil beziehen; denn sonst könnte es schlechterdings nicht auf notwendige Gültigkeit für jedermann Anspruch machen“ (§ 57, 339). Falls man meint, dass nicht der Begriff des übersinnlichen Substrats, sondern das übersinnliche Substrat selbst den allgemeinen Anspruch des Geschmacksurteils garantiert, indem dieses Substrat auf unerklärliche Weise eine Übereinstimmung zwischen Natur und Subjekt und auch zwischen verschiedenen Subjekten hervorbringt, missversteht man Kant vollständig. In § 58 wird Kant noch erläutern, dass der Realismus der Zweckmäßigkeit der
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Natur (nämlich anzunehmen, dass unter der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur wirklich ein Zweck liegt, der diese Zweckmäßigkeit verursacht) unannehmbar ist, und zwar aus doppelter Perspektive: 1) Um die Natur zu verstehen, besteht kein zwingender Grund, diesen Realismus anzunehmen; 2) Um die Selbstgesetzgebung des Geschmacksurteils zu bewahren, dürfen wir diesen Realismus nicht annehmen (näher dazu siehe 11.3). Der Begriff des Übersinnlichen wird in § 57 als Auflösung der Antinomie eingeführt, nicht um darauf hinzuweisen, dass dieses übersinnliche Substrat auf eine unerklärliche Weise das Geschmacksurteil und dessen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit möglich macht. Vielmehr bekommt das Geschmacksurteil durch den Begriff des Übersinnlichen einen Ansatzpunkt, nämlich eine gewisse Beziehung zu einem Begriff – was die Antithese fordert, ist eben die begriffliche Beziehung. Was den Begriff des Übersinnlichen betrifft, ist in § 57 deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er „unbestimmt und zugleich unbestimmbar“ ist, weil keine „Prädikate der sinnlichen Anschauung“ ihm „korrespondieren“ können (§ 57, 339). Das Geschmacksurteil bezieht sich zwar auf diesen Begriff, „aus dem aber nichts in Ansehung des Objekts erkannt und bewiesen werden kann“ (§ 57, 340). Dementsprechend bleibt das Geschmacksurteil immer noch unbeweisbar, auch wenn es sich auf den Begriff des Übersinnlichen gründet.
11.2 Die Struktur der Dialektik und das Wesen der moral-bezogenen Begründung des Geschmacks Auf den ersten Blick scheint die Dialektik der Kritik der ästhetischen Urteilskraft verschiedene Themen zu behandeln, als ob ein Leitfaden, der die verschiedenen Paragraphen in der Dialektik zu einer Einheit organisiert, fehle. In §§ 55–57 wird die Antinomie vorgestellt und aufgelöst; in § 58 wird ein Thema, das anscheinend wenig Relevanz zur Antinomie hat, erörtert, nämlich was für ein Prinzip der Natur wir zur Bewahrung der Autonomie der ästhetischen Urteilskraft benötigen; in § 59 wird die Analogie zwischen der Schönheit und der Sittlichkeit erläutert; § 60 ist die Methodenlehre des Geschmacks, eine Behandlung darüber, wie man den Geschmack auf eine gründliche Weise kultivieren kann. Die Dialektik der ästhetischen Urteilskraft – von § 55 bis § 60 – ist aber als ein Ganzes zu betrachten (vgl. Recki 2008, S. 189) und nur von der Dialektik als einem Ganzen aus kann man die Auflösung der Antinomie und die Rolle der Analogie zwischen Schönheit und Sittlichkeit verstehen. In § 57 wird zwar die Antinomie durch die Einführung eines unbestimmten Begriffs aufgelöst, es fehlt dort aber eine nähere Beschreibung, wie der unbestimmte Begriff des
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Übersinnlichen im Geschmacksurteil als Grund dieses Urteils fungiert, nämlich wie die neuerdings einbezogene Reflexion, die „eine erweiterte Beziehung“ und somit „eine Ausdehnung dieser Art Urteile“ einführt (§ 57, 339), in Bezug auf den Begriff des Übersinnlichen, stattfindet. §§ 58–59 sind als Erläuterung zu diesem Problem zu verstehen: § 58 beseitigt ein naheliegendes Missverständnis: mit der Einführung des Begriffs des Übersinnlichen, das der Erscheinung des Gegenstandes und der subjektiven Vermögen zugrunde liegt, sei der Zweck, der die ästhetische Zweckmäßigkeit hervorbringt, herausgearbeitet worden. Falls man einen solchen Zweck annimmt, würde das Geschmacksurteil nicht mehr ein ästhetisches, sondern ein begriffliches Urteil sein. § 59 erläutert dann das Verfahren der Reflexion, in dem sich das Urteil auf den Begriff des Übersinnlichen bezieht: Indem der Urteilende sich bewusst wird, dass zwischen seinem reinen ästhetischen Urteil und dem reinen moralischen Urteil eine Analogie besteht, „sieht“ der Urteilende „hinaus“ auf den Begriff des Übersinnlichen, welches dieser Analogie und zugleich auch der Natur zugrunde liegt. § 60 behandelt als Methodenlehre zwar ein spezielles Thema, nämlich wie man durch die Befestigung der moralischen Denkungsart einen echten Geschmack gründet. Dieser Paragraph basiert aber auf Ergebnissen der vorangegangenen Paragraphen in der Dialektik und bestimmt den „Geschmack im Grund“ als „ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen“. Indessen ist herausgestellt, dass nur „vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion“ die Form des Gegenstandes als die Versinnlichung der sittlichen Ideen vorgestellt werden kann (§ 60, 356). § 60 lässt sich deshalb als eine Weiterführung der Auflösung der Antinomie und der Analogielehre verstehen. Methodisch bemerkenswert ist die Begründung des Geschmacks durch ihren Bezug zur Moral: Sie erfolgt nicht direkt aus der Analyse des Geschmacksurteils, sie erfolgt auch nicht durch eine moralische Begründung, nämlich nicht durch einen Nachweis, dass hier die Pflicht fordert, und sie erfolgt auch nicht durch psychologische Beobachtung, dass Spuren des moralischen Gefühls sich in dieser ästhetischen Erfahrung finden lassen. Vielmehr wird sie durch die Aufstellung und Auflösung der Antinomie eingeführt, und in der Bestimmung des Geschmacks als das Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen wird diese Begründung zur Vollendung gebracht, wobei die Lehre von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit als ein entscheidender Zwischenschritt fungiert. Mit der Dialektik und der neuen Begründung des Geschmacks durch seinen Bezug auf die Moral wird „der richtige Begriff des Geschmacks, nämlich als einer bloß reflektierenden ästhetischen Urteilskraft“ (§ 57, 341) – dieser Begriff wird in der Analytik und Deduktion ausgearbeitet – nicht verneint. Vielmehr wird jetzt, einen Schritt weiter, dem „echten Geschmack“ (§ 60, 356) auf den Grund
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gegangen: Der Geschmack ist „im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide)“ (§ 60, 356). Die Entfaltung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft von der Analytik und Deduktion zur Dialektik ist eine Vertiefung der Untersuchung des Geschmacks von seinem „richtigen“ Begriff zu seinem Begriff „im Grund“ und somit zu seinem „echten“ Begriff. Die moral-bezogene Begründung des Geschmacks in der Dialektik basiert auf den Ergebnissen der logischen und epistemischen Analyse, die durch die vorangegangene Analytik und Deduktion hervorgebracht werden: Die Antinomie kann aufgelöst werden, weil ihr, so Kant, „der richtige Begriff des Geschmacks, nämlich als einer bloß reflektierenden ästhetischen Urteilskraft“ zu Grunde liegt (§ 57, 341). Diese moral-bezogene Begründung des Geschmacks erfolgt aber nicht aus der direkt weiterlaufenden Analyse der vorigen Ergebnisse. Die logische Analyse oder die epistemische Untersuchung des Geschmacksurteils reicht nämlich nicht hin, um zum Begriff des Übersinnlichen zu gelangen. Um diesen Begriff und dessen Bezug zum Geschmacksurteil zu entdecken, muss die moralbezogene Begründung des Geschmacks auf einen günstigen Anlass, nämlich auf die Aufstellung der Antinomie bezüglich des Prinzips der Urteilskraft warten und nur anhand der Antinomie kann die moral-bezogene Begründung des Geschmacks entfaltet werden. Dieser Sachverhalt kann erklären, warum in der Analytik und der Deduktion die Beziehung des Geschmacks zur Moral nicht für sich systematisch thematisiert wird. In verschiedenen vorangegangenen Paragraphen ist der moralische Bezug zwar explizit, wird aber immer bloß beiläufig behandelt, wobei die innere Beziehung des Geschmacks zur Moral unberührt bleibt. (Eine Andeutung auf diese Beziehung findet sich im letzten Absatz von § 40.) In § 42 wird eine Beziehung der Vernunft zum Geschmack, das intellektuelle Interesse an der Naturschönheit, zwar thematisiert, doch dieses Interesse bezieht sich nur äußerlich auf das Geschmacksurteil, indem das genannte Interesse dem Geschmacksurteil bloß anhängt. Über die Analogie zwischen Formen der Reflexion hinaus, besteht zwischen dem Geschmack und der reinen Vernunft wohl eine innere Affinität, indem im übersinnlichen Substrat „das theoretische Vermögen mit dem praktischen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden wird“ (§ 59, 353). Dabei bleibt uns aber die Art und Weise der inneren Beziehung der ästhetischen Urteilskraft zur Vernunft unbekannt, weil das Substrat dieser zwei Vermögen übersinnlich ist. Die epistemische und moral-bezogene Begründung schließen einander nicht aus, weil nicht nur die ästhetische Urteilskraft, sondern auch das Bewusstsein von der Analogie zwischen der Schönheit und Sittlichkeit für das Geschmacksurteil
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unentbehrlich ist. Die epistemische und moral-bezogene Begründung verlaufen aber nicht parallel zueinander. Offensichtlich beruht die moral-bezogene Begründung auf der epistemischen. Denn die letztere stellt die Grundstruktur des Geschmacks dar und die Analogie dieser Struktur des Geschmacks und der Struktur des moralischen Urteils macht eben die Grundlage der moral-bezogenen Begründung aus. Es ist dabei hervorzuheben, dies ist die Absicht meiner Interpretation, dass in der Reflexion des Geschmacksurteils die Moral nicht aus sich heraus ein Wohlgefallen fordert, anhand dessen der Gegenstand als schön bezeichnet wird. Die Moral ist vielmehr nur einbezogen, weil es zum Geschmacksurteil noch eines Reflexionsvorgangs bedarf; ihre Rolle besteht hierbei auch nur im Rahmen des Bewusstwerdens der Analogie. Hier führt die Moral nicht zur Nötigung der Pflicht, sondern weist als eine Komponente im Bewusstsein der Analogie auf den Begriff des Übersinnlichen hin.
11.3 Idealismus vs. Realismus: § 58 als Höhepunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft Wenn man den Ausdruck „Höhepunkt“ zur Beschreibung der Stellung eines Teilstücks innerhalb des Ganzen verwendet, sollte er wohl die Lösung der Leitfrage und den höchsten Standpunkt, von dem aus die Dynamik der ganzen Theorie überblickt werden kann, bezeichnen. In diesem Sinn ist meines Erachtens § 58, mit dem Titel „Vom Idealismus der Zweckmäßigkeit der Natur sowohl als Kunst, als dem alleinigen Prinzip der ästhetischen Urteilskraft”, als Höhepunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft anzusehen. Die Überlegungen zu Pro und Contra für die drei Optionen des Prinzips des Geschmacks – Empirismus, Realismus und Idealismus – laufen wie ein roter Faden durch die ganze Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Die zwei Enden des roten Fadens sind jeweils §§ 2–5, in denen das interesselose Wohlgefallen als Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils festgestellt und von Kant als Gunst interpretiert wird, und § 58, demzufolge der Idealismus des Prinzips des Geschmacks, im Gegensatz zum Empirismus und Realismus, als das alleinige Prinzip der ästhetischen Urteilskraft gilt, um die im Geschmacksurteil enthaltene Gunst zu sichern (siehe § 58, 350, Zeile 15–20). Die im Geschmacksurteil enthaltene Gunst zu erklären, zu begründen und endlich zu sichern, macht diesen roten Faden aus. Mehrere Gedankenstränge, die im vorangegangenen Text der Kritik der ästhetischen Urteilskraft berührt aber nicht ausgeführt wurden, bündeln sich jetzt in
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§ 58 und erst von diesem hohen Standpunkt aus kann man diese Gedankenstränge hinreichend verstehen: In § 42, mit der Überschrift „Vom intellektuellen Interesse am Schönen“, wird die moralische Bedeutung der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur berührt. Dort beschreibt Kant die folgende Situation: Einer, der genug Geschmack hat, um über Produkte der schönen Kunst zu urteilen, könnte trotzdem gerne sein Zimmer verlassen, „in welchem jene die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftlichen Freuden unterhaltenden Schönheiten anzutreffen sind“; er wendet sich jetzt dem Schönen der Natur zu, „um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann“ (§ 42, 299 f.). Warum kann dieser Liebhaber der Natur seinen „Gedankengang“ „nie völlig entwickeln“? Das hat Kant dort nicht näher angegeben. Was dort zum Ausdruck gebracht wird, ist die Bestimmung, worin die Analogie zwischen dem reinen ästhetischen Urteil und dem reinen moralischen Urteil besteht, und die Einsicht, dass die Vernunft aufgrund dieser Analogie und aufgrund ihres Interesses an der objektiven Gültigkeit der sittlichen Ideen ein intellektuelles Interesse am Schönen der Natur nimmt. Teleologisch ist dort nicht ausgeführt, ob wir hinreichend Grund haben, anzunehmen, dass die Analogie zwischen den beiden Arten der Urteile von einem gemeinsamen Grund getragen wird, so dass die ästhetische Urteilskraft und die moralische Vernunft nicht nur zueinander analog zu sein scheinen, sondern auch wirklich von dem gemeinsamen Grund her eine innere Affinität haben. Es wird teleologisch auch nicht näher erläutert, ob wir hinreichend Grund haben, anzunehmen, dass die ästhetische Zweck rgebnis mäßigkeit von schönen Gegenständen der Natur kein kontingentes E der deterministischen Kausalität der Natur ist, sondern einen eigenen Grund, nämlich eine Kausalität des Zwecks, hat. Im ersten Moment der Analytik entwickelt Kant den Begriff Gunst, um das, was unter allerlei Wohlgefallen das einzige freie Wohlgefallen, nämlich das Wohlgefallen am Schönen, ein Wohlgefallen ohne alles Interesse, terminologisch zu bezeichnen. Dies wurde im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit interpretiert. Kant führt aber bis hin zu § 58 nicht aus, inwiefern die angesprochene Gunst ausschließlich eine Gunst ist, die das Subjekt dem Gegenstand erweist, und nicht zugleich auch eine Gunst sein kann, die die Natur uns erweist. Beinhaltet die ästhetische Zweckmäßigkeit der Naturschönheit nicht eine Gunst der Natur uns gegenüber? Es ist eines der Hauptthemen der Interpretationen zur Kritik der Urteilskraft, inwiefern die Ästhetik als der erste Teil und die Teleologie als der zweite Teil dieser Kritik eine Einheit bilden. Als eine Teilantwort auf diese Frage kann das Folgende gelten: Eine gewisse teleologische Behandlung ist nötig, um die Kritik der ästhetischen Urteilskraft zu Ende zu führen, d.h. um das Prinzip der
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ästhetischen Urteilskraft schließlich zu erläutern. Die Teleologie, deren die Kritik des Geschmacks bedarf, wird in § 58 dargestellt, der nicht nur die folgende Kritik der teleologischen Urteilskraft vorbereitet, sondern auch einen wichtigen Bestandteil und sogar den Höhepunkt der Kritik der ästhetischen Urteilskraft ausmacht. In der Kant-Forschung wird dieser Paragraph sowie die darin enthaltenen Einsichten und Argumentationen jedoch eher vernachlässigt.29 Dies stellt einen Gegensatz zur lebhaft bleibenden Diskussion um den Idealismus versus Realismus im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft dar. In beiden Kritiken hebt der transzendentale Idealismus den Widerspruch zwischen Empirismus und Rationalismus auf und widerspricht zugleich dem Realismus des betreffenden Prinzips a priori. Zu dem Zustand, dass gerade in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft das Leitprinzip des Idealismus wenig Aufmerksamkeit findet, haben wohl die äußeren Umstände beigetragen: 1. Dieses Lehrstück kommt ziemlich spät, fast am Ende der Kritik der ästhetischen Urteilskraft vor. 2. Der ihm folgende § 59 hat wegen der systematischen Bedeutung immer besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so dass der vorausgehende § 58 von ihm in den Schatten gestellt wird. Was die Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft betrifft, bestehen, abgesehen vom Empirismus, der das apriorische Gesetz im Bereich des Geschmacks negiert, zwei Optionen zur Erklärung: Nach dem Realismus der Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft bestimmt das Gesetz nicht nur das Urteil, ob der Gegenstand schön sei; es ist zugleich der Bestimmungsgrund der formalen Zweckmäßigkeit der Naturschönheit, so dass die formale Zweckmäßigkeit der Natur zum Naturzweck wird (§ 58, 347). In diesem Fall ist das Gesetz ein konstitutives Prinzip der Natur. Nach dem Idealismus der Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft bestimmt das Gesetz der Urteilskraft nicht die Form der Natur, sondern bloß das Geschmacksurteil; das Zusammenstimmen der Form der Naturschönheit mit den Vorstellungskräften ist nur als zufällig anzusehen (§ 58, 347). In diesem Fall ist die Gesetzgebung eine Heautonomie, wie im Fall der regulativen Gesetzgebung der Urteilskraft in ihrem reflektierenden, theoretischen Gebrauch: Es handelt sich bei der Urteilskraft im doppelten Sinn um eine Selbstgesetzgebung, das Gesetz stammt nämlich nicht nur aus der Urteilskraft, sondern hat Anwendung auch bloß auf die Urteilskraft selbst.
29 Eine Ausnahme dieser Vernachlässigung stellt die detaillierte Diskussion von Brandt (1994) über diesen Paragraphen dar. Die Themen, die ich hier behandle, sind jedoch anders als seine Behandlung. Er diskutiert dabei vor allem, wie Kant die Bildung der Schneeflocke sachlich erklärt und inwiefern das freie Spiel der Erkenntnisvermögen in einer Analogie zur „freien“ Kristallbildung steht.
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Die auf Moral bezogene Begründung des Geschmacks in der Dialektik
Die Analytik des Schönen kann die Aufgabe, zwischen Realismus und Idealismus des Prinzips des Geschmacks zu entscheiden, nicht erfüllen. Sie analysiert, was das Geschmacksurteil und das „Phänomen der Urteilskraft“ (KU, Vorrede, 170) enthält und wie die ästhetische Beurteilung verfährt. Sie kann auch darauf hinweisen, wie sich die Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft zu der ästhetischen Beurteilung verhalten würde, wenn es eine Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft gäbe. Durch sie kann aber noch nicht zwischen Realismus und Idealismus der Gesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft entschieden werden, weil das Problem, ob das Gesetz der ästhetischen Urteilskraft auch der Bestimmungsgrund der Form der Natur sei, den übersinnlichen Grund der Natur betrifft. Die Auflösung dieses Problems verschiebt Kant mit Recht in die Dialektik, in der die übersinnliche Dimension des Geschmacksurteils behandelt wird. In § 58 entfaltet Kant unter zwei Aspekten sein teleologisches Denken: 1) ob es einen hinreichenden Grund gibt, den Realismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur hinzunehmen; 2) was für ein Prinzip der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur wir für die Autonomie der ästhetischen Urteilskraft brauchen: Der Realismus nimmt an, dass „der Hervorbringung des Schönen eine Idee desselben in der hervorbringenden Ursache [...] zum Grunde gelegen habe“ (§ 58, 347). Einerseits „reden die schönen Bildungen im Reiche der organisierten Natur gar sehr das Wort“ für den Realismus (§ 58, 347). Andererseits gibt die Natur uns aber keinen „geringsten Grund zur Vermutung an die Hand“, dass der bloße Mechanismus solch ein Naturprodukt, dessen Form uns ästhetisch zweckmäßig ist, nicht erschaffen kann (§ 58, 347). An mehrfachen Beispielen bemüht Kant sich zu zeigen, dass die betreffenden Phänomene doch naturwissenschaftlich erklärbar sind. Dieses Ergebnis der teleologischen Überlegung, die sich auf naturwissenschaftliche Ressourcen beruft, kann aber überraschenderweise auch eine Signifikanz für die Kritik des Geschmacks gewinnen. Das folgende Zitat ist ein Schlüsseltext zum Verständnis, warum der Idealismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur, im Gegensatz zum Realismus, für die Autonomie des Geschmacksurteils unentbehrlich ist: Die Eigenschaft der Natur, dass sie für uns Gelegenheit enthält, die innere Zweckmäßigkeit in dem Verhältnisse unserer Gemütskräfte in Beurteilung gewisser Produkte derselben wahrzunehmen, und zwar als eine solche, die aus einem übersinnlichen Grunde für notwendig und allgemeingültig erklärt werden soll, kann nicht Naturzweck sein, oder vielmehr von uns als ein solcher beurteilt werden: weil sonst das Urteil, das dadurch bestimmt würde, Heteronomie, aber nicht, wie es einem Geschmacksurteile geziemt, frei sein und Autonomie zum Grunde haben würde. (§ 58, 350)
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Die Eigenschaft der Natur, dass sie sich uns bei manchen Gelegenheiten als ästhetisch zweckmäßig zeigt, kann nicht als „Naturzweck“ beurteilt werden. Der Grund dazu besteht nicht nur darin, dass wir nicht genötigt sind, für solche Phänomene außer dem naturalen Mechanismus noch eine Kausalität des Zwecks anzunehmen, sondern vornehmlich darin, dass „Heteronomie“, anstatt „Autonomie“, dem Geschmacksurteil zugrunde liegen würde, wenn man einen Realismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur annähme. Im gleichen Absatz, in dem das obige Zitat steht, erläutert Kant dies auf mehrere Weisen. Der Kerngedanke ist der Folgende: Bei der Beurteilung der Schönheit suchen wir das Richtmaß derselben in uns selbst; falls wir den Realismus der Zweckmäßigkeit der Natur annehmen, „müssten“ wir „da von der Natur lernen“, „was wir schön zu finden hätten“, so dass die Selbstgesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft „nicht stattfinden kann“ (§ 58, 350). Dadurch wird das Thema „Gunst“ wieder aufgegriffen: Es würde immer eine objektive Zweckmäßigkeit der Natur sein, wenn sie für unser Wohlgefallen ihre Formen gebildet hätte; und nicht eine subjektive Zweckmäßigkeit, welche auf dem Spiele der Einbildungskraft in ihrer Freiheit beruhte, wo es Gunst ist, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt. (§ 58, 350)
Durch dieses Zitat kann zugleich ein eventuelles Missverständnis ausgeräumt werden. Der Begriff vom übersinnlichen Grund ist zwar in der Dialektik eingeführt; Kant ist aber nicht der Ansicht, dass wir deswegen annehmen dürften: die ästhetische Zweckmäßigkeit der Natur sei nicht zufällig entstanden, sondern sie habe einen notwendigen Grund. In der Begegnung mit der Natur, die „in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“ (§ 42, 301), versinkt der Liebhaber der Natur in einen Gedankengang, den er „nie völlig entwickeln kann“. Das Thema, über das dieser Liebhaber der Natur seinen Gedankengang entwickelt, ist wohl der Grund der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur und der Grund der Analogie zwischen Schönheit und Moral. Jetzt vertritt Kant aber nicht nur die Ansicht, dass wir keinen hinreichenden Grund haben, anzunehmen, dass ein Naturzweck unter der Erscheinung wirke, so dass die Natur uns ästhetisch zweckmäßig zu sein scheint. Kant geht sogar noch einen Schritt weiter: Es ist uns nicht „erlaubt“, dergleichen anzunehmen (§ 58, 350). Kants Argument ist nicht leicht verständlich. Er scheint der Ansicht zu sein, dass die Selbstgesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft nur möglich ist, wenn wir ein spezielles Verständnis der Natur annehmen. Die Kausalität der Natur und Autonomie der ästhetischen Urteilskraft sind eigentlich zwei wesentlich verschiedene Sachverhalte. Wie kann ein Verständnis der ersteren für die letztere entscheidend sein?
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Die auf Moral bezogene Begründung des Geschmacks in der Dialektik
Man könnte es so erklären: Was Kant hier sucht, ist sozusagen eine Arbeitshypothese, unter der die Kritik des Geschmacks überhaupt erst möglich ist. Ob die Natur in der Tat so geschaffen ist, damit sie uns ästhetisch zweckmäßig scheint, liegt eigentlich außerhalb der Grenze der Erkennbarkeit. Kant hat diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen. Er richtet sein Augenmerk jedoch vielmehr darauf, was für einen Naturbegriff die Selbstgesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft voraussetzt. Wenn diese Selbstgesetzgebung noch möglich sein sollte, dürfen wir nur die Idealität, anstatt den Realismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit der Natur, annehmen. Dies formuliert Kant folgendermaßen: […] so ist auch der Idealism der Zweckmäßigkeit in Beurteilung des Schönen der Natur und der Kunst die einzige Voraussetzung [meine Hervorhebung], unter der allein die Kritik die Möglichkeit eines Geschmacksurteils, welches a priori Gültigkeit für jedermann fordert (ohne doch die Zweckmäßigkeit, die am Objekte vorgestellt wird, auf Begriffe zu gründen), erklären kann. (§ 58, 351)
11.4 Geschmack als Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen Durch die Bestimmung, dass der Geschmack „im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen“ ist (§ 60, 356), wird der Geschmack und zugleich auch das Geschmacksurteil teilweise intellektualisiert. Der Geschmack ist nun nicht mehr ein bloßes Vermögen, das urteilt, ob die Form des Gegenstandes zu den Erkenntnisvermögen passt. Durch ihn wird vielmehr noch vorgestellt, ob und inwiefern sich die Form des Gegenstandes auf die sittlichen Ideen bezieht. Diese neue Bestimmung des Geschmacks hebt die vorangegangenen Erläuterungen des reinen Geschmacksurteils jedoch nicht auf. Denn dass die Schönheit Versinnlichung sittlicher Ideen sein kann, beruht gerade darauf, dass das reine Geschmacksurteil zum reinen moralischen Urteil in einer Analogie steht. Bei der Versinnlichung sittlicher Ideen handelt es sich um eine Reflexion der höheren Stufe, weil sie nicht mehr eine Reflexion über die Beziehung der Form des Gegenstandes zum Subjekt, sondern eine Reflexion über die Analogie zwischen der Reflexion, die im Geschmacksurteil enthalten ist, und der des moralischen Urteils, ist. Nicht nur eine neuartige Reflexion, sondern dementsprechend auch ein neuartiges Wohlgefallen wird dadurch einbezogen: Nun sage ich: das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten; und auch nur in dieser Rücksicht (einer Beziehung, die jedermann natürlich ist, und die auch jedermann andern als Pflicht zumutet) gefällt es mit einem Anspruche auf jedes andern Beistimmung, wobei sich das Gemüt zugleich einer gewissen Veredlung und Erhebung über die bloße Empfänglichkeit einer Lust durch Sinneneindrücke bewusst ist und anderer Wert auch nach einer ähnlichen Maxime ihrer Urteilskraft schätzt. (§ 59, 353)
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Das Wohlgefallen ergibt sich, indem sich das Subjekt der Verwandtschaft zwischen Autonomie des Geschmacks und Autonomie der Moralität bewusst wird. Das Wohlgefallen bei der bloßen ästhetischen Beurteilung wird jetzt um ein Wohlgefallen, das mit dem moralischen Interesse verwandt ist, ergänzt, so dass dieses neuartige Wohlgefallen ein Wohlgefallen der zweiten Stufe genannt werden kann. Demgegenüber ist das Wohlgefallen an dem bloßen freien Spiel der Erkenntnisvermögen ein Wohlgefallen der ersten Stufe. Beim genannten Wohlgefallen der zweiten Stufe handelt es sich um ein Wohlgefallen daran, dass das Subjekt ein Wohlgefallen, unabhängig vom Reiz und von der Erwartung des Genusses, an der bloßen Form des Gegenstandes haben kann. Es ist ein Beifall für die Art und Weise des Wohlgefallens der ersten Stufe. Dieses Wohlgefallen ist ein intellektuelles, weil es auf dem Urteil der Vernunft darüber beruht, welche Tätigkeiten und Leistungen des Subjekts gutzuheißen sind. Das Wohlgefallen der zweiten Stufe ist mit einem Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit verbunden. Hier tun sich die Fragen auf: Gehört dieser intellektuelle Faktor wesentlich zur der Kritik des Geschmacks? Weicht die Kritik an diesem Punkt vom eigentlichen Thema ab? Ist dieses intellektuelle Wohlgefallen dem Geschmacksurteil nicht bloß angehängt und macht keinen wesentlichen Bestandteil desselben aus? An diesem Punkt kann man das eben eingeführte Wohlgefallen der zweiten Stufe mit dem intellektuellen Interesse am schönen Gegenstand der Natur, das in § 42 behandelt wird, vergleichen. Wie Kant explizit ausdrückt, entsteht das intellektuelle Interesse an der Naturschönheit aus dem Interesse der Vernunft an der objektiven Gültigkeit der sittlichen Ideen und gehört nicht zum Geschmacksurteil. Während Kant das intellektuelle Interesse am Schönen als dem Geschmacksurteil bloß angehängt bestimmt, macht jetzt in §§ 59–60 das neuartige Wohlgefallen der zweiten Stufe, das intellektueller Art ist, einen Bestandteil, und zwar einen zugrundeliegenden Bestandteil des Geschmacks aus: Nach Kant ist der Geschmack „im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide)“ (§ 60, 356). So besteht im Geschmacksurteil ein zweistufiges Verfahren: Im Verfahren auf der ersten Stufe macht das Wohlgefallen an der Form des Gegenstandes den Bestimmungsgrund des Urteils aus; auf der zweiten Stufe handelt es sich um ein Wohlgefallen, das aus dem Bewusstsein von der Analogie zwischen dem reinen ästhetischen Urteil und dem reinen moralischen Urteil entsteht. Entsprechend besteht auch ein zweistufiger Anspruch auf die Allgemeingültigkeit. Auf beiden Stufen gründet sich dieser Anspruch auf Reflexion: Auf der ersten Stufe ergibt sich jener Anspruch aus der Reflexion über die Form des Gegenstandes, einer Reflexion der nicht-begrifflichen Art; auf der zweiten Stufe beruht er auf der Reflexion über die Reflexion der ersten Stufe – eben
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aus dieser Reflexion der zweiten Stufe ergibt sich auch das Bewusstsein von der Analogie zwischen dem reinen Geschmacksurteil und dem reinen moralischen Urteil. Es ist eine Eigenheit der Kantischen Geschmackstheorie, dass sie das Geschmacksurteil weder auf das Wohlgefallen der ersten Stufe, noch auf das der zweiten Stufe verkürzt. In dieser zweistufigen Struktur ist einerseits aufrechterhalten, dass der Geschmack als ästhetische Urteilskraft auf dem freien Spiel der Erkenntnisvermögen beruht – dies ist das Ergebnis der Untersuchung der bloßen ästhetischen Urteilskraft; andererseits findet die Beziehung der ästhetischen Urteilskraft zur Vernunft im Wohlgefallen der zweiten Stufe auch ihren Platz. Es besteht eine Ähnlichkeit zwischen dieser Definition des Geschmacks, die sich auf die sittlichen Ideen bezieht, und der moral-bezogenen Erklärung der Erhabenheit, nach der das Subjekt die „Unerreichbarkeit der Natur“ als „Darstellung von Ideen“ denkt (KäU, Allgemeine Anmerkung zur Exposition, 268). In beiden Fällen wird die intellektuelle Dimension in die Erklärung einbezogen. Hier ist das Schöne, dort das Erhabene das Symbol des sittlichen Guten. In beiden Fällen hängt ein Wohlgefallen der zweiten Stufe an dem Bewusstsein der betreffenden Analogie. Es ist bemerkenswert, dass, obwohl das Urteil über das Erhabene einen intellektuellen Faktor enthält, Kant es trotzdem für ein reines ästhetisches Urteil hält, wie ich oben im Kapitel über das Erhabene erörtert habe: Begriffe haben zwar einen Anteil in der Reflexion, die entwickelt wird, um ein Urteil über das Erhabene zu fällen. Die Reflexion basiert aber auf einem angestrengten Gebrauch der Erkenntnisvermögen, der als Unlust empfunden wird. Insofern kann das Urteil über das Erhabene immer noch als ästhetisches Urteil gelten. Und weil es sich beim Urteil über das Erhabene immer noch um ein Wohlgefallen an der Form des Gegenstandes, anstatt an dessen Existenz, handelt, besteht kein Interesse am Gegenstand, d.h. kein Wohlgefallen an der Existenz des Gegenstandes, als Grund des Urteils über das Erhabene. Von daher ist es nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein reines ästhetisches Urteil. Auf beiden Stufen des Geschmacksurteils bezieht sich das Subjekt immer auf die Form des Gegenstandes, anstatt auf dessen Existenz. Insofern bleibt die These der Interesselosigkeit auch im Hinblick auf diese zweite Stufe des Geschmacksurteils immer noch gültig. Das Wohlgefallen der zweiten Stufe richtet sich jedoch nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Denkungsart des Subjekts und deren Anlage – an diesem Punkt ist das Geschmacksurteil dem Urteil über das Erhabene ähnlich. An dem Wohlgefallen der zweiten Stufe am Schönen, das mit Begriffen verbunden ist, hat das Interesse einen Bestandteil. Das hier betreffende Interesse richtet sich – dies ist das Charakteristische dieses Interesses – nicht auf den
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Gegenstand, sondern auf das Subjekt selbst. Es ist ein Interesse an der Fähigkeit zum uninteressierten Wohlgefallen30. Im Geschmacksurteil vereinigt sich das Wohlgefallen ohne Interesse und das Wohlgefallen der zweiten Stufe, das ein Interesse enthält. Dieses letztere, mit Interesse geladene Wohlgefallen basiert aber auf dem Wohlgefallen ohne Interesse. Dabei ist jedoch anzumerken, dass dieses Interesse zwar eine Verwandtschaft zur praktischen Vernunft hat, dass es sich aber nicht auf ein moralisches Interesse reduzieren lässt. Denn es hat keine Handlung zur Folge und findet nur in der Reflexion statt. Das Problem, wie sich die Dialektik zur Analytik des Schönen verhält, sowie das Zusammenschließen der zweierlei Wohlgefallen bereitet der Kant-Interpretation Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten haben wohl mit Kants Formulierungsweise zu tun: Zum Beispiel erläutert Kant in § 59 und § 60, die seine abschließende Erläuterung des Geschmacks enthalten, nicht näher, wie sich die Definitionen des Geschmacks, die er auf verschiedene Ebenen gegeben hat, zueinander verhalten. Er gibt auch nicht deutlich genug an, wie sich die Aufstellung der Antinomie zum Problem des Anspruchs der Allgemeingültigkeit, das nach ihm eigentlich schon durch die Deduktion gelöst sein sollte, verhält. Allerdings hat unsere Schwierigkeit in der Lektüre der Dialektik, so meine ich, ihren Grund vornehmlich in der Sache selbst. Dass Kant auf mehreren Ebenen den Geschmack erläutert und das Problem der Allgemeingültigkeit aus verschiedenen Perspektiven auflöst, hat die Ursache darin, dass der Geschmack selbst ein vielfältiges Wesen ist. Es ist die Vielfältigkeit des Geschmacks selbst, die fordert, dass sich die Untersuchung darüber auch vielfältig entfalte.
30 Kaulbach (1984) bejaht die Frage, „ob es nicht ein Interesse an dem Zustand der Interesselosigkeit selbst gibt“, unter der Bedingung, dass „unter Interesse nicht das Begehren des Daseins einer bestimmten einzelnen Wirklichkeit verstanden wird“ (S. 90). Er gleicht dieses Interesse am Zustand der Interesselosigkeit jedoch dem in § 42 besprochen „intellektuellen Interesse“ an der Naturschönheit.
12 Ästhetische Autonomie im Dienst der Moral? Mit Kant and the Experience of Freedom: Essays on Aesthetics and Morality (1993) und Values of Beauty: Historical Essays in Aesthetics (2005) hat Guyer den bedeutenden Versuch gemacht, das Verhältnis des Ästhetischen zur Moral, die Interesselosigkeit sowie den Wert des Ästhetischen bei Kant zu behandeln. Seine Beschreibung beschränkt sich dabei nicht auf Kant: Ein größerer historischer Hintergrund wird sehr lehrreich dargestellt und ideengeschichtliche Details bezüglich der Theorie der Interesselosigkeit vor Kant werden ausgearbeitet. Aber eine Konzeption, die vor allem dem angeführten ersten Buch Guyers zugrunde liegt, kann ich nicht nachvollziehen. Ich werde in diesem Kapitel meinen Einwand darstellen. Die betreffende Konzeption ist im folgenden Satz formelhaft zum Ausdruck gebracht: For Kant, the autonomy of the aesthetic is in the service of the primacy of practical reason31 (Guyer 1993, S. 96).
Sein Gedankengang ist folgender: Die Beziehung des Geschmacks zur Moral dient bei Kant nicht zur Rechtfertigung der Allgemeingültigkeit des Geschmacksurteils. Crawford, Kemal, Rogerson und Savile haben diesen Punkt fehlinterpretiert. (Meine Stellungnahme dazu ist in Kapitel 11 dargestellt.) Andererseits hat die Beziehung des Geschmacks zur Moral in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft doch eine sehr signifikante Stellung. Was wir brauchen, so Guyer, ist, eine angebrachte Perspektive zu finden, um Kants Lehre von dieser Beziehung zu verstehen. Guyer will mit Kant and the Experience of Freedom eben diese Perspektive anbieten: An einem entscheidenden Punkt bedarf, so Guyer, die Autonomie der Moral einer Ergänzung vonseiten des Ästhetischen: Sie bedarf nämlich einer Versinnlichung der moralischen Ideen, damit man erkennen kann, dass die Autonomie der Moral auch auf uns Menschen, auf Vernunftwesen mit Sinnlichkeit, angewendet werden kann. Guyer glaubt, dass das interesselose Wohlgefallen am Schönen, eine Erfahrung der Freiheit, genau diesen Bedarf der Moral erfüllt. Eben dadurch, dass das Wohlgefallen des Schönen von allem Interesse, auch vom moralischen Interesse, frei ist, kann es dem Interesse der Moral dienen (S. 18 f.; S. 96). Falls aber das interesselose Geschmacksurteil
31 Dieser Gedanke Guyers findet bei Allison eine positive Resonanz, siehe Allison 2001, S. 195-6. Allison versucht aber auf seine eigene Weise, diesen Gedanken zu formulieren. https://doi.org/10.1515/9783110546125-013
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auch ein Interesse für uns ausmachen sollte, kann es das nur dadurch, dass es dem Interesse der Moral dient: In the long run, Kant also suggested, disinterested aesthetic judgment can retain its interest for us only if […] it freely serves the interest of morality itself. (S. 96) Kant believed in the intrinsic and independent value of aesthetic experience but also in the uniquely unconditional value of morality, or the primacy of practical reason (that is, the use of reason to determine what we ought to do rather than what is the case). One of my chief purposes in the following essays is to show how Kant tried to make these two beliefs not merely compatible but interdependent. (S. 2)
Mein Einwand besteht aus drei Aspekten, die aber ein Ganzes bilden: Zunächst bin ich der Ansicht, dass es nicht angebracht ist, den Primat der praktischen Vernunft einzubeziehen und den Primat der praktischen Vernunft vor der ästhetischen Urteilskraft zu behaupten. Es ist nicht angebracht, weil die ästhetische Urteilskraft in gar keinen Widerstreit mit der praktischen Vernunft geraten kann – an diesem Punkt ist die ästhetische Urteilskraft von der theoretischen Vernunft verschieden –, so dass eine Rede vom Primat der praktischen Vernunft keinen Sinn ergibt. Zweitens kann ich die oben genannte Ansicht Guyers nicht teilen: „Kant believed in the intrinsic and independent value of aesthetic experience“. Kant spricht zwar vom ästhetischen Wert des Kunstwerks, einen immanenten und unabhängigen Wert des Ästhetischen vertritt er aber nicht. Drittens sollten wir meines Erachtens bei der Lektüre Kants vermeiden, für den Geschmack bzw. die ästhetische Urteilskraft oder für das Kunstwerk einen Zweck zu finden oder zu setzen, als ob ein solches Vermögen oder solches Werk nur um dessentwillen vorhanden sei. Der Geschmack und das Geschmacksurteil kann zwar zur Bildung der habituellen moralischen Denkungsart beitragen, wir dürfen aber nicht annehmen, dies sei die Aufgabe oder der Zweck des Geschmacks und des Geschmacksurteils. In Anlehnung an § 58 behaupte ich, dass eine Setzung des Zwecks des Geschmacks die Autonomie der ästhetischen Urteilskraft verletzt und Kants Intention widerspricht. Im Folgenden werden die oben genannten drei Einwände näher dargestellt. Mein Anliegen besteht nicht bloß darin, Guyer zu widerlegen. Das Thema, wie sich die ästhetische und moralische Autonomie zueinander verhalten, ist sowohl für die sachliche Debatte als auch für Kant-Forschung wichtig und eingehender Untersuchung wert. Guyers Konzeption „ästhetische Autonomie im Dienst der Moral“ will eine Balance zwischen der Autonomie der ästhetischen Urteilskraft einerseits und dem Vorrang der praktischen Vernunft im System der Gemütsvermögen andererseits halten. Diese Konzeption scheint wegen ihrer Ausgeglichenheit attraktiv und stellt eine wichtige Richtung in der Lösung des Problems dar.
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Ich gehe dagegen von Kants Unterscheidung zwischen gut, angenehm und schön aus und will diese Unterscheidung konsequent durchziehen. Mein Einwand gegen Guyers Konzeption bildet einen wesentlichen Bestandteil meiner Interpretation des Kantischen Gedankens der Interesselosigkeit: In Anbetracht dessen, dass das Geschmacksurteil ganz ohne Interesse ist, lässt sich die Theorie des Primats der praktischen Vernunft, welche einer der Kerngedanken des Kantischen Kritikprojekts ist, nicht direkt auf die Kritik der ästhetischen Urteilskraft anwenden; auch wegen der Interesselosigkeit des ästhetischen Reflexionsurteils ist es fragwürdig, inwiefern dem Ästhetischen ein immanenter Wert zugeschrieben werden kann. Denn Wert ist letztlich mit „gut“ verbunden und „schön“ ist von „gut“ doch streng zu unterscheiden. Außerdem will ich hiermit noch eine Frage mit Bedeutung für das Kantische System beantworten, die Frage nämlich, worin das Interesse der ästhetischen Urteilskraft bestehen kann. In der Kritik der praktischen Vernunft, im Paragraphen über den Primat der praktischen Vernunft, formuliert Kant das jeweilige Interesse des spekulativen und praktischen Gebrauchs der Vernunft. Er äußert sich aber, auch später, nicht zum Interesse der ästhetischen Urteilskraft. Die Antwort, die ich gefunden habe, lautet: Auf den Begriff „das Interesse der ästhetischen Urteilskraft“ sollte verzichtet werden.
12.1 Ein Vorrang der praktischen Vernunft zur ästhetischen Urteilskraft? In der Kritik der praktischen Vernunft, im Paragraphen „Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen“, entwickelt Kant das Interesse der spekulativen und der praktischen Vernunft, um das Vorrangproblem zu lösen. Genau dieses Vorrangproblem hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Problem, ob man von einem Vorrang bzw. Primat der praktischen Vernunft vor der ästhetischen Urteilskraft sprechen kann. Worin besteht das Problem des Vorrangs, das Kant mit der Lehre des Primats der praktischen Vernunft lösen will? „[E]s würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen“ (KpV, V 121). Die spekulative Vernunft erkennt nämlich nichts von dem, was die praktische Vernunft aus eigenem Interesse ihr anzunehmen darbietet, nämlich die Unsterblichkeit der Seele, das Dasein Gottes und die Freiheit. So entsteht das Problem, ob die spekulative Vernunft berechtigt ist, diese Ideen „als leere Vernünftelei auszuschlagen“, weil die Erfahrung ihre objektive Gültigkeit nicht beglaubigen kann, oder ob sie diese Ideen „annehmen und sie mit allem, was sie als spekulative Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen und zu verknüpfen suchen müsse“ (KpV, V 121). Jene drei Ideen liegen zwar außerhalb der Möglichkeit
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der Erkenntnis, widersprechen aber nicht den Einsichten der spekulativen Vernunft. In diesem Fall erweitert die spekulative Vernunft in praktischer Absicht ihren Gebrauch, indem sie die genannten Ideen annimmt und diese mit ihren eigenen Einsichten verknüpft. Kann es zwischen der ästhetischen Urteilskraft und der praktischen Vernunft einen Widerstreit geben, so dass eine Unterordnung der ersteren unter die letztere nötig ist? Meines Erachtens ist ein solcher Widerstreit schwer vorstellbar, so dass eine Konstatierung des Vorrangs bzw. des Primats der praktischen Vernunft vor der ästhetischen Urteilskraft gar nicht nötig ist, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens erhebt die ästhetische Urteilskraft keinen Anspruch der Erkenntnis und würde deshalb nicht wie die spekulative Vernunft wegen einer Erkenntnis oder Idee der praktischen Vernunft widerstreiten. Zweitens kommt es für die ästhetische Urteilskraft eigentlich nicht auf die Handlung, sondern bloß auf das ästhetische reflektierende Urteil an, so dass es keinen Sinn ergibt, den Primat der praktischen Vernunft im Vergleich zur ästhetischen Urteilskraft hervorzuheben. Beim Geschmacksurteil findet die praktische Vernunft keine Anwendung. In zweierlei Hinsicht kann aber die ästhetische Urteilskraft den Bereich der Handlung berühren. Was eine Handlung betrifft, so ist ohne Zweifel auf die Stimme der praktischen Vernunft hören: 1) Ästhetische Kontemplation bzw. Betrachtung ist sowohl eine Ausübung der ästhetischen Urteilskraft als auch eine Tat, die man in der wirklichen Welt durchführt. Als eine Tat hat sie eine zeitliche und räumliche Bestimmung und unterscheidet sich an diesem Punkt von einem bloßen Geschmacksurteil, welches als eine Proposition keine zeitliche und räumliche Bestimmung hat. Als eine Tat kann die ästhetische Kontemplation eventuell mit pragmatischen (im Kantischen Sinne) oder moralischen Interessen in Konflikt geraten. Man stelle sich z. B. die folgende Szene vor: Eine Familie hat für den Lebensunterhalt nur sehr wenig Geld übrig. Ist es in diesem Fall noch moralisch erlaubt, dass sich der Vater eine Eintrittskarte zu einer Kunst-Ausstellung kauft, mit der Konsequenz, dass die Familie, auch die Kinder, Hunger leiden? Es ist für das Anliegen meiner Arbeit irrelevant, wie man diese Frage moralisch abwägt. Es kann sein, dass der Vater endlich den Besuch der KunstAusstellung, und zwar aus einer moralischen Überlegung, aufgibt. Bedeutet dieser Verzicht auf eine künstlerische Kontemplation die Unterwerfung oder Unterordnung der ästhetischen Urteilskraft unter die praktische Vernunft? Nein. Es geht dabei nur darum, was für eine Rolle der Vater der künstlerischen Tätigkeit in seinem Leben einräumt. Die ästhetische Urteilskraft als
Ein immanenter, unabhängiger Wert des Ästhetischen?
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solche, als ein Beurteilungsvermögen und als ein Vermögen der Gesetzgebung, ist dabei gar nicht in Betracht gekommen. 2) Die Kultivierung des Geschmacks kann von manchen Menschen als eine Aufgabe bzw. als ein Zweck gesetzt werden. In der Kant-Forschung, so z. B. bei Henry Allison (2001, S. 220 ff.), taucht auch das Thema auf, ob die Kultivierung des Geschmacks eine Pflicht ist. In diesen zwei Fällen sollte die entsprechende Handlung zweifelsohne auf die Stimme der praktischen Vernunft hören. Es ist aber darauf zu achten, wie bereits erwähnt, dass die ästhetische Urteilskraft eigentlich keine Handlung, sondern bloß das ästhetische reflektierende Urteil betrifft. Das ästhetische reflektierende Urteil als solches bleibt von der praktischen Vernunft unabhängig, denn das reine ästhetische Urteil, wie Kant betont, gründet sich nicht auf einem Interesse, bringt auch kein Interesse hervor. Als ein bloßes Urteil, und zwar ein Urteil über die bloße Form des Gegenstandes, ohne Berücksichtigung seiner Existenz, hat es mit der Willkür nichts zu tun. Diese Unabhängigkeit impliziert, dass die ästhetische Urteilskraft mit dem Interesse der moralischen Vernunft nicht in Widerstreit geraten würde. Wenn die ästhetische Urteilskraft dem Interesse der moralischen Vernunft nicht widerstreiten wird – abgesehen davon, dass die Ausübung der ästhetischen Urteilskraft, nämlich die Kontemplation, und die Kultivierung des Geschmacks in gewisser Hinsicht als Handlung angesehen werden können – würde es auch keinen Sinn machen, zu diskutieren, ob die praktische Vernunft im Gegenüber der ästhetischen Urteilskraft einen Primat behaupten muss. Diesbezüglich ist die Autonomie der ästhetischen Urteilskraft noch etwas anderes als der Fall der theoretischen Vernunft, weil die letztere doch eventuell in Erkenntnis mit dem Bedarf der praktischen Vernunft im Widerstreit stehen kann.
12.2 Ein immanenter, unabhängiger Wert des Ästhetischen? Es ist keine neue Aufgabe, für das Ästhetische einen immanenten Wert zu finden32. Wenn man das versucht, würde man sich mit einer Verlegenheit konfrontieren: Es ist schwierig, neben der Anknüpfung an den Erkenntniswert oder an den praktischen Wert (einschließlich dem pragmatischen Wert) einen dritten Wert, nämlich einen ausschließlich dem Ästhetischen zugehörigen Wert zu
32 Zu einem etwas neueren Versuch siehe Martin Seel 1991.
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finden. In der Interpretation Kants würden wir der ähnlichen Situation begegnen: Zu der Frage, was für einen Wert das Ästhetische für uns Menschen hat, kann man sich bei Kant entweder auf das Erkenntnispotenzial der ästhetischen Betrachtung berufen oder die praktische Signifikanz des Ästhetischen ausschöpfen. Ein von diesen beiden unabhängiger Wert ist aber schwer vorstellbar. Guyers Behauptung, dass bei Kant die ästhetische Erfahrung einen immanenten, unabhängigen Wert hat, scheint deshalb besonders bemerkenswert. Leider formuliert er nicht genau, worin dieser immanente, unabhängige Wert besteht. Wahrscheinlich meint er, dass das interesselose Wohlgefallen als eine Erfahrung der Freiheit einen solchen Wert hat. Im Folgenden werde ich eine Reihe von Möglichkeiten daraufhin prüfen, ob sie auf einen immanenten Wert des Ästhetischen hinweisen können. Zum Ersten hat Kant eine Bedeutsamkeit des Geschmacks ausdrücklich formuliert: Der Geschmack macht gleichsam den Übergang vom Sinnenreiz zum habituellen moralischen Interesse ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich (§ 59, 354).
Demzufolge kommt der Geschmack der Kultur und infolgedessen dem moralischen Interesse entgegen. Indem nämlich der Geschmack den genannten „Übergang“ erleichtert, kann er zur Moral beitragen. Dies reicht aber nicht aus, dem Ästhetischen einen immanenten Wert zuzuweisen. Wenn man aus dieser Perspektive einen Wert des Geschmacks sehen will, handelt es sich nur um einen von der Moral abgeleiteten Wert. Die ästhetische Erfahrung ist in dieser Hinsicht zwar attraktiv, aber nicht für sich wertvoll. Eine zweite Möglichkeit besteht in dem „ästhetischen Wert“. In § 53 werden die schönen Künste untereinander bezüglich des ästhetischen Werts verglichen. Die Kunstformen – Poesie, Musik, Malerei etc. – können mit zweierlei ästhetischen Maßstäben gemessen werden: entweder nach „dem Reize und der Gemütsbewegung“ (§ 53, 329, Zeile 17), die die Kunst hervorbringt, oder nach der „Kultur“, „die sie dem Gemüt verschaffen“ (§ 53, 329). Beide Kriterien sind ästhetische. Das erste, ein Kriterium nach dem „behaglichen Selbstgenusse“ (ebd.), bezieht sich auf die materielle Seite: Es hat mit „Reiz und Bewegung des Gemüts“ zu tun. Beim zweiten Kriterium geht es um die formale Zweckmäßigkeit der Kunstwerke und hierin liegt Kants Aufmerksamkeit. Anhand dieses Kriteriums werden der ästhetische Wert von der Dicht-, Ton-, und bildenden Kunst sowie der Rhetorik erörtert. Der Begriff „ästhetischer Wert“ bezeichnet nicht einen Wert, der ausschließlich dem Ästhetischen zugehört und unmittelbar wertzuschätzen ist. Vielmehr wird durch ihn ein Kriterium zur Bewertung der Kunstwerke zum Ausdruck
Ein immanenter, unabhängiger Wert des Ästhetischen?
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gebracht, ein Kriterium im Hinblick darauf, inwiefern die Kunstwerke ästhetisch zufriedenstellend sind. Der ästhetische Wert lässt sich wohl als eine Parallele zum sittlichen Wert33 verstehen. Man dürfte aber daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass von Kant dem ästhetischen ein eigener, von dem Sittlichen unabhängiger Wert zugeschrieben wird. Beim angeführten vorzüglichen Kriterium des ästhetischen Werts, nämlich dem Wert der schönen Künste „nach der Kultur“ zu schätzen, handelt es sich um ein Kriterium der Kultur; dementsprechend ist der betreffende ästhetische Wert ein kultureller Wert. Es ist zuzugeben, dass der kulturelle Wert etwas anderes ist als der moralische Wert. Aufgrund dessen lässt sich aber noch längst nicht behaupten, dass es sich hier um einen immanenten und unabhängigen Wert handelt, auch wenn die dabei betreffende kulturelle Bildung eventuell unentbehrlich und unersetzbar ist. Eine dritte Möglichkeit ergibt sich in der Überlegung, ob in den ästhetischen Ideen und im freien Spiel der Erkenntnisvermögen ein von der Erkenntnis unabhängiger intellektueller Wert enthalten ist. Das freie Spiel der Erkenntnisvermögen ist eigentlich eine Ausübung der Erkenntnisvermögen zur „Erkenntnis überhaupt“: Hier ist die „Erkenntnis überhaupt“ zwar noch nicht mit einer bestimmten Erkenntnis gleichzusetzen, sie mündet vielleicht sogar niemals in eine bestimmte Erkenntnis, weil es sich bei ihr um ein freies Spiel der Einbildungskraft und um Assoziation handelt. Das in die ästhetische Betrachtung einbezogene Erkennen bleibt trotzdem ständig eine Abart der Erkenntnis und ist nicht in der Lage, einen unabhängigen Status zu behaupten, obwohl man ihre Eigenartigkeit und sogar Unersetzbarkeit anerkennen kann. Eine vierte Möglichkeit erschließt sich dadurch, dass mit der Bestimmung „das Schöne gefällt unmittelbar“ (§ 59, 353) jegliche Instrumentalisierung der Schönheit ausgeschlossen wird. „Unmittelbar“ kennzeichnet hier, dass das Wohlgefallen am Schönen auf keinem anderen Wohlgefallen beruht. Die Unmittelbarkeit des Wohlgefallens am Schönen legt deshalb nah, dass ihm ein unmittelbarer Wert innewohnt. Es kann hier in der Tat aber keinen unmittelbaren Wert geben. Das Schöne gefällt, nicht weil das Schöne oder die Kontemplation einen Wert hat; das Schöne gefällt stattdessen tatsächlich und einfach so. An diesem Punkt unterscheidet sich die Schönheit von der Sittlichkeit: Das Schöne gefällt unmittelbar (aber nur in der reflektierenden Anschauung, nicht wie Sittlichkeit im Begriffe) (§ 59, 353-4).
33 Zum Begriff „sittlicher Wert“ bzw. „moralischer Wert“ siehe GMS, Erster Abschnitt; KpV, V 151 ff.
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Ästhetische Autonomie im Dienst der Moral?
Hier kann man eventuell fragen, ob das Wohlgefallen am Schönen, das nach Kant das einzige freie Wohlgefallen ist, als solches etwas ist, dem ein immanenter Wert innewohnt. Der Einwand zu dieser Frage liegt aber darin: Dass das Wohlgefallen am Schönen das einzige freie Wohlgefallen ist, wird von Kant als eine Tatsache festgestellt. Das heißt, in dieser Festlegung ist nicht impliziert, dass dieses Wohlgefallen in der Hierarchie der verschiedenen Arten des Wohlgefallens eine höhere Stellung einnimmt. Ein Wohlgefallen ist nicht deshalb wertvoll, weil es ein freies ist. Die anderen Arten des Wohlgefallens sind auch nicht dadurch weniger wertvoll, dass sie durch Begriffe oder durch Interessen beschränkt sind. Wenn man behauptet, dass das Wohlgefallen am Schönen als solches schon wertvoll ist, denkt man immer noch in der Analogie der Moral: Bei der Sittlichkeit handelt es sich um ein unmittelbares Wohlgefallen, das auf einem immanenten Wert (der Handlung aus der Pflicht) beruht; so sollte auch mit dem unmittelbaren Wohlgefallen des Schönen ein immanenter Wert in gewisser Weise verbunden sein. Wir können hier aber einwenden: Um aufzuweisen, dass dieses Wohlgefallen an sich einen immanenten Wert hat, muss man genau zeigen, worin dieser Wert besteht. Anbei sei noch anzumerken, dass Guyers Unterscheidung zwischen dem immanenten und unabhängigen Wert (der ästhetischen Erfahrung) einerseits und dem unbedingten Wert (der Sittlichkeit) andererseits verwirrend ist. Was den Wert betrifft, lässt sich nämlich zwischen „unbedingt“, „immanent“ und „unabhängig“ schwierig eine substanzielle Unterscheidung finden. Eine fünfte Möglichkeit hängt mit der Konzeption zusammen, dass die Interesselosigkeit der Kontemplation auf eine Lebensweise deutet, die von den Zwängen des Handelns und Denkens befreit ist. Gerold Prauss (1981) interpretiert die Kantische „ästhetische Freiheit der Subjektivität als Gegenmöglichkeit zu ihrer Praktizität“. Die Konzeption der Gegenmöglichkeit zur Praktizität der Subjektivität könnte vielen Philosophen, wie z. B. Schopenhauer, entgegenkommen. In Kants Philosophie ist eine solche „Gegenmöglichkeit zur Praktizität“, so erscheint es mir, weder nötig noch richtig. Nicht nötig, weil das Subjekt keinen Grund sieht, eine Gegenmöglichkeit zur praktischen Fähigkeit zu suchen und die praktische Vernunft zu suspendieren oder gegen sie zu rebellieren. Die praktische Autonomie ist nicht etwas, das das Leben „unterdrückt“. Bezüglich der ästhetischen Gunst spricht Kant zwar auch von der Beschränkung des Vernunftgesetzes, dass sie „uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen“, lässt (§ 5, 210). Diese Beschränkung ist aber nicht in einem abwertenden Sinn gemeint, als ob das Subjekt das Bedürfnis habe, eine solche Beschränkung zu meiden. Und es ist nicht richtig, weil in der ästhetischen
Das Interesse der ästhetischen Urteilskraft?
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Erfahrung der Wille in Wirklichkeit nicht, wie mancher meint, suspendiert wird: Man sieht im ästhetischen Augenblick bloß von dem moralischen Interesse ab, d.h. seine Aufmerksamkeit liegt anderswo, aber das Subjekt kann zugleich immer noch seiner Maxime unterworfen bleiben. Zusammengefasst: Kant kann durchaus anerkennen, dass das Ästhetische, der Geschmack und die Kontemplation für uns Menschen von Bedeutung sind. Es würde aber problematisch werden, falls man einen Schritt weitergeht und fragt, ob es eine eigene, von dem praktischen Wert prinzipiell zu unterscheidende Wertkategorie, und ob es außer der Handlung an sich und der Gesinnung noch etwas immanent Wertvolles geben kann. Ich will hier nicht behaupten, dass das Wohlgefallen des Schönen oder die Kontemplation nicht von Wert ist. Kant schreibt am Ende des Paragraphen über den Primat der praktischen Vernunft, dass „alles Interesse zuletzt praktisch ist“ (KpV, V 121). Ich möchte an dieser Formulierung Kants anknüpfen und behaupten: wenn man, wie Guyer es tut, thematisiert, was für ein Interesse das Geschmacksurteil für uns Menschen ausmacht, würde man schließlich nur in der praktischen Signifikanz des Geschmacksurteils eine Antwort finden; einen immanenten, unabhängigen Wert des Ästhetischen, bzw. der ästhetischen Erfahrung, wie Guyer formuliert: „intrinsic and independent value of aesthetic experience“, kann man bei Kant nicht finden.
12.3 Das Interesse der ästhetischen Urteilskraft? In der Primatslehre der Kritik der praktischen Vernunft buchstabiert Kant das jeweilige spekulative und praktische Interesse der Vernunft aus: Einem jeden Vermögen des Gemüts kann man ein Interesse beilegen, d.i. ein Prinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcher allein die Ausübung desselben befördert wird. Die Vernunft als das Vermögen der Prinzipien bestimmt das Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sich selbst. Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchs besteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu den höchsten Prinzipien a priori, das des praktischen Gebrauchs in der Bestimmung des Willens in Ansehung des letzten und vollständigen Zwecks. (KpV, V 119-20)
Von einem Interesse des ästhetischen Gebrauchs der Vernunft wird nicht gesprochen. Der Ausdruck „ästhetischer Gebrauch der Vernunft“ ist eigentlich auch problematisch, weil nicht die Vernunft, sondern ausschließlich die reflektierende Urteilskraft einen ästhetischen Gebrauch haben kann. Andererseits wird die Urteilskraft in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft oft für die Vernunft
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Ästhetische Autonomie im Dienst der Moral?
stellvertretend thematisiert34, und die Urteilskraft als ein Vermögen des Prinzips a priori kann als eine Spielart der Vernunft angesehen werden. Von daher kann man fragen, ob es neben dem spekulativen und praktischen Interesse der Vernunft ein Interesse der ästhetischen Urteilskraft geben kann. Es gibt außer dem Erkenntnisinteresse und dem moralischen Interesse freilich noch anderes, wie z. B. ökonomisches oder kommunikatives Interesse, das uns als Menschen interessiert. Es gibt aber gemäß der Primatslehre nur zwei Interessen, die nicht nur von der Vernunft zugebilligt werden, sondern auch aus ihr stammen. Es stellt sich dann die Frage: Wie verhält sich die Vernunft, ein „Vermögen der Prinzipien“, das das Interesse aller Gemütskräfte bestimmen sollte (KpV, V 119-20), zu dem ästhetischen Gebrauch der Urteilskraft? Kann es ein Interesse des ästhetischen Gebrauchs der Urteilskraft geben? Mit dieser Thematisierung wird gefragt, ob es einen Zweck bzw. einen zu entfaltenden, sich nach dem Maximum erstreckenden Gebrauch der ästhetischen Urteilskraft geben kann. Was das Interesse des spekulativen und praktischen Gebrauchs der Vernunft betrifft, heißt „Interesse“ zwar „die Bedingung [...], unter welcher allein die Ausübung desselben [Vermögen] befördert wird“ (KpV, V 119). Das Interesse des spekulativen und praktischen Gebrauchs der Vernunft ist aber in der Tat der Zweck des Gebrauchs der Vernunft. Man kann entsprechend fragen: Was kann der Zweck des ästhetischen Gebrauchs der Urteilskraft sein? Die Pointe liegt meines Erachtens darin, dass Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft den Zweck bzw. den Endzweck der ästhetischen Urteilskraft, und den der ästhetischen Kontemplation oder des künstlerischen Schaffens, d.h. warum sie da sind, nicht bestimmt und eine solche Bestimmung absichtlich vermeidet. Kant erläutert zwar, dass der Geschmack einen Übergang zum habituellen Moralinteresse erleichtern kann und dass die schönen Künste das Gemüt erweitern und stärken können, er bestimmt solche Funktion aber nicht als den Endzweck des Geschmacks oder der schönen Künste: In § 58, betitelt mit „Vom Idealismus der Zweckmäßigkeit der Natur sowohl als Kunst“, den ich in Kapitel 11 schon behandelt habe, formuliert Kant ausdrücklich, dass für die schönen Künste sowie für die Natur „das Prinzip des Idealisms der Zweckmäßigkeit“ zugrunde gelegt werden muss. Idealismus der Zweckmäßigkeit bedeutet hier, dass die subjektive Zweckmäßigkeit des Gegenstandes nicht als „wirklicher (absichtlicher) Zweck der Natur (oder der Kunst)“, sondern „nur als eine ohne Zweck von selbst und zufälliger Weise sich hervortuende
34 In § 42 wird z. B. die Funktion der praktischen Vernunft: „für bloße Formen praktischer Maximen (sofern sie sich zur allgemeinen Gesetzgebung von selbst qualifizieren) ein Wohlgefallen a priori zu bestimmen“, unter dem Namen der intellektuellen Urteilskraft beschrieben (§ 42, 300).
Das Interesse der ästhetischen Urteilskraft?
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zweckmäßige Übereinstimmung zu dem Bedürfnis der Urteilskraft“ angenommen werde (§ 58, 347). Falls die subjektive Zweckmäßigkeit als Zweck der Kunst angenommen wird, würde „das Wohlgefallen durch ästhetische Ideen […] von der Erreichung bestimmter Zwecke (als mechanisch absichtliche Kunst) abhängen“ (§ 58, 350). Kant meint, dass es sich in diesem Fall nicht mehr um subjektive, sondern um objektive Zweckmäßigkeit handeln und „das Geschmacksurteil empirischen Prinzipien unterworfen sein würde“ (ebd.). Was Kant dort nachweisen will, ist, dass wir den ästhetischen Realismus (nämlich dass die subjektive Zweckmäßigkeit der Zweck der Natur oder der Kunst sei) nicht annehmen dürfen. Allgemeiner aber, so glaube ich, dürfen wir für die schönen Künste keinen Zweck setzen, und zwar aus dem gleichen Grund, mit dem Kant dort argumentiert: Falls wir einen Zweck für sie setzen, würde sich die Betrachtung des Kunstwerks diesem gesetzten Zweck anpassen, und das Wohlgefallen würde sich entsprechend in das Wohlgefallen an der Vollkommenheit des Kunstwerkes verwandeln. Eine Setzung des Zwecks der Künste ist deshalb zu vermeiden. Aus dem gleichen Grund sollte vermieden werden, für den Geschmack oder die Kontemplation einen Zweck zu setzen. Das heißt, es ist nicht anzunehmen, dass der Geschmack als ein Vermögen eine Bestimmung habe, und sein Dasein erst dann sinnvoll sei, wenn er diese Bestimmung als seine Aufgabe erfülle. Die dritte Kritik, eine Kritik der Zweckmäßigkeit, bleibt hinsichtlich des Zwecks des Geschmacks und des Zwecks der Kontemplation stumm. Diese Nicht-Thematisierung, so meine ich, lässt gerade Kants Stellungnahme zu diesem Problem entnehmen und ist eine konsequente Folge seiner Ansicht. Das Geschmacksurteil ist interesselos, zweckfrei. Falls ein Zweck für es bestünde, würde dieser Zweck einerseits die Art und Weise der Beurteilung, andererseits das Wesen der Schönheit bestimmen, so dass das Urteil in diesem Fall „Heteronomie, aber nicht, wie es einem Geschmacksurteile geziemt, frei sein und Autonomie zum Grunde haben würde“ (§ 58, 350). Demzufolge bin ich der Ansicht, dass auf den Begriff „Interesse der ästhetischen Urteilskraft“ verzichtet werden sollte. Denn dieser Begriff bringt genau das zum Ausdruck, worin der Zweck der ästhetischen Urteilskraft besteht, d.h. wozu sie da ist. Die Entdeckung oder Setzung dieses Zwecks würde die Selb stgesetzgebung der ästhetischen Urteilskraft vernichten, weil das Geschmacksurteil in diesem Fall dem entdeckten oder gesetzten Zweck folgen und sich zu einem Urteil nach dem Begriff des Zwecks, d.h. zu einem intellektuellen Urteil umkehren würde.
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Bullough, E. 45 ff. Burggraf, V.-H. 22 Burke, E. 2, 29, 43, 125
Lessing, G. E. 26 Locke, J. 15 Longuenesse, B. 81, 90 f.
Cooper, D. E. 45 Crawford, D. W. 71
MacCloskey, M. 45
Dickie, G. 45 ff., 49 ff., 101 Düsing, K. 134 Fenner, D. E. W. 44 Förster, E. 120 Fricke, C. 71 Garve, C. 15, 26 Gerhardt, V. 3, 15 Ginsborg, H. 1, 10, 37, 43, 68 ff., 79 Giordanetti, P. 135 Guyer, P. 29, 68 ff., 79, 90, 103, 120 ff., 155 ff. Habermas, J. 3 Hegel, G. W. F. 103 Heidegger, M. 2 Helvétius, C. A. 15 Herz, M. 26 Hobbes, T. 15 Höffe, O. 3, 36, 37, 123 Hutcheson, F. 2, 15, 29 Hutter, A. 3 Kaulbach, F. 71, 153 Kemp, G. 49
https://doi.org/10.1515/9783110546125-015
Park, K. H. 85 Pascher, M. 23 Pieper, H.-J. 45 Prauss, G. 45, 162 Raedler, S. 3 Recki, B. 142 Rogerson, K. 103, 107 Rousseau, J.-J. 15 Schlösser, U. 75 Schopenhauer, A. 2, 41, 47, 162 Seel, M. 159 Shaftesbury, 2, 29 Shelley, J. 45 Stolnitz, J. 44 ff. Strube, W. 2, 29 Sulzer, J. G. 25 ff. Tumarkin, A. 71, 98 Vischer, F. T. 103, 106 Wenzel, C. H. 33, 84, 88 Wieland, W. 42 Wittgenstein, L. 91 Wölfel, K. 24 f., 29
Sachregister Allgemeingültigkeit (s. auch Mitteilbarkeit) 1, 9, 35, 38 f., 69, 75–80, 82–85, 88, 119–122, 123–127, 135, 139, 141, 153, 155 Analogie 3, 9, 11, 120, 122, 130–132, 134, 135, 146, 151 Antinomie 136–142 Ausdruck der ästhetischen Ideen 103–109 Autonomie, ästhetische 11, 39, 142, 147 ff., 151, 155–165 Beifall 5 f., 31, 37 f. Bestimmungsgrund des Geschmacksurteils 41, 61–64, 70, 123, 135, 138, 140 Beurteilung, ästhetische 67–80, 81–83 Darstellung 104 f. Deduktion 9, 77, 85, 117, 120 f., 136 f., 144, 153 Denkungsart 7 f., 113–119, 124, 128, 129, 152, 156 Dialektik 120, 122, 135–153 Einbildungskraft 9, 40, 54 ff., 61–64, 93–96, 99 f., 104–109 Einstellung des Geschmacksurteils 10, 44–51, 93–101 Erfahrung, ästhetische 8, 10, 26 f., 41–43, 45–49, 123, 125, 160, 162 f. erhaben 18, 42, 53–64, 86, 152 Erkenntnisvermögen 9, 76, 95, 125 Freiheit 29–31, 34, 37 f., 93 f., 100, 108, 133 f., 162 Gefühl 27, 42, 129 – Gefühl, moralisches 60, 128–130 Geselligkeit 126 Gesellschaft 121, 123 ff. Gunst 6, 10, 29–40, 86, 93, 136, 145 ff. gut 34 f. Humanität 126
https://doi.org/10.1515/9783110546125-016
Idealismus vs. Realismus 145–150 Idee, ästhetische 39 f., 103–109 Idee, Sittliche (s. Versinnlichung sittlicher Ideen) Interesse 15–27 – Interesse an der allgemeinen Mitteilbarkeit 119–122, 124–127 – empirisches Interesse 123–127 – intellektuelles Interesse an der Naturschönheit 127–134 – moralisches Interesse 19, 36, 55, 129, 153 – soziales Interesse 119, 124–127 – Interesse der ästhetischen Urteilskraft 163–165 – Vernunftinteresse 3 f., 10, 15, 21–24, 63 f., 127–134, 151–153, 157–159 Kontemplation 4, 26, 53, 56 ff., 97 f., 158 f., 162 ff. Kosmopolitismus 123 Kultur (Kultivierung) 116, 120 f., 127 f., 159, 160 f. Lust 20 f., 34 ff., 57, 60, 63, 67 ff., 81, 83, 90, 95, 99, 100 f., 121, 138 ff., 141, 162 Maxime der Urteilskraft 7, 22, 35, 113 f., 116–119 Mitteilbarkeit 34, 42, 69–79, 83, 85, 89, 113, 119–122, 124–126, 132, 141 Momente des Geschmacksurteils 10, 30 f., 33 f., 36, 38, 39, 67, 79, 81–90, 116, 118 ff., 141 Moral (s. Ideen, sittliche; Pflicht; übersinnliche Bestimmung der menschlichen Vernunft; Urteil, moralisches) Natur 39, 58–63, 105, 127–132, 133, 135, 141–153, 164 f. Naturalismus, ästhetischer 125 Pflicht 30 f., 119–122, 132, 143, 145, 159, 162
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Sachregister
Qualität 54, 59, 81, 83, 84–87, 116 Reflexion des Geschmacksurteils 32, 57, 60, 62, 67–71, 74, 78, 81 f., 84, 86–91, 96, 105, 113–116, 118, 132, 135 f., 138, 141–145, 150–153 sensus communis 113–119 Spiel der Erkenntnisvermögen 1, 10, 36, 39, 56, 58, 60–64, 68, 74, 79, 90 f., 93–101, 125, 151 f., 161 Spontaneität 3, 30, 33, 49, 96, 118, 125, 139 Struktur des ästhetischen Urteils 32–34, 38, 67–80, 81–83, 138–142, 145, 151–153 Symbol 104, 107 – Schönheit als Symbol der Sittlichkeit 104, 107, 120, 135, 143, 152 Teleologie 146–150 Trieb 125 f. übersinnlich – Begriff des Übersinnlichen 81, 132, 135–145, 149 – übersinnliche Bestimmung der menschlichen Vernunft 17 f., 24, 53, 56 f., 59–64 Urbild vs. Nachbild 40, 104–109
Urteil – Urteil, ästhetisches 56 f., 59, 61 ff., 67–80, 81–83, 101, 113–117, 136–142, 150–153 – Urteil, moralisches 3, 117, 122, 130–134, 135, 143–146, 150–152 – Privaturteil 67, 139 Urteilskraft – Urteilskraft als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft 124, 127, 133 f. – Gesetzgebung der Urteilskraft 137 f., 147–150 – Prinzip der Urteilskraft 39, 133, 135, 137 f., 145–150 Vergleich, ästhetischer 73, 76 ff., 82 f., 94 f., 100, 140 f. Vernunft, praktische 9, 15, 20, 130, 133, 135, 157–159, 162 Versinnlichung sittlicher Ideen 62 ff., 104, 107, 135, 143, 150–153, 155 Weltbürger 123 Wert des Ästhetischen 2, 156 f., 159–163 Wohlgefallen 34–40, 41 f., 121, 123, 126, 136, 150–153 Zweckmäßigkeit, ästhetische 39, 54, 56, 59, 76 f., 125, 132, 133, 141 f., 146–150, 160, 164 f.