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German Pages 295 [296] Year 2010
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 100
Kritik des Common Sense Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant
Von
Robert Nehring
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Begründet von Kurt Schelldorfer
Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)
Schriftleitung Volker Gerhardt
Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.
ROBERT NEHRING
Kritik des Common Sense
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 100
Kritik des Common Sense Gesunder Menschenverstand, reflektierende Urteilskraft und Gemeinsinn – der Sensus communis bei Kant
Von
Robert Nehring
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Philosophische Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-13161-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Diesem Buch liegt meine gleichnamige Untersuchung zugrunde, welche ich am 4. Dezember 2007 an der Philosophischen Fakultät I der HumboldtUniversität zu Berlin als Dissertation eingereicht habe. Für den Druck wurden nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Hinzugefügt wurden dieses Vorwort, die Register und einige Verweise auf mir noch kurz nach Einreichung der Arbeit zugänglich gewordene Sekundärliteratur. In dieser Arbeit werden Nutzen und Nachteil des Common Sense für die Wissenschaft und insbesondere für die Philosophie untersucht. Dies geschieht zum größten Teil im Rückgriff auf Immanuel Kant. Dessen Philosophie stellt den Common Sense bzw. den gesunden Menschenverstand auf eine harte Probe. Denn der gewöhnliche Alltagsverstand ist nur sehr eingeschränkt dazu geeignet, diese und erst recht die so genannte Transzendentalphilosophie zu verstehen, geschweige denn angemessen zu beurteilen. Angesichts dessen erstaunt es, dass Kants Werk sehr viel Erhellendes über Wesen und Wert sowie Formen und Funktionen des Common Sense enthält. Die lange Auseinandersetzung mit der Common-Sense-Problematik hat mich persönlich gelehrt, dem Common Sense nicht nur im Leben, sondern auch in der Wissenschaft mehr zuzutrauen – zumindest weit mehr als üblich. So lange der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gewahrt bleibt, kann die Wissenschaft meines Erachtens vom Common Sense nur profitieren. Der Common Sense erweist sich auch als ein Schlüssel zu Kant: Wer dessen Philosophie nachvollziehen will, muss zwar zunächst seinen Common-Sense-Standpunkt verlassen und eine wissenschaftliche Perspektive einnehmen. Wer Kant aber verstehen will, muss die Brille der Wissenschaft auch hin und wieder abnehmen und die Natur der jeweiligen Sache zusätzlich mit dem natürlichen Verstand betrachten. Besonders dankbar bin ich meinem Doktorvater Herrn Professor Volker Gerhardt – vor allem für viele wichtige Impulse und den nötigen Freiraum, meine Untersuchung eigenständig durchzuführen. Dank schulde ich auch der Begabtenförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ohne ein Promotionsstipendium wie das, welches sie mir gewährt hat, hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Berlin, im Juli 2009
Robert Nehring
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Der Bedeutungskomplex ,Common Sense‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der aktuelle allgemeine Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklungsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20 20 31
B. Der Common Sense bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Definition des Common Sense im Werk Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ,Common Sense‘ . . . . . . . . . . . . . . . .
47 47 53
C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Wissenschaft und die Natur ihrer Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Nutzen für die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Weltkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64 64 69 70 71 73 74 75 78
D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Formen der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reflektierende Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ästhetische Urteilskraft: sensus communis aestheticus . . . . . . . . . . . . . 4. Teleologische Urteilskraft: Zweckmäßigkeit nach Begriffen . . . . . . . . II. Die Kritik der praktischen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeine praktische Menschenvernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktisch-reflektierende Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Moralischer Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Menschenvernunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theoretisch-reflektierende Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Logischer Gemeinsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89 89 90 93 100 118 132 132 140 146 152 152 169 178
E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk. . . . . . . . . . . . . . . 185 I. Politik: Anspruch und Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Die oberen Fakultäten: Gelehrsamkeit und Gehorsamkeit . . . . . . . . . . . . . 198
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Inhaltsverzeichnis 1. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
204 210 217 227 244
Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Abkürzungsverzeichnis Nachfolgend sind die in dieser Arbeit verwendeten Abkürzungen zu den KantVeröffentlichungen gelistet: in alphabetischer Reihenfolge und mit Erscheinungsjahr. Die Vorlesungsnachschriften werden wie üblich i. d. R. mit Thema und Verfasser bzw. Abstammungsort abgekürzt, z. B. Logik Blomberg und Wiener Logik. Als Abkürzung für die Akademie-Ausgabe von Kants Werken – Kant’s gesammelte Schriften, Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Berlin 1900 ff. – wird wie gewöhnlich das Kürzel AA verwendet. Anfang ANG
ApH Aufklärung Bemerkungen
Beobachtungen Beweisgrund De igne De Medicina Corporis De mundi Deutlichkeit EE Entdeckung
Entwurf Geographie
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt (1755) Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764–66, zuerst vollständig veröffentlicht 1942) Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1762/63) Meditationum quarundam de igne (1755) De Medicina Corporis, quae Philosophorum est (1786) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764) Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (verfasst 1790, veröffentlicht 1914) Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1790) Entwurf und Ankündigung eines Collegii der physischen Geographie nebst dem Anhange einer kurzen Betrachtung über die Frage: Ob die Westwinde in unsern Gegenden darum feucht seien, weil sie über ein großes Meer streichen (1757)
10 Erdbeben
Erdbeben II
Fortschritte
Gegenden GMS Idee Jachmann KpV Krankheiten KrV A KrV B KU Lehrbegriff
Logik Lüge Monadologia
MSR MST Nachricht Negative Größen Nova dilucidatio Ob die Erde veralte OP
Abkürzungsverzeichnis Von den Ursachen der Erderschütterungen bei Gelegenheit des Unglücks, welches die westliche Länder von Europa gegen das Ende des vorigen Jahres betroffen hat (1756) Geschichte und Naturbeschreibung der merkwürdigsten Vorfälle des Erdbebens, welches an dem Ende des 1755sten Jahres einen großen Teil der Erde erschüttert hat (1756) Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (verfasst 1793, veröffentlicht 1804) Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume (1768) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) Vorrede zu Reinhold Bernhard Jachmann: Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie (1800) Kritik der praktischen Vernunft (1788) Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764) Kritik der reinen Vernunft, 1. Auflage (1781) Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage (1787) Kritik der Urteilskraft (1790) Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft (1758) Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hg. von Gottlieb Benjamin Jäsche (1800) Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797) Metaphysicae cum geometrica iunctae usus in philosophia naturali, cuius specimen I. continet monadologiam physicam (1756) Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797) Die Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1797) Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765–1766 (1765) Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (1763) Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755) Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen (1755) Opus postumum (Entwürfe aus dem Zeitraum 1796–1803, vollständig veröffentlicht zuerst 1936, 1938)
Abkürzungsverzeichnis Optimismus Orientieren Päd PhysGeo Prol Racen Rechtslehre Refl. RGV SF Sömmering Spitzfindigkeit Spruch Theodizee Ton Träume Tugendlehre Umdrehung der Erde
Verkündigung Wahre Schätzung
Winde ZeF
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Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus (1759) Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786) Über Pädagogik, hg. von Friedrich Theodor Rink (1803) Physische Geographie, hg. von Friedrich Theodor Rink (1802) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775) siehe MSR Reflexionen, Notizen Kants von ca. 1753–1804 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) Der Streit der Fakultäten (1798) Aus Sömmering: Über das Organ der Seele (1796) Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren (1762) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796) Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) siehe MST Untersuchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechselung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Veränderung seit den ersten Zeiten ihres Ursprungs erlitten habe und woraus man sich ihrer versichern könne, welche von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zum Preise für das jetztlaufende Jahr aufgegeben worden (1754) Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796) Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte und Beurteilung der Beweise derer sich Herr von Leibniz und andere Mechaniker in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorhergehenden Betrachtungen welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen (Druckbeginn 1746, Veröffentlichung 1749). Neue Anmerkungen zur Erläuterung der Theorie der Winde (1756) Zum ewigen Frieden (1795)
Einleitung Thales, der große Philosoph und Astronom aus dem antiken Milet, macht einen Spaziergang. Den Blick nach oben auf die Sterne gerichtet bemerkt er einen Brunnen nicht und fällt hinein. Eine thrakische Magd soll ihn daraufhin verspottet haben – weil er den Himmel erforschen wollte, obwohl ihm offenbar die Erde zu seinen Füßen noch unbekannt war. Diese Anekdote wird von Sokrates in Platons Theaitetos erzählt. Das in ihr hervorgerufene Bild vom Philosophen in der Öffentlichkeit stimmt mit dem heutigen im Wesentlichen überein: Es ist das eines sonderbaren Hans Guckindieluft, dem es an gesundem Menschenverstand mangelt. In dem vieldeutigen Gleichnis wird die Lächerlichkeit der Philosophie aber bewusst überzeichnet. Anschließend zeigt Sokrates, dass der gewöhnliche Verstand umgekehrt auch bei den Gebildeten für Heiterkeit sorgt, etwa, wenn er zu abstrakten Zusammenhängen Auskunft geben soll. Mit einem Plädoyer für Expertenurteile wird schließlich die Überlegenheit der Philosophie demonstriert.1 Das prominente Gleichnis deutet darauf hin, dass das Verhältnis zwischen dem Alltagsverstand auf der einen und der Philosophie oder der Wissenschaft überhaupt auf der anderen Seite schon von Beginn an schwierig gewesen sein dürfte. Als problematisch gilt die Beziehung noch heute – sie ist von Unverständnis füreinander und gegenseitiger Ablehnung geprägt. Hartnäckig hält sich die Auffassung von zwei verschiedenen Welten. Dabei sind gemeiner Verstand und wissenschaftliche Vernunft sogar in vielerlei Hinsicht aufeinander angewiesen. Der Gedanke dieser Symbiose begegnet in der Geschichte des Denkens zwar auch immer wieder einmal, aber er scheint weitgehend wirkungslos geblieben zu sein. Die vorliegende Arbeit untersucht Bedeutung und Funktion des Common Sense für die Wissenschaft und insbesondere die Philosophie. Dadurch wer1
Vgl. Platon: Theaitetos, 173c–179d, in: ders.: Sämtliche Werke, Burghard König (Hg.), Friedrich Schleiermacher (Übs.), Hamburg 1994, Bd. 3, S. 196 ff. Laut Hans Blumenberg lässt Platon seinen Sokrates hier eine Fabel des griechischen Dichters Äsop auf Thales übertragen. Es sei nicht einmal auszuschließen, dass dieser ursprünglich bewusst in den Brunnen gestiegen sei, um die Position der Sterne besser berechnen zu können. Vgl. ders.: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie, Frankfurt/M. 1987, S. 13 ff.
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Einleitung
den zwei grundsätzliche und auch heikle Fragen aufgeworfen – die nach dem Nutzen des Common Sense für die Wissenschaft und die nach dem Nutzen von Wissenschaft überhaupt. Es könnte sich z. B. zeigen, dass der Common Sense nur eine Anhäufung von Vorurteilen darstellt und Wahrheit allein von der Wissenschaft zu erwarten ist. Umgekehrt ist es möglich, dass sich die Wissenschaft nur als ein Common Sense mit anderen Mitteln und darüber hinaus als fehlbarer erweist. Die Bezeichnung ‚Common Sense‘ fungiert in der Untersuchung als Name für einen Bedeutungskomplex, der eine Vielzahl von semantischen Schwerpunkten umfasst. Dazu gehören z. B. die den aktuellen allgemeinen Sprachgebrauch leitenden Merkmale ‚einfach‘, ‚erfahrungsklug‘ und ‚gemeinsam geteilt‘ sowie begriffsgeschichtliche Bedeutungsfelder wie ‚zentraler Wahrnehmungssinn‘, ‚natürliche Urteilskraft‘ und ‚sozialer Gemeinsinn‘. Entsprechend existiert auch eine große Anzahl synonymer Formulierungen, etwa ‚common sense‘, ‚sensus communis‘, ‚gesunder Menschenverstand‘, ‚Gemeinsinn‘, ‚bon sens‘ oder ‚sens commun‘. Der Ausdruck ‚Common Sense‘ dient im Folgenden als Klammer für die vielen Bedeutungsfassetten und Synonyme. Mit ‚sensus communis‘ oder ‚gesunder Menschenverstand‘ existieren zwar noch weitere Anwärter auf die Namenspatenschaft. Für ‚Common Sense‘ spricht jedoch erstens, dass er alle wesentlichen Bedeutungen des Begriffskomplexes umfasst, zweitens, dass er in der heutigen Wissenschaft der gebräuchlichste Terminus in seinem Umfeld ist, und drittens, dass er bei Immanuel Kant, dessen Werk zentral für die folgende Untersuchung ist, nicht ein einziges Mal vorkommt und damit Verwechslungen vermieden werden. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Common Sense stellt – anders als es scheinen mag – kein leichtes Unterfangen dar. Ein systematischer Zugang wird nicht nur durch die vielen Begriffe und Bezeichnungen erschwert. Der Bedeutungshof birgt auch fundamentale Widersprüche. Der Common Sense stellt für einige ein Wissen, für andere eine Fähigkeit dar. Der Idee nach wird er von allen, in der Realität aber oft nur von mehreren geteilt. Der Common Sense gilt als unentbehrlicher Wahrheitssinn, ist aber zugleich für seine Fehlbarkeit bekannt. Mal wird er als kritisches Urteilsvermögen geadelt und mal als konservativ beharrende Instanz getadelt. Als Vorverständnis ist der Common Sense unersetzbar, als Vorurteil untragbar. Und schließlich zeigt die Erfahrung, dass da, wo sich besonders laut auf den Common Sense berufen wird, oft sehr wenig von ihm anzutreffen ist. Im Ganzen betrachtet liegen Nutzen und Nachteil bei diesem Vermögen eng beieinander. Entsprechend schwingt auch in der Begriffsgeschichte das Pendel zwischen Hoch- und Verachtung hin und her.
Einleitung
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Von allen Wissenschaften scheint die Philosophie am meisten zur Entwicklung des Bedeutungskomplexes ‚Common Sense‘ beigetragen zu haben. Viele relevante Bedeutungsverschiebungen verdanken sich philosophischen Auseinandersetzungen. Schon deshalb ist, wer diesem Vermögen auf den Grund gehen will, auf den philosophischen Blickwinkel angewiesen. Für eine genaue Bestimmung des Common Sense ist ein bloß philosophiehistorischer Ansatz, der die Entwicklungslinien aus der Vogelperspektive skizziert, nur bedingt geeignet. Es bedarf in erster Linie der Froschperspektive – der analytischen Begriffsarbeit. Historische Bezüge können die so gewonnenen Ergebnisse ergänzen. Schon aus Platzgründen empfiehlt sich die Eingrenzung der Analyse auf eine und am besten die aussagekräftigste Philosophie. Interessante Gedanken finden sich u. a. bei Aristoteles und Descartes sowie den schottischen Common-Sense-Philosophen und den amerikanischen Pragmatisten. Am meisten lässt sich über den Common Sense jedoch von Kant lernen. Obwohl keine Arbeit existiert, in der er dieses Vermögen in den Mittelpunkt stellt, wird es von ihm in beispielloser Tiefe und Breite betrachtet. Kants Gedanken zum Common Sense liegen zwar verstreut über sein gesamtes Werk. Werden sie aber zusammengetragen, zeichnet sich eine überaus beachtenswerte Theorie des Common Sense ab. In Kants Werk begegnen alle großen Entwicklungslinien des Bedeutungskomplexes. Es werden Fundierungen des Bekannten geleistet und dem Sinnbezirk neue, bis heute prägende Impulse verliehen. Aber nicht nur Kants Überlegungen zum Common Sense tragen dazu bei, dass sich seine Philosophie als bedeutendste Weiche in der Entwicklung des Begriffskomplexes begreifen lässt. Die Kant’sche Philosophie insgesamt hat daran großen Anteil. Denn einerseits werden die vielen Fassetten des Common Sense und ihre Zusammenhänge erst in diesem Umfeld sichtbar. Andererseits sorgen die hohe Bekanntheit dieser Philosophie und die starke Auseinandersetzung mit ihr für eine hervorragende Anschlussfähigkeit. Kant prägt die Philosophie der letzten 200 Jahre wie kein Zweiter. Es existiert weltweit kein wirksamerer Philosoph der Neuzeit.2 In dieser Arbeit wird aufgezeigt, dass der Common Sense von zentraler Bedeutung für Kants Philosophie ist – dass es sich um einen dauerhaften und entscheidenden Bezugspunkt seines Denkens handelt. Dies birgt große 2
Vgl. z. B. Gerhardt, Volker: Immanuel Kant. Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 11 f.; Gulyga, Arsenij: Immanuel Kant. Eine Biographie, Frankfurt/M. 2004 (zuerst 1977), S. 7. Kants anhaltende Popularität in Deutschland stellte sogar 2003 eine Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens unter Beweis. Bei der Umfrage nach den ‚wichtigsten Deutschen‘ kam Kant auf Platz 43 – nach Marx (Platz 3) die zweitbeste Platzierung eines Philosophen. Hegel schaffte es nicht einmal unter die Top 200.
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Einleitung
Brisanz. Denn es rückt nicht nur vieles in Bezug auf den angemessenen Stellenwert des Common Sense zurecht. Kant gilt fälschlicherweise auch noch als entschiedener Gegner dieses Vermögens. Tatsächlich hat er sich z. T. sehr polemisch gegen den Gebrauch des Common Sense in der Wissenschaft ausgesprochen. Er bezeichnet ihn z. B. als „Wünschelruthe“ der Bequemen sowie als Mittel für ‚schale Schwätzer‘ und ‚populäre Witzlinge‘. Da unmittelbar nach diesen Äußerungen der Niedergang des Common Sense in der deutschen Philosophie beginnt, konnte daraus die Auffassung erwachsen, Kant sei für diese Entwicklung verantwortlich. Außerdem unterlässt es Kant in der Kritik der Urteilskraft, neben der apriorischen auch die empirische Seite des Common Sense angemessen zu würdigen, sodass der Eindruck entstehen konnte, er beraube den Common Sense auch noch seiner sozialen, politischen, anthropologischen Bedeutung. Solche Ansichten verfehlen aber den Kern der Kant’schen Position, welchen eine umfassende Wertschätzung des Common Sense ausmacht. Jedoch haben die Fehldeutungen dazu beigetragen, dass die Beziehung zwischen Kant und dem gesunden Menschenverstand unrechtmäßig auf die zweier Antipoden reduziert wurde und wird. Die Einschätzung dieser Gegnerschaft lässt sich im Zusammenhang mit einer größer angelegten Kritik betrachten, welche an Kants Philosophie eine monologische, totalitäre Vernunft, einen moralischen Rigorismus sowie generell eine Leibes- und Lebensfeindlichkeit moniert.3 Zwar existiert unzweifelhaft ein ‚Reinheitsgebot‘ für Kants Transzendentalphilosophie. Apriorität hat hier ‚A-Priorität‘. Gerecht wird dieser Philosophie aber nur eine Interpretation, die der von Kant zugrunde gelegten Einbettung der apriorischen Prinzipien in den Kontext realer Erfahrung und alltäglicher Praxis Rechnung trägt und die nicht länger ignoriert, dass er seine Subjektphilosophie untrennbar mit dem Intersubjektiven verknüpft hat. Eine solche pragmatische Lesart Kants ist seit den 1990er Jahren verstärkt anzutreffen.4 Die vorliegende Arbeit versucht, diese Tradition fortzusetzen. Das Thema ‚Kant und der Common Sense‘ ist bisher nur bruchstückhaft erschlossen worden. Großen Anteil daran dürften die beschriebenen Vor3 Vgl. z. B. Habermas, Jürgen: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 53 ff., v. a. S. 77 f., sowie ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt/M. 1988 (zuerst 1981), S. 145 ff.; Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2003 (1947), S. 88 ff.; Böhme, Hartmut/ Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/M. 1983. 4 Zu denken wäre hier etwa an die Arbeiten von Volker Gerhardt, Otfried Höffe und Josef Simon.
Einleitung
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urteile und der nicht eben leichte Zugang zu Kant haben. Dazu kommt, dass vieles in Bezug auf den Common Sense zwar von Kant bereits mitgedacht oder angelegt, aber nicht artikuliert worden ist. Vielfacher Beachtung kann sich im Umfeld des Common Sense nur der ästhetische Gemeinsinn erfreuen, den Kant in seiner dritten Kritik als notwendige Voraussetzung für Geschmacksurteile einführt. Selten und noch nie ausführlich wurde jedoch der Bedeutung eines des Geschmackskontextes entkleideten sensus communis nachgegangen. Kant weist selbst auf die Existenz dieser Grundform hin, unterlässt aber eine Anwendung dieser Einsicht – etwa auf moralische, spekulative, politische oder medizinische Urteile. Einige Aufmerksamkeit konnte die reflektierende Urteilskraft auf sich ziehen, die sich wie der apriorische Gemeinsinn in Analogie zum empirischen Alltagsverstand betrachten lässt. Auch dieses vom Konkreten, Besonderen, Individuellen ausgehende Verfahren ist von weit größerer Tragweite als Kant dargestellt hat. In der Forschungsliteratur ist ihre Bedeutung aber fast immer nur kleinteilig für einzelne Bereiche aufgezeigt worden. Der empirische Common Sense selbst, der gesunde Menschenverstand, hat im Vergleich zu seinen transzendentalphilosophischen Analoga am wenigsten Interesse wecken können. Aber auch in Bezug auf ihn hat Kant viel Erhellendes beigetragen. Ein weiterer Grund für die bislang nur teilweise erforschte Bedeutung des Common Sense stellt die beachtliche Materialfülle dar, der sich gegenüber sieht, wer die von Kant markierten Sinnebenen dieses Vermögens darstellen will. Relevantes findet sich beinahe hinter jedem einzelnen der fast 150 Buchrückenzentimeter, auf die die maßgebliche Kant-Ausgabe mittlerweile angeschwollen ist. Die meisten der ca. 80 Veröffentlichungen Kants sowie der etwa 50 publizierten Nachschriften seiner Vorlesungen (inklusive der Fragmente) enthalten Belegstellen, ebenfalls zahlreiche der über 8.000 nachgelassenen Reflexionen und einige der von ihm geschriebenen Briefe. Um die wesentlichen Dimensionen des Common Sense bei Kant in ihren Zusammenhängen gebührend darzustellen, wurde die gesamte veröffentlichte Primärliteratur berücksichtigt. Von der Sekundärliteratur kann dies dagegen nicht einmal annäherungsweise behauptet werden. Denn längst hat diese ein unüberschaubares Ausmaß angenommen. In den Jahren 2000–2004 gab es z. B. fast 4.000 Veröffentlichungen zu Kant; allein im Kantjahr 2004 wurden 1.089 Publikationen gezählt.5 Auch wenn viel Aufwand in die Recherche der Forschungsliteratur gesteckt wurde, bleibt am Ende also nur wenig mehr als die Hoffnung, alles Bedeutsame betrachtet zu haben. 5 Vgl. Kant-Studien 93.2002, S. 491 ff.; 94.2003, S. 474 ff.; 95.2004, S. 505 ff.; 96.2005, S. 468 ff.; 97.2006, S. 483 ff.
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Einleitung
Die Titelwahl erfolgte bei dieser Untersuchung im Bewusstsein, eine fast inflationär gebrauchte Wendung zu kopieren. Aber wenn hier mit der Bezeichnung ‚Kritik‘ auf Originalität verzichtet wurde, dann weder aus Zeitnot noch Vermessenheit, sondern aufgrund der besonderen Eignung. Denn wie in Kants erster Kritik die reine Vernunft so soll hier der Common Sense als Kritisierter und Kritiker auftreten. Er dient als Gegenstand der Prüfung und zugleich als prüfende Instanz. Zwar erhebt vorliegende Untersuchung den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, in diesem Rahmen soll aber auch der Verpflichtung nachgekommen werden, die aus dem Thema erwächst: Wo es möglich ist, wird versucht, einen Einklang mit dem Common Sense herzustellen. Kants nur schwer zugängliche Transzendentalphilosophie stellt in dieser Hinsicht eine besondere Herausforderung dar. Bevor Bedeutung und Funktion des Common Sense bei Kant näher betrachtet werden können, sind Vorarbeiten nötig. In Kapitel A. wird zum einen untersucht, was heute im allgemeinen Sprachgebrauch als Common Sense bzw. common sense oder gesunder Menschenverstand bezeichnet wird. Zum anderen soll die Begriffsgeschichte des Common Sense in ihren Grundzügen skizziert werden. Kapitel B. ist vor allem Kants terminologischer Unschärfe geschuldet. Da sich im 18. Jahrhundert noch kein Ausdruck im Begriffsfeld ‚Common Sense‘ durchgesetzt hat, nutzt Kant eine Vielzahl von Wörtern für dieses Vermögen. Aus diesem Grund ist vorab zu zeigen, was unter dem Common Sense bei Kant zu verstehen ist und welche Namen dieser für jenen verwendet. Kapitel C. widmet sich Kants vorkritischer Position zum Common Sense, seinem Standpunkt vor der ersten Kritik. Sie wird sowohl in Bezug auf die so genannten ‚oberen Fakultäten‘ Theologie, Jurisprudenz und Medizin untersucht als auch hinsichtlich der unteren Fakultät Philosophie sowie einzelner ihrer Disziplinen. Ein Blick auf Kants damalige Beziehung zur Popularphilosophie, der in diesem Zeitraum tonangebenden Strömung der deutschen Philosophie der Aufklärung, soll die Ergebnisse ergänzen. Kapitel D. untersucht die Hauptwerke von Kants Transzendentalphilosophie. Anhand der drei Kritiken sowie einiger Schriften, die sie ergänzen, werden Tragweite und Nutzen des Common Sense für die jeweils behandelten Themenbereiche herausgearbeitet. Der Common Sense wird dabei nicht nur als empirisches, gemeines Vermögen berücksichtigt, sondern auch in Form der transzendentalphilosophischen Substitute ‚apriorischer Gemeinsinn‘ und ‚reflektierende Urteilskraft‘. Die Betrachtung der Kritiken in umgekehrter Reihenfolge ihrer Erstveröffentlichung ergibt sich daraus, dass Kant die beiden zuletzt genannten Common-Sense-Gestalten erst in seiner
Einleitung
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dritten Kritik entwirft und dass diese Konzepte Rückschlüsse auf Inhalte der vorangegangenen Kritiken zulassen. Kapitel E. betrachtet das nachkritische Werk, die Arbeiten Kants nach 1781 abseits der Kritiken. Die drei Grundgestalten des Common Sense werden in Bezug auf ihre Rolle für die Politik, die oberen Fakultäten sowie die untere geprüft. Vor Fazit und Ausblick gilt das Interesse erneut Kants Verhältnis zur Popularphilosophie. Dieses Mal steht der Zeitraum ihrer Spätphase im Fokus.
A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘ Bevor betrachtet werden kann, wie Kant den Common Sense definiert und bewertet hat, sind noch Zwischenschritte erforderlich. Weil der Begriff ‚Common Sense‘ sehr vielschichtig und schwer einzugrenzen ist, soll zunächst eine Kurzanalyse von Begriff und Verwendung im allgemeinen Sprachgebrauch ein konkretes Bild von ihm zeichnen. Um die wichtigsten Bedeutungen von ‚Common Sense‘ erfassen zu können, muss anschließend auch ein Blick auf die Begriffsgeschichte geworfen werden. Die Skizzierung relevanter Entwicklungslinien soll dazu dienen, Kants Position zum Common Sense sowie das heutige Verständnis von diesem besser verstehen und einordnen zu können. Beide Voruntersuchungen sind notwendig, um Thema und Tragweite dieser Arbeit hinreichend erfassen zu können und eine gute Anschlussfähigkeit zu ermöglichen.
I. Der aktuelle allgemeine Sprachgebrauch Der Ausdruck ‚Common Sense‘ gehört heute in seiner der neuen Rechtschreibung angepassten Schreibweise zum deutschen Wortschatz, wird aber selten benutzt. Seine Verwendung ist hauptsächlich auf den akademischen Bereich und sein näheres Umfeld sowie auf die anglophile Business-Sprache beschränkt. Um eine konkrete Vorstellung vom Bedeutungsfeld ‚Common Sense‘ zu bekommen, soll zunächst der Namensgeber für ‚Common Sense‘ auf seine aktuelle Bedeutung im allgemeinen Sprachgebrauch hin betrachtet werden – der angelsächsische Begriff ‚common sense‘. Da der Common Sense im deutschen Sprachraum in erster Linie aber noch als ‚gesunder Menschenverstand‘ begegnet, muss im Anschluss geklärt werden, was unter diesem heute verstanden wird und ob es relevante Unterschiede zum common sense gibt. Außerdem ist der Bedeutung von ‚Gemeinsinn‘ nachzugehen. Denn auch bei diesem Begriff handelt es sich um eine – wenngleich im allgemeinen Verständnis kaum bewusste – Entsprechung des Common Sense.6 6
Darauf, dass common sense und damit ‚Common Sense‘ heute sowohl für ‚gesunder Menschenverstand‘ wie für ‚Gemeinsinn‘ stehen, wurde verschiedentlich hingewiesen, siehe z. B. Nakamura, Yujiro: Sensus communis, München 2003 (zuerst Tokio 1979), S. 15 ff.; Tiffany, Monika Katharina: Der Begriff des sensus communis in Kants Kritik der Urteilskraft. Eine historische und systematische Analyse, Zü-
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Was der Begriff ‚common sense‘ im aktuellen angloamerikanischen Sprachgebrauch bedeutet, verrät das Oxford English Dictionary. Es unterscheidet folgende heute noch aktive Bedeutungsfelder des common sense: „The endowment of natural intelligence possessed by rational beings; ordinary, normal or average understanding; the plain wisdom which is everyone’s inheritance. (This is ‚common sense‘ at its minimum, without which one is foolish or insane.)“, „More emphatically: Good sound practical sense; combined tact and readiness in dealing with the every-day affairs of life; . . .“ und „The general sense, feeling, or judgement of mankind, or of a community.“7
Der common sense steht für eine Gabe natürlicher Intelligenz bei rationalen Geschöpfen – für gewöhnlichen, normalen oder durchschnittlichen Verstand wie für einfache Weisheit oder Klugheit, über die jeder verfügt. Im Gegensatz zu ihm stehen Verrücktheit bzw. Krankheit. Wenn er mit Nachdruck verwendet wird, bezeichnet er den guten, gesunden praktischen Sinn, welcher Takt und Alltagskompetenz vereint. In dieser Bedeutung entspricht er im Deutschen weitgehend dem ‚gesunden Menschenverstand‘. Außerdem wird unter common sense ein allgemeiner Sinn, ein Gefühl oder die Urteilskraft der Menschen bzw. einer Gruppe verstanden, ein Zusammenhang, der im Deutschen z. T. als ‚Gemeinsinn‘ bezeichnet wird. Wenn die angeborene Gesundheit des common sense als Urteilskraft – also seine natürliche Fähigkeit, richtige Urteile zu fällen – betont werden soll, wird dieser ebenfalls als good sense bezeichnet. Im Amerikanischen heißt ein besonders stark ausgeprägter common sense umgangssprachlich auch horse-sense.8 Diese Definition wird durch weitere Nachschlagewerke bestätigt.9 Und auch Wissenschaftler, die sich dem common sense zunächst vom allgemeinen Verständnis her genähert haben, beschreiben ihn als natürlich, praktisch, realistisch, unsystematisch sowie leicht nachzuvollziehen und stellen heraus, dass er sowohl gemeinsam geteilte Überzeugungen als auch die Fähigkeit bezeichnet, aus sich heraus zu solchen zu gelangen.10 Die aufrich 2002, S. 4 f. sowie Meinzer, Lothar: Nachwort, in: Paine, Thomas: Common Sense, Lothar Meinzer (Hg./Übs.), Stuttgart 1982, S. 105 f. Die Übersetzungsproblematik streift auch Kleger, Heinz: Common Sense als Argument. Zu einem Schlüsselbegriff der Weltorientierung und politischen Philosophie (1. Teil), in: Archiv für Begriffsgeschichte, XXX.1986/87, S. 192 ff. 7 common sense, in: Oxford English Dictionary Online, 2005 (2nd Edition 1989), Stand: 02.2006. 8 Vgl. good sense und horse-sense, in: Oxford English Dictionary Online. 9 Vgl. z. B. Encyclopaedia Britannica, London 6.1964, S. 166; The New Oxford Dictionary of English, Judy Pearsall (Ed.), New York 2001; The new Oxford American Dictionary, Jewell/Abate (Eds.), New York 2001; Duden-Oxford, Großwörterbuch Englisch, Olaf Thyen (Bearb.), Mannheim 21999. 10 Vgl. z. B. Geertz, Clifford: Common Sense als kulturelles System, in: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1994,
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
gefundenen Begriffsbestimmungen sind jedoch sehr verkürzt und lassen viele Fragen offen. Etwas über den gesunden Menschenverstand zu erfahren, ist weit schwieriger. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass die mit größter Selbstverständlichkeit verwendeten Ausdrücke oft nur schwer zu erklären sind – und nur selten erklärt werden. In den bekannten Wörterbüchern und Lexika des aktuellen deutschen Sprachgebrauchs steht auffallend wenig über den gesunden Menschenverstand. Wenn sich überhaupt ein Eintrag findet, ist dort knapp die Rede vom normalen, klaren Verstand des Menschen.11 Es ist bezeichnend, dass der Begriff in den letzten 100 Jahren nur jeweils ein einziges Mal unter eigenem Namen in die großen Enzyklopädien Brockhaus und Meyer aufgenommen wurde: 1971 bzw. 1976. Dauerhaft gelistet sind dort dagegen ‚common sense‘, ‚Gemeinsinn‘ oder ‚Urteilskraft‘.12 Aufgrund des Mangels an hilfreichen Definitionen müssen im Folgenden allgemeines Verständnis und gewöhnlicher Sprachgebrauch zur Orientierung dienen. Der Ausdruck ‚gesunder Menschenverstand‘ steht im Wesentlichen für den einfachen, erfahrungsgestützten und allgemein geteilten Verstand des Menschen. Etwas entspricht dem gesunden Menschenverstand, wenn es leicht zu verstehen ist, durch Erfahrung bestätigt werden kann und von vielen anderen auch so gesehen wird. Gesunder Menschenverstand ist also erstens Normalverstand. Er basiert auf elementaren Verstandesoperationen. Statt sich in schwierige Theorien zu versteigen, zählt er eins und eins zusammen. Der gesunde Menschenverstand gilt als geradlinig und unbeirrbar: Er macht immer nur einen Schritt nach dem anderen und lässt sich kein X für ein U vormachen. Dies trägt zu einer Urteilssicherheit bei, für die er geschätzt wird. Der gesunde Menschenverstand ist unkompliziert und eindeutig. Seine Urteile liegen klar auf der Hand. Sie erheben einen Anspruch auf Selbstverständlichkeit: Was auf gesundem Menschenverstand basiert, wird für offensichtlich gehalten. S. 277 ff. und Holthoon, Frits L. van/Olsen, David R. (Eds.): Common Sense. The Foundations for Social Science, Lanham/New York/London 1987, S. 2 f., 155 ff.; Rescher, Nicholas: Common-sense. A new look at an old philosophical tradition, Milwaukee 2005, S. 11 ff.; Ledwig, Marion: Common Sense. Its History, Method, and Applicability, New York 2007, S. 1 ff. 11 Vgl. z. B. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden, Günther Drosdowski (Hg.), Mannheim 1993. 12 Vgl. Brockhaus. Die Enzyklopädie, 14.–21. Auflage, Mannheim 1892–2006; Meyers enzyklopädisches Lexikon, 5.–9. Auflage, Leipzig/Mannheim 1897–1993. Nennungen: vgl. Brockhaus, 12.1971, S. 412; Meyer, 16.1976, S. 68. Es ist möglich, dass der Begriff ‚gesunder Menschenverstand‘ hier als so selbstverständlich gilt, dass er keiner näheren Erklärung bedarf. Möglich ist aber auch, dass die großen Nachschlagewerke den Bedeutungsverlust des Begriffs und sein langsames Verschwinden aus dem allgemeinen Sprachgebrauch dokumentieren.
I. Der aktuelle allgemeine Sprachgebrauch
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Der gesunde Menschenverstand lässt sich leicht anwenden. Im Gegensatz zu einem hoch qualifizierten Expertenverstand bedarf sein Gebrauch keiner großen Anstrengung. Er begreift und urteilt, ohne seine Vorgehensweise oder Urteilsprinzipien zu reflektieren. Daher kann er seine Urteile auch nicht streng rational begründen. Er weiß, dass Benzinabgase schlecht für die Umwelt sind. Aber er weiß weder, warum das so ist, noch muss er dies wissen. Der gesunde Menschenverstand vermag, relativ schnell zu urteilen. Was ihm entspricht, das zeigt sich unmittelbar. Die Entscheidungsfreudigkeit dieses Ad-hoc-Verstandes prädestiniert ihn für das Stadium erster Überlegungen. In vielen Bereichen ist er als leitendes Vorverständnis von großem Nutzen. Der gesunde Menschenverstand ist weitgehend ungeeignet zu tiefer Reflexion und abstraktem Denken. Daher wird er dem höheren Verstand, dem gebildeten bzw. kultivierten, entgegengesetzt. Seine Urteilssicherheit basiert nicht auf theoretischen Erklärungen oder gar wissenschaftlichen Beweisen. Ordnendes System und strenge Methode sind ihm fremd. Der gesunde Menschenverstand legt wenig Wert auf Genauigkeit, er steht für Augenmaß und überblickt im Groben. Seine Urteile überzeugen durch Wahrscheinlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Anschaulichkeit. Gesunder Menschenverstand ist zweitens Erfahrungsverstand. Die Lebenserfahrung ist ihm ein zentraler Maßstab – vorrangig die eigene, aber auch die anderer berücksichtigt er. Ob etwas richtig oder falsch ist, angemessen oder unangemessen, beurteilt er aus diesem Blickwinkel der Menschen- und Weltkenntnis. Er lehnt alles ab, was seinen Erfahrungen widerspricht, alles Esoterische, Exzentrische, Spekulative, Mystische. Der gesunde Menschenverstand orientiert sich an praktischen Erfahrungsbeispielen. Er benötigt bildliche Vorstellungen, konkrete Situationen. Von der Existenz der Zentrifugalkraft ist er erst überzeugt, wenn man ihn z. B. an das Karussellfahren denken lässt. Aufgrund dessen sind auch die Urteile des gesunden Menschenverstandes stets anschaulich. Als Realitätssinn beurteilt der gesunde Menschenverstand, ob etwas der Wirklichkeit angemessen oder ihr fremd ist. Er wird z. B. gern genutzt, um kopflastigen Konzepten Unrealisierbarkeit zu attestieren. Der gesunde Menschenverstand ist ein Sinn fürs Pragmatische, er ist Anwendungsverstand. Er hat seine Domäne in den praktischen Fragen des alltäglichen Lebens. Als Alltagsverstand reicht er nicht nur vollkommen für die Anforderungen des normalen Lebens aus, er ist auch am besten dafür geeignet. Der gesunde Menschenverstand denkt in doppelter Hinsicht zweckmäßig. Zum einen erkennt er – etwa mittels Analogie – zweckmäßige Zusammenhänge, mitunter sogar ohne Wissen um den Zweck, die Absicht. Zum anderen urteilt er im pragmatischen Sinne zweckmäßig. Sein Interesse gilt nicht dem philosophischen Warum oder dem technischen Wie, sondern dem Wozu, dem Nutzen.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
Der gesunde Menschenverstand verfährt oft nach der Methode des Vergleichs. Er vergleicht aber Sachverhalte mit Erfahrungen nicht nur auf ihre Übereinstimmung hin. Er ist auch kompetent im Bemerken von Ähnlichkeiten. Der gesunde Menschenverstand ist ein Meister der Analogie – seine Fähigkeit, Verhältnisse miteinander zu vergleichen oder in Beziehung zu setzen, ist stark ausgebildet. Ohne sie näher darlegen zu können, erkennt er etwa die Ähnlichkeit zwischen dem Verhältnis eines deutschen Bundeskanzlers zu seinem Bundespräsidenten und dem eines Chefredakteurs zu seinem Herausgeber. Charakteristisch für den gesunden Menschenverstand ist auch die Methode der Induktion. Seinen Ausgangspunkt bildet stets die konkrete Erfahrung. Von Einzelfällen ausgehend sucht er nach dem (konkreten) Allgemeinen, ihrem Zusammenhang, einer Regel. Das Induzieren beginnt mit einer Beobachtung, deren Verallgemeinerung nur eine Hypothese darstellt. Deduktives Schließen dagegen geht vom Gesetzmäßigen, dem abstrakten Allgemeinen, aus und leitet von diesem die Fälle ab. Häufig verfährt der gesunde Menschenverstand mit den durch Induktion gewonnenen Annahmen nach der Trial-and-Error-Methode: Hypothesen, die sich in der Erfahrung nicht bewähren, werden zugunsten besserer aufgegeben. Gesunder Menschenverstand ist drittens Jedermannsverstand. Einerseits verfügt jeder über ihn, andererseits berücksichtigt er das Urteil eines jeden. Der gesunde Menschenverstand wird grundsätzlich für allgemein verbreitet und bei allen in gleichem Maße ausgebildet gehalten. „Da kannst du jeden fragen“, heißt es oft, wenn sich auf ihn berufen wird. Außerdem stellt sein Urteil die Auffassung einer Mehrheit dar, einen Konsens und keine einzelne Privatmeinung. Hinsichtlich des gesunden Menschenverstandes als Jedermannsverstand lassen sich vier Betrachtungsweisen unterscheiden. Erstens stellt der gesunde Menschenverstand eine Fähigkeit dar, von selbst zu Überzeugungen zu gelangen, die allgemein geteilt werden oder würden. Er ist in der Lage, Sachverhalte so zu begreifen und zu beurteilen, wie dies auch die meisten anderen tun oder tun würden, wenn sie mit ihnen konfrontiert wären. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der richtige Gebrauch des gewöhnlichen (einfachen und erfahrungsbezogenen) Verstandes jeden – auch ohne Kenntnis der gängigen Meinung – zu einer allgemein zustimmungsfähigen Auffassung führt. Aufgrund dieser gemeinsam geteilten Fähigkeit sind Urteile auf Basis des gesunden Menschenverstandes für den gesunden Menschenverstand anderer verständlich und als Urteile des gesunden Menschenverstandes zu erkennen. Grundsätzlich ist der gesunde Menschenverstand nicht nur in der Lage, Urteile zu fällen, die im Einklang mit denen der Allgemeinheit stehen. Er ist auch sehr bedacht darauf, die gängige Meinung in seinem Urteil zu be-
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rücksichtigen. Bei der Urteilsbildung nimmt er deshalb einen allgemeinen Standpunkt ein. Er versetzt sich in die Perspektive der anderen. Im Ergebnis kann sein Urteil dann ein eigenes, am Urteil der anderen geprüftes sein oder ein plump nachgeplappertes, schlicht übernommenes. Zweitens ist der gesunde Menschenverstand daher gekennzeichnet durch das reflektierte Berücksichtigen des allgemeinen Standpunktes. Um sein Urteil zu prüfen, kann er sich einerseits in den Standpunkt der tatsächlich geteilten Überzeugungen versetzen. Er wägt dann sein Urteil gegen das der anderen ab. Ist – wie bei der ersten Bedeutungsfassette – die gängige Meinung unbekannt, verfügt der gesunde Menschenverstand andererseits über die Fähigkeit, den Standpunkt der wahrscheinlich geteilten Überzeugung einzunehmen. Er versucht dann, diese Auffassung vorauszusehen, um sein Urteil an ihr zu messen. In beiden Fällen erfolgt keine zwangsläufige Unterordnung unter das wirkliche oder mögliche Mehrheitsurteil. Sein Bezug zum allgemeinen Standpunkt verweist auf den moralischen Charakter des gesunden Menschenverstandes. Denn hinter dem Berücksichtigen der Urteile anderer verbirgt sich ein Bemühen um Zustimmungsfähigkeit. So lange diese nicht mit Zustimmung verwechselt wird, also einfach durch die ungeprüfte Wiedergabe des allgemeinen Standpunktes hergestellt wird, weist ihn dieses Bemühen als Sinn für die Allgemeinheit aus, als Gemeinsinn. Diese enge Verwandtschaft zwischen Gemeinsinn und gesundem Menschenverstand ist im allgemeinen Sprachgebrauch allerdings kaum bewusst. Als Gemeinsinn stellt der gesunde Menschenverstand den Gegensatz zum Eigensinn, dem Egoismus, dar. Drittens steht der gesunde Menschenverstand auch für die unreflektierte Wiedergabe des allgemeinen Standpunktes. Er spricht dann lediglich die aktuell geteilte Meinung oder einen tradierten Gemeinplatz aus. Das Urteil des gesunden Menschenverstandes basiert hier – anders als bei den ersten beiden Bedeutungsfassetten – nicht auf einem Selbstdenken. Gibt der gesunde Menschenverstand die aktuell gängige Meinung wieder, ähnelt er einer rein quantitativen Umfrage, in der Ansichten Einzelner auf die Gesamtheit übertragen werden. Allerdings rechnet der gesunde Menschenverstand nicht hoch, sondern schätzt ab. Gibt der gesunde Menschenverstand einen altbekannten Gemeinplatz wieder, handelt es sich dabei oft um Sprichwörter und Sinnsprüche, um Lebensweisheiten in komprimierter und leicht zu merkender Form, die auch ohne Begründung überzeugen und nicht selten ursprünglich Produkte des gesunden Menschenverstandes sind, z. B. „Lügen haben kurze Beine“. Obwohl die bloße Wiedergabe solcher allgemeinen Standpunkte sehr hilfreich sein kann, birgt die fehlende Reflexion das Risiko des Irrtums. Gesunder Menschenverstand in diesem Sinne verfestigt sich schnell zu ungerechtfertigten Vorurteilen. Auf diesen Aspekt
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
wird gern verwiesen, um die Bedeutung des gesunden Menschenverstandes zu mindern. Viertens wird der gesunde Menschenverstand als Inbegriff allgemein geteilter Überzeugungen verstanden. Im Unterschied zur dritten Betrachtungsweise ist damit nicht die situationsgerechte Anwendung von Mehrheitsurteilen und populären Lebensweisheiten gemeint, sondern die geteilten Überzeugungen selbst. Der gesunde Menschenverstand gelangt nicht nur zu Sätzen, deren Wahrheit keines Beweises bedarf, er verkörpert sie auch, etwa die Überzeugung, dass Fische im Wasser leben oder dass neben einem selbst noch andere Menschen existieren. Mit dem gesunden Menschenverstand wird also einerseits ein gemeinsames Wissen bezeichnet, eine Menge geteilter Überzeugungen (4.). Andererseits ist mit ihm eine gemeinsame Fähigkeit gemeint, zu Wissen zu gelangen, ein urteilender Verstand (1.–3.). Diese Zweideutigkeit ist charakteristisch für den heutigen Gebrauch von ‚gesunder Menschenverstand‘. Die drei herausgearbeiteten Hauptmerkmale beschreiben aber nur zusammengenommen das, was im Deutschen heute mit dem gesunden Menschenverstand gemeint wird. Er ist Normal-, Erfahrungs- und Jedermannsverstand zugleich. Zur Überprüfung, ob eine Erkenntnis dem gesunden Menschenverstand entspricht, eignen sich dementsprechend folgende Fragen: 1. Reicht der gewöhnliche, einfache Verstand aus, sie nachzuvollziehen?, 2. Kann alltägliche Erfahrung sie bestätigen? und 3. Stimmen die meisten Menschen mit ihr überein oder würden dies? Wenn diese Fragen bejaht werden können, ist die Wahrscheinlichkeit einer Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand hoch. Der gesunde Menschenverstand gilt weiterhin als eine natürliche Gabe, die weder in der Schule erlernt noch von einem Computer ersetzt werden kann.13 Der Mensch verfügt offenbar über eine angeborene Anlage zur Ausbildung des gesunden Menschenverstandes. Aber erst mit zunehmender Lebenserfahrung und kommunikativem Austausch mit anderen Menschen bildet er sich heraus – ein Prozess, der im Normalfall mit der Pubertät endet. Der gesunde Menschenverstand wird erhalten durch seinen Gebrauch. Wie ein Muskel, der lange nicht beansprucht wird, erlahmt er bei geringer Nutzung. Je mehr er gebraucht wird, desto sicherer wird sein Urteil und desto größer sein Horizont. Über den gesunden Menschenverstand verfügt entgegen seiner Bedeutung als allgemein geteilter Verstand nicht jeder. Es lassen sich in Bezug auf 13
An Versuchen, Computern gesunden Menschenverstand beizubringen, mangelt es aber nicht. Vgl. Künstliche Intelligenz. Ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, in: Brockhaus-Enzyklopädie online, 21. Auflage, 2005 ff., Stand: 02.2006.
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diese Einschränkung vier Punkte unterscheiden, in denen die Verwendung des Begriffs seiner eigentlichen Grundbedeutung widerspricht. Erstens wird der gesunde Menschenverstand in der Hauptsache nur jedem erwachsenen Menschen zugesprochen. Er mag auch schon reiferen Jugendlichen zukommen, aber die Formulierung „Das weiß doch jedes Kind“ ist in diesem Zusammenhang eindeutig übertrieben – auch wenn Kindermund hin und wieder Wahrheit kundtut. Zweitens verfügt über gesunden Menschenverstand nur, wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist. Der gesunde Menschenverstand wird als Gegensatz zur Verrücktheit verstanden – im medizinischen wie im übertragenen Sinne. Drittens bezieht sich die Allgemeinheit des gesunden Menschenverstandes in den meisten Fällen nur auf eine bestimmte Gruppe. Dies wird etwa hinsichtlich kultureller Unterschiede deutlich. Individuelle Freiheit oder den Stellenwert der Familie beurteilt der gesunde Menschenverstand in weiten Teilen Europas heute anders als in Asien oder Afrika.14 Dass es einen Gott gibt, das entspricht dem gesunden Menschenverstand von Gläubigen, aber nicht dem von Atheisten. Die Einschränkung auf Gruppen betrifft auch historische Unterschiede. Vor 500 Jahren – unter vielen Zeitgenossen von Kopernikus etwa – mag es gesunder Menschenverstand gewesen sein, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums steht. Heute besteht zu dieser Auffassung kein Konsens mehr. Der gesunde Menschenverstand verhält sich, insofern er sich von einmal gefassten Meinungen nur schwer abbringen lässt, einerseits konservativ, bewahrend. Auf der anderen Seite hat er einen progressiven, dynamischen Charakter. Erkenntnisfortschritte wie die aus den Wissenschaften fließen in ihn ein und verbessern bzw. verändern ihn. Der gesunde Menschenverstand entwickelt sich weiter. Viertens darf selbst innerhalb einer Gruppe gesunder Erwachsener derselben kulturellen Zugehörigkeit und Generation die Allgemeinheit des gesunden Menschenverstandes nur im Sinne einer Mehrheit verstanden werden. Der Alltag zeigt deutlich, dass landläufige Überzeugungen des gesunden Menschenverstandes selbst in einem solchen Rahmen oft nicht von allen geteilt werden, sondern nur von den meisten. Eine weitere Einschränkung muss hinsichtlich der Irrtümer des gesunden Menschenverstandes gemacht werden. Es ist charakteristisch für ihn, dass er behauptet, die Wahrheit wiederzugeben. Seine nähere Bestimmung als ‚gesund‘ verdankt er dem Umstand, dass ihm richtige, der Wirklichkeit ange14
Vgl. z. B. Geertz, S. 261 ff. Was der Kulturanthropologe Geertz hier zum common sense feststellt, gilt auch für den gesunden Menschenverstand: Er ist ein kulturelles System.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
messene Urteile zugeschrieben werden. Wer sich auf den gesunden Menschenverstand beruft oder an den der anderen appelliert, glaubt sich im Recht. Aber zu irren ist menschlich und so irrt auch der gesunde Menschenverstand. In seinen Fehlurteilen offenbart er einen endlichen Charakter. Er ist weder allwissend noch fehlerresistent. Der gesunde Menschenverstand irrt vor allem da, wo er seine Kompetenzen überschreitet, wo er sich zu Urteilen hinreißen lässt, die einen spezialisierten Verstandestyp erfordern. Er irrt z. B. leicht, wenn er die Entfernung von Himmelskörpern mit bloßem Augenmaß bestimmt. Bleibt er wie der Schuster bei seinem Leisten, urteilt er oft richtig. Genau genommen ist es aber nicht der gesunde Menschenverstand, der irrt. Irrt dieses Vermögen, dann verdient es das Prädikat ‚gesund‘ nicht. Denn dieses steht ursprünglich nur für den richtig erkennenden, begreifenden, urteilenden Menschenverstand. Bei einem Fehlurteil müsste analog vom ‚kranken Menschenverstand‘ gesprochen werden. Aber dieser Terminus existiert im heutigen Sprachgebrauch ebenso wenig wie eine geeignete Entsprechung. Begriffe wie ‚gemeiner Verstand‘, ‚vulgärer Verstand‘ oder ‚Pöbelverstand‘ sind nicht mehr gebräuchlich. In Ermangelung eines solchen Ausdrucks steht der gesunde Menschenverstand heute auch für seine Trugschlüsse. Dringend abgegrenzt werden muss der gesunde Menschenverstand auch von seinem Missbrauch als rhetorisches Mittel. Diese Verwendung dient meist dazu, schwache Thesen zu stützen oder starke zu stürzen. Sie erreicht oft die Qualität eines so genannten Totschlagargumentes, indem sie jede weitere sinnvolle Diskussion unmöglich macht. Die Unart, sich bewusst unrechtmäßig auf den gesunden Menschenverstand zu berufen, trägt erheblich zur Abwertung dieses Begriffs bei. Sie führt dazu, dass der gesunde Menschenverstand auf seine missbräuchliche Verwendung reduziert wird. Die Erfahrung zeigt, dass gerade gegenüber denjenigen größte Vorsicht geboten ist, die sich mit besonderem Nachdruck und ausschließlich auf ihn beziehen. Nicht selten zeugen die Argumente solcher Personen gerade nicht von gesundem Menschenverstand, sondern entziehen sich einer rationalen Begründung, weil sie schlicht falsch sind. Aber auch dieser Umstand, dass der gesunde Menschenverstand oft entgegen seiner eigentlichen Bedeutung missbraucht wird, ist bereits gesunder Menschenverstand. Der gesunde Menschenverstand wird außerdem oft verwechselt. Wegen der Unmittelbarkeit und Unreflektiertheit seiner Urteile wird er gelegentlich für irrational gehalten. Der Bezeichnung ‚Verstand‘ gemäß handelt es sich aber um ein rational abwägendes Vermögen. Der gesunde Menschenverstand nutzt Begriffe und folgt Regeln. Seinen Urteilen liegt ein Nachdenken zugrunde, auch wenn damit keine tiefe Reflexion gemeint ist. Deshalb stellt er z. B. kein Gefühl dar. Die Überlegungen, die er anstellt, unterscheiden
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ihn auch von der Intuition, dem so genannten Bauchgefühl. Die Entscheidungen dieser auf Eingebung beruhenden ‚Intelligenz des Unterbewussten‘ können zwar ebenfalls nicht näher erklärt werden. Bei den Urteilen des gesunden Menschenverstandes handelt es sich aber um Resultate bewusster Gedankengänge, die im Gegensatz zu Intuitionen konkret, plausibel und wahrscheinlich sind. Der gesunde Menschenverstand ist ebenso wenig kreativ. Er ist ein nüchternes Vermögen, das sich gern am Bewährten orientiert. Diese Bodenständigkeit trennt ihn von Einfallsreichtum und Erfindungsgeist, von Genialität und Scharfsinn. Nur eingeschränkt kann der gesunde Menschenverstand klug genannt werden. Zwar ist er der Dummheit entgegengesetzt, aber er speist sich auch nicht aus höherer Bildung oder außergewöhnlicher Intelligenz. Als klug wird er nur im Sinne von ‚erfahren‘ und ‚pragmatisch‘ bezeichnet. Stark zur Diskreditierung des gesunden Menschenverstandes haben die Wissenschaften beigetragen. Heute findet sich vor allem in den Naturwissenschaften die Tendenz, die Urteile des gesunden Menschenverstandes von vornherein mit Irrtümern gleichzusetzen. Oft wird der gewöhnliche Menschenverstand dabei zu Sachverhalten befragt, die seinen Kompetenzbereich überschreiten. Die zwangsläufig dürftige Antwort wird dann zum Auftakt genutzt, sich mit Expertenwissen in Szene zu setzen.15 Jedes einzelne der drei genannten Hauptmerkmale des gesunden Menschenverstandes macht deutlich, warum dieses Vermögen vielfach in Opposition zur Wissenschaft verwendet wird. Wissenschaftliche Forschung ist anspruchsvoll, gewöhnlicher Erfahrung oft recht fern und ihre Ergebnisse werden nicht selten nur von wenigen Spezialisten geteilt. Das Verhältnis von gesundem Menschenverstand und Wissenschaft ist von gegenseitiger Antipathie geprägt. Der gesunde Menschenverstand misstraut den komplexen Theorien, die er nicht nachvollziehen kann und die seinem Alltagsverständnis widersprechen. Die Wissenschaft dagegen misstraut den ungenauen, unreflektierten und unbewiesenen Urteilen des gesunden Menschenverstandes. Er moniert Hirngespinste aus Wolkenkuckucksheim, Kopfgeburten aus dem Elfenbeinturm. Sie sieht nur ein zu widerlegendes, vulgäres Laienverständnis. Dabei können beide sehr voneinander profitieren. Wissenschaftliche Erkenntnisse entwickeln den gesunden Menschenverstand – wie bereits bemerkt – weiter. Gesunder Menschenverstand bildet als erkenntnis- und handlungsleitendes Vorverständnis den Ausgangspunkt für lohnende wissenschaftliche Untersuchungen und eignet sich gut für erste Arbeitshypothesen. Darüber hinaus bietet er Orientierung und gibt Anlass zur Selbstprüfung. 15
Ein schönes Beispiel für diese unschöne Sitte ist Fischer, Ernst Peter: Kritik des gesunden Menschenverstandes. Unser Hindernislauf zur Erkenntnis, München 2002.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
Außerdem dient er zur Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und verkörpert ein Niveau, dem die Formulierung wissenschaftlicher Erkenntnisse gerecht werden sollte. Der gesunde Menschenverstand behauptet sich heute in vielen Gesellschaften als ernstzunehmende Größe neben wissenschaftlicher, religiöser, politischer oder wirtschaftlicher Autorität.16 Die schneller als je zuvor voranschreitende Spezialisierung unseres Wissen stellt aber eine Gefahr für ihn dar. Der gesunde Menschenverstand droht z. B., sich in einen wissenschaftsgläubigen technischen Verstand zu verwandeln, dem der Umgang mit Handy, Computer und Internet selbstverständlich ist, der aber nicht mehr ausreicht, einen privaten Haushalt zu führen. Eine Zurückdrängung des gesunden Menschenverstandes wäre verheerend. Verloren ginge das die Menschen verbindende, gegenseitiges Verstehen ermöglichende, Orientierung und Bedeutung gebende Grundverständnis von der Welt.17 Der gesunde Menschenverstand verfügt über alle wesentlichen Merkmale des common sense. Seine Charakterisierung eignet sich auch als Beschreibung von common sense und Common Sense. Die Begriffe zeigen in ihrem heutigen allgemeinen Sprachgebrauch keine bedeutsamen Unterschiede. Aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen des Englischen und Deutschen sind ‚common sense‘ und ‚gesunder Menschenverstand‘ zwar nicht identisch – einzelne Aspekte werden anders betont. Diese geringfügigen Unterschiede sind im Folgenden aber ohne Belang. Anders verhält es sich mit dem Gemeinsinn. Er steht für das „Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe (Familie, Gemeinde, Staat), das sich als Handlungsbereitschaft zugunsten des Gemeinwohls äußert“18. Der Gemeinsinn ist im aktuellen Sprachgebrauch als Sinn für die Gemeinschaft oder solidarische Gesinnung präsent. Dieser Bürgersinn stellt eine vielfach geforderte soziale Tugend dar, die mit Verantwortung, Verständnis und Engagement für die Allgemeinheit einhergeht.19 Als sekundäre Bedeutungsnuance von common sense repräsentiert der Gemeinsinn eine Fassette des Common Sense. Ein näherer Zusammenhang von Gemeinsinn und gesundem Menschenverstand aber ist im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch – wie bereits erwähnt – nicht (mehr) bekannt. 16 Vgl. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt/M. 2002. 17 Mit Nachdruck hat z. B. Hermann Lübbe immer wieder auf den Kompetenzverlust des Common Sense, respektive des gesunden Menschenverstandes, und seine Folgen hingewiesen. Vgl. etwa ders.: Die Wissenschaft und ihre kulturellen Folgen. Über die Zukunft des common sense, Opladen 1987. 18 Gemeinsinn, in: Brockhaus-Enzyklopädie online, Stand: 02.2006. 19 Vgl. u. a. Duden in acht Bänden.
II. Die Entwicklungsgeschichte
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II. Die Entwicklungsgeschichte Der Begriff ‚Common Sense‘ hat eine lange Entwicklung hinter sich. Mit verschiedenen Ausdrücken wurde zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes von ihm bezeichnet. Da die Geschichte des Begriffs sehr stark von der Philosophie geprägt ist, hat die nachfolgende Betrachtung in erster Linie philosophiegeschichtlichen Charakter. In sie fließen gesellschaftliche Faktoren und etymologische Erkenntnisse ein.20 Der englische ‚common sense‘, seine französischen Pendants ‚sens commun‘ und ‚bon sens‘ sowie die deutschen Begriffe ‚gesunder Menschenverstand‘ und ‚Gemeinsinn‘ gehen aus dem lateinischen Terminus ‚sensus communis‘ hervor. Dieser ist eine Übersetzung des von Aristoteles geprägten Begriffs ‚koine aisthesis‘, welcher vor allem einen inneren Sinn darstellt, der seinen Sitz im Herzen hat und im Gegensatz zu den äußeren Sinnen wie dem Hör- oder Tastsinn steht. Zum Gemeinsinn macht ihn seine Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit der durch die Einzelsinne gegebenen Objekte zusammenzufassen und zu beurteilen.21 20 In Bezug auf die Begriffshistorie des Bedeutungskomplexes ‚Common Sense‘ sei in chronologischer Reihenfolge besonders verwiesen auf: Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 4 1975 (1960), S. 16 ff.; Lewis, Clive S.: Studies in Words, Cambridge 1960, S. 143 ff.; Körver, Helga: Common Sense. Die Entwicklung eines englischen Schlüsselwortes und seine Bedeutung für die englische Geistesgeschichte vornehmlich zur Zeit des Klassizismus und der Romantik, Bonn 1967; Grave, Selwyn Alfred: Common Sense, in: The Encyclopedia of Philosophy, Paul Edwards (Ed.), New York/ London 2.1967, S. 155 ff.; Strasser, Johano: Lumen naturale – Sens commun – Common sense: Zur Prinzipienlehre Descartes‘, Buffiers und Reids, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Meisenheim 23/2.1969 (Apr–Jun), S. 177 ff.; v. Maydell, A./ Wiehl, R.: Gemeinsinn, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter/ Karlfried Gründer (Hg.), Basel 1971 ff., 3.1974, S. 243 ff.; Riedel, Armin: Die philosophische Bedeutung des Gemeinsinns, München 1975; Nakamura; Albersmeyer-Bingen, Helga: Common Sense. Ein Beitrag zur Wissenssoziologie, Berlin 1986; Kleger, Heinz: Common Sense (1. Teil); van Holthoon; Kleger, Heinz: Common Sense als Argument. Zu einem Schlüsselbegriff der Weltorientierung und politischen Philosophie (2. Teil), in: Archiv für Begriffsgeschichte, XXXIII.1990, S. 22 ff.; Feilke, Helmuth: Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie „sympathischen“ und „natürlichen“ Meinens und Verstehens, Frankfurt/M. 1994.; Leinkauf, Th.: Sensus communis I, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 622 ff.; Dewender, Th.: Sensus communis II, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 634 ff.; von der Lühe, A.: Sensus communis III, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 639 ff.; Grünepütt, K.: Sensus communis IV.1, 2, 4, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 661 ff.; Riebold, L.: Sensus communis IV.3, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 669 ff.; Dihle, Albrecht: Vom gesunden Menschenverstand, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg 1995; Tiffany. 21 Vgl. Aristoteles: Über die Seele, Horst Seidel (Hg.), Hamburg 1995, 425a–426b; dazu: Düring, Ingemar: Aristoteles. Darstellung und Interpretation sei-
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
Diese Funktion hat der Sensus communis auch in der stoischen Philosophie. Zusätzlich aber erhält er hier die Bedeutung des ‚Bewusstseins unserer selbst‘. Weiterhin steht der Terminus für das Organ der allen Menschen gemeinsamen Begriffe, der notitiae communes. Diese machen eine Form von Instinkt aus und bilden die Grundlage für eine Idee der Weltgemeinschaft, des consensus omnium oder consensus gentium. Der aristotelische Begriff geht mit seiner stoischen Erweiterung zu einer verstandesähnlichen, ursprünglichen Urteilskraft aller in die römische Tradition ein und wirkt in der Bedeutung eines ‚sechsten Sinnes‘ bis in die Neuzeit.22 Spätestens mit Cicero erhält der Bedeutungshof eine moralische, politische Dimension. Der römische Politiker und Philosoph spricht sich im Kontext der Rhetorik nachdrücklich für die Berücksichtigung dessen aus, was ein Publikum an Voraussetzungen mitbringt. Der gute Redner hat sich am gewöhnlichen Sprachgebrauch, dem allgemeinen Empfinden sowie am allgemeinen Interesse im Sinne dessen, was die Menschen im normalen Leben wirklich bewegt, zu orientieren – er muss den Sensus communis richtig einschätzen.23 Im Mittelalter bleibt die aristotelische Begriffstradition der koine aisthesis sehr einflussreich. Der Sensus communis wird zu einer Theorie der (inneren) Sinne weiterentwickelt. Besonders prägend sind in dieser Hinsicht Avicenna, Albertus Magnus und Thomas von Aquin.24 Die humanistischen Denker der Renaissance verleihen dem Begriffskomplex inhaltlich neues Leben. Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Lebenswelt rückt in den Mittelpunkt der durch den Begriff bezeichneten Problematik. Bei Nikolaus von Cues kommt der ‚wissenden Unwissenheit‘, docta ignorantia, ein zentrale Rolle zu. Sie stellt die höchste Stufe dar, die die menschliche Vernunft erreichen kann. In Abgrenzung von der scholastischen Wissenschaft, die um ein System der Vollständigkeit und Endgültigkeit bemüht ist, wird mit diesem Ausdruck die menschliche Unzulänglichkeit betont. Noch deutlicher wird das Anliegen des Cusaners in der Figur nes Denkens, Heidelberg 1966, S. 577 f.; Leinkauf, S. 622 ff. und zuletzt Gregoric, Pavel: Aristotle on the Common sense, New York 2007. Aristoteles gilt auch in einem weiteren Sinne als der Common-Sense-Philosoph der Antike. Wie kein anderer nutzt er Alltagsmeinungen als Ausgangspunkt seiner Untersuchungen. Vgl. z. B. ders.: Nikomachische Ethik, Franz Dirlmeier (Übs.), Stuttgart 1997, 1172b35– 1173a2; Dihle, S. 19. 22 Vgl. Leinkauf, S. 629 ff.; Albersmeyer-Bingen, S. 40. 23 Vgl. z. B. Cicero: De oratore, Harald Merklin (Hg.), Stuttgart 2003, Buch I, S. 12, 222 ff., Buch II, S. 68, 159, Buch III, S. 195; Leinkauf, S. 629; Tiffany, S. 26 ff.; Riedel, Armin, S. 7 ff.; Kleger: 2. Teil, S. 25 ff.; Bugter, S. E. W.: Sensus Communis in the Works of M. Tullius Cicero, in: van Holthoon, S. 83 ff. 24 Vgl. Dewender, S. 634 ff.; Körver, S. 20 ff.
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des Laien, des idiota. Ihm hat Gott – wie allen anderen – die natürliche Vernunft verliehen. Deshalb kann das Erkennen der Wahrheit keineswegs einer Glaubensgemeinschaft oder der Wissenschaft allein vorbehalten sein. Melanchthon sieht im Sensus communis eine allen Menschen gemeinsame Verstandeskraft bzw. das durchschnittliche Denkvermögen, das im Alltag Anwendung findet. Diesem Vermögen gebührt seine Hochschätzung. Es bildet die Grundlage vieler Wissenschaften und darf beim Philosophieren nie aus den Augen verloren werden. Melanchthon zählt auch zu den Denkern, die dem Sensus communis die Fähigkeit zuschreiben, Einsicht in die ‚ersten Prinzipien‘ zu nehmen. Die Humanisten und Reformatoren überwinden die scholastische Aristoteles-Rezeption schließlich, indem sie dem Sensus communis den Sinnbezirk des Verstandes eröffnen und ihn idealisieren.25 Auch einige gesellschaftliche Entwicklungen können als einflussreich für die Höherbewertung des Sensus communis zu dieser Zeit betrachtet werden. So existieren historische Zusammenhänge zwischen der philosophischen Idealisierung des idiota und den religiösen Laienbewegungen, die sich damals gegen die katholische Kirche richten. Der Idee eines gleichverteilten Verstandes, welche gegen die Scholastik in Stellung gebracht wird, entsprechen auch die nationalsprachlichen Tendenzen. Wind auf diese Mühlen tragen ebenso die Erfolge der Seefahrer und Abenteurer, unter denen viele Laien bzw. Praktiker sind. Leonardo da Vinci, Galileo Galilei, aber auch Vertreter der Volksliteratur-Bewegung machen sich für ein voraussetzungsloses, unhistorisches Erfassen von Tatsachen stark. Sie vertrauen einem von Schuldogmen befreiten intuitiven Scharfsinn und wollen von der breiten Bevölkerung verstanden werden können.26 Erst im Zeitraum von Ende des 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts wird sensus communis als sens commun in den französischen und als common sense in den englischen Wortschatz übernommen. Wie der französische Ausdruck bon sens sind die Begriffe und ihre Bedeutungen bereits z. T. vorhanden, aber erst mit der Rezeption des Sensus communis werden sie nachhaltig mit dem scholastischen Verständnis, der Verstandesbedeutung und der ‚Einsicht in erste Prinzipien‘ verknüpft. Der übernommene Begriffskomplex wird in Frankreich überwiegend positiv bewertet, in England dagegen lange als minderwertig betrachtet. Bei Francis Bacon etwa steht er für falsche Vorbegriffe, für Vorurteile der Menge, die zu Irrtümern geführt haben. Bacon äußert auch einen Ideologieverdacht: Viele wissenschaftliche Erkennt25 Vgl. z. B. von Cues, Nikolaus: Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften, Hans Blumenberg (Hg.), Bremen 1957, Buch I, S. 242 ff. (Laiendialoge); Melanchthon, Philipp: Praefatio in officia Ciceronis, in: Melanchthons Werke in Auswahl, Robert Stupperich (Hg.), Gütersloh 1951 ff., 3.1969, S. 85; AlbersmeyerBingen, S. 50 ff.; Körver, S. 33 ff. 26 Vgl. Albersmeyer-Bingen, S. 53 ff.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
nisse seien kaum gewürdigt worden, weil sie dem common sense entgegengesetzt seien.27 Bei René Descartes kommen bon sens und sens commun eine zentrale Rolle zu. Im Discours zeugt davon schon die erste Zeile: „Der gesunde Verstand (bon sens) ist die bestverteilte Sache der Welt, . . .“28. Descartes betrachtet den bon sens an dieser Stelle als eine allen gemeinsame Urteilskraft, die sich zur philosophischen Selbstvergewisserung eignet. Obwohl bon sens und sens commun in Descartes‘ Werken hin und wieder synonym verwendet werden, lassen sich ihre Bedeutungen unterscheiden. Während bon sens eher den theoretischen Gebrauch des gewöhnlichen Verstandes bezeichnet, steht sens commun mehr für dessen praktischen, alltagsklugen Gebrauch. Der Sensus communis begegnet bei Descartes außerdem in aristotelischer Tradition – als Fähigkeit zur Aufnahme sinnlicher Wahrnehmungen. Deutliche Parallelen bestehen auch zur cartesischen Leitidee des lumen naturale.29 Die Verwendung von sensus communis und seiner Pendants in Frankreich wirkt sich positiv auf die Bewertung des englischen common sense aus. Neben den Einflüssen aus der Philosophie werden auch die wirkungsvolle französische Literaturkritik und -theorie ab der Mitte des 17. Jahrhunderts sowie gesellschaftliche Ereignisse wie das britische Unionsstreben für diese Aufwertung verantwortlich gemacht. Die Philosophie der frühen Aufklärung von etwa 1560–1670 bewirkt generell eine Höherbewertung des Sensus communis und seiner vielen Gestalten. Als Hauptentwicklung ist anzusehen, dass der Begriff als natürlicher Verstand den praxisfernen Wissenschaften gegenübergestellt wird. In der Folge setzt sich die Verstandesbedeutung endgültig durch, die psychologische stirbt aus. Erstere beginnt sich dann zu spalten in einen theoretischen und einen praktischen Gebrauch des Verstandes. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind common sense, sens commun, bon sens – nicht aber deutsche Synonyme – feste Begriffe der Aufklärung.30 Paradoxerweise entwickelt sich gegen den Cartesianismus eine Bewegung, die sich ebenfalls auf den gesunden Menschenverstand beruft. Sie kann als Reaktion auf die nicht eingelösten Versprechen des neuzeitlichen 27
Vgl. Körver, S. 38 ff.; Albersmeyer-Bingen, S. 60 ff. Descartes, René: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Hermann Glockner (Hg.), Kuno Fischer (Übs.), Stuttgart 1995, S. 3. 29 Vgl. Descartes: Abhandlung, v. a. 1. Kapitel. Die scholastische Wahrnehmungsbedeutung begegnet in den lateinisch veröffentlichten Meditationes de Prima Philosophia (vgl. ders.: Meditationen über die Erste Philosophie, Gerhart Schmidt (Hg./Übs.), Stuttgart 1994, II.14., VI.20). Das Verhältnis lumen naturale – bon sens/ sens commun wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Vgl. von der Lühe, S. 639 f.; Albersmeyer-Bingen, S. 63 ff.; Körver, S. 70 ff.; Strasser, S. 177 ff.; Tiffany, S. 60 ff.; Riedel, Armin, S. 72 ff.; Nakamura, S. 157 ff. 30 Vgl. Albersmeyer-Bingen, S. 65 ff.; Körver, S. 65–94. 28
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Rationalismus, aber auch die des Empirismus angesehen werden. Ihr Ziel ist die Wiederbelebung der sozial-ethischen Komponente des Sensus communis, die etwa noch im römisch-stoischen und humanistischen Denken enthalten war. Giambattista Vico als einer der ersten von diesen Kritikern beklagt am deterministischen Wissenschaftsideal seiner Zeit den Mangel an gemeinschaftlichem Sinn, an Liebe, Sinnlichkeit und geschichtlichem Bewusstsein. Er kritisiert das Ungenügen des theoretischen Vernunftgebrauchs auf dem Gebiet der alltäglichen Praxis und fordert eine Rückkehr der Wissenschaften zu ihren Wurzeln. Diese verkörpert für ihn der Sensus communis als ein vorbegriffliches, praktisch-pragmatisches Vermögen. Vico ist einer der herausragenden Verfechter des Sensus communis in der Bedeutung des sozialen Gemeinsinns. Allerdings wird er zu seiner Zeit nicht hinreichend beachtet.31 Gehört wird dagegen der englische Moralphilosoph Shaftesbury. Mit seiner Würdigung der gesellschaftlichen Bedeutung des Sensus communis knüpft er ebenfalls an die römisch-humanistische Bedeutungstradition des Begriffs an. Shaftesbury erhebt ihn als moral sense und dessen sichtbaren Ausdruck in der Praxis, dem common sense, in den Rang einer allumfassenden sozialen und moralischen Tugend. Der Sensus communis übernimmt in seinem Konzept die Aufgabe der Wahrheitsprobe. In der Form von Witz und Humor ist dieser in der Lage, auf verbaler Ebene Wahres von Falschem zu unterscheiden.32 Im Zeitraum von etwa 1710 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wird der Begriff ‚common sense‘ im Vereinigten Königreich England und Schottland überaus populär. Er wird zum gesellschaftlichen Schlagwort und findet auch in der Philosophie immer mehr Aufnahme – eine Entwicklung, die ihre Hauptvertreter zunächst in John Locke, George Berkeley und David Hume hat. Zu dieser Blütezeit trägt auch die schottische Moralphilosophie mit Vertretern wie Shaftesbury und Adam Smith viel bei. Aus ihr entwickelt sich die schottische Common-Sense-Philosophie, zu der u. a. Reid, Beattie, Oswald, Stewart und Hamilton zählen. Sie ist dafür verantwortlich, dass der philosophische Stellenwert des common sense in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht.33 31 Vgl. Zimmerli, Walther: „Schulfüchsische“ und „handgreifliche“ Rationalität – oder: Stehen dunkler Tiefsinn und Common sense im Widerspruch?, in: Poser, Hans (Hg.): Wandel des Vernunftbegriffs, Freiburg/München 1981, S. 141; Gadamer, S. 16 ff.; von der Lühe, S. 643 f.; Albersmeyer-Bingen, S. 72 ff.; Riedel, Armin, S. 129 ff. Vicos pädagogisches Manifest von 1709: De nostri temporis studiorum ratione. 32 Vgl. Albersmeyer-Bingen, S. 77 ff.; von der Lühe, S. 644 f.; Tiffany, S. 104 ff. Die betreffende Abhandlung von Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury heißt Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709).
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
Als Vater der Common-Sense-Philosophie gilt Thomas Reid. Sein philosophisches Konzept ist in erster Linie als Widerlegung von Humes Skeptizismus gedacht, der die Gewissheit unserer Existenz in Frage stellt. Reid verteidigt im Namen des common sense die Realität sozialer und moralischer Werte sowie religiöser Wahrheiten. In der Inquiry von 1764 formuliert er das Kernstück seiner Philosophie: Erworbenen, gewohnheitsmäßigen Prinzipien liegen allgemeinere Prinzipien zugrunde, die selbst nicht erklärbar sind – die Prinzipien des common sense. Sie seien jedermann bekannt. Da auch die Philosophie auf ihnen gründe, sei sie nicht berechtigt, über diese Axiome zu richten. Jeder Versuch einer Begründung setze sie schon voraus. In den Intellectual Essays von 1785 finden die voneinander getrennten Vermögen ‚common sense‘ und ‚Vernunft‘ in der Idee einer ‚Einheit der Vernunft‘ wieder zusammen. Dabei verkörpert der common sense die Fähigkeit zu urteilen und rationaler Verstand (reason) die Fähigkeit zu schließen. Jedes Wissen muss laut Reid auf erste Prinzipien gegründet sein. Er nennt diese Prinzipien zwar nicht und hält ihre Erarbeitung nur für wünschenswert, zeigt aber, dass sie selbstevidente Wahrheiten und empirisch zu belegen sind. Dabei wird der common sense als intuitive Verstandeskraft charakterisiert, die ursprünglich und nicht erlernbar ist. Die Urteilskraft ‚common sense‘ sei eine göttliche Gabe, die sich im Alltag immer wieder bestätige und unerlässlich für dessen Organisation sei. Der common sense steht bei Reid also sowohl für erste Prinzipien als auch die Fähigkeit der Einsicht in sie.34 33 Von der Popularität des common sense während dieser Blütezeit zeugt z. B., dass er damals zur Basis des Gentleman-Ideals gehört, welches auf höheren Schulen vermittelt wird, und dass eine bald sehr einflussreiche Zeitschrift Lord Chesterfields nach ihm benannt wird (vgl. Körver, S. 95 f., 127 ff.; Henke, Christoph: „The old solid English standard of common sense“ – British common sense discourse in the eighteenth century, in: Geert Jacobs u. a. (Ed.): Common Sense(s), Gent 2006, S. 51 ff.). Obwohl bei Locke der Ausdruck common sense noch nicht vorkommt, greifen seine Gedanken dem mit diesem Begriff verbundenen Problem schon vor. Locke ist bemüht, das natürliche Weltverständnis des einfachen Mannes und die Philosophie einander näher zu bringen. Aber das Konzept seines ethischen Egoismus, der auf einer empiristischen Skepsis fußt, macht neben Gott und Substanz auch den common sense problematisch. Gegen Locke hat Berkeley versucht, den antimetaphysischen common sense wider diesen Skeptizismus zu verteidigen. Er wird aber wiederum von Hume widerlegt. Hume radikalisiert die skeptizistischen Ansätze sogar noch, indem er letztbegründete Wahrheiten generell für unmöglich erklärt. Aber auch er bewertet den common sense hoch. Als Substanz der Philosophie sei dieser ein Korrektiv für metaphysische Spitzfindigkeiten. Vgl. Körver, S. 123 ff.; Albersmeyer-Bingen, S. 82 ff. 34 Vgl. Reid, Thomas: Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense, in: ders.: Philosophical Works, William Hamilton (Ed.), Hildesheim 1983, Bd. 1, S. 96 ff., v. a. S. 101, 108, 127; Reid: Essays on the Intellectual Powers of Man, in: ders.: Works, Bd. 1, v. a. S. 421 ff.; Grave, Selwyn Alfred: The Scottish
II. Die Entwicklungsgeschichte
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Das Werk Reids findet viele Anhänger. James Beattie ist 1770 mit einem Essay, der die Grundgedanken Reids enthält, sehr erfolgreich. James Oswald überträgt das Common-Sense-Prinzip auf die Religion. Aus den eigenen Reihen kommt aber auch Kritik. Dugald Stewart beklagt z. B. die unübersichtliche Verwendung des common sense in seinen verschiedenen Bedeutungen. William Hamilton gibt später die Werke Reids und Stewarts heraus und entwickelt eine Philosophie aus Reid’schem und Kant’schem Denken, die im Vereinigten Königreich lange gelehrt wird. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwindet der schottische Einfluss, die Common-Sense-Philosophie geht zu Ende. Ab dieser Zeit ist der Begriff ‚common sense‘ fast nur noch in seiner Verstandesbedeutung anzutreffen. Es existiert von ihm eine theoretische und eine praktische Form. Letztere gewinnt aber im Sinne von Weltklugheit die Oberhand gegenüber der kritischen Urteilskraft. Das Ende der Common-Sense-Philosophie besiegelt John Stuart Mill, der Begründer des englischen Positivismus. 1865 veröffentlicht er eine Arbeit, in der er den common sense deutlich aus dem Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens verweist.35 In Deutschland wird ‚common sense‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Lehnwort, seine Erstnennung liegt im Jahre 1766.36 Der Begriffskomplex ist über seine Entsprechungen ‚sensus communis‘, ‚gesunder Menschenverstand‘, ‚gemeine Vernunft‘, ‚allgemeine Menschenvernunft‘, ‚Gemeinsinn‘ usw. aber schon länger bekannt. Der Ausdruck ‚Gemeinsinn‘ begegnet Ende des 17. Jahrhunderts zum ersten Mal. Als Übersetzung von sensus communis wird er zunächst im Sinne der aristotelischen koine aisthesis verstanden, verändert seine Bedeutung aber unter dem Einfluss des common sense im 18. Jahrhundert zu ‚gemeiner Verstand‘.37 Erst am Ende des 18. Jahrhunderts setzt sich der ‚gesunde Menschenverstand‘ als Ausdruck Philosophy of Common Sense, Oxford 1960; Träder, Wilfried: Die Common sensePhilosophie Thomas Reids, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin (Ost) 6.1989, S. 518 ff.; von der Lühe, S. 646 f.; Albersmeyer-Bingen, S. 89 ff.; Körver, S. 166 ff.; Strasser, S. 177 ff. Vgl. zuletzt: Wolterstorff, Nicholas: Thomas Reid and the story of epistemology, Cambridge 2001, v. a. S. 215 ff. sowie Ledwig, v. a. S. 15 ff. Die Essenz aus Reids Denken blieb lange unbeachtet. Zur interessanten Beziehung Reid – Kant vgl. Kapitel E. IV. 35 Vgl. von der Lühe, S. 647 f.; Albersmeyer-Bingen, S. 102 f., 136 f.; Mill, John Stuart: Eine Prüfung der Philosophie Sir William Hamiltons (Examination of Sir William Hamilton’s philosophy), H. Wilmanns (Übs.), Halle 1908. 36 Laut Peter F. Ganz kommt es 1766 durch Herder zur Erstnennung im allgemeinsprachlichen Gebrauch, 1772 im philosophischen Sinn – in einer Rezension von Beatties Essay (vgl. ders.: Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz 1640–1815, Berlin 1957, S. 53). Vgl. Körver, S. 212. 37 Vgl. Körver, S. 216 ff.; v. Maydell/Wiehl, S. 243 ff.; Gemeinsinn, in: Grimm, Jakob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Rudolf Hildebrand/Hermann Wunderlich (Bearb.), Leipzig 1897, Bd. IV.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
für die natürliche und ungebildete Verstandeskraft gegen Begriffe wie ‚Gemeinsinn‘, ‚gemeiner Verstand‘ und ‚allgemeiner Menschenverstand‘ durch, unter denen lange Zeit inhaltlich nicht differenziert wird.38 Ende des 17. Jahrhunderts gibt es in Deutschland einige von der angelsächsischen und französischen Begriffsentwicklung weitgehend unabhängige Ansätze, die ihre Wurzeln in der Aufklärung haben und das Selbstdenken mittels der ‚allgemeinen Menschenvernunft‘ popularisieren. Zu den ersten Befürwortern dieser beginnenden ‚Popularphilosophie‘ zählen Christian Thomasius und Christian August Crusius. Sie richten sich vor allem gegen die von Leibniz und Wolff geprägte Schulphilosophie, die in ihren Augen nur einseitig die Vernunft betont.39 Im 18. Jahrhundert weitet sich diese Bewegung aus. Mit ihr in Zusammenhang zu bringen sind jetzt u. a. Moses Mendelssohn, Johann Nikolas Tetens und Christian Garve sowie Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Friedrich Heinrich Jacobi. Von diesen Denkern wird der angelsächsische Common-Sense-Gedanke immer mehr als Gegengewicht zur reinen Vernunft ins Spiel gebracht. Entsprechend findet der common sense in Deutschland hauptsächlich in seiner theoretischen Verstandesbedeutung Eingang.40 38 Vgl. Körver, S. 212 ff.; Albersmeyer-Bingen, S. 22 ff. Im 18. Jahrhundert wurden die Wörter ‚gemein‘ und ‚allgemein‘ lange synonym verwendet. Dazu vgl. gemein, in: Grimms Deutsches Wörterbuch, Bd. IV/V.; gemein, in: Trübners Deutsches Wörterbuch, Alfred Götze (Hg.), 3.1939; gemein, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Wolfgang Pfeifer (Hg.), München 1997. 39 Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff haben bereits einen Begriff vom ‚analogon rationis‘, von einem ‚Vernunftähnlichen‘. Leibniz erkennt in der Art der Tiere und der bloßen Empiriker ein irrationales Vermögen, Zusammenhänge zu erkennen, die „consecutiones empiricae“ (vgl. ders.: Monadologie, § 26 und Theodizee I, § 65). An ihre erkenntnistheoretische Verwertung denkt er noch nicht, gibt aber damit Wolff einen wichtigen Anstoß zur Weiterentwicklung des Problems. Wolff betrachtet sinnliche und rationale bzw. historische und philosophische Erkenntnis als gleichberechtigt. Er spricht von einer „gemeinen Erkenntnis“ bzw. „cognitio historica“ – einem gemeinen Verstand, der als Vorform der kritischen Urteilskraft angesehen werden kann. Sie bezeichnet bereits ein Vermögen, das zwischen bloßer Sinnlichkeit und eigentlichem Denken liegt. Vgl. ders.: Von Gott, § 872. Die Übertragung des Namens ‚Vernunft‘ auf ein unteres Erkenntnisvermögen bereitet die Wertschätzung der sinnlichen Erkenntnis bei Alexander Gottlieb Baumgarten vor. Baumgarten fasst sämtliche untere Erkenntnisvermögen zu einem Gesamtvermögen zusammen – eben dem analogon rationis (vgl. ders.: Metaphysica, § 640). Vgl. Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, ND Darmstadt 1967 (1923), S. 188 ff. 40 Vgl. v. Maydell/Wiehl, S. 244 ff.; von der Lühe, S. 650 f.; Gadamer, S. 23 ff.; Kuehn, Manfred: Scottish Common Sense in Germany, 1768–1800. A Contribution to the History of Critical Philosophy, Kingston/Montreal 1987, S. 36 ff. Kants Beziehung zur Popularphilosophie wird in Kapitel C. III. und E. IV. der vorliegenden Arbeit näher untersucht.
II. Die Entwicklungsgeschichte
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Die Bewertung des Common Sense wird in Deutschland entscheidend durch Immanuel Kant geprägt. Kant reagiert auf die betreffenden Einflüsse aus der deutschen Schul- und Popularphilosophie sowie der schottischen Moral- und Common-Sense-Philosophie und verleiht dem Begriffskomplex neue Impulse. Als besonders wirkmächtig erweist sich, dass er dem Common Sense als Gemeinsinn eine zentrale Bedeutung für die ästhetische Urteilskraft zuweist. Kants Position zum Common Sense ist sehr vielschichtig. Obwohl er sich auch positiv über dieses Vermögen äußert, bleibt vor allem seine vernichtende Kritik an Common-Sense- und Popularphilosophie im Bewusstsein der Exegeten präsent. Aufgrund dessen beginnt mit Kants Schriften eine Abwertung des Common Sense als gewöhnliches Vermögen in der deutschen Philosophie.41 Der deutsche Idealismus trägt entscheidend zu dieser Entwicklung bei. Dies wird besonders in der ablehnenden Haltung Georg Wilhelm Friedrich Hegels deutlich. Wie zuvor Johann Gottlieb Fichte betont er die Opposition des gesunden Menschenverstandes zur Vernunft.42 Der gesunde Menschenverstand gebe nur „eine Rhetorik trivialer Wahrheiten zum Besten“43. Mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling teilt Hegel die Ansicht der temporären Beschränktheit des gemeinen Menschenverstandes: Dieser sei „die Denkweise einer Zeit, in der alle Vorurtheile dieser Zeit enthalten sind“44. Der deutsche Idealismus grenzt den gesunden Menschenverstand aus dem philosophischen Erkenntnisprozess aus. Er ist diesem nur die zu überwindende Vorstufe.45 Den vorläufigen Höhepunkt der Ablehnung des gesunden Menschenverstandes in der deutschen Philosophie markiert Karl Marx. Ihm ist dieser nichts als das notwendige Produkt der bürgerlichen Ideologie, das nicht in der Lage sei, Schein von Sein zu unterscheiden. Als Instrument der herrschenden Klasse attestiert ihm Marx historische Dummheit.46 41
Vgl. z. B. v. Maydell/Wiehl, S. 243 ff. und von der Lühe, S. 648 ff. Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik, in: ders.: Werke, Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.), Frankfurt/M. 1979, Bd. 5, S. 38 (auch S. 14, 86). 43 Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, Bd. 3, S. 64. 44 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. 18, S. 435. 45 Vgl. z. B. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke, Bd. 2, S. 30 ff. Auch in „Wie der gemeine Menschenverstand die Philosophie nehme, – dargestellt an Werken des Herrn Krug“ bezieht Hegel eindeutig Stellung gegen den gesunden Menschenverstand, den Wilhelm Traugott Krug zuvor rehabilitieren wollte. Vgl. ders.: Werke, Bd. 2, S. 188 ff. (Erstdruck in: Kritisches Journal der Philosophie, Schelling/Hegel (Hg.), Tübingen 1802). Vgl. v. Maydell/Wiehl, S. 246; von der Lühe, S. 652; Kuehn: Scottish, S. 234 ff. 46 Vgl. Marx, Karl: Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral (1847), in: ders./Engels, Friedrich: Werke, Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der 42
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
Von ungleich größerem Einfluss ist die schottische Common-Sense-Philosophie auf die nordamerikanischen Kolonien, die späteren USA. Der Engländer Thomas Paine veröffentlicht am 10. Januar 1776 im amerikanischen Philadelphia anonym die Schrift Common Sense. Der common sense fungiert hier als politische Fähigkeit der Vorurteilsfreiheit und Überparteilichkeit. Das Pamphlet enthält Gedanken, die in der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli dieses Jahres wiederkehren. Die Schrift wirkt meinungsbildend bezüglich der notwendigen Souveränität der Kolonien und ist noch heute in den USA populär.47 Der politisierte common sense hat auch weiterhin großen Einfluss auf die Herausbildung der US-amerikanischen Gesellschaft. Die schottische Common-Sense-Philosophie wird vollständig in die Praxis übertragen. Als Gesamtheit der evidenten Wahrheitsprinzipien, die jedem Menschen in Form eines gesunden Urteilsvermögens gegeben sind, vereint der common sense sowohl Selbstverwirklichung als auch gesellschaftliche Bindung in sich. Seine politische Indienstnahme führt aber bald zu ideologischem Missbrauch und einem starrem Konservatismus, weshalb sein Einfluss in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwindet.48 Eine kritische Erneuerung des Common Sense hat der amerikanische Pragmatismus geleistet. Seine große Wirkung verdankt er dem Versuch der direkten Verbindung philosophischen Denkens mit dem Leben der alltäglichen Erfahrung. Die Pragmatisten bewahren sowohl Teile der schottischen Common-Sense-Philosophie gegenüber ihrem politischen Missbrauch als auch Teile der Kant’schen Philosophie. Dies wird besonders bei Peirce und James deutlich.49 Charles Sanders Peirce begründet den Pragmatismus aus einer semiotischen Transformation Kants heraus. Peirce ist stark von Kant, den er für einen „verworrenen Pragmatisten“50 hält, beeinflusst. Er entwickelt zunächst den Begriff ‚Pragmatismus‘ in Anlehnung an den Kant’schen Begriff vom Praktischen. Bei Peirce sind intellektuelle Begriffe in erster Linie durch ihre praktischen Auswirkungen bestimmt. Dieses Grundanliegen finSED (Hg.), Berlin 1956 ff., 4.1974, S. 331 ff., z. B. S. 344 f.; von der Lühe, S. 653; Albersmeyer-Bingen, S. 140 ff. 47 Vgl. Paine: Common Sense sowie Meinzer: Nachwort, in: Paine, S. 101 ff. 48 Vgl. Albersmeyer-Bingen, S. 111 ff. 49 Vgl. Albersmeyer-Bingen, S. 114; Martens, Ekkehard: Einleitung, in: Texte der Philosophie des Pragmatismus, ders. (Hg.), Stuttgart 1975, S. 3 ff. Die CommonSense-Problematik im Pragmatismus wurde zuletzt eingehend von Heidi Salaverría betrachtet (vgl. dies.: Spielräume des Selbst. Pragmatismus und kreatives Handeln, Berlin 2007). 50 Peirce, Charles Sanders: Die kritische Philosophie und die Philosophie des Commonsense (1905), 5.525, in: ders.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Karl-Otto Apel (Hg.), Frankfurt/M. 1991, S. 491.
II. Die Entwicklungsgeschichte
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det in der ‚pragmatischen Maxime‘ Ausdruck.51 Der starke Einfluss Kants zeigt sich auch in Peircens Anliegen, eine Metamorphose der Philosophie zu ‚echter‘ Wissenschaft durch Übernahme des Effektivitätsgedankens und des Praxisbezugs herbeizuführen52, sowie in seiner Kernidee des Critical Commonsensism. Die Theorie des kritischen common sense spielt die praktische Bewährtheit des common sense gegen die leere Spekulation aus, beruft sich aber auch auf eine wissenschaftliche Gegeninstanz zu seiner nur provisorischen Geltung.53 Peirce schließt sich Reid an, wenn er an der Wichtigkeit von ersten Grundüberzeugungen für den Erkenntnisprozess festhält. Er bringt diese Auffassung aber in Einheit mit Kants kritischer Philosophie. Denn er streicht gleichzeitig die Vagheit und Modifizierbarkeit dieser Überzeugungen heraus, welche unsere Wünsche leiten und unsere Handlungen formen.54 Unter common sense versteht Peirce primär unsere Überzeugungen. Das Ziel des wissenschaftlichen Zweifels an ihm besteht für ihn darin, diese zu sichern.55 William James popularisiert den schwierigen Ansatz von Peirce. Bei ihm stehen nicht wie bei Reid und Kant die ersten, sondern die letzten Dinge im Mittelpunkt. Der common sense ist für James eng mit dem Wahrheitsproblem verknüpft: Die Wahrheit als Abstraktion der Erfahrung existiere nicht vor den Tatsachen. Der Wert der Wahrheit bestehe in ihrem Nutzen für unsere Orientierung in der Erfahrung. Im common sense sieht James eine Anzahl erfolgreicher Hypothesen. Er umfasse als „natürliche Muttersprache unseres Verstandes“56 unsere fundamentalen Denkmethoden, die sich von unseren Ahnen erhalten haben. Trotz der Wertschätzung des common sense im Bereich der praktischen Zwecke und als Grundlage des naturwissenschaftlichen wie philosophisch-kritischen Denkens erfüllt er für James den Wahrheitsanspruch aber nur ebenso ungenügend wie die beiden anderen Denktypen. Weil er jedoch zuerst da sei und die gewöhnliche Sprache vereinnahme, stelle er im Vergleich mit diesen die gefestigtste Entwicklungsphase unserer Auffassung der Dinge dar. Die große Bedeutung des common sense für James wird vollends deutlich, wenn er neue Wahrheiten nur als Kombinationen aus 51 Vgl. Peirce: Wie unsere Ideen zu erklären sind (1878), 5.402 und Lexikon-Artikel: Pragmatisch und Pragmatismus (1902), 5.1 ff., in: Schriften, S. 195, 315 ff. 52 Vgl. z. B. die Vorreden von Kritik der reinen Vernunft und Prolegomena. 53 Vgl. Apel, Karl-Otto: Der Denkweg des Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt/M. 1975, S. 23 und Peirce: Aus: Pragmatizismus und kritischer Commonsensismus, 5.497 ff., in: Schriften, S. 485 ff. 54 Vgl. Peirce: Festlegung einer Überzeugung (1877), 5.371, in: Schriften, S. 156. 55 Vgl. Peirce: Festlegung, 5.370 ff., in: Schriften, S. 156 ff.; von der Lühe, S. 655. 56 James, William: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, Klaus Oehler (Hg.), Wilhelm Jerusalem (Übs.), Hamburg 1994 (1907), 5. Vorlesung, S. 114; von der Lühe, S. 654 f.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
neuen Erfahrungen und alten Überzeugungen charakterisiert, wobei diese einander modifizieren. Die Gesamtheit der alten Überzeugungen sei nichts Geringeres als der common sense selbst, in welchen auf diese Weise Ergebnisse rationaler Forschung einfließen und sein Weltbild revidieren können.57 In der politisch-praktischen Philosophie der letzten hundert Jahre gibt es beachtliche Ansätze zur Wiederbelebung der sozialen Bedeutung des Common Sense in Form des Gemeinsinns. Sie verdanken sich vor allem Autoren aus dem deutschen Sprachraum. Von Hans-Georg Gadamer wird eine Entpolitisierung des Sensus communis in der Aufklärung konstatiert – insbesondere Kant sei für das Aussterben dieses Bedeutungsfeldes im Deutschen verantwortlich. Gadamer fordert daher die Rückkehr zu einem gesellschaftlichen Gemeinsinn echter sittlich-bürgerlicher Solidarität. Hannah Arendt setzt sich intensiv mit dem politischen Gemeinsinn auseinander. Sie entwickelt ihn vor allem durch eine anthropologische Deutung von Kants Idee des sensus communis aestheticus. Jean-François Lyotard bestreitet dagegen die Möglichkeit der politischen Auslegung des Kant’schen Gemeinsinns. Die Sorge um den ‚gemeinschaftlichen Sinn‘ teilen weiterhin Gabriel Marcel, Arnold Gehlen und zuletzt amerikanische Kommunitarier. Von Hermann Lübbe wird mehrfach auf einen Kompetenzverlust des Common Sense durch zunehmende Verwissenschaftlichung des Lebens und steigende Erfahrungsverluste hingewiesen. Dieser Verlust berge die Gefahr eines ‚politischen Moralismus‘. Theodor Adorno preist zwar die undogmatische Weltläufigkeit des Common Sense, sieht in ihm aber auch einen Feind der kritischen Philosophie, dessen vorwissenschaftliche Unvernunft nur von der dialektischen Vernunft aufgehoben werden kann.58 In der theoretischen und der Wissenschaftsphilosophie des letzten Jahrhunderts wird das Verhältnis zwischen Philosophie und Common Sense immer wieder einmal thematisiert. Das Pendel schwingt dabei zwischen der Auffassung, Philosophie korrigiere die Irrtümer des Common Sense, und der Ansicht, der Common Sense korrigiere die Irrtümer der rationalen Wissenschaften, hin und her. Erstere Auffassung machen z. B. Alfred Jules Ayer und Karl Popper stark. Ihre erkenntnistheoretische Perspektive lässt aber 57
Vgl. James, 2., 6., 7., vor allem aber 5. Vorlesung. Vgl. Gadamer, S. 16 ff., 27 ff., 31 ff.; Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, Ronald Beiner (Hg.), München/Zürich 1985, S. 80 ff.; Lyotard, Jean-François: Die Analytik des Erhabenen, München 1994, S. 29, 240 ff. und ders.: Sensus communis, das Subjekt im Entstehen, in: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Joseph Vogl (Hg.), Frankfurt/M. 1994, S. 223 ff.; Lübbe: Wissenschaft und ders./von Oertzen, Peter: Politisierende Moral – moralisierende Politik? Ein Cappenberger Gespräch, Köln 1985; Adorno, Theodor: Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), in: Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt/M. 1980, Bd. 4, Nr. 51, 134; Grünepütt, S. 661 ff. Zum Verhältnis Common Sense – Politik vgl. Kapitel E. I. dieser Arbeit. 58
II. Die Entwicklungsgeschichte
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den praktischen Nutzen des Common Sense im Alltag unbestritten. Für die andere Auffassung stehen Namen wie Paul Feyerabend, Thomas Kuhn, aber auch Gernot Böhme, Helmut Holzhey und Walther Zimmerli. Sie sprechen sich gegen eine Isolierung des Common Sense von der Philosophie aus.59 Heute begegnet der Common Sense noch vereinzelt in der sprachanalytischen Philosophie, etwa in der Skeptizismusdiskussion und der Realismusdebatte. Hier verkörpert er den unveränderlichen Kernbestand an Überzeugungen, der die natürliche Weltsicht der Menschen prägt, in unserer Alltagssprache Ausdruck findet, von Kindern allmählich angeeignet wird usw. Gegen Bertrand Russells Abwertung des Common Sense aus erkenntnistheoretischer Perspektive richtet sich George Edward Moores einflussreiche Verteidigung des Common Sense. Moore zeigt die Verträglichkeit philosophischer Theorie mit Common-Sense-Annahmen. An seine Rehabilitierung des Common Sense schließt sich eine lange Kontroverse an. Während Denker wie Karl Popper Moores Theorie ablehnen, wird sie von Vertretern der Ordinary Language Philosophy untermauert.60 Auch in einigen Einzelwissenschaften wurde dem Begriffskomplex ‚Common Sense‘ große Bedeutung zugewiesen. Die Soziologie z. B. kennzeichnet von Beginn an ein Interesse an diesem Thema. In Frankreich, dem Mutterland der Disziplin, ist dies u. a. auf die ununterbrochene Hochschätzung des bon sens zurückzuführen. Bei demBei dem Begründer des französischen Positivismus Auguste Comte ist dieser konstitutiv für den esprit positif. Letzterer stellt die höchste Entwicklungsstufe des menschlichen Geistes dar. Auf seiner Grundlage soll eine neue und an der praktischen Alltagsweisheit (bon sens) orientierte Wissenschaft errichtet werden. Der 59
Vgl. u. a. Ayer, Alfred Jules: Metaphysics and common sense, London 1969; Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973; Feyerabend, Paul: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften, Braunschweig Wiesbaden 1978 und ders.: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1976; Kuhn, Thomas Samuel: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1983 (1962); Böhme/Böhme: Das Andere der Vernunft oder Böhme, Gernot/Engelhardt, Michael (Hg.): Entfremdete Wissenschaft, Frankfurt/M. 1979; Holzhey, Helmut/ Zimmerli, Walther (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung, Basel Stuttgart 1977; Grünepütt, S. 667 ff. 60 Russell, Bertrand: Reply to Criticism, in: The philosophy of Bertrand Russell, Paul Arthur Schilpp (Ed.), LaSalle 1971; Moore, George Edwards: Eine Verteidigung des Common Sense. Fünf Aufsätze, Frankfurt/M. 1969 (1925); Popper: Objektive Erkenntnis (Popper plädiert für eine strikte Trennung zwischen Erkenntnistheorie und erkennendem Subjekt); Riebold, S. 669 ff.; Grave, in: Encyclopedia, S. 158 f. sowie die bereits genannte sprachtheoretische Studie von Feilke. Die Entwicklungslinie von Aristoteles, Reid und Moore wurde zuletzt fortgesetzt von Boulter, Stephen: The Rediscovery of Common Sense Philosophy, Basingstoke/New York 2007.
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
bon sens soll Ausgangspunkt und im Sinne eines Korrektivs Endpunkt des wissenschaftlichen Prozesses sein. Comte wird später von Émile Durkheim und Herbert Spencer kritisiert. Die Kritik richtet sich vor allem gegen diejenigen Ansätze, welche zu einem ideologischen Gesellschaftsverständnis führen. Während Durkheim die Vereinnahmung der Soziologie durch Vorurteile des Alltagsverstandes fürchtet, aber die soziale Dimension des Begriffs schätzt, betrachtet Spencer die Wissenschaft als quantitative Erweiterung des Alltagswissens mit den Mitteln der Vernunft, welche nicht wie dieses gewöhnliche Wissen sklavisch von der Erfahrung abhängt. Die klassische deutsche Soziologie – die z. B. Max Weber, Karl Mannheim, Max Scheler und Alfred Schütz repräsentieren – konzentriert ihre Untersuchungen auf die Bedeutung des ‚praktischen Urteilsvermögens‘ als intersubjektives Alltagswissen der Gesellschaft. Hervorzuheben ist Schütz, der an die phänomenologische Wendung Edmund Husserls zur ‚Lebenswelt‘ anknüpft, um den gesunden Menschenverstand als Basis der Wissenschaften aufzuwerten.61 Auch in der jüngeren Psychologie ist eine Aufwertung des Common Sense als Gegengewicht zum naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Disziplin zu beobachten. Bereits die Etablierung des Begriffs ‚CommonSense-Psychology‘ gibt Zeugnis von einem gestiegenen Interesse an der realistischen Perspektive des Alltagsverstandes. Common-Sense-Urteile genießen vor allem in der Humanistischen und der Sozialpsychologie einen höheren Stellenwert.62 * * * Im Ganzen gesehen wird das Verhältnis von Common Sense und Philosophie (bzw. Wissenschaft) in der Begriffsgeschichte vor allem als Gegensatzpaar betrachtet. Die Bewertung des Begriffskomplexes ‚Common Sense‘ durch die Philosophie – und durch die Wissenschaft überhaupt – kennzeich61
Vgl. z. B. Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus, Iring Fetscher (Hg.), Hamburg 1979 (1844); Durkheim, Émile: Regeln der soziologischen Methode, René König (Hg.), Darmstadt Berlin 1980 (1895); Spencer, Herbert: First Principles, in: A System of synthetic Philosophy, London 1.1875; Schütz, Alfred/ Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Frankfurt/M. 1979 (1975); für Husserl ist die Lebenswelt Ausgang, Medium und Ziel menschlichen Handelns – vgl. ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (zuerst 1936), in: Husserliana, Walter Biemel (Hg.), Den Haag, Bd. 6, 2 1976, S. 1 ff.; Albersmeyer-Bingen, S. 122 ff.; von der Lühe, S. 655 f.; Grünepütt, S. 673 f.; van Holthoon, S. 179 ff. 62 Vgl. Grünepütt, S. 674; van Holthoon, S. 277 ff.; Siegfried, Jurg (Hg.): The status of common sense in psychology, Norwood 1994; Ledwig, S. 95 ff. Sogar Psychiatrie und Psychopathologie streifen die Common-Sense-Problematik, wenn sie wie im Falle von ‚Schizophrenie‘ und ‚Depersonalisation‘ den Verlust eines gemeinschaftlichen Sinnes untersuchen (vgl. Nakamura, S. 39 ff. sowie Kapitel E. II. 3.).
II. Die Entwicklungsgeschichte
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net aber ein beständiger Wechsel von Distanzierung und Rehabilitierung. In diesem Sinne nimmt die Common-Sense-Problematik einen festen Platz in der Geschichte der Philosophie ein. Viele der Denker, die als Eckpfeiler der Philosophiegeschichte gelten können, haben sich mit ihr auseinander gesetzt. Immer wieder wurde dem Common Sense dabei eine große Bedeutung für die Philosophie bescheinigt. Aufgrund der Begriffsgeschichte lassen sich vier Bedeutungsfelder des Komplexes ‚Common Sense‘ unterscheiden: 1. Der innere, Einheit stiftende Sinn Common Sense als dieser synthetisierende Wahrnehmungssinn ist zum ersten Mal ausführlich bei Aristoteles als koine aisthesis dokumentiert. Die Bedeutungszuweisung dominiert das Verständnis von sensus communis im Mittelalter, von wo ab der ‚sechste Sinn‘ stetig an Bedeutung verliert. Common Sense als dieser innere Sinn steht oft in Zusammenhang mit einem Wahrnehmungs- oder Erkenntnisinstrumentarium aus allen Menschen gemeinsamen Kategorien oder Begriffen. Als zentrales Organ wurde er auch physiologisch lokalisiert – meist in Herz oder Hirn. 2. Der einfache, urteilende Verstand Common Sense als dieser gewöhnliche, empirische Verstand geht oft einher mit der Urteilskraft, der natürlichen Fähigkeit zu urteilen. Manchmal ist auch nur Letztere mit ihm gemeint. Common Sense als dieser gemeine oder gesunde Menschenverstand urteilt u. a. über das Wahre, das Gute, das Schöne und das Zweckmäßige. Er steht in Opposition zur Wissenschaft. Prägend für die Auseinandersetzung mit diesem gemeinschaftlich geteilten durchschnittlichen Verstand waren vor allem der Renaissance-Humanismus und die schottische Common-Sense-Philosophie. Common Sense in diesem Sinne wurde z. T. auch als Intuition oder Instinkt betrachtet. 3. Der Sinn für die Gemeinschaft Common Sense als dieser ‚Gemeinsinn‘ stellt zum einen eine soziale Tugend dar, eine solidarische Gesinnung, einen Sinn für Gemeinwesen und Gemeinwohl. In der Bedeutung einer allgemeinen Rücksichtnahme wurde er sehr einflussreich z. B. von Cicero, Vico, Shaftesbury, Hannah Arendt und Vertretern des Kommunitarismus betrachtet. Zum anderen wird unter dem Common Sense als gemeinschaftlichem Sinn ein allgemeiner Wille der Mitglieder einer Gesellschaft zu einer gemeinsamen, rechtlichen Ordnung
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A. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘
verstanden. Als prominentester Vertreter von Vertragstheorien, welche diesen Allgemeinwillen zur Bedingung des Rechts erheben, gilt Jean-Jacques Rousseau. Beide Gemeinsinne sind als Formen des Zusammenhalts von herausragender moralischer und politischer Bedeutung. Der Gemeinsinn als soziale Tugend lässt sich als Manifestation des Gemeinsinns als gemeinschaftlicher Wille betrachten.63 4. Das gemeinsame Wissen Common Sense in dieser Bedeutung bezeichnet eine Menge überlieferter, erworbener Meinungen, über die jeder normale, einfache Mensch verfügt. Im Sinne solcher Überzeugungen wird der Common Sense vor allem in der angelsächsischen Tradition verstanden. Es wird immer wieder auf die Fehlbarkeit dieser geteilten Auffassungen hingewiesen, ihre Tendenz zu Vorurteil und damit verbundener Unbelehrbarkeit. Aber auch das Entwicklungspotenzial des so verstandenen Common Sense wird gesehen. In übertragenem Sinne lassen sich ebenfalls die ‚ersten‘ angeborenen Wahrheiten und Prinzipien, von denen vor allem in der schottischen Common-SensePhilosophie die Rede ist, dieser Bedeutungsfassette zuordnen. Die Unterscheidung der vier Bedeutungsfelder bedarf einiger Nachsicht. Einerseits sind sie nicht strikt voneinander zu trennen, sondern überschneiden einander hier und da. Andererseits steht die Differenzierung zwar weitgehend im Einklang mit anderen Strukturierungsversuchen64, aber der Bedeutungshof ist zu groß und vieldeutig, als dass es nur eine legitime Einteilung geben könnte. In der Forschungsliteratur wurde vor allem auf die Differenz zwischen Common Sense als Gemeinsinn und als gesunder Menschenverstand hingewiesen. In erster Linie wird dabei der Unterschied zwischen dem moralischpolitischen Sinn (3.) und dem gewöhnlichen Verstand samt seiner Ansichten (2. + 4.) thematisiert.65 Herausgearbeitet wurde aber auch der Unterschied zwischen Gemeinsinn als innerer, ‚sechster‘ Sinn (1.) und gesundem Menschenverstand (2. + 4.).66 Bei Kant ist beides von Bedeutung. In seinem Werk kommen alle vier Bedeutungsnuancen zum Tragen. 63
Vgl. Sutor, Bernhard: Kleine politische Ethik, Bonn 1997, S. 87 ff. Vgl. Körver, S. 15 ff.; Lewis, S. 146 ff.; v. Maydell/Wiehl, S. 244; Kleger: (1. Teil), S. 192 f.; Parret, Herman: Common Sense: From Certainty to Happiness, in: van Holthoon, S. 17 ff.; Hütter, Anton: Moses Mendelssohn. Philosophie zwischen gemeinem Menschenverstand und unnützer Spekulation, Cuxhaven 1990, S. 58 ff.; Nakamura, S. 15 ff.; Tiffany, S. 3 ff.; Rescher, S. 12 f.; common sense, in: Oxford English Dictionary Online. 65 Vgl. z. B. Gadamer; Riedel, Armin; Tiffany. 66 Vgl. Nakamura. 64
B. Der Common Sense bei Kant Bevor untersucht werden kann, welche Bedeutung Kant dem Common Sense für die Wissenschaften und insbesondere für die Philosophie zumisst, muss noch erläutert werden, wonach mit dem Common Sense bei Kant eigentlich zu suchen ist. Dies soll in zwei Schritten erfolgen. Im ersten wird dargestellt, was im Kant’schen Werk unter dem zu verstehen ist, was in dieser Arbeit als Common Sense bezeichnet wird. Dazu werden die wesentlichen Züge dieses Vermögens bei Kant herausgestellt. Einzelne Aspekte finden im weiteren Verlauf der Untersuchung nähere Betrachtung. Im zweiten Schritt wird geklärt, welche Ausdrücke Kant für diesen Begriff verwendet. Weil Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘ sehr undurchsichtig ist, kann ihre Aufhellung so wenig entbehrt werden wie die inhaltliche Bestimmung des Common Sense. Kant nutzt nicht nur eine Vielzahl von Synonymen, ihre Sinnverwandtschaft offenbart sich oft auch erst auf den zweiten Blick. Inhalts- und Verwendungsanalyse sollen zugleich die in der Sekundärliteratur vorhandenen – meist aber stark verkürzten – Definitionsversuche ergänzen und präzisieren.67
I. Definition des Common Sense im Werk Kants Bei Kant zeichnen sich die drei einander überlappenden Bedeutungsfassetten ‚natürliche Einfachheit‘, ‚starker Erfahrungsbezug‘ sowie ‚allgemeine Verfassung und Verbreitung‘ deutlich ab. Der Common Sense begegnet bei ihm als gewöhnlicher und unkultivierter Normalverstand, nüchterner und 67 Vgl. Körver, S. 212 ff.; Holzhey, Helmut: Kants Erfahrungsbegriff. Quellengeschichtliche und bedeutungsanalytische Untersuchungen, Basel Stuttgart 1970, S. 296 ff.; Tiffany, S. 157 ff.; Hinske, Norbert: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie, in: Raffaele Ciafardone (Hg.): Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Stuttgart 1990, S. 434 ff.; von der Lühe, S. 648 ff.; v. Maydell/Wiehl, S. 243 ff.; Gemeinsinn; Menschenverstand, gesunder; Verstand, gemeiner, gesunder, in: Eisler, Rudolf: Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichen Nachlaß, ND Hildesheim 2002 (1930), S. 182, 352, 583; Gemeinsinn, Menschenvernunft, Menschenverstand, Verstand, in: Mellin, Georg S. A.: Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, ND Aalen 1970 f. (1799 ff.), Bd. 2, S. 856 f., Bd. 4, S. 243 ff., Bd. 6, S. 19 ff.; Ratke, Heinrich: Systematisches Handlexikon zu Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Hamburg 1991, S. 295; common sense, in: Caygill, Howard: A Kant dictionary, Oxford 1995, S. 114 f.
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B. Der Common Sense bei Kant
pragmatischer Erfahrungsverstand sowie gleich verteilter und pluralistischer Jedermannsverstand.68 Die Bedeutung des Normalverstandes hat der Common Sense bei Kant, wenn der gewöhnliche Charakter dieses Vermögens gemeint ist, seine einfache und unkomplizierte Art (vgl. z. B. 4:404, 16:12 ff.69). Der Common Sense ist weder gebildet noch kultiviert. Er ist der „gemeine Menschenverstand, den man als bloß gesunden (noch nicht cultivirten) Verstand für das Geringste ansieht, dessen man nur immer sich von dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen kann“ (5:293, vgl. 7:169).
Er ist ein kleiner, aber guter Verstand – minimal, aber brauchbar (vgl. 4:259 f., 16:12 ff., 16:24, 28:1238). So lange er „nicht durch falsche Kunst verwirrt“ wird und der Versuchung widersteht auszuschweifen, führt er unmittelbar „zum Wahren und Nützlichen“ (2:65, vgl. 4:259, 15:324 f., 18:30). Über einen solchen „geraden“, „schlichten“ Verstand zu verfügen, ist „eine große Gabe des Himmels“ (4:259). Common Sense als „gemeines“ Vermögen basiert auf angeborenen Verstandesregeln, dem Mutterwitz (vgl. 7:139, 24:299, 24:494). Deshalb nennt ihn Kant auch einen natürlichen Verstand (vgl. z. B. 2:65, 7:199, 9:17). Obwohl er zunächst auch vieles nachahmt, kann er nicht erlernt werden. Er wird erhalten und erweitert durch seinen häufigen Gebrauch. (Vgl. 24:16 f.) Wie dieser gewöhnliche Verstand selbst ist, so sind auch seine Urteile: direkt, klar und deutlich (vgl. 16:13, 16:24, 24:19, 24:313). Sie werden unmittelbar, ohne großes Nachdenken getroffen. Der Common Sense hat einen vorausgehenden Charakter, er stellt ein Vorverständnis dar. Bei der Urteilsbildung befolgt er Regeln, denen er sich nicht bewusst ist. Deshalb kann er seine Urteile nicht schlüssig begründen. Er löst Aufgaben, ohne den Lösungsweg angeben zu können. (Vgl. 4:259, 7:140, 9:11, 9:17 ff., 16:13, 16:17 f., 16:24, 24:20 ff., 24:312.) Aber auch ohne System und Beweis zeichnet ihn in der Regel eine große Urteilssicherheit aus (vgl. z. B. 4:404, 5:27, 9:79). Deshalb ist dieser Normalverstand prädestiniert für erste Einsichten, für ‚vorläufige Urteile‘ – leitende Hypothesen, Orientierung gebende Annahmen (vgl. 9:66 f., 9:74 f., 15:233; A:642 ff./B:670 ff.). Die Schattenseite dieser Befähigung bildet sein Hang zum Vorurteil. Einerseits neigt er dazu, sich fremde Mehrheitsmeinungen ohne Hinterfragen anzueig68 Vgl. Nehring, Robert: Menschenverstand, gesunder/gemeiner, in: Kant-Lexikon, Georg Mohr/Jürgen Stolzenberg/Marcus Willaschek (Hg.), Berlin/New York 2010 [in Vorb.]. 69 Auf die Titel der Veröffentlichungen wird aus Platzgründen und wegen ihrer geringen Bedeutung im Kontext von Kapitel B. weitgehend verzichtet.
I. Definition des Common Sense im Werk Kants
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nen. Andererseits hält er an diesen wie an den selbst erlangten Überzeugungen mit großer Beharrlichkeit fest. Kant kritisiert in diesem Zusammenhang z. B. die Vorliebe des Common Sense für Sprichwörter. (Vgl. 6:478, 7:222, 9:66 f., 9:74 ff., 15:181, 16:405, 24:866 ff.) Der Common Sense steht bei Kant als natürlicher, einfacher, gewöhnlicher, unkultivierter Verstand vielfach in Opposition zum künstlichen, feinen, höheren, gelehrten Verstand (vgl. 2:269, 4:369 ff.). Zum einen wird die Untauglichkeit des Normalverstandes zu Wissenschaft und „subtiler Speculation“ betont (B:XXXII, vgl. 9:79, 24:551): Der gewöhnliche Verstand ist für Kant nicht zu abstraktem Denken geeignet. Er verfährt nicht nach „studirten und künstlich aufgestellten Principien (dem Schulwitz)“ (7:139 f.). Ihm kommen weder „Witz“ noch „Scharfsinn“ zu (vgl. 7:201). Alles Gründliche, erst recht Pedantische ist ihm fremd (vgl. 15:180, 16:213, 24:20, 24:23). Seine Erkenntnisse sind weder tiefgründig noch hochtrabend, sondern leicht und trivial. Er übersieht im Groben und verfolgt keine höheren Ansprüche. Der Common Sense steht also in starkem Gegensatz zur „Gelehrsamkeit“ (vgl. 9:78 f., 15:173, 16:13 ff.). Zum anderen heißt es aber: „Der gesunde Verstand ist nöthiger als die Wissenschaft und durch sie nicht zu erwerben.“ (15:325). Außerdem kann man ihn „nicht durch Wissenschaft ersetzen“ (16:15, vgl. 15:183). „Leute von Wissenschaft“ sind ‚helle Köpfe‘ (vgl. 7:139). Laut Kant sollten diese darunter aber „das Talent einer lichtvollen, der Fassungskraft des gemeinen Verstandes angemessenen Darstellung abstracter und gründlicher Erkenntnisse“ (9:62) verstehen. Und auch wenn der natürliche Grundverstand in der Theorie keine höhere Intelligenz offenbart – Dummheit definiert Kant als den Mangel an Common Sense (vgl. 15:223, 24:544). Als Erfahrungsverstand kennzeichnet den Common Sense bei Kant in erster Linie seine starke Praxisorientierung. Er vertraut der Erfahrung, sie ist ihm ein unentbehrlicher Maßstab. Der Common Sense folgt dem Grundsatz, allem zu misstrauen, was der Erfahrung widerspricht, z. B. Zauberei oder Schwärmerei (vgl. 15:181, 16:38, 25:547 ff.). Seine Urteile gelten als richtig, wenn sie mit den Gesetzen der Erfahrung übereinstimmen und von Selbstkritik in Schranken gehalten werden. Nur unter diesen Voraussetzungen versteht Kant den gemeinen als gesunden Verstand. (Vgl. 4:259, 4:369, 24:18, 24:503, 24:508, 24:795, 28:243 f.) Und auch die gemeine Vernunft ist nur dann eine gesunde, wenn „die Erfahrung den Beweis von der Richtigkeit dieser Erkenntnißkraft machen kann“ (28:243 f., vgl. 15:181, 15:306, 24:798, 25:158 f., 25:548, 28:300). Der Common Sense geht von der Erfahrung aus, dem Konkreten, Besonderen, dem Fall. Aus dieser Perspektive beurteilt er auch das Erfahrungsunabhängige, Abstrakte, Allgemeine, die Regel oder das Gesetz:
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B. Der Common Sense bei Kant
„Gesunder Verstand ist das Vermögen, nach Gesetzen der Erfahrung zu urtheilen. oder von der Erkentnis in concreto zu der in abstracto oder vom besonderen zum allgemeinen zu steigen.“ (16:14, vgl. 24:312). „Der sensus communis macht allgemeine Gesetze aus einzelnen Erfahrungen und subsumirt auch nur in proportion der Erfahrungen, von denen er sie abstrahirt hat.“ (16:16).
Als empirisch-praktischer Verstand (vgl. 15:165, 15:712) urteilt der Common Sense anschaulich, bedarf aber auch der Anschaulichkeit. Ein allgemeines Gesetz begreift er nur durch bildliche Vorstellung: „So wird der gemeine Verstand die Regel, daß alles, was geschieht, vermittelst seiner Ursache bestimmt sei, kaum verstehen, niemals aber so im allgemeinen einsehen können. Er fordert daher ein Beispiel aus Erfahrung, und wenn er hört, daß dieses nichts anders bedeute, als was er jederzeit gedacht hat, wenn ihm eine Fensterscheibe zerbrochen oder ein Hausrath verschwunden war, so versteht er den Grundsatz und räumt ihn auch ein.“ (4:369 f.; vgl. 24:19, 24:23, 24:312 f., 25:155 f., 25:359, 25:538).
Der Common Sense entlehnt allgemeine Regeln ihrem konkreten Gebrauch. Zur Beantwortung einer Frage von allgemeiner Art stellt er sich einen praktischen Fall vor und überlegt, wie er in dieser Situation geurteilt hat oder hätte. Durch seine große Erfahrungsnähe erweist sich der Common Sense als sehr kompetent in der konkreten Anwendung von Regeln. Er urteilt zielorientiert, sieht aufs Nützliche, Angemessene, Zweckmäßige (vgl. 2:65, 7:198, 16:14, 24:19). Deshalb ist er hervorragend geeignet, den Alltag pragmatisch zu meistern. Das gewöhnliche Leben ist die Domäne dieses ‚Hausverstandes‘. (Vgl. 2:269, 2:311, 4:259, 7:139 f., 7:197, 25:361.) Aber auch die Wissenschaft kann vom nüchternen Realitätssinn des anwendungsklugen Common Sense profitieren: „Gesunder Verstand wird also zur [appli] Anwendung des allgemeinen auf besondere Fälle, also auch zu allem practischen in den Wissenschaften und dem gemeinen Leben erfodert.“ (16:24).
Kant verwendet für den Common Sense in seiner Funktion als praktischer Anwendungsverstand auch den Ausdruck ‚Urteilskraft‘. Der Common Sense wird wesentlich als empirisch-reflektierende Urteilskraft charakterisiert. (Vgl. 5:169, 11:346, 15:712, 16:14, 16:139.) In Logik werden mit den Schlussarten der reflektierenden Urteilskraft Induktion und Analogie zwei typische Verfahren des Common Sense vorgestellt (vgl. 9:132, 24:771 f.). Der Common Sense urteilt generell häufig vergleichend. Er bestimmt Entfernungen nicht präzise auf 9,12 m und 473 m, sondern beurteilt sie als ‚nah‘ oder ‚fern‘. Zum Vergleich bildet er oft einen Erfahrungsdurchschnitt. An einer solchen ‚mittleren Größe‘ aus allen bekannten Fällen orientiert er sich z. B. zur Beurteilung von menschlichen Körpergrößen als ‚groß‘ oder ‚klein‘. (Vgl. 16:16, 24:18 f., 24:629.)
I. Definition des Common Sense im Werk Kants
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Eine weitere Methode des Common Sense als Erfahrungsverstand beschreibt Kant als „Versuch und Erfolg“. Mit diesem Verfahren stellt der Common Sense seine Urteile auf die Probe, findet Bestätigung oder Anlass zur Selbstkorrektur (vgl. 7:140). Der Common Sense steht auch mit seinen Eigenschaften als empirischer Verstand im Gegensatz zum spekulativen Verstand, den vor allem Wissenschaftler benötigen. Gemeiner Verstand „ist das Vermögen der Erkenntniß und des Gebrauchs der Regeln in concreto zum Unterschiede des speculativen Verstandes, welcher ein Vermögen der Erkenntniß der Regeln in abstracto ist.“ Er hat „weiter keinen Gebrauch, als so fern er seine Regeln (obgleich dieselben ihm wirklich a priori beiwohnen) in der Erfahrung bestätigt sehen kann; mithin sie a priori und unabhängig von der Erfahrung einzusehen, gehört vor den speculativen Verstand“ (4:369 f., vgl. 9:19).
Spekulativer Verstand urteilt a priori, gemeiner Verstand a posteriori. Dennoch sind beide auf ihre Art nützlich: „Meißel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radirnadel brauchen. So sind gesunder Verstand sowohl als speculativer beide, aber jeder in seiner Art brauchbar: jener, wenn es auf Urtheile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden, dieser aber, wo im Allgemeinen, aus bloßen Begriffen, geurtheilt werden soll“ (4:259 f.).
Auch als Jedermannsverstand umfasst der Common Sense bei Kant mehrere Aspekte. Es sind zwei Hauptbedeutungen dieses gemeinschaftlichen Verstandes zu unterscheiden. Charakteristisch ist erstens, dass jeder über dieses Vermögen verfügt, und zweitens, dass es die Urteile der anderen berücksichtigt. Hinsichtlich seiner allgemeinen Verbreitung ist der Common Sense als Vermögen gekennzeichnet, über das die meisten Menschen in gleich ausgeprägter Form verfügen (vgl. 24:18). Jeder glaubt auch, ihn zu besitzen, und er wird allenthalben von jedermann gefordert (vgl. 24:189, 25:155 ff., 25:538). Common-Sense-Urteile bezeichnet Kant u. a. als die der Menge oder der Masse, des Pöbels oder des gemeinen Haufens (vgl. 4:259, 7:140, 16:145, 16:420, 24:549). An anderen Stellen bringt er ihnen Hochschätzung entgegen (vgl. z. B. 9:79, 20:44). Allgemein verbreitet ist der Common Sense einerseits als Verstand im Sinne einer Befähigung – der gemeinsamen Fähigkeit zu begreifen, zu urteilen und zu schließen. Er verbirgt sich z. B. hinter der allgemeinen Menschenvernunft, „worin ein jeder seine Stimme hat“ (A:752/B:780). Andererseits ist er allgemein verbreitet im Sinne von gemeinsamem Wissen, welches Resultat des Common Sense als Verstandesfähigkeit sein kann. Zu solchen kollektiven Ansichten zählt Kant etwa die Existenz Gottes (vgl. z. B. 17:563, 18:14). Gemeinsam geteilte Überzeugun-
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B. Der Common Sense bei Kant
gen wie diese können sich für ihn auch in Sprichwörtern manifestiert haben (vgl. 7:222, 9:77, 15:181, 24:866 ff.). In Bezug auf das Berücksichtigen der Urteile anderer unterscheidet Kant zwischen aposteriorischem und apriorischem Common Sense. Als empirischer Verstand orientiert sich der Common Sense an der gängigen Meinung. Er folgt dem Vorsatz, sich in einen allgemeinen Standpunkt zu versetzen bzw. „in allen seinen Gedanken und Urtheilen zugleich auf das allgemeine Urtheil anderer Rücksicht“ zu nehmen (16:38, vgl. 5:294 f.). Als apriorischer Gemeinsinn dagegen bezeichnet er ein erfahrungsunabhängiges ‚Gefühl‘ der Übereinstimmung mit den möglichen Urteilen der anderen. Unter dieser „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes“ versteht Kant ein Urteilsvermögen, „welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt“. (Vgl. 5:293 f.) Der Common Sense als Jedermannsverstand stellt für Kant auch ein Kriterium geistiger Gesundheit dar. Verrückten mangelt er. Common Sense als Verstand, der zu seinem Urteil mehrere Blickwinkel einnimmt, fällt keine bloßen Privaturteile. Er steht als pluralistisches Vermögen im Gegensatz zum Egoismus. (Vgl. 7:128 ff., 7:219, 7:203, 7:140, 16:13 f.) Die drei charakterisierten Sinnbezirke ergeben zusammengenommen ein gutes und brauchbares Bild vom Common Sense bei Kant. Es gewinnt noch an Schärfe durch einen kurzen Blick darauf, was der Common Sense dort z. B. nicht ist. Wie später noch genauer gezeigt wird, ist er kein Sinn, kein Gefühl, kein Instinkt und keine Intuition. Was den empirisch urteilenden Common Sense betrifft, lässt Kant hieran keinen Zweifel. Der aposteriorische Common Sense ist Verstand. Er ist rational. Er urteilt nach Begriffen und – insofern er auf Nachvollziehbarkeit, konkrete Erfahrung und das Urteil der anderen verweisen kann – handfest. Was den apriorischen Common Sense betrifft, kann vor allem in Hinblick auf die Kritik der ästhetischen Urteilskraft zunächst ein anderer Eindruck entstehen. Diese Art des Common Sense bezeichnet Kant in der Regel als ‚Sinn‘: Gemeinsinn, sensus communis, gemeinschaftlicher Sinn etc. Als Sinn ist er jedoch nur in übertragener Bedeutung zu verstehen. Es handelt sich um ein Prinzip der Urteilskraft, eine Idee von einem Reflexionsakt, in dem von Privatbedingungen abstrahiert wird. Da er ein reflektierendes Vermögen darstellt, darf auch der apriorische Common Sense nicht auf Gefühl, Instinkt oder Intuition reduziert werden. Der Common Sense ist in Kants Terminologie vor allem gemeine/gesunde Erkenntnis – als Verstand, als Urteilskraft und als Vernunft. (Vgl. 5:205 f., 5:238 f., 5:244, 5:293 ff., 7:145, 15:676, 16:160, 24:316, 28:243 f.) Die Ergebnisse dieser inhaltlichen Analyse des Begriffs ‚Common Sense‘ bei Kant decken sich in den wesentlichen Punkten mit den in Kapitel A. I.
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘
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herausgearbeiteten Merkmalen. Was Kant unter gemeiner Verstand, allgemeine Menschenvernunft, sensus communis etc. versteht, entspricht also weitgehend dem, was gesundem Menschenverstand und common sense heute zugeschrieben wird.
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘ Zu den wichtigsten der vielen Synonyme für Common Sense zählen bei Kant: ‚allgemeiner Verstand‘ (vgl. z. B. 25:77770), ‚gemeiner Verstand‘ (vgl. z. B. 2:29, A:830 f./B:858 f., 4:369 f., 9:78 f., 24:17 ff., 24:312 ff., 25:538), ‚gesunder Verstand‘ (vgl. z. B. 2:80, 2:269, 2:325, 4:259 f., 4:369 f., 5:169, 5:295, 16:13 ff., 24:18 ff., 25:155 ff., 25:358 ff., 25:538, 25:774), ‚natürlicher Verstand‘ (vgl. z. B. 16:790, 24:16, 25:54471), ‚gemeinschaftlicher Verstand‘ (vgl. 25:1013), ‚Alltagsverstand‘ (vgl. 25:1049); ‚allgemeine Vernunft‘ (vgl. 15:39272), ‚gemeine Vernunft‘ (vgl. z. B. 2:124, A:855/B:883, 4:404, 5:91, 17:557, 24:17 ff.), ‚gesunde Vernunft‘ (vgl. z. B. 2:15 f., 2:289, A:855/B:883, 4:313 f., 15:178 ff., 16:16 f., 24:17 ff., 25:158 f., 25:360 f., 25:548 ff., 25:1049 ff., 28:300), ‚natürliche Vernunft‘ (vgl. z. B. A:382, A:626/B:654, 7:61); ‚allgemeiner Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:278, 9:19, 24:628, 24:833, 25:1013, 25:1095), ‚gemeiner Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:259, 4:370 f., 4:404, 5:91, 5:293 ff., 9:57, 24:832 f., 27:625), ‚gesunder Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:369 ff., 7:139, 7:169, 9:163, 15:173, 25:1012), ‚gerader und schlichter Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:259, 8:133); ‚allgemeine Menschenvernunft‘ (vgl. z. B. B:XXXVIII f., B:22, A:752/B:780, 4:257, 4:277, 6:165, 18:266, 18:457, 24:833, 25:881), ‚gemeine Menschenvernunft‘ (vgl. z. B. A:623/B:651, 4:402 ff., 4:454, 5:155, 6:479, 7:295), ‚gesunde Menschenvernunft‘ (vgl. 5:443), ‚natürliche Menschenvernunft‘ (vgl. 5:91, 7:66, 18:325), ‚gemeinschaftliche Menschenvernunft‘ (vgl. 8:219, 24:552); ‚gemeine Erkenntnis‘ (vgl. z. B. A:832/B:860, 9:27, 9:72, 16:8); ‚allgemeiner Sinn‘ (vgl. z. B. 15:836, 28:249), ‚gemeiner Sinn‘ (vgl. 5:294, 16:159), ‚gemeinschaftlicher Sinn‘ (vgl. z. B. 5:293 f., 15:810 f., 28:249), ‚allgemeingültiger Sinn‘ (vgl. 28:249), ‚gemeingültiger Sinn‘ (vgl. 15:693, 16:160, 28:249), ‚allgemeiner Menschensinn‘ (vgl. 70 Der ‚allgemeine Verstand‘ wird zugleich im Sinne von ‚im Allgemeinen‘, ‚im allgemeinen Sprachgebrauch‘ oder ‚gewöhnlich‘ verwendet (vgl. 2:177, 28:221, 28:240). Erweitert zu ‚allgemeiner menschlicher Verstand‘ wird der Bezug zum Common Sense deutlicher (vgl. 2:334). 71 Den ‚natürlichen Verstand‘ bezeichnen auch ‚natürlicher gemeiner Verstand‘ (vgl. 2:65, 15:223) und ‚natürlicher gesunder Verstand‘ (vgl. 2:159, 4:397). 72 Die ‚allgemeine Vernunft‘ begegnet auch erweitert zur ‚allgemeinen menschlichen Vernunft‘ (vgl. 10:55, 17:596 f.) und ‚allgemeinen praktischen Vernunft‘ (vgl. 4:431).
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B. Der Common Sense bei Kant
5:356), ‚gemeiner Menschensinn‘ (vgl. 7:145), ‚Gemeinsinn‘ (vgl. z. B. 5:238, 5:293, 7:139, 7:169); ‚sensus communis‘ (vgl. z. B. 1:392, 5:238, 5:293 ff., 7:139, 7:145, 9:17, 9:56 f., 16:14 ff., 16:144, 24:189, 24:312, 24:696, 25:1013, 25:1095), ‚sensus communis aestheticus‘ (vgl. 5:295), ‚sensus communis logicus‘ (vgl. 5:295), ‚sensus vulgaris‘ (vgl. 16:144, 24:503, 25:1012), ‚intellectus communis‘ (vgl. z. B. 2:395, 2:418, 16:144, 24:503), ‚recta ratio‘ (vgl. z. B. 1:388, 1:394, 1:403, 15:917), ‚sana ratio‘ (vgl. 1:407, 1:409, 2:401); ‚bon sens‘ (vgl. z. B. 7:139, 11:346, 15:811, 16:14, 24:312, 25:1012), ‚sens commun‘ (vgl. 15:353, 24:21, 24:189, 24:312, 24:867, 28:6) und ‚Urteilskraft‘ (vgl. 5:169, 5:293, 16:139). Diese Ausdrücke bezeichnen bei Kant im weiteren Sinne dasselbe Vermögen – den Common Sense, wie er in dieser Arbeit verstanden wird. Im engeren Sinne bestehen zwischen ihnen formale und inhaltliche Unterschiede von verschiedener Relevanz. Geringere Bedeutung kommt den folgenden Aspekten zu. Die genannten Begriffe begegnen bei Kant in verschiedenen Schreibweisen: ‚Menschenverstand‘ als ‚Menschen Verstand‘, ‚Vernunft‘ als ‚Vernunfft‘ etc. Übereinstimmungen liegen auch vor, wenn Kant vom ‚Gebrauch‘ des jeweiligen Vermögens spricht: Gemeine(r) oder natürliche(r) Verstand bzw. Vernunft sind auch dann gemeint, wenn vom gemeinen oder natürlichen Gebrauch des Verstandes oder der Vernunft die Rede ist (vgl. 9:27, 5:52, 9:17, A:635/ B:663). Zur Betonung des Gewöhnlichen steigert Kant ‚gemein‘ manchmal zu ‚gemeinst‘, etwa beim gemeinen Verstand (vgl. z. B. 2:117, A:831/B:859, 4:391, 5:27, 5:442) oder der gemeinen Menschenvernunft (vgl. 4:411, 4:456, 5:87, 5:448, 8:286). Auch die Erweiterung von ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ zu ‚Menschenverstand‘ und ‚Menschenvernunft‘ geht in diesem Kontext mit keiner relevanten inhaltlichen Differenzierung einher. Es wird lediglich unterstrichen, dass jeder über dieses Vermögen verfügt. Prinzipiell betont im Begriffsfeld ‚Common Sense‘ ‚allgemein‘ das Gemeinschaftliche, ‚gemein‘ das Gewöhnliche und Erfahrungsnahe, ‚gesund‘ das Richtige und ‚natürlich‘ das Angeborene und Unverdorbene. In all diesen Fällen bleibt die Bedeutungsverwandtschaft der Ausdrücke unangetastet. Von großer Bedeutung ist dagegen der Unterschied, den Kant zwischen sensus communis als aposteriorischer gemeiner Verstand und sensus communis als apriorischer Gemeinsinn in Gestalt des sensus communis aestheticus macht (vgl. 5:237 ff., 5:293 ff.). Wie noch zu zeigen sein wird, ist aber nicht nur ihre Verschiedenheit, sondern auch ihre enge Verwandtschaft überaus relevant. Bedeutsam ist ebenfalls der Unterschied zwischen sensus communis und sensus vulgaris. Der sensus communis bezeichnet in diesem Zusammenhang den achtenswerten einfachen, konkreten, gemeinschaftlichen Verstand, von
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘
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dem richtige Urteile erwartet werden. Der sensus vulgaris stellt den verachteten einfachen, konkreten, gemeinschaftlichen Verstand dar, der zum Irrtum neigt. Trotz dieser Differenz handelt es sich bei beiden Ausdrücken um Gestalten des Common Sense. (Vgl. 5:293 ff., 7:139, 15:811, 24:503, 25:1012, 25:1301.) Außerdem darf der sensus communis bei Kant nicht mit dem sensorium commune verwechselt werden. Dieser „gemeinsame Empfindungsplatz“, ein Schnittpunkt der Nervenbahnen, spielt als physisches Organ eine wichtige Rolle in der mit Soemmerring geführten Diskussion über den Sitz der Seele im Gehirn (vgl. z. B. 12:31 ff., 2:339, 7:216, 28:282; Kapitel E. II. 3.). Im Umfeld des sensus communis verwendet Kant auch den Begriff ‚innerer Sinn‘. In der dritten Kritik ist mit ihm offenbar die vorbegriffliche subjektive Einheit der Erkenntnisvermögen gemeint (vgl. 5:218, 5:228). In der ersten Kritik begegnet der Terminus häufiger. Er ist dort in Entgegensetzung des äußeren (Raum-)Sinnes definiert als Sinn der Zeit, welcher die subjektive Einheit des Bewusstseins herstellt, als „Inbegriff, darin alle unsre Vorstellungen enthalten sind“, als ein Drittes, das die Synthese zweier Begriffe ermöglicht (vgl. A:22/B:37, A:107, B:139, A:155/B:194; 7:161 f.). Von Gundula Felten wurde auf eine vergleichbare Funktion von innerem Sinn und Gemeinsinn hingewiesen.73 Für eine Identifikation fehlen bei Kant aber die klaren Hinweise. Abgesehen von solchen Unterschieden zeichnen sich vier Grundtypen des Common Sense ab. Kant macht zwischen ihnen Bedeutungsunterschiede, berücksichtigt diese in seiner Wortwahl aber nicht immer. Der gemeine Verstand (1) ist ein gewöhnliches, durchschnittliches, aber sehr nützliches Vermögen (vgl. z. B. 24:19; 9:57). Er urteilt klar und deutlich und sieht offenbare Wahrheiten leicht ein (vgl. 24:313; 2:29, 2:65). Der gemeine Verstand ist „das Vermögen, die Regeln des Erkenntnisses in concreto einzusehen“ (9:19, vgl. 4:369, 15:171, 24:754). Er urteilt, wie sich etwas konkret, in der Erfahrung, verhält. Welche erfahrungsunabhängigen Regeln dabei greifen, bleibt ihm verborgen (vgl. 16:18). Er ist sehr auf anschauliche Beispiele angewiesen (vgl. 4:369 f., 24:312 ff., 25:538). Allgemeine Erkenntnisse entlehnt er den besonderen (vgl. 16:18; 15:325, 24:312 f.). „Gemeiner Verstand hat also weiter keinen Gebrauch, als so fern er seine Regeln (obgleich dieselben ihm wirklich a priori beiwohnen) in der Erfahrung bestätigt sehen kann; mithin sie a priori und unabhängig von der Erfahrung einzusehen, gehört vor den speculativen Verstand und liegt ganz außer dem Gesichtskreise des gemeinen Verstandes.“ (4:370). 73 Vgl. Felten, Gundula: Die Funktion des „sensus communis“ in Kants Theorie des ästhetischen Urteils, Paderborn 2003, S. 183.
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B. Der Common Sense bei Kant
Der gemeine Verstand wird bei den meisten in gleichem Maße angetroffen. Er nimmt auf das allgemeine Urteil der anderen Rücksicht, indem er den Durchschnitt der tatsächlich vorhandenen Meinungen bildet (vgl. 16:38 f., 24:18 f.). Für den gemeinen Verstand im engeren Sinne verwendet Kant auch die Ausdrücke ‚allgemeiner Verstand‘ (vgl. z. B. 25:777; 2:177, 2:334), ‚natürlicher Verstand‘ (vgl. z. B. 16:790, 24:16; 2:65, 7:213 f., 15:223), ‚gemeinschaftlicher Verstand‘ (vgl. 25:1013), ‚allgemeiner Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:278, 9:19, 25:1013, 25:1095), ‚gemeiner Menschenverstand‘ (vgl. z. B. B:XXXII, 4:259, 4:370 f., 4:404, 5:91, 5:293 ff., 9:57, 24:832 f., 27:625), ‚gerader und schlichter Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:259), ‚gemeine Erkenntnis‘ (vgl. z. B. A:832/B:860, 9:27, 9:72, 16:8), ‚allgemeiner Sinn‘ (vgl. z. B. 28:249), ‚gemeiner Sinn‘ (vgl. 5:294, 16:159), ‚gemeinschaftlicher Sinn‘ (vgl. z. B. 5:293 f., 15:810 f., 28:249), ‚allgemeingültiger Sinn‘ (vgl. 28:249), ‚gemeingültiger Sinn‘ (vgl. 15:693, 16:160, 28:249), ‚allgemeiner Menschensinn‘ (vgl. 5:356), ‚gemeiner Menschensinn‘ (vgl. 7:145), ‚Gemeinsinn‘ (vgl. z. B. 5:238, 5:293, 7:139, 7:169)74, ‚sensus communis‘ (vgl. z. B. 5:238, 9:56 f., 16:15 ff., 24:312, 25:1013, 25:1095), ‚sensus communis logicus‘ (vgl. 5:295), ‚sensus vulgaris‘ (vgl. z. B. 7:139, 24:503, 25:1012, 25:1301), ‚intellectus communis‘ (vgl. z. B. 2:418, 16:144, 24:503) und ‚sens commun‘ (vgl. z. B. 24:21, 24:312). Der gesunde Verstand (2) ist „der gemeine Verstand, so fern er richtig urtheilt“, d.h. mit der Erfahrung übereinstimmt (4:369, vgl. 15:173, 24:18 ff., 24:503, 24:508, 24:795, 28:243 f.). Der gesunde Verstand steht für den gemeinen Verstand, so lange dieser von (selbst)kritischer Vernunft begleitet wird (vgl. 4:259, 15:174). Unter dieser Bedingung kommen dem gesunden Verstand alle Eigenschaften des gemeinen Verstandes zu. Der gesunde Verstand ist ebenfalls „empirisch und practisch“ (15:165, vgl. 16:14 ff., 24:21, 25:155 ff., 25:358 ff.) und „bemerkt oft die Wahrheit eher, als er die Gründe einsieht, dadurch er sie beweisen oder erläutern kann“ (2:325). Indem er die „Angemessenheit der Begriffe zum Zwecke ihres Gebrauchs enthält“, ist er „unter den intellectuellen Vermögen das erste und Vornehmste: weil er mit den wenigsten Mitteln seinem Zweck ein Gnüge thut“ (7:198). Aufgrund seiner Anwendungskompetenz ist der gesunde Verstand auch entscheidend 74 ‚(All)gemeiner (Menschen)Sinn‘, ‚gemeinschaftlicher Sinn‘ und ‚(all)gemeingültiger Sinn‘ begegnen fast ausschließlich im Geschmackskontext. Sie stehen, obwohl sie auch als Synonyme für den apriorischen Gemeinsinn verstanden werden könnten, ebenfalls für den aposteriorischen gemeinen Verstand. Mit ihnen ist noch nicht die Idee des sensus communis als Harmonie von Gemütskräften gemeint, sondern ein in Gesellschaft erworbener (empirischer) Common Sense hinsichtlich des Schönen, in welchem jene wirksam ist. Analog betrachtet Kant den empirischen Common Sense auch als Sinn für Wahrheit, Gerechtigkeit etc. (vgl. 5:293).
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘
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als Urteilskraft gekennzeichnet: „Verstand, mit Urtheilskraft verbunden, heißt, wenn die letztere vorzüglich ist, gesunder Verstand.“ (15:712, vgl. 5:169, 11:346, 16:139, 25:774; 4:259 f., 7:139 f., 16:24). Für den gesunden Verstand nutzt Kant auch die Formulierungen ‚gemeiner (und) gesunder Verstand‘ (vgl. 5:293, 5:478, 7:58, 7:201, 24:19, 24:23 f., 24:189, 24:927, 25:538), ‚natürlicher (gesunder) Verstand‘ (vgl. z. B. 2:159, 4:397), ‚gesunder Menschenverstand‘ (vgl. z. B. 4:369 ff., 7:139, 15:173, 29:35), ‚Alltagsverstand‘ (vgl. 25:1049) und ‚bon sens‘ (vgl. z. B. 7:139, 16:14, 24:312). ‚Gemeinsinn‘ und ‚sensus communis‘ werden ebenfalls als Synonyme für ‚gesunder Verstand‘ gebraucht, der Unterschied zwischen gemeinem und gesundem Verstand wird dabei allerdings vernachlässigt (vgl. z. B. 5:293, 7:139, 7:169; 5:295, 7:139, 7:169, 16:420). Die gemeine Vernunft (3) schließt von der Erfahrung aufs Allgemeine (vgl. 16:16, 24:18, 24:312 f.). Sie folgt also ebenfalls Erfahrungsgesetzen. Kant verwendet die gemeine Vernunft oft im Zusammenhang mit Irrtum, Täuschung und Vorurteil. Sie stellt die unterste Stufe der Vernunft dar (vgl. 24:18). Statt nach natürlichen, eigenen Regeln zu verfahren, folgt sie konkreten, aber – anders als gemeiner/gesunder Verstand sowie gesunde Vernunft – häufig künstlichen, d.h. fremden, erlernten, imitierten Regeln (vgl. 16:27, 24:16 f.). Besonders hingezogen fühlt sie sich z. B. zu Sprichwörtern – zu Formeln gewordenen Gedanken, die durch „Nachahmung“ weitergegeben werden (vgl. 7:222, 9:77, 15:181, 16:405, 24:866 ff.). Neben ihrem ausgeprägten Hang, sich auf fremde Vernunft zu verlassen, neigt die gemeine Vernunft zur Selbstüberschätzung. Schnell geht sie von ihrer sinnlichen Wahrnehmung und den Erfahrungsgesetzen ab und verwickelt sich in Widersprüche (vgl. A:855/B:883, 4:404). Diesen Fehlerrisiken ist sie vor allem als theoretisches Urteilsvermögen ausgesetzt (vgl. A:500/B:528, A:617/B:645, A:725/B:753, A:855/B:883, 29:776). Als praktisches Urteilsvermögen wird sie positiv bewertet, in dem Sinne, dass selbst sie in moralischen Fragen zu richtigen Urteilen fähig ist (vgl. 5:91; 4:403, 4:454, 5:155). Trotz ihrer Anfälligkeit für Fehlurteile verfügt die gemeine Vernunft über zahlreiche Vorzüge. Wie bei gemeinem und gesundem Verstand zählen zu diesen Einfalt, Richtigkeit, Brauchbarkeit, Leichtigkeit, Klarheit und Lebhaftigkeit (vgl. 24:19; 16:13 f., 16:24, 24:22 f., 24:313). Vom gemeinen Verstand unterscheidet die gemeine Vernunft, dass sie nach Gesetzen der Erfahrung schließt, er nach ihnen urteilt (vgl. 24:18). Die gemeine Vernunft begegnet auch als ‚(all)gemein(st)e praktische Vernunft‘ (vgl. 4:405, 4:431, 5:91, 20:446) oder ‚praktische gemeine Vernunft‘ (vgl. 4:405). Ihr zuordnen lassen sich ebenfalls ‚allgemeine Vernunft‘ (vgl. 15:392), ‚allgemeine Menschenvernunft‘ (vgl. z. B. B:XXXVIII f., B:22, A:752/B:780, 4:257, 4:277, 6:165) und ‚gemeinschaftliche Menschenver-
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B. Der Common Sense bei Kant
nunft‘ (vgl. 8:219, 24:552), obwohl in diesen Fällen oft das Gemeinsame betont wird, also die gemeine Vernunft aller gemeint ist. Seiner Anmerkung zum Trotz, gemeine Vernunft verfahre nach künstlichen statt natürlichen Regeln, verwendet Kant auch ‚natürliche Vernunft‘ (vgl. z. B. A:382, A:626/B:654, 7:61, 28:315) und ‚natürliche Menschenvernunft‘ (vgl. 5:91, 7:66, 18:325) gleichbedeutend mit dieser. Außerdem werden für sie die Ausdrücke ‚gemeine Menschenvernunft‘ (vgl. z. B. A:623/B:651, 4:402 ff., 4:454 ff., 5:155), ‚gemeine Erkenntnis‘ (vgl. z. B. A:832/B:860, 9:27) und ‚sensus communis‘ (vgl. z. B. 9:17, 16:18) genutzt. Die gesunde Vernunft (4) ist die gemeine Vernunft, sofern sie richtig schließt (vgl. 24:798). Als Kriterium für die Richtigkeit fungiert auch hier der Beweis durch Erfahrung (vgl. 25:548, 28:243 f.). Die gemeine Vernunft wird ebenfalls erst durch (selbst)kritische Läuterung zur gesunden. Oft gelangt man aber „nur durch Wissenschaft zur Gesunden Vernunft“ (15:181, vgl. 16:27). Die Maxime der gesunden Vernunft lautet, nichts anzunehmen, was den Grundsätzen der Vernunft widerspricht (vgl. 15:184, 25:548 f., 25:1049 ff., 28:300). Im Unterschied zur gemeinen Vernunft ist ihr jegliche Form von Nachahmung zuwider – alles Kopierte, blind Übernommene widerstrebt ihr (vgl. 15:181, 25:158 f., 25:361). Der gemeine/gesunde Verstand folgt Erfahrungsgesetzen und urteilt a posteriori darüber, wie etwas ist. Dazu bedarf er eines konkreten Falls. Die gesunde Vernunft dagegen schließt nach Vernunftgesetzen und urteilt auf der Basis von Erfahrungsgrundsätzen a priori. Sie befindet darüber, wie etwas sein wird oder sein soll. Dazu benötigt sie keine konkreten Fälle. (Vgl. 15:178 ff., 15:324, 25:158, 25:360 f.) „Die größere Beurtheilung der Erscheinungen ist der gesunde Verstand; die der Beschaffenheit der Sache selbst: gesunde Vernunft.“ (15:306).
Gesunder Verstand folgert bevorstehenden Regen aus der Röte des Sonnenaufgangs, gesunde Vernunft aus geringem Luftdruck (vgl. 25:360). Die gesunde Vernunft sieht voraus – im Gegensatz zum gemeinen/gesunden Verstand z. B., was andere urteilen werden bzw. würden (vgl. 15:184, 25:158, 25:360). Die gesunde Vernunft hat keinen direkten Zugang zur Erfahrung, sie leitet ihre Erkenntnisse nicht unmittelbar aus dieser ab. Wie die Vernunft bei Kant zu ihrem empirischen Gebrauch nur mittelbar über den Verstand gelangt, so bezieht sich die gesunde Vernunft auf den gesunden Verstand, um eine Übereinstimmung mit der Erfahrung beurteilen zu können. Menschen mit gesunder Vernunft verfügen aber nicht automatisch über gesunden Verstand – ein allgemeines Gesetz erklären zu können, bedeutet nicht, es auch anwenden zu können. (Vgl. 15:181, 16:16, 25:158 f., 25:360 f.; A:302 ff./ B:359 ff., A:335/B:392, A:643/B:671.)
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘
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Dennoch ist die gesunde Vernunft eng mit der Erfahrung verbunden: Dieser entstammen ihre Grundsätze und mit ihr muss sie übereinstimmen. Die gesunde Vernunft lehnt alles ab, was den Erfahrungsgesetzen widerspricht und damit „der Vernunft Ferien“ gibt: Wunder, Zauberei, Schwärmerei etc. (vgl. 2:108, 8:13, 15:181, 25:159, 25:361 f., 25:549). Auch die gesunde Vernunft kann nicht gelehrt werden, aber jedermann ist zu ihr fähig (vgl. 15:306, 25:548). Statt pedantisch zu urteilen, übersieht sie im Groben und verfügt über den Blick fürs Wesentliche: „Die Gesunde Vernunft [. . .; RN] ist diejenige feine Vernunft welche wieder zu demjenigen zurükkehrt was zu urtheilen u. zu wissen nöthig ist.“ (20:184, vgl. 15:180, 15:183).
Darüber hinaus ist sie nicht nur ein nüchternes, sondern auch ein natürliches Vermögen – wie der gesunde Verstand basiert sie auf Mutterwitz (vgl. z. B. 2:16, 2:264 f., 2:289, 24:21; 24:299, 24:494). Die gesunde Vernunft betrachtet das Allgemeine konkret. Damit steht sie im Gegensatz zur spekulativen Vernunft, zu Gelehrsamkeit und „Vernünftelei“, die das Allgemeine nur in abstracto beurteilen (vgl. 28:243 f.; 7:200, 15:324, 15:715, 24:17). Gesunde Vernunft ist für jede höhere Erkenntnis unentbehrlich und nicht durch solche zu ersetzen – sie muss der spekulativen Vernunft zugrunde gelegt werden. In der Wissenschaft und vor allem in der Philosophie darf sie aber nie als alleinige Instanz fungieren. (Vgl. 2:289, 15:325, 16:16 f., 24:19 ff., 24:319.) Der Verzicht auf reine Vernunftbegriffe, künstliche, abstrakte Regeln und formale Gründlichkeit wäre z. B. das Ende der Metaphysik (vgl. 6:206, 15:306). In der Moral dagegen kommt fast alles auf gesunde Vernunft an: „Nun ist die Gesunde Vernunft in der moral nicht empirisch, aber doch wird in ihr das allgemeine in abstracto nur durch das allgemeine in concreto betrachtet festgesetzt.“ (16:16 f., vgl. 15:324).
Die gesunde Vernunft tritt auch als ‚gemeine (und) gesunde Vernunft‘ auf (vgl. z. B. 2:124, 8:133 f., 16:16, 16:212, 24:314). Eindeutig zuordnen lassen sich ihr außerdem die Ausdrücke ‚gesunde Menschenvernunft‘ (vgl. 5:443), ‚recta ratio‘ (vgl. z. B. 1:388, 1:394, 1:403) und ‚sana ratio‘ (vgl. 1:407, 1:409, 2:401). Auch ‚natürliche Vernunft‘ (vgl. z. B. A:626/B:654, 28:315) und ‚natürliche Menschenvernunft‘ (vgl. 5:91) werden z. T. gleichbedeutend verwendet. Die genannten vier Typen eint ihr einfacher Charakter, ihr starker Bezug zur Erfahrung und zur Allgemeinheit sowie die damit einhergehende Opposition zum gelehrten oder spekulativen Verstandes- und Vernunftgebrauch. Was sie trennt, formuliert Kant nur selten ausdrücklich. Ihre Bedeutungsunterschiede spielen in seiner Philosophie lediglich eine untergeordnete
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B. Der Common Sense bei Kant
Rolle. Kant hat ein Vermögen mit vielen Gesichtern vor Augen – den Common Sense. In der Verwendung der Ausdrücke für dieses Vermögen verfolgt er jedoch keine klare Linie. Ein Beispiel für die vernachlässigte Trennschärfe gibt der Gebrauch von sensus communis. Er wird u. a. für ‚gemeiner Verstand‘ (vgl. 9:56, 16:18, 24:312), ‚gesunder Verstand‘ (vgl. 16:14, 24:696, 25:1012), ‚(all)gemeiner Menschenverstand‘ (vgl. 9:57, 25:1095), ‚gemeine Vernunft‘ (vgl. 9:17), ‚(allgemeine) Menschenvernunft‘ (vgl. 16:46), ‚gemeinschaftlicher Sinn‘ (vgl. 5:293), ‚gemeingültiger Sinn‘ (vgl. 15:693, 16:160), ‚gemeiner Menschensinn‘ (vgl. 7:145), ‚Gemeinsinn‘ (vgl. 5:238, 7:139, 7:219) und ‚bon sens‘ (vgl. 15:811) gebraucht. Besonders augenfällig wird die synonyme Verwendung, wo Kant zwischen einer wissenschaftlichen, künstlichen Logik und einer natürlichen Logik des sensus communis, des gemeinen oder gesunden Verstandes, der gemeinen oder gesunden Vernunft, der allgemeinen Menschenvernunft etc. unterscheidet (vgl. 9:17, 16:18 ff., 16:46 ff.; 24:18; 2:310; 9:17; 16:18; 16:46). Beinahe beliebig wirkt Kants Wortwahl auch, wenn es um die Fähigkeit des Common Sense geht, die Existenz Gottes zu erkennen, oder um die, moralisch zu urteilen. In beiden Fällen ist mal der gewöhnliche (Menschen)Verstand, mal die gewöhnliche (Menschen)Vernunft prädestiniert. (Vgl. 2:65, A:623/B:651, A:831/B:859, 5:398 f., 17:563, 18:499; 4:397, 4:402 ff., 4:454, 5:27, 5:36, 5:70, 5:87, 5:91 f., 9:79.75) Die Ausdrücke ‚gemeiner Verstand‘, ‚gesunder Verstand‘, ‚gemeine Vernunft‘ und ‚gesunde Vernunft‘ verwendet Kant über sein gesamtes Werk hinweg relativ häufig. In seinen Veröffentlichungen begegnet ‚gemeiner Verstand‘ zuerst 1759 in Optimismus, ‚gesunder Verstand‘ und ‚gemeine Vernunft‘ 1763 in Beweisgrund und ‚gesunde Vernunft‘ 1758 in Lehrbegriff (vgl. 2:29, 2:80, 2:124, 2:15; schon in Refl. 1635 von 1752–56, 16:56 f., Logik Blomberg von 1761–476, 24:17 f.). In Analogie zu ‚gesunder Verstand‘ und ‚gesunde Vernunft‘ wird einmal auch eine ‚gesunde Urteilskraft‘ erwähnt (vgl. Metaphysik Pölitz/L1 28:243). Der synonyme Gebrauch von ‚gemein‘ und ‚allgemein‘ wird ebenfalls schon früh deutlich. Die wenig benutzten Ausdrücke ‚allgemeiner Verstand‘, ‚allgemeiner menschlicher Verstand‘ und ‚allgemeiner Menschenverstand‘ finden sich zuerst 1763 in Negative Größen, 1766 in Träume bzw. 1783 in Prolegomena (vgl. 2:177, 2:334, 4:278). Die in den 1780er und 75 Vor diesem Hintergrund ist die Annahme zu überdenken, Kant verwende im moralischen Kontext für Common Sense in der Regel den Ausdruck ‚gemeine Menschenvernunft‘ (vgl. von der Lühe, S. 648). 76 Die Datierungen des Nachlasses inklusive der Vorlesungsmitschriften stammen hier wie im Folgenden aus der AA.
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘ gemeiner Verstand
gesunder Verstand
allgemeiner Verstand natürlicher Verstand gemeinschaftlicher Verstand allgemeiner Menschenverstand gemeiner Menschenverstand gerader und schlichter Menschenverstand gemeine Erkenntnis allgemeiner Sinn gemeiner Sinn gemeinschaftlicher Sinn gemeingültiger Sinn allgemeingültiger Sinn gemeiner Menschensinn allgemeiner Menschensinn Gemeinsinn sensus communis sensus communis logicus sensus vulgaris intellectus communis sens commun
gemeiner (und) gesunder Verstand natürlicher (gesunder) Verstand gesunder Menschenverstand Alltagsverstand sensus communis Gemeinsinn bon sens
gemeine Vernunft
gesunde Vernunft
(all)gemein(st)e praktische Vernunft praktische gemeine Vernunft allgemeine Vernunft natürliche Vernunft allgemeine Menschenvernunft gemeine Menschenvernunft gemeinschaftliche Menschenvernunft natürliche Menschenvernunft gemeine Erkenntnis sensus communis
gemeine (und) gesunde Vernunft gesunde Menschenvernunft natürliche Vernunft natürliche Menschenvernunft recta ratio sana ratio
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Die vier Grundtypen des Common Sense und ihre näheren Synonyme. In der Verwendung ignoriert Kant die von ihm in diesem Kontext gemachten Bedeutungsunterschiede aber teilweise.
90er Jahren häufiger frequentierte ‚allgemeine Menschenvernunft‘ wird zuerst 1781 in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erwähnt (vgl. A:752; schon in Refl. 1486 von ca. 1775–7, 15:716). Die Erweiterung um ‚Menschen-‘ zu ‚Menschenverstand‘ und ‚Menschenvernunft‘ ist eine spätere Erscheinung, die dann aber öfter genutzt wird. ‚Gemeiner Menschenverstand‘ und ‚gesunder Menschenverstand‘ sowie ‚gemeine Menschenvernunft‘ und ‚allgemeine Menschenvernunft‘ z. B. werden, was Kants Publikationen betrifft, erstmals 1781 in der ersten Auf-
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B. Der Common Sense bei Kant
lage der Kritik genannt (vgl. A:528; A:783; A:VIII; A:752).77 Davor begegnen sie nur in einer Vorlesungsnachschrift und in Nachlassreflexionen aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre (vgl. Philosophische Enzyklopädie von 177578, 29:35; Refl. 1486 von 1775–77, 15:716; Refl. 4926 von 1776–78, 18:30). Auch den Ausdruck ‚Gemeinsinn‘ verwendet Kant erst spät – zuerst in der Kritik der Urteilskraft 1790. Hier wird der wirkmächtige Unterschied zwischen Gemeinsinn als gemeiner empirischer Verstand und Gemeinsinn als apriorische Bedingung von verallgemeinerbaren Geschmacksurteilen gemacht (vgl. 5:237 f., 5:293 ff.). Zuvor begegnet der Ausdruck bereits 1786 in Orientieren (Kant spricht vom Gemeinsinn bei Mendelssohn) und in Nachlassreflexionen (vgl. 8:133; zuerst Refl. 992 von 1788/89, 15:437). Einen allgemeinen, einen gemeinschaftlichen und einen gemeingültigen Sinn notiert Kant im Zusammenhang mit dem Geschmack schon in den 70er Jahren (vgl. Refl. 1894 von 1775–78, 16:151; Refl. 1487 von 1776–78, 15:724; Refl. 1483 von 1773–77, 15:693). Der ‚sensus communis‘ steht – wie bereits gezeigt – als Oberbegriff für viele Gestalten des Common Sense. Er wird bereits 1755 in Nova dilucidatio erwähnt und begegnet bis zuletzt immer wieder. Seine Konkretisierung zu ‚sensus communis aestheticus‘ und ‚sensus communis logicus‘ findet sich erst und allein in der dritten Kritik. Der ebenfalls lateinische Ausdruck ‚sensus vulgaris‘ wird zuerst 1798 in Anthropologie angetroffen, zuvor aber schon in der Reflexion 1525 von 1775–77 (vgl. 7:139, 15:908).79 Ähnlich selten wie ‚sensus vulgaris‘ begegnet ‚intellectus communis‘, dafür bereits 1770 in De mundi (vgl. 2:395; Refl. 201 aus den 60ern, 15:78). Für Kant handelt es sich bei diesem Ausdruck um einen Pleonasmus, da der Verstand immer gemeinschaftlich ist (vgl. 16:144). Die Verwendung von ‚recta ratio‘80 und ‚sana ratio‘, der richtigen bzw. gesunden Vernunft, beschränkt sich fast ausschließlich auf die in Latein abgefassten Dissertationen Nova dilucidatio und De mundi (Erstnennungen: 1:388 bzw. 1:407). Die französischen Ausdrücke ‚sens commun‘ (für ‚gemeiner Verstand‘) und ‚bon sens‘ (für ‚gesunder Verstand‘) begegnen ebenfalls selten, aber 77 Der Ausdruck ‚Menschenverstand‘ allein begegnet bereits einmal zuvor – in Träume von 1766 (vgl. 2:342). 78 Vgl. Kuehn, Manfred: Dating Kant’s ‚Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie‘, in: Kant-Studien 74.1983, S. 302 ff. 79 Angedeutet wird ‚sensus vulgaris‘ auch in der dritten Kritik bzw. der Reflexion 1871 von 1776–78 (vgl. 5:293, 16:144). 80 Zur Geschichte von ‚recta ratio‘ und der Verwendung des Begriffs bei Kant vgl. Hoenen, M. J. F. M.: Recta ratio, in: Historisches Wörterbuch, 8.1992, S. 355 ff.
II. Kants Terminologie im Begriffsfeld ‚Common Sense‘
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schon recht früh (vgl. Metaphysik Herder von 1762–64, 28:6 und Logik Blomberg von 1761–64, 24:18 bzw. Logik Philippi von 1771/72, 24:312; in eigenen Veröffentlichungen erst 1798 in ApH 7:139). Beinahe in dem gesamten Zeitraum, in dem er veröffentlicht, hat Kant Begriffe für Common Sense genutzt. Bereits in seiner ersten Publikation, Wahre Schätzung von 1749 (verfasst 1746/47), gibt es Bezüge zu diesem Vermögen. Kant beruft sich z. B. mit Nachdruck auf gewöhnliche Erfahrungen und jedermanns Zustimmung (vgl. 1:153, 1:168 ff.). Erstmalig beim Namen wird es 1755 in Nova dilucidatio genannt – erwähnt werden ‚sensus communis‘, ‚recta ratio‘ und ‚sana ratio‘. Letztmalig in einem von Kant noch durchgesehenen Werk begegnet der Common Sense in Anthropologie von 1798, später findet er sich noch in Logik von 1800, Physische Geographie von 1802 oder Pädagogik von 1803. Der Common Sense begleitet Kant als Bezugspunkt und Thema also mindestens ein halbes Jahrhundert lang.
C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk In diesem Kapitel wird die Bedeutung des Common Sense im vorkritischen Werk Kants untersucht. Aus den Zeugnissen dieser von der Forschung vergleichsweise wenig bearbeiteten Schaffensphase lassen sich bereits wichtige Aufschlüsse für Kants gesamte Theorie des Common Sense gewinnen. Als vorkritisch wird im Folgenden alles vor dem Erscheinen der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft im Mai 1781 Niedergeschriebene betrachtet.81 Zuerst soll untersucht werden, welche Rolle Kant dem Common Sense hinsichtlich der Wissenschaft im Allgemeinen zuweist. Anschließend steht die Bedeutung für die Philosophie im Mittelpunkt. Ergänzend soll das Resultat vor dem Hintergrund der dem Common Sense nahe stehenden Popularphilosophie betrachtet werden. Der vorkritische Kant hat im Wesentlichen den gleichen Begriff von Common Sense wie der kritische und der nachkritische. Mit der Ausnahme, dass er noch keinen apriorischen Gemeinsinn formuliert, versteht Kant unter dem Vermögen das, was in Kapitel B. I. skizziert wurde.
I. Die Wissenschaft und die Natur ihrer Gegenstände Wissenschaft und Common Sense bilden beim vorkritischen Kant in der Regel ein Gegensatzpaar. Wissenschaftliche Erkenntnis zeichnet sich durch ihre Systematik aus. Gemeine Erkenntnis dagegen entbehrt einer systematischen Ordnung – Kant nennt sie ein Aggregat, eine mehr oder weniger zusammenhängende Anhäufung. (Vgl. z. B. Refl. 2702, 16:476.) Zur Wissenschaft gehört spekulative und gelehrte Vernunft. Ihre Regeln sind hauptsächlich künstliche, d.h. konstruierte, erworbene, erlernte. Common Sense 81 Der Beginn der kritischen Periode lässt sich auch auf frühere Zeitpunkte datieren. Kant selbst hat z. B. indirekt auf seine Dissertation De mundi von 1770 verwiesen (vgl. Brief an Tieftrunk vom 13.10.1797, 12:208). Ansätze zu Kants kritischer Philosophie existieren zwar schon in früheren Schriften, aber erst mit Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft liegt eine systematische und umfassende Theorie von dieser vor. Vgl. z. B. Schönfeld, Martin: The philosophy of the young Kant. The precritical project, Oxford 2000, S. 3 ff.; Dilthey, Wilhelm: Vorwort, in: AA 1:Vff.
I. Die Wissenschaft und die Natur ihrer Gegenstände
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hingegen basiert vor allem auf natürlichen, d.h. angeborenen Regeln. (Vgl. Krankheiten 2:269; Refl. 1573 ff., 16:13 ff.; Logik Blomberg 24:16 ff.) Für Kant bilden Wissenschaft und Common Sense einander die Grenze. Die Schwäche des Wissenschaftlers liegt oft in der Unfähigkeit, seine abstrakten Regeln in der Realität konkret anzuwenden. Die Schwäche des in Fragen der praktischen Umsetzung von Regeln kompetenten Common Sense dagegen liegt in der Unfähigkeit, das Allgemeine abstrakt zu betrachten. Aus dieser Differenz resultiert auch ein gegenseitiges Vorurteil, das Gebildete und Ungebildete füreinander hegen. (Vgl. Logik Blomberg 24:19 ff., 24:189; Anthropologie Friedländer 25:538.) Der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Common Sense könnte also kaum größer sein. Von weitem gesehen scheint es sich um verschiedene Welten zu handeln. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich dieses Verhältnis aber als Symbiose. Was sich so sehr unterscheidet, ist von gegenseitigem Nutzen. Wissenschaft kann die gemeine Erkenntnis berichtigen oder gegebenenfalls bestätigen. Sie stellt eine Möglichkeit dar, den Common Sense kritisch zu läutern und damit zu einer ‚gesunden Erkenntnis‘ zu machen. (Vgl. Refl. 438, 15:181; Refl. 1581, 16:24.) Der Common Sense wird dadurch weiterentwickelt bzw. gestärkt. Mehr als diesen Aspekt betont der vorkritische Kant allerdings den Nutzen des Common Sense für die Wissenschaft. Davon zeugen einige scharfzüngige Bemerkungen. In Träume lässt Kant z. B. in einem einprägsamen Gleichnis die Nüchternheit des Common Sense über akademische Lebensfremdheit triumphieren. Als der Astronom Tycho Brahe seinen Kutscher eines Nachts bittet, den kürzesten Weg doch einfach anhand der Sterne zu nehmen, antwortet ihm dieser: „Guter Herr, auf den Himmel mögt ihr euch wohl verstehen, hier aber auf der Erde seid ihr ein Narr.“ (2:341). In Logik Blomberg wird Kant mit der Bemerkung wiedergegeben: „Eine Academie der Wißenschaften zu Paris hecket 1000 mal mehrer Irrthümer aus, als ein Dorf voller Bauren“ (24:22 f., vgl. 24:19). Kurz zuvor heißt es, ein Wissenschaftler, der über keinen Common Sense verfüge, sei ein lächerlicher Pedant, ein unmündiges Kind (vgl. 24:20 f.). In einer Nachlass-Reflexion resümiert Kant: „Der gesunde Verstand ist nöthiger als die Wissenschaft und durch sie nicht zu erwerben.“ (Refl. 737, 15:325). Trotz vieler positiver Äußerungen zum Common Sense will Kant die wissenschaftliche nicht durch die gemeine Erkenntnis ersetzen. Er lehnt dies sogar ausdrücklich ab (vgl. Anthropologie Pillau 25:774; Logik Blomberg 24:17). Kant fordert ein produktives Miteinander. Der Nutzen des Common Sense für die Wissenschaft lässt sich dabei auf drei Punkte bringen. Common Sense kann der Wissenschaft als Basis, Korrektiv und Ziel dienen. Er ist der Boden, dem wissenschaftliche Fragen erst entspringen
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
und von dem die Wissenschaft i. d. R. ihren Anfang nehmen sollte. Er eignet sich zur Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse. Außerdem ist er notwendig, diese praktisch anzuwenden, und er stellt die Verständnisebene dar, auf welche sie wieder herabgebracht werden müssen. (Vgl. z. B. Logik Blomberg 24:21 ff.; Refl. 687, 15:306; Refl. 1582, 16:24.) Dieser dreifache Nutzen des Common Sense für die Wissenschaft wird auch hinsichtlich der oberen Universitätsfakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin deutlich. Bezüglich der Theologie befürwortet Kant schon in seinen vorkritischen Äußerungen die aus der gesunden Vernunft schöpfende ‚natürliche Religion‘ als notwendige Grundlage jeder Offenbarungsreligion. Eine ‚gelehrte Religion‘, bei der die Erkenntnis von Gott Bildung, Belesenheit und Spekulation erfordert, lehnt er ab. Kant ist der Ansicht, dass die wichtigen Grundwahrheiten der Religion auf den natürlichen Gebrauch der Vernunft gegründet sind. Sie basieren auf dem Common Sense. Eine Religion soll auch dem Common Sense angemessen dargestellt werden – so, dass nicht nur der Gelehrte, sondern jedermann ihre Wahrheit einsehen kann. Kant setzt hinsichtlich der Gottesfrage viel Vertrauen in den Common Sense: „Die gesunde Vernunft oder die practische Wird sich niemals überreden lassen, daß kein Gott sey, wenn nur nicht die subtile ihr den Rang abzugewinnen trachtet.“ (Refl. 4469, 17:563; vgl. Refl. 1636, 16:60 f.; Refl. 4865, 18:14; Moralphilosophie Kaehler82, S. 115 ff., 164; Anthropologie Friedländer 25:541; Praktische Philosophie Powalski 27:172 f.).
In seiner Schrift über die Möglichkeit von Gottesbeweisen aus dem Jahre 1763 hält Kant den Common Sense für ausreichend, die Existenz Gottes zu erkennen. Er stellt fest, dass der (von ihm verbesserte) ontologische Gottesbeweis nur nötig ist, auch die Wissenschaftler zu überzeugen. Für das Volk genüge die Argumentation des kosmologischen – später des physikotheologischen – Gottesbeweises, denn dieser sei natürlich, leicht, lebhaft und praktisch. (Vgl. Beweisgrund 2:65, 2:117, 2:159 ff.) Aus diesen Ansichten erwächst der Theologie bei Kant die Aufgabe, den Common Sense als Maßstab zu achten, ihn zugrunde zu legen, sich an ihm zu orientieren und ihre Ergebnisse – nicht ihre Forschung – ihm fasslich zu machen. Gleiches gilt für die Rechtskunde. Auch sie soll dem Common Sense auf diese Art verbunden sein. Bereits der vorkritische Kant betont die Bedeutung des ‚natürlichen Rechts‘ für das ‚positive‘: 82
Die Moralphilosophie Kaehler wurde veröffentlicht unter dem Titel: Kant, Immanuel: Vorlesung zur Moralphilosophie, Werner Stark (Hg.), Berlin/New York 2004.
I. Die Wissenschaft und die Natur ihrer Gegenstände
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„Das positive Gesetz kann nichts enthalten was dem natürlichen zuwieder ist, denn das natürliche ist die Bedingung aller positiven Gesetze.“ (Moralphilosophie Kaehler, S. 194).
Andernfalls könnte jemand gerecht sein und damit gegen das bestehende Recht verstoßen oder ungerecht und sich dabei im Einklang mit diesem befinden. Kant beschreibt an mehreren Stellen den Dualismus von (positivem) Recht und (natürlicher) Gerechtigkeit. Er unterscheidet zwischen juridischen und ethischen Beweggründen, zwischen Gesetz und Gewissen sowie zwischen äußerem und innerem Gerichtshof (vgl. z. B. Moralphilosophie Kaehler, S. 51, 105, 193). Dabei spielt der Common Sense eine wichtige Rolle. Denn zur Beurteilung dessen, was Recht und Unrecht ist, bedarf es für Kant keiner Wissenschaft und keiner Gelehrsamkeit. Der Common Sense reicht vollkommen aus. Kant lobt sogar ländliche Gerichte, die nur nach dem Common Sense verfahren. Anders als der Jurist, der abstrakt urteilt und vom gesetzlichen Recht ableitet, urteilt z. B. der Gemeindevorsteher konkret und entspricht der Gerechtigkeit. (Vgl. Logik Blomberg 24:23 f., Anthropologie Collins 25:155 f., Anthropologie Parow 25:359.) Trotzdem der Common Sense über einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit verfügt, werden für Kant Rechtswissenschaft und Rechtsgelehrsamkeit nicht überflüssig. Was gerecht ist, das vermag der Common Sense leicht zu erkennen. Was aber Gerechtigkeit ist, kann nur Wissenschaft bestimmen: „Der gemeine Verstand erkennt wohl rechtsprincipien, aber nicht die Qvellen des Rechts.“ (Refl. 3347, 16:793; vgl. Refl. 737, 15:324).
Wie die Theologie kann deshalb auch die Rechtskunde der wissenschaftlichen Forschung nicht entbehren. Rechtsgelehrsamkeit, das lehrfähige Wissen vom Recht, bleibt ebenso notwendig. (Vgl. Anthropologie Pillau 25:775, Praktische Philosophie Powalski 27:139.) Die bloße Kenntnis der Gesetze ist für Kant aber ohne die Fähigkeit, sie anzuwenden, nicht ausreichend. Theoretische Rechtswissenschaft bedarf praktischer Rechtsklugheit – Jurisscientia der Jurisprudentia. (Vgl. Praktische Philosophie Powalski 27:139, Logik Philippi 24:312.) Der Jurist benötigt neben der Vernunft auch der Urteilskraft, die – wie bereits gezeigt – den gesunden Verstand bezeichnet, wenn sie vortrefflich ist (vgl. Anthropologie Pillau 25:774). Vor allem der Richter bedarf ihrer, z. B. bei der Auswahl des passenden Gesetzes, beim Ermessensspielraum seiner Auslegung oder dem Feststellen der Schuld. Der Common Sense ist erforderlich, um neben dem Buchstaben auch dem Geist des Gesetzes Rechnung zu tragen. Nur mit Common Sense lässt sich sagen, was ‚recht und billig‘ ist. Denn Billigkeit steht in dieser Redewendung für Angemessenheit. Hat je-
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
mand z. B. mehr gearbeitet als vereinbart, ist es für Kant billig, dafür mehr Lohn zu verlangen. Eine rechtliche Grundlage dafür existiert aber nicht. (Vgl. Moralphilosophie Kaehler, S. 308.) Der Common Sense zeigt sich demnach ebenfalls als Maßstab der Rechtskunde. Die Gesetzgebung z. B. sollte nicht durch ihn, aber im Einklang mit ihm erfolgen. Der Common Sense dient auch im Juristischen als „Controlleur der Gelahrtsamkeit“ (Logik Blomberg 24:23). Und schließlich wird er benötigt, um die Gesetze angemessen anzuwenden.83 Hinsichtlich der Arzneikunde bzw. der Medizin zeichnet sich bei Kant eine ähnliche Auffassung ab. Vom Arzt als „Diener der Natur“ fordert er: „Haltet nur das äußere Übel ab die Natur wird schon die beste Richtung nehmen“ (Bemerkungen 20:25). In den wenigen vorkritischen Äußerungen zu diesem Thema gibt sich Kant als Befürworter einer natürlichen Medizin zu erkennen. Diese besteht aber nicht nur in der Bevorzugung natürlicher Heilmittel. Kants Idealvorstellung beinhaltet den gänzlichen Verzicht auf Medikamente. Eine Gesundheit, die nur von Arzneimitteln aufrechterhalten wird, verdient für ihn ihren Namen nicht (vgl. Anthropologie Parow 25:358). Vorrangige Aufgabe des Mediziners sei nicht Heilung, sondern Prävention: „Derjenige Artzt ist der beste der mich lehrt wie ich der Krankheiten u. Arzneymittel überhoben seyn kann. Diese Kunst ist leicht u. einfaltig Die aber alles Verderben zuzulassen u. hernach zu heben ist künstlich u. verwikelt“ (Bemerkungen 20:122).84
Festzuhalten ist, dass Kant den Common Sense als unentbehrlich für den Arztberuf herausstellt. Mediziner müssen Praktiker sein. Sie benötigen gesunden empirischen Verstand. Neben einem guten Gedächtnis bedürfen sie einer durch Erfahrung geschärften Beobachtungsgabe und der Fähigkeit zu vergleichen. Ein Praktizieren aus dem Lehrbuch ist unzureichend – anatomische Kenntnisse machen noch keinen guten Arzt. (Vgl. Anthropologie Collins 25:148, Anthropologie Parow 25:363.) Auch in der Medizin erweist sich der Common Sense demnach als unersetzbar. Er eignet sich z. B. als Maßstab für Diagnose und Behandlung. Medizin als Wissenschaft wird durch ihn aber keineswegs überflüssig (vgl. Logik Blomberg 24:23). 83 Zu Kants vorkritischem Rechtsbegriff vgl. Ritter, Christian: Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt/M. 1971. 84 Es ist möglich, dass Kants Unverträglichkeit für Medikamente zu seiner Abneigung gegenüber diesen beigetragen hat. Dies kann hier aber nur vermutet werden. In einem Brief an Herz von 1773 schreibt Kant: „Medicin ist wegen meiner empfindlichen Nerven ohne Unterschied ein Gift vor mich.“ (10:143).
II. Der Nutzen für die Philosophie
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Der vielseitige Nutzen des Common Sense für die Wissenschaft wird noch deutlicher durch die Betrachtung seiner Bedeutung für die Philosophie. Diese hat Kant meist vor Augen, wenn er von Wissenschaft spricht.
II. Der Nutzen für die Philosophie Mehr noch als Wissenschaft im Allgemeinen steht beim vorkritischen Kant die Philosophie im Gegensatz zum Common Sense. Beide sind von ihrer Art her grundverschieden. Die wissenschaftliche Erkenntnis der Philosophie erfolgt wesentlich a priori, gemeine Erkenntnis a posteriori. Den Philosophen interessiert das Woher und Warum, den gemeinen Mann das Wozu. (Vgl. Refl. 1653, 16:67; Refl. 1978, 16:181; Logik Philippi 24:319.) Trotz dieser Differenz hält Kant den Common Sense in der Philosophie für unentbehrlich und betont das gegenseitige Angewiesensein (vgl. Logik Blomberg 24:17 ff.). Kant weist darauf hin, dass der Common Sense am Anfang der Philosophie steht – sowohl historisch als auch methodisch. Einerseits sei Philosophie als Wissenschaft vor langer Zeit aus dem gewöhnlichen Menschenverstand hervorgegangen, aus dessen Bedürfnis nach Welterklärung und seiner begrenzten Fähigkeit zur Beantwortung solcher Warumfragen. (Vgl. Refl. 1635, 16:56 ff.; später: Logik 9:27.) Andererseits müsse der Common Sense der Philosophie – wie „allen abstracten höheren Erkenntnißen“ – zugrunde gelegt werden. Kant nennt die Philosophie eine Wissenschaft des Common Sense, insofern jene ihn zum Gegenstand, zum Ausgangspunkt nehmen soll. (Vgl. Logik Blomberg 24:21; Logik Philippi 24:319; Refl. 436, 15:180.) In einer 1764 veröffentlichten Preisschrift lobt Kant das sichere Urteil des Common Sense in Gestalt der gesunden Vernunft und empfiehlt ihn der Philosophie als natürlichen Leitfaden: „So bald dagegen die Philosophen den natürlichen Weg der gesunden Vernunft einschlagen werden, [. . .; RN]; so werden sie vielleicht nicht so viel Einsichten feil zu bieten haben, aber diejenige, die sie darlegen, werden von einem sichern Werthe sein.“ (Deutlichkeit 2:289).
Als Richtschnur stellt der Common Sense auch einen finalen Maßstab der Philosophie dar. Laut Kant muss sie mit ihm in Übereinstimmung gebracht werden – nicht in dem Sinne, dass sie nur nach ihm urteilen dürfte oder sein Urteil mehr wöge, sondern dass sie ihn berücksichtigt. In der Philosophie bleibt die Vernunft ausschlaggebend. (Vgl. Refl. 1578, 16:16; Refl. 1653, 16:67.) Der dreifache Nutzen des Common Sense für die Wissenschaft überhaupt zeigt sich demnach auch für die Philosophie. Wie verhält es sich mit den
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
einzelnen philosophischen Disziplinen, denen sich Kant vor Veröffentlichung der ersten Kritik widmet? 1. Logik Die Logik beinhaltet für den vorkritischen Kant die Regeln des richtigen Verstandes- und Vernunftgebrauchs. Sie ist die Vernunftwissenschaft von den allgemeinen und notwendigen Gesetzen des Denkens. Kant unterteilt sie in zwei Gattungen – die natürliche und die künstliche Logik. Hinter der natürlichen Logik verbirgt sich die Logik des Common Sense – des sensus communis, des gemeinen Verstandes, der gesunden Vernunft etc.85 Sie hat den Common Sense als natürliches und empirisches Vermögen zum Gegenstand. Als Inbegriff der Regeln des Common Sense beinhaltet sie die subjektiven Gesetze, nach denen gemeinhin geurteilt und gedacht wird. Die künstliche Logik bezeichnet Kant auch als die Logik der Wissenschaft, der Gelehrsamkeit, des spekulativen Verstandes oder der gelehrten Vernunft. Diese Gattung beschäftigt sich mit den künstlichen Regeln der Vernunft. Sie enthält apriorische Prinzipien, die als Dogmen fungieren, als objektive Gesetze, nach denen der Verstand verfahren soll. (Vgl. Nachricht 2:310 f.; Refl. 1562–1618, 16:3–16:38; Logik Blomberg 24:16 ff.; Logik Philippi 24:311 ff.; später: Logik 9:17 ff.)86 Die künstliche Logik verhält sich zur natürlichen Logik wie die Grammatik zur Muttersprache. Mit diesem Vergleich macht Kant einerseits deutlich, dass die Regeln der wissenschaftlichen Logik aus der Analyse der Regeln des Common Sense hervorgehen müssen und ihnen auf diese Art immer korrespondieren sollen. Andererseits wird auf die kathartische Funktion der wissenschaftlichen Logik hingewiesen. Letztere ist in der Lage und hat zur Aufgabe, den Common Sense von Irrtum und Vorurteil zu reinigen. (Vgl. Refl. 1568, 16:7; Refl. 1574, 16:14; Refl. 1579, 16:18 f.; Refl. 1600, 16:31; Refl. 4676, 17:656 f.; Logik Blomberg 24:24; Philosophische Enzyklopädie 29:13 f.) Kant weist mit Nachdruck auf die Notwendigkeit einer Logik des Common Sense hin. Er bezeichnet sie als Quarantäne-Stadium, das jeder akademischen Unterweisung vorhergehen muss. Sie stellt eine unerlässliche Propädeutik dar – nicht nur für die Philosophie, für jede aufgeklärte Wissenschaft. (Vgl. Nachricht 2:310, Logik Blomberg 24:26, Logik Philippi 24:316.) 85
Vgl. Kapitel B. II. Vgl. Stuhlmann-Laeisz, Rainer: Logik, in: Kant-Lexikon; Pozzo, Riccardo: Kant und das Problem einer Einleitung in die Logik. Ein Beitrag zur Rekonstruktion der historischen Hintergründe von Kants Logik-Kolleg, Frankfurt/M. 1989, S. 59 ff., 73 ff., 160 ff. 86
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Der Common Sense dient der Wissenschaftslogik also als Grundlage. Ein darüber hinausgehender Nutzen lässt sich bei Kant nur erahnen. In Spitzfindigkeit wird die Aufgabe der Logik darin gesehen, „alles auf die einfachste Erkenntnißart zu bringen“: „Es ist aber der Zweck der Logik, nicht zu verwickeln, sondern aufzulösen, nicht verdeckt, sondern augenscheinlich etwas vorzutragen.“ (2:56).
Insofern der Common Sense Maßstab des Einfachen und Bildhaften ist, kann er auch hier zur Orientierung dienen. 2. Metaphysik Metaphysik ist für Kant die Wissenschaft von den obersten Gründen a priori. Ihre Grundsätze sind erfahrungsunabhängig und werden aus reiner Vernunft geschöpft. (Vgl. De mundi 2:395; Deutlichkeit 2:283; Logik Philippi 24:313.) Grob betrachtet ist der Gebrauch des empirischen Common Sense hier vollkommen unzulässig. Kant notiert: „Doch hilft die Gesunde Vernunft in denen Wissenschaften nicht, deren Natur darin besteht, daß man alles aus allgemeinen und reinen Vernunftbegriffen ableite, z. E. Mathematik und Metaphysic.“ (Refl. 687, 15:307).
In der Metaphysik kommt es darauf an, die Sätze zu beweisen bzw. auf ihre apriorischen Quellen zurückzuführen. Deshalb kann der Common Sense zu ihr nichts beitragen. (Vgl. Philosophische Enzyklopädie 29:34 ff.) Näher betrachtet differenziert Kant aber, was den Nutzen des Common Sense für die Metaphysik betrifft. Der Common Sense steht z. B. am Anfang der Metaphysik: „Die Qvaestiones der Metaphysik sind alle durch die gemeine Vernunft und durch unsere wichtigsten Zweke aufgeworfen“ (Refl. 4453, 17:557; vgl. Refl. 4457, 17:558).
Auch dieses gewöhnliche und von allen geteilte Vermögen wird von Fragen ‚belästigt‘, die es weder abweisen noch beantworten kann. Kant wird diese „Naturanlage zur Metaphysik“ später auch als „metaphysica naturalis“ bezeichnen (vgl. KrV A:VII f., B:21 f.). Der Common Sense gehört als erfahrungsnaher Verstand auch unter dem Gesichtspunkt der Methode an den Beginn der Metaphysik. Kant betrachtet es als eine der Hauptaufgaben dieser Disziplin, im Voraus abzusehen, ob eine Aufgabe überhaupt im Bereich des Erkennbaren zu lösen ist. Dazu verweist er auf den Bereich der möglichen Erfahrung bzw. auf die Notwendigkeit eines sinnvollen Verhältnisses zu den Erfahrungsbegriffen. (Vgl. Träume 2:367 f.) Die Metaphysik soll sichere, augenscheinliche Vorstellungen zum Ausgangspunkt nehmen:
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
„Man fange also von den bekandtesten und ausgemachtesten Begriffen einer Sache an, und gehe in der Abziehung immer hoher.“ (Metaphysik Herder 28:6, vgl. Deutlichkeit 2:283 ff., Träume 2:358 f.).
Dieser Erkenntnis entsprechend baut Kant auch seine Metaphysik-Vorlesung auf. Beginnend mit empirischer Psychologie schreitet er vom Konkreten zum Abstrakten. (Vgl. Nachricht 2:308 ff.) Der Common Sense ist für die Metaphysik außerdem im Sinne eines begleitenden Korrektivs bedeutsam. Er erweist sich auch hier als „Probirstein, um die Fehler des künstlichen Gebrauchs zu entdecken“ (Refl. 2269, 16:293). Der Common Sense dient damit als Leuchtturm im finsteren und uferlosen Ozean Metaphysik (vgl. Beweisgrund 2:66). Bei der Abstraktion von den sprachgebräuchlichen Begriffen auf das hin, was ihnen zugrunde liegt, schleichen sich für Kant leicht Irrtümer ein. Diese könnten vermieden werden, wenn der Common Sense als Richtschnur benutzt würde. Kant fordert von denjenigen Metaphysikern, deren Sätze dem Common Sense widersprechen, eine erneute Überprüfung ihrer Beweise. Angesichts der Fehlbarkeit der Metaphysik und der Eignung des gewöhnlichen Verstandes zur Prüfinstanz fordert er von ihnen außerdem Bescheidenheit (vgl. Metaphysik Herder 28:6 f.). Kant stellt die Urteile des Common Sense damit keineswegs über die Schlussfolgerungen der Metaphysik. Eine Unvereinbarkeit mit dem Common Sense dient nur zum Anlass, erneut zu prüfen. Schließlich steht der Common Sense am Ende der Metaphysik. Denn diese soll für Kant zwar gründlich, aber auch schön sein. Zum menschlichen Geist gehöre nicht nur Verstand, sondern auch Sinnlichkeit. An der Stelle von trockenen Fachvorträgen fordert Kant daher sinnliche, anschauliche und somit besser verständlichere Präsentationen, sofern diese den gründlich erarbeiteten Ergebnissen nicht widersprechen. Nur so könne z. B. auch der „gemeine Mann“ zu tieferen Wahrheiten gelockt werden (vgl. Metaphysik Herder 28:6 f.). Hinter diesem Ruf nach Popularität verbirgt sich die Forderung nach Orientierung am Common Sense. Die Erkenntnisse der Metaphysik populär öffentlich zu machen, heißt für Kant, diesem durchschnittlichen Verstandesniveau entsprechend verständlich vorzutragen (vgl. Refl. 1887, 16:148; Refl. 2269, 16:293). Eine Nachlass-Reflexion zeigt, wie eng Kant Metaphysik und Common Sense letzten Endes miteinander verknüpft: „Metaphysik ist [. . .; RN] blos der sich selbst kennende Verstand, mithin ist es bloß eine Berichtigung des Gesunden Verstandes und Vernunft.“ (Refl. 4284, 17:495).
In Metaphysik Herder heißt es entsprechend, dass es das Ziel der Metaphysik sei, nicht Meinungen großer Philosophen wiederzugeben, sondern zu gesundem Verstand beizutragen (vgl. 28:7).
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3. Moralphilosophie Bereits Mitte der 60er Jahre des 18. Jahrhunderts gelangt Kant in den wesentlichen Punkten zum Standpunkt seiner späteren Ethik.87 Entsprechend bringt er dem moralischen Urteil des Common Sense schon in seiner vorkritischen Schaffensperiode eine hohe Wertschätzung entgegen. Er nutzt ihn als Grundlage und Maßstab seiner moralphilosophischen Überlegungen. Kant geht von einer natürlichen Sittlichkeit aus, die unabhängig von Religion und Wissenschaft existiert. Sie fußt auf einer natürlichen Moral, die Kant zunächst noch auf ein moralisches Gefühl, bald aber auf das moralische Bewusstsein des natürlichen Verstandes, des Common Sense, zurückführt. Für Kant enthält der Common Sense alle wichtigen Grundsätze der Moral. Zwischen guten und bösen Handlungen zu unterscheiden, sei in jedermanns Macht. (Vgl. Nachricht 2:311; Refl. 4865, 18:14.) Deshalb stellt der Common Sense ein geeignetes Fundament moralphilosophischer Analysen dar: „Wir können uns auf den gemeinen Menschenverstand berufen, wenn wir die Regel und die Triebfeder unseres Verhaltens bestimmen wollen, also dasienige, was uns wirklich angeht.“ (Refl. 4926, 18:30).
Trotz des sicheren Urteils des Common Sense in moralischen Fragen bleibt für Kant Moralphilosophie als Wissenschaft, der es um die Festsetzung apriorischer Prinzipien geht, unverzichtbar (vgl. De mundi 2:396; Refl. 4926, 18:30). Die Kriterien dieser Disziplin liefert aber der Common Sense. Denn: „In der moral wird die allgemeine regel auch nur von dem, was wir in einzelnen fällen urtheilen, abstrahirt, und die allgemeine regel wird in ieder Anwendung nicht blind befolgt, sondern geprüft und oft verbessert. [. . .; RN] Nun ist die Gesunde Vernunft in der moral nicht empirisch, aber doch wird in ihr das allgemeine in abstracto nur durch das allgemeine in concreto betrachtet festgesetzt.“ (Refl. 1578, 16:16 f.; vgl. Logik Philippi 24:312; Refl. 737, 15:324 f.).
Der Common Sense bildet für Kant aber nicht nur die Grundlage für moralphilosophische Erkenntnisse, er ermöglicht auch deren Anwendung. Davon zeugt z. B. das enge Verhältnis seiner frühen Moralphilosophie zur pragmatischen Anthropologie. In einer Vorlesungsnachschrift heißt es zunächst: 87 Vgl. Henrich, Dieter: Hutcheson und Kant, in: Kant-Studien 49.1957/8, S. 49 ff.; ders.: Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: KantStudien 54.1963, S. 404 ff. und Schmucker, Josef: Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflexionen, Meisenheim am Glan 1961 sowie Sala, Giovanni B.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, Darmstadt 2004, S. 45 f.
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„die Moral kann ohne die Antropologie nicht bestehen; denn man muß das Subject erst kennen, ob es auch im Stande ist das zu leisten, was man von ihm fordert das es thun soll. [. . .; RN] Es wird immer gepredigt, was geschehen soll, und Keiner denkt daran, ob es geschehen kann“ (Moralphilosophie Kaehler, S. 5; vgl. Nachricht 2:311).
Bevor bestimmt wird, was der Mensch leisten soll, muss untersucht werden, was seine Natur leisten kann. Diese Forderung beinhaltet den Gedanken, dass eine oberste moralische Direktive wertlos ist, wenn man sie in der Praxis nicht anzuwenden vermag. Kant wird diesem Umstand mit einer Teilung seiner vorkritischen Vorlesungen über Moralphilosophie gerecht. Im ersten Teil widmet er sich der Philosophia practica universalis, in deren Mittelpunkt das oberste Prinzip der Moralität steht. Im zweiten Teil, der Ethica, kommt der anthropologische Hintergrund der Moralität zum Tragen. Mit dieser Gliederung unterstreicht Kant, dass das oberste moralische Gebot zwar den Maßstab des Handelns darstellt, solche moralphilosophischen Erkenntnisse aber stets an die Realisierbarkeit durch den Menschen gebunden bleiben. (Vgl. Moralphilosophie Kaehler, S. V.88) 4. Ästhetik Der vorkritische Kant widmet sich auch der Ästhetik. Er bestreitet der Wissenschaft vom Schönen bzw. vom Geschmack aber den Rang einer Vernunftwissenschaft. Ihre Regeln sind der Sinnlichkeit entnommen. Sie können weder in abstrakter Form vorgetragen, noch a priori bewiesen werden. Geschmack, das Vermögen zur Beurteilung des Schönen, ist nicht durch Regeln zu erlernen. Geschmacksurteile basieren auf einer inneren Empfindung. (Vgl. Logik Blomberg 24:19, 24:24 f.; Logik Philippi 24:314 ff.; Refl. 621 ff., 15:268 ff.) „Ist ein Gedicht gleich nach allen Regeln der Aesthetic und Dichtkunst abgefaßt und gefällt doch nicht; so wird man eher glauben, daß alle Regeln falsch sind, als daß ein solches Stück schön wäre.“ (Logik Philippi 24:317).
Wie im moralischen Kontext spricht Kant auch hinsichtlich des Geschmacks mit großer Achtung vom Common Sense. Der gemeine Verstand soll im Zusammenhang mit den Geschmacksurteilen in Ehren gehalten werden (vgl. Bemerkungen 20:167, 20:44). Entsprechend betrachtet Kant in Beobachtungen das Gefühl des Schönen und das des Erhabenen, sofern ihm „auch gemeinere Seelen fähig sind“ (2:208). Kant ist der Auffassung, dass natürlicher Common Sense zu gutem Geschmack vollkommen ausreicht. Denn die Regeln des Common Sense sind 88 Vgl. Irrlitz, Gerd: Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002, S. 498 ff.
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zugleich die Regeln des Geschmacks. Künstliche Regeln oder höhere Bildung werden zur Beurteilung des Schönen nicht erfordert. Ein gelehrter bzw. gebildeter Geschmack sei sogar als schlechter anzusehen. „Was schön ist, muß allgemein, und jedermann gefallen. zu Beurtheilung der Schönheit wird Erfahrung erforderet, und das urtheil vom schönen und Hässlichen wird zu Folge der gemeinen und gesunden Vernunft gefället.“ (Logik Blomberg 24:19, vgl. Refl. 3716, 17:256).
Im Common Sense sieht Kant die entscheidende Instanz beim Geschmacksurteil. Geschmack ist für ihn der Common Sense hinsichtlich des Schönen. Aufgrund dieser engen Verzahnung wird der gewöhnliche Verstand von Kant in der Ästhetik als Vorlage und Maßstab genutzt. Zu Geschmacksurteilen befähigt den Common Sense, dass er subjektive, aber allgemein geteilte Überzeugungen auszudrücken vermag. Dazu nimmt er einen allgemeinen Standpunkt ein. In einem Verstandesakt setzt der Common Sense die in der Gemeinschaft vorherrschende Meinung in ein Verhältnis zur sinnlichen Empfindung und fällt daraufhin sein Urteil. Der Geschmack ist für Kant „das Vermögen, das, was sinlich gefält, einstimig mit anderen zu wählen. [. . .; RN] Wenn wir einen wegen Mangel des Geschmaks beschuldigen, so sagen wir nicht, daß es ihm nicht schmeke, sondern daß es anderen nicht schmeke.“ (Refl. 647, 15:284; vgl. Refl. 623 ff., 15:270 ff.; Refl. 1871 f., 16:144 f.; Refl. 1896, 16:151).
Der Common Sense zeigt sich in diesem Zusammenhang vor allem in seiner Bedeutung als gemeinschaftlicher Sinn. Ohne sich auf objektive Regeln berufen zu können, versteht er es, allgemeingültig zu wählen. (Vgl. Refl. 1483, 15:693; Refl. 1487, 15:724 ff.; Refl. 1872, 16:145; Refl. 1894, 16:151.) Das Geschmacksurteil offenbart auf diese Weise einen gemeinschaftlichen Charakter und dient auch ausdrücklich der Geselligkeit (vgl. Refl. 743, 15:327; Refl. 767, 15:334; Refl. 818, 15:365).89 5. Weltkenntnis Ab 1756 hält Kant Vorlesungen über physische Geographie, von 1772 an im Wechsel mit Vorlesungen über pragmatische Anthropologie. In der Geographie vermittelt Kant die Kenntnis von der Natur, in der Anthropologie die von der Natur des Menschen. Naturkenntnis und Menschenkenntnis zusammen ergeben für ihn eine pragmatische Kenntnis von der Welt. (Vgl. Racen 2:443, Anthropologie Collins 25:9, Anthropologie Friedländer 89 Urteile über das Schöne bergen auf diese Weise schon beim vorkritischen Kant eine moralische Dimension. Dieser Zusammenhang wurde von Birgit Recki näher untersucht. Vgl. dies.: Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft, Frankfurt/M. 2001, S. 11 ff.
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25:469 f.) Dieser Weltkenntnis weist Kant im Wesentlichen zwei Funktionen zu – die der Vor- und Nachbereitung von Studium und Wissenschaft. In einer Vorlesungsankündigung von 1765 kritisiert Kant, dass die Studierenden bereits abgehobene Aussagen über die Welt machen, ohne hinreichende empirische Kenntnis von ihr zu besitzen. Mit seiner Vorlesung über physische Geographie möchte er diesen Mangel an Erfahrung beseitigen. Auf leicht verständliche und unterhaltsame Weise soll mit der Natur bekannt gemacht werden. Außerdem soll die praktische Vernunft angeregt werden, ihre Kenntnisse später kontinuierlich selbst zu erweitern. (Vgl. Nachricht 2:312 f., Entwurf Geographie 2:3 f.) Auch in der Anthropologie folgt Kant dem Motto: „Man behält nichts aus den Büchern wozu man nicht gleichsam Fächer im Verstande hat.“ (Anthropologie Collins 25:8). Der „Naturerkentniß des Menschen“ (Anthropologie Collins 25:8, vgl. Anthropologie Friedländer 25:471) kommt damit ebenfalls eine vorbereitende Rolle zu (vgl. Brief an Herz 10:145 f.). Menschenkenntnis ist nicht nur in der Moralphilosophie das „Fundament aller Erkentniße“ (Anthropologie Collins 25:9; vgl. Moralphilosophie Kaehler, S. 5; Anthropologie Friedländer 25:471; Philosophische Enzyklopädie 29:44; Refl. 4927, 18:30). In Nachricht kündigt Kant an, auch seiner Metaphysik-Vorlesung eine „Erfahrungswissenschaft vom Menschen“ voranzustellen (vgl. 2:309). Weltkenntnis soll Schule und Wissenschaft nicht nur vorangehen, sondern auch folgen. In einer Vorlesungsankündigung von 1775 z. B. definiert Kant Weltkenntnis als Kenntnis, „welche dazu dient, allen sonst erworbenen Wissenschaften und Geschicklichkeiten das Pragmatische zu verschaffen, dadurch sie nicht bloß für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimmung, nämlich in die Welt, eingeführt wird.“ (Racen 2:443; vgl. Refl. 1482, 15:658 ff.).
Weltkenntnis ist für Kant notwendig, um „die Wissenschaften gehörig anzuwenden“ (Anthropologie Collins 25:9, vgl. Anthropologie Friedländer 25:469 f.). Indem Kant sie auch an den Schluss akademischer Unterweisung setzt, unterstreicht er, dass die pragmatische Anthropologie eine wichtige Ergänzung der transzendentalen Anthropologie darstellt – ein Zusammenhang, der in der kritischen Philosophie bestehen bleibt, auch wenn er dort aufgrund einer anderen Aufgabenstellung leicht aus dem Blick gerät (vgl. Refl. 903, 15:395).90 Im Kern zeichnet das, was Kant als Weltkenntnis beschreibt, den Common Sense im Sinne eines gemeinsam geteilten Wissens aus. Wie dieser 90 Vgl. Brandt, Reinhard/Stark, Werner: Einleitung, in: AA 25:XIII und Gerhardt: Kant, S. 55 ff.
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repräsentiert die Weltkenntnis ein konkretes, empirisches, lebensnahes Wissen, dessen Vorzug primär in der Anwendung liegt. Beide stehen in Opposition zu Spekulation, Schuldogmatik und Pedanterie. Weltkenntnis stellt als Allgemeinbildung eine Erweiterung des Common Sense in seiner Bedeutung als allgemein verbreitetes Grundwissen dar. Einerseits dient sie dazu, den Common Sense als Fähigkeit zu üben und ihn als Wissen zu bereichern. Andererseits ist der Common Sense bereits selbst eine Form von Weltkenntnis. Die Vorlesungen über physische Geographie und pragmatische Anthropologie sollen den Common Sense zu einem Hilfsmittel der Wissenschaft ausbilden. Als feste Grundlage vor und kalte Dusche nach schnell trunken machender spekulativer, gelehrter Wissenschaft gehört der Common Sense für Kant notwendig an Anfang und Ende von Lehre und Forschung. Darüber hinaus vermag er es, auch während des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses Orientierung zu geben. * * * Basis, Korrektiv und Ziel – zu diesen drei Punkten lässt sich der Nutzen zusammenfassen, den der vorkritische Kant dem Common Sense hinsichtlich der Wissenschaft und insbesondere der Philosophie zuweist. Der Common Sense dient der Wissenschaft als Grundlage, zur Prophylaxe, als stetiger Anlass zur Selbstprüfung sowie zu ihrer Umsetzung und Verbreitung. Kant kennzeichnet vor Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft eine hohe Wertschätzung für den Common Sense. Zugleich zeigt er diesem Vermögen seine Grenzen auf. Er bindet die Vernunft an die Erfahrung, die vernünftige an die natürliche Erkenntnis, die Suche nach objektiven Regeln an die Kenntnis des Subjekts. Vernunftwissenschaften werden dadurch nicht überflüssig, sondern ergänzt und auf den richtigen Weg gebracht. Bei der Frage, was a priori gültig ist, hat der Common Sense selbst kein Stimmrecht. Kants Urteil über den Common Sense ist fächerübergreifend, überaus differenziert und reflektiert. In dieser Form sucht es zur damaligen Zeit seines gleichen.91 Der vorkritische Kant zeigt sich als Philosoph des Common Sense. Dieses Ergebnis soll auf die Probe gestellt werden durch einen kurzen Blick darauf, wie Kant während seiner vorkritischen Schaffensphase zur zeitgleich vorherrschenden Philosophieströmung steht, welche heute als ‚Popularphilosophie‘ oder ‚Philosophie des gesunden Menschenverstandes‘ bezeichnet wird. 91 Vgl. Kuehn: Scottish, S. 194; Gerhardt, Volker: Vernunft und Interesse. Vorbereitung auf eine Interpretation Kants, Münster 1976, S. 358.
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Eine Untersuchung von Kants Vorlagen und Vorgängern kann im Rahmen dieser Arbeit aufgrund von Platzmangel, der Entfernung vom eigentlichen Thema und einem unweigerlichen Dominoeffekt nur sehr eingeschränkt geleistet werden. Kant hat seinen Vorlesungen u. a. Handbücher von Baumgarten und Meier zugrunde gelegt und verdankt viele Erkenntnisse der Auseinandersetzung mit den Schriften von Rousseau und Hume, Leibniz und Wolff, Crusius, Reimarus, Spalding, Basedow, Mendelssohn, Sulzer, Platner und vielen weiteren. Eine Analyse dieser Materialien unter dem Gesichtspunkt des Common Sense könnte aber zweifellos interessante entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge zu Tage fördern.
III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie Es ist üblich geworden, die Philosophie der deutschen Aufklärung in vier Etappen zu unterteilen. Dabei wird der Zeitraum zwischen Frühaufklärung (ca. 1690–1720) und Spätaufklärung (ca. 1780–1800) als Hochaufklärung bezeichnet. Innerhalb dieser Phase dominiert von etwa 1720 bis 1750 die Schulphilosophie und von etwa 1750 bis 1780 die Popularphilosophie. Letztere knüpft an Tendenzen der deutschen Frühaufklärung wie die exoterisch orientierte Philosophie von Thomasius an. Auch Locke und vor allem die schottische Common-Sense-Philosophie sind sehr einflussreich. Ihre Hochphase erlebt die Popularphilosophie von etwa 1750 bis 1780, ihren Höhepunkt um 1770. Als viel diskutiertes Thema bleibt sie bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts einflussreich. Der Popularphilosophie werden u. a. Reimarus, Crusius, Mendelssohn, Tetens, Feder, Meiners, Eberhard, Engel, Hamann, Garve, Jacobi und Herder zugerechnet. Als geistige Zentren dieser Strömung gelten Berlin und Göttingen.92 92 Vgl. Schneiders, Werner: Das Zeitalter der Aufklärung, München 22001, S. 26 ff., 89 ff., 97 ff.; ders.: Philosophie, deutsche und Popularphilosophie, in: ders. (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 307 ff., 324 ff.; Holzhey, Helmut: Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung?, in: ders./Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung, Basel Stuttgart 1977, S. 117 ff.; ders.: Popularphilosophie, in: Historisches Wörterbuch, 7.1989, S. 1093 ff.; Ueding, Gert: Popularphilosophie, in: Rolf Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Deutsche Aufklärung bis zur französischen Revolution, München 3.1980, S. 605 ff.; Rachold, Jan: Aufklärung als Kultur- und Lebensform. Die Philosophie des gesunden Menschenverstandes, in: Bruno Coppieters (Hg.): Die Welt der Aufklärung, Brüssel 1993, S. 27 ff.; Böhr, Christoph: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart/Bad Cannstatt 2003, S. 18–80, 228 ff., 255 ff., 263 ff.; Rosenkranz, Karl: Geschichte der Kant’schen Philosophie, Steffen Dietzsch (Hg.), Berlin 1987, S. 55 ff., 300 ff.; Kuehn: Scottish,
III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie
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Die Popularphilosophie hat viele Namen. Sie begegnet als Philosophie für die Welt, von der Welt, für jedermann, für alle Stände, als Weltphilosophie, Lebensphilosophie, als Philosophie der Weltklugheit oder Lebensklugheit. Oft wird die Popularphilosophie als ‚Philosophie des gesunden Menschenverstandes‘ oder ‚Philosophie der gesunden Vernunft‘ bezeichnet, was sie der Berücksichtigung von Common-Sense-Urteilen und dem Versuch verdankt, Philosophie dem Common Sense verständlich zu machen. Charakteristisch für die Popularphilosophie ist auch ihre Kennzeichnung als Eklektik, mit der ihr Anspruch auf Selbstdenken, auf Unabhängigkeit von einzelnen Schulen und ihr natürlicher Zugang zu den Problemen ausgedrückt wird. Die Popularphilosophie bildet weiterhin eine Form der Weltweisheit, als die sich die deutsche Philosophie des 18. Jahrhunderts in Abgrenzung von der Theologie definiert. Der weltweise Philosoph denkt weltlich und praktisch, er beruft sich auf die allgemeine Vernunft, nicht auf Offenbarung, und er richtet sich an Leute von Welt.93 Weil es innerhalb der Popularphilosophie unterschiedliche Ausrichtungen gibt, lässt sie sich schwer auf einen Nenner bringen. Große Gemeinsamkeiten bestehen aber darin, wie, worüber, an wen und gegen wen geschrieben wurde. Stilistisch betrachtet treten lebendige ‚Entwürfe‘, provisorische ‚Vorüberlegungen‘ und erste ‚Grundlegungen‘ in kurzen Essays und Zeitschriftenartikeln an die Stelle von trockenen Theorien in langatmigen Werken. In diesen und ähnlichen Kleinformen wird anschaulich, verständlich, elegant und in deutscher Sprache formuliert. Philosophieprofessoren werden zu Schriftstellern und wissenschaftliche Erkenntnisse z. T. unterhaltsam. Die logische Vollkommenheit eines Vortrages wird durch ästhetische ergänzt. Entsprechend ändert sich auch die Verfahrensweise in den philosophischen Untersuchungen: Die strenge mathematische Methode weicht oft einer natürlichen Methode, die auch Wahrscheinlichkeit und Plausibilität gelten lässt. Statt praktische Auswirkungen zu deduzieren, wird häufig von der konkreten Erfahrung ausgehend induziert. Hinsichtlich des Inhalts steht die Vermittlung von nützlichem Wissen im Mittelpunkt – der Fokus liegt auf pragmatischen Erkenntnissen zu aktuellen Zeitthemen. Das allgemeine Interesse wird zum Kriterium der Themenwahl. Die Common-Sense-PerspekS. 36 ff.; Beck, Lewis White: Early German Philosophy. Kant and his Predecessors, ND Bristol 1996 (1969), S. 306 ff., 319 ff. 93 Vgl. Holzhey: Philosoph, S. 117 ff.; ders.: Popularphilosophie, S. 1093 ff.; ders.: Philosophie als Eklektik, in: Studia Leibnitiana 15.1983, S. 19 ff.; Zimmerli, Walther Ch.: Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur Teil-Rehabilitierung der Popularphilosophie, in: Hermann Lübbe (Hg.): Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises, Berlin/New York 1978, S. 198 ff.; ders.: Schulfüchsische, S. 144 ff.; Schneiders: Zeitalter, S. 90 f.; Rachold, S. 30 ff.
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
tive findet Eingang in die Betrachtungen. Adressat der Popularphilosophie ist grundsätzlich jeder, egal welchen Standes. Genau betrachtet ist damit aber nur gemeint, wer über eine Grundbildung verfügt. Im Wesentlichen wird das Bildungsbürgertum adressiert – der aufgeschlossene Staatsangestellte und seine lesende Frau, der interessierte Arzt und der weltgewandte Kaufmann. Eine spezielle akademische Vorbildung ist keine Voraussetzung mehr. Obwohl inhaltlich weitgehend auf ihr aufbauend, wird die Popularphilosophie als Gegenentwurf zur Schulphilosophie verstanden. Vor allem Wolff wird zur Zielscheibe der sich vehement gegen Dogma und System richtenden Strömung. Dem Schulwitz wird der Mutterwitz vorgezogen, dem „Schulfuchs“ der gewöhnliche Bürger.94 Es ist bemerkenswert, dass sich Kants Publikationszeitraum (1749 bis 1798) mit der Dauer der Popularphilosophie ziemlich genau deckt. Kants vorkritische Schaffensperiode verläuft parallel zur Hochphase der Popularphilosophie. Seine kritische und nachkritische Periode fallen in die Zeit ihrer Spätphase. Kants Verhältnis zur Popularphilosophie soll dementsprechend in zwei Teilen untersucht werden. Zunächst ist zu prüfen, ob der vorkritische Kant Popularphilosoph war. Geklärt werden soll, inwiefern seine Arbeiten populär sind und damit – wie er selbst sagt – dem Common Sense angemessen (vgl. Refl. 1887 f., 16:148 f.). Dazu werden Form und Inhalt bzw. Stil, Methode und Themenwahl untersucht, woraus auch hervorgehen soll, an wen und gegen wen sich Kant richtet. In Kapitel E. IV. erfolgt diese Untersuchung für den Zeitraum ab 1781. Kants Stil kennzeichnen Wortwucht und Wagemut, Witz und Wahrhaftigkeit. Der frühe Kant führt eine feine Feder. Er wirkt frisch, forsch, fast frech. Kant ist kühn und keck, kraftvoll und kokett. Er kennt kaum Konventionen. Leser von Kants Kritiken sind zwangsläufig überrascht. Der vorkritische Kant veröffentlicht keine umfassenden Großwerke, sondern kurze Abhandlungen – Artikel, Ankündigungen, Preisschriften, Entwürfe, Überlegungen, Essays. Schon ihre Titel versprechen Kurzweil und wecken Interesse. Kants Publikationen heißen ‚Gedanken‘, ‚Betrachtungen‘, ‚Versuche‘, ‚Beobachtungen‘ etc.95 Diese Punkte werden bereits in Kants erster Schrift, Wahre Schätzung, sichtbar. Die vorangehende Zueignung an den Königsberger Professor Boh94 Vgl. Zimmerli: Arbeitsteilige Philosophie, S. 198 ff.; Holzhey: Philosoph, S. 117 ff., Schneiders, Werner: Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, in: Studia Leibnitiana 15.1983, S. 2 ff.; Ueding, S. 605 ff.; Rachold, S. 27 ff. 95 Vgl. Goetschel, Willi: Kant als Schriftsteller, Wien 1990, S. 21–104, 147 ff.; Vorländer, Karl: Immanuel Kant. Der Mann und das Werk, 2 Bände, Wiesbaden 3 2003 (1924), Band 1, S. 55 ff., 94 ff., 144 ff., Band 2, S. 94 ff., 112 ff.; Gulyga, S. 24 ff., 30 ff., 44 ff., 77 ff., 85 f., 90 ff.; Gerhardt: Kant, S. 57 ff.
III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie
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lius wirkt ironisch. Kant betont die Unwürdigkeit des Verfassers und die Unvollkommenheit der Schrift. Das ‚Werkchen‘ sei eine schlechte Sache und enthalte im Grunde nichts, was ein positives Urteil rechtfertigen könne (vgl. 1:5 f.). Untertänige Widmungen waren zur damaligen Zeit zwar noch üblich, aber Kant übertreibt diese Konvention. Auch der starke Kontrast, in dem der Geist der folgenden Seiten zu ihr steht, lässt Zweifel am Ernst der Zueignung aufkommen. Die sich anschließende Vorrede ist nicht nur eine Ankündigung der folgenden Kapitel, sondern zugleich Programm für seine nachfolgenden Werke. Kant verkündet, sich seinen zukünftigen Weg bereits vorgezeichnet zu haben. Er bekennt sich selbstbewusst und nachdrücklich zum Selbstdenken. Schließlich gebe es nichts Gefährlicheres, als sich nur auf der von seinen Vorgängern gebahnten „Heeresstraße“ zu bewegen. Kant kennt keine Scheu vor großen Namen. In seiner Erstlingsschrift widerspricht er geistigen Größen wie Descartes, Leibniz und Wolff. Seine schonungslose Betrachtungsweise rechtfertigt er mit der Annahme, dass diese Form der Kritik auch im ureigensten Interesse der jeweiligen Autoritäten liege. Obwohl Kant die von ihm kritisierten Persönlichkeiten auch seiner Hochachtung versichert, wirkt die Abhandlung anmaßend. Der junge Student bekennt sich ganz offen zu seinem unbescheidenen Auftreten: „Ich stehe in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütze, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigene Kräfte zu setzen. Eine Zuversicht von der Art belebt alle unsere Bemühungen und ertheilt ihnen einen gewissen Schwung, der der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist.“ (1:10, vgl. 1:6 ff.).
Kant schlüpft in seinem Erstlingswerk nach eigenem Bekunden in die Position des Schriftstellers, dessen Aufgabe er ausdrücklich von der des Gelehrten unterscheidet. Der Schriftsteller habe sich so leicht und einfach zu fassen, wie die Thematik es zulasse. Diesen Auftrag macht Kant sich zum Gesetz. (Vgl. 1:10 ff.) Er schreibt zielgerichtet, pointiert und allgemeinverständlich. Trotz einer eingehenden Beweisführung bleibt die Abhandlung vergleichsweise kurz und ihre Struktur übersichtlich. Kants Sätze sind relativ einfach, klar und deutlich. Vor diesem Hintergrund kann es auch kein Zufall sein, dass Kant sich statt der damals üblichen Gelehrtensprache Latein des Deutschen bedient.96 Kant schreibt Sachprosa, ist dabei aber alles andere als trocken. Er drückt sich elegant und für seine Zeit modern aus. Im Spiel mit dem Ausdruck dringen – vor allem in der Vorrede – immer wieder jugendliche Angriffslust und leidenschaftliche Übertreibung durch. Dieser Schreibstil setzt sich in den meisten Veröffentlichungen vor der ersten Kritik fort, wobei jeweils unterschiedliche Aspekte bestimmend sind. 96
Vgl. Vorländer, Band 2, S. 94 ff.
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
Kants zweite größere Schrift z. B., die 1755 anonym veröffentlichte Allgemeine Naturgeschichte, kennzeichnet ein hoher Grad an Pathos, Fantasie und Emotion. Kants große Anschaulichkeit trägt hier stark zur Verständlichkeit bei. Indem er die Natur mit poetischen Bildern beschreibt und Sinnsprüche seiner Lieblingsdichter Pope und Haller einbindet, ist er dem Dichterischen sehr nahe. Arsenij Gulyga hat diesen poetischen Stil – selbst recht poetisch – folgendermaßen beschrieben: „Das verwunderte Staunen angesichts der harmonischen Natur und vor der eigenen Kraft der Einsicht ergießt sich in einen Strom begeisterter Worte.“97
Anschaulich und praktisch angelegt ist auch der Essay Beobachtungen von 1764. Schnell wird klar, weshalb dem Autor wenig später eine Professur für Poetik und Rhetorik angeboten wird.98 Kant schreibt humorvoll und aphoristisch, sein Ausdruck ist fein geschliffen. Ironisch-amüsant widmet er sich den Gegenständen des Geschmacks. Kant präsentiert sich als poetisch betrachtender Schöngeist. Die 1766 erscheinenden Träume enthalten eine bissige Satire auf die spiritualistische Metaphysik Swedenborgs, einem Hellseher, dessen Visionen damals für Furore sorgen. Kant ist zu Scherzen aufgelegt, neigt darin aber zur Übertreibung. Seine Polemik rechtfertigt er als angemessene Reaktion auf den vorgefundenen spektakulären Unsinn. Aber nicht nur die Verfechter des Paranormalen werden gemaßregelt. Kant zieht Parallelen zwischen traditionellen, rein spekulativen Metaphysikern und den Geistersehern. Seine heitere Ironie macht selbst vor der Religion nicht Halt. Von 1755 an hält Kant Vorlesungen. Er soll sich in ihnen nicht immer streng an die vorgeschriebenen Lehrbücher gehalten und zuweilen anregend, heiter und leicht abschweifend vorgetragen haben. Am fasslichsten seien seine Veranstaltungen über physische Geographie und Anthropologie gewesen, heißt es. Kants Vortragsweise sei hier besonders klar, anschaulich und unterhaltend gewesen.99 Dem Umstand, dass Privatdozenten zu Kants Zeiten ihre Veranstaltungen nicht in den Vorlesungsverzeichnissen der Universitäten ankündigen durften100, verdanken sich mehrere interessante Programmschriften, in denen Kant um Hörer wirbt. Ihrem Zweck entsprechend fallen diese Vorlesungsankündigungen z. T. sehr polemisch aus. Kant übt Kritik an den Inhalten und Methoden der Schulen bzw. Universitäten und präsentiert seine Lehre 97
Gulyga, S. 31. Vgl. Gerhardt: Kant, S. 58, 91. 99 Vgl. Malter, Rudolf (Hg.): Immanuel Kant in Rede und Gespräch, Hamburg 1990, S. 26 ff., 57 ff., 81, 216 ff.; Vorländer, Band 1, S. 82 f., 144 f., 200 f., Band 2, S. 60 ff. 100 Vgl. Vorländer, Band 1, S. 114. 98
III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie
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im Kontrast dazu als unabhängig und neuartig. Für das Sommersemester 1758 kündigt er z. B. an, die traditionellen Begriffe der Bewegung, Ruhe und Trägheitskraft verwerfen zu wollen. Er bittet seine Hörer, mit ihm zusammen der ‚Wolff’schen Zwangsmühle‘ zu entsteigen, um den Blick für neue Einsichten frei zu bekommen. (Vgl. Lehrbegriff 2:15 ff.) In einer Ankündigung von 1759 kritisiert Kant die Schulweisheiten von Leibniz, Crusius und Reinhard und behauptet, dass es für die Einsicht in offenbare Wahrheiten keiner Schulgelehrsamkeit bedarf. (Vgl. Optimismus 2:29 ff.) Nicht populär ist dagegen der Stil in den vier Dissertationen Kants. Der Verfasser hält sich in ihnen an die bestehenden Vorschriften.101 Er schreibt in Latein und bleibt auch bei Struktur und Wortwahl schulgerecht. In der Magister-Dissertation De igne legt Kant seine Betrachtungen über das Feuer sachlich-trocken und nahezu devot dar. In der kurz darauffolgenden Dissertation zur Habilitierung Nova dilucidatio tritt er bereits selbstbewusster auf und macht seine Unabhängigkeit von geistigen Autoritäten wie Descartes, Leibniz und Crusius deutlich. Kant ist um Kürze bemüht und schafft es, seiner Arbeit punktuell Anschaulichkeit zu geben. Ansonsten behandelt er sein Thema – wie in den späteren Dissertationen Monadologia physica und De mundi – vorschriftsgemäß rein akademisch. Kants Dissertationen sind in ein strenges Raster aus durchnummerierten Abschnitten und Sätzen gepresst. In der Regel folgt auf eine These eine Erläuterung und auf diese ein Zusatz. Auch in seinen wenigen heute noch erhaltenen Briefen wirkt Kant nicht populär. Meist bedient er sich ihrer zeituntypisch nur zur privaten Gelegenheitskorrespondenz. Er nutzt sie nicht als literarische Kunstform oder Sprachrohr zur Öffentlichkeit. Kant äußert sich in der Regel zurückhaltend oder wie Vorländer es ausgedrückt hat: „immer besonnen, nie genial“102. Die Methode, der sich Kant in seinen vorkritischen Arbeiten bedient, ist nicht einheitlich. Es fällt jedoch auf, dass er in vielen Veröffentlichungen Wahrscheinlichkeit, Analogie und Glaubwürdigkeit den Vorzug gegenüber geometrischer Schärfe, mathematischer Unfehlbarkeit, philosophischer Genauigkeit, systematischer Vollständigkeit oder förmlichen Beweisen gibt (vgl. ANG 1:235 f., 1:255, 1:315; Erdbeben 1:419; Entwurf Geographie 2:3 f.; Beweisgrund 2:67 f.; Racen 2:429). In diesen Fällen schildert Kant häufig nur Beobachtungen, vertraut unmittelbaren, vorläufigen Urteilen und plädiert für Kürze und Nützlichkeit (vgl. ANG 1:255; Winde 1:503; Entwurf Geographie 2:3; Spitzfindigkeit 2:57; Beweisgrund 2:71, 2:87; Beobachtungen 2:207; Racen 2:429, 2:443). 101
Vgl. Vorländer, Band 2, S. 95. Vorländer, Band 2, S. 113; vgl. Malter, Rudolf/Kopper, Joachim: Einleitung, in: Rudolf Malter (Bearb.): Briefwechsel. Immanuel Kant, Hamburg 1986, S. XIX ff. 102
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
Sehr charakteristisch für Kants Methode ist die Orientierung an der Erfahrung. Als der Boden, den niemand ungestraft verlässt, dient sie ihm zum Ausgangspunkt und zur Bestätigung seiner Argumentationen (vgl. Träume 2:368, Deutlichkeit 2:285 f., Winde 1:493 ff.). In den Wissenschaften einen Bezug zur Erfahrung herzustellen, ist ein zentrales Anliegen Kants. Er ist davon überzeugt, dass man erst die Sache selbst vor Augen haben muss, bevor man sie wissenschaftlich untersuchen kann (vgl. Beweisgrund 2:71, Deutlichkeit 2:285 f.). Mit der Vermittlung von Erfahrungen solle daher auch ein Studium beginnen – erst auf der Basis fundierter Weltkenntnis dürfe der Schritt in die höheren Regionen der Vernunft gewagt werden (vgl. Nachricht 2:305 ff., 2:312). Ähnlich stark wie auf Erfahrung beruft sich Kant auf den Common Sense. In Lehrbegriff bekennt er offen, dass seine Überlegungen nur durch gesunde Vernunft gerechtfertigt sind (vgl. 2:15 f.). Auf ihre Grundsätze und das Urteil des gemeinen Verstandes beruft sich Kant auch in Optimismus, Beweisgrund und Deutlichkeit. Dabei rühmt er die Kompetenz des Common Sense in den wesentlichen Fragen der Menschheit. (Vgl. 2:29, 2:33; 2:65, 2:117, 2:124, 2:161; 2:289.) Kant bezieht sich aber nicht nur dann auf den Common Sense, wenn er dies wie in diesen Fällen ausdrücklich erwähnt. Der Common Sense wird bemüht, sobald auf die Einfachheit der Argumente, auf gemeine Erfahrung oder jedermanns Zustimmung verwiesen wird – und sei es nur rhetorisch (vgl. z. B. Wahre Schätzung 1:13, 1:153, 1:168 ff.; Erdbeben II 1:450, 1:457; Winde 1:500; Monadologia 1:478; Träume 2:328). All dies zeugt von Kants Bevorzugung einer natürlichen Methode, unter der er selbst eine populäre, d.h. dem Common Sense angemessene Methode versteht. Dieser gibt er gegenüber der gekünstelten bzw. künstlichen Methode den Vorzug. (Vgl. Refl. 3359 f., 16:788; später Logik 9:148.) Wenn Kant aus der Perspektive augenscheinlicher Erfahrung argumentiert, um Irrtümer aufzudecken und plausible Alternativen anzubieten, dann zieht er damit keineswegs die Notwendigkeit von gründlicher Forschung in Zweifel: Wer Perlen sucht, muss in die Tiefe (vgl. Winde 1:503). Ausdruck seines Bemühens um einen natürlichen Zugang zu den wissenschaftlichen Problemen ist auch Kants häufige Verwendung der induktiven, naturwissenschaftlichen Methode. Es zählt zu den zentralen Anliegen seiner vorkritischen Philosophie, diese von Newton geprägte Vorgehensweise mit der von Leibniz bestimmten Metaphysik zu vermitteln. Kant sieht die traditionelle Metaphysik in einer schweren Krise, weil sie ihre Erkenntnisse nur aus feststehenden Definitionen deduziert, ohne gewährleisten zu können, dass diese Voraussetzungen auch den zu klärenden Problemen entsprechen. Diesem Top-down versucht Kant ein Bottom-up voranzuschicken. Dazu steigt er von der konkreten Erfahrung zu deren allgemeinen Prinzipien auf.
III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie
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Er abstrahiert vom Begriff in seinem alltagspraktischen Kontext. Erst diese Verallgemeinerung soll die Gesetze liefern, die vorausgesetzt werden können. Vom Bemühen um eine Synthese beider Modelle zeugen vor allem Allgemeine Naturgeschichte, Nova dilucidatio, Monadologia physica, Negative Größen und Deutlichkeit. In Träume und Gegenden äußert Kant Zweifel an seinem Plan. Das Jahr 1769 gibt dann das große Licht. Bis die Problematik in De mundi auf eine neue Stufe gehoben und damit ihre Thematisierung in der Kritik der reinen Vernunft direkt vorbereitet wird, vertritt Kant diese Auffassung: „Die ächte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte, und die daselbst von so nutzbaren Folgen war. Man soll, heißt es daselbst, durch sichere Erfahrungen, allenfalls mit Hülfe der Geometrie die Regeln aufsuchen, nach welchen gewisse Erscheinungen der Natur vorgehen. Wenn man gleich den ersten Grund davon in den Körpern nicht einsieht, so ist gleichwohl gewiß, daß sie nach diesem Gesetze wirken, und man erklärt die verwickelte Naturbegebenheiten, wenn man deutlich zeigt, wie sie unter diesen wohlerwiesenen Regeln enthalten seien. Eben so in der Metaphysik: suchet durch sichere innere Erfahrung, d.i. ein unmittelbares augenscheinliches Bewußtsein, diejenige Merkmale auf, die gewiß im Begriffe von irgend einer allgemeinen Beschaffenheit liegen, und ob ihr gleich das ganze Wesen der Sache nicht kennet, so könnt ihr euch doch derselben sicher bedienen, um vieles in dem Dinge daraus herzuleiten.“ (Deutlichkeit 2:286).103
Als Ausdruck von Kants Befürwortung einer natürlichen Methode ist außerdem zu betrachten, was in Kapitel und C. I. und C. II. festgestellt wurde – dass Kant die Wissenschaften und ihre Disziplinen dazu anhält, sich an der natürlichen Beschaffenheit ihrer Gegenstände zu orientieren, also Theologie an natürlicher Religion, Rechtskunde an natürlichem Recht, Logik an natürlicher Logik, Moralphilosophie an natürlicher Sittlichkeit usw. Bei Kants Themenwahl schließlich sind Aktualität und Breitenwirkung von besonderer Bedeutung. Kant äußert sich vornehmlich zu aktuellen Problemen der zeitgenössischen Wissenschaft und zu Fragen des allgemeinen Interesses. Die Arbeiten Wahre Schätzung, Allgemeine Naturgeschichte, Beweisgrund, Negative Größen, Gegenden, Beobachtungen oder Träume widmen sich Themen, die im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses der Zeit stehen. Umdrehung der Erde, Ob die Erde veralte und Deutlichkeit beantworten damalige Preisfragen der Berliner Akademie der Wissenschaften. In einigen dieser Veröffentlichungen adressiert Kant vorrangig das gelehrte Fachpublikum (vgl. z. B. Wahre Schätzung 1:11). Sie sind zu voraussetzungsvoll für den durchschnittlich gebildeten Bürger. Anderes ist auch für Fachfremde von großem Interesse, etwa die ästhetisch-moralischen Über103
Vgl. Irrlitz, S. 70 ff., 95 ff.
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
legungen in den viel gelesenen Beobachtungen104, Kants These von der Existenz außerirdischen Lebens in Allgemeine Naturgeschichte (vgl. 1:351) oder seine Auseinandersetzung mit dem Spiritualisten Swedenborg in Träume (vgl. 2:353 ff.). Von vornherein für einen breiteren Kreis gedacht sind andere Veröffentlichungen. Mehrfach äußert sich Kant etwa zum Erdbeben von Lissabon, das 1755 ganz Europa erschüttert und die portugiesische Hauptstadt fast vollständig zerstört. Seine Aufsätze finden große Nachfrage, nicht nur bei der Fachwelt. Ein zum Stadtgespräch gewordener ‚Ziegenprophet‘, der in den Königsberger Wäldern haust, bildet den Anlass zu der Schrift Krankheiten. Einem aktuellen Zeitthema von öffentlichem Interesse widmet sich Kant auch in seinen Aufsätzen über das Philanthropin – einer fortschrittlichen Bildungsanstalt unter der Leitung Basedows. Das Thema von Racen ist so populär, dass die Arbeit sogar in die Sammlung Der Philosoph für die Welt aufgenommen wird, die heute als die bekannteste Veröffentlichung der Popularphilosophie gilt (vgl. Brief an Engel 10:256). Von einer populären Auswahl der Themen ist – wie bereits bemerkt – auch in Zusammenhang mit Kants Vorlesungen über physische Geographie und Anthropologie zu sprechen. Die in ihnen vermittelte interessante und pragmatische Weltkenntnis lockt neben Studenten anderer Fakultäten auch städtisches Publikum an. Mit seiner Hinwendung zu Ästhetik, Moralphilosophie, natürlicher Religion, pragmatischer Anthropologie, physischer Geographie und Pädagogik widmet sich Kant generell typischen Themen der Popularphilosophie.105 Zusammenfassend können Stil, Methode und Themenwahl des vorkritischen Kant populär genannt werden. Der frühe Kant drückt sich mit wenigen Ausnahmen elegant und prägnant, anregend und anschaulich aus. Er ist dabei weder anspruchslos noch volkstümlich – seine Rede schmücken u. a. ironische Bemerkungen und kunstvolle Wendungen. Kant bevorzugt eine natürliche Methode, die den Leser durch Erfahrungsbezüge und Nachvollziehbarkeit mitnimmt. Außerdem widmet er sich populären Zeitthemen, die nicht nur für Gelehrtenkreise interessant sind. Kants Zielpublikum und seine Kritik an den geistigen Autoritäten untermauern das Streben nach Popularität. Über das Forum der Fachgelehrten hinaus adressiert er häufig auch die Gruppe der bürgerlichen Leser. Nur Weniges – wie seine Dissertationen – ist ausschließlich für die Fachgemeinschaft gedacht. Zusammen betrachtet mit der in Kapitel C. I. und C. II. aufgezeigten außerordentlichen Bedeutung des Common Sense für Wissenschaft und Phi104
Vgl. Vorländer, Band 1, S. 160 f. Vgl. Vorländer, Band 1, S. 162 f., 215, 220 ff.; Gulyga, S. 43 ff., 85 f., 102; Ueding, S. 605; Rosenkranz, S. 55 ff. 105
III. Kant und die Hochphase der Popularphilosophie
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losophie kann kein Zweifel daran bestehen, dass der vorkritische Kant Popularphilosoph, Philosoph des Common Sense war – formal wie inhaltlich. Die These, dass der frühe Kant der Popularphilosophie zugerechnet werden kann, ist nicht neu. Sie wurde bislang aber nur andeutungsweise und wenig fundiert vertreten.106 Vor allem in Bezug auf seine Wertschätzung und Berücksichtigung des Common Sense muss der vorkritische Kant jedoch der Popularphilosophie zugerechnet werden – im Hinblick auf die Durchdrungenheit seiner Werke vom Geist der Popularität sowie der Themenbreite und Bedeutung dieser Arbeiten sogar als einer ihrer Hauptvertreter. Was Kant zu einem für Common Sense und Popularität offenen Denken bewogen hat, ist schwer zu belegen, der Zeitpunkt einer solchen Kehre schwer zu datieren. Dennoch existieren nennenswerte Einflüsse. Kant wächst z. B. als viertes Kind eines Handwerkers in ärmlichen Verhältnissen auf. Er bewundert den „großen natürlichen Verstand“ seiner Mutter und glaubt, diesen geerbt zu haben. Prägend soll auch die qualvolle pietistische Erziehung gewesen sein. Der junge Kant leidet unter der Strenge, der Lebensferne und dem Dogmatismus des Fridericianums. Kant ist aber nicht nur Kind seiner Eltern, sondern auch seines Zeitalters. Er beginnt seine wissenschaftliche Karriere als begeisterter Aufklärer. Seine Aufnahme in den Kreis der Akademiker Mitte des 18. Jahrhunderts fällt in die Zeit des Durchbruchs der Popularphilosophie. Kant sind die Schriften von Crusius, Reimarus etc. vertraut. Trotz einiger Differenzen ist er fasziniert vom Geist des Neuen, der in ihnen begegnet. Die beiden Denker, die den vorkritischen Kant am meisten prägen, sind Hume und Rousseau. Hume, der Kant aus seinem „dogmatischen Schlummer“ weckt, vertritt einen skeptischen Empirismus, der im Kern auf den Common Sense gegründet ist. Kant ist sich dessen vollends bewusst, auch wenn er Hume später gegen die schottischen Common-Sense-Philosophen in Schutz nimmt. (Vgl. Prol 4:258 ff.) An Rousseau beeindruckt Kant, dass er die unverfälschte Natur des Menschen zum Ausgangs- und Bezugspunkt seiner Überlegung nimmt. 1762 soll Kant den Contrat social und Emile gelesen haben. Mitte der 1760er Jahre notiert er in Bemerkungen: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen“ (20:44). 106 Vgl. Rosenkranz, S. 65, 300; Ueding, S. 609; Böhr, S. 171 ff.; Vorländer, Band 1, S. 161.
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C. Common Sense und Popularität. Das vorkritische Werk
Nicht unwichtig für die Konfrontation mit dem gewöhnlichen Leben und seine Wertschätzung für den dort gefragten Verstand wird auch Kants gesellschaftliches Verkehren mit Nichtakademikern gewesen sein. Schon früh pflegt er einen geselligen Umgang mit verschiedensten Leuten der Gesellschaft. Als sehr einflussreich gilt die enge Freundschaft zum englischen Kaufmann Green. Ein guter Freund, von dem Kant noch spät in höchsten Tönen spricht, war außerdem ein Oberförster namens Wobser – ein Mann von großer Natürlichkeit und gesundem Verstand. Zu Gast in dessen idyllisch gelegenen Forsthaus schreibt Kant 1764 seine Beobachtungen.107 Anhaltspunkte wie diese können nur vermuten lassen, was den vorkritischen Kant zu einer Kehre zum Common Sense bewogen hat, zu einem Philosophieren, das vom praktischen Leben ausgeht, sich an ihm orientiert und wieder zu ihm zurückkehrt, ohne dabei unwissenschaftlich zu werden, zu einer – wie Kühn es ausgedrückt hat – „sokratischen Wende“108. Insofern der Common Sense bei Kant schon ab 1755 begegnet und ab 1758 von einer deutlichen Wertschätzung gesprochen werden kann, muss sie ungefähr zwischen 1755 und 1765 stattgefunden haben.
107 Vgl. Malter: Rede, S. 12, 95; Vorländer, Band 1, S. 14 ff., 22 ff., 117 ff., 142 ff., 214 ff., Band 2, S. 26 ff.; Gulyga, S. 20 ff., 58 ff. 108 Vgl. Kühn, Manfred: Kant. Eine Biographie, München 42004 (2001), S. 161.
D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke Im Folgenden sind Kants Kritiken zu untersuchen. Die Werke werden in umgekehrter Reihenfolge ihres Erscheinens behandelt. Die Kritik der Urteilskraft bildet den Anfang, weil in ihr mit ‚reflektierender Urteilskraft‘ und ‚Gemeinsinn‘ grundlegende Momente des Common Sense betrachtet werden. Sie wirken bis in die ersten zwei Kritiken zurück und ergänzen diese. Da beide Teile der Kritik der Urteilskraft zu Kants kritischer Ethik überleiten, wird anschließend die Kritik der praktischen Vernunft untersucht. Weniger vordergründig, aber ebenfalls von großer Bedeutung sind die Konsequenzen für die Kritik der reinen Vernunft, welche zu guter Letzt betrachtet wird.
I. Die Kritik der Urteilskraft Die in den ersten beiden Kritiken primär untersuchten Formen des Gebrauchs der Urteilskraft kennzeichnet das Ableiten aus allgemeinen Sätzen bzw. Gesetzen. Theoretisch- und praktisch-bestimmende Urteilskraft urteilen ‚von oben herab‘. Auf diese Weise werden sie aber konkreten Situationen oder besonderen Fällen oftmals nicht gerecht. In der Praxis steht dem Urteilenden außerdem nicht immer eine objektiv gültige Anleitung zur Verfügung. – Kant erkennt, dass das in seiner Transzendentalphilosophie dominierende Verständnis von Urteilskraft unzureichend ist. Deshalb widmet er sich in der dritten Kritik ergänzend einem anderen Verfahren der Urteilskraft. Es beinhaltet das Aufsteigen vom konkreten Fall zum allgemeinen Prinzip. Mit der Untersuchung dieser ‚reflektierenden Urteilskraft‘ wird Kant auch dem Feld der Angemessenheit, Anwendung, Realisierung gerecht und erst durch die Würdigung dieses Verfahrens stellt er eine plausible Verknüpfung zwischen reiner Vernunft und wirklichem Leben her (vgl. KU 5:195 ff.). Da das Reich der konkreten Erfahrung, des alltäglichen Lebens die Domäne des Common Sense darstellt, kann es kaum verwundern, dass die Kritik der Urteilskraft auch wesentliche Merkmale dieses Vermögens untersucht. Die transzendentalphilosophische Perspektive verschafft ihnen grundlegende Geltung. Diese Momente des Common Sense sollen nun in ihrer Tragweite dargestellt werden. Hauptaugenmerk gilt dabei der Urteilskraft
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
überhaupt, ihrem reflektierenden Verfahren sowie den Reflexionsprinzipien Gemeinsinn und Zweckmäßigkeit. Die reflektierende Urteilskraft wird entsprechend der Struktur der dritten Kritik vornehmlich anhand ihres ästhetischen und teleologischen Gebrauchs untersucht. 1. Formen der Urteilskraft Urteilskraft überhaupt definiert Kant als „das Vermögen unter Regeln zu subsumiren“, wobei unter Subsumtion die Fähigkeit verstanden wird, „zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (KrV A:132/B:171). In der dritten Kritik heißt es entsprechend: „Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ (KU 5:179). In der ausführlicheren Ersten Einleitung zu diesem Werk wird die Urteilskraft als „das Vermögen der Subsumtion des Besondern unter das Allgemeine“ im Unterschied zum Verstand als dem „Vermögen der Erkenntniß des Allgemeinen (der Regeln)“ und der Vernunft als dem „Vermögen der Bestimmung des Besonderen durch das Allgemeine (der Ableitung von Principien)“ gekennzeichnet (EE 20:201). Die Urteilskraft überhaupt stellt demnach den passenden Zusammenhang von Besonderem und Allgemeinem her. Sie sorgt für die Angemessenheit von Fall und Regel (dem Prinzip oder Gesetz). Die Urteilskraft lässt sich in zwei Richtungen verstehen. Einerseits ordnet sie das Besondere einem bereits vorliegenden oder von ihr erst zu erschaffenden Allgemeinen zu. Andererseits vermag sie, das Allgemeine auf das Besondere anzuwenden. (Vgl. auch ApH 7:199 ff.) Wenn wie in der Transzendentalen Analytik der ersten Kritik die Urteilskraft als Vermögen betrachtet wird, welches erfahrungsunabhängige Leistungen vollbringt, spricht Kant von der ‚transzendentalen Urteilskraft‘. Dieser kommt eine apriorische Vermittlungsfunktion zu. (Vgl. KrV A:132 ff./ B:171 ff.) In Analogie zur transzendentalen steht bei Kant die ‚natürliche Urteilskraft‘. Dieses empirisch-psychologische Vermögen stellt eine elementare Fähigkeit dar, die spätestens mit dem 14. Lebensjahr ausgebildet ist. Sie kann nicht gelehrt werden, sondern reift durch kontinuierliche Ausübung. Urteilskraft in diesem Sinne entscheidet, ob ein konkreter Fall zu einer allgemeinen Regel passt. Sie weiß, ‚worauf es ankommt‘. Als „Talent der Auswahl des in einem gewissen Falle gerade Zutreffenden“ (ApH 7:228) hat sie den Blick fürs Wesentliche, den springenden Punkt. Vor allem Berufsgruppen wie Ärzte, Richter, Politiker, Beamte oder Wissenschaftler bedürfen ihrer. Sie sind zugleich Risikogruppen, denn bei ihren Mitgliedern ist die Urteilskraft, gemessen an der großen Kenntnis allgemeiner Regeln,
I. Die Kritik der Urteilskraft
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oft unterentwickelt – mit verheerenden Folgen für die konkrete Anwendung. (Vgl. KrV A:133 ff./B:172 ff., Spruch 8:275, ApH 7:198 f., 7:227 f., Päd 9:497, Anthropologie Mrongovius 25:1296 ff., Metaphysik Mrongovius 29:889 f.)109 Die Urteilskraft – und in erster Linie ihr natürlicher, empirischer Gebrauch – ist aufs Engste mit dem verbunden, was in dieser Arbeit unter Common Sense gefasst wird. Kant setzt beide Vermögen gelegentlich sogar gleich: „Urtheilskraft (deren richtiger Gebrauch so nothwendig und allgemein erforderlich ist, daß daher unter dem Namen des gesunden Verstandes kein anderes, als eben dieses Vermögen gemeint wird)“ (KU 5:169). „Urtheilskraft, jugement, gesunder Verstand sind einerley und die Verstandesfähigkeit in der Anwendung.“ (Refl. 1861, 16:139).
Entsprechend stimmen Urteilskraft und Common Sense auch in vielen ihrer Eigenschaften überein. Urteilskraft ist charakteristisch für den so genannten Mutterwitz. Sie stellt eine angeborene und keine schulisch erlernbare Fähigkeit dar. Ihr Mangel kennzeichnet Pedanterie und bedeutet Dummheit. Urteilskraft steht im Gegensatz zu Gelehrsamkeit und Spekulation – sie bildet deren notwendige Ergänzung. Ihr Prinzip ist die Angemessenheit. Ihre Kompetenz liegt in der Orientierung und Anwendung. Symptomatisch sind weiterhin ein starker Bezug zum Wesentlichen und eine große Nähe zum Beispiel. (Vgl. KrV A:132 ff./B:171 ff., ApH 7:227 f.) – All diese Momente konnten in Kapitel B. I. dem Common Sense zugewiesen werden.110 Offenbar ist die Gleichsetzung von Urteilskraft und Common Sense aber lediglich metonymisch zu verstehen. Denn Kant bezeichnet mit Urteilskraft nur einen – wenngleich für ihn wesentlichen – Teil des Common Sense. Ein im Sommer 1792 an den Fürsten Beloselsky geschriebener Brief ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich; er fasst auch die Funktionen der oberen Erkenntnisvermögen zusammen und gibt Auskunft über ihr Verhältnis zueinander. Der Common Sense begegnet in Kants Brief als bon sens: „Mit Recht haben Sie Verstand l’intelligence und Urtheilkraft ob sie zwar ganz verschiedene Vermögen sind in eine Sphäre zusammen gezogen weil die Urtheilskraft nichts weiter ist als das Vermögen seinen Verstand in concreto zu be109 Zur Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen von ‚Urteilskraft‘ bei Kant vgl. z. B. Marc-Wogau, Konrad: Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala 1938, S. 1 ff. 110 Darauf, dass im Sprachgebrauch des 18. Jahrhundert die Urteilskraft den gesunden Menschenverstand entscheidend charakterisiert, haben u. a. Gadamer und im Anschluss Tschurenev hingewiesen. Vgl. Gadamer, S. 27 ff.; Tschurenev, EvaMaria: Kant und Burke. Ästhetik als Theorie des Gemeinsinns, Frankfurt/M. 1992, S. 96.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
weisen und die Urtheilskraft nicht neue Erkentnisse schafft sondern nur wie die Vorhandenen anzuwenden sind unterscheidet. Der Titel ist bon sens der in der That hauptsächlich auf der Urtheilskraft ankommt. Man könte sagen durch Verstand sind wir im Stande zu erlernen (d.i. regeln zu fassen) durch Urtheilskraft vom Erlernten Gebrauch zu machen (Regeln in concreto anzuwenden) durch Vernunft zu erfinden Principien für manigfaltige Regeln auszudenken. Daher wenn beyde erstere Vermögen unter dem titel bon sens (eigentlich intelligence und jugement zusammen vereinigt) die erste eigentliche Sphäre des Verstandes ausmachen so ist die Sphare der Vernunft etwas einzusehen mit Recht die Zweyte.“ (11:346).111
Zu Common Sense bedarf es demnach sowohl der Regeln des Verstandes als auch ihrer Anwendung durch Urteilskraft. Urteilskraft mag wesentlich für den Common Sense sein, aber ohne die Regeln des Verstandes wäre er zu keinem Urteil fähig. Bezüglich der Balance von Verstand und Urteilskraft heißt es an anderer Stelle erweiternd: „Verstand und Urtheilskraft mit einander verbunden, doch so daß die Urtheilskraft die Oberhand hat, ist der gesunde Verstand; wenn aber der Verstand die Oberhand hat, so ist das ein nachdenckender und entscheidender Verstand.“ (Anthropologie Pillau 25:774, vgl. Anthropologie Friedländer 25:538; Anthropologie Busolt 25:1478; Refl. 1486, 15:712; Refl. 1614, 16:37).
Insofern sich der letztgenannte grüblerische und zugleich strenge Verstand der Gelehrsamkeit zuordnen lässt, gewinnt das oft bemühte Gegensatzpaar ‚Common Sense – gelehrte Wissenschaft‘ ein weiteres Unterscheidungskriterium. Nicht nur Menge und Anspruch ihrer Regeln, sondern auch die Proportion, in der die Urteilskraft zu diesem Wissen ausgebildet ist, unterscheidet beide Verstandesformen. Bei normalem Verstand dominiert die Anwendungs-, bei wissenschaftlichem Verstand die Regelkompetenz. Ein Mensch von überproportionaler Regelkompetenz und außergewöhnlichem Gedächtnis, aber unterproportional entwickelter Urteilskraft ist für Kant nicht mehr als ein „lebendiges Lexicon“ (vgl. Päd 9:472). Die Bedeutung des Common Sense bei Kant sowie im aktuellen Sprachgebrauch kann aufgrund der Unterscheidung der Vermögen ‚Verstand‘ und ‚Urteilskraft‘ im Verbund ‚Common Sense‘ präzisiert werden. Sowohl im Kant’schen als auch im heute geläufigen Begriffsfeld ‚Common Sense‘ (vgl. Kapitel B. I. bzw. A. I.) wird zwischen Common Sense als Wissen und Common Sense als Fähigkeit unterschieden. Auf der einen Seite stehen Erfahrungsbegriffe und allgemein geteilte Überzeugungen, auf der anderen die allen gemeinsame Fähigkeit, zu solchen zu gelangen. Mit Kant lässt sich der Common Sense nun als Verstand, als Urteilskraft und als die Verbindung beider verstehen – ein Bedeutungszusammenhang, der auch dem aktuellen Verständnis von Common Sense zugrunde liegt. 111
Zu den näheren Umständen des Briefes vgl. Gulyga, S. 323 ff.
I. Die Kritik der Urteilskraft
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Vor dem Hintergrund der Kennzeichnung des Common Sense als Verstand und Urteilskraft erscheint es fraglich, wie in Kapitel B. II. auch eine gemeine Vernunft, eine gesunde Vernunft, eine allgemeine Menschenvernunft etc. dem Sinnbezirk ‚Common Sense‘ bei Kant zugeordnet werden konnten. Denn im Gegensatz zu dem vom konkreten Fall aufsteigenden Common Sense steigt Vernunft stets vom abstrakten Prinzip herab. Gemeine Vernunft sieht aufgrund des Sprichwortes von den kurzen Beinen der Lügen voraus, dass ein Betrug herauskommen wird. Gesunde Vernunft schließt von geringem Luftdruck auf kommenden Regen. Angesichts des starken Erfahrungsbezuges und des gemeinschaftlichen Charakters des natürlichen, (all-)gemeinen, gesunden Gebrauchs der Vernunft sowie des Umstandes, dass jedermann zu diesem fähig ist, kann diese Zuordnung aber bestehen bleiben. Wie der Verstand ist auch die Vernunft auf die Urteilskraft angewiesen. Nur durch diese kann sie praktisch werden. Für den Common Sense gilt, was Kant vom gemeinen Verstand sagt: Er „denket, urtheilt, schlüßt“ (Logik Philippi 24:316). 2. Reflektierende Urteilskraft Aufgrund der notwendigen Verknüpfung von Verstand und Urteilskraft teilt Kant – wie im Brief an Beloselsky – die drei oberen Erkenntnisvermögen an mehreren Stellen in zwei Lager. Analog zur Unterscheidung zwischen gemeinem und spekulativem Verstand stehen auf der einen Seite Verstand und Urteilskraft, auf der anderen die Vernunft: „Verstand ist das Vermögen, zum Besonderen das Allgemeine (Regel) zu finden. Vernunft: das Besondere vom Allgemeinen abzuleiten. In ienem geht das Besondere, in diesem das Allgemeine vorher.“ (Refl. 428, 15:172; vgl. Refl. 423 f., 15:170 f.; Refl. 842, 15:375; Refl. 1614, 16:37; ApH 7:199).
In der dritten Kritik wird dieser Gegensatz in die Urteilskraft selbst verlegt. Kant unterscheidet zwischen ihrem reflektierenden und bestimmenden Verfahren: „Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumirt, (auch wenn sie als transscendentale Urtheilskraft a priori die Bedingungen angiebt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumirt werden kann) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß reflectirend.“ (KU 5:179).
Erläuternd heißt es: „Die bestimmende Urtheilskraft unter allgemeinen transscendentalen Gesetzen, die der Verstand giebt, ist nur subsumirend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nöthig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können.“ (KU 5:179).
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Die Kennzeichnung der bestimmenden als transzendentale Urteilskraft deutet darauf hin, dass mit ihr auch die im Schematismus-Kapitel der ersten Kritik untersuchte Urteilskraft gemeint ist, welche Erfahrung allererst möglich macht (vgl. KU 5:183; EE 20:212, 20:223; KrV A:135 ff./ B:174 ff.). In der dritten Kritik erkennt Kant, dass das Vermögen ‚Urteilskraft‘ mit diesem Verfahren – welches auch in der zweiten Kritik vorrangig betrachtet wird – nicht ausreichend beschrieben ist. Denn die bei einer determinierenden Urteilskraft gegebenen Gesetze lassen vieles unbestimmt, was uns als Besonderes in der Erfahrung konkret begegnet. Auch in diesem Bereich herrschen Gesetze. Zwar sind diese zufällig, nach einem noch näher zu erforschenden Prinzip aber auch notwendig. Kant nennt sie im Gegensatz zu den ‚allgemeinen transzendentalen Naturbegriffen‘ ‚besondere empirische Naturbegriffe‘. Um auch ihre Geltung zu erschließen, nimmt Kant zusätzlich eine reflektierende Urteilskraft an. (Vgl. KU 5:179 ff., EE 20:208 ff.) Die Erste Einleitung ergänzt die Unterscheidung der beiden Verfahren. Die Urteilskraft ist nicht nur ein Vermögen, „das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begrif gegeben ist) zu subsumiren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden.“ (EE 20:209 f.).
Das bedeutet: „Die Urtheilskraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begrifs, nach einem gewissen Princip zu reflectiren, oder als ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begrif durch eine gegebene empirische Vorstellung zu bestimmen, angesehen werden. Im ersten Falle ist sie die reflectirende, im zweyten die bestimmende Urtheilskraft.“ (EE 20:211).
Den Prozess der Reflexion beschreibt Kant näher als ein Vergleichen oder Herstellen eines Zusammenhangs: „Reflectiren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern [Vorstellungen; RN], oder mit seinem Erkenntnißvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begrif, zu vergleichen und zusammen zu halten.“ (EE 20:211, vgl. KrV A:260 ff./B:316 ff.).
An anderer Stelle werden Induktion und Analogie als „Schlußarten“ der reflektierenden Urteilskraft vorgestellt: „Die Urtheilskraft, indem sie vom Besondern zum Allgemeinen fortschreitet, um aus der Erfahrung, mithin nicht a priori (empirisch) allgemeine Urtheile zu ziehen, schließt entweder von vielen auf alle Dinge einer Art, oder von vielen Bestimmungen und Eigenschaften, worin Dinge von einerlei Art zusammenstimmen, auf die übrigen, sofern sie zu demselben Princip gehören. Die erstere Schlußart heißt der Schluß durch Induction, die andre der Schluß nach der Analogie.“ (Logik 9:132, vgl. Logik Dohna-Wundlacken 24:771 f.).
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Sowohl der bestimmenden als auch der reflektierenden Urteilskraft liegt jeweils ein transzendentales Prinzip zugrunde. Bei bestimmender Urteilskraft enthält der gegebene Begriff die Anleitung zu seiner Anwendung (vgl. KU 5:183, EE 20:211). Bei reflektierender Urteilskraft, wie Kant anhand der ästhetischen Urteilskraft zeigt, besteht das apriorische Prinzip in der ‚formalen Zweckmäßigkeit der Natur‘. Zweckmäßigkeit ist aber auch zentrales Prinzip der teleologischen Urteilskraft. Die reflektierende Urteilskraft verfährt generell nach dieser sich selbst zu gebenden Maxime. (Vgl. KU 5:179 ff.) Die bloßen Definitionen geben dem Begriffspaar ‚bestimmende – reflektierende Urteilskraft‘ nur geringe Anschaulichkeit. Kant nutzt jedoch eine Reihe von synonymen Formulierungen, die die Unterscheidung besser verstehen lassen und bereits die große Tragweite andeuten, die ihr zukommt. Urteile der bestimmenden Urteilskraft haben objektive Gültigkeit, Urteile der reflektierenden nur subjektive (vgl. KU 5:179 ff., 5:386 ff., EE 20:211 ff., Logik 9:131). Die einen sind konstitutiv, die anderen bloß regulativ (vgl. KU 5:197, 5:361, 5:375, 5:379). Die Urteile der ersten sind apodiktisch, die der zweiten hypothetisch und problematisch (vgl. KU 5:369, 5:378, 5:397, 5:454; KrV A:646 f./B:674 f.). Jene sind dogmatisch, diese kritisch (vgl. KU 5:395). Bestimmende Urteilskraft schließt „von oben herab (a priori)“112, reflektierende urteilt „von unten hinauf (a posteriori)“ (KU 5:410). Die eine verfährt mechanisch: instrumentell, nach fremden Gesetzen schematisch, die andere technisch: künstlich, nach eigenen Gesetzen zweckmäßig (vgl. EE 20:213 f., 20:217 f., 20:248). Bestimmen bedeutet ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ (vgl. Logik Dohna-Wundlacken 24:772), reflektieren ‚fruchtbar‘ oder ‚unfruchtbar‘. Der Unterschied zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft ist der zwischen Determination und Reflexion (vgl. Metaphysik Dohna 28:675, KU 5:180 ff., EE 20:211 ff.)113, Deduktion und Induktion (vgl. Logik 9:132 f., Logik Dohna-Wundlacken 24:771 f.), Unterordnen und Überlegen (vgl. KU 5:179, EE 20:211, KrV A:260 ff./B:316 f.), Ableiten und Anwenden (vgl. KU 5:412, 5:169), Spezifizieren und Klassifizieren (vgl. EE 20:214 f., KU 5:185), Behaupten und Vermuten (vgl. Logik 9:66 ff.), Untersuchen und Überlegen (vgl. Logik 9:66 ff., KrV A:260 ff./ B:316 ff.), zwischen rationaler Gewissheit und Glaube (vgl. Logik 9:66 ff.), Beweis und Hypothese (vgl. Logik 9:66 ff.), Untersuchung und Meditation (vgl. Logik 9:75), „Erklärung (Explication)“ und „Erörterung (Exposition)“ 112 Diese Beschreibung gilt am angegebenen Ort zwar einem göttlichen Verstand, kennzeichnet aber auch die bestimmende Urteilskraft. 113 Vgl. auch Buchtitel von Kopper, Joachim: Reflexion und Determination, Berlin 1976.
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(KU 5:412), Erklärung und Beurteilung (vgl. EE 20:218), Erklären und Verstehen (vgl. KU 5:169, 5:409, 5:412) sowie Erkennen und Verstehen (vgl. KU 5:409, 5:412). Dem letztgenannten Aspekt, dem Unterschied zwischen Einsehen und Auslegen, Schubladen und Leitfaden, Letztbegründung und Orientierung114 oder Identifizieren und Deuten115, kommt – wie noch gezeigt wird – besondere Bedeutung für das Verhältnis von Wissenschaft und Common Sense zu. Er besagt, dass etwas verstanden werden muss, um überprüfen zu können, ob es richtig eingeordnet wurde. Auch, ob dieses Etwas vielleicht eine neue Ordnung erforderlich macht, weiß nur, wer sich dieses begreiflich machen kann. All diese Erläuterungen können nicht verhehlen, dass die Unterscheidung Widersprüchlichkeiten enthält und viele Fragen offen lässt. Äußerlich verwundert bereits, dass Kant die ‚reflektierende Urteilskraft‘ erst in der Kritik der Urteilskraft einführt und angesichts ihrer großen Relevanz und Anschlussfähigkeit nachfolgend nicht mehr wesentlich thematisiert. Auch innerhalb der dritten Kritik ist erstaunlich, dass auf die in der Einleitung gemachte Unterscheidung der Verfahren kaum zurückgekommen und streng bei der Untersuchung zweier Typen der reflektierenden Urteilskraft geblieben wird. Es existieren dafür verschiedene Erklärungsmodelle. Plausibel erscheint z. B., dass Kant mit seiner Neuschöpfung eine Revision früherer Veröffentlichungen, etwa der ersten beiden Kritiken, vermeiden will. In der Forschungsliteratur gibt es andererseits auch Stimmen, die eine allzu große Nähe der reflektierenden Urteilskraft zu anderen reflexiven Momenten in Kants Werk bestreiten. Durchgesetzt zu haben scheint sich in diesem Kontext dafür die Auffassung, Kant habe die Unterscheidung nachträglich, d.h. nach Niederschrift der beiden Hauptteile der Kritik der Urteilskraft, ins Werk eingefügt.116 114 Vgl. Makkreel, Rudolf A.: Einbildungskraft und Interpretation. Die hermeneutische Tragweite von Kants Kritik der Urteilskraft, Paderborn 1997, S. 198 sowie ders.: Reflektierende Urteilskraft und orientierendes Denken, in: Frithjof Rodi (Hg.): Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften. Beiträge zur Entstehung des Neuen, Weilerswist 2003, S. 35 ff. 115 Vgl. Riedel, Manfred: Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, Frankfurt/M. 1989, S. 56 ff. 116 Formen reflektierender Urteilskraft in der ersten Kritik bestreiten z. B. Bartuschat, Wolfgang: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/M. 1972, S. 52 f. und Peter, Joachim: Das transzendentale Prinzip der Urteilskraft. Eine Untersuchung zur Funktion und Struktur der reflektierenden Urteilskraft bei Kant, Berlin/New York 1992. Peter teilt die Forschungsliteratur zu diesem Thema in zwei Lager. Zur Entstehungsgeschichte der dritten Kritik vgl. Zammito, John H.: The Genesis of Kant’s Critique of Judgement, Chicago/London 1992. Bei Anselm Model finden sich mögliche Gründe dafür, dass Kant nach der Kritik der
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Ein Problem der Unterscheidung zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft stellt die Frage dar, ob beide – unabhängig davon, dass sie apriorische Prinzipien beinhalten – als transzendentale oder empirische Verfahren zu betrachten sind. Die bestimmende Urteilskraft wird zunächst als transzendentale Urteilskraft vorgestellt. Sie bringt aber auch eine empirische Vorstellung auf einen empirischen Begriff (vgl. EE 20:211). Als Beispiel verweist Kant auf das Erfahrungsurteil „von dem, der in einem Bergkrystall einen beweglichen Tropfen Wasser wahrnimmt“ (KU 5:191). Neben der transzendental-bestimmenden Urteilskraft existiert demnach auch eine empirisch-bestimmende. Umgekehrt verhält es sich mit der reflektierenden Urteilskraft. Insofern sie von der konkreten Erfahrung ausgeht, wird sie zuerst als empirisches Verfahren plausibel (vgl. Logik 9:132). Sie lässt sich aber auch transzendental verstehen, als ein Verfahren a priori – als ein Ausdruck für Akte der Urteilskraft vor bzw. unabhängig von der Erfahrung. Analog zur Urteilskraft überhaupt können also auch ihre beiden Verfahren in transzendentaler und empirischer Hinsicht betrachtet werden. (Vgl. KU 5:179 ff., EE 20:211 ff.) Ein zweites Problem stellt dar, in welchem Maße die beiden Verfahren einander überschneiden. Die bestimmende Urteilskraft ist in der dritten Kritik dadurch gekennzeichnet, dass sie vom Allgemeinen ausgeht. Laut Erster Einleitung ist ihr aber auch das Besondere gegeben – eine Ausgangslage, die die reflektierende Urteilskraft charakterisiert. (Vgl. KU 5:179, EE 20:211.) Außerdem heißt es, die bestimmende Urteilskraft subsumiere nur. Der ihr gegebene Begriff enthalte die Anweisung zur Subsumtion, sodass sie keine Veranlassung dazu habe, sich ein passendes Prinzip zu suchen. Kurz: Die bestimmende Urteilskraft reflektiert nicht. (Vgl. KU 5:179, EE 20:211 ff.) In der Ersten Einleitung nennt Kant die Subsumtion der bestimmenden Urteilskraft aber auch eine Reflexion. Die transzendental-bestimmende Urteilskraft, die durch ihren Schematismus Erfahrungsurteile erst möglich mache, sei „in ihrer Reflexion zugleich bestimmend“ (20:212). Ein Blick auf das Schematismus-Kapitel der ersten Kritik, auf das hier Bezug genommen wird, offenbart tatsächlich Elemente, die der reflektierenden Urteilskraft zugeschrieben werden könnten. In Kapitel D. III. 2. soll auf sie zurückgekommen werden. Auch die Definitionen der reflektierenden Urteilskraft stellen vor Rätsel. Dass diese „bloß reflectirend“ ist und das Allgemeine zum Besonderen suchen soll, scheint nahe zu legen, sie sei dauerhaft auf der Suche und werde Urteilskraft kaum noch von reflektierender oder bestimmender Urteilskraft spricht (vgl. ders.: Metaphysik und reflektierende Urteilskraft bei Kant. Untersuchung zur Transformierung des leibnizschen Monadenbegriffs in der ‚Kritik der Urteilskraft‘, Frankfurt/M. 1987, S. 110 ff.).
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nie fündig.117 Die Erste Einleitung macht dagegen deutlich, dass die reflektierende Urteilskraft auch findet (vgl. 20:209 f., ApH 7:199). Es kann sich dabei um einen bereits bekannten Begriff handeln oder – wenn kein adäquater gefunden wird – einen selbst geschaffenen. Die reflektierende Urteilskraft lässt sich auch so verstehen, dass sie nicht mit der Auffindung eines Allgemeinen endet. Dafür spricht ihre Charakterisierung als Urteilskraft, welche statt letztbegründeter Erkenntnis (regulativ gültige) Hypothesen bzw. vorläufige Urteile hervorbringt. Nachdem sie zu einem Begriff aufwärts gegangen ist, vermag sie – in Anwendung der Arbeitshypothese – von diesem auch wieder zum gegebenen Besonderen hinabzusteigen. Dies könnte erklären, inwiefern die reflektierende Urteilskraft auch subsumiert (vgl. EE 20:214, KU 5:287, Metaphysik Dohna 28:675 f.). Allerdings lässt sich die Abwärtsbewegung genauso gut als die Tätigkeit der bestimmenden Urteilskraft betrachten, die den durch reflektierende Urteilskraft vermittelten Begriff nun bestimmt, indem sie ihm einen Fall zuordnet.118 Besonderes setzt Allgemeines voraus – etwa eine Erfahrung Kategorien. Allgemeines setzt aber auch Besonderes voraus – sonst wäre es unnütz. Bestimmende und reflektierende Urteilskraft lassen sich in Analogie dazu betrachten. Auch sie setzen einander gegenseitig voraus. Reflektierende Urteilskraft setzt voraus, dass sich ein Allgemeines finden lässt, durch welches das Besondere bestimmt werden kann. Damit geht sie von der Möglichkeit einer bestimmenden Urteilskraft aus. Bestimmende Urteilskraft dagegen setzt die Möglichkeit der angemessenen Anwendung ihres Begriffs voraus. Da dazu letztlich reflektierende Urteilskraft nötig ist, geht jene auch von der Möglichkeit dieser aus. (Vgl. EE 20:211 ff., KU 5:183 ff.) Wie lässt sich die Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft aber auf den Common Sense beziehen? Zunächst kann festgestellt werden, dass der Common Sense als Urteilskraft in der Lage ist, bestimmend zu verfahren. Auch dieses gemeine Vermögen gelangt nur über transzendentalen Schematismus zu einem Erfahrungsurteil. Common Sense bedarf also transzendental-bestimmender Urteilskraft. Andererseits weiß er auch einen empirischen Begriff durch eine empirische Vorstellung zu be117 Vgl. z. B. Leyva, Gustavo: Die „Analytik des Schönen“ und die Idee des „sensus communis“ in der „Kritik der Urteilskraft“, Frankfurt/M. 1997, S. 47 f.; Tiffany, S. 168. 118 Der Zusammenhang von reflektierender und bestimmender Urteilskraft wurde vor dem Hintergrund ihrer historischen Vorlagen eindrucksvoll und einflussreich problematisiert von Liedtke, Max: Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1964. In Bezug auf die genannten Probleme vgl. v. a. S. 99, 137 ff. Eingehender problematisiert wird dieses Verhältnis u. a. auch bei Marc-Wogau; Kulenkampff, Jens: Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt/M. 21994, S. 43 ff. sowie Model, S. 253 ff.
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stimmen. Einem gegebenen Fall (‚Forelle‘) kann er – so sie ihm vorliegt – die entsprechende allgemeine Regel (‚Fisch‘) zuordnen. Der Common Sense ist demnach ebenfalls empirisch-bestimmend tätig. In Kapitel A. I. und B. I. wurde jedoch festgestellt, dass es für den Common Sense nicht typisch ist, von einem gegebenen Allgemeinen (einem Gesetz, Begriff etc.) auf das Besondere (die konkrete Situation, den Fall) zu schließen. Charakteristisch für ihn ist die Gegenbewegung, das Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen. Weil der Common Sense über eine sehr begrenzte Kenntnis allgemeiner Gesetze verfügt, ist er hauptsächlich in der Situation, sich ohne gegebene Anweisung weiterhelfen zu müssen. Er tut dies durch Vergleich und Analogie, Trial and Error usw. Auf diese Weise findet oder schafft er das zum Besonderen passende Allgemeine. Common Sense kennzeichnet demnach in erster Linie reflektierende Urteilskraft. Am Common Sense als Erfahrungsverstand wird die Parallele zur reflektierenden Urteilskraft besonders deutlich. Allgemeine Regeln entlehnt er primär einzelnen Erfahrungen. Das empirisch Gegebene bildet seinen zentralen Bezugspunkt. Common Sense und reflektierende Urteilskraft eint darüber hinaus die nur subjektive, regulative Gültigkeit ihrer Urteile. Sie haben nur vorausgehenden, vorläufigen, hypothetischen Charakter, sind weder begründend noch beweisend. Beide gelangen auch ohne klare, vorgegebene, anleitende Begriffe zu angemessenen, zweckmäßigen Urteilen. Dazu vergleichen sie – mit eigenen und fremden Vorstellungen. Auch die Opposition zu ‚spekulativem Verstand‘ und ‚gelehrter Vernunft‘ kann zur Veranschaulichung dienen. Da bei Letztgenannten das Allgemeine bekannt ist und von diesem nur abgeleitet wird, ist die Urteilskraft hier hauptsächlich bestimmend tätig. Common Sense und reflektierende Urteilskraft verfahren umgekehrt, weshalb sie an dieser Stelle ergänzend von Nutzen sind – als Inspiration, Prüfstein oder zur Anwendung. Beide Vermögen kennzeichnet außerdem eine Eigenständigkeit, die daraus erwächst, dass ihnen keine Anweisung in die Wiege gelegt wurde und sie sich allgemeine Prinzipien selbst suchen müssen. Allerdings nimmt der Common Sense zuweilen Ferien vom Selbstdenken – etwa wenn er von fremden Überzeugungen im Sinne von Vorurteilen ausgeht. In solchen Fällen bedient er sich unangebrachter Weise bestimmender Urteilskraft. Im Anschluss an die Einleitung, in der die Urteilskraft und ihre beiden Verfahren definiert werden, untersucht Kant in der Kritik der Urteilskraft zwei Typen reflektierender Urteilskraft – die ästhetische und die teleologische Urteilskraft. Dabei werden wesentliche Züge des Common Sense sichtbar, die seine bislang erfolgte Kennzeichnung erweitern und präzisieren. Während es sich bei der ästhetischen Urteilskraft um einen Spezialfall der reflektierenden Urteilskraft handelt, stellt die teleologische für Kant die
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eigentliche reflektierende Urteilskraft, „die reflectirende Urtheilskraft überhaupt“, dar (vgl. KU 5:192 ff.). 3. Ästhetische Urteilskraft: sensus communis aestheticus Die ästhetische Urteilskraft stellt Kant als Vermögen vor, welches Urteile über das Schöne und das Erhabene ermöglicht. Ihre Charakterisierung lässt sogar auf eine weiterreichende Eignung schließen. Wird Schönheit beurteilt, verbirgt sich hinter der ästhetischen Urteilskraft der Geschmack. Erhabenheit wird für Kant aus einem „Geistesgefühl“ heraus beurteilt. Kant seziert das Geschmacksurteil unter der Schablone der aus den vorangegangenen Kritiken bekannten Urteilstafel. Die Analytik des Schönen erfolgt in Bezug auf die Aspekte ‚Qualität‘, ‚Quantität‘, ‚Relation‘ und ‚Modalität‘. Sie führt zu dem Ergebnis, das Schöne gefalle erstens ohne Interesse, zweitens allgemeingültig ohne Begriff, drittens als Zweckmäßigkeit ohne Zweck und viertens notwendig. Seine Interesselosigkeit unterscheidet das Geschmacksurteil beispielsweise von Urteilen über das Angenehme, Nützliche oder Gute, denn bei diesen besteht immer ein Interesse an der Existenz des Gegenstandes. Obwohl Geschmacksurteilen kein objektiver Begriff von Schönheit zugrunde liegt, sind sie allgemeingültig. Ihre subjektive Allgemeingültigkeit basiert auf der Abstraktion von Privatbedingungen. Ein Gegenstand wird weiterhin als schön beurteilt, wenn er zweckmäßig, aber ohne Vorstellung eines bestimmten Zwecks wahrgenommen wird. Schließlich führt das Geschmacksurteil die Notwendigkeit einer Zustimmung der anderen bei sich. Es handelt sich aber nur um eine exemplarische Notwendigkeit – das Geschmacksurteil hat den Status eines Beispiels einer Regel, die nicht angegeben werden kann. Deshalb formuliert es kein unbedingtes Sollen, sondern lediglich ein bedingtes Ansinnen. Voraussetzung dieser (subjektiven) Notwendigkeit ist die Idee des Gemeinsinns. Kant präsentiert seine Vorstellung von der Urteilsbildung durch Geschmack in mehreren, einander z. T. überschneidenden Einzelstücken. Sie zusammenzusetzen und herauszufinden, wie die dargelegten Momente des Geschmacksurteils einander bedingen, überlässt er großenteils dem Leser. Der Geschmack enthält ein Prinzip a priori – die formale Zweckmäßigkeit der Natur. Diese Zweckmäßigkeit ist subjektiv, weil sie nicht durch Begriffe erkannt, sondern durch ein Gefühl angezeigt wird. Sie drückt keinen Zustand des Objekts, sondern einen des wahrnehmenden Subjekts aus. Die formale Zweckmäßigkeit liegt vor, wenn die Form eines Dinges dem Erkenntnisvermögen angemessen ist. (Vgl. KU 5:193 f.) Wenn beim Geschmacksurteil die Form einer Sache auf das Erkenntnisvermögen bezogen wird, ist mit Letzterem das Verhältnis zwischen Einbil-
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dungskraft und Verstand gemeint. Befinden sich Einbildungskraft, hier als Vermögen der produktiven und freien Auffassung der Anschauung, und Verstand als Vermögen der begrifflichen Darstellung der Anschauung in einem harmonischen Verhältnis, wird ein Gefühl der Lust erregt. Es ist Ausdruck bzw. Bewusstsein subjektiver Zweckmäßigkeit. Subjektive Zweckmäßigkeit und Lustgefühl sind in diesem Sinne für Kant einerlei. (Vgl. KU 5:189 ff., 5:222, 5:240 f.; EE 20:220 ff., 20:249.) Das Gefühl der Lust ist für Kant Folge einer Reflexion. Denn bei dem freien Spiel der Erkenntniskräfte handelt es sich um einen Vergleich dieser beiden (vgl. KU 5:190). Im Geschmacksurteil „wird die subjective Zweckmäßigkeit gedacht, ehe sie in ihrer Wirkung empfunden wird“ (EE 20:224 f.). Damit resultiert die Lust aus einer rationalen Leistung. Das Geschmacksurteil ist kein Sinnesurteil, sondern ein Reflexionsurteil (vgl. KU 5:214 f.). Die Lust hat ihren Bestimmungsgrund nicht – wie beim Angenehmen – im äußeren Objekt, sondern der inneren Empfindung des reflektierenden Subjekts. Subjektive Zweckmäßigkeit wird durch Reflexion hervorgebracht und durch Lust bemerkt. Ein Gefühl der Lust ist außerdem Folge einer subjektiv-allgemeinen Mitteilbarkeit von Geschmacksurteilen. Urteile über das Schöne implizieren für Kant zum einen die Mitteilbarkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung. Mit diesem ist das (begriffs-)freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand gemeint, die erkenntnistaugliche (Überein-)Stimmung oder „Proportion“ dieser in Tätigkeit versetzten Gemütskräfte. Zum anderen muss auch das Resultat dieses Spiels, das Gefühl der wechselseitigen Belebung beider Kräfte, mitteilbar sein. Diese zweifache Mitteilbarkeit ruft ihrerseits ein Gefühl der Lust hervor, eine Lust an der Mitteilbarkeit, die sich z. B. in geselligem Beisammensein zeigt. (Vgl. KU 5:216 ff., 5:238 f., 5:291 ff., 5:295 f.) Kants Terminologie ist hier sehr missverständlich. Der mitteilbare Gemütszustand wird ein Gefühl genannt. Dieser Zustand ruft ein mitteilbares Gefühl hervor. Die Mitteilbarkeit selbst erregt auch ein Gefühl. Und schließlich wird in diesem Zusammenhang noch ein Gefühl der Lust am Gegenstand erwähnt: Geht dieses wie beim Angenehmen der Beurteilung des Gegenstandes voraus, so liegt keine Mitteilbarkeit vor. Im Geschmacksurteil geht die Beurteilung, die Reflexion, stets der Lust voran – eine Erkenntnis, die Kant als Schlüssel zur Kritik des Geschmacks betrachtet. (Vgl. KU 5:216 ff., 5:238 f., 5:291 ff., 5:295 f.) Die allgemeine Mitteilbarkeit der Stimmung und des resultierenden Gefühls stellt für Kant eine wesentliche Voraussetzung für das Geschmacksurteil dar. Als Bedingung der Mitteilbarkeit wiederum wird der Gemeinsinn eingeführt: Der sensus communis ist „die nothwendige Bedingung der all-
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gemeinen Mittheilbarkeit unserer Erkenntniß“ (KU 5:239). Bei dieser Herleitung entsteht der Eindruck eines Zirkelschlusses. Der zu beweisende gemeinschaftliche Bezug von Geschmacksurteilen (Gemeinsinn) bildet in der Argumentation bereits deren Voraussetzung. Für Kants Darstellungsziele ist es jedoch ausreichend, den Gemeinsinn im Status einer Idee vorauszusetzen. (Vgl. KU 5:237 ff.) Kant bezeichnet den Gemeinsinn als subjektives Prinzip des Geschmacksurteils, „welches nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder mißfalle“ (KU 5:238). Der sensus communis ist somit Voraussetzung für Urteile über das Schöne mit gerechtfertigtem Anspruch auf Zustimmung. Er stellt auch die Bedingung der Notwendigkeit des Geschmacksurteils dar. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass Urteile über das Schöne stets einen Bezug zur Allgemeinheit ausdrücken würden. Sie basieren für Kant auf keinem privaten, sondern einem gemeinschaftlichen Gefühl. Wer ein Geschmacksurteil formuliert, behauptet damit, dass es frei von Privatbedingungen zustande gekommen sei – auf eine Weise also, die bei jedem die gleiche wäre. Der Urteilende ist der Überzeugung, mit ‚allgemeiner Stimme‘, also für alle zu sprechen. Dies lässt ihn Zustimmung fordern. Das gemeinschaftliche Gefühl, welches sich als allgemeine Stimme bemerkbar macht, nennt Kant Gemeinsinn. Offen bleibt, ob dieses Gefühl wirklich gemeinschaftlich geteilt wird. Für Kants rekonstruktive Erschließung des Geschmacksurteils ist zunächst nur von Bedeutung, dass es sich dem Urteilenden mitteilt, als ob es gemeinschaftlich geteilt würde. (Vgl. KU 5:216, 5:237 ff.) Das Geschmacksurteil hat lediglich subjektive Notwendigkeit – eine exemplarische, also bedingte. Hinter dem mit ihm ausgedrückten Sollen verbirgt sich nur ein ‚Ansinnen von Beistimmung‘, ein Werben um Zustimmung. Entsprechend handelt es sich beim Gemeinsinn um ein subjektiv-allgemeines Prinzip. Der sensus communis gründet weder auf einem Begriff noch auf Erfahrung. Obwohl er beim Urteilenden für den Eindruck objektiv notwendigen allgemeinen Beifalls sorgt, berechtigt er nur zu subjektiv notwendigem Applaus: Der Gemeinsinn „sagt nicht, daß jedermann mit unserm Urtheile übereinstimmen werde, sondern damit zusammenstimmen solle“ (KU 5:239). Dieser Einschränkung verleiht Kant Ausdruck, indem er den Gemeinsinn als „bloße idealische Norm“ bezeichnet, als eine unbestimmte Verpflichtung im Sinne einer Idee. (Vgl. KU 5:236 ff.) Gegen Ende der Analytik des Schönen wird deutlich, dass der Gemeinsinn für Kant das Hauptmoment des Geschmacksurteils darstellt. Er steht im Zentrum der Geschmackskritik. Kant äußert die Absicht, das in seine Elemente aufgelöste Geschmacksvermögen in der Idee des Gemeinsinns zu vereinigen. Gelingen soll dies mit der Deduktion der reinen ästhetischen
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Urteile. Sie hat die Aufgabe, die Notwendigkeit des Geschmacksurteils zu rechtfertigen. Damit stellt sie zugleich den Versuch einer Legitimierung des bislang nur recht unvermittelt behaupteten Gemeinsinns dar. (Vgl. KU 5:240, 5:279 f.) Dieses Vorhaben erreicht seinen Höhepunkt in § 40. Kant unterscheidet hier zunächst den apriorischen Gemeinsinn, der der ästhetischen Urteilskraft als Prinzip zugrunde liegt, vom empirischen Gemeinsinn („gemeiner Menschenverstand“). Er schlägt vor, unter Gemeinsinn bzw. sensus communis nur Ersteren zu verstehen: „Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt“ (KU 5:293 f.).
Dieser Gemeinsinn beinhaltet den vorausschauenden Abgleich mit den möglichen Urteilen der anderen. Durch diese Antizipation, durch den Vergleich mit denkbaren anderen Standpunkten, werden private Einflüsse auf das eigene Urteil bewusst, z. B. Krankheiten, besondere Neigungen, individuelle Entwicklungen, kulturelle Unterschiede etc. Diese aufgrund einer Multiperspektive auszublenden und sich auf den Gemütszustand zu konzentrieren, der verallgemeinerbar ist, macht den sensus communis aus. Kant räumt ein, dass diese „Operation der Reflexion“ vielleicht zu kompliziert klingt, als dass jedermann zu ihr fähig sein könnte. In Wahrheit sei aber nichts natürlicher, „als von Reiz und Rührung zu abstrahiren, wenn man ein Urtheil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll“ (KU 5:294). Wie schon in § 20 bezeichnet Kant den Gemeinsinn hier als eine Idee. Dies verdeutlicht einerseits die Abgrenzung vom ‚realen‘ empirischen Gemeinsinn. Vor allem unterstreicht diese Charakterisierung aber den Als-obCharakter des apriorischen sensus communis. Zweifellos wird der beschriebene Gemeinsinn bei einem Geschmacksurteil wirklich vorausgesetzt. Aber sein Urteil an den möglichen aller anderen zu prüfen, stellt nur eine Veranschaulichung des Bezugs zur Allgemeinheit dar, den Geschmacksurteile beinhalten. Der Gemeinsinn ist für Kant lediglich eine denknotwendige Vorstellung – eine Idee. Sie lässt sich leicht als Anleitung verstehen, deren bewusste Befolgung zu einem Geschmacksurteil führt. So wird der sensus communis von Kant aber nicht beschrieben. Geschmacksurteilen liegt im-
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mer der Gemeinsinn als apriorisches Prinzip zugrunde, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, zu Recht oder zu Unrecht. Es würde sich für Kant sonst nicht um Geschmacksurteile handeln. Wer ein solches Urteil fällt, glaubt der allgemeinen Stimme namens Gemeinsinn angemessen zu urteilen (vgl. KU 5:216). Um die Grundsätze der Geschmackskritik und insbesondere die Idee des Gemeinsinns verständlicher zu machen, bildet Kant eine Analogie zum empirischen Common Sense. Die Argumentation wird mit einem Ausblick auf dessen subjektive Grundsätze unterbrochen: „Folgende Maximen des gemeinen Menschenverstandes gehören zwar nicht hieher, als Theile der Geschmackskritik, können aber doch zur Erläuterung ihrer Grundsätze dienen. Es sind folgende: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurtheilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der consequenten Denkungsart.“ (KU 5:294).
Kant weist die erste Maxime dem Verstand, die zweite der Urteilskraft und die dritte der Vernunft zu. Für die Geschmacksproblematik ist die Maxime der Urteilskraft von besonderer Bedeutung. Die ‚erweiterte Denkungsart‘ besteht in deutlicher Überschneidung mit der Idee des Gemeinsinns darin, sich über die subjektiven Privatbedingungen seines Urteils hinwegzusetzen, sich also in die Perspektive der anderen hineinzudenken und aus dem gewonnenen allgemeinen Standpunkt über das eigene Urteil zu reflektieren. Diese Maxime ermöglicht den zweckmäßigen Gebrauch von Erkenntnissen, also ihre angemessene Anwendung. Jeder ist zu ihr geeignet, selbst wenn er über kein Talent zur Erlangung höherer Erkenntnis verfügt. Die Maxime des Selbstdenkens kann im Geschmackskontext z. B. konkret bedeuten, sich keinem Modediktat zu beugen, sondern den eigenen Schönheitssinn zu wahren. Die konsequente Denkungsart lässt sich u. a. als eine Art Stiltreue verstehen, die die Verbindung der ersten beiden Maximen und eine gewisse Reife voraussetzt. (Vgl. KU 5:294 f.) Die drei Maximen des Common Sense sind von weitreichender Bedeutung. An dieser Stelle ist wichtig festzuhalten, dass Kant den apriorischen Gemeinsinn mithilfe von Maximen des aposteriorischen Gemeinsinns, des gemeinen Menschenverstandes, veranschaulicht. Der erläuterte apriorische Gemeinsinn wird in Abgrenzung vom empirischen Gemeinsinn mit dem Geschmack fast gleichgesetzt. Kant ist der Meinung, „daß der Geschmack mit mehrerem Rechte sensus communis genannt werden könne, als der gesunde Verstand; und daß die ästhetische Urtheilskraft eher als die intellectuelle den Namen eines gemeinschaftlichen Sinnes führen könne, wenn man ja das Wort Sinn von einer Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüth
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brauchen will: denn da versteht man unter Sinn das Gefühl der Lust. Man könnte sogar den Geschmack durch das Beurtheilungsvermögen desjenigen, was unser Gefühl an einer gegebenen Vorstellung ohne Vermittelung eines Begriffs allgemein mittheilbar macht, definiren.“ (KU 5:295).
Eine Fußnote ergänzt: „Man könnte den Geschmack durch sensus communis aestheticus, den gemeinen Menschenverstand durch sensus communis logicus bezeichnen.“ (KU 5:295).
Da für Kant nur der Gemeinsinn die Mitteilbarkeit eines Gefühls gewährleistet, schlägt er hier vor, den Geschmack als dieses ‚Beurteilungsvermögen‘ zu verstehen. Er soll sensus communis aestheticus heißen können. Geschmack und ästhetischer Gemeinsinn sind für Kant aber nicht identisch. So wie das Geschmacksurteil ein Beispiel für ein Urteil des Gemeinsinns genannt wurde, ist vom Geschmack eigentlich nur die Rede als „einer Art von sensus communis“ (KU 5:293, vgl. KU 5:239).119 Kant nutzt erneut das Stilmittel der Metonymie. Der ästhetische Gemeinsinn soll als Teil für den Geschmack als das Ganze stehen. Dass die ästhetische eher als die intellektuelle Urteilskraft Gemeinsinn genannt werden kann, ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass Letztere nach Begriffen urteilt. Die intellektuelle Urteilskraft scheint deshalb primär für die bestimmende Urteilskraft zu stehen (vgl. z. B. KU 5:218, 5:267, 5:300). Aber auch die teleologisch-reflektierende Urteilskraft und der empirische Common Sense (‚gesunder Verstand‘) urteilen – wenngleich nur bedingt – nach Begriffen (vgl. KU 5:192 ff., 5:238). Kants Vorschlag, den empirischen Common Sense (‚gemeinen Menschenverstand‘) im Gegensatz zum begriffsfrei urteilenden Geschmack als logischen Gemeinsinn zu betrachten, trägt dem insofern Rechnung, als ‚logisch‘ für Kant hier ‚begrifflich‘ bedeutet (vgl. KU 5:193). Die Fußnotenbemerkung, der empirische Common Sense könne als logischer Gemeinsinn bezeichnet werden, lässt neben einer Gleichsetzung noch eine andere Deutungsmöglichkeit zu. So wie der sensus communis aestheticus als Prinzip des Geschmacks betrachtet werden muss, kann auch der sensus communis logicus als Prinzip des empirischen Common Sense verstanden werden. Aufgrund der bestehenden Analogie zur intellektuellen Urteilskraft lässt er sich einerseits als Gemeinsinn begreifen, welcher der bestimmenden Urteilskraft zugrunde liegt. Andererseits ist auch ein teleologischer Gemeinsinn als Prinzip der teleologischen Urteilskraft denkbar. 119
Von Jens Kulenkampff wurde „Art“ in diesem Zusammenhang richtig im Sinne von ‚Spezies‘ statt von ‚so ähnlich wie‘ interpretiert (vgl. ders.: „Vom Geschmacke als einer Art von sensus communis“ – Versuch einer Neubestimmung des Geschmacksurteils, in: Andrea Esser (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik, Berlin 1995, S. 26).
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Wie im Fall des sensus communis logicus lässt Kant in seiner Geschmackskritik eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten zu.120 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bedürfen fünf Aspekte einer näheren Betrachtung. Ein erstes Problem betrifft die zwei Reflexionen, die das Geschmacksurteil voraussetzen soll. Die eine bildet der Gemeinsinn als Idee von der Berücksichtigung möglicher Urteile anderer, welche eine Mitteilbarkeit gewährleistet. Die andere stellt das freie Spiel der Erkenntniskräfte dar, welches ein Gefühl subjektiver Zweckmäßigkeit erregt. Kant unterlässt es, den Zusammenhang beider eindeutig zu klären. Handelt es sich um verschiedene Reflexionen oder um Beschreibungen für einen und denselben Prozess? Kant bezeichnet den Gemeinsinn als „Wirkung aus dem freien Spiel unserer Erkenntnißkräfte“ (KU 5:238) bzw. als gemeinschaftliches Gefühl, das die „Wirkung der bloßen Reflexion auf das Gemüth“ (KU 5:295) darstellt. Eine einfache Schlussfolgerung daraus wäre, dass auf die Reflexion des freien Spiels die Reflexion auf die Verallgemeinerbarkeit folgt. Dies scheint auch die Maxime der Urteilskraft, die der erweiterten Denkungsart, nahe zu legen: Das Resultat der ersten Reflexion, der gewonnene Eindruck der Zweckmäßigkeit, wird mittels der zweiten Reflexion auf seine Zustimmungsfähigkeit geprüft. Kants Darlegungen rechtfertigen ein solches durchaus plausibles Nacheinander aber nicht. Eine Trennung dieser Art widerspricht dem apriorischen Charakter des Gemeinsinns. Nur die zweite Maxime des empirischen Common Sense legt scheinbar zwei aufeinander folgende Reflexionen nahe. ‚Wirkung aus freiem Spiel‘ besagt zwar, dass der Gemeinsinn das Resultat 120 Die sehr gehaltvolle und vieldeutige Kritik der ästhetischen Urteilskraft zieht eine Fülle von Forschungsliteratur nach sich. Aufschlussreich sind u. a. Baeumler; Kulenkampff: Kants Logik; Paetzold, Heinz: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden 1983; Fricke, Christel: Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils, Berlin 1990; Tschurenev; Leyva; Spremberg, Heinz: Zur Aktualität der Ästhetik Immanuel Kants. Ein Versuch zu Kants ästhetischer Urteilstheorie mit Blick auf Wittgenstein und Sibley, Frankfurt/M. 1999 sowie Felten. Mehrere konstruktive Aufsätze enthalten z. B. Esser, Andrea (Hg.): Autonomie der Kunst? Zur Aktualität von Kants Ästhetik, Berlin 1995; Parret, Herman (Hg.): Kants Ästhetik, Kant’s Aesthetics, L’esthétique de Kant, Berlin/New York 1998 und Franke, Ursula (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks. Ästhetische Erfahrung heute – Studien zur Aktualität von Kants „Kritik der Urteilskraft“, Hamburg 2000. Die große Anschlussfähigkeit Kants für die aktuellen Ästhetik-Diskussionen stellt heraus: Engelhard, Kristina: Kant in der Gegenwartsästhetik, in: Dietmar H. Heidemann/Kristina Engelhard (Hg.): Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Berlin/New York 2004, S. 352 ff.
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der ersten Reflexion darstellt, nicht aber, dass er in einem zweiten Schritt hervorzubringen ist. Dass der ästhetische Gemeinsinn eine erst noch zu erwerbende Zusatzqualifikation ausmache, das will und kann Kant auch ganz ausdrücklich nicht behaupten (vgl. KU 5:240). Wie ist es aber dann zu erklären, dass dem Gemeinsinn eine eigene Reflexion zugewiesen wird, in der er auf die Vorstellungsart der anderen Rücksicht nimmt? Kant weist dem Gemeinsinn nur den Status einer Idee zu. Deshalb kann in dieser eine Als-ob-Reflexion gesehen werden. Das bedeutet: Jemand, der etwas als schön beurteilt, hat das Gefühl, als ob er sein Urteil an die ‚gesamte Menschenvernunft‘ gehalten hätte, als ob er es an den möglichen der anderen geprüft hätte, als ob er mit ‚allgemeiner Stimme‘ spräche. Der Gemeinsinn ist ein aus einem Spiel der Vorstellungskräfte resultierendes Gefühl, das den Eindruck vermittelt, allgemein geteilt werden zu können. Kant zeigt nur, dass Geschmacksurteile einen Anspruch auf Zustimmung formulieren, nicht, dass sie ihn immer rechtfertigen – dass sie also tatsächlich unter Berücksichtigung der möglichen Urteile aller anderen gefällt wurden. Kurz: Dem Geschmacksurteil liegt eine Reflexion zugrunde, deren Resultat empfunden wird, als ob es durch eine zweite hervorgerufen würde. Ein zweites Problem stellt die Universalisierbarkeit des apriorischen sensus communis dar. Kant deutet mehrfach an, dass die Idee des Gemeinsinns nicht nur dem Geschmack als Prinzip zugrunde liegt. Die Basis für diesen Grundgedanken liefert § 21, in dem es heißt: „Erkenntnisse und Urtheile müssen sich sammt der Überzeugung, die sie begleitet, allgemein mittheilen lassen; denn sonst käme ihnen keine Übereinstimmung mit dem Object zu: sie wären insgesammt ein bloß subjectives Spiel der Vorstellungskräfte, gerade so wie es der Skepticism verlangt.“ (KU 5:238).
Kant macht auf die Notwendigkeit der Mitteilbarkeit all unserer Urteile aufmerksam. Urteile, die nicht auf der Basis des Gemeinsinns gefällt werden, rechtfertigen nicht nur keinen Anspruch auf Zustimmung. Sie könnten auch sämtlich auf bloßen Einbildungen beruhen, wie es ein dem Solipsismus anhängender Skeptizismus behauptet. Kant geht aber noch weiter und weist darauf hin, dass die Notwendigkeit der Mitteilbarkeit auch für die Überzeugungen gilt, die die Urteile begleiten. Dies eröffnet der Idee des Gemeinsinns eine zweite Bedeutungsdimension. Unter ‚Überzeugung‘ versteht Kant hier „die Stimmung der Erkenntnißkräfte zu einer Erkenntniß überhaupt“, d.h. die „Proportion“ zweier Kräfte, die es am ehesten erlaubt, die hervorgerufene Vorstellung in Erkenntnis von ihrem Gegenstand zu überführen. Dieser unmittelbar zustande kommende, assoziativ geformte ‚Gemütszustand‘ ist von großer Bedeutung. Einerseits ist ohne ihn gar keine Erkenntnis möglich: Er stellt die subjektive Voraus-
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setzung des Erkennens überhaupt dar. Andererseits kann eine Erkenntnis nur dann mitteilbar – und damit zutreffend – sein, wenn bereits diese sie ermöglichende Proportion mitteilbar ist. Da auch dazu Gemeinsinn erforderlich ist, stellt dieser für Kant die notwendige Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit jeder Erkenntnis einschließlich ihrer Voraussetzung dar. (Vgl. KU 5:238 f.) Aufgrund dieser Charakterisierung bezieht sich der Gemeinsinn in § 21 nicht auf das Resultat der Reflexion, sondern auf die Reflexion selbst inklusive ihrer Ausgangskonstellation. Er steht für die Verallgemeinerbarkeit der von der Vorstellung reflexartig stimulierten Kräfte in ihrer zur Erkenntnis optimalen Proportion. Verschiedene Objekte rufen verschiedene Kräftekonstellationen hervor. Schon diese Proportionen aber sind mitteilbar, denn bei allen Menschen werden die gleichen bewirkt. Deshalb steht der Gemeinsinn nicht nur für ein als gemeinschaftlich empfundenes Gefühl der Lust, das Urteile über das Schöne rechtfertigt. Er bezeichnet bereits die bei allen Menschen gleiche vorbegriffliche Struktur und Tätigkeit der subjektiven, reflektierenden Urteilskraft, auf der aufbauend u. a. Geschmacksurteile getroffen werden. Diese Charakterisierung des Gemeinsinns ist von bedeutender Tragweite. Sie zeigt nicht nur, dass Geschmacksurteile lediglich eine von vielen Urteilsformen auf Basis des Gemeinsinns darstellen. Sie gibt auch ein weiteres Beispiel dafür, dass jede bestimmende Urteilskraft reflektierende Urteilskraft voraussetzt. Insofern jedes objektive, begriffliche Urteil subjektive, ‚gefühlte‘ Bedingungen hat, geht jeder begrifflichen Determination eine vorbegriffliche Reflexion voran (vgl. KU 5:216 ff., 5:238 f., 5:286 f., 5:292 f.). Dieses Vorverständnis lässt sich als zu denken gebende, orientierende Intuition fassen. Es steht in Analogie zum Common Sense in Form des dem Erkennen notwendig vorausgehenden Meinens, der vorläufigen Urteile, Hypothesen etc. (vgl. Kapitel D. III. 2.). Aufgrund der Mitteilbarkeit dieser vorhergehenden ‚subjektiven Urteilskraft‘ können auch ästhetische Urteile, die wie gezeigt nie das begriffliche Stadium erreichen, anderen sinnvoll zugemutet werden. Die erweiterte Idee des Gemeinsinns macht außerdem jeden SolipsismusVorwurf gegen Kant zunichte. Denn ihr zufolge zeugt jede Erkenntnis eines Objekts von der Beziehung des Urteilenden zu allen anderen. Erkenntnis basiert auf Gemeinsinn – sonst wäre es keine. Sie zielt bei Kant, wie Volker Gerhardt es ausgedrückt hat, stets auf anderes vor anderen.121 Im ästhetischen Kontext nennt Kant den Gemeinsinn ein „Lebensgefühl“ (vgl. KU 5:204). Er lässt sich vielleicht noch besser als ein ‚Zusammenlebensgefühl‘ 121
Vgl. Gerhardt: Kant, S. 179, 329.
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begreifen, als Sinn für das Leben, der mit dem Bewusstsein des Zusammenseins mit allen anderen Menschen verbunden ist.122 Kant formuliert diesen Zusammenhang so vieldeutig, dass der Gemütszustand und das aus ihm resultierende Lustgefühl zunächst als identisch betrachtet werden könnten. Dann müsste aber jeder Gegenstand, der ohne Begriff mitteilbar erfasst wird, schön sein. Überhaupt könnte dann nur Schönes Gegenstand von Erkenntnis werden. Selbst wenn das Erhabene hinzugerechnet wird, bleibt dieser Widerspruch bestehen. Deshalb kann sinnvoll zwischen Proportion/Reflexion und resultierender Lust getrennt werden. Beide sind mitteilbar. Beide werden von der ‚Idee des Gemeinsinns‘ eingeschlossen. Bestätigend heißt es in § 39, dass die beschriebene Proportion auch zu jedem Urteil des ‚gemeinen und gesunden Verstandes‘ erforderlich sei (vgl. KU 5:292 f.). – Dieser gewöhnliche, empirische Gemeinsinn urteilt aber bekanntlich nicht nur über das Schöne, sondern auch das Wahre und Gute, das Wetter, den Sport usw.123 Die Idee des Gemeinsinns hat bei Kant hauptsächlich die Bedeutung eines Lustgefühls, das ein Geschmacksurteil ermöglicht. Wenn es eine dieser Charakterisierung vorgelagerte Bedeutungsdimension für sie gibt, existiert dann auch eine ihr nachgelagerte? Ein Anhaltspunkt dafür wurde mit der Interpretation des sensus communis logicus als Prinzip begriffsgeleiteter Arten der Urteilskraft bereits erwähnt. Um der Möglichkeit nachzugehen, das Prinzip Gemeinsinn auch anderen Gebrauchsformen der Urteilskraft als dem Geschmack zugrunde zu legen, ist der Gemeinsinn aus dem Kontext des Schönen zu lösen. Es sollen Thesen darüber formuliert werden, welche Kriterien einen Gemeinsinn als apriorisches Urteilsprinzip generell ausmachen. Dazu ist das Konzept des ästhetischen Gemeinsinns auf Variablen und Konstanten hin zu prüfen. Auf der Basis einer ‚Grundidee des Gemeinsinns‘ ließe sich gegebenenfalls auch ein logischer Gemeinsinn, ein Gemeinsinn der Begriffe, als legitimer sensus communis im Sinne Kants betrachten. Die Idee des sensus communis aestheticus ist dadurch charakterisiert, dass aus einem (erstens) begriffsfreien Spiel, dem (zweitens) Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand, ein (drittens) Gefühl der Lust resultiert, das (viertens) als ein gemeinschaftliches wahrgenommen wird. Als dem gemeinschaftlichen Charakter des Gemeinsinns anhängende Eigenschaften können Mitteilbarkeit, Verallgemeinerbarkeit bzw. Notwendigkeit betrachtet werden. Erstens. Zunächst ist die Notwendigkeit der begriffsfreien Beziehung von Kräften in Frage zu stellen. Soll der Gemeinsinn auch teleologisch-reflektie122 Volker Gerhardt hat den sensus communis treffend als Sinn für das Leben, in dem wir leben, charakterisiert. Vgl. ders.: Kant, S. 272, 282. 123 In diesem Sinne vgl. auch Recki: Affinität, S. 54.
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render und gar bestimmender Urteilskraft zugrunde liegen, muss er auch aus einer unfreien, begrifflichen Übereinstimmung von Erkenntniskräften resultieren können. Weder das Wohlgefallen am Wozu-Guten noch das am Ansich-Guten sind für Kant Ergebnis einer unabhängigen Kommunikation der Gemütskräfte. Sie kommen durch begriffsgeleitete Zusammenarbeit zustande. (Vgl. KU 5:241 f.; 5:207 ff., 5:266 ff.) Dementsprechend ist es auch nicht notwendig, dass das Verhältnis der Erkenntniskräfte einem Spiel gleicht. Das Verfahren der bestimmenden Urteilskraft wird von Kant z. B. ein ernstes Geschäft genannt (vgl. ApH 7:221; Refl. 464 ff., 15:191 ff.). Auch Urteile über das Erhabene kommen nicht ‚spielerisch‘ zustande (vgl. KU 5:245). Zweitens. Dass ein Gemeinsinn als Urteilsprinzip a priori die Beziehung zweier Gemütskräfte voraussetzt, ist unzweifelhaft. Anders verhält es sich mit der Frage, ob er immer das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand erfordert oder auch durch andere Kräfte hervorgerufen werden kann. Denn wie noch zu zeigen ist, treten z. B. bei teleologisch-reflektierender und praktisch-bestimmender Urteilskraft andere Gemütskräfte in Beziehung. Selbst bei Urteilen über das Erhabene kooperieren nicht dieselben Kräfte wie bei denen über das Schöne. Drittens. Keine Variable stellt dar, dass sich der Gemeinsinn als Gefühl äußert. Zwar bestreitet Kant, dass bei teleologischer oder bestimmender Urteilskraft ein dem ästhetischen Gemeinsinn vergleichbares Gefühl erregt wird. Dennoch räumt er die Entstehung eines Gefühls ein – es komme nur eher einer verhalten gebilligten Lösung einer Aufgabe gleich. (Vgl. KU 5:169 f., 5:187 f., 5:242, 5:266 ff.; EE 20:228, 20:250 f.) Dass das Gefühl, als das der Gemeinsinn bemerkt wird, eine Lust darstellen muss, ist wiederum nicht zwangsläufig. Es lässt sich z. B. auch Urteilen über das Hässliche ein Gemeinsinn zugrunde legen (vgl. Metaphysik Pölitz/L1 28:249 ff.). Ein solcher könnte sich ebenfalls als gemeinschaftliches Gefühl kundtun. Es wäre aber eines der Unlust, das demzufolge ein Missfallen allgemein formuliert. Viertens. Der gemeinschaftliche Charakter ist untrennbar mit dem Konzept eines apriorischen Gemeinsinns verbunden. Er stellt die Grundaussage dieser Kant’schen Idee dar und ist nicht zufällig ihr Namenspate. Der ästhetische Gemeinsinn soll den gerechtfertigten Anspruch auf allgemeine Zustimmung erklären, den Geschmacksurteile erheben. Das Prinzip Gemeinsinn lässt sich aber auch generell als Ausdruck einer Verallgemeinerung verstehen, die eine Mitteilbarkeit nach sich zieht. Aufgrund des reflektierenden Verfahrens des Geschmacks sind dessen Urteile nur subjektiv notwendig. Bei einer Urteilskraft, die auf der Basis objektiver Begriffe bestimmend verfährt, wäre der Gemeinsinn aber auch als Prinzip der objektiven Notwendigkeit von Urteilen denkbar.
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Ein kurzer Blick auf Kants Analytik des Erhabenen kann viele der genannten Punkte bestätigen. Gemessen an den Geschmacksurteilen werden Urteile über das Erhabene im Rahmen der Analytik der ästhetischen Urteilskraft nur ausschnitthaft betrachtet. Die Gemeinsamkeiten sind für eine gesonderte Untersuchung zu groß. Die Analyse ergibt, dass auch Urteile über das Erhabene auf einem begriffsfreien Verhältnis zweier Gemütskräfte zueinander und einem auf diesem beruhenden mitteilbaren Gefühl basieren. Das Erhabene gefällt wie das Schöne für sich, setzt ein Reflexionsurteil voraus und erhebt Anspruch auf notwendige Zustimmung. Urteile über das Erhabene unterscheidet aber von Geschmacksurteilen, dass sie sich nicht nur auf die begrenzte Form eines Gegenstandes beziehen, sondern ebenfalls auf das Formlose, Unbegrenzte. Bei ihnen verhalten sich auch nicht Einbildungskraft und Verstand, sondern Einbildungskraft und Vernunft zueinander. Beim Mathematisch-Erhabenen, z. B. dem Petersdom oder den Pyramiden, treten Einbildungskraft und theoretische Vernunft (bzw. das Erkenntnisvermögen), beim Dynamisch-Erhabenen, z. B. einem Vulkan oder Orkan, Einbildungskraft und praktische Vernunft (bzw. das Begehrungsvermögen) in Beziehung. Die Interaktion dieser Kräfte verläuft ohne begrifflichen Zwang. Sie stellt aber kein Spiel dar, sondern eher eine ernsthafte Angelegenheit. Die hervorgerufene Stimmung ist zunächst nicht harmonisch. Einbildungskraft und Vernunft verhalten sich nicht zweckmäßig zueinander, sondern sind einander unangemessen. Sie bilden einen Kontrast. Daher bringt die Reflexion hier zunächst ein Gefühl der „negativen Lust“ hervor. Diese Unlust erweckt jedoch zugleich eine Lust, sodass am Ende Disharmonie und Unzweckmäßigkeit Harmonie und Zweckmäßigkeit hervorrufen. (Vgl. KU 5:244 ff.) Da Kant auch den Urteilen über das Erhabene Allgemeingültigkeit zuschreibt, ist anzunehmen, dass diesen Urteilen ebenfalls der ästhetische Gemeinsinn als Bedingung ihrer Notwendigkeit zugrunde liegt. Erwähnt wird dies nicht. Kant macht für die Zumutbarkeit der Urteile über das Erhabene auch eine wichtige Einschränkung: Nicht jedermann, sondern nur jeder für moralische Ideen empfängliche Mensch vermag, das Erhabene zu beurteilen. Der savoyische Bauer sieht in einem hohen Berg nur die Gefahr, die von dieser Naturgewalt ausgeht. Das Urteil über das Erhabene erfordert etwas mehr Kultiviertheit als das über das Schöne. Insofern diese jedoch ihre Grundlage in der menschlichen Natur – der Anlage zum Gefühl für moralische Ideen – hat, ist für Kant indirekt aber doch jedermann zu solchen Urteilen fähig. (Vgl. KU 5:264 ff.) Wenn Urteilen über das Erhabene ebenfalls der ästhetische Gemeinsinn zugrunde liegt, setzt die Idee dieses Gemeinsinns weder ein Spiel, noch näherhin ein Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand oder ein (direkt er-
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regtes) Lustgefühl zwangsläufig voraus. Als unentbehrlich haben sich dagegen die Beziehung zweier Gemütskräfte, ein durch sie erregtes Gefühl und der gemeinschaftliche Charakter von diesem bestätigt. Da im Verlauf dieser Arbeit außerdem noch näher gezeigt werden kann, dass ein logischer Gemeinsinn kein begriffsfreies Kräfteverhältnis voraussetzt, trotzdem aber in Beziehung zu einem Gefühl steht, darf von dem behaupteten dritten Bedeutungsfeld der Idee des Gemeinsinns ausgegangen werden. Zusammenfassend kann von drei Bedeutungsdimensionen der Idee des Gemeinsinns gesprochen werden. In ihrer Grundbedeutung bezeichnet sie ein als gemeinschaftlich empfundenes Reflexionsresultat, ein mitteilbares Lustgefühl. Der apriorische sensus communis bezieht sich aber auch auf die Bedingungen dieses Ergebnisses – die Konstellation der vom Gegenstand angestoßenen Kräfte bzw. die angemessene Reflexion, in die sie miteinander treten. Schließlich deutet sich die Möglichkeit an, dass die Idee des Gemeinsinns auch begrifflich vermittelten Urteilen zugrunde liegt. – In Analogie lässt sich diese Idee auch auf den empirischen Gemeinsinn übertragen. Sie kann auf Erfahrungsbegriffe bezogen werden, die bei allen gleich sind (z. B. ‚Hund‘), oder auf gemeinsam geteilte Überzeugungen wie das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“. Die Idee des Gemeinsinns ließe sich sogar auf die Ebene höherer Erkenntnisse projizieren: Es besteht z. B. ein wissenschaftlicher Common Sense in Bezug auf die Gültigkeit des Energieerhaltungssatzes. Auf die Universalisierbarkeit des apriorischen Gemeinsinns ist auch in der Sekundärliteratur hingewiesen worden. In der Regel handelt es sich aber um kaum explizierte Vermutungen. In einem breiteren Zusammenhang wurde diese Möglichkeit von Gilles Deleuze dargelegt. Jede apriorische Übereinstimmung unter den Vermögen ‚Einbildungskraft‘, ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ definiert für ihn einen sensus communis. Daher könne neben dem ästhetischen Gemeinsinn, der Urteilen über das Schöne und das Erhabene zugrunde liege, auch von einem moralischen, einem spekulativen und einem teleologischen Gemeinsinn gesprochen werden. Prominent gewordene Zweifel an einem erhabenen, moralischen oder spekulativen sensus communis wurden dagegen von Jean-François Lyotard geäußert.124 Es existiert noch ein weiterer Zusammenhang, der den apriorischen Gemeinsinn entscheidend kennzeichnet – die Analogie zum empirischen Gemeinsinn. Sie soll als drittes Problem näher betrachtet werden. 124
Vgl. Deleuze, Gilles: Kants kritische Philosophie. Die Lehre von den Vermögen, Berlin 1990 (1963), S. 55 ff.; Lyotard: Analytik, S. 247 ff. und ders.: Sensus communis, S. 230 f. Ein spekulativer und ein moralischer Gemeinsinn werden bereits bei Lucien Goldmann formuliert. Vgl. ders.: Mensch, Gemeinschaft und Welt in der Philosophie Immanuel Kants, Frankfurt/M. 1989 (1945), S. 192. Einen ausführlichen Überblick über die Interpretation des Kant’schen Gemeinsinns in der Sekundärliteratur bietet Gundula Felten, S. 11 ff., 152 ff.
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Kant trennt den apriorischen Gemeinsinn deutlich vom empirischen. Bereits in § 20 wird die Idee des Gemeinsinns als Prinzip der Geschmacksurteile ausdrücklich von dem „Gemeinsinn (sensus communis)“ unterschieden, welchen man den „gemeinen Verstand“ nennt (vgl. KU 5:238). In § 40 wird Letzterer als Sinn für Wahrheit, Anständigkeit und Gerechtigkeit sowie Schönheit vorgestellt (vgl. KU 5:293, ApH 7:199). Dieser „gemeine Menschenverstand“, „den man als bloß gesunden (noch nicht cultivirten) Verstand für das Geringste ansieht, dessen man nur immer sich von dem, welcher auf den Namen eines Menschen Anspruch macht, gewärtigen kann, hat daher auch die kränkende Ehre, mit dem Namen des Gemeinsinnes (sensus communis) belegt zu werden; und zwar so, daß man unter dem Worte gemein (nicht bloß in unserer Sprache, die hierin wirklich eine Zweideutigkeit enthält, sondern auch in mancher andern) so viel als das vulgare, was man allenthalben antrifft, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist.“ (KU 5:293).
In der dritten Kritik stehen sich damit zwei Gestalten des Common Sense gegenüber. Die Idee des apriorischen (ästhetischen) Gemeinsinns begegnet u. a. als ‚Gemeinsinn‘, ‚sensus communis‘, ‚sensus communis aestheticus‘, ‚gemein(schaftlich)er Sinn‘ und ‚innerer Sinn‘. Er wird einer ‚allgemeinen Stimme‘ verglichen sowie dem ‚Geschmack‘ und der ‚ästhetischen Urteilskraft‘ beinahe gleichgesetzt. (Vgl. KU 5:216 ff., 5:238 ff., 5:293 ff.) Den empirischen Gemeinsinn bezeichnet Kant in diesem Werk ebenfalls als ‚Gemeinsinn‘ und ‚sensus communis‘. Ausschließlich für ihn werden gebraucht: ‚gemein(st)er (Menschen)Verstand‘, ‚gesunder Verstand‘, ‚gemein(st)e (Menschen)Vernunft‘ und ‚gesunde Menschenvernunft‘. Als Metonym und Synonym lässt sich ‚sensus communis logicus‘ verstehen. Er kann als Prinzip der ‚intellektuellen Urteilskraft‘ und zugleich – wenn seine begriffliche Konstitution gemeint ist – selbst als eine solche betrachtet werden. (Vgl. KU 5:238, 5:293 ff., 5:254, 5:268, 5:354, 5:398, 5:442 f., 5:448, 5:476 ff.) Die demonstrative Abgrenzung des apriorischen vom aposteriorischen Gemeinsinn verbietet eine empirisch-anthropologische Lesart der Idee des sensus communis. Kant interessiert einzig, „was auf das Geschmacksurtheil a priori, wenn gleich nur indirect, Beziehung haben mag“ (KU 5:297). Dies ist in der Forschungsliteratur vielfach als Grundgedanke der GemeinsinnProblematik gewürdigt worden. Ein ebenso naheliegender Gesichtspunkt mit nicht weniger Bedeutung für Kants Philosophie hat dagegen kaum Beachtung gefunden: Neben der Differenz ist auch die Nähe zum empirischen Common Sense wesentlich. Der enge Zusammenhang zwischen diesen beiden Common-Sense-Gestalten ist aufgrund von Kants Betonung ihres Unterschiedes bislang oft übersehen, für unbedeutend gehalten oder gar geleugnet worden.125 125 Vgl. z. B. Tiffany, S. 3ff, 157 ff.; Gadamer, S. 16 ff.; Riedel, Armin, S. 88 ff. und Kimmerle, Heinz/Oosterling, Henk (Eds.): Sensus communis in Multi- and In-
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Die Analogie zwischen den beiden Gemeinsinnen liegt auf der Hand. Sie tragen nicht nur den gleichen Namen – wo auch immer der ideale Gemeinsinn thematisiert wird, ist der reale nicht weit. Wie der empirische sensus communis setzt der apriorische keine höhere Qualifikation voraus. Wäre nicht jeder zu Urteilen über das Schöne und das Erhabene in der Lage, könnten diese nicht jedem anderen berechtigt zugemutet werden. Über beide Gemeinsinne verfügt also auch jedermann. Außerdem lässt sich das Common-Sense-Merkmal des Erfahrungsbezugs in Verbindung mit dem ästhetischen Gemeinsinn bringen – ohne Gefahr für dessen Apriorität. Erfahrung und genauer der Common Sense als Erfahrungsverstand bildet die Basis für Urteile, denen der sensus communis aestheticus zugrunde liegt. Der Geschmack ist für Kant „am meisten der Beispiele dessen, was sich im Fortgange der Kultur am längsten in Beifall erhalten hat, bedürftig“ (KU 5:283). Alfred Baeumler hat diesen Zusammenhang so formuliert: „man kann [. . .; RN] a priori urteilen, was andern überhaupt gefallen werde. Diesen Geschmack kann man aber nur durch lange Erfahrung erwerben.“126 In Form der erweiterten Denkungsart ist empirischer Common Sense auch als Maßstab für ästhetische Urteile geeignet. Jedermann kann sein Urteil an den Meinungen der anderen prüfen. Und schließlich werden Urteile auf Basis des ästhetischen Gemeinsinns erst in Gesellschaft, also empirisch, relevant. Damit liegt auch ihr Ziel im Feld erfahrbarer Intersubjektivität, im Bereich von Interaktion, Kommunikation, Sozialität. Ein einsamer Inselbewohner legt keinen Wert auf das Ausschmücken seiner Umgebung, „nur in Gesellschaft kommt es ihm ein, nicht bloß Mensch, sondern auch nach seiner Art ein feiner Mensch zu sein“ (KU 5:297, vgl. ApH 7:240 ff.). Diese Nähe zeigt zum einen, dass die bahnbrechende Entdeckung des ästhetischen Gemeinsinns Kants vorkritischer Überzeugung vom Geschmack als einer Form von empirischem Common Sense nicht widerspricht (vgl. Kapitel C. II. 4.). Zum anderen wird deutlich, dass die Idee des Gemeinsinns auf der Folie des empirischen Gemeinsinns entwickelt wird. Der getercultural Perspective. On the Possibility of Common Judgments in Arts and Politics, Würzburg 2000. Im Tagungsband von Kimmerle/Oosterling wird die transzendentale Gültigkeit des Gemeinsinns mit Hinweis auf die Existenz verschiedener Geschmäcke, unterschiedlicher religiöser und politischer Überzeugungen usw. als unhaltbar eingestuft. Alternativ wird eine pragmatische Deutung des apriorischen Gemeinsinns unternommen. Dabei wird die Idee des sensus communis aber missverstanden. Auf ihrer Basis wird z. B. die Zustimmung bei Geschmacksurteilen nur angesonnen und nicht dogmatisch diktiert. Diese Idee steht auch nicht im Widerspruch zu unterschiedlichen Geschmäcken, was bei Kant unter dem Stichwort ‚ästhetische Normalidee‘ deutlich wird (vgl. KU 5:231 ff.). Außerdem ist eine Empirisierung des apriorischen Gemeinsinns überflüssig, da dieser – wie offenbar übersehen wurde – ein Analogon des empirischen Gemeinsinns darstellt. 126 Baeumler, S. 272.
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meinschaftliche Bezug des empirischen Gemeinsinns wird destilliert und als apriorisches Prinzip aufbewahrt. Der ästhetische Gemeinsinn stellt das transzendentalphilosophische Pendant zum empirischen dar. Der enge Zusammenhang der beiden Gemeinsinne ist deshalb so bedeutsam, weil erst die Parallele zum empirischen Common Sense die Idee des apriorischen Common Sense rechtfertigt. Es gelingt Kant nicht, den Gemeinsinn als Prinzip a priori logisch zu begründen. Die subjektive Notwendigkeit des Geschmacksurteils bleibt unbewiesen. Der Deduktionsversuch scheitert. Dem sensus communis aestheticus kommt nur der Status einer – wenn auch nachvollziehbaren – Behauptung zu, einer denkbaren Idee. Erst der Blick auf den wohlweislich parallel geführten empirischen Gemeinsinn verbürgt den allgemeinen Charakter des Geschmacksurteils und damit die Idee des Gemeinsinns. Auf die legitimierende Funktion der Analogie zum empirischen Gemeinsinn wurde schon von Micha Brumlik hingewiesen. Ihm ist darin zuzustimmen, dass Kant Gehalt und Bedeutung des ästhetischen Gemeinsinns erst durch sie erschließt – eine Analogie, ohne die die gesamte Geschmackskritik nicht hätte expliziert werden können.127 Besonders offensichtlich wird die Funktion dieser Analogie durch den Exkurs über die Maximen des Common Sense. Es handelt sich um universale Regeln, die den gesunden, d.h. richtigen Gebrauch des gemeinen Verstandes sichern und – indem sie Irrtümer vermeiden helfen – auch generell zur Weisheit führen (vgl. KU 5:294 f.; ApH 7:200, 7:228 f.; Refl. 2273, 16:295). Diese natürlichen Vorsätze des empirischen Gemeinsinns erläutern den ästhetischen Gemeinsinn. Sie stehen in Analogie zu seinen Eigenschaften. Die Maxime des Selbstdenkens findet ihre Entsprechung nicht nur in der Notwendigkeit überhaupt, den eigenen Geschmack zu befragen. Sie veranschaulicht auch den apriorischen Charakter des Gemeinsinns: Ein Urteil auf seiner Basis wird unabhängig von der Erfahrung und damit auch von fremder Erfahrung gebildet. Von der Analogie zur zweiten Maxime, der von der gefühlten Übereinstimmung mit den Urteilen anderer zum Vorsatz, diese tatsächlich zu berücksichtigen, war bereits die Rede. Unter der dritten Maxime kann das sich zu einem gereiften Charakter verdichtete Zusammenwirken der ersten beiden verstanden werden, eine mit Konsequenz realisierte vorausschauende Lebenseinstellung. Sie liefert ein Bild für die Verbindung der Eigenschaften ‚Apriorität‘ und ‚Verallgemeinerbarkeit‘. (Vgl. Kapitel D. III. 1.) Indem Kant zur Rechtfertigung des ästhetischen Gemeinsinns auf den empirischen Gemeinsinn zurückgreift, erfährt Letzterer eine Wertschätzung. 127 Vgl. Brumlik, Micha: Gemeinsinn und Urteilskraft, Frankfurt/M. 1977, S. 92 ff., 108 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Kants Konzentration auf das Darstellungsziel der Apriorität des Gemeinsinns und die despektierlich wirkende Abgrenzung vom ‚vulgären‘, unkultivierten, unrühmlichen Common Sense (vgl. KU 5:293) rufen zunächst einen anderen Eindruck hervor. Kant weist aber der Essenz dieses gemeinen Vermögens einen zentralen Platz in seiner Transzendentalphilosophie zu. Durch dieses Hinaufheben wird dem empirischen Common Sense große Achtung zuteil, was sich als Verlängerung von Kants vorkritischer Hochschätzung des Common Sense in Geschmacksfragen verstehen lässt. Es erlaubt Kant, den positiven Kern dieses Vermögens zu ehren und zugleich den Missbrauch des Common Sense – seine Betrachtung als allein selig machende Institution – zu kritisieren. Wie noch gezeigt wird, ist eine solche Strategie der lauten Ablehnung bei leiser Zustimmung typisch für Kants Umgang mit dem Common Sense zu dieser Zeit (vgl. Kapitel E. IV.). Das vierte Problem lässt sich in die Frage kleiden: Warum erst jetzt? Warum formuliert Kant erst 1790, erst in der dritten Kritik, die Idee des Gemeinsinns? Denn bereits in den ersten beiden Kritiken ist der Gedanke dieses grundlegenden sozialen Urteilsprinzips enthalten (vgl. Kapitel D. II. 3. und D. III. 3.). Selbst das vorkritische Werk birgt Varianten dieser Idee. Ob im Zusammenhang von Metaphysik, Moral oder Geschmack – überall weist Kant auf die notwendige Berücksichtigung des Urteils anderer hin (vgl. z. B. Refl. 2269, 16:293; ANG 1:235; Beobachtungen 2:227; Träume 2:342; Bemerkungen 20:162; Logik Blomberg 24:19). Das Motiv des allgemeinen Standpunktes, der die Voraussetzung jedes mitteilbaren Urteils darstellt und als dessen Verkörperung der empirische Gemeinsinn betrachtet werden kann, begegnet – wie sich noch zeigen wird – Kants gesamtes Schaffen hindurch. Es wäre müßig, die Frage nach der späten Ausführung beantworten zu wollen. An dieser Stelle reicht aus festzustellen, dass das Gemeinschaftliche am Gemeinen bereits vor der dritten Kritik eine feste Größe im Kant’schen Werk darstellt.128 Als fünftes Problem soll auf die Problematik der moralischen Implikationen ästhetischer Urteile eingegangen werden. Sie stehen in Zusammenhang mit dem Common Sense und sind in Hinblick auf die Universalisierbarkeit 128 Von Wolfram Hogrebe ist bemerkt worden, dass der späte Zeitpunkt von Kants Entdeckung keineswegs erstaunlich sei. Schließlich werde der apriorische Gemeinsinn erst in Bezug auf den subjektiven Konsens ästhetischer Urteile relevant – nicht bei den zuvor untersuchten begrifflichen Urteilen. Mit Blick auf das vorkritische Werk hat Klaus Blesenkemper diese Einschätzung zu Recht als zu kurz gegriffen bezeichnet. Bereits der frühe Kant sei auf dieses Prinzip gestoßen, es begegne jedoch zunächst in Form anderer Common-Sense-Synonyme. Vgl. Hogrebe, Wolfram: Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, Freiburg/München 1974, S. 194 f. sowie Blesenkemper, Klaus: „Publice age“ – Studien zum Öffentlichkeitsbegriff bei Kant, Frankfurt/M. 1987, S. 104 ff., v. a. S. 109.
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der Idee des sensus communis sowie die in Kapitel D. II. fortzusetzende Untersuchung des Verhältnisses von Moral und Common Sense von großer Bedeutung. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft enthält eine Vielzahl moralphilosophischer Querverweise. Die Abgrenzung von der moralischen Urteilskraft dient oft zur Erläuterung der ästhetischen Urteilskraft. Kant arbeitet aber auch eine wesentliche Analogie zwischen beiden Vermögen heraus. Die Basis für diese bildet der Common Sense. Die praktisch-bestimmende Urteilskraft unterscheidet sich von der ästhetischen wesentlich. Sie kennzeichnet u. a. ein objektives Wohlgefallen an einer gesetzmäßigen Übereinstimmung von Verstand und Vernunft sowie ein Interesse am Gegenstand. Dennoch ist der Geschmack eng mit der Moral verbunden. Kant nennt das Schöne z. B. ein Symbol des Sittlich-Guten, eine Versinnlichung sittlicher Ideen. Dieser Zusammenhang sei sogar im gewöhnlichen Common Sense präsent, etwa wenn von ‚unschuldigen‘ Farben wie dem Weiß der Lilie gesprochen werde. Ein Interesse an der Schönheit der Natur verrät für Kant eine gute Seele und auch eines an ihrer Erhabenheit kann als Form von Philanthropie betrachtet werden. Urteile über das (Dynamisch-)Erhabene setzen wie gesehen ausdrücklich eine Empfänglichkeit für moralische Ideen voraus. Die ästhetische Urteilskraft ermöglicht einen Übergang vom Reich der Sinne zum Reich der moralischen Zwecke. (Vgl. KU 5:207 ff., 5:237, 5:275 f., 5:296 ff., 5:302, 5:351 ff.; ApH 7:244.) Der Grund für diesen engen Zusammenhang ist in zweierlei Hinsicht auf den Common Sense zurückzuführen. Der apriorische Gemeinsinn, der Urteilen über das Schöne und das Erhabene zugrunde liegt, verkörpert das moralische Grundprinzip nahezu. Die Idee der Rücksichtnahme auf alle anderen bildet den Kern von Moralität. Aber auch, dass ästhetische Urteilskraft auf empirischem Gemeinsinn aufbaut, lässt verstehen, warum sie moralische Elemente beinhaltet. Dem gewöhnlichen, erfahrungsnahen Common Sense lässt Kant an vielen Stellen seines Gesamtwerkes höchste Anerkennung für seine Direktheit und Sicherheit in moralischen Fragen zuteil werden. In der Geschmackskritik führt er ihn ausdrücklich als ‚Sinn für Gerechtigkeit‘ ein. Seine drei Maximen und vor allem die ihn entscheidend charakterisierende erweiterte Denkungsart machen seinen moralischen Charakter und damit den des Geschmacks vollends deutlich. Denn das selbst zu bewerkstelligende und mit Konsequenz zu verfolgende Hineinversetzen in einen allgemeinen Standpunkt kennzeichnet auch wesentlich moralisches Urteilen. Kant sieht in dieser Form von Selbstreflexivität eine „Liberalität der Denkungsart“, die sowohl das Schöne und das Erhabene als auch das Gute auszeichnet. (Vgl. KU 5:268, 5:293 ff.) In der Common-Sense-Struktur der ästhetischen Urteilskraft liegt begründet, dass gelingende ästhetische Urteile trotz ihres notwendig individuellen
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Charakters keine egoistischen, sondern ausdrücklich pluralistische sind. Denn sie basieren auf einem Berücksichtigen des allgemeinen Standpunktes, das beide Common-Sense-Gestalten charakterisiert. Deshalb drängen Urteile über das Schöne zur Geselligkeit und wecken ein Interesse für die Moral. Deshalb stellen die Entwicklung sittlicher Ideen und die Kultivierung des moralischen Gefühls eine Propädeutik für Geschmack und alle schöne Kunst dar. Deshalb dient der Geschmack der Humanität. Denn zu dieser bedarf es der Anteilnahme und der Fähigkeit zu allgemeiner Mitteilung. Auch sie basiert also auf Gemeinsinn. (Vgl. KU 5:278, 5:296 f., 5:355 f.; MST 6:456 f.; ApH 7:244.) Versuche einer angemessenen Würdigung des gesellschaftlichen bzw. moralischen Charakters von Urteilen über das Schöne oder das Erhabene sind in der Hauptsache Erscheinungen der jüngeren Vergangenheit.129 Zuvor wurde Kants Idee des Gemeinsinns diese Dimension z. T. heftig abgesprochen. Besonders einflussreich scheint Hans-Georg Gadamer gewesen zu sein, der Kant eine verheerende Einengung des Gemeinsinns auf den Geschmack vorgeworfen hat. Wie in diesem Fall haben derlei Einwände oft philosophiegeschichtliche Hintergründe. Vor Kant sei die gesellschaftlichmoralische Bedeutung des Gemeinsinns deutlicher formuliert worden, heißt es dann.130 Dies kann aber kein Argument dafür sein, ihm die Anerkennung der moralischen Dimension des Gemeinsinns zu bestreiten. Obwohl Kant in seiner Geschmackskritik eine andere Zielstellung als das Aufzeigen dieses Zusammenhangs verfolgt, arbeitet er die Nähe zu Moral und Geselligkeit heraus. Nicht weniger deutlich wird dies angesichts der Charakterisierung des empirischen Gemeinsinns, der für Kant nicht durch das Formulieren des apriorischen Gemeinsinns entbehrlich wird. Der Common Sense steht in seinen beiden Grundformen bei Kant der humanistischen Tradition des sensus communis in nichts nach (vgl. Kapitel A. II.). 4. Teleologische Urteilskraft: Zweckmäßigkeit nach Begriffen Im zweiten Hauptteil der Kritik der Urteilskraft widmet sich Kant der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft. Sie kommt bei der Beurteilung kausaler Zusammenhänge zur Anwendung. Die teleologische Urteilskraft betrachtet die Natur, als ob sie zweckmäßig geordnet wäre. Ihr Motto lautet: 129 Vgl. z. B. Recki: Affinität; Früchtl, Josef: Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil. Eine Rehabilitierung, Frankfurt/M. 1996; Paetzold, S. 108 ff.; Leyva, S. 238 ff.; Felten, S. 79 ff. und – sehr begrenzt – Wingert, Lutz: Gemeinsinn und Moral, Frankfurt/M. 1993. 130 Vgl. Gadamer, S. 16 ff., 27 ff., 31 ff. Gadamer wird in seiner Kritik am apriorischen Gemeinsinn noch übertroffen von Armin Riedel (vgl. ders., S. 88 ff.).
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„Alles in der Welt ist irgend wozu gut; nichts ist in ihr umsonst“ (KU 5:379). Die teleologische Urteilskraft schließt die Lücke, die bestimmende Urteilskraft lässt. Sie fördert Zweck-Mittel-Relationen zu Tage, wo allgemeine Gesetze nicht oder nicht ausreichend zur Erklärung dienen. Teleologische Reflexionsurteile drücken eine andere Zweckmäßigkeit aus als ästhetische. Die ästhetische Vorstellung von Zweckmäßigkeit ist formal und subjektiv. Sie besteht zwischen der Form des Gegenstandes und dem Erkenntnisvermögen und wird vor der Objekterkenntnis, vor jedem Begriff, durch ein Gefühl angezeigt. Die teleologische Urteilskraft beinhaltet eine „logische“ Vorstellung von Zweckmäßigkeit. Diese ist material und objektiv, insofern sie sich nicht auf den Zustand des Subjekts, sondern die Beschaffenheit eines Objekts bezieht. Im Gegensatz zu den ästhetischen stellen teleologische Urteile Erkenntnisurteile dar. Dennoch kommt ihnen ebenfalls nur subjektive Geltung zu. Objektive Notwendigkeit würde teleologisch-bestimmende Urteilskraft kennzeichnen. (Vgl. KU 5:192 ff.) Die teleologische Urteilskraft verfährt ‚logisch‘, insofern sie in ihrer Reflexion Begriffen folgt. Der bei teleologisch-reflektierender Urteilskraft gegebene Begriff enthält im Gegensatz zu dem die bestimmende Urteilskraft leitenden keine verbindliche Anweisung. Er dient der Reflexion nur als Maßstab. Zwar wird ein Prinzip der Zweckmäßigkeit unterstellt, dieses übt aber keinen Zwang aus, sondern fungiert als Maxime. Das Objekt wird nicht vom allgemeinen Begriff eines Zwecks bestimmt. Deshalb hat die teleologische Urteilskraft trotz ihrer auf Begriffen basierenden Reflexion nur regulativen Charakter. (Vgl. KU 5:192 ff., 5:359 ff., EE 20:232 ff.)131 Kant unterscheidet innerhalb der materialen (auch ‚real‘ genannten) Zweckmäßigkeit zwischen einer äußeren und einer inneren Zweckmäßigkeit von Naturobjekten. Dinge verfügen über eine äußere (relative) Zweckmäßigkeit, wenn sie als Mittel beurteilt werden, als zuträglich für andere Dinge oder nützlich für den Menschen. Innere Zweckmäßigkeit kommt nur ‚Naturzwecken‘ zu – organisierten und zugleich sich organisierenden Naturwesen. Solche ‚Organismen‘ sind Ursache und Wirkung ihrer selbst. Alles an ihnen ist Zweck und wechselseitig auch Mittel. (Vgl. KU 5:366 ff., 5:425.) Als die eigentliche reflektierende Urteilskraft, der gegenüber die ästhetische nur einen Sonderfall darstellt, vergleicht die teleologische Urteilskraft den empirischen Begriff vom Gegenstand mit der Idee eines Zwecks oder der Zweckmäßigkeit. Diese Verfahrensweise ist auch für den Common Sense typisch. Ästhetische Urteile, so untrennbar sie mit dem Common 131 Die Untersuchung der teleologischen Urteilskraft kann als Weiterentwicklung des Problems der regulativen Vernunftideen verstanden werden, das Kant im Anhang zur Transzendentalen Dialektik der ersten Kritik betrachtet (vgl. KrV A:642 ff./B:670 ff.; Kapitel D. III. 2.).
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Sense verbunden sind, haben nur einen kleinen Anteil am Spektrum seiner Urteile. In der Regel fällt der Common Sense seine Urteile mit teleologischer Urteilskraft – nach zwanglosen Begriffen reflektierend. Kant hat in verschiedenen Arbeiten darauf hingewiesen, dass der Common Sense nach Begriffen urteilt – nur liegen sie oft im Dunkeln des Bewusstseins. Daher nennt Kant ihre Anwendung auch einen „logischen Tact“. Der Common Sense weiß, was Begriffen angemessen ist, ohne sie genau zu kennen. Er fällt z. B. ein sicheres Urteil darüber, was gerecht ist. Was aber ‚Gerechtigkeit‘ ist, kann er nicht definieren, nur veranschaulichen. (Vgl. KU 5:238; ApH 7:140; GMS 4:451; Refl. 737, 15:324.) Die teleologische Urteilskraft stimmt auch generell mit den drei Hauptmerkmalen des Common Sense überein. Der Einfachheit entspricht der problematische, nur hypothetische, regulative Charakter, den Kant an den teleologischen Urteilen betont. Die teleologische Urteilskraft stellt Zusammenhänge fest, ohne sie letztgültig erklären zu können. Teleologische Urteile sind auch untrennbar mit der Erfahrung verbunden. Sie werden nicht nur von dieser ausgehend getroffen. Auch der Zweck, mit dem der empirische Begriff verglichen wird, muss erst diesem entlehnt werden. Teleologischen Urteilen wohnt schließlich auch ein gemeinschaftliches Moment inne. Sie begleitet ein Anspruch auf allgemeine Zustimmung, der aber wie bei der ästhetischen Urteilskraft nur subjektiv notwendig ist. Liegt dann auch der teleologischen Urteilskraft ein sensus communis zugrunde? Genannt wird keiner. In Kapitel D. I. 3. wurde aber bereits die Möglichkeit eines solchen sensus communis logicus dargelegt, der trotz seines Bezugs zu den Begriffen in Analogie zum sensus communis aestheticus steht. Soll er der teleologischen Urteilskraft zugrunde liegen, müssten zwei Erkenntnisvermögen zu einer Reflexion in Beziehung treten. Diesen Prozess deutet Kant als Übereinstimmung von Verstand und Vernunft, von empirischem Begriff und der Idee eines Zwecks oder einer Zweckmäßigkeit, an.132 Die teleologische Urteilskraft vergleiche den Ist- mit dem Soll-Zustand eines Gegenstandes. (Vgl. EE 20:221, 20:233 ff.) Der sensus communis (teleo-)logicus müsste in Analogie zum ästhetischen Gemeinsinn außerdem ein gemeinschaftliches Gefühl als Resultat der Reflexion ausdrücken. Laut Kant basiert die teleologische Urteilskraft aber ausdrücklich nicht auf einem solchen (vgl. KU 5:169 f.; EE 20:228, 20:250 f.). Allerdings wird eine ursprüngliche Lust eingeräumt, die jede Absicht und damit auch teleologischreflektierte Urteile begleitet. Diese Lust wird von der Erkenntnis, die das Urteil enthält, überlagert. Sie kommt einer reservierten Billigung gleich. 132
Bei formaler objektiver Zweckmäßigkeit, wie der mathematischen Vollkommenheit von geometrischen Figuren oder Zahlen, befinden sich für Kant Einbildungskraft und Verstand in einem harmonischen Verhältnis (vgl. KU 5:364 ff.).
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Ein „Studium“ kann lehren, sie wieder zu empfinden. (Vgl. KU 5:242, 5:187 f.) Dass die teleologische Urteilskraft ohne ein Gefühl der Lust oder Unlust auskommt, könnte demnach auch bedeuten, dass ein solches zwar erregt wird, es aber für ihre Urteile nicht konstitutiv ist. Dieses Gefühl lässt sich als ein gemeinschaftliches vorstellen, das aufgrund einer gedachten Unabhängigkeit von Privatbedingungen einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt – ein Anspruch, der nur empirisch gegründet wäre. Es darf also ein sensus communis teleologicus konstruiert werden.133 Jedoch ist er für die Charakterisierung der teleologischen Urteilskraft im Vergleich zur ästhetischen nur von nachrangiger Bedeutung. Die entscheidende Schnittstelle zwischen ästhetischer Urteilskraft und Common Sense kam im Prinzip des sensus communis zum Ausdruck. Die wesentliche Parallele zwischen teleologischer Urteilskraft und Common Sense besteht dagegen im Prinzip der Zweckmäßigkeit. Beide lassen sich als reflektierendes Zweckdenken nach Begriffen verstehen, welche nicht expliziert werden müssen. In Anthropologie wird der Common Sense entsprechend als das intellektuelle Vermögen gerühmt, welches „mit den wenigsten Mitteln seinem Zweck ein Gnüge thut“ (7:198). In der Kritik der Urteilskraft weist Kant der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft die Fähigkeit des Verstehens, des Begreifens und Deutens zu. Demgegenüber hat die mechanisch-bestimmende Urteilskraft die Funktion des Erklärens, des Explizierens. (Vgl. KU 5:169, 5:409, 5:412.) Etwas zu verstehen oder zu deuten heißt, Dingen Bedeutung zukommen zu lassen und Sinnhorizonte vom Individuellen ausgehend zu eröffnen. Zu solchen Akten qualifiziert die teleologische Urteilskraft ihre Selbsttätigkeit – ihre Eigenart, sich selbst einen Begriff zu machen: „nur soviel sieht man vollständig ein, als man nach Begriffen selbst machen und zu Stande bringen kann“ (KU 5:384, vgl. KrV B:XIII).
Fähigkeit und Notwendigkeit des Selbstmachens sind von außerordentlicher Tragweite. Einerseits wird vollends klar, wie wichtig die teleologisch-reflektierende Urteilskraft ist. Ohne sie wäre die Wissenschaft frei von wirklichkeitsrelevanten Bezügen und der Mensch eine fremdbestimmte Maschine. Andererseits – das wird abseits der dritten Kritik deutlich – beschränkt Kant diesen Zusammenhang nicht auf einen bestimmten Gebrauch der Urteilskraft, sondern bezieht ihn auf alle Verstandesleistungen (vgl. Brief an Beck 11:515, Brief an Plücker 12:57).134 133 Angedeutet wird diese Möglichkeit auch bei Deleuze und Makkreel. Vgl. Deleuze, S. 135; Makkreel: Einbildungskraft, S. 201. 134 Vgl. Gerhardt: Kant, S. 323 ff., 330 ff., 344 ff. Zur besonderen Bedeutung des teleologischen Verstehens und Deutens für die Philosophie und die Geisteswissenschaften vgl. Kapitel E. III.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Aufgrund der engen Verwandtschaft von teleologischer Urteilskraft und Common Sense stellt dieses deutende Verstehen zugleich eine Bedeutungsfassette des Common Sense dar. Auch der Common Sense, verstanden als ‚gesundes‘ Vermögen, macht alles selbst. Er steigt dank eigenständiger Verstandesleistungen vom Konkreten zur Hypothese hinauf. Kant hat das bei ihm vieldeutige ‚Selbstmachen‘ als Selbstdenken andernorts deutlich in Zusammenhang mit dem Common Sense gebracht. In Anthropologie heißt es, den gesunden Verstand, welcher geübte Urteilskraft einschließe, kennzeichne jederzeit ein eigenständiges Zusammenreimen oder ‚Zusammensetzen‘. Im Hintergrund steht hier der vertraute Unterschied zwischen dem Ausführen von Befehlen und dem Begreifen ihrer Intention, zwischen dem Auswendiglernen von Lehrsätzen und dem Anwenden solcher Kenntnisse. (Vgl. 7:197 ff.) Die Teleologie kommt in Kants Philosophie von Beginn an in vielen Zusammenhängen zum Tragen – u. a. bei der ‚Philosophie nach dem Weltbegriffe‘, dem moralischen Gesetz, dem Fortschritt der Geschichte oder der Entwicklung der menschlichen Rassen. In der Kritik der Urteilskraft wird sie in Bezug auf den Alltag, die Natur, die Kultur, die Moral und die Religion thematisiert. Als Alltagsteleologie kann betrachtet werden, was Kant unter ‚äußerer Zweckmäßigkeit‘ im Sinne von Nützlichkeit versteht – ein zum Meistern des gewöhnlichen Lebens notwendiges praktisches Abwägen von Zweckdienlichem. Kant trennt zwischen vernünftigen und törichten Nützlichkeitserwägungen. Anders als der Gebrauch von Tieren zum Reiten oder Pflügen stellt das Verarbeiten von Naturprodukten zu Schmuck und Schminke oder das kurzsichtige Abholzen der Wälder einen Missbrauch der Natur dar. Kant verurteilt derlei Absichten, Naturgeschöpfe willkürlich als Mittel zum eigenen Vorteil zu gebrauchen. (Vgl. KU 5:367 f.) Diese von Kant hier nur gestreifte alltagsteleologische Urteilskraft weist eine sehr hohe Übereinstimmung mit dem Common Sense auf. Nicht nur strukturell, auch inhaltlich gibt sich eine deutliche Parallele zu erkennen. Denn als praxisnaher Alltagsverstand ist der Common Sense entscheidend durch ein Interesse an äußerer Zweckmäßigkeit gekennzeichnet. Diese relative Zweckmäßigkeit eröffnet das Feld für pragmatische Erwägungen, nützliches Zweckdenken oder praktische Klugheit135, welches als Domäne des Common Sense vorgestellt wurde (vgl. Kapitel A. I., B. I.). 135 ‚Pragmatisch‘ definiert Kant als den Gebrauch eines Mittels zu einem bestimmten Zweck, ‚Klugheit‘ bezeichnet die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel (vgl. z. B. KrV A:800/B:828, GMS 4:416 ff.). Näheres zur Bedeutung des Pragmatisch-Klugen bei Kant vgl. Kapitel E. I.
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Größere Aufmerksamkeit wird der Naturteleologie zuteil. Hinsichtlich der Erforschung der Natur stellt Kant der ‚physisch-mechanischen Erklärungsart‘ die ‚technisch-teleologische‘ gegenüber. Zur Ersten gehört bestimmende, zur Zweiten reflektierende Urteilskraft. Kant bezieht sich auf Wesen, die als Naturzwecke organisiert sind – ein Gebiet der Naturwissenschaften, das heute primär Forschungsbereich der Biologie ist. Wie zu jeder Naturwissenschaft bedarf es auch hier vor allem allgemeiner Gesetze und bestimmender Urteilskraft. (Vgl. KU 5:381 ff., 5:417 f.) Kant konstatiert jedoch die Unzulänglichkeit einer nur aus dem Allgemeinen schöpfenden, in diesem Fall nur von gegebenen mechanischen Gesetzen ableitenden Urteilskraft. Organismen lassen sich nach bloß mechanischen Gesetzen nicht verstehen. Erst wenn zusätzlich eine Zweckverknüpfung geleistet wird, kann ihnen ein Sinn abgerungen werden. Es gebe für den Menschen keinen Anlass, „zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde“ (KU 5:400, vgl. 5:409 f., 5:413).
Deshalb bedarf es für Kant notwendig der Komplettierung durch eine teleologische Naturauffassung, die dem konkreten Empirischen Zwecke unterstellt. Zweck-Mittel-Relationen seien unentbehrlich, Naturprodukte wie einen Organismus zu studieren und zu verstehen. (Vgl. KU 5:360 f., 5:379, 5:395 ff., 5:410 ff.) Für Kant ist die mechanisch-bestimmende Urteilskraft in der Praxis der Naturforschung nicht von der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft zu trennen. Allein genommen führt jedes dieser Verfahren zu Hirngespinsten. Deshalb müssen sie vereinigt werden, und zwar so, dass sie sich ergänzen, nicht ersetzen. Kant vertritt die Auffassung, dass Naturwissenschaft die Naturprodukte und -ereignisse so weit ihr möglich ist, mechanisch erklären soll. Letzten Endes müssen diese aber zur Erörterung dem teleologischen Prinzip untergeordnet werden. (Vgl. KU 5:410 ff., 5:417 ff.) Kant macht deutlich, dass sich teleologisch-reflektierende und mechanisch-bestimmende Urteilskraft gegenseitig voraussetzen. Die teleologische setzt die mechanische Urteilskraft voraus, indem sie die Denkbarkeit einer Erzeugung der Dinge nach mechanischen Gesetzen unterstellt. Umgekehrt bliebe die mechanische ohne die teleologische Urteilskraft wirkungslos, weil erst, indem Naturprodukten und -formen Absichten zugewiesen werden, ein Verstehen dieser ermöglicht wird. Die teleologische Urteilskraft dient der mechanischen als unentbehrlicher Leitfaden der Naturerforschung. Mit ihr wird dem Wie ein Wozu beigesellt, das der Wissenschaft von der Natur Orientierung bietet – sowohl hinsichtlich ihrer Resultate als auch in Bezug auf lohnende Forschungsgebiete. (Vgl. KU 5:410 ff., 5:417 ff.)
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Das Verhältnis von teleologischer und mechanischer Urteilskraft lässt sich auf das von reflektierender und bestimmender Urteilskraft überhaupt beziehen: Jede reflektierende Urteilskraft setzt bestimmende voraus und jede bestimmende Urteilskraft ist auf reflektierende angewiesen. Dieser Zusammenhang gilt nicht nur für die Beurteilung von Naturzwecken, sondern begegnet in allen Wissenschaften. Er gilt sogar über diese hinaus – im Alltag, in der Wirtschaft, der Politik, der Religion etc. Von der Natur- geht Kant zu einer Kulturteleologie über. Denn den letzten Zweck der Natur stellt der Mensch nur in seiner „Tauglichkeit: sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen“ und die Natur dazu „angemessen als Mittel zu gebrauchen“ (KU 5:431) dar – nicht in seiner Glückseligkeit, der Befriedigung niederer Bedürfnisse durch Besitz und Genuss. Kant fasst sowohl die Fähigkeit zur „Hervorbringung“ von Zwecken als auch das Hervorbringen selbst unter den Begriff der Kultur des Menschen. Dabei ist eine bestimmte Kultur gemeint. Das Zusammenleben in einer bürgerlichen Gesellschaft ist für sie ebenso förderlich wie Schöne Künste und Wissenschaften. Sie erfordert die Ausbildung der natürlichen Anlagen des Menschen und Disziplin gegenüber den Neigungen. Nur eine so verstandene Kultur bereitet den Menschen dazu vor, sich eigene Zwecke zu setzen und sich damit durch seine Vernunft in Übereinstimmung mit der Natur selbst zu bestimmen. (Vgl. KU 5:429 ff.) Aus der Vorstellung vom Menschen als zur Zwecksetzung tauglichem Kulturwesen, das ihn als Natur- und Vernunftwesen voraussetzt, speist sich Kants Vorstellung vom „Wert des Lebens“. Was heute eher als ‚Sinn des Lebens‘136 diskutiert wird, besteht für Kant in dem, was „wir unserem Leben selbst geben durch das, was wir nicht allein thun, sondern auch so unabhängig von der Natur zweckmäßig thun, daß selbst die Existenz der Natur nur unter dieser Bedingung Zweck sein kann“ (KU 5:434).
Der Sinn des Lebens beinhaltet für Kant zunächst ein Tätigsein. Er liegt in dem, was man aktiv leistet, nicht passiv genießt. Der Sinn oder Wert des Lebens setzt genauer gesagt notwendig Selbsttätigkeit voraus. Er ist dem Menschen nicht vorgegeben, jeder Einzelne muss ihn sich selbst in Form von Zwecken (Zielen) geben. In seiner Selbstbestimmung zu höheren Zwecken durch die Vernunft übersteigt der Mensch die Zwecke der übrigen Natur. Diese Unabhängigkeit unterliegt der Einschränkung, dass der Mensch die Natur nur soweit als Mittel zu seinen Zwecken gebrauchen darf, wie er sie zugleich als Zweck respektiert. 136
Der Topos ‚Sinn des Lebens‘ kommt übrigens erst mit der Verbreitung von Kants kritischer Philosophie in Umlauf. Vgl. Gerhardt, Volker: Sinn des Lebens, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 815.
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Seine Gedanken zu einer Kulturteleologie im engeren Sinne komprimiert Kant zu nur einem einzigen Paragrafen, und dem ‚Wert des Lebens‘ widmet er lediglich eine Fußnote. (Vgl. KU 5:429 ff.) So wird schnell überlesen, dass hier eine bedeutende Erkenntnis dargelegt wird: Kant verknüpft Kultur und Sinn des Lebens untrennbar mit reflektierender Urteilskraft und sensus communis. Es ist bereits bemerkenswert, dass Kant die Kultur im Rahmen der teleologischen Urteilskraft thematisiert. Kultur als Fähigkeit, sich selbst Zwecke zu geben, setzt das Vermögen voraus, die eigene Existenz teleologisch zu reflektieren. Um dem eigenen Dasein einen Zweck zu setzen, bedarf es eines Verstehens, das nur reflektierende Urteilskraft ermöglicht. Erst die vergleichende Leistung der Reflexion eröffnet die Sinnhorizonte, verleiht die Bedeutungen, welche der Mensch benötigt, um seiner Bestimmung zur Selbstbestimmung gerecht zu werden. Kultur setzt weiterhin notwendig die Einbindung in eine Gesellschaft voraus. Kant deutet dies u. a. mit seinem Hinweis auf die Unverzichtbarkeit einer bürgerlichen Gesellschaft sowie von Kunst und Wissenschaft an. Deutlicher als in der Kritik der teleologischen Urteilskraft wird dieser Zusammenhang an anderen Stellen formuliert. Der Mensch ist für Kant zur Gesellschaft bestimmt. Nur in ihr fühlt er sich als Mensch, nur hier kann er seine Anlagen ausbilden. Obwohl Kant kulturelle Leistungen als „Früchte der Ungeselligkeit“ bezeichnet, stellt die Kultur für ihn einen „gesellschaftlichen Wert“ dar. Denn der Hang zur Vereinzelung ist beim Menschen mit dem zur Vergesellschaftung zu einer „ungeselligen Geselligkeit“137 verbunden, die die optimale Entwicklung der menschlichen Kräfte gewährleistet. (Vgl. MST 6:471 ff.; Idee 8:19 ff.; ApH 7:321 ff.; KU 5:297, 5:355.) Der Mensch als Kulturwesen setzt demnach den Menschen als Gesellschaftswesen notwendig voraus. Kultur ist nur unter der Bedingung des wechselseitigen Austauschs mit anderen möglich.138 Aufgrund der Verflechtung von Kultur und Gesellschaft lässt sich ein sensus communis als Bedingung menschlicher Kultur vermuten. Im Sinne Kants kann ein solcher als ein allen gemeinsamer Sinn für alle anderen Menschen formuliert werden, durch den diese in ihrer Kultur miteinander verbunden sind. Die Verzahnung von Kultur und Gesellschaft ermöglicht es, die Mitteilbarkeit als notwendige Bedingung aller kulturellen Leistungen zu begreifen. Der Naturberuf des Menschen, einander mitzuteilen (vgl. 137 Vgl. Nehring, Robert: Geselligkeit und Geselligkeit, ungesellige, in: KantLexikon. 138 Zur kulturellen Dimension der Idee des sensus communis vgl. Kimmerle/ Oosterling, v. a. S. 37 ff., 95.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Spruch 8:305, Anthropologie Mrongovius 25:1226), kann zum ‚Kulturberuf‘ konkretisiert werden. Da der sensus communis bei Kant als Garant der Mitteilbarkeit fungiert, lässt er sich in übertragenem Sinne auch als Voraussetzung für die Hervorbringung von Kultur betrachten. Der sensus communis ermöglicht nicht nur Kultur, er wird durch sie auch befördert. In Anthropologie heißt es, je höher eine Kultur entwickelt sei, desto mehr werde in ihr der „Privatsinn (Einzelner)“ einem selbst gewählten „Gemeinsinn (Aller vereinigt)“ unterworfen. Dies gebe den Einzelnen das Gefühl, sich ihrer Bestimmung als Menschen angemessen zu verhalten. (Vgl. 7:329 f.) Der sensus communis kann also nicht nur als eine Voraussetzung kultureller Leistungen betrachtet werden. Im hier gebrauchten Sinne eines allgemeinen Willens zu einer verbindlichen Rechtsform des Zusammenlebens (vgl. Kapitel E. I.) stellt er auch selbst eine kulturelle Leistung dar – einen Willen, der mit zunehmender Kultivierung stärker wird. Kultur als die Fähigkeit, sich selbst Zwecke setzen zu können, bildet außerdem die Grundlage für den Zweck, welchen der Mensch seinem Dasein geben soll, um seiner Bestimmung als letzter Zweck zu entsprechen. Sie ist die Voraussetzung für den so genannten Sinn des Lebens. Nur als Kulturwesen, das sich aus der ‚Rohigkeit der Natur‘ herausgearbeitet hat, findet der Einzelne seinen Sinn. Kultur kann verstanden werden als Transportmittel zu einer individuellen Lebensgestaltung nach selbst gesteckten Zielen. Kants Ausführungen in der Kulturteleologie-Passage legen nahe, dass die Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens eine Aufgabe für die teleologisch-reflektierende Urteilskraft darstellt. Nur sie ist in der Lage, vom konkreten menschlichen Leben ausgehend diesem selbstständig einen individuellen Zweck zu geben. Nur die Reflexion verleiht möglichen Zielen individuelle Bedeutung und nur sie weiß eine angemessene Lösung auszuwählen. Wäre der Sinn des Lebens bereits vorgegeben, würde also ein Begriff ihn zwingend vorschreiben, dann müsste er als eine Angelegenheit für die bestimmende Urteilskraft betrachtet werden, als ableitbar aus einem allgemein verbindlichen Gesetz. Kants Gedanken zum Sinn des Lebens lesen sich wie die Vorlage zu prominenteren, eingängigeren, wenngleich anders akzentuierten, Formeln der Weltanschauungs- oder Existenzphilosophie. Zu denken wäre an Nietzsches Ausspruch: „stecke Dir selber Ziele, hohe und edle Ziele und gehe an ihnen zu Grunde!“139 oder die existentialistische Verurteilung des in die Welt geworfenen Menschen zur Freiheit der unbequemen Selbstwahl durch eigene 139 Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.), Berlin/New York 1967 ff., III.4, S. 259; vgl. III.1, S. 315.
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Zielsetzung angesichts einer sonst sinnlosen Welt.140 Wie in diesen Philosophien wird von Kant die Individualität einer solchen Entscheidung betont und allen Instanzen eine Absage erteilt, die sie dem Einzelnen abnehmen wollen. Dennoch bindet Kant die Frage nach dem Sinn des Lebens an den Sinn für die Gemeinschaft. Denn der Sinn des Lebens stellt eine kulturelle Leistung dar – das Stecken eines eigenen Lebensziels setzt bei Kant Kultur und damit die Einbindung in eine Gesellschaft voraus. Der Sinn des Lebens wird demnach erst durch eine Verbindung zur Mitwelt möglich. Dieser Bezug begegnet bei Kant als sensus communis. Seinem Leben selbst Zwecke zu geben ist nicht nur Ziel der Kultur, sondern zugleich ihre bedeutendste Leistung. Nur in der Selbstwahl seines Lebenssinns wird der Mensch seiner Bestimmung als letzter Zweck gerecht, welcher in der Fähigkeit zu dieser Wahl besteht. Die eigenständige Setzung eines Lebenszwecks lässt sich als ein Urteil betrachten, das teleologisch-reflektierender Urteilskraft bedarf, der ein sensus communis teleologicus als Ausdruck für eine Reflexion auf die gesamte Menschheit in der eigenen Person zugrunde liegt.141 Kant ergänzt seine Natur- und Kulturteleologie durch eine Moralteleologie. Als Naturwesen stellt der Mensch einen ‚Naturzweck‘ dar. Als Kulturwesen, das ihn als Gesellschafts- und Vernunftwesen voraussetzt, ist er ‚letzter Zweck der Natur‘. Nun erklärt Kant den Menschen als Moralwesen zum ‚Endzweck der Schöpfung‘. Denn nur als solcher stellt er einen Zweck dar, der keinen anderen Zweck zu seiner Bedingung hat. Nur der Mensch als Vernunftwesen unter moralischen Gesetzen trägt den höchsten Zweck in sich selbst. (Vgl. KU 5:434 ff.) Durch diese Wendung wird ein weiteres Kriterium für den ‚Sinn des Lebens‘ ausgesprochen. Wie die Natur darf in diesem Lebensentwurf auch die Menschheit nicht nur als Mittel, sondern muss auch als Zweck betrachtet werden. Individuelle Lebensziele müssen so gewählt werden, dass sie moralisch realisiert werden können. Nur auf diese Weise wird der Mensch der von ihm ersehnten Glückseligkeit auch würdig. (Vgl. KU 5:442 f., 5:450, 5:453.) Kant geht in der Reihe der Zwecke noch weiter. Die Moralteleologie dient einer abschließenden Religionsteleologie, Kants Ethikotheologie, zum Fundament. Mit ihr versucht er wie in den vorangegangenen Kritiken, Gott aus dem moralischen Zweck des Menschen zu beweisen. (Vgl. KU 5:436; KrV A:583 ff./B:611 ff., A:804 ff./B:832 ff.; KpV 5:124 ff.) 140 Vgl. z. B. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts und Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. 141 Vgl. Gerhardt: Kant, S. 291 ff.
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Im Zusammenhang mit dem ethikotheologischen Gottesbeweis macht Kant deutlich, dass der Gedanke von bzw. Glaube an Gott ein Resultat reflektierender Urteilskraft darstellen muss. Denn der Annahme eines Gottes als verständiger Weltursache könne nur subjektive Notwendigkeit zukommen. ‚Gott‘ stelle lediglich eine regulative Vernunftidee, eine Hypothese, ein Postulat, eine Maxime dar – keinen Gegenstand möglichen Erkennens, sondern nur des Glaubens. Deshalb soll die Welt nur so betrachtet werden, als ob sie von einem verständigen Schöpfer geschaffen worden wäre. Da der Idee von Gott keine objektive Realität zukommen kann, ist sie nicht als allgemeines Gesetz für die bestimmende Urteilskraft geeignet. Religiöser Glaube muss auf reflektierender Urteilskraft basieren. Sonst wird er zu Dogmatismus. (Vgl. KU 5:453 ff., 5:467 ff.) Auffällig oft beruft sich Kant im Kontext der Gottesbeweis-Thematik auf den Common Sense. Dabei zeigt sich, dass die Formen der reflektierenden Urteilskraft und die Gestalten des Common Sense synonym verwendet werden. Kant zerstört zunächst die traditionellen Gottesbeweise. Sie seien an ihrem Anspruch auf objektive Geltung gescheitert. – Auf den „gesunden Verstand“ hätten sie ohnehin nicht die geringste Wirkung. (Vgl. KU 5:475 f.) Einzig brauchbar von den althergebrachten Beweisen sei der physikotheologische, der Gott aus der Zweckmäßigkeit der Natur ableitet (vgl. KU 5:436). Auch diese „Physikotheologie“ sei unzulänglich. Da sie aber die „theoretisch-reflektierende Urteilskraft“ bzw. den „gemeinen Verstand“ befriedige, reiche sie für den ‚gemeinen Mann‘ aus (vgl. KU 5:456, 5:476).142 Als Alternative zu den ungenügenden Gottesbeweisen präsentiert Kant den ethikotheologischen Gottesbeweis. Dieser stellt die praktisch-reflektierende Urteilskraft zufrieden und auch der „gemeinste Verstand“ ist der Ansicht, „daß ohne den Menschen die ganze Schöpfung eine bloße Wüste, umsonst und ohne Endzweck sein würde“ (KU 5:442, vgl. KU 5:456). Das „gemeinste Urtheil der gesunden Menschenvernunft“ stimme zu, „daß der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne“ (KU 5:443, vgl. KU 5:448).143 Aufgrund der von Kant behaupteten allgemeinen Zustimmung zur Annahme der Existenz Gottes und der engen Verknüpfung dieser Idee mit der an Sozialität gebundenen Moralität lässt sich sinnvoll nach einem sensus communis teleologicus als Prinzip der religiös-reflektierenden Urteilskraft fragen. ‚Gott‘ ist für Kant nur denk- und nicht beweisbar, dennoch stellt 142 Der physikotheologische Gottesbeweis ist von Kant schon in Beweisgrund von 1763, in der Kritik der reinen Vernunft und in Vorlesungen kritisiert worden. Stets wurde auch die Angemessenheit für den Common Sense konstatiert. Vgl. 2:117, A:623/B:651, Metaphysik Pölitz/L1 28:316 f. 143 Nebenbei unterstreicht Kants Sprachgebrauch, dass die ‚gemeinste Menschenvernunft‘ für ihn eine ‚reflektierende Menschenvernunft‘ ist (vgl. KU 5:448 f.).
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diese Idee für ihn eine unentbehrliche Annahme dar. Vehement weist er jeden Zweifel an der Existenz Gottes zurück. Atheisten und selbst Pantheisten wie Spinoza wird inkonsequentes Denken bescheinigt (vgl. KU 5:451 f., 5:472). Angesichts dieser Überzeugung kann angenommen werden, dass Kant solchen religiös-reflektierten theoretischen Urteilen in Bezug auf die Existenz Gottes einen sensus communis religiosus als Prinzip ihrer Notwendigkeit zugrunde gelegt hätte, wenn dies sein Darstellungsziel gewesen wäre. Eine Harmonie von Verstand und Vernunft lässt sich nachvollziehen und dass diese subjektiven Urteile bei Kant einen Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben, ist offensichtlich. Wie der ästhetische Gemeinsinn rechtfertigt der religiöse als Variante des teleologischen Gemeinsinns – obwohl er eine objektive Zweckmäßigkeit ausdrückt – aber nur subjektive Notwendigkeit. Misst man den Anspruch auf Zustimmung von religiös-reflektierten Urteilen an der Erfahrung, offenbart sich erneut die Angreifbarkeit von Kants Begründung der subjektiven Notwendigkeit von Urteilen. Die Rechtfertigung dieser Form der Allgemeinheit bleibt problematisch. Die Erfahrung zeigt, dass Geschmäcke trotz der Berücksichtigung der möglichen Urteile aller anderen verschieden bleiben. Ähnlich verhält es sich in Religionssachen. Für Kant gelangt jeder, der sich von bloß privaten Einflüssen auf sein Urteil befreit, zwangsläufig zu der Ansicht, dass ein Gott existiert. Für einen von Privatbedingungen abstrahierenden Atheisten kann dies aber nicht behauptet werden. Für ihn muss der moralische Gottesbeweis wie eine unbegründete, überflüssige Verlängerung der Zweckkette wirken. Denn er bedarf keiner Idee eines Schöpfers, um sich und der Natur eine Zweckmäßigkeit zu unterstellen oder die Notwendigkeit einzusehen, das moralische Gesetz zu befolgen. Es ist nicht nötig, die hier ausgedrückte Allgemeinheit des sensus communis in Analogie zu den Urteilen über das Erhabene (vgl. Kapitel D. I. 3.) auf eine Gruppe, etwa die der Gläubigen, einzuschränken. Dies stünde auch im Gegensatz zu Kants Berufung auf jedermanns Beistimmung. Denn die Idee des Gemeinsinns, auf religiöse Glaubensurteile angewendet, würde lediglich bedeuten: Wer die Existenz Gottes annimmt, ist der Überzeugung, kein bloßes Privaturteil getroffen zu haben, sondern eines, zu dem die anderen in Unabhängigkeit von ihren Privatbedingungen zustimmen müssten. Ob sie dies auf der Basis eines allgemeinen Standpunktes auch tun würden, ist für Kants Anliegen in der Kritik der Urteilskraft – leider – nicht von Bedeutung. Ein sensus communis religiosus macht die für Kants Philosophie grundlegende Verknüpfung von Moral und Religion besonders deutlich. In der dritten Kritik wird Religion u. a. als moralischer Vernunftgebrauch in sub-
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
jektiver Absicht definiert und religiöser Glaube als moralische Denkungsart (vgl. KU 5:482, 5:460, 5:481; 5:471). Im ursozialen Charakter des Common Sense, der sich in der Idee des Gemeinsinns wie in der erweiterten Denkungsart niederschlägt, findet dieser enge Zusammenhang seinen Grund. Bedenkenswert und zugleich bedenklich ist die Analogie des religiösen Gemeinsinns zum empirischen Gemeinsinn. Wie beim ästhetischen Gemeinsinn ist es letztlich dieser, der auch den teleologischen oder hier religiösen Gemeinsinn als sein transzendentalphilosophisches Analogon legitimiert. Denn dass die Existenz von Gott eine Überzeugung des allgemein geteilten, gewöhnlichen Common Sense ist, steht auch an dieser Stelle im Hintergrund von Kants Betrachtungen (vgl. Kapitel C. I.). Problematischer ist jedoch, dass Kant diese angebliche Common-Sense-Überzeugung zur Rechtfertigung seines moralischen Gottesbeweises hinzuzieht. Er ruft damit Klarheit an einer Stelle aus, an der keine besteht. Als Wissenschaft muss auch die Theologie für Kant von allgemeinen Gesetzen ausgehen. Wie die Naturwissenschaften bedarf sie in erster Linie bestimmender Urteilskraft. (Vgl. KU 5:381 ff., 5:416 f.) Dennoch ist sie auch auf die reflektierende Urteilskraft angewiesen – als Propädeutik, Maßstab und Ergänzung. Die ‚physische Teleologie‘ bereitet zur Theologie vor (vgl. KU 5:440 ff., 5:485). Die moralische begründet sie und verhindert ihre Überschwänglichkeit (vgl. KU 5:444, 5:459). Schließlich stellt durch eigenständige Reflexion gewonnener Glaube für Kant einen unentbehrlichen Bezugspunkt der Theologie dar. Die Religion bzw. dieser religiöse Glaube ist das oberste Ziel der Theologie, dem alle anderen unterzuordnen sind (vgl. KU 5:482). (Näheres vgl. Kapitel C. I., E. II. 1.) * * * Die Kritik der Urteilskraft untersucht ein breites Spektrum reflektierender Urteilskraft. In unterschiedlichsten Anwendungsfeldern kommt Letzterer eine wesentliche Bedeutung im Zusammenhang der Vorbereitung, Orientierung und Ergänzung zu. Ästhetische und nicht bestimmende Urteilskraft bringt gelingende Urteile über das Schöne und das Erhabene hervor. Sie befördert das Lebensgefühl und stärkt die Erkenntniskräfte. Als Form der allen gemeinsamen subjektiven Urteilskraft bereitet sie zur Erkenntnis vor, regt zu ihr an, gibt ‚zu denken‘. Teleologische Urteilskraft ist nützlich im Alltag, leitend und ergänzend in Biologie und Theologie, notwendig für kulturelle Leistungen und sogar, um dem eigenen Leben einen eigenen Sinn zu geben. Mit dem Konzept der reflektierenden Urteilskraft gelingt Kant die Verknüpfung der Systeme ‚Natur‘ und ‚Freiheit‘, eine Verbindung zwischen
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Sein und Sollen. Mit ihr wird Kant auch dem Leben gerecht – nicht nur im biologischen, sondern ebenfalls im alltäglichen Sinne des Wortes. Denn im Alltagsbewusstsein bietet die Reflexion oft die einzige und überdies nicht selten sicherste Orientierung. Durch seine Charakterisierung der reflektierenden Urteilskraft macht Kant u. a. deutlich, inwiefern der in Analogie zu ihr stehende Common Sense trotz seiner nur subjektiven, empirischen, problematischen, regulativen, hypothetischen, vorläufigen Urteile eine unverzichtbare Ergänzung für objektive, apriorische, apodiktische, konstitutive, determinierende Urteile darstellt. Es wird aufgezeigt, dass gegenüber jeder Ableitung von allgemeinen Gesetzen erst die den Common Sense wesentlich kennzeichnende eigenständige, vom Konkreten aufsteigende Reflexion ein Verstehen ermöglicht, einen Sinn eröffnet. Das Verhältnis von reflektierender zu bestimmender Urteilskraft steht bei Kant in Analogie zum Verhältnis von Common Sense und Wissenschaft. Aufgrund der engen Verwandtschaft von reflektierender Urteilskraft und Common Sense stellen die von Kant herausgearbeiteten Hauptmerkmale der Ersten auch wesentliche Merkmale des Letzten dar. Reflektierende Urteilskraft und Common Sense dürfen aber – trotz ihrer oft synonymen Verwendung – nicht als identisch miteinander betrachtet werden: Die reflektierende Urteilskraft ist nur eine den Common Sense wesentlich charakterisierende Leistung. Beide Vermögen sind sich jedoch, auch wenn Kant es unterlässt, dies deutlich zu machen, frappierend ähnlich – so sehr, dass die Kritik der Urteilskraft, die eigentlich eine Kritik der reflektierenden Urteilskraft ist, heute auch Kritik des Common Sense heißen könnte. Dass der Common Sense in Form des Urteilsprinzips ‚Gemeinsinn‘ ebenfalls von zentraler Bedeutung in diesem Werk ist, kommt unterstützend hinzu. Den sensus communis aestheticus konstruiert Kant in der dritten Kritik als apriorische Bedingung von Geschmacksurteilen. Die ‚Idee des Gemeinsinns‘ lässt sich aber ihres Geschmackskontextes entkleiden, sodass ein apriorischer Gemeinsinn nicht nur gelingenden Urteilen über das Schöne, sondern z. B. auch über das Erhabene und das Zweckmäßige zugrunde gelegt werden kann. Mit den Reflexionsprinzipien ‚Allgemeinheit‘ (sensus communis) und ‚Zweckmäßigkeit‘ (reflektierende Urteilskraft) beschreibt Kant transzendentalphilosophische Substitute des normalen, empirischen Common Sense. Dass jenen zentralen Merkmalen des Common Sense (vgl. Kapitel A. I., B. I.) apriorische Funktionen zugewiesen werden, eröffnet diesem gewöhnlichen Vermögen außergewöhnliche Bedeutungsdimensionen und darf als – wenngleich z. T. gut verborgene – Wertschätzung dieses durchschnittlichen Vermögens verstanden werden.
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Auf Basis der anhand der dritten Kritik herausgearbeiteten Bedeutungsfelder des Common Sense soll nun ermittelt werden, welche korrespondierenden Elemente die ersten beiden Kritiken enthalten und welchen Aufschluss sie liefern.
II. Die Kritik der praktischen Vernunft Nachfolgend ist die Rolle des Common Sense für Kants kritische Moralphilosophie zu beleuchten. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die erstmalig 1788 erschienene Kritik der praktischen Vernunft. Ergänzend werden u. a. die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), die Metaphysik der Sitten (1797) und die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) hinzugezogen. Die Aufgabe gliedert sich in drei Teile. Zunächst soll der Bedeutung nachgegangen werden, die Kant dem mitunter ‚gemeine praktische Menschenvernunft‘ genannten empirischen Common Sense in seiner kritischen Moralphilosophie zukommen lässt. Zusätzlich wird geprüft, ob auch in diesem Bereich von Kants Transzendentalphilosophie eine reflektierende Urteilskraft und ein apriorischer Gemeinsinn wirksam sind. Aufgrund der aus der dritten Kritik bekannten Analogie zum empirischen Common Sense wäre der Nachweis einer praktisch-reflektierenden Urteilskraft und eines moralischen Gemeinsinns überaus aufschlussreich. In der Kritik der praktischen Vernunft gelangt Kant zu einem systematischen Abschluss der in der Kritik der reinen Vernunft und der Grundlegung begonnenen Fundierung der Moralität. Die zweite Kritik versucht nachzuweisen, dass reine Vernunft den Willen zu bestimmen vermag und dass sittliches Verhalten als ein durch reine Vernunft gesetzlich bestimmtes Handeln praktisch notwendig ist. Untersucht werden die apriorischen Bedingungen menschlichen Handelns bzw. die Prinzipien der Möglichkeit, der Umfang und die Grenzen reiner praktischer Vernunft. (Vgl. KpV 5:3 ff.) 1. Gemeine praktische Menschenvernunft Nirgendwo sonst erfährt der Common Sense in Kants Gesamtwerk eine so ausdrückliche Wertschätzung wie in seiner kritischen Moralphilosophie. Vielfach und keineswegs versteckt wird auf die Sicherheit dieses gemeinen Vermögens bei der moralischen Beurteilung hingewiesen. In der zweiten Kritik stellt sich der „gemeinen Menschenvernunft“ der Unterschied zwischen moralischen und unmoralischen Handlungen so deutlich dar wie der „zwischen der rechten und linken Hand“ (KpV 5:155). Das moralische Gesetz ist in jedermanns Vernunft und der „gemeinste und ungeübteste Ver-
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stand“ vermag auch problemlos, ihm gemäß zu urteilen (vgl. KpV 5:36, 5:105). Bereits in der Grundlegungsschrift hat die gemeine Menschenvernunft das Prinzip des moralischen Gesetzes „jederzeit vor Augen“ (vgl. GMS 4:402). Der „gemeine Verstand“ ist hier in Fragen der Moral unübertroffen (vgl. GMS 4:404; KpV 5:155). (Vgl. auch KpV 5:27, 5:35 ff., 5:69 f., 5:87, 5:91 f.; GMS 4:391, 4:397, 4:403 ff., 4:411; ApH 7:295; Spruch 8:286 f.; Logik 9:79; Logik Pölitz 24:551; Metaphysik Arnoldt/K3 29:1023.) Aufgrund dieser Hochschätzung lässt Kant dem empirischen Common Sense bedeutende Funktionen in seiner Moralphilosophie zukommen. Die Kritik der praktischen Vernunft ist in Elementar- (Analytik, Dialektik) und Methodenlehre aufgeteilt. In der Analytik der reinen praktischen Vernunft wird anhand des moralischen Gesetzes, das für den Menschen die Form des kategorischen Imperativs hat, gezeigt, dass reine praktische Vernunft Bestimmungsgrund des Willens ist (vgl. KpV 5:15 f., 5:30 ff.). Das moralische Gesetz wird dabei nicht bewiesen, sondern lediglich im Rückgriff auf den empirischen Common Sense demonstriert. Kant präsentiert es im Rahmen einer „Exposition“, nicht als Ergebnis einer Deduktion (vgl. KpV 5:46). Der Common Sense fungiert dabei als Bürge für die Existenz des moralischen Gesetzes als eines Prinzips, das in jeder Vernunft enthalten ist und jedermann jederzeit gebietet. Er ist außerdem Garant dafür, dass jedermann dem moralischen Gesetz entsprechend urteilen kann: „Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der gemeinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden.“ (KpV 5:27).
Verschweigt z. B. jemand, dass ein nun Verstorbener etwas bei ihm hinterlegt hat und behält dieses, so mag dies zwar der Maxime entsprechen, sein Vermögen zu vergrößern. Dass solch ein Verhalten aber nicht moralisch sein kann, bemerkt selbst der Common Sense. Denn das Prinzip, „daß jedermann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Niederlegung ihm niemand beweisen kann“, ist zu keinem allgemeinen Gesetz tauglich. Ein solches würde sich selbst aufheben, denn niemand würde noch etwas hinterlegen. (Vgl. KpV 5:27.) Der Common Sense bleibt in Form gemeinen sittlichen Erkennens die gesamte Analytik hindurch zentrale Berufungsinstanz. Kant stellt heraus, dass dieses Vermögen mit Leichtigkeit den Unterschied zwischen „Selbstliebe“ (Klugheit) und Sittlichkeit erkennt, dass in ihm die Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit präsent ist, dass es das moralische Gesetz als ein „Factum der reinen Vernunft“ bezeugt usw. (vgl. KpV 5:36, 5:69 f., 5:87). Entsprechend ist am Ende der Analytik zu resümieren: „Aber daß reine Vernunft ohne Beimischung irgend eines empirischen Bestimmungsgrundes für sich allein auch praktisch sei: das mußte man aus dem ge-
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meinsten praktischen Vernunftgebrauche darthun können, indem man den obersten praktischen Grundsatz als einen solchen, den jede natürliche Menschenvernunft als völlig a priori, von keinen sinnlichen Datis abhängend, für das oberste Gesetz seines Willens erkennt, beglaubigte. Man mußte ihn zuerst der Reinigkeit seines Ursprungs nach selbst im Urtheile dieser gemeinen Vernunft bewähren und rechtfertigen, ehe ihn noch die Wissenschaft in die Hände nehmen konnte, um Gebrauch von ihm zu machen, gleichsam als ein Factum, das vor allem Vernünfteln über seine Möglichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehen sein möchten, vorhergeht.“ (KpV 5:91).
Kant nimmt seine Analyse der reinen praktischen Vernunft also an der gemeinen praktischen Vernunft vor. Der Common Sense dient ihm zur ‚Beglaubigung‘, ‚Bewährung‘, ‚Rechtfertigung‘ ihres Grundsatzes. Er ist Ausgangsund Bezugspunkt der Untersuchung. Die „bloße Berufung auf das Urtheil des gemeinen Menschenverstandes“ sei deshalb vollkommen ausreichend zur Demonstration des moralischen Gesetzes gewesen, heißt es weiter, weil selbst dieser Verstand sofort bemerke, ob sein Wille rational oder empirisch – etwa durch Neigung – bestimmt werde. Die Rechtfertigung des moralischen Gesetzes habe andererseits auch notwendig an diesem gemeinen Vermögen aller stattfinden müssen, weil dieser Grundsatz nicht Ergebnis der Wissenschaft sein dürfe, sondern ihr Ausgangspunkt sein müsse. (Vgl. KpV 5:91 f.) Die Funktion des Common Sense als Basis und Bürge zeigt sich auch in der Grundlegung. Sie wird hier sogar noch deutlicher. Obwohl die Kritik der praktischen Vernunft ein eigenständiges Werk darstellt, baut sie in einigen Punkten auf der Grundlegung auf (vgl. KpV 5:8). Das moralische Gesetz ist ein solcher Punkt. In der zweiten Kritik wird es behauptet und durch den Common Sense beglaubigt. In der Grundlegung wird es zunächst einmal aufgesucht und dann festgesetzt. Zur Realisierung dieser beiden zentralen Aufgaben der Schrift trägt der Common Sense entscheidend bei. Bereits die Struktur der Grundlegungsschrift lässt auf eine tragende Rolle des Common Sense schließen. Kant hält es für das Beste, „wenn man vom gemeinen Erkenntnisse zur Bestimmung des obersten Princips desselben analytisch und wiederum zurück von der Prüfung dieses Princips und den Quellen desselben zur gemeinen Erkenntniß, darin sein Gebrauch angetroffen wird, synthetisch den Weg nehmen will.“ (GMS 4:392).
Entsprechend widmen sich die ersten beiden Teile der Schrift, Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß zur philosophischen und Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten, der erörternden Aufsuchung des moralischen Gesetzes. Der dritte Teil, Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft, dient seiner rechtfertigenden Festsetzung. (Vgl. GMS 4:392.) Im ersten Abschnitt entwickelt Kant seine Begriffe von ‚Pflicht‘ und ‚Wille‘. Über sie gelangt er zu einer ersten Formulierung des moralischen
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Gesetzes als Prinzip des Willens. Beschaffenheit und Fähigkeit des Common Sense dienen Kant dabei zur Orientierung. Er beruft sich auch zur Bestätigung seiner Thesen ausdrücklich auf dieses gemeine Vermögen: Sogar der „gemeinen Vernunft“ sei der absolute Wert des bloßen Willens offensichtlich (vgl. GMS 4:394). Selbst dem „natürlichen gesunden Verstande“ wohne der schlechthin gute Wille inne (vgl. GMS 4:397). Die „gemeine Menschenvernunft“ gebe ihre Zustimmung auch dazu, dass es das in ihr stets enthaltene moralische Gesetz sein müsse, welches den Willen bestimme (vgl. GMS 4:402). Wie am Schluss der Analytik der zweiten Kritik kann Kant gegen Ende des ersten Teils der Grundlegung zusammenfassen: „So sind wir denn in der moralischen Erkenntniß der gemeinen Menschenvernunft bis zu ihrem Princip gelangt“ (GMS 4:403). Dieses Prinzip, das moralische Gesetz, kann nun im zweiten Teil der Schrift seine Grundform erhalten: „Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (GMS 4:421).
Im dritten Teil der Grundlegung bestätigt der Common Sense auch die Rechtmäßigkeit des moralischen Gesetzes. Kant unternimmt den Versuch einer Deduktion dieses Gesetzes – eine Form der Rechtfertigung, deren Möglichkeit er in der Kritik der praktischen Vernunft bestreitet (vgl. KpV 5:46 ff.). Am Ende kann er jedoch nur auf den Common Sense verweisen: „Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduction.“ (GMS 4:454). Aus der Existenz des moralischen Gesetzes folgt für Kant die Notwendigkeit der Freiheit des Willens. Diese „wegzuvernünfteln“ sei der „gemeinsten Menschenvernunft“ so wenig möglich wie subtilster Philosophie. Der Common Sense habe gar einen „Rechtsanspruch“ auf sie. (Vgl. GMS 4:456 f.) Angesichts der hohen Anerkennung, die er dem Common Sense im Moralischen zukommen lässt, stellt sich Kant die Frage, worin dann noch der Sinn von Moralphilosophie bestehen soll. In der zweiten Kritik heißt es: „Wenn man aber frägt, was denn eigentlich die reine Sittlichkeit ist, an der als dem Probemetall man jeder Handlung moralischen Gehalt prüfen müsse, so muß ich gestehen, daß nur Philosophen die Entscheidung dieser Frage zweifelhaft machen können; denn in der gemeinen Menschenvernunft ist sie, zwar nicht durch abgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch den gewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unterschied zwischen der rechten und linken Hand, längst entschieden.“ (KpV 5:155).
Dieser Standpunkt wird bereits in der Grundlegung vertreten. Der „gemeine Verstand“ ist in Fragen der Moral auch dort „beinahe noch sicherer“ als die Philosophie. Obwohl der Philosoph über dasselbe moralische Urteilsprinzip wie der Common Sense verfügt, neigt er dazu, sich in vielen sach-
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fremden Überlegungen zu verirren. Daher bedarf es für Kant „keiner Wissenschaft und Philosophie“, „um zu wissen, was man zu thun habe, um ehrlich und gut, ja sogar um weise und tugendhaft zu sein“ (GMS 4:404). Vor diesem Hintergrund fragt er, ob man es in diesem Kontext nicht beim Common Sense belassen könne und die Aufgaben der Moralphilosophie auf eine systematische, vollständige und verständliche Darstellung der Sitten einschränken solle, damit ihre Theorien die Urteilssicherheit des Common Sense nicht gefährden (vgl. GMS 4:404). Die Antwort fällt negativ aus. Die „Unschuld“ des Common Sense sei eine „herrliche Sache“. Sie lasse sich aber leicht verführen und daher schwer bewahren. Der Mensch lebt für Kant im Spannungsverhältnis zwischen moralischer Verpflichtung und seinem Widerwillen, sich den strengen Vorschriften dieser ‚Pflicht‘ zu unterwerfen. Aus dieser Situation resultiert „eine natürliche Dialektik d.i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d.i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen kann.“ (GMS 4:405).
Der Mensch tendiert dazu, die Gültigkeit der sittlichen Gebote zugunsten seines Privatwohls, seiner ‚Glückseligkeit‘, zu relativieren. Er erfindet z. B. Ausnahmen zum moralischen Gesetz und überredet sich und andere von ihrer Rechtmäßigkeit. Das Rationalisieren solcher moralischen Verfehlungen ist für Kant verheerender als das Fehlverhalten selbst. Es kommt einem Selbstbetrug und der Aufhebung des moralischen Gesetzes gleich. Wegen dieses Hangs wird laut Kant die „gemeine Menschenvernunft“ „aus praktischen Gründen angetrieben, aus ihrem Kreise zu gehen und einen Schritt ins Feld einer praktischen Philosophie zu thun, um daselbst wegen der Quelle ihres Princips und richtigen Bestimmung desselben in Gegenhaltung mit den Maximen, die sich auf Bedürfniß und Neigung fußen, Erkundigung und deutliche Anweisung zu bekommen, damit sie aus der Verlegenheit wegen beiderseitiger Ansprüche herauskomme und nicht Gefahr laufe, durch die Zweideutigkeit, in die sie leicht geräth, um alle ächte sittliche Grundsätze gebracht zu werden.“ (GMS 4:405).
Aufgrund ihrer Neigung, das moralische Gesetz zur Rechtfertigung niederer Bedürfnisse umzudeuten, sucht die gemeine praktische Vernunft bei der Philosophie Hilfe. Der Common Sense hat das Bedürfnis nach einer Wissenschaft von der Moral, „nicht um von ihr zu lernen, sondern ihrer Vorschrift Eingang und Dauerhaftigkeit zu verschaffen“ (GMS 4:405). Die Moralphilosophie soll die „gemeine Menschenvernunft“ in Bezug auf ihr eigenes Prinzip und dessen Realisierung festigen. Sie soll diese mit dem Gesetz bekannt machen, das ihr aus der praktischen Anwendung vertraut ist. Auf
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diesem Weg gelangt die gemeine praktische Vernunft in den Besitz eines Hilfsmittels, das sie davor bewahren kann, empirisch bedingte praktische Vernunft zu werden.144 Moralphilosophie darf sich angesichts dieser Aufgabe aber nicht dem Niveau des Common Sense anbiedern. Eine popularisierende Herablassung zu „Volksbegriffen“ ist nur zu vertreten, wenn sie auf eine gründliche Prinzipienklärung folgt und den Ergebnissen dieser Tätigkeit nicht widerspricht. (Vgl. GMS 4:405, 4:408 ff.; MSR 6:206.)145 Der Common Sense fungiert in Kants Moralphilosophie nicht nur als Ausgangspunkt und Beglaubigungsinstanz, sondern indirekt auch als ihr Zielpunkt. Wissenschaft – und insbesondere gründliche Moralphilosophie – soll Lehrern nicht zuletzt eine „Richtschnur“ liefern, mithilfe der sie zur moralischen Bildung des Common Sense ihrer Schüler beitragen können. Auf diese Weise soll Wissenschaft den Weg zur Weisheit bahnen. (Vgl. KpV 5:163, GMS 4:405.) Die Skizze eines solchen Erziehungsleitfadens entwirft Kant in der Methodenlehre der zweiten Kritik.146 Sie setzt sich mit der Frage auseinander, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemüth, Einfluß auf die Maximen desselben verschaffen, d.i. die objectiv praktische Vernunft auch subjectiv praktisch machen könne.“ (KpV 5:151).
Obwohl das moralische Grundgesetz für Kant auch in der gemeinen Vernunft a priori enthalten ist und bereits Kinder unmoralische Motive erkennen (vgl. GMS 4:411, RGV 6:48), bedarf es zur Entwicklung eines moralisch urteilenden Common Sense zunächst einiger Vorbereitungen. Anregung zu und Übung in moralischem Urteilen bringen auf den richtigen Weg. Das schärft die Urteilskraft und weckt allmählich ein Interesse an sittlich guten Handlungen. Dabei kommt Beispielen eine große Bedeutung zu. Lebendige, anschauliche Beispiele von moralischen Vorbildern sind hervor144 Die ‚empirisch bedingte praktische Vernunft‘ (vgl. z. B. KpV 5:15 f., 5:36 f.) darf nicht mit der ‚gemeinen praktischen (Menschen)Vernunft‘ verwechselt werden. Nur Letztere ist gleichbedeutend mit dem Common Sense. Zwar hat auch sie empirischen Charakter, aber wenn sie dem moralischen Gesetz entsprechend urteilt, lässt sie sich nicht von empirischen Einflüssen bestimmen bzw. ‚bedingen‘. Erst wenn sie diesen nachgibt, statt sich an das moralische Gesetz zu halten, ist auch sie empirisch bedingte Vernunft. 145 Vgl. Kersting, Wolfgang: Kann die Kritik der praktischen Vernunft populär sein? Über Kants Moralphilosophie und pragmatische Anthropologie, in: Studia Leibnitiana 15.1983, S. 82 ff. 146 Von Otfried Höffe wurde vollkommen zutreffend angemerkt, dass heutiger Ethikunterricht in der Schule viel von Kants Theorie moralischer Erziehung lernen könnte (vgl. ders.: Einführung in die Kritik der praktischen Vernunft, in: ders. (Hg.): Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, S. 2, 19). Lernen könnten von ihr aber auch deutsche Schul- bzw. Bildungsministerien, z. B. indem sie überhaupt erst einmal ‚Ethik‘ als ein eigenständiges Schulfach zulassen.
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ragend geeignet, die Moralität der Zöglinge zu befördern – der Schüler wird seiner Entscheidungsfreiheit bewusst.147 Zu einer solchen Bildung der gemeinen Vernunft muss Moralphilosophie die Grundlagen bereiten. Sie ist nutzlos, wenn sie nichts zur Erziehung zum moralischen Menschen beitragen kann. (Vgl. KpV 5:154 ff.) Der Forderung, Moralphilosophie solle mittelbar auch auf die moralische Bildung des Common Sense hinwirken, wird u. a. die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten gerecht. In ihr untersucht Kant die metaphysischen Anfangsgründe moralischer Verpflichtung. Formuliert werden Pflichten, die sich zu keiner äußeren (rechtlichen) Gesetzgebung eignen, sondern einem inneren Zwang entspringen, z. B. nicht zu geizen oder sich nicht von anderen zu isolieren. Ihre Befolgung kennzeichnet Tugend – für Kant eine Art tapfere Gesinnung bzw. moralische Willensstärke (vgl. MST 6:380, 6:394, 6:405). Die Tugendlehre leistet eine Konkretisierung der allgemeinen moralischen Prinzipien. Kant stellt diese in alltägliche Zusammenhänge und thematisiert in „casuistischen Fragen“ Probleme, die dabei entstehen können. Den in zweiter Kritik und Grundlegung erarbeiteten Prinzipien werden Anwendungsbereiche und Beispiele zugewiesen. So erfährt Kants Moralphilosophie eine dezente und seriöse Popularisierung, die deren Gesetze für die von Lehrern geleitete Herausbildung und Übung eines moralisch urteilenden Common Sense tauglich macht.148 In der Methodenlehre der Tugendlehre wird das Bemühen um Ausbildung, Festigung und Anwendung des moralischen Urteilsvermögens besonders deutlich. Sie knüpft an die Methodenlehre der Kritik der praktischen Vernunft an. Bevor der Lehrer mit dem Schüler in einen sokratischen Dialog treten kann, in welchem der Lehrling die in seiner Vernunft bereits enthaltenen moralischen Prinzipien selbst anwendet, muss zunächst einmal Tugend gelehrt bzw. erworben werden. Zu diesem Zweck entwirft Kant einen ‚moralischen Katechismus‘. Diese „Grundlehre der Tugendpflichten“, die ausdrücklich aus gemeiner Menschenvernunft heraus entwickelt werden 147 Für Kant darf es mit den Beispielen auf zweierlei Art nicht übertrieben werden. Zum einen sind ‚überverdienstliche‘ Darstellungen aus schwärmerischen Romanen zur moralischen Bildung ungeeignet. Sie verleiten zu einer Nachahmung aus Enthusiasmus bzw. Vorliebe, nicht aus Pflicht. Geeignet ist dagegen Authentisches aus Biografien. Zum anderen darf Moralphilosophie nie wie in den popularphilosophischen Ethiken auf Beispielen gründen. (Vgl. KpV 5:153 ff., GMS 4:408 ff., MST 6:479 ff.) 148 Wie in den vorkritischen Moralvorlesungen zeichnet sich auch in den späteren eine Einteilung in Allgemeine praktische Philosophie und Ethik ab. Aus dem ersten Teil geht die Kritik der praktischen Vernunft hervor, der zweite entspricht der Tugendlehre. Bereits in dieser Gliederung zeigt sich das Bemühen, der Begründung moralischer Prinzipien Überlegungen zu ihrer Konkretisierung bzw. Anwendung an die Seite zu stellen. Vgl. Kapitel C. II. 3.; AA-Band 27; Irrlitz, S. 313 f., 498 ff.
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kann, soll den „noch rohen Zögling“ allererst in die Lage versetzen, tugendhaft zu sein. Der Lehrer stellt dem Schüler Fragen in Bezug auf das Tugendhafte, die er auch selbst beantwortet, wenn der Schüler dies nicht vermag. Auf diese Weise findet eine mit Beispielen veranschaulichte Belehrung über moralische Pflicht statt. Zusätzlich kann der Eleve die Möglichkeit erhalten, seine Urteilskraft an schwierigen Sonderfällen zu üben und zu stärken. „Richtmaß“ des Lehrers bei der Erziehung soll jederzeit das moralische Gesetz bzw. der Vergleich mit der ‚Idee der Menschheit‘ sein. Zu liefern hat solche Prinzipien die Philosophie, denn sie allein kann die Sicherheit und Rechtmäßigkeit erster Gründe feststellen. (Vgl. MST 6:477 ff., 6:376.) Auch mit seiner Anthropologie zeigt Kant, wie Wissenschaft zur moralischen Bildung des Common Sense beitragen kann. Selbst kein Teil der Moralphilosophie obliegt ihr die eigentliche Anwendung von Moral – ihre Realisierung im konkreten Umgang mit Menschen (vgl. GMS 4:412, 4:389; MSR 6:217). Die dank Kant zu einer Wissenschaftsdisziplin aufgestiegene pragmatische Anthropologie verfolgt das Ziel, empirische Menschenkenntnis zu vermitteln. Systematisch und zugleich populär stellt sie dar, was der Mensch „aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (ApH 7:119). Das gesammelte Wissen vom Menschen soll dazu dienen, erworbene Kenntnisse in der Welt unter Menschen anzuwenden. Deshalb soll diese Anthropologie auf jede schulische Unterweisung folgen. (Vgl. ApH 7:119 ff.) Wie in seinen vorkritischen Überlegungen betont Kant in seiner kritischen Moralphilosophie die Unentbehrlichkeit ihrer Ergänzung durch eine solche Anthropologie (vgl. Kapitel C. II. 3., C. II. 5.). Sie enthält die subjektiven Bedingungen für die Ausführung des moralischen Gesetzes sowie das, was in der Erziehung zur „Erzeugung, Ausbreitung und Stärkung moralischer Grundsätze“ nötig ist (vgl. MSR 6:217). Insofern sie Auskunft darüber gibt, ob der Mensch auch kann, was er soll, gewährleistet sie den Übergang von der Bestimmung der Pflicht zur Einteilung der Pflichten, von Grundlegung und zweiter Kritik zu Tugendlehre (vgl. KpV 5:8). Moralphilosophie und pragmatische Anthropologie dürfen aber nicht miteinander vermengt werden. Die Erste geht vom Reinen der Vernunft aus und dient der Begründung, die Zweite schöpft aus dem Empirischen und dient der Anwendung (vgl. GMS 4:389, MST 6:406). Pragmatische Anthropologie unterstützt als wissenschaftliche Disziplin die moralische Bildung des Common Sense. Ihre Ergebnisse sind geeignet, Lehrern – wie gefordert – als Hilfsmittel zur moralischen Erziehung zu dienen. Die Kenntnisse, die sie vermittelt, erweitern nicht nur den Erfahrungshorizont, sie schärfen auch die Urteilskraft hinsichtlich der Moral. Der Schüler erfährt aus ihr u. a., was moralischen Egoismus von Pluralismus un-
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terscheidet, warum auch eine im Alltag nur vorgegaukelte, ‚geschauspielerte‘ Tugend zu wahrer Tugend beiträgt, wie der Geschmack die Moral befördert, dass Leidenschaften natürliche Feinde praktischer Vernunft sind, dass zur Bildung eines Charakters Common Sense ausreicht oder dass der Mensch dazu bestimmt ist, sich zu moralisieren (vgl. ApH 7:130; 7:151 ff.; 7:244; 7:265 ff.; 7:295; 7:324). Die moralische Bildung des Common Sense stellt für Kant auch eines der höchsten Ziele der Pädagogik dar, die für ihn Wissenschaft werden muss (vgl. Päd 9:447). In Über Pädagogik heißt es, moralische Bildung könne nur auf dem Fundament von „gemeinem Menschenverstande“ erfolgen (vgl. Päd 9:455). Da sie Grundsätze enthalte, die Einsicht bzw. diszipliniertes Selbstdenken erfordern, werde sie erst als letzte Stufe praktischer Pädagogik erreicht. Besonders dienlich sei ihr die Gründung eines Charakters, auf welche dessen Ausbildung zu einem guten Charakter folgen müsse (vgl. Päd 9:481 ff.; Refl. 1162, 15:514; ApH 7:291 ff.). Auch auf den Nutzen beispielhaft-anschaulicher Tugendpflichten und eines Katechismus populärer Fälle aus dem gewöhnlichen Leben wird erneut hingewiesen (vgl. Päd 9:488 ff.). Moralisch sicher urteilender Common Sense und Wissenschaft, insbesondere Moralphilosophie, schließen sich bei Kant also nicht aus. Beschrieben wird ein Verhältnis gegenseitigen Angewiesenseins. Der Common Sense bedarf trotz seiner beachtlichen Kompetenz in moralischen Fragen der Wissenschaft – zur Schärfung und Festigung seiner Urteilskraft sowie zur Vergewisserung seines eigenen Prinzips. Moralphilosophie kann ihm für Krisensituationen ein „Probemetall“, einen „Prüfstein“ an die Hand geben. Andererseits bedarf Moralphilosophie auch des Common Sense. Er dient ihr zur Orientierung – als Basis, Bürge und Ziel. Für Kant kommt der Common Sense hinsichtlich der Moral zur Not aber auch ohne Philosophie aus, die Philosophie jedoch nicht ohne den Common Sense. 2. Praktisch-reflektierende Urteilskraft Der Common Sense ist für Kant in moralischen Fragen von beeindruckender Zuverlässigkeit. Das moralische Gesetz ist in ihm stets präsent – er kennt seine Bedeutung und vermag es anzuwenden. Was Kant nicht explizit formuliert, seine Moralphilosophie aber impliziert, ist, dass ohne Common Sense kein moralisches Urteilen möglich ist. Es wäre müßig, der Frage nachzugehen, warum Kant diesen Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnt. Plausibel gemacht werden könnte z. B., dass er für ihn selbstverständlich gewesen sein muss und/oder nicht zu seinen Darstellungszielen gehört hat.
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Offensichtlich kann der Common Sense aber weder als Wissen noch als empirisches Herumfragen eine entscheidende Größe im moralischen Urteil darstellen. Im vorangegangenen Kapitel ist zwar auf den Nutzen von katechetisch vermitteltem Wissen um Sitten und Tugenden für die Ausbildung der immer bereits vorhandenen Anlage zum Moralischen, der „Keime zum Guten“ (Päd 9:448), hingewiesen worden. In ähnlichem Sinne kann das tatsächliche Einholen anderer Meinungen in moralischen Fragen hilfreich sein – zur Anregung und Orientierung. Ein Urteil aber, das solchen externen Beweggründen zufolge getroffen wird, kann nicht moralisch sein, sondern bestenfalls legal. Unentbehrlich ist der Common Sense bei moralischem Urteilen als Urteilskraft (vgl. GMS 4:389, 4:404, 4:407, 4:450 f.; KpV 5:67, 5:154, 5:160; MST 6:411, 6:433). In Kapitel D. I. 2. wurde auf die Analogie von Common Sense und reflektierender Urteilskraft hingewiesen. Die Urteilskraft des Common Sense ist für Kant zwar zu bestimmender Tätigkeit fähig, charakteristisch für sie sind aber ihre reflektierenden Leistungen. Es soll nun versucht werden, die Unverzichtbarkeit des Common Sense für moralische Urteile anhand der Notwendigkeit reflektierender Urteilskraft in diesem Kontext aufzuzeigen. Die moralisch-praktische Urteilskraft, auf die Kant in seiner kritischen Moralphilosophie nur sehr sparsam eingeht, wird zur Verdeutlichung auch als bestimmende Urteilskraft betrachtet. Kant unterscheidet bestimmende und reflektierende Urteilskraft erst in der Kritik der Urteilskraft. Aus der dritten Kritik geht auch hervor, dass er die Urteilskraft der Kritik der praktischen Vernunft in erster Linie als praktisch-bestimmendes Verfahren verstanden hat. (Vgl. KU 5:179 ff., 5:267; EE 20:211 ff.; Kapitel D. I. 2.) Tatsächlich muss die „reine praktische Urtheilskraft“, deren Leistung Kant in der Typik der zweiten Kritik untersucht, im Nachhinein als bestimmende bzw. moralisch-bestimmende Urteilskraft betrachtet werden. Denn sie bewerkstelligt die apriorische Bestimmung des Willens durch reine Vernunft. In diesem Prozess stellt das moralische Gesetz das gegebene objektive Allgemeine dar, von dem aus die Eignung der Maxime, der subjektiven Regel, abgeleitet wird. Reine praktische Urteilskraft kann, da das SittlichGute für Kant „etwas dem Objekte nach Übersinnliches“ ist, nicht auf sinnliche Anschauungen rekurrieren. Um das moralische Gesetz auf Handlungen in der Sinneswelt anzuwenden, bezieht sich die Vernunft auf den Verstand. Dieser bildet einen Typus des moralischen Gesetzes, welcher die Vernunftidee dieses Gesetzes mit dessen möglichen Anwendungen auf Gegenstände der Natur vermittelt. (Vgl. KpV 5:67 ff.) Kant spricht im Typik-Kapitel aber auch von einer „praktischen Urtheilskraft“, einer moralisch-praktischen Urteilskraft im Allgemeinen. Sie ent-
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scheidet z. B., ob eine im Bereich des Sinnlichen mögliche Handlung Fall einer allgemeinen Regel ist oder nicht. Durch sie wird das, „was in der Regel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt“ (KpV 5:67). Diese Kennzeichnung deutet darauf hin, dass moralische Urteile bei Kant neben moralisch-bestimmender auch praktisch-reflektierender Urteilskraft bedürfen. – Das kann an drei wesentlichen Phasen moralischen Urteilens deutlich gemacht werden. Die These lautet: Praktisch-reflektierende Urteilskraft ist nötig zur Maximenbildung, -prüfung und -befolgung.149 Maximen sind bei moralischen Urteilen grundsätzlich von großer Relevanz. Ohne sie wäre das moralische Gesetz gegenstandslos. Wegen ihrer konstitutiven Bedeutung für Kants Moralphilosophie wird Letztere auch zutreffend eine Maximenethik genannt. Selbst der kategorische Imperativ lässt sich erst so richtig verstehen, wenn die besondere Rolle der den Willen verkörpernden Maxime als Grundvoraussetzung moralischen Urteilens erfasst wird.150 Unter Maximen versteht Kant subjektive Grundsätze, persönliche Vorsätze, selbst auferlegte Handlungsregeln, Prinzipien des Wollens (vgl. KpV 5:19 f.; GMS 4:400, 4:420 f., 4:436 f.; MSR 6:225; KrV A:812/B:840). Sie sind stets subjektiv, individuell, empirisch. Maximen sind Verhaltensregeln, die aus dem Einzelnen, dem Besonderen, der konkreten Erfahrung oder Situation heraus durch einen Akt der Verallgemeinerung selbst aufgestellt werden. Daher stellen sie Leistungen der reflektierenden Urteilskraft dar. Zur Maximenbildung bedarf es einer praktisch-reflektierenden Urteilskraft, die auch für den Common Sense charakteristisch ist. Auf den engen Zusammenhang zwischen Common Sense und Maximen macht Kant an einigen Stellen seines Gesamtwerkes selbst aufmerksam. Mehrfach thematisiert er die drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes (vgl. z. B. KU 5:294 f.; ApH 7:200, 7:228 f.; Refl. 2273, 16:295) oder die „Maxime der 149 Im moralteleologischen Kontext der dritten Kritik weist Kant selbst auf die Existenz von praktisch-bestimmender und -reflektierender Urteilskraft hin (vgl. KU 5:455 ff.). Momente reflektierender bzw. erfahrungsgeschärfter Urteilskraft in Kants kritischer Moralphilosophie wurden u. a. eingeräumt von: Kaulbach, Friedrich: Einführung in die Philosophie des Handelns, Darmstadt 1982, S. 158 ff.; Pleines, Jürgen-Eckardt: Praxis und Vernunft. Zum Begriff praktischer Urteilskraft, Würzburg 1983, S. 13 ff., 89 ff.; Höffe, Otfried: Universalistische Ethik und Urteilskraft: ein aristotelischer Blick auf Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44/4.1990, S. 537 ff.; Recki: Affinität, S. 247 ff.; Früchtl, S. 460 ff. Für Annemarie Pieper ist die praktische Urteilskraft weder reflektierende noch bestimmende Urteilskraft, sondern zwischen beiden anzusiedeln (vgl. dies.: Zweites Hauptstück (57–71), in: Höffe: Kritik der praktischen Vernunft, S. 124 ff.). 150 Vgl. Gerhardt: Kant, S. 210 ff.; Höffe, Otfried: Immanuel Kant, München 4 1996, S. 186 ff.; Früchtl, S. 460 ff.
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gesunden Vernunft“, stets den größtmöglichen Vernunftgebrauch zuzulassen (vgl. z. B. Refl. 445, 15:184; Anthropologie Friedländer 25:548 f.; Menschenkunde 25:1049 ff.; Metaphysik Pölitz/L1 28:300). In einer Nachlassreflexion heißt es kurz und treffend: „Gesunde Vernunft lehrt die maximen zu urtheilen“ (Refl. 444, 15:183). Eine dem erfahrungsklugen Common Sense analoge praktisch-reflektierende Urteilskraft ist zur Bildung von Maximen jeder Art notwendig. Im hier interessierenden moralischen Kontext ist sie in mehrfacher Hinsicht unentbehrlich. Zunächst entscheidet sie, ob eine Situation oder ein Sachverhalt überhaupt moralisch von Belang ist, also eine Maxime der Sittlichkeit und keine der Klugheit oder Geschicklichkeit erfordert. Verliert ein Konkurrent in einem Schwimmwettbewerb den Anschluss, ist es nicht ratsam, ihn wieder hilfreich herankommen zu lassen. Man sollte den Abstand noch vergrößern. Droht der Zurückgebliebene aber zu ertrinken, wird die Situation moralisch relevant. Selbst wenn wie hier eine moralische Beurteilung geboten ist, kann wiederum nur praktisch-reflektierende Urteilskraft den angemessenen Inhalt der geforderten moralischen Maxime ermitteln. Sie veranlasst im angeführten Beispiel etwa die Bildung der Maxime, Hilfe zu leisten, und nicht die des Vorsatzes, ehrlich zu sein. Auch wo eine Maxime bereits besteht, bedarf es der praktisch-reflektierenden Urteilskraft. Nur sie kann einen gegebenen Fall der passenden Maxime zuordnen. (Vgl. GMS 4:389.) Praktisch-reflektierende Urteilskraft ist auch zur Maximenprüfung notwendig. Bei jeder moralisch relevanten Maximenbildung macht sich laut Kant unweigerlich das moralische Gesetz bemerkbar (vgl. KpV 5:29 f.). Auf diese Weise hat ein jeder zugleich ein Bewusstsein davon, ob sein Vorsatz moralisch oder unmoralisch ist. Dies ist ein Ergebnis moralisch-bestimmender Urteilskraft. Dank ihr wird der Wille durch die reine Vernunft bestimmt. Zu wissen, dass eine Maxime moralisch ist, bedeutet aber noch nicht, sich auch für sie zu entscheiden. Jemand kann einen Diebstahl auch im vollen Bewusstsein einer moralischen Verfehlung begehen. Deshalb ist für Kant das individuelle Wollen von so großer Bedeutung. Nur wer auch will, was er soll, urteilt moralisch (vgl. GMS 4:424). Laut Kant muss das moralische Gesetz den Willen daher nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv bestimmen. Nur Letzteres – das selbst gewählte Befolgen des moralischen Gesetzes – verleiht einer Handlung moralischen Wert (vgl. z. B. KpV 5:81). Realisiert wird die subjektive Bestimmung des Willens durch den Test der moralischen Eignung einer Maxime. Diese selbst gewollte Prüfung der Maxime auf ihre Gesetzestauglichkeit hin erfordert praktisch-reflektierende, genauer: moralisch-reflektierende Urteilskraft. Denn Ausgangspunkt der Urteilskraft ist hier das Subjektive, Individuelle – die Maxime. Obwohl sie selbst Ausdruck einer Verallgemeinerung ist (der
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einer konkreten Situation, eines Falls), bildet sie bei der Maximenprüfung das Besondere, zu dem das Allgemeine gesucht wird. Diese Suche stellt eine Verallgemeinerungsleistung dar, denn es gilt zu entscheiden, ob die Maxime allgemeines Gesetz sein könnte. Bei dieser Maximenprüfung kommt dem Sittlich-Guten die Rolle des gesuchten Allgemeinen zu. Es steht für Kant nie im Vorhinein fest, sondern muss immer erst am Leitfaden des moralischen Gesetzes gebildet werden (vgl. KpV 5:62 ff., KU 5:222; KpV 5:67 ff.).151 Schließlich ist praktisch-reflektierende Urteilskraft auch zur Maximenbefolgung im Sinne einer Anwendung notwendig. Eine moralische Maxime gebildet und geprüft zu haben ist das eine, sie auch praktisch anzuwenden etwas anderes. Reflektierende Urteilskraft vermag aufgrund ihrer vergleichenden und unterscheidenden Tätigkeit angesichts konkreter Fälle und Situationen, ein der moralischen Maxime angemessenes Verhalten anzuzeigen. Sie sorgt für das passende Wie der Maximenumsetzung. Sie ist vor allem in schwierigen Situationen nötig. Wenn etwa im Beispiel des Schwimmwettkampfes ein Nichtschwimmer der Einzige ist, der das Ertrinken bemerkt, könnte statt dem Sprung ins Wasser der geworfene Rettungsring die angemessene Realisierung der Maxime zu helfen darstellen. Zur Veranschaulichung ausbleibender praktischer Reflexion eignet sich das prominent gewordene Beispiel, auf das Kant in seiner rigoristisch anmutenden Schrift über das vermeintliche Recht zu lügen Bezug nimmt. Die „Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet“, ist für Kant in jeder denkbaren Situation ein „Verbrechen“ (Lüge 8:425 ff.). Gemeint ist damit, dass eine Lüge niemals moralisch sein kann und es daher nie ein Recht auf sie geben darf. Denn niemand könne wollen, dass zu lügen allgemeines Gesetz werde. Kant macht in diesem Zusammenhang nicht deutlich genug, dass er nur auf der Begründungsebene der Moral argumentiert. Im Bereich der Anwendung kann es auch für ihn Fälle geben, die nicht unsträflich, aber unstrafbar sind (vgl. MSR 6:235 f.).152 Wer sich nun gegenüber dem Mörder strikt der moralisch-bestimmenden Urteilskraft unterwirft, muss seinen Freund verraten. Nur praktisch-reflektierende Urteilskraft ermöglicht es, sich der Vorschrift der reinen Vernunft und zugleich der konkreten Situation angemessen zu verhalten. (Vgl. KpV 5:67 f.; GMS 4:389.) Die Notwendigkeit praktisch-reflektierender Urteilskraft für die Anwendung einer vom moralischen Gesetz beseelten Maxime macht Kant auch mit dem ‚Spielraum‘ deutlich, den er in der Befolgung unvollkommener 151 152
Vgl. auch Recki: Affinität, S. 245 f. Vgl. Höffe: Kant, S. 194 f. und ders.: Universalistische Ethik, S. 556 ff.
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Pflichten zugesteht. Dieser ergibt sich daraus, dass das moralische Gesetz keine konkreten Handlungen gebietet, sondern sich nur auf Maximen bezieht. Die Frage, „wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei“ (MST 6:411), muss für Kant daher die (praktisch-reflektierende) Urteilskraft beantworten. Was nach dem moralischen Gesetz letztlich zu tun ist, „kann nur von der Urtheilskraft nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen)“ (MST 6:433) herausgefunden werden. Es ist naheliegend, dass Kant selbst bei vollkommenen Pflichten einen Anwendungsspielraum einräumt. Er erwähnt z. B. immer wieder, dass Gesetze nach dem Geiste, nicht stur nach dem Buchstaben zu befolgen sind (vgl. z. B. KpV 5:72; MSR 6:363; RGV 6:30).153 (Vgl. MST 6:390 ff., 6:411, 6:446 f., 6:468 f.) Indirekt machen bereits die ‚kasuistischen Fragen‘ in der Tugendlehre auf die Unentbehrlichkeit praktisch-reflektierender Urteilskraft aufmerksam. In zumeist unbeantwortet bleibenden Fragen zu den Tugendpflichten werden mögliche Anwendungsschwierigkeiten thematisiert. Dabei wird deutlich, dass eine rigoros bestimmende Urteilskraft allein nicht zur angemessenen Befolgung der Pflichten ausreicht: Ist z. B. jemand, der sich für das Vaterland opfert, ein Selbstmörder oder ein Märtyrer? (Vgl. u. a. MST 6:411, 6:423 f., 6:426, 6:428.) Moralisches Urteilen setzt in Kants kritischer Moralphilosophie also neben moralisch-bestimmender notwendig praktisch-reflektierende Urteilskraft voraus. Letztere steht in Analogie zum Common Sense, denn es handelt sich vor allem um eine „durch Erfahrung geschärfte Urtheilskraft“, die zur Unterscheidung erforderlich ist, in welchen Fällen das moralische Gesetz zur Anwendung kommt, sowie um diesem „Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen“ (GMS 4:389). Diese z. T. auch pragmatisch-klug genannte Urteilskraft (vgl. MST 6:433) kann als Form teleologisch-reflektierender Urteilskraft betrachtet werden. Auch sie hat vom Besonderen ausgehend Begriffliches zweckmäßig zu vermitteln, ohne dass bereits im Vorhinein feststeht, was das in der Situation Richtige ist.154 Common Sense in dieser Bedeutung ist notwendig, um Maximen zu bilden (auch sie zu fordern und auszuwählen), sie zu prüfen und zu befolgen. Die zur Maximenprüfung notwendige praktisch-reflektierende Urteilskraft wurde parallel zur moralisch-bestimmenden Urteilskraft auch eine moralisch-reflektierende genannt. Denn anders als bei der Maximenbildung und -befolgung verkörpert neben der objektiven Willensbestimmung nur dieser subjektive Test der Verallgemeinerbarkeit genuin moralisches Urteilen. 153
Vgl. Höffe: Universalistische Ethik, S. 554 f. Die Möglichkeit der Zuordnung der praktischen zur teleologischen Urteilskraft wurde auch von Annemarie Pieper eingeräumt, vgl. dies., S. 129 ff. 154
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3. Moralischer Gemeinsinn Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, ob Kants kritische Moralphilosophie auch die Annahme eines apriorischen Gemeinsinns, eines sensus communis moralis, rechtfertigt. Ein solcher moralischer Gemeinsinn könnte die These von der Unentbehrlichkeit des Common Sense für moralisches Urteilen untermauern. Da moralische Urteile begrifflich vermittelt sind, verbietet es sich, die Konstruktion des ästhetischen Gemeinsinns eins zu eins in die Sphäre des Moralischen zu übertragen. In der Kritik der Urteilskraft macht Kant selbst ausdrücklich auf die nicht unerhebliche Differenz zwischen ästhetischen Gefühlsurteilen und praktischen Erkenntnisurteilen aufmerksam (vgl. z. B. KU 5:266 ff., 5:300, 5:353 f.).155 Im zweiten und dritten Punkt der Erörterung von Interpretationsproblemen der Kritik der ästhetischen Urteilskraft in Kapitel D. I. 3. wurden – in Form von Konstanten und Variablen – Kriterien für einen apriorischen Gemeinsinn à la Kant formuliert. Nun soll versucht werden, sie auf reine praktische und praktische Urteilskraft zu übertragen. Kann moralisch-bestimmender und moralisch- bzw. praktisch-reflektierender Urteilskraft ein Gemeinsinn als apriorisches Prinzip der Notwendigkeit moralischer Urteile zugrunde gelegt werden? Die Charakterisierung der reinen praktischen Urteilskraft im Typik-Kapitel der zweiten Kritik legt einen ihr zugrunde liegenden Gemeinsinn nahe. Reine praktische Urteilskraft ist für Kant u. a. ‚praktisch-bestimmende‘, „intellectuelle“ oder die einzige „moralische Urtheilskraft“ (vgl. KU 5:454 ff., 5:267; RGV 6:186). Dieses moralisch-bestimmende Urteilsvermögen sorgt für die objektive Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz, indem es das Gesetz der Freiheit mit dem Typus des moralischen Gesetzes vermittelt – einem Muster dieses Gesetzes, das die Entsprechung von in der Sinnlichkeit gegebenen Gegenständen und dem allgemeinen Inhalt dieses Gesetzes ermöglicht. Moralisch-bestimmende Urteilskraft bringt die Vermögen ‚Vernunft‘ und ‚Verstand‘ zur Übereinstimmung – mit Freiheit und Typus korrespondieren eine Vernunftidee und 155 Auf die Möglichkeit eines moralischen Gemeinsinns als apriorisches Prinzip ist in der Kantforschung verschiedentlich hingewiesen worden, jedoch selten ausführlich bzw. fundiert. Vgl. z. B. Goldmann, S. 192 und Deleuze, S. 80 f. Von Uwe Justus Wenzel wurde der kategorische Imperativ als Vorbild und zugleich Präzisierung der Idee des Gemeinsinns betrachtet (vgl. ders.: Moral im Abstand. Die „Operation der Reflexion“ im moralischen Grenzfall, in: Akten des Siebenten Internationalen Kant-Kongresses, Gerhard Funke (Hg.), Bonn/Berlin 1991, Bd. 2.1, S. 439 ff.). Gadamer dagegen hat im Rahmen seiner These von Kants Einengung des sensus communis auf den Geschmack die Wirksamkeit eines – wenn auch ungenannten – moralischen Gemeinsinns bei Kant bestritten (vgl. ders., S. 29 ff.).
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eine Verstandesleistung. Das moralische Gesetz bezieht sich zu seiner Anwendung auf den Verstand. Anders als bei mitteilbaren Urteilen über das Schöne und das Erhabene basiert diese Übereinstimmung nicht auf einem Gefühl. Wie die „Bewirkung jeder Absicht“ rufen moralische Urteile zwar auch eine solche Empfindung hervor, sie gründen aber nicht auf dem „Wohlgefallen am Guten“ (vgl. KpV 5:71 ff., 5:116; KU 5:187 f., 5:207 ff., 5:221 f., 5:242, 5:266 ff., 5:292). Moralische Urteile basieren auf Begriffen. Sie kommen nicht spielerisch zustande, da sich die Vernunft in dieser Beziehung dominant verhält. Vor allem aber deutet auf einen zugrunde liegenden Gemeinsinn hin, dass die apriorische Willensbestimmung eine Verallgemeinerung beinhaltet. Anders als bei reflektierender Urteilskraft muss die Verallgemeinerung hier nicht durch suchenden Vergleich, durch Reflexion, hervorgebracht werden. Sie ist im Begriff der Freiheit – bzw. des moralischen Gesetzes – enthalten, der die Anleitung zu seiner Anwendung selbst liefert (vgl. KU 5:183; EE 20:211). Aufgrund der Objektivität der begrifflichen Basis kommt der Willensbestimmung objektive Notwendigkeit zu, womit auch ihre Mitteilbarkeit unstrittig ist. Das letzte Merkmal eines Kant’schen Gemeinsinns wird ebenfalls erfüllt: Die apriorische Willensbestimmung erfolgt in Analogie zur Tätigkeit des empirischen Common Sense. Diesem ist, wie bereits gezeigt wurde, nichts natürlicher als jene Determination. Demnach lässt sich ein Prinzip moralisch-bestimmender Urteilskraft erkennen, das in Analogie zu Kants Idee des Gemeinsinns steht. Es findet seinen Ausdruck im Begriff des bestimmenden moralischen Gesetzes, das für Menschen die Form eines Gebotes hat. Kurz: Der kategorische Imperativ formuliert einen moralischen Gemeinsinn. Dieser sensus communis moralis kann als apriorisches Prinzip von moralischen Sollensurteilen der Art „Ich soll nicht lügen“ betrachtet werden, als Bedingung ihrer Möglichkeit und objektiven Notwendigkeit. Aber auch die Kennzeichnung der praktischen, d.h. moralisch-reflektierenden Urteilskraft offenbart einen solchen Gemeinsinn. Aus der Typik geht hervor, dass diese Urteilskraft im Stadium der Maximenprüfung eine Verallgemeinerung leistet: Sie erwägt die Gesetzestauglichkeit der Maxime – ein Vergleich der Maxime mit einem ‚allgemeinen Naturgesetz‘ (vgl. KpV 5:69). In dieser Konstellation ist das Allgemeine keineswegs gegeben. Es handelt sich nicht um das moralische Gesetz selbst, sondern das Sittlich-Gute, welches zwar eine Vorstellung vom moralischen Gesetz beinhaltet, aber – wie schon erwähnt – stets noch zu bilden ist. Das SittlichGute besteht für Kant allein in einem guten Willen (vgl. GMS 4:393). Um ihn hervorzubringen, folgt moralisch-reflektierende Urteilskraft dem Inhalt des moralischen Gesetzes. Denn als Regel dient ihr der Typus dieses Gesetzes:
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„Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest.“ (KpV 5:69).
Auf diese Weise stellt das moralische Gesetz auch das Prinzip moralischer Reflexion dar. Moralisch-reflektierende Urteilskraft bringt – wenn auch auf andere Art – dieselben Vermögen in Übereinstimmung wie moralisch-bestimmende: Verstand (Maxime) und Vernunft (Idee des allgemeinen Gesetzes). Wie bei teleologisch-reflektierender Urteilskraft basiert diese Beziehung ebenfalls nicht auf einem Gefühl, sondern auf Begriffen, sodass die zustande kommenden Urteile mitteilbar im Sinne subjektiver Allgemeinheit sind. Auch am moralisch-reflektierenden Verfahren der Urteilskraft wird die Verwandtschaft mit dem empirischen Common Sense deutlich. Es muss nicht einmal auf die Analogie zwischen reflektierender Urteilskraft und diesem Vermögen hingewiesen werden, denn Kant resümiert zur reflektierenden Maximenprüfung: „So urtheilt selbst der gemeinste Verstand“ (KpV 5:70). Also liegt auch moralisch-reflektierender Urteilskraft ein sensus communis moralis zugrunde. Er offenbart sich im kategorischen Imperativ, der hier in Form des Typus leitend ist. Im Kontext der Reflexion ist der moralische Gemeinsinn das apriorische Prinzip von moralischen Wollensurteilen der Art „Ich will nicht lügen“ und zugleich Bedingung ihrer Möglichkeit und subjektiven Notwendigkeit. Sowohl moralisch-bestimmender als auch moralisch-reflektierender Urteilskraft liegt also ein moralischer Gemeinsinn zugrunde. Er manifestiert sich im moralischen Gesetz, das für Menschen die Form des kategorischen Imperativs hat. Dieser sensus communis moralis kann daher auch selbst als Determinations- und Reflexionsprinzip betrachtet werden. Als Prinzip objektiver und subjektiver Willensbestimmung rechtfertigt der moralische Gemeinsinn den Anspruch moralischer Urteile auf allgemeine Zustimmung. Weil diese auf Basis jenes Sinns aller für alle getroffen werden, sind sie mitteilbar, nachvollziehbar und können auch von anderen gefordert werden. Vier Anmerkungen sollen zur Erläuterung dienen. Erstens. Praktisch-reflektierender Urteilskraft liegt nur als moralisch-reflektierender Urteilskraft, d.h. im Rahmen der Maximenprüfung, der moralische Gemeinsinn zugrunde. In einem weiteren Sinne ließe sich zwar ebenfalls von einem sensus communis moralis als Prinzip praktischer Urteilskraft sprechen, welche moralische Maximen allererst bildet, fordert, zuordnet oder anwendet. Genau genommen handelt es sich dabei jedoch nur um den teleologischen Gemeinsinn, der auch verallgemeinerbaren zweckmäßigen Urteilen zugrunde liegt, die moralisch irrelevant sind. Wer etwa findet, er sollte sich, um den Sonnenaufgang nicht zu verpassen, den
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Wecker stellen, der urteilt überaus zustimmungsfähig. Einen direkten Bezug zur Moral weist sein Urteil aber nicht auf. Kein Gemeinsinn liegt dagegen praktisch-reflektierender Urteilskraft zugrunde, welche wie im Falle egoistischer Nützlichkeitserwägungen nicht zu mitteilbaren Resultaten führt. Moralisches Handeln setzt also eine verallgemeinerbare Maximenbildung, ein verallgemeinerbares moralisches Urteil und dessen verallgemeinerbare pragmatisch-kluge Anwendung im konkreten Leben voraus: Der moralische Gemeinsinn bedarf der Ergänzung durch den teleologischen Gemeinsinn. Zweitens. Moralisch-bestimmende und -reflektierende Urteilskraft sind Verfahren, die im Alltag wie selbstverständlich angewendet werden. Entsprechend werden moralische Urteile auch jederzeit auf Basis des sensus communis moralis getroffen. Dies gilt selbst für den gemeinsten Verstand, dem der kategorische Imperativ, in dem sich dieser Gemeinsinn offenbart, nicht in seinem Wortlaut bekannt ist. Wie es in Geschmacksfragen von großem Nutzen ist, sein Urteil im Sinne der Maxime erweiterter Denkungsart zu prüfen, so kann es auch bei Gewissenskonflikten hilfreich sein, wenn sich der gewöhnliche Common Sense zur Orientierung den kategorischen Imperativ buchstäblich vergegenwärtigt. Zu einer solchen zusätzlichen Vergewisserung in Notsituationen muss das moralische Gesetz aber dem ‚Buchstaben‘ nach bekannt sein, wozu Wissenschaft und insbesondere Moralphilosophie beitragen sollen (vgl. Kapitel D. II. 1.). Drittens. Am Ende von Kapitel D. I. 3. wurde darauf hingewiesen, dass eine dem ästhetischen Kontext entkleidete Idee des Gemeinsinns auch den Kern von Moralität verkörpere. Der sensus communis bilde eine gemeinsame Grundlage, als deren Folge sich zahlreiche moralische Momente ästhetischen Urteilens verstehen lassen, auf die Kant in der dritten Kritik hinweise. Der Nachweis eines moralischen Gemeinsinns untermauert diese Begründung der engen Verwandtschaft von ästhetischer und moralischer Urteilskraft. Die Idee, so zu urteilen, dass die eigene Maxime Prinzip eines selbst gewollten allgemeinen Gesetzes sein kann, steht in deutlicher Analogie zu der Idee, sein Urteil an die „gesammte Menschenvernunft“ zu halten, es also an den möglichen der anderen zu prüfen, indem von privaten Einflüssen abstrahiert wird (vgl. KU 5:293 f.). Moralischen Urteilen liegt wie zustimmungsfähigen ästhetischen die Idee des Gemeinsinns als die eines allgemeinen Standpunktes zugrunde.156 156
Die hier entscheidende Verallgemeinerung eines Urteils bzw. einer Maxime kennzeichnet nicht nur die subjektive Maximenprüfung, sondern auch die objektive Willensbestimmung, bei der der allgemeine Standpunkt im Begriff des moralischen Gesetzes enthalten ist. Von Brigitte Scheer ist in ähnlichem Sinne die Verbindlichkeit ästhetischer und logischer Urteile bei Kant auf den allgemeinen Standpunkt zurückgeführt worden (vgl. dies.: Mitteilsamkeit ohne Mitteilung. Zu einem weiteren Problem der Kantischen Ästhetik, in: Siegfried Blasche/Wolfgang R. Köhler/Peter
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Viertens. Es gibt für Kant durchaus ein Gefühl, das zu moralischen Urteilen beiträgt: die Achtung vor dem moralischen Gesetz. Kant nennt es die letztlich einzige moralische Triebfeder. Anders als dem Gefühl der Lust oder Unlust bei ästhetischen Urteilen kommt ihm jedoch keine konstitutive Bedeutung für moralische Urteile zu. Letztere werden durch dieses moralische Gefühl zwar motiviert, gründen aber nicht auf ihm. Achtung vor dem moralischen Gesetz wird von der objektiven Willensbestimmung hervorgerufen und regt zur subjektiven Willensbestimmung an. Als ein dem entscheidenden Urteilsprozess äußerliches Phänomen ist es in dieser Arbeit nicht näher zu untersuchen, auch wenn in der Kritik der Urteilskraft Bezüge von ihm zu Urteilen über das Schöne und vor allem das Erhabene hergestellt werden. (Vgl. KpV 5:71 ff.; GMS 4:400 f.; KU 5:207 ff., 5:221 f., 5:257 ff., 5:264 ff., 5:289, 5:291 ff., 5:298 ff.) * * * Am Ende der Untersuchung des Verhältnisses ‚Common Sense – kritische Moralphilosophie‘ ist Folgendes festzuhalten. Kant bescheinigt dem Common Sense in moralischen Fragen eine beeindruckende Kompetenz. Ob etwas moralisch ist oder nicht, erkennt dieses gewöhnliche Vermögen mit beispielloser Sicherheit. Dementsprechend weist Kant dem Common Sense zentrale Funktionen in seiner Moralphilosophie zu. Er dient in ihr als Basis, Bürge und Ziel. Am Common Sense kann Kant demonstrieren, dass das moralische Gesetz zu jedem spricht, von jedem verstanden und angewendet werden kann. Ganz nebenbei bildet der hierin enthaltene Gleichheitsgedanke ein Fundament für Rechtsgesetze, vor denen prinzipiell jeder gleich ist. Der Common Sense ist in Kants kritischer Moralphilosophie auch in Form einer reflektierenden Urteilskraft und eines moralischen Gemeinsinns präsent. Ihre Wirksamkeit lässt sich in Analogie zu Kants Ausführungen in der dritten Kritik konstruieren. Mit ihnen finden wie in der Kritik der Urteilskraft zwei charakteristische Momente des Common Sense Eingang in Kants Transzendentalphilosophie: zweckmäßiges und verallgemeinerndes Urteilen. Dass Kant dem Common Sense auch als erfahrungsgeschärfte und pragmatisch-kluge (reflektierende) Urteilskraft eine große Bedeutung in seiner Konzeption zuweist, muss den überzogenen Rigorismus-Vorwürfen entgegengehalten werden, die gegen seine Moralphilosophie zahlreich erhoben wurden und werden.157 Am kollektiven Charakter des moralisch konstitutiven Common Sense zeigt sich auch ein weiteres Mal, dass Solipsismus-EinRohs (Hg.): Ästhetische Reflexion und kommunikative Vernunft, Bad Homburg 1993, S. 41 ff.). 157 Vgl. dazu auch Gerhardt: Kant, S. 204 und Höffe: Kant, S. 171 f., 189.
II. Die Kritik der praktischen Vernunft
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wände gegen Kants Philosophie verfehlt sind. Die moralische Urteilskraft des gemeinen Verstandes und der moralische Gemeinsinn demonstrieren einen unentbehrlichen Bezug zu allen anderen Menschen. Bezogen auf seine drei Haupteigenschaften ist der Common Sense im Kontext der Moral wie im Zusammenhang mit dem Schönen und dem Erhabenen vor allem hinsichtlich seines gemeinschaftlichen Charakters von Bedeutung. Moralische Urteile basieren auf dem für den Common Sense charakteristischen allgemeinen Standpunkt. Sie sind Ausdruck erweiterter Denkungsart. Einfachheit und Erfahrenheit des Common Sense sind hinsichtlich der Moral aber ebenfalls relevant. Zu moralischen Urteilen ist jeder fähig – es wird dazu keine höhere Bildung benötigt. Außerdem bedarf es alltäglicher Erfahrung, um die Urteilskraft zu schärfen, welche zu moralischen Urteilen anregt, sie bildet, prüft und anwendet. Bei aller Wertschätzung des Common Sense in seiner Vielschichtigkeit betont Kant jedoch auch dessen Unvollkommenheit. Der Common Sense kann nicht alleinige moralische Instanz sein oder der (Welt-)Weisheit letzter Schluss. Moralisches Urteilen bedarf des Common Sense – aber nicht ausschließlich. So sehr Common Sense und Moralphilosophie aufeinander angewiesen sind, so wenig machen gemeine praktische und reine praktische Vernunft sowie moralisch- oder praktisch-reflektierende und moralisch-bestimmende Urteilskraft einander entbehrlich. Kants transzendentalphilosophisches Moralkonzept kann als konsequente Fortführung seiner vorkritischen Moralphilosophie betrachtet werden – dies gilt auch insbesondere für die Rolle des Common Sense in diesem Kontext (vgl. Kapitel C. II. 3.). Die Art der Berücksichtigung dieses gewöhnlichen Vermögens in seiner kritischen Moralphilosophie ist revolutionär. Kants Orientierung am alltäglich beobachtbaren moralischen Verhalten bedeutet eine Absage an alle Theorien, die Sittlichkeit auf ein moralisches Gefühl, auf wohlwollende Selbstliebe, göttlichen Willen, kalkulierte Nützlichkeit und Ähnliches gründen (vgl. KpV 5:39 ff.). Vor Kant war es üblich, ein System aufzustellen und auf die im Alltag begegnenden Situationen und Sachverhalte herunterzubrechen. Weil der Wirklichkeit so oftmals nicht gerecht wurde, verfährt Kant umgekehrt. Indem er die moralischen Grundsätze aus dem Common Sense gewinnt, bindet er seine Moralphilosophie an die Realität. Vom Prinzip her sichert er damit ihre Wirksamkeit im alltäglichen Leben. Auf diese Weise begründet Kant eine neue Ethik, die noch heute überaus anschlussfähig ist.158 Als Schlüssel zu dieser moralphilosophischen Wende kann betrachtet werden, was Lewis White Beck über Kant so aus158 Vgl. Düsing, Klaus: Kants Ethik in der Philosophie der Gegenwart, in: Heidemann/Engelhard, S. 231 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
gedrückt hat: „Mehr als irgendein anderer Philosoph seiner Zeit achtete er das normale moralische Bewusstsein der ‚gemeinen Menschenvernunft‘.“159 Dem Common Sense kommt in Kants kritischer Moralphilosophie eine zentrale und vielfältige Bedeutung zu. Insofern dies insbesondere für die Kritik der praktischen Vernunft gilt, könnte auch diese eine Kritik des Common Sense heißen. – Verhält es sich mit der Kritik der reinen Vernunft ebenso?
III. Die Kritik der reinen Vernunft In diesem Kapitel wird die Bedeutung des Common Sense für die Kritik der reinen Vernunft untersucht. Ergänzend hinzugezogen werden vor allem die zwischen den ersten beiden Auflagen der Kritik (1781, 1787) erschienenen Prolegomena (1783) sowie Kants Logik (1800). Parallel zu Kapitel D. II. erfolgt die Untersuchung aus drei Blickwinkeln. Zunächst wird das Verhältnis des empirischen Common Sense zur Metaphysik betrachtet. In einem zweiten Schritt wird geprüft, inwieweit eine dem Common Sense analoge reflektierende Urteilskraft in der ersten Kritik wirksam ist. Schließlich ist der Frage nachzugehen, ob auch theoretischer Urteilskraft ein Gemeinsinn als apriorisches Prinzip zugrunde liegt. Die Kritik der reinen Vernunft ist nicht nur Kants Hauptwerk, sie stellt auch eine der wirkmächtigsten philosophischen Publikationen überhaupt dar. Dies ist insofern verwunderlich, als diese Schrift schon von den fachgelehrten Zeitgenossen Kants kaum verstanden wurde. Sie fordert nicht nur ein fundamentales Umdenken – der Zugang wird zusätzlich durch Kants Stil erschwert (vgl. Kapitel E. IV.). Die erste Kritik untersucht die Möglichkeit, die Prinzipien und die Grenzen erfahrungsunabhängiger Erkenntnis und damit zugleich die der Metaphysik (vgl. KrV A:XII, B:6). 1. Allgemeine Menschenvernunft Der Common Sense erfährt bei Kant im Kontext der Metaphysik seine stärkste Abwertung. Auf die vor allem in Kritik und Prolegomena erfolgenden Diskreditierungen gründet sich die noch heute vielfach anzutreffende Fehleinschätzung, für Kant seien reine und gemeine Vernunft oder Transzendentalphilosophie und gesunder Menschenverstand unvereinbar. Bereits im fünften Satz der ersten Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft klingt an, wie es um den Common Sense in Kants theoretischer Philosophie 159
Beck, S. 219 f., vgl. S. 158 f. sowie Höffe: Kant, S. 189 f., 201 f.
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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scheinbar bestellt ist. Die „gemeine Menschenvernunft“ wird als naives Vermögen eingeführt, das sich leicht täuscht. Es liegt für Kant in der Natur der menschlichen Vernunft, dass diese durch Fragen „belästigt“ wird, die sie weder abweisen, noch beantworten kann. Von elementaren Erfahrungsregeln ausgehend strebt die Vernunft zu immer höheren Grundsätzen. Angetrieben von einem Interesse an Erkenntnis steigt sie vom Konkreten zum Allgemeinen empor. Auf diesem Weg wird sie aber neben der Endlichkeit ihrer Erkenntnisfähigkeit auch der Unendlichkeit ihres Erkenntnisbedürfnisses gewahr – mit jeder Antwort steigt die Zahl der offenen Fragen. Dieses Dilemma versetzt den Menschen in eine natürliche Unzufriedenheit. Aufgrund des Unbehagens an den nicht enden wollenden Fragen flieht die Vernunft laut Kant zu erfahrungsfernen Grundsätzen, welche sie auf der Ebene ihres gemeinen Gebrauchs fürs Erste zufrieden stellen. Den Menschen kennzeichnet eine gefährliche Sympathie für Spekulationen, die ihm insofern angenehm sind, als sie sein unbequemes Fragebedürfnis (vorübergehend) stillen. Da auch Unwahrheiten bei der ‚gemeinen Vernunft‘ Beifall finden, verstrickt sich die Vernunft bei der Flucht vor ihren Fragen in tiefe Widersprüche. Diese werden dann als „endlose Streitigkeiten“ auf dem „Kampfplatz“ Metaphysik ausgetragen. – Die den Common Sense repräsentierende „gemeine Menschenvernunft“ fungiert im Kontext dieses berühmten Auftakts zur Kritik als Maßstab für Bequemlichkeit und Quelle folgenschwerer Irrtümer. Die Berufung auf sie zählt für Kant zu den Ursachen der von ihm konstatierten Krise der Metaphysik. (Vgl. KrV A:VII ff.) Dieser erste Eindruck findet schnell Bestätigung. Die Unvereinbarkeit von Metaphysik und Common Sense wird von Kant an vielen Stellen betont: Der gemeine Menschenverstand sei schlichtweg untauglich zu subtiler Spekulation, da er sich nicht über seine Grundsätze rechtfertige (vgl. KrV B:XXXII, A:473/B:501; Prol 4:259; Refl. 5637, 18:272). Spekulativer und gemeiner Verstand sind für Kant grundverschieden: „Und was ist nun der gemeine Verstand? Er ist das Vermögen der Erkenntniß und des Gebrauchs der Regeln in concreto zum Unterschiede des speculativen Verstandes, welcher ein Vermögen der Erkenntniß der Regeln in abstracto ist.“ (Prol 4:369, vgl. Prol 4:369 ff., Logik 9:27).
In der Kritik an der vorgeblichen Unbrauchbarkeit des unwissenschaftlichen Common Sense erreicht Kant eine bemerkenswerte Schärfe – er polemisiert. Sich auf den „gesunden Menschenverstand“ zu berufen, sei „eine Zuflucht, die jederzeit beweiset, daß die Sache der Vernunft verzweifelt ist“ (KrV A:783 f./B:811 f.). „Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen“, zeuge es von zu tadelnder Bequemlichkeit, den „gemeinen Menschenverstand“ zu befragen. Ein solcher Rückgriff, bei dem es „der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten“ könne, verbiete sich von selbst:
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
„So lange aber noch ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Nothhülfe zu ergreifen. Und beim Lichte besehen, ist diese Appellation nichts anders als eine Berufung auf das Urtheil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph erröthet, der populäre Witzling aber triumphirt und trotzig thut.“ (Prol 4:259, vgl. Prol 4:277).
Sich auf die Zustimmung des Common Sense zu stützen, lehnt Kant im Kontext der Metaphysik also mit Nachdruck ab: Der „gesunde Menschenverstand“ gleiche einer „Wünschelruthe“, „die nicht jedermann schlägt, sondern sich nach persönlichen Eigenschaften richtet“ (Prol 4:369). Sich auf den ‚gemeinen, gesunden Verstand‘ zu berufen, bedeute, einen „Gewährsmann“ zu benennen, der in der Metaphysik „gar kein Urtheil hat, und den man sonst wohl nur über die Achsel ansieht, außer wenn man sich im Gedränge sieht und sich in seiner Speculation weder zu rathen, noch zu helfen weiß“ (Prol 4:370).160 An diesen Verunglimpfungen wird deutlich, dass Kant nicht nur den Common Sense, sondern auch dessen Anhänger in der Philosophie diskreditieren will. Er bezeichnet sie als ‚Naturalisten‘. Die naturalistische Methode, in philosophischen Fragen der gemeinen mehr als der spekulativen Vernunft zu vertrauen, ist für Kant unwissenschaftlich. Der „Naturalist der reinen Vernunft“ wird von ihm verspottet als jemand, der nach dem Grundsatz verfährt, „daß durch gemeine Vernunft ohne Wissenschaft (welche er die gesunde Vernunft nennt) sich in Ansehung der erhabensten Fragen, die die Aufgabe der Metaphysik ausmachen, mehr ausrichten lasse, als durch Spekulation. Er behauptet also, daß man die Größe und Weite des Mondes sicherer nach dem Augenmaße, als durch mathematische Umschweife bestimmen könne.“ (KrV A:855/B:883, vgl. Prol 4:313 f.).
In erster Linie sind mit den Naturalisten schottische Common-Sense-Philosophen wie Thomas Reid, James Beattie oder James Oswald gemeint (vgl. Prol 4:258; Kapitel A. II.). Kant betrachtet sie als Gegner von David Hume. Sie hätten diesen missverstanden und bei der Frage, ob das Kausalitätsgesetz ein Begriff a priori sei, in bequemer Berufung auf den Common Sense nur festgestellt, dass dieses existiere. Laut Kant ist die Existenz dieses Gesetzes aber nie strittig gewesen, nur sein Status. Deshalb wirft er ihnen vor, den gemeinen Menschenverstand „trotzig“ und wie ein „Orakel“ zu befragen, statt nach wissenschaftlicher Begründung zu forschen. Was den Common-Sense-Philosophen – stellvertretend wird Beattie genannt – im Gegensatz zu Hume fehle, sei „kritische Vernunft, die den gemeinen Verstand in Schranken hält, damit er sich nicht in Speculationen versteige, 160 Zu Kants Bewertung des Common Sense in diesem Zusammenhang vgl. auch Ledwig, S. 85 ff.
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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oder, wenn blos von diesen die Rede ist, nichts zu entscheiden begehre“ (Prol 4:259).161 Kants Schmähungen treffen aber auch die Vertreter der deutschen Popularphilosophie, die den schottischen Common-Sense-Philosophen sehr wohlwollend gegenüberstanden. Aus ihrem Lager stammte der vielleicht wirkungsvollste Verriss der Kritik. Die Rezension Garves wurde im Januar 1782 in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen veröffentlicht. In den Prolegomena gibt Kant seinen Unmut über diese Besprechung deutlich zu erkennen (vgl. Prol 4:372 ff.; Vorarbeit Prol 23:53 ff.). (Vgl. Kapitel E. IV.) Dass der Common Sense in Kants theoretischer Philosophie also scheinbar nichts gilt, steht in starkem Gegensatz zu seiner praktischen Philosophie. Entsprechend empfindet Kant in der Grundlegung Bewunderung dafür, „wie das praktische Beurtheilungsvermögen vor dem theoretischen im gemeinen Menschenverstande so gar viel voraus habe. In dem letzteren, wenn die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungsgesetzen und den Wahrnehmungen der Sinne abzugehen, geräth sie in lauter Unbegreiflichkeiten und Widersprüche mit sich selbst, wenigstens in ein Chaos von Ungewißheit, Dunkelheit und Unbestand. Im praktischen aber fängt die Beurtheilungskraft dann eben allererst an, sich recht vortheilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle sinnliche Triebfedern von praktischen Gesetzen ausschließt.“ (GMS 4:404, vgl. Logik 9:79).
Da der Nutzen des Common Sense in anderen Zusammenhängen unangetastet bleibt, scheinen sich Kants scharfe Verurteilungen dieses Vermögens beinahe nur auf dessen Gebrauch in der Metaphysik zu beziehen. Im Allgemeinen bleibt Kants Einstellung ihm gegenüber ambivalent: „Meißel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radirnadel brauchen. So sind gesunder Verstand sowohl als speculativer beide, aber jeder in seiner Art brauchbar: jener, wenn es auf Urtheile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden, dieser aber, wo im Allgemeinen, aus bloßen Begriffen, geurtheilt werden soll, z. B. in der Metaphysik, wo der sich selbst, aber oft per antiphrasin so nennende gesunde Verstand ganz und gar kein Urtheil hat.“ (Prol 4:259 f., vgl. Prol 4:371).
Bei genauerer Betrachtung ist die Bewertung des Common Sense aber selbst hinsichtlich der Metaphysik zwiespältig. Metaphysik und Common Sense sind keineswegs so unvereinbar, wie es scheint. Wie in den vorkriti161 Indem Kant die ‚falschen Freunde‘ des Common Sense (vgl. Prol 4:370) im vorletzten Absatz der Kritik thematisiert (vgl. KrV A:855/B:883), steht dieser im Übrigen auch am Ende dieses Werks. So beginnt und endet die Kritik der reinen Vernunft mit dem Common Sense.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
schen Überlegungen (vgl. Kapitel C. II. 2.) zeichnet sich auch im Konzept von Kants ‚neuer‘ Metaphysik ein dreifaches Angewiesensein auf den Common Sense ab. Die plumpe Berufung auf ihn ist hier unrechtmäßig. Wird der Common Sense aber von der Metaphysik ignoriert, ist sie zum Scheitern verurteilt. In Kants kritischer Metaphysik fungiert der Common Sense zunächst als Ausgangspunkt. Die ‚menschliche Vernunft‘ ist für ihn durch ein natürliches Bedürfnis nach Metaphysik gekennzeichnet. Unaufhaltsam und aus eigenem Antrieb dringe sie zu Fragen vor, die sich nicht mittels Erfahrung klären lassen. Sie frage sich, ob es einen Anfang in der Zeit gebe, einen Schöpfer usw. Diese „Naturanlage zur Metaphysik“, „metaphysica naturalis“, charakterisiere den Menschen von je her und werde dies immer tun. Erst auf dieser Disposition aufbauend kann sich Kant der Frage zuwenden, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Notwendig werde sie, weil die ‚natürliche Metaphysik‘ nicht geeignet sei, Gewissheiten hervorzubringen. – Den Textstellen, in denen Kant diesen Zusammenhang darstellt, lässt sich entnehmen, dass das Bedürfnis nach Metaphysik jedermanns Vernunft auszeichnet, also auch ihren gemeinen oder allgemeinen Gebrauch. Unter der unaufhörlich fragenden ‚menschlichen Vernunft‘ in Vorrede und Einleitung der Kritik muss auch und – da zwischen natürlicher und wissenschaftlicher Metaphysik unterschieden wird – sogar in erster Linie der Common Sense verstanden werden. Dieser „allgemeinen Menschenvernunft“ entspringen die Fragen der Metaphysik. Den Common Sense kennzeichnet ein immerwährendes Interesse an metaphysischen Fragen, ein ‚allgemeines Interesse‘ in Form fortdauernder ‚natürlicher Fragen‘ über sich und die Welt. Aus diesem Bedürfnis nährt sich Metaphysik als Wissenschaft. (Vgl. KrV B:21 f., A:VII f.; Prol 4:257; Metaphysik Mrongovius 29:782.) Im Architektonik-Abschnitt der Methodenlehre wird dieser Gedanke verallgemeinert. Der Common Sense gilt hier als Ursprung, Beginn, Grundlage aller Wissenschaft. Letztere entspringe stets einer „Idee“, einem „allgemeinen Interesse“. Es gibt immer eine leitende Ausgangsfrage, eine Zielstellung, einen zu erforschenden Bereich. Kant verortet die Herkunft dieser Grundidee im Bereich der „gemeinen Erkenntnis“ – dem Feld des Common Sense. Die gemeine Erkenntnis ist ein „Aggregat“, eine „Rhapsodie“, eine Anhäufung von mehr oder weniger zusammenhängenden Überzeugungen. Erst durch „systematische Einheit“ kann aus ihr szientifische Erkenntnis werden. Für Kant muss die Selbstbeschreibung einer Wissenschaft, ihre Form und Struktur, ihr ‚Ordnungsschema‘, stets in Einklang mit dem natürlichen Grundinteresse stehen, aus dem heraus sie entstanden ist. Der „Plan“ zu einem Haus muss dem „Bauzeug“ angemessen sein, der Architekt darf seinen „Entwurf“ nicht unabhängig vom „Vorrat“ machen (vgl. KrV A:707/B:735). (Vgl. KrV A:832 ff./B:860 ff.; Logik 9:139.)
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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Einen Nutzen des Common Sense als Ausgangspunkt der Metaphysik vermittelt auch die Transzendentale Dialektik. In ihr werden die dogmatischen Annahmen der traditionellen Metaphysik als Irrtümer entlarvt. Den Ursprung dieser Scheinwahrheiten findet Kant bereits in den Denkgewohnheiten des Common Sense, der (all)gemeinen (Menschen)Vernunft. Untersucht wird der Schein, der die reine Vernunft in eine natürliche, unvermeidbare Dialektik sich widersprechender Schlussfolgerungen versetzt. Dieser ‚transzendentale Schein‘ wird durch Grundsätze hervorgerufen, deren Gebrauch außerhalb möglicher Erfahrung liegt. Sie sind subjektiv notwendig, werden aber für objektiv notwendig gehalten. Der transzendentale Schein stellt eine natürliche Illusion dar, die zwar als „Blendwerk“ entlarvt wird, aber nie zu vermeiden ist. Laut Kant resultiert er aus der unkritischen Art des Common Sense. Insofern sich die Vernunft bisweilen auch mit Antworten zufrieden gibt, die nur ihren gemeinen, nicht aber ihren kritischen Gebrauch zufrieden stellen, trägt der Common Sense entscheidend zur Dialektik der reinen Vernunft bei. Diesen Beitrag beurteilt Kant aber auch positiv – er ist Anlass zu näherer Nachforschung durch kritische Vernunft. (Vgl. KrV A:293 ff./B:349 ff., A:338 ff./B:396 ff., A:VIII, A:61/B:85 f., A:63 f./B:88.) Der Basis-Charakter des Common Sense offenbart sich vor allem in der Antinomienlehre, dem zweiten Hauptstück der dreiteiligen Dialektik (vgl. KrV A:405 ff./B:432 ff.; Prol 4:338 ff.). Kant lässt zu den vier großen kosmologischen Problemkreisen je eine rationalistische These und eine empiristische Antithese in ‚freien Wettstreit‘ miteinander treten. Zur Erläuterung dieser Gegensätze, der „Antinomien der reinen Vernunft“, wird das praktische, theoretische und didaktische Interesse der Vernunft an ihnen betrachtet. Kriterium des Letzten ist die Verträglichkeit der Thesen und Antithesen mit dem Common Sense – die Popularität. Der Common Sense wird hier in Form verschiedener Gestalten zunächst wieder negativ besetzt: Der gemeine Verstand, „der nicht weiß, was Begreifen heißt“, hinterfrage nicht und „hält das für bekannt, was ihm durch öfteren Gebrauch geläufig ist“. Er neige dazu, „das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu glauben, ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben“ (KrV A:473 f./B:501 f., vgl. A:461/B:489). Es zeigt sich, dass die dogmatischen Thesen, denen das Gesetz zugrunde liegt, alles Bedingte sei auf etwas Unbedingtes zurückzuführen, dem Common Sense sehr entgegenkommen. Die empiristischen Antithesen, welche das Gesetz variieren, jede Bedingung sei wiederum als bedingt anzusehen, widersprechen hingegen seiner Natur: „Der gemeine Verstand findet in den Ideen des unbedingten Anfangs aller Synthesis nicht die mindeste Schwierigkeit, da er ohnedem mehr gewohnt ist, zu den Folgen abwärts zu gehen, als zu den Gründen hinaufzusteigen, und hat in den Begriffen des absolut Ersten (über dessen Möglichkeit er nicht grübelt) eine Ge-
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
mächlichkeit und zugleich einen festen Punkt, um die Leitschnur seiner Schritte daran zu knüpfen, da er hingegen an dem rastlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, jederzeit mit einem Fuße in der Luft, gar kein Wohlgefallen finden kann.“ (KrV A:467/B:495).
Angesichts der Nähe des Common Sense zur Erfahrung ist seine Aversion gegen die skeptischen Antithesen überraschend. Da er sich aber nur ungern Rechenschaft über Grundsätze gibt, sie also am liebsten ungeprüft voraussetzt, behagt ihm der empiristische Zweifel an den rationalistischen Thesen nicht. Den Antithesen wird daher eine Chance auf die „Gunst bei der großen Menge“ abgesprochen. (Vgl. KrV A:472 ff./B:500 ff.)162 Kant geht aber noch weiter. Zunächst entlarvt er die Annahmen, zu denen sich der Common Sense in den Antinomien hingezogen fühlt, als falsch bzw. unbefriedigend. Den Grund für die Täuschungen des Common Sense sieht er in der Praxis, Erscheinungen als Dinge an sich zu betrachten. Solch unrechtmäßiges Versinnlichen von Unsinnlichem ziehe zwangsläufig Irrtümer nach sich. Mit dieser Diagnose macht Kant die einfache Beschaffenheit der gewöhnlichen Vernunft verantwortlich für die Antinomien. Er betrachtet den Common Sense als Wurzel dieser Streitigkeiten. (Vgl. KrV A:500/B:528, GMS 4:450 ff.; KrV A:528/B:556.) Diese Rolle des Common Sense bewertet Kant keineswegs nur negativ. Die Täuschungen des Common Sense seien ganz natürlich und unvermeidlich, darüber hinaus sogar von großem Nutzen. Die reine Vernunft wird aufgrund der durch die Unzulänglichkeit des Common Sense verursachten Dialektik ihrer Grundsätze zu einer Selbstkritik veranlasst. In dieser Selbstprüfung erweist sich die Plausibilität ihrer Sätze als trügerisch und es erfolgt eine Emanzipation von den irrtümlichen Annahmen. Die Antinomie entpuppt sich als „wohlthätigste Verirrung [. . .; RN], in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können“ (KpV 5:107). Ohne die gemeine Vernunft aber gäbe es keinen Anlass für die reine Vernunft, ihre Anmaßungen kritisch zu hinterfragen. Die aus den Denkvoraussetzungen des Common Sense resultierenden Widersprüchlichkeiten treiben den Philosophen zu den Quellen der reinen Vernunft. Der Common Sense ist Motor ihrer Selbstkritik, in der Metaphysik und darüber hinaus. (Vgl. KrV A:297 f./B:353 ff., A:338 f./B:396 f., A:407/B:433 f., A:507/B:535; Prol 4:338.)163 162 In der vierten Antinomie (Existenz oder Nicht-Existenz Gottes) werden allerdings These und Antithese als Standpunkte des Common Sense dargestellt (vgl. KrV A:461/B:489). 163 Auf den dargelegten Zusammenhang von gemeiner Vernunft und Antinomien der reinen Vernunft wurde auch von Hartwig Schmidt hingewiesen. Er interpretiert ihn ebenfalls dahingehend, dass die gemeine Vernunft – da sie bis in die wissenschaftliche Forschung hineinreiche – nicht isoliert von dieser betrachtet werden könne. Wissenschaft komme im Sinne Kants nicht ohne spontane Widerspiegelun-
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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Der Common Sense ist bei Kant nicht nur die natürliche Quelle der Metaphysik, in der Kritik dient er auch als methodischer Ausgangspunkt. Er verkörpert das Rohmaterial, aus dem die apriorischen Prinzipien menschlichen Erkennens herausgearbeitet werden. Der „gemeine Verstand“ ist nicht nur im Besitz von Erkenntnissen a priori (vgl. KrV B:3 ff.), er verfügt auch über apriorische Erkenntnisbedingungen. Ein Blick auf das Grundanliegen der Transzendentalen Logik, welche vom Umfang her immerhin mehr als zwei Drittel der Kritik ausmacht, kann dies verdeutlichen. Kant unterscheidet die transzendentale von der allgemeinen Logik, welche er in reine und angewandte Logik einteilt. Damit grenzt er die Erstgenannte sowohl von einer Logik ab, die die Regeln des Verstandes nur der Form und nicht dem Inhalt nach betrachtet, als auch von einer, die sich ausschließlich empirischen, „psychologischen“ Prinzipien widmet. Die transzendentale Logik ist keine bloß formale Logik, aber auch keine des Common Sense.164 Sie erforscht erfahrungsunabhängige Leistungen, aber nicht unter irrealen, formallogischen Laborbedingungen. Der Einsicht entsprechend, „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV A:51/B:75), berücksichtigt sie auch die Erkenntnisinhalte. Das befähigt sie im Gegensatz zur formalen Logik, die Wahrheit von Dingen und Sachverhalten im Sinne einer Übereinstimmung von Gegenstand und Erkenntnis zu beurteilen. Die transzendentale Logik sucht apriorische Prinzipien in den gewöhnlichen Leistungen menschlichen Erkennens auf – in Tätigkeit und Beschaffenheit der allgemeinen Menschenvernunft, des Common Sense. (Vgl. KrV A:50 ff./B:74 ff.)165 Was Anstoß, Ausgangspunkt, Grundlage einer Wissenschaft ist, kann ihr auch als Maßstab nützlich sein – etwa als Fixpunkt der Vergewisserung oder Rückbesinnung. Eine mögliche Eignung besteht sogar in Bezug auf ihgen des Alltagsbewusstseins aus. Vgl. ders.: Gesunder Menschenverstand – Antinomien – reine Vernunft (Zum Übergang vom Alltagsdenken zur theoretischen Aneignung der Wirklichkeit), in: Hans-Martin Gerlach/Sabine Mocek (Hg.): Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ im philosophischen Meinungsstreit der Gegenwart, Halle 1982, S. 156 ff. 164 Die Unterscheidung von reiner und angewandter Logik (vgl. auch Logik 9:12 ff.) entspricht der Einteilung in Logik des spekulativen und des gemeinen, gesunden Verstandes sowie in künstliche und natürliche Logik. Vgl. Stuhlmann-Laeisz: Logik sowie Kapitel C. II. 1. Die angewandte Logik stellt ein „Kathartikon des gemeinen Verstandes“ dar und verhält sich zur reinen Logik wie die Tugendlehre zur reinen Moral. Vgl. KrV A:53 ff./B:78 f. und Kapitel D. II. 1. 165 Vgl. Gerhardt: Kant, S. 165 ff. Von Reinhard Brandt wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Common Sense auch in der Transzendentalen Ästhetik BasisCharakter hat. Es sei immer wieder zu beobachten, dass Kant von Common-SenseÜberzeugungen ausgehe und an diesen Meinungen noch nach der begrifflichen Analyse festhalte. Vgl. ders.: Transzendentale Ästhetik, §§ 1–3, in: Georg Mohr/Marcus Willaschek: Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, S. 84.
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ren Zielhorizont. Dass der Common Sense in Kants Metaphysik-Konzept eine Orientierungsfunktion hat, zeigt z. B. der vieldeutige Abschnitt über den polemischen Gebrauch der reinen Vernunft in der Methodenlehre (vgl. KrV A:738 ff./B:766 ff.). In ihm begegnet die Selbstkritik der reinen Vernunft als inner- und intersubjektives Phänomen. Kant macht deutlich, dass die Vernunft zu ihrer Entfaltung nicht nur auf innere, sondern auch auf äußere Auseinandersetzung angewiesen ist.166 Sinnbild der kritischen Prüfung der reinen Vernunft ist der Gerichtshof: „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen“ (KrV A:751/B:779, vgl. A:XI f., A:669/B:697, A:787/B:815). Der Gerichtshof fungiert einerseits als Metapher für die bereits aus der Transzendentalen Dialektik bekannte (innere) Antithetik der reinen Vernunft (vgl. KrV A:740/B:768). Zugleich bezeichnet er den notwendigen Vorgang, „seine Gedanken, seine Zweifel [. . .; RN] öffentlich zur Beurtheilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrieen zu werden“ (KrV A:752/B:780). Der Gerichtshof steht hier also für zweierlei: Er kann aus Widersprüchen zwischen eigenem Urteil und anderen eigenen Urteilen resultieren oder aus der Differenz zwischen eigenen und fremden Überzeugungen. Aber egal, worauf sich die Anklage stützt, der Gerichtshof bleibt ein innerer, die Kritik eine Selbstkritik. Widerspricht die Meinung eines anderen der unsrigen, so ist sie deshalb noch nicht wahr. Sie darf nur dazu dienen, über das eigene Urteil erneut selbst ‚zu richten‘. Kant betrachtet es auch generell als unverzichtbar, seinen Gegner stets in sich selbst zu suchen (vgl. KrV A:777/B:805). Für Kant existiert ein ursprüngliches Recht auf freie Meinungsäußerung (vgl. später z. B. Aufklärung 8:36 ff.; Spruch 8:304; SF 7:89; ApH 7:219). Es liegt darin begründet, dass die ‚menschliche Vernunft‘ „keinen anderen Richter erkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat“ (KrV A:752/B:780, vgl. Menschenkunde 25:881). Maßstab der Wahrheit für die Sätze der Vernunft kann keine externe, fremdartige Instanz sein, kein Gott und keine Apparatur. Es kann sich nicht einmal um etwas Elitäres, nur besonders Gebildeten oder Mächtigen Vorbehaltenes, handeln. Die oberste ‚Richterin‘ über das eigene Urteil ist allein die Vernunft, die sich in jedermanns Besitz befindet. Aus der Notwendigkeit, sein Urteil zur Wahrheitsprüfung an das der anderen halten zu müssen, resultiert das natürliche Recht darauf, es öffentlich machen zu können. Neben der Notwendigkeit erkennt Kant auch einen natürlichen „Trieb“, „bei Untersuchung der Wahrheit andere zurathe zu ziehen“ (Logik Busolt 24:629). 166 Vgl. Gerhardt, Volker: Die Disziplin der reinen Vernunft, 2. und 4. Abschnitt, in: Mohr/Willaschek, S. 572.
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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Der Gerichtshof ist ein einprägsames Bild für den notwendigen Prüfstand der Vernunft. Das für diese Arbeit Bedeutsame, was mit ihm in der Polemik zum Ausdruck kommt, ist aber die Rolle, die der ‚allgemeinen Menschenvernunft‘ in diesem Forum zugewiesen wird. Diese Gestalt der Vernunft offenbart nicht nur eine auch öffentliche Dimension der Selbstkritik und begründet eine gesetzlich zu sichernde Meinungsfreiheit. Die allgemeine Menschenvernunft wird von Kant ebenfalls zum Maßstab, zum ‚Probierstein‘ und ‚Probemetall‘, sowie zum Korrektiv für alle denkbaren Urteile erhoben! Dies ist von großer Relevanz, denn es handelt sich bei ihr um eine Common-Sense-Gestalt (vgl. Kapitel B. II.). Der Common Sense wird somit von Kant als Wahrheitskriterium präsentiert – nicht nur der einfachen, erfahrungsnahen, konkreten Urteile des ‚gemeinen Mannes‘, sondern sogar der höheren, komplexen, abstrakten der Wissenschaft. Unter dem Namen ‚allgemeine Menschenvernunft‘ macht Kant den Common Sense im Sinne eines Jedermannsverstandes zum Richter über jegliches Urteil, ob es vom Common Sense als Normal- bzw. Erfahrungsverstand, der spekulativen Vernunft des Metaphysikers oder einem anderen Gebrauch des Denkvermögens stammt. Da die allgemeine Menschenvernunft als Common-Sense-Synonym für diese Arbeit von zentraler Bedeutung ist, soll sie näher betrachtet werden. Wie in Kapitel B. II. ausgeführt, nutzt Kant den Terminus in der Kritik von 1781 erstmals in einer Schrift (in der oben genannten Bedeutung des Richters, vgl. A:752). Der Begriff – eine Basisidee der Aufklärung167 – ist bei Kant mehrdeutig. Im Gerichtshof-Gleichnis der Polemik kommen alle seine Bedeutungsfassetten zum Tragen. Erstens bezeichnet die allgemeine Menschenvernunft ein Vermögen, das sowohl in jedem selbst als auch in jedem anderen Menschen zu finden ist. In dieser Bedeutung wird sie als Maßstab der Kritik bzw. Wahrheit verwendet. Sein Urteil an ihr zu prüfen kann einerseits bedeuten, dieses mit anderen eigenen Urteilen oder möglichen, antizipierten Urteilen anderer zu vergleichen. Andererseits kann es beinhalten, sein Urteil öffentlich auf die Probe zu stellen, es also mit den wirklichen Urteilen der anderen zu vergleichen. – In dieser ersten, positiven Bedeutung beinhaltet die allgemeine Menschenvernunft z. B. das, was den Common Sense in moralischen Fragen sicher urteilen lässt. (Vgl. z. B. KrV A:752/B:780, B:22, Prol 4:257, Vorarbeit Ton 23:195, RGV 6:140, 6:165, Wiener Logik 24:832 f.; GMS 4:403 ff., KpV 5:91, 5:155.) Zweitens kommt mit ihr der endliche Charakter der Vernunft zum Ausdruck. Die allgemeine Menschenvernunft bezeichnet in diesem Sinne den leicht irrenden Common Sense, also dessen negativ bewertete Seite: 167
Vgl. Hinske: Grundideen, S. 434 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
„Dich auf Beistimmung der allgemeinen Menschenvernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden; denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte beruht.“ (Prol 4:277).
Als dieser niedere, gewöhnliche, erfahrungsfixierte Common Sense stellt sie bei Kant auch einen Gegenstand der Kritik dar. (Vgl. z. B. Refl. 2269, 16:293; KrV A:VIII, Prol 4:369 f.) In diesem Sinne sitzt die allgemeine Menschenvernunft im Gerichtshof sogar mit auf der Anklagebank. Denn unter der „menschlichen Vernunft“, über die zu richten ist, darf nicht nur ihr spekulativer, sondern muss ebenfalls ihr gemeiner Gebrauch verstanden werden. (Vgl. KrV A:752/B:780.)168 In ihren zwei Grundbedeutungen ist die allgemeine Menschenvernunft ein Synonym ersten Grades für den Common Sense, wie er in dieser Arbeit verstanden wird. Sie steht zum einen für den Gemeinsinn. Denn sie beinhaltet den Gedanken einer bei allen gleichen Urteilsbasis und den eines allgemeinen Standpunktes. Sie bezeichnet zum anderen auch den einfachen, empirischen Common Sense, den gesunden Menschenverstand, der seine Denkungsart zur Urteilsbildung erweitert. (Vgl. KU 5:237 ff., 5:293 ff.; Kapitel D. I. 3.) Die Idee der allgemeinen Menschenvernunft nimmt die erst in der dritten Kritik entwickelte Idee des Gemeinsinns vorweg. Insofern jeder über die allgemeine Menschenvernunft verfügt, ist nicht nur jeder auch zu einer ‚inneren Meinungsumfrage‘ in der Lage, zu einer Befragung des ‚inneren Teams‘ aus verschiedenen Standpunkten, die er zu seinem eigenen Urteil einnehmen kann. Der Begriff der allgemeinen Menschenvernunft enthält bereits den Hinweis auf die bei allen Menschen gleiche kognitive Grundstruktur, die Gemeinsamkeit an Mitteln und Mechanismen des Urteilens und Erkennens, einen sensus communis reiner Anschauungsformen, Kategorien und Urteilsprinzipien. Die allgemeine Menschenvernunft – andernorts auch als „gemeinschaftliche“, „gesammte“ Menschenvernunft bezeichnet – lässt sich als Grundidee und zugleich als Ausdruck der von Kant vielfach erhobenen Forderung verstehen, sein Urteil an dem anderer zu prüfen (vgl. z. B. Beweisgrund 2:67 f.; Träume 2:348 f.; ApH 7:219; Entdeckung 8:219; KU 5:293; Logik 168 Vgl. Hutter, Axel: Menschenvernunft, in: Kant-Lexikon. Insbesondere zur ‚allgemeinen Menschenvernunft‘ vgl. Hinske, Norbert: Kant als Herausforderung an die Gegenwart, Freiburg/München 1980, S. 35 ff.; ders.: Grundideen, S. 434 ff. sowie ders.: Nachwort zur zweiten Auflage, in: ders. (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, Darmstadt 41990, S. 552 ff. Die Zuordnung der in der ersten Kritik begegnenden ‚allgemeinen Menschenvernunft‘ zum Common Sense legt auch Thorsten Roelcke nahe – vgl. ders.: Die Terminologie der Erkenntnisvermögen. Wörterbuch und lexikosemantische Untersuchung zu Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘, Tübingen 1989, S. 71.
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9:57; Menschenkunde 25:880). Die Gleichgültigkeit gegenüber solch kritischer Urteilsprüfung wird als Egoismus bezeichnet. Kant unterscheidet z. B. zwischen logischem, metaphysischem, ästhetischem, moralischem und physischem Egoismus. (Vgl. z. B. ApH 7:128 ff.; Logik 9:80; Refl. 1482, 15:662; Refl. 1505, 15:811; Refl. 1853, 16:137; Logik Blomberg 24:187 f.; Logik Philippi 24:427 f.; Logik Pölitz 24:551 f.; Anthropologie Busolt 25:1438; Metaphysik Pölitz/L1 28:205 ff.) Den eigensinnigen Wissenschaftler, der kein Auge für das Urteil Außenstehender hat, nennt Kant auch missbilligend einen Zyklopen (vgl. Logik 9:45; ApH 7:227; Refl. 903 f., 15:394 ff.; Refl. 2020 ff., 16:198 ff.; Kapitel E. III.).169 Die Vernunft strebt in Form der allgemeinen Menschenvernunft nach Kommunikation, Übereinstimmung, Anerkennung, Teilnahme, Öffentlichkeit. So offenbart sie einen sozialen, pluralistischen, politischen, demokratischen Charakter.170 Kant entwickelt den Gedanken des Gerichtshofes unter Vorsitz der allgemeinen Menschenvernunft nicht zufällig im PolemikAbschnitt der Methodenlehre. Denn hier wird das praktische Vernunftinteresse thematisiert, welches ohne einen Bezug zur Gemeinschaft undenkbar ist. Dabei bilden interne und externe Auseinandersetzung ein analogisches Paar. Das Wesen der Vernunft ist laut Kant nicht ‚diktatorisch‘, sondern basiert auf der Zustimmung von Bürgern, die ihre Meinung frei äußern können müssen (vgl. KrV A:738 f./B:766 f.). Wie jede demokratische Politik – 169 Mit der Bedeutung, die der Vernunft der anderen bei Kant zukommt, hat sich ausführlich Josef Simon beschäftigt – vgl. ders.: Kant – Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003. 170 Wie gelingende moralische und ästhetische Urteile lassen sich bei Kant auch wahre theoretische Urteile, wenn sie aus einem allgemeinen Standpunkt heraus selbst entwickelt wurden, als Produkte einer ‚teilnehmenden‘ Vernunft begreifen (vgl. Refl. 2564 ff., 16:418 ff.; Refl. 2147, 16:252; Refl. 2213, 16:273). Insofern nur teilnehmend getroffene Urteile mitteilbar sind, könnte man sagen, die Teilhabe an der allgemeinen Menschenvernunft verpflichtet zum adäquaten Gebrauch von dieser, zu einer Teilnahme in Form der (Selbst-)Prüfung des eigenen Urteils auf Allgemeinheit. Diese Form der Teilnahme ist bei Kant vom Mitgefühl zu unterscheiden (vgl. z. B. MST 6:456 ff.). Weiterhin darf der Pluralismus in diesem Zusammenhang nicht postmodern verstanden werden. Für Kant gibt es nur eine Vernunft, aber verschiedene Gebrauchsformen von ihr. Pluralismus bezeichnet bei ihm das Gegenteil von Egoismus (vgl. z. B. ApH 7:130; KU 5:278). Der gesellschaftliche, politische Charakter der Vernunft bei Kant wurde mehrfach von Volker Gerhardt herausgearbeitet. Vgl. z. B. ders.: Interesse, S. 23; ders.: Disziplin, S. 578 ff.; ders.: Kant, S. 133 ff.; ders.: Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007. Zum politischen Charakter der Vernunft vgl. auch Saner, Hans: Widerstreit und Einheit. Wege zu Kants politischem Denken, München 1967, zum öffentlichen Charakter das Buch von Blesenkemper und zum kommunikativen z. B. Recki, Birgit: ‚An der Stelle [je]des andern denken‘. Über das kommunikative Element der Vernunft, in: dies.: Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn 2006, S. 111 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
selbst wie jede demokratische Partei – ist die Vernunft auf Streit im Sinne konstruktiven Meinungsaustauschs angewiesen. Eine Furcht vor Fehlurteilen ist bei ihren Streitigkeiten unbegründet. Die Vernunft gewinne selbst durch zur Schau gestellte Irrtümer. (Vgl. KrV A:746 ff./B:774 f.) Werden Fehleinschätzungen aber dogmatisch vorgebracht und gefährden die öffentliche Wohlfahrt, dann befürwortet Kant sogar ein pragmatisch-kluges Argumentieren mit Scheingründen (vgl. KrV A:749/B:777).171 Die allgemeine Menschenvernunft bildet ein Fundament für Kants Subjekt-Philosophie. Als oft unsichtbarer Begleiter ist sie auch da präsent, wo es scheinbar nur um die Vernunftleistungen des Einzelnen geht. Sie stellt ein Band dar, durch das der Mensch als Individuum stets mit allen anderen Menschen verbunden ist. Dieser Zusammenhang zwischen Individualität und Sozialität wird von den drei Maximen des Common Sense verdeutlicht. Die erste Maxime, das Selbstdenken, und die zweite, das Denken aus dem Blickwinkel der anderen, müssen zur Vermeidung von Irrtümern jeder Art beide befolgt werden. Davon zeugt die dritte Maxime, das konsequente, ‚mit sich einstimmige‘ Denken. Diese am meisten abverlangende ‚Denkungsart‘ wird erst durch die Verbindung der beiden ersten Maximen möglich. ‚Beharrliches‘, ‚bündiges‘, ‚gründliches‘, widerspruchsfreies Schließen nach festen Grundsätzen setzt ‚vorurteilsfreies‘ und ‚erweitertes‘ Denken voraus. Auch mit fremden oder falschen Grundsätzen lässt sich konsequent verfahren – dann sind Fehlurteile aber vorprogrammiert. Deshalb bedarf es zur ‚geläuterten‘ Denkungsart allgemeingültigen Denkens nach selbst gewählten Grundsätzen. Wer absehen will, ‚worauf etwas hinausläuft‘, muss wissen, ‚was er will‘ und ‚worauf es ankommt‘. ‚Folgerichtige Vernunft‘ braucht ‚richtigen Verstand‘ und ‚geübte Urteilskraft‘. Wer den „Werth der Dinge“ oder einen Zweck auf den ‚Endzweck‘ hin beurteilen möchte, bei dem müssen ‚zwangsfreies‘ und ‚liberales‘ Denken zu einem ‚Charakter‘ verschmolzen sein. Weisheit ist ohne Geschicklichkeit im Wissen und Können sowie Klugheit bei Vermittlung und Anwendung nicht denkbar. Selbst-, Laut- und Nachdenken gehören für Kant zusammen. Selbst, allgemein und gründlich denken sind Gebote für jedermann. (Vgl. KU 5:294 f.; ApH 7:200 f., 7:228 f.; Logik 9:57; Anthropologie Busolt 25:1480 ff.; Refl. 454 ff., 15:187 ff.; Refl. 1486, 15:715 f.; Refl. 1508, 15:820 ff.; Refl. 1531, 15:957 ff.; Refl. 2273, 16:294; Refl. 2564, 16:419.)172 171 Zur Bedeutung des Pragmatisch-Klugen für die Politik bei Kant vgl. Kapitel E. I. 172 Zu den drei Maximen vgl. Kapitel D. I. 3. sowie Kaulbach, Friedrich: Ästhetische Weltkenntnis bei Kant, Würzburg 1984, S. 140 ff.; Recki: Affinität, S. 119 ff.; Holzhey: Erfahrungsbegriff, S. 317 und Blesenkemper, S. 243 ff. Zum Zusammenhang von Selbstdenken und allgemeiner Menschenvernunft vgl. Nehring, Robert: Selbstdenken, in: Kant-Lexikon.
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Nach diesem Exkurs über die allgemeine Menschenvernunft kann der Argumentationsfaden wieder aufgenommen werden. Vor dem Hintergrund der vehementen Ausgrenzung des Common Sense aus der Metaphysik ist mit dem Zuweisen der Kontrollfunktion eine paradox wirkende Aufwertung dieses Vermögens zu konstatieren. Für Kant ist es die allgemeine Menschenvernunft, von der „alle Besserung, deren unser Zustand fähig ist, herkommen muß“ (KrV A:752/B:780). Eine Stelle aus Logik macht die Orientierungsfunktion des Common Sense für spekulatives und überhaupt wissenschaftliches Denken vollends deutlich: „Ein äußeres Merkmal oder ein äußerer Probirstein der Wahrheit ist die Vergleichung unserer eigenen mit Anderer Urtheilen, weil das Subjective nicht allen Andern auf gleiche Art beiwohnen wird, mithin der Schein dadurch erklärt werden kann. Die Unvereinbarkeit Anderer Urtheile mit den unsrigen ist daher als ein äußeres Merkmal des Irrthums und als ein Wink anzusehen, unser Verfahren im Urtheilen zu untersuchen, aber darum nicht sofort zu verwerfen. Denn man kann doch vielleicht recht haben in der Sache und nur unrecht in der Manier, d.i. dem Vortrage. Der gemeine Menschenverstand (sensus communis) ist auch an sich ein Probirstein, um die Fehler des künstlichen Verstandesgebrauchs zu entdecken. Das heißt: sich im Denken oder im speculativen Vernunftgebrauche durch den gemeinen Verstand orientiren, wenn man den gemeinen Verstand als Probe zur Beurtheilung der Richtigkeit des speculativen gebraucht.“ (Logik 9:57, vgl. Refl. 1619, 16:38 f.; Refl. 2269, 16:293; Entdeckung 8:219; Fortschritte 20:301; Brief an Lambert 10:55).173
Als allgemein verbreitetes Vermögen stellt der Common Sense für Kant ein unentbehrliches Wahrheitskriterium dar. Dazu ist in der Vorlesungsnachschrift Logik Busolt von 1790 eine Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Kriterien der Wahrheit dokumentiert. Die objektiven betreffen die (formale) Übereinstimmung der Erkenntnis mit den Gesetzen von Verstand und Vernunft (vgl. auch KrV A:57 ff./B:82 ff.). Sie allein sind aber nicht ausreichend. Zur Bestimmung der Wahrheit müssen zusätzlich zwei subjektive Kriterien erfüllt sein – die Übereinstimmung der Erkenntnis mit eigenen Erkenntnissen von anderen Gegenständen, die sich bewahrheitet haben, und die Übereinstimmung mit der Erkenntnis anderer. Zusammenfassend heißt es: „Ueberhaupt ist das wahr, was für jeder Mann gilt“ (Logik Busolt 24:629, vgl. Refl. 2577, 16:426). (Vgl. Logik Busolt 24:628 f.)174 Ihr Vorbild hat diese Differenzierung u. a. in Vom Meinen, Wissen und Glauben, einem Abschnitt der Methodenlehre der ersten Kritik. Kant unter173 Der Nutzen des Erfahrungsverstandes ‚Common Sense‘ für die Metaphysik steht bei Kant also offenbar in Analogie zum Nutzen der Erfahrung für diese. Beide fungieren als ‚Probierstein‘. (Vgl. KrV A:VIII.) 174 Ausführlicher zu den Wahrheitskriterien bei Kant vgl. Hofmann, Doris Vera: Gewißheit des Fürwahrhaltens. Zur Bedeutung der Wahrheit im Fluß des Lebens nach Kant und Wittgenstein, Berlin 2000, S. 201 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
scheidet hier mit ‚Überzeugung‘ und ‚Überredung‘ zwei Formen subjektiven „Fürwahrhaltens“. Überzeugungen sind für jedermann gültig. Sie haben einen ‚objektiven Grund‘. Überredungen verfügen nur über subjektive, private Gültigkeit. (Vgl. Kapitel D. III. 2.) Als „Probirstein des Fürwahrhaltens“ präsentiert Kant die Mitteilbarkeit eines Urteils – die mit einem begründeten Anspruch auf Zustimmung verbundene Möglichkeit seiner Mitteilung. Ist ein Urteil nicht in diesem Sinne mitteilbar, dann entbehrt es eines ‚gemeinschaftlichen Grundes‘ und es handelt sich nicht um Überzeugung, sondern bloße Überredung.175 Kant stellt noch einen zweiten Probierstein der Überzeugung vor. Auch die Herausforderung zur Wette auf das eigene Urteil befördert die Selbstkritik und ist daher geeignet, Urteile als bloß subjektive Überredung zu entlarven. In Logik kommt zum Wetten das Schwören hinzu (vgl. 9:73). Mitteilbarkeit, Wette und Schwur eint ein notwendiger Bezug zum allgemeinen Standpunkt, einem zentralen Merkmal des Common Sense. (Vgl. KrV A:820 ff./B:848 ff.; Logik 9:65 ff., KU 5:461 ff., Theodizee 8:268 f., Fortschritte 20:297, Logik Pölitz 24:541 ff.; Refl. 2422 ff., 16:359 ff.) Am Ende des Abschnitts Vom Meinen, Wissen und Glauben begegnet die Orientierungsfunktion des Common Sense noch einmal in einem anderen Kontext. Kurz zuvor entwickelt Kant, anknüpfend an die Widerlegung der traditionellen Gottesbeweise in der Transzendentalen Dialektik, seine teleologische „Moraltheologie“ (vgl. KrV A:583 ff./B:611 ff.; A:804 ff./ B:832 ff.). Obwohl in dieser die Idee ‚Gott‘ aus dem Bereich des philosophisch begründeten, objektiven Wissens in den des Hoffens verschoben wird, ist Kant aufgrund seines Nachweises einer subjektiv-moralischen Gewissheit von Gott überzeugt, an der Unentbehrlichkeit dieser Idee festhalten zu können. Angesichts dieses moralischen Gottesbeweises fragt er zum Abschluss der Passage über das Fürwahrhalten, ob zur Gewissheit von der Existenz Gottes die reine Vernunft nötig gewesen sei oder dazu nicht auch der Common Sense ausgereicht hätte. Die Antwort ist in eine Gegenfrage gekleidet: „Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntniß, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle?“ (KrV A:831/B:859). 175 Kant liefert hier bereits die Grundlage für sein Konzept der „subjektiven Allgemeinheit“, welches erst in der dritten Kritik – im Kontext der ästhetischen Urteile – zur Entfaltung kommt. Das Wahrheitskriterium der Mitteilung verweist bereits auf die dort zentrale Bedeutung der Mitteilbarkeit. Auch die erst in der Kritik der Urteilskraft beschriebene untrennbare Verbindung mit dem Gemeinsinn deutet sich schon in der Methodenlehre der ersten Kritik an. Denn hinter dem Test auf Überzeugung verbirgt sich nichts anderes als eine Probe an ‚anderer Verstand‘, ‚fremder Vernunft‘. Selbst ein Bezug zur subjektiv-notwendigen reflektierenden Urteilskraft ist schon vorgezeichnet. (Vgl. KU 5:216 ff., 5:238 f., 5:295 f., 5:462 f.; Kapitel D. I. 3.)
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Mit dieser rhetorischen Konstruktion wird der zweite Teil der Ausgangsfrage bejaht: Der Common Sense reicht aus, Gewissheit von der Existenz Gottes zu erlangen. Mehr noch. Dass der gemeine Verstand mit dieser Erkenntnis übereinstimmt, sei „die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen“. Was Kant hier zum Ausdruck bringt, ist aber viel allgemeiner. Die Antworten auf die Grundfragen, welche die Menschen beschäftigen, sind nicht der Philosophie oder überhaupt der Wissenschaft vorbehalten. Auch der Common Sense als das gewöhnliche Denkvermögen in jedermanns Besitz ist zu ihnen in der Lage. Dieser Gedanke kulminiert in der sich anschließenden These, dass „die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie [die Natur; RN] auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen“ (KrV A:831/B:859).
Die bemerkenswerte Anerkennung, die dem Common Sense an dieser Stelle zuteil wird, darf nicht im Sinne einer Überlegenheit gegenüber der Wissenschaft verstanden werden. Der Common Sense ist hier wie schon andernorts von negativem Nutzen. Wenn ein wissenschaftliches Ergebnis bei einer das Grundinteresse der Menschen betreffenden Frage im Gegensatz zur Common-Sense-Überzeugung steht, kann das für die Wissenschaft nur einen Anlass zur Selbstprüfung bedeuten, keinen zur Selbstaufgabe.176 Dass sich der Common Sense schließlich auch als Zielhorizont der Metaphysik verstehen lässt, stellt Kant mit der ‚Philosophie nach dem Weltbegriff‘ unter Beweis. Diese Idealvorstellung von Philosophie begegnet in der Architektonik der Methodenlehre und in Logik (vgl. KrV A:838 ff./ B:866 ff.; Logik 9:23 ff.; Wiener Logik 24:798 ff.). Philosophie nach dem Weltbegriff wird gekennzeichnet als „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntniß auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“. Sie benutzt die ‚Vernunftkünste‘ der Einzelwissenschaften und philosophischen Disziplinen zur Beförderung der letzten Zwecke der Vernunft. Unter einem Weltbegriff („conceptus cosmicus“) versteht Kant, „was jedermann nothwendig interessirt“. Philosophie nach dem Weltbegriff, oder in ‚weltbürgerlicher Bedeutung‘, orientiert sich demnach 176 Es ist nicht nötig, an dieser Stelle näher auf die Bedeutung des Common Sense für die Gottesbeweisproblematik bei Kant einzugehen, da dies bereits in Kapitel D. I. 4. geschehen ist. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft wird – wenn auch modifiziert – wiederholt, was in der ersten Kritik ausführlich dargelegt ist (vgl. KrV A:583 ff./B:611 ff.; A:804 ff./B:832 ff.). Mit der Zuordnung des physikotheologischen Gottesbeweises zum Common Sense (vgl. KrV A:623/B:651) attestiert Kant diesem Vermögen bereits in der ersten Kritik Unwissenschaftlichkeit und leichte Fehlbarkeit. Er bringt ihm aber bemerkenswerter Weise in demselben Kontext auch Wertschätzung für die Sicherheit seines Urteils entgegen. Überdies wirkt die indirekte Berufung auf den Common Sense im Zusammenhang des moralischen Gottesbeweises bereits in der Kritik der reinen Vernunft bedenklich.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
am allgemeinen Interesse der Menschen. Dieses ist – wie bereits gezeigt – gleichbedeutend mit dem Interesse der allgemeinen Menschenvernunft, des Common Sense. Die wesentlichen, letzten Zwecke der Vernunft kommen in den Fragen „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich thun?“, „Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ zum Ausdruck, wobei die ersten drei auf die vierte hinauslaufen (KrV A:805/B:833; Logik 9:25). Obwohl Kant der Bestimmung des Menschen hier die Bedeutung des Endzwecks zuweist und sie als Aufgabe der Moralphilosophie darstellt, sieht er den ‚Hauptzweck‘ in der ‚allgemeinen Glückseligkeit‘ (vgl. KrV A:840/B:868, A:851/B:879).177 Kant setzt die Philosophie nach dem Weltbegriff der nach dem Schulbegriff entgegen. Letztgenannte begnügt sich mit der bloßen Systematisierung der Erkenntnis, ihrer logischen Vollkommenheit. Diese Schulphilosophie vermittelt nur „Geschicklichkeiten zu gewissen beliebigen Zwecken“ (KrV A:839/B:867). Ihre Eleven gleichen einem „Gipsabdruck von einem lebenden Menschen“ (KrV A:836/B:864). Philosophie nach dem Schulbegriff lehrt Philosophie, nicht aber zu philosophieren. Philosophie nach dem Weltbegriff dagegen ist der „Nützlichkeit“ im Sinne von „Weisheit“ verpflichtet. Sie hat das Wesentliche als Zielhorizont im Blick. Die Verbindung von Wissenschaft und praktischem Interesse macht sie zur ‚eigentlichen‘ Philosophie. (Vgl. Logik 9:24 ff.) Auf den Nutzenaspekt der Philosophie geht Kant auch in der B-Vorrede der ersten Kritik ein. Dort übt er ebenfalls scharfe Kritik an der Schulphilosophie. In ihrem Dogmatismus verfehle sie das „Interesse der Menschen“. Der Philosoph sei stets Diener „einer dem Publicum ohne dessen Wissen nützlichen Wissenschaft“. Deshalb dürfe sich die Schulphilosophie ‚in allgemeinen Angelegenheiten‘ keine höheren Erkenntnisse anmaßen als solche, zu denen auch der Common Sense – bzw. „die große (für uns achtungswürdigste) Menge“ – gelangen könne. (Vgl. KrV B:XXXI ff., A:VIII ff.) Philosophie nach dem Weltbegriff – Philosophie, wie Kant sie befürwortet – orientiert sich also am Common Sense. Sein Interesse bildet ihren Zielhorizont. Das bedeutet nicht, dass die Vernunft in dieser Wissenschaft nur auf ihrem untersten Niveau tätig werden darf, sondern, dass ihre Ergebnisse auch außerhalb des ‚Elfenbeinturms‘ brauchbar sein müssen. Helmut Holzhey hat diesen Zusammenhang so ausgedrückt: „Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes ist Philosophie nach dem Weltbegriffe [. . .; RN]. Sie übernimmt damit eine Aufgabe, die [. . .; RN] in der Forde177 Zum Interpretationsproblem ‚Endzweck – Hauptzweck‘ vgl. Höffe, Otfried: Architektonik und Geschichte der reinen Vernunft, in: Mohr/Willaschek, S. 631 ff. Zur gesamten Problematik der Philosophie nach dem Weltbegriff vgl. Holzhey: Erfahrungsbegriff, S. 301 ff.
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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rung des gemeinen Menschenverstandes nach Bescheidung des Wissensdranges auf das wirklich Nützliche seinen Ausdruck findet. Sie löst diese Aufgabe nicht unter dem Diktat des gemeinen Menschenverstandes, sondern erfüllt dessen Verlangen“178.
Das Konzept ‚Philosophie nach dem Weltbegriff‘ führt spekulative und gemeine Vernunft also unter einem Dach zusammen – dem der Metaphysik als Wissenschaft. Jede der beiden kann als Maßstab der anderen fungieren. 2. Theoretisch-reflektierende Urteilskraft Kant weist in der Kritik der Urteilskraft darauf hin, dass das Projekt der ersten Kritik ohne eine Analyse der Urteilskraft, wie sie erst die dritte Kritik leistet, unvollständig ist. Seine Konzentration auf die im Nachhinein so genannte bestimmende Urteilskraft nötigt ihn später zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der reflektierenden Urteilskraft. (Vgl. KU 5:167 ff., 5:179 ff., 5:183 ff.; EE 20:205, 20:212; Kapitel D. I. 2.). Im Folgenden sollen relevante Funktionen reflektierender Urteilskraft in Kants kritischer Erkenntnistheorie herausgearbeitet werden, Leistungen einer – wie sie in der dritten Kritik genannt wird – ‚theoretisch-reflektierenden Urteilskraft‘ (vgl. KU 5:447, 5:455 ff.). Aufgrund der Analogie von Common Sense und reflektierender Urteilskraft könnten sie den Nutzen des Common Sense, bzw. seiner charakteristischen Eigenschaften und verschiedenen Formen, für die theoretische Philosophie unterstreichen. Dass die erste Kritik Momente reflektierender Urteilskraft beinhaltet, signalisiert bereits die Überschrift der Abschlusspassage der Transzendentalen Analytik: Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. In diesem Abschnitt geht Kant dem Problem der Verwechslung von empirischem und transzendentalem Verstandesgebrauch nach. Dabei unterscheidet er zwischen transzendentaler und logischer Reflexion. Die Letztgenannte vergleicht Begriffe, die ‚transzendentale Überlegung‘ dagegen Vorstellungen mit den Erkenntniskräften, was einen Vergleich der Begriffe erst ermöglicht. Die transzendentale Reflexion beinhaltet einen Vergleich auf vier Eigenschaftspaare hin: ‚Einerleiheit – Verschiedenheit‘, ‚Einstimmung – Widerstreit‘, ‚Inneres – Äußeres‘ und ‚Bestimmbares (Materie) – Bestimmung (Form)‘. Diese acht Gesichtspunkte nennt Kant „Vergleichungsbegriffe“ bzw. „Reflexionsbegriffe“. Sie werden von den Kategorien unterschieden, die sich als Determinationsbegriffe verstehen lassen. Die transzendentale Reflexion geht als subjektive Urteilsbedingung jedem objektiven Urteilen voraus. Als durch Vergleich zustande kommendes Bewusstsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu den Erkenntnisquellen ist sie unentbehrlich, um Vorstel178
Holzhey: Erfahrungsbegriff, S. 307.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
lungen in einem Urteil auf einen Gegenstand beziehen zu können. (Vgl. KrV A:260 ff./B:316 ff.) In der transzendentalen Reflexion muss – wie der Name schon sagt – eine Leistung transzendentaler theoretisch-reflektierender Urteilskraft gesehen werden. Im vorbegrifflichen Stadium, in dem sie tätig ist, übt noch kein Allgemeines einen bestimmenden Einfluss aus. In ihrer Funktion des Zuordnens, des ‚Vorsortierens‘, stellt die transzendentale Überlegung eine Orientierungsleistung dar, ohne die keine Erkenntnis möglich ist.179 Diese transzendentale Reflexion begegnet später in § 21 der dritten Kritik wieder. Auch wenn Kant den Terminus nicht erwähnt, muss doch sie gemeint sein, wenn dort von einer mitteilbaren vorbegrifflichen Proportion bzw. Reflexion die Rede ist, die jeder Erkenntnis vorausgeht (vgl. Kapitel D. I. 3., D. III. 3.). Eine Leistung reflektierender Urteilskraft offenbart auch das Schematismus-Kapitel, das ebenfalls Bestandteil der Transzendentalen Analytik ist (vgl. KrV A:137 ff./B:176 ff.). Dieser überaus dunkle Textabschnitt ist von zentraler Bedeutung für Kants Transzendentalphilosophie. Er enthält den Versuch einer abschließenden Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori. Untersucht werden die Regeln transzendentaler theoretisch-bestimmender Urteilskraft.180 Das Kapitel widmet sich der Frage, wie reine Verstandeskategorien auf Erscheinungen anwendbar sind. Grundsätzlich müssen zur Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff die Vorstellungen beider „gleichartig“ sein. Begriff und Gegenstand müssen derart zueinander passen, dass der Begriff die Vorstellung vom Gegenstand enthält. Da die Diskrepanz zwischen reinen Verstandesbegriffen und sinnlicher Anschauung zu groß ist, wird ein Drittes benötigt, das beiden gleichartig ist – eine Vorstellung, die erfahrungsfrei und sowohl intellektuell als auch sinnlich ist. Kant nennt sie das ‚transzendentale Schema‘. Es soll gewährleisten, dass der richtige Begriff auf das Anschauungsmaterial angewendet wird. (Vgl. KrV A:137 f./ B:176 f.) Das transzendentale Schema ist ein Produkt reiner produktiver Einbildungskraft. Es beinhaltet eine transzendentale Zeitbestimmung. Aber auch 179 Die Orientierungsfunktion der transzendentalen Überlegung wird auch von Rudolf A. Makkreel betont. Vgl. ders.: Einbildungskraft, S. 211 ff. 180 Interpretationsschwierigkeiten und -möglichkeiten sowie Forschungsliteratur hinsichtlich des Schematismus-Kapitels thematisieren z. B. Höffe: Kant, S. 107 ff. sowie Seel, Gerhard: Die Einleitung in die Analytik der Grundsätze, der Schematismus und die obersten Grundsätze, in: Mohr/Willaschek, S. 217 ff. und Düsing, Klaus: Schema und Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Lothar Kreimendahl (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Studien zur Philosophie und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 47 ff.
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die empirische Bestimmung einer Erscheinung erfordert ein Schema. Es dient empirischen Begriffen als Verfahrensregel, nach der aus dem Begriff heraus ein Bild beschrieben wird. Dieses Bild wird durch empirische produktive Einbildungskraft hervorgebracht. Es enthält stellvertretend und anschaulich die wesentlichen Eigenschaften des Begriffsinhalts, mit denen etwaige Ähnlichkeiten mit dem Gegenstand erkannt werden können. Im Gegensatz zu empirischen Begriffen schematisieren reine Verstandesbegriffe nicht zu Bildern, sondern ermöglichen diese erst. Das reine Schema der Kategorie ‚Quantität‘ etwa ist die Zahl überhaupt. Es macht diese Kategorie erst anwendbar, indem es z. B. eine Addition ermöglicht, sobald besondere Begriffe wie die Zahl ‚Fünf‘ gegeben sind. Das Schema des Begriffs ‚Fünf‘ dagegen führt beispielsweise zu einem Bild mit fünf Punkten. Wird diese Anschauung mit der Anschauung von ‚Sieben‘ in Addition zusammengebracht, so entsteht das Resultat ‚Zwölf‘ als ein synthetisches Urteil a priori. (Vgl. KrV A:138 ff./B:177 ff., B:15 f.) Im Ergebnis der Schematismus-Lehre – deren Rolle der der Typik in der zweiten Kritik vergleichbar ist – vermittelt das transzendentale Schema zwischen Begriff und Anschauung. Es gewährleistet einerseits eine angemessene Anwendung der Kategorien auf Objekte der Sinnlichkeit. Andererseits beschränkt es diese Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung. (Vgl. KrV A:146 f./B:185 f.) Die bestimmende Urteilskraft vermag die im Schematismus-Kapitel geschilderte Verknüpfung von Verstand und Sinnlichkeit aber nicht allein herzustellen. Sie setzt eine Leistung der reflektierenden Urteilskraft voraus. Dieser Gedanke ist von Max Liedtke plausibel gemacht worden. Liedtke hat gezeigt, dass die reine produktive Einbildungskraft beim Bilden der Schemata reflektierend verfahren muss. Nur vergleichend und nicht bestimmend könne sie so Disparates wie reine Verstandesbegriffe und sinnliche Anschauung durch ein Schema verbinden, das beiden angemessen sei und die Bestimmung des Gegenstandes erlaube.181 Liedtkes These lässt sich auf die empirische produktive Einbildungskraft übertragen. Auch die Bestimmung eines Gegenstandes mithilfe eines empirischen Begriffes erfordert eine reflektierende Leistung. Durch sie kommt das Bild zustande, das mit Begriff und Anschauung kompatibel ist. Kant unterlässt es, einen Zusammenhang zwischen Schematismus und transzendentaler Überlegung herzustellen. Da mit dem Schema Begriffe vermittelt werden, ist aber davon auszugehen, dass die vorbegriffliche transzendentale Reflexion seiner Bildung vorausgehen muss. Insofern die transzendentale Überlegung Vorstellungen nicht mit Begriffen, sondern mit Erkenntniskräften vermittelt, von denen sie hervorgebracht werden, 181
Vgl. Liedtke, S. 157 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
geht sie ebenfalls der Reflexion der reinen produktiven Einbildungskraft voraus. Deutlicher gibt sich die theoretisch-reflektierende Urteilskraft im Anhang zur Transzendentalen Dialektik zu erkennen. Auch die Analogie zum Common Sense wird hier klarer. Unter der Überschrift Von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft untersucht Kant die Erkenntnisfunktion der Vernunftideen (vgl. KrV A:642 ff./B:670 ff.). Das Ergebnis: Ihnen kommt nur regulative, keine konstitutive Bedeutung zu, da sie nichts über die Wahrheit eines Gegenstandes aussagen, sondern dem Verstand lediglich den Weg zu ihr weisen. Die Vernunft schafft generell „keine Begriffe (von Objecten), sondern ordnet sie nur“ (KrV A:643/B:671). Indem sie die Verstandesbegriffe, die „besonderen Erkenntnisse“, mittels ihrer Ideen in einen (größeren) Zusammenhang stellt, verleiht sie ihnen Einheit – eine „systematische Einheit“ oder „Vernunfteinheit“. Auf diese Weise vollbringen die regulativ gebrauchten Ideen eine unentbehrliche Orientierungsleistung. (Vgl. KrV A:642 ff./B:670 ff.) Den Unterschied zwischen regulativer und konstitutiver Bedeutung der Ideen kennzeichnet Kant veranschaulichend als den zwischen hypothetischem und apodiktischem Vernunftgebrauch: „Wenn die Vernunft ein Vermögen ist, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, so ist entweder das Allgemeine schon an sich gewiß und gegeben, und alsdann erfordert es nur Urtheilskraft zur Subsumtion, und das Besondere wird dadurch nothwendig bestimmt. Dieses will ich den apodiktischen Gebrauch der Vernunft nennen. Oder das Allgemeine wird nur problematisch angenommen und ist eine bloße Idee; das Besondere ist gewiß, aber die Allgemeinheit der Regel zu dieser Folge ist noch ein Problem: so werden mehrere besondere Fälle, die insgesammt gewiß sind, an der Regel versucht, ob sie daraus fließen; und in diesem Falle, wenn es den Anschein hat, daß alle anzugebende besondere Fälle daraus abfolgen, wird auf die Allgemeinheit der Regel, aus dieser aber nachher auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind, geschlossen. Diesen will ich den hypothetischen Gebrauch der Vernunft nennen.“ (KrV A:646 f./B:674 f.).
An dieser Stelle wird die Strukturgleichheit zwischen den Paaren ‚regulativer – konstitutiver‘ oder ‚hypothetischer – apodiktischer Gebrauch der Vernunft‘ und ‚reflektierende – bestimmende Urteilskraft‘ augenfällig. Da sie in der Forschungsliteratur zur Genüge herausgearbeitet wurde, muss hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden, dass die reflektierende Urteilskraft der Aufstieg vom gegebenen Besonderen zum Allgemeinen charakterisiert und die bestimmende Urteilskraft das Hinabgehen vom gegebenen Allgemeinen zum Besonderen (vgl. Kapitel D. I. 2.).182 Die reflektierende Ur182
Vgl. Stadler, August: Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Berlin 1874, S. 36 ff.; Marc-Wogau, S. 19, 23; Zocher, Rudolf: Kants Grundlehre. Ihr Sinn, ihre Problematik, ihre Aktualität, Erlangen 1959, S. 14, 64 ff.,
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teilskraft ist also auch in Form des regulativen oder hypothetischen Vernunftgebrauchs bereits in der ersten Kritik enthalten. Selbst die notwendige Ergänzung, die dieses Verfahren für die bestimmende Urteilskraft darstellt, begegnet hier: Es sorgt für die Idee „von der Form eines Ganzen der Erkenntniß, welches vor der bestimmten Erkenntniß der Theile vorhergeht“ (KrV A:645/B:673). Klarer als die Orientierungsleistung der Einbildungskraft im Rahmen des Schematismus-Kapitels steht also der erkenntnisleitende Charakter des regulativen oder hypothetischen Vernunftgebrauchs in Analogie zur Orientierungsfunktion des Common Sense für die Metaphysik. Regulativen oder hypothetischen Vernunftgebrauch, reflektierende Urteilskraft und Common Sense eint ein zwar unbestimmter, aber notwendig vorbereitender und komplettierender Charakter. Dieser Eindruck bestätigt sich im zweiten Teil des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik. Kants Betrachtung der transzendentalen Ideen ‚Seele‘, ‚Welt‘ und ‚Gott‘ unterstreicht nicht nur, dass dem regulativen Vernunftgebrauch die Idee der Zweckmäßigkeit zugrunde liegt, welche in der dritten Kritik als transzendentales Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ausgewiesen ist. Es gibt sich auch – vor allem im Kontext der Gottesidee – bereits zu erkennen, was in der Kritik der Urteilskraft als ‚teleologisch-reflektierende Urteilskraft‘ näher untersucht wird.183 Denn die transzendentalen Ideen beinhalten notwendige Als-ob-Betrachtungsweisen, etwa die, alles in der Welt so zu betrachten, als ob es einer „allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre“ (KrV A:686/B:714). Regulativer Vernunftgebrauch und teleologische Urteilskraft beinhalten beide einen ‚Vergleich‘ empirischer Begriffe mit Vernunftideen, der eine Erweiterung der Erfahrungserkenntnis bewirkt. Auf die Analogie zwischen teleologischer Urteilskraft und dem nach zwangslosen Begriffen zweckmäßig urteilenden Common Sense wurde in Kapitel D. I. 4. ausführlich eingegangen. Im Dialektik-Anhang begegnet auch der Begriff ‚Witz‘ (vgl. KrV A:649/B:677, A:654/B:682). Wie Max Liedtke und zuletzt Gottfried Gabriel nachgewiesen haben, handelt es sich bei diesem um eine weitere Entsprechung der reflektierenden Urteilskraft in der Kritik der reinen Vernunft.184 Kant stellt den Leichtsinn des Witzes hier in Opposition zum 86 ff.; Liedtke, S. 109 ff. und Model, S. 218 ff. Bestritten wird eine allzu große Nähe z. B. von Frost, Walter: Der Begriff der Urteilskraft bei Kant, Halle 1906, S. 9; Bartuschat, S. 52 und Peter, S. 3 f., 60, 70 ff. 183 Vgl. auch Horstmann, Rolf-Peter: Der Anhang zur transzendentalen Dialektik, in: Mohr/Willaschek, S. 537 f. 184 Vgl. Liedtke, S. 92 ff.; Gabriel, Gottfried: Der ‚Witz‘ der reflektierenden Urteilskraft, in: Rodi, S. 197 ff. Zum Witz bei Kant im Allgemeinen vgl. Ritzel, Wolf-
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Scharfsinn, der an anderer Stelle einer gründlich verfahrenden Urteilskraft zugewiesen wird (vgl. KrV A:654/B:682; Refl. 463 ff., 15:190 ff.).185 Das Verhältnis von sorglosem Witz und sorgfältiger Urteilskraft ist dem von reflektierender und bestimmender Urteilskraft überaus ähnlich. Näheren Aufschluss bieten in diesem Zusammenhang die Anthropologie sowie zahlreiche nachgelassene Reflexionen und Vorlesungsnachschriften. Unter Witz („ingenium“) versteht Kant im Unterschied zum heutigen Sprachgebrauch die Fähigkeit, durch Vergleich Ähnlichkeiten unter verschiedenartigen Vorstellungen festzustellen (vgl. ApH 7:220). Der Witz ist frei und spielerisch. Er bildet ein Gegensatzpaar mit der strengen, ernsthaften Urteilskraft: „So wie das Vermögen zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden Urtheilskraft, so ist dasjenige zum Besondern das Allgemeine auszudenken der Witz (ingenium). Das erstere geht auf Bemerkung der Unterschiede unter dem Mannigfaltigen, zum Theil Identischen; das zweite auf die Identität des Mannigfaltigen, zum Theil Verschiedenen.“ (ApH 7:201, vgl. 7:221; Refl. 463 ff., 15:190 ff.; Anthropologie Collins 25:132 ff.; Menschenkunde 25:959 ff.).
Den Witz eint mit der reflektierenden Urteilskraft die Suche des Allgemeinen zum Besonderen, die Urteilskraft mit der bestimmenden Urteilskraft die Bestimmung des Besonderen aus dem Allgemeinen (vgl. KU 5:179; EE 20:211; Logik 9:131). Beide sind auch aufeinander angewiesen. Der Witz bedarf „nachher der Urtheilskraft, um das Besondere unter dem Allgemeinen zu bestimmen und das Denkungsvermögen zum Erkennen anzuwenden“ (ApH 7:220). Die Urteilskraft benötigt aber auch den Witz, denn dieser „verschafft den Stoff zum Denken“ (Refl. 464, 15:191, vgl. ApH 7:221). Auch der Witz steht demnach in Analogie zur reflektierenden Urteilskraft. Deutliche Parallelen bestehen ebenfalls zum hypothetischen Vernunftgebrauch. Weiterhin ist der Witz unentbehrlich zu so genannten „vorläufigen Urteilen“ (vgl. Anthropologie Friedländer 25:516; Refl. 472, 15:195). Von ihnen wird gleich zu sprechen sein. Eine Analogie besteht außerdem zum Common Sense. Für diesen ist nicht nur ebenfalls das Verfahren der reflektierenden Urteilskraft charakteristisch, ihn kennzeichnet auch so genannter ‚Mutterwitz‘, der im Gegensatz zum künstlich erworbenen ‚Schulwitz‘ ein gesundes Urteilsvermögen darstellt, eine Form natürlicher Lebensgang: Kant über den Witz und Kants Witz, in: Kant-Studien 82.1991, S. 102 ff. und Nehring, Robert: Witz, in: Kant-Lexikon. 185 Vgl. Liedtke, S. 100 ff. Der Begriff ‚Scharfsinn‘ oder „Scharfsinnigkeit“ wird von Kant nicht eindeutig verwendet. Einerseits wird er nur der ‚genauen‘ Urteilskraft zugeschrieben, andererseits bezeichnet er sowohl den ‚vorzüglichsten‘, ‚subtilen‘ Gebrauch dieser Urteilskraft als auch den des Witzes (vgl. ApH 7:201; Refl. 463 ff., 15:190 ff.).
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klugheit. Kant bezeichnet den Mutterwitz als eine „natürliche Fähigkeit“ des Common Sense. Witz aber, verstanden als schnelle Auffassungsgabe, Einfallsreichtum, als ‚heuristische Kunst‘, spricht er dem nüchternen Common Sense ab (vgl. ApH 7:139 f., 7:201; KrV A:133/B:172; Logik Blomberg 24:299). Am greifbarsten wird die Wirksamkeit einer dem Common Sense analogen reflektierenden Urteilskraft in Kants Auseinandersetzung mit den Modi des Fürwahrhaltens in der Kanonik der Methodenlehre. Unter diesen sind sogar Formen, die sich eindeutig dem Common Sense zuordnen lassen. Da die gleiche Problematik in den letzten beiden Abschnitten der Einleitung zu Kants Logik ausführlicher dargestellt wird, orientiert sich der Nachweis primär an dieser Schrift (vgl. 9:65 ff.; KrV A:820 ff./B:848 ff.; Refl. 2449 ff., 16:372 ff.; KU 5:461 ff.; Ton 8:396 f.; Fortschritte 20:297 ff.).186 Das Meinen definiert Kant als „problematisches“ Urteilen, das vom Bewusstsein begleitet ist, falsch sein zu können. Der ‚Erkenntnisgrund‘ von Meinungen ist subjektiv und objektiv unzureichend. Kant betont aber, dass beinahe jedem Erkennen ein Meinen vorausgeht, vorausgehen muss: „Man muß erst meinen, ehe man annimmt und behauptet, sich dabei aber auch hüten, eine Meinung für etwas mehr als bloße Meinung zu halten. Vom Meinen fangen wir größtentheils bei allem unserm Erkennen an. Zuweilen haben wir ein dunkles Vorgefühl von der Wahrheit, eine Sache scheint uns Merkmale der Wahrheit zu enthalten; wir ahnen ihre Wahrheit schon, noch ehe wir sie mit bestimmter Gewißheit erkennen.“ (Logik 9:66 f., 9:109).
Da sich die Gültigkeit von Meinungen auf empirische Erkenntnis beschränke, es also keine Meinung a priori geben könne, verortet Kant den Gebrauch des Meinens in der Wissenschaft in Erfahrungswissenschaften wie Physik und Psychologie. Wo wie in Mathematik, Metaphysik und Moralphilosophie apriorische Erkenntnisse im Mittelpunkt stehen, könne das Meinen nur von eingeschränkter Bedeutung sein. Es ist bemerkenswert, dass Kant das Meinen nicht kategorisch aus den letztgenannten Wissenschaften ausschließt. Seine Ablehnung gilt lediglich einem überbewerteten oder gar ausschließlichen Meinen. Es sei inakzeptabel, hier nur zu meinen. (Vgl. Logik 9:66 f.) Meinungen kennzeichnet Kant auch als vorläufige Urteile. Sie stellen Antizipationen dar, Maximen für die Nachforschung: „Ein vorläufiges Urtheil ist ein solches, wodurch ich mir vorstelle, daß zwar mehr Gründe für die Wahrheit einer Sache, als wider dieselbe da sind, daß aber diese Gründe noch nicht zureichen zu einem bestimmenden oder definitiven Urtheile, dadurch ich geradezu für die Wahrheit entscheide. Das vorläufige Urtheilen ist 186 Zur Tragweite der Modi des Fürwahrhaltens vgl. insbesondere Hofmann, v. a. S. 116 ff. sowie Simon: Die fremde Vernunft, v. a. S. 67 ff., 125 ff.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
also ein mit Bewußtsein bloß problematisches Urtheilen.“ (Logik 9:74). „Die vorläufigen Urtheile sind sehr nöthig, ja unentbehrlich für den Gebrauch des Verstandes bei allem Meditiren und Untersuchen. Denn sie dienen dazu, den Verstand bei seinen Nachforschungen zu leiten und ihm hierzu verschiedene Mittel an die Hand zu geben.“ (Logik 9:75).
Vorläufige Urteile sind außerdem Voraussetzung für „Erfindungen und Entdeckungen“. Werden sie jedoch als Grundsätze betrachtet, als objektiv gültig bzw. ‚bestimmend‘, dann stellen vorläufige Urteile Vorurteile dar. Aber auch wenn Kant zur Vorsicht bei der Ableitung von Erkenntnisansprüchen aus diesen Meinungen mahnt, weist er ihnen doch großen Nutzen für die Erkenntnis zu. (Vgl. Logik 9:66, 9:74 ff.; ApH 7:223 f.; MST 6:478; Refl. 535, 15:233.)187 Unter Glauben versteht Kant ein „assertorisches“ Urteilen, dessen Ergebnis für subjektiv, aber nicht für objektiv notwendig gehalten wird. Es gilt nur für einen selbst. Das Glauben wird ebenfalls vom Bewusstsein der ‚Unvollständigkeit‘ begleitet, unterscheidet sich aber vom Meinen dadurch, dass es für ausreichend gehalten wird, danach zu handeln. (Vgl. Logik 9:66 ff.) Wissen oder Gewissheit wird subjektiv wie objektiv für notwendig erachtet. Rationale Gewissheit, wie bei apriorischem Erkennen in Mathematik und Philosophie, bedeutet ein ‚apodiktisches‘ Urteilen. Bei empirischer Gewissheit, ob aus eigener oder fremder Erfahrung, handelt es sich um ‚assertorisches‘ Urteilen. (Vgl. Logik 9:66, 9:70 ff.) Überredungen stellen ein unzureichendes Fürwahrhalten dar. Indem mit ihnen Ungewisses für gewiss gehalten wird, unterscheiden sie sich von den Meinungen. Gemeinsam ist ihnen aber der vorhergehende Charakter: Den meisten Überzeugungen gehen Überredungen voraus. Unter Überzeugungen rechnet Kant subjektiv ausreichendes Geglaubtes (insbesondere den ‚moralischen Vernunftglauben‘) und objektiv ausreichendes Gewisses. Um von der Überredung zur Überzeugung zu gelangen, bedarf es zuerst der Überlegung, dann der Untersuchung. (Vgl. Logik 9:72 f.) 187 Vorläufiges Urteilen oder Meinen ist besonders charakteristisch für den Common Sense. Dass diesen Modi auch in der Wissenschaft die Funktion eines Orientierung gebenden Ausgangspunktes zugewiesen wird, kann als Berücksichtigung des Common Sense im Bereich szientifischen Forschens betrachtet werden. Die Bedeutung des Common Sense als notwendiges Vorverständnis ist in Zusammenhang mit der die Kritik der reinen Vernunft strukturierenden These zu betrachten, alle Erkenntnis fange mit sinnlicher Anschauung an, gehe von da zu Verstandesbegriffen und von dort zu Vernunftideen (vgl. KrV A:298/B:355, A:643/B:671, A:702/B:730). Eine Parallele besteht selbst zum Vorgang der Begriffsbildung. Begriffe entstehen durch Komparation (Vergleich von Vorstellungen), dann Reflexion („Überlegung“ hinsichtlich des Gemeinsamen) und schließlich Abstraktion (Absonderung unwesentlicher Unterschiede) (vgl. Logik 9:94 f.).
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Unter Wahrscheinlichkeit versteht Kant ein unzureichendes Fürwahrhalten, dessen Gründe den Gründen der Gewissheit näher sind als die Gründe des Gegenteils. Sie wird durch einen Vergleich der Gründe am Maßstab der Gewissheit beurteilt. (Vgl. Logik 9:81 f.) In einer Hypothese sieht Kant schließlich ebenfalls nur eine „Annäherung zur Gewißheit“. Zu hypothetischem Fürwahrhalten muss u. a. die Voraussetzung ausreichend sein, andere Erkenntnisse als Folgen aus ihr zu erklären: „Eine Hypothese ist ein Fürwahrhalten des Urtheils von der Wahrheit eines Grundes um der Zulänglichkeit der Folgen willen, oder kürzer: das Fürwahrhalten einer Voraussetzung als Grundes.“ (Logik 9:84).
Hypothesen kommen durch „Induction“ zustande. Da sie nur ein ‚Als ob‘ formulieren, können sie bestenfalls ein „Analogon der Gewißheit“ darstellen. Während Kant Hypothesen in Naturwissenschaften für unentbehrlich hält, lehnt er ihren Gebrauch in Wissenschaften wie Mathematik und Metaphysik ab. Seine kritische Philosophie lehrt den Leser allerdings – wie im Rahmen des regulativen, hypothetischen Vernunftgebrauchs – etwas anderes. (Vgl. Logik 9:84 ff.; KrV A:642 ff./B:670 ff., A:769 ff./B:797 ff.) Meinung, vorläufiges Urteil, Glaube, empirische Gewissheit, Überredung, Überzeugung, Wahrscheinlichkeit und Hypothese – sie alle kommen durch reflektierende Urteilskraft zustande. Sie entstehen vom Konkreten, Einzelnen ausgehend, formulieren nur subjektive Notwendigkeit, haben lediglich regulative Erkenntnisfunktion. Kant beschreibt sie als Formen eines orientierenden Vorverständnisses. Er spricht in ihrem Zusammenhang von „Analogie“, „Induction“ oder „Überlegung“. Es deutet sich auch eine Opposition zur bestimmenden Urteilskraft an. Meinungen und vorläufige Urteile werden z. B. ausdrücklich „bestimmenden“, „definitiven“ Urteilen entgegengesetzt (vgl. Logik 9:66, 9:75). Jedem Erkennen bzw. ‚Behaupten‘ gehe ein Meinen, ‚Ahnen‘, ‚Wittern‘, ‚Vermuten‘ voraus. Bestimmende Urteilskraft führt zu rationaler Gewissheit, die auf apriorischem Schließen bzw. auf Beweis und ‚Untersuchung‘ basiert. Aus den gleichen Gründen lassen sich die genannten Modi auch als Modi des Common Sense betrachten. Sie gehören zu seinem Sinnbezirk. Den Common Sense charakterisieren z. B. Meinungen. Als ‚gesundes‘ Vermögen ist er sich ihrer Fehlbarkeit bewusst, als ‚gemeines‘ tendiert er aber zu Vorurteil und Überredung (vgl. Kapitel B. I., B. II.). Typisch für den Common Sense ist auch ein Glauben. Er vertritt Überzeugungen, die für den Einzelnen in dem Maße zulänglich sind, dass er nach diesen handelt. Den Common Sense kennzeichnet ebenfalls ein Wissen. Er hält Verschiedenes für (empirisch) so gewiss, dass er behauptet, es gelte für jedermann. Schließlich fällt der Common Sense nur wahrscheinliche, hypothetische, keine apodiktischen Urteile. Er beweist nicht, er vermutet und nimmt an.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Indem Kant den Modi des Fürwahrhaltens eine Unentbehrlichkeit für die Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis attestiert, weist er zugleich indirekt reflektierender Urteilskraft und Common Sense einen Nutzen für die Wissenschaft zu. Zwar sollen sich Mathematik, Metaphysik und Moralphilosophie weder auf Meinung, Glaube noch Hypothese stützen. Bei genauer Lektüre spricht Kant aber vom ausschließlichen Gebrauch dieser Modi oder widerspricht sich – wie im Fall der Hypothesen – selbst. Sogar in der Mathematik, heißt es an anderer Stelle, sei das vorläufige Urteil als „Fingerzeig“ ein probates wie notwendiges Mittel (vgl. MST 4:478). Die Verankerung der Modi des Fürwahrhaltens in der Kritik der reinen Vernunft untermauert die Wirksamkeit von reflektierender Urteilskraft und Common Sense in diesem Werk. Theoretische Urteile setzen also theoretisch-reflektierende Urteilskraft voraus. Urteile über das Wahre sind nicht ohne Reflexion möglich. Theoretisch-reflektierende Urteilskraft ermöglicht Erfahrung, mithin Erkenntnis, und bietet in der Metaphysik wie in der gesamten theoretischen Philosophie Orientierung. Die verschiedenen notwendigen Orientierungsleistungen dieser Urteilskraft stehen in Analogie zur Unentbehrlichkeit des Common Sense für die Wissenschaft überhaupt. Der Common Sense stellt ein Vor- und Grundverständnis von der Welt dar, das Wissenschaft – und vor allem Metaphysik – nicht ignorieren darf. Wissenschaft soll diesem Verständnis aber nicht blind folgen, sondern muss sich kritisch mit ihm auseinandersetzen: untersuchen, was zu bewahren, zu modifizieren oder zu verwerfen ist.188 3. Logischer Gemeinsinn Es bleibt noch zu klären, ob auch theoretischer Urteilskraft ein Gemeinsinn als apriorisches Prinzip zugrunde gelegt werden kann. Dazu werden in Anlehnung an Kapitel D. II. 3. sowohl theoretisch-bestimmende als auch theoretisch-reflektierende Urteilskraft auf diese Möglichkeit hin geprüft. Zur Orientierung dienen erneut die in Kapitel D. I. 3. formulierten Kriterien für einen Kant’schen Gemeinsinn. Die Betrachtung konzentriert sich auf das bereits paraphrasierte Schematismus-Kapitel. Untersucht werden daher reine bestimmende und reine reflektierende Urteilskraft in ihrem theoretischen, Erfahrung ermöglichenden Gebrauch. Es ist nicht leicht, einen passenden Namen für das Gesuchte zu finden. In Frage kommen u. a. ‚theoretischer‘, ‚spekulativer‘ oder ‚logischer Gemeinsinn‘. Keiner dieser Ausdrücke ist prägnant. Da in der dritten Kritik in 188 Zur näheren Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft für die Philosophie vgl. Kapitel E. III.
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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einem vergleichbaren Kontext vom ‚logischen Gemeinsinn‘, dem sensus communis logicus (vgl. KU 5:295), die Rede ist, soll im Folgenden diese Begrifflichkeit für das gesuchte Prinzip theoretischer Urteilskraft verwendet werden. Die reine theoretisch-bestimmende Urteilskraft sorgt wie gesehen für die Anwendung der Kategorien auf sinnliche Anschauung. Dieser Prozess erfolgt mithilfe eines Schemas. Da Begriffe vermittelt werden, lässt sich diese Korrespondenz nicht, wie bei der ästhetischen Urteilskraft, als ‚Spiel‘ betrachten. Es handelt sich eher um eine ‚ernste‘ Angelegenheit. Gleichwohl gelangen wie beim Geschmack die Vermögen ‚Verstand‘ und ‚Einbildungskraft‘ zur Übereinstimmung. Reine Verstandesbegriffe und Schemata sind ihre Produkte. Wie bei reiner praktisch-bestimmender Urteilskraft gründen Urteile reiner theoretisch-bestimmender Urteilskraft nicht auf einem Gefühl. Trotzdem wird eine Art Lust bewirkt – ein ‚intellektuelles Wohlgefallen‘ am Funktionieren.189 Der Determinationsprozess beinhaltet außerdem eine Verallgemeinerung. Die Begriffe des dominierenden Verstandes beinhalten eine Allgemeinheit, die auf das vielfältige Material der Anschauung übertragen wird. Durch die kategoriale Bestimmung wird das unbestimmte Material verallgemeinert. Aufgrund der Allgemeinheit der Kategorien kommt den Ergebnissen der Bestimmung wie denen reiner praktisch-bestimmender Urteilskraft objektive Notwendigkeit zu. D.h., dieser Prozess reiner theoretisch-bestimmender Urteilskraft verläuft bei allen Menschen gleich. Ihre Resultate sind daher auch mitteilbar. Schließlich steht die transzendental-bestimmende Urteilskraft in ihrem theoretischen Gebrauch auch in Analogie zum Common Sense, verstanden als empirisch-bestimmende Urteilskraft. Diese kommt z. B. zur Anwendung, wenn der einfache, gemeine Verstand einen Pudel auf den empirischen Begriff ‚Hund‘ bringt. Ein solches empirisch-bestimmendes Verfahren setzt stets eine transzendentale Bestimmung voraus. Es gibt demnach ausreichend Anlass, einen sensus communis logicus als Prinzip a priori reiner theoretisch-bestimmender Urteilskraft anzunehmen. Er stellt nicht nur eine Voraussetzung für Erfahrung und Erkenntnis dar, sondern auch eine Bedingung für gegenseitiges Verstehen unter den Menschen. Dieser logische Gemeinsinn manifestiert sich in den Formen reiner Anschauung ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ und in den reinen Verstandesbegriffen wie 189 Die hier hervorgerufene Lust wird begrifflich vermittelt. Sie ist dem intellektuellen Wohlgefallen am Guten vergleichbar, das Kant in der dritten Kritik des Öfteren thematisiert (vgl. KU 5:187 f., 5:207 ff., 5:266 ff.; Kapitel D. II. 3.). Ein passender Ausdruck findet sich mit der ‚objektiven intellektuellen Lust‘ nur in einer nicht in der AA befindlichen Nachlassreflexion. Vgl. Kant-Studien 59.1968, S. 270. Dazu vgl. auch ApH 7:230.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
‚Quantität‘ und ‚Qualität‘.190 Da diese in gleicher Form und Funktion bei allen vorhanden sind, begründen sie eine Gemeinschaft, in der jeder Mensch mit seinesgleichen ursprünglich verbunden ist. Als reine theoretisch-reflektierende Urteilskraft lässt sich im Schematismus-Kapitel das Verfahren betrachten, mit dem die reine produktive Einbildungskraft ihre Synthesis-Leistung vollbringt.191 Das Schema ist das Produkt einer Reflexion, durch die Verstand und Einbildungskraft noch vor der transzendentalen Bestimmung zur Übereinstimmung gebracht werden. Diese Reflexion stellt einen vorbegrifflichen Prozess dar, insofern sie die begriffliche Determination erst ermöglicht. Andererseits nimmt sie Bezug auf die reinen Verstandesbegriffe. Sonst könnte sie diese nicht mit dem in der Anschauung Gegebenen vergleichen und vermitteln. Analog zur teleologischreflektierenden Urteilskraft geht von den Begriffen hier aber kein Zwang aus, sie dienen zur Orientierung. Ebenfalls in Analogie zur teleologisch-reflektierenden Urteilskraft lässt sich im Sinne Kants konstruieren, dass sich die hier betrachtete reine theoretisch-reflektierende Urteilskraft nicht auf ein Gefühl der Lust stützt, sondern bestenfalls eine Art ‚subjektives intellektuelles Wohlgefallen‘192 bewirkt, das dann vom Eindruck der Erkenntnis überlagert wird. Das Synthetisieren der reinen produktiven Einbildungskraft beinhaltet ebenfalls eine Verallgemeinerung des Materials der Anschauung. Es handelt sich aber um ein vorbereitendes Verallgemeinern, das die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe erst möglich macht. Reiner theoretisch-reflektierender Urteilskraft kommt hier subjektive Notwendigkeit zu. Ihre Resultate sind schon deshalb mitteilbar, weil die Ergebnisse der von ihr ermöglichten transzendentalen Bestimmung es sind. Mitteilbare Urteile basieren auf mitteilbaren Voraussetzungen, heißt es in der Kritik der Urteilskraft. Schließlich steht die reine theoretisch-reflektierende Urteilskraft auch in Analogie zum Common Sense. Direkt vor dem Schematismus-Kapitel differenziert Kant zwischen natürlicher und transzendentaler Urteilskraft. Die natürliche Urteilskraft wird als empirisch-psychologisches Vermögen be190
Im Schematismus-Kapitel erwähnt Kant nicht, dass das Schema neben einer zeitlichen auch eine räumliche Bestimmung beinhaltet. In der Forschungsliteratur wird dies zu Recht als Versäumnis gewertet (vgl. Düsing: Schema, S. 55). Dafür ist z. B. in einer Nachlassreflexion aus dem Zeitraum 1778–83 von einer ‚Zusammensetzung in Raum und Zeit‘ die Rede (vgl. Refl. 5552, 18:220). Raum, Zeit und Kategorien wurden auch schon von Lucien Goldmann – wenngleich ohne ausformulierten Grund – als ‚Gemeinsinn im Theoretischen‘ betrachtet (vgl. ders., S. 192). 191 Einen Hinweis darauf, dass die reine theoretische Urteilskraft im Schematismus-Kapitel auch für Kant notwendig reflektierend verfahren muss, gibt die Erste Einleitung: Beim Schematisieren verfahre die Urteilskraft „in ihrer Reflexion zugleich bestimmend“ (20:212). 192 Vgl. Kant-Studien 59.1968, S. 270.
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schrieben. Als „das Spezifische des so genannten Mutterwitzes“ stellt sie die Urteilskraft des empirischen Common Sense dar. Sie bemerkt, ob ein konkreter Fall unter einer allgemeinen Regel steht. Die transzendentale Urteilskraft dagegen bestimmt zur allgemeinen Regel den Fall a priori. (Vgl. KrV A:132 ff./B:171 ff.; Kapitel D. I. 1.) Mit dieser Unterscheidung zwischen empirischer und transzendentaler Perspektive weist Kant auf zwei Parallelebenen hin, die das Schematismus-Kapitel durchziehen, auch wenn die Urteilskraft in ihrem transzendentalen Gebrauch im Mittelpunkt steht. Auf beiden finden vergleichbare Prozesse statt. So kann die reflektierende Synthesis-Leistung der reinen produktiven Einbildungskraft in Analogie zu der der empirischen produktiven Einbildungskraft betrachtet werden, welche mittels Schema ein Bild hervorbringt, das zur Verknüpfung von empirischem Begriff und dem Material der Anschauung beiträgt. Die Analogie zwischen transzendental-reflektierender und empirisch-reflektierender Urteilskraft lässt sich noch weiterspinnen. Vorformenden, vorbereitenden Charakter haben auch vorläufige gegenüber gewissen Urteilen oder Arbeitshypothesen gegenüber wissenschaftlich bewiesenen Behauptungen. Das allgemeine Verhältnis von Common Sense und Wissenschaft reiht sich hier problemlos ein – es ist das von leitendem Vorverständnis und systematischer Prüfung oder schlicht von Reflexion und Determination. Es kann also auch reiner theoretisch-reflektierender Urteilskraft ein sensus communis logicus als Prinzip a priori zugrunde gelegt werden, der sich in den Formen reiner Anschauung und in reinen Verstandesbegriffen manifestiert. Dieses Allgemeine ist hier – analog zum Typus (vgl. Kapitel D. II. 3.) – im vermittelnden Schema aufgehoben. Raum, Zeit, Kategorien und moralisches Gesetz stehen für gemeinschaftlich geteilte Begriffe.193 Sie bilden den Kern eines gemeinschaftlichen Sinns, der auch Schema und Typus als Mechanismen, die bei allen Menschen gleich sind, einschließt. Vier Anmerkungen sollen zur Erläuterung des logischen Gemeinsinns beitragen. Erstens. Die vorbegriffliche Reflexion der reinen produktiven Einbildungskraft ist nicht identisch mit der ästhetischen Reflexion. Zwar werden bei beiden Einbildungskraft und Verstand vermittelt, bei theoretischer Urteilskraft schematisiert die Einbildungskraft aber mit, bei ästhetischer Urteilskraft ohne Bezug auf Begriffe (vgl. EE 20:223; KU 5:287, 5:296). Eine 193
Von Volker Gerhardt wurde diese Gemeinsamkeit an Begriffen treffend als ‚Soziomorphie der Begriffe‘ bezeichnet. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns durch den Gebrauch der Begriffe mit unseresgleichen gemein machen. Das Denken sei ein allgemeines Begreifen der Dinge, das nicht nur eine Angleichung von Denkendem und Gegenstand schaffe, sondern auch eine zwischen allen, die denken können. Vgl. z. B. ders.: Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 48 f.
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
Identität würde wiederum in das Dilemma führen, dass Erkenntnis Schönheit, Erhabenheit oder Ähnliches voraussetzen müsste. Zweitens. Wie in Kapitel D. III. 2. bereits erwähnt, ist die vorbegriffliche Reflexion der reinen produktiven Einbildungskraft ebenfalls nicht identisch mit der in § 21 der dritten Kritik beschriebenen ‚Stimmung‘ der Gemütskräfte. Die erkenntnistaugliche Proportion dieser Kräfte – eine Reflexion, welche in der ersten Kritik als ‚transzendentale Überlegung‘ bezeichnet wird – ist eine Voraussetzung für das Bilden eines Schemas. Damit zwei der drei Erkenntniskräfte ‚Einbildungskraft‘, ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ miteinander verglichen werden können, müssen sie zunächst vom Gegenstand oder Sachverhalt affiziert worden sein. Diese Konstellation betrachtet Kant als mitteilbare subjektive Bedingung der Erkenntnis. Erst auf dieser Basis treten aber die Produkte der genannten Kräfte oder im Falle ästhetischer Urteilskraft sie selbst miteinander in Interaktion.194 Drittens. Im Anhang zur Transzendentalen Dialektik konstruiert Kant analog zum Schematismus der Verstandesbegriffe einen Schematismus der Vernunftideen. Wie ebenfalls bereits in Kapitel D. III. 2. bemerkt, behandelt Kant an dieser Stelle, was in der dritten Kritik ausführlich als teleologische Urteilskraft untersucht wird. Hier bezieht sich nicht der Verstand – vermittelt durch ein Schema – auf die Einbildungskraft, sondern die Vernunft – vermittelt durch ein „Analogon von einem Schema“ (KrV A:665/B:693) – auf den Verstand. Insofern sich dieser regulative Vernunftgebrauch als Leistung teleologischer Urteilskraft begreifen lässt, kann ihm, wie in Kapitel D. I. 4. geschehen, ein sensus communis teleologicus zugrunde gelegt werden, der gegenüber dem sensus communis logicus aber nur von geringerer, weil subjektiver, regulativer, hypothetischer Bedeutung ist. (Vgl. KrV A:642 ff./B:670 ff.) Viertens. Ein logischer Gemeinsinn als Prinzip theoretischer Urteilskraft wurde bereits von Lucien Goldmann und Gilles Deleuze angenommen. Auch Hans-Georg Gadamer hat eingeräumt, dass sich ein solcher im Schematismus-Kapitel konstruieren lässt – allerdings komme diesem bei Kant keine Bedeutung zu, da eine gemeinschaftliche Dimension der Begriffe für ihn keine Rolle spiele. Christel Fricke bezeichnet den Gemeinsinn in § 21 als objektiven Gemeinsinn und unterscheidet ihn vom sensus communis logicus, den sie mit dem gemeinen Menschenverstand identifiziert. Volker Gerhardt macht darauf aufmerksam, dass die Idee des sensus communis auch der Transzendentalen Ästhetik zugrunde liegt und sogar die Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe trägt. Tatsächlich genügt 194
Deleuze behauptet dagegen z. B., der Gemeinsinn in § 21 sei identisch mit dem ästhetischen Gemeinsinn. Daher stelle der sensus communis aestheticus die Voraussetzung von jedem sensus communis logicus dar. (Vgl. ders., S. 59 f., 105 f.)
III. Die Kritik der reinen Vernunft
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bereits ein Blick auf Kants Sprache, um zu bemerken, dass er von einer grundlegenden Gemeinsamkeit der Menschen hinsichtlich ihrer sinnlichen Anschauung und reinen Verstandesbegriffe ausgeht. Kant spricht in so selbstverständlichem Ton vom Wir, von unseren Erkenntnisbedingungen, von Voraussetzungen, die allen Menschen gemeinsam sind, dass das Wir und Unser auch gemeint ist, wenn vom Ich und Mein die Rede ist (vgl. z. B. KrV A:19 ff./B:33 ff.; A:124, A:128 ff., B:165 f.).195 * * * Am Schluss von Kapitel D. III. kann festgestellt werden, dass sich Kant im Zusammenhang mit der Metaphysik als scharfer Kritiker des Common Sense zeigt. Betont wird von ihm fast ausschließlich der passive, unkritische, der ‚faule‘ und fehlbare Charakter des Vermögens. Die dynamische, kritische Seite wird weitgehend ausgeblendet. Hinter Kants Polemiken verbirgt sich aber auch Wertschätzung. Seine Angriffe richten sich vor allem gegen den Missbrauch, den unreifen Umgang mit dem Common Sense.196 Es konnten Formen des Common Sense in allen größeren Teilen der ersten Kritik nachgewiesen werden – in Vorrede, Einleitung, Transzendentaler Ästhetik, Analytik, Dialektik und Methodenlehre. Mal werden sie ausdrücklich erwähnt, mal können (und müssen) sie ergänzt werden. Insofern der Common Sense in seinen verschiedenen Gewändern auch inhaltlich einen unverzichtbaren Bezugspunkt in Kants Hauptwerk bildet, kann dieses ebenfalls als eine Kritik des Common Sense betrachtet werden.197 Am Ende der Betrachtung von Kants Transzendentalphilosophie in den Hauptwerken der Kritik ist demnach festzuhalten, dass der Common Sense bei Kant nicht nur in Bezug auf das Ästhetische und das Teleologische, sondern auch für Moralphilosophie und Metaphysik von Bedeutung ist. Dieses gemeine und nicht selten auch gesunde Vermögen erweist sich in der Wissenschaft überhaupt als unentbehrlich. Es dient als Basis, zur Orientierung und als Ziel – ist dabei jedoch nie bestimmend, sondern stets nur leitend. Mit der Idee der reflektierenden Urteilskraft und der des sensus communis wurden zwei zentrale Elemente der dritten Kritik als ‚Statthalter‘, Ana195 Vgl. Deleuze, S. 58 f., 105 f.; Goldmann, S. 192; Gadamer, S. 30 f.; Fricke, S. 172 ff.; Gerhardt: Kant, S. 151 ff., 168 ff., 272 ff., 355 f., v. a. S. 154, 170. 196 Zu den möglichen Hintergründen der Schmähungen vgl. Kapitel E. IV. 197 Bestätigung findet dies u. a. bei Helmut Holzhey. Er hat gezeigt, dass die Kritik der reinen Vernunft auf eine Kritik der Erfahrung bzw. des gemeinen Verstandes angewiesen ist – als Boden, der auf seine Grenzen hin notwendig abzuschreiten ist (vgl. ders.: Erfahrungsbegriff, S. 300). Ähnlich hat Georg Mohr das Werk ein „eindrucksvolles Plädoyer für eine durch Kritik aufgeklärte ‚allgemeine Menschenvernunft‘ “ genannt (vgl. ders./Willaschek, in: dies., S. 5 f.).
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D. Common Sense und Kritik. Die Hauptwerke
loga, Substitute des empirischen Common Sense in der Transzendentalphilosophie durch die zweite und die erste Kritik verfolgt. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl ästhetisch-, teleologisch-, moralisch-, praktisch- und theoretisch-reflektierende Urteilskraft als auch ästhetischer, teleologischer, moralischer und logischer Gemeinsinn in Analogie zum gesunden Menschenverstand stehen. Dass nicht nur Urteile über das Schöne, das Erhabene und das Zweckmäßige, sondern auch über das Gute und das Wahre reflektierender Urteilskraft und des sensus communis bedürfen, unterstreicht die große Tragweite der Resultate.
E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk In Kapitel E. wird das nachkritische Werk Kants auf die Bedeutung des Common Sense hin untersucht. Das schließt zum einen alles von Kant abseits der drei Kritiken nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft Veröffentlichte ein, zum anderen auch den Nachlass, der auf diesen Zeitraum datiert wird. Das nachkritische Werk ist in erster Linie der Veranschaulichung der Transzendentalphilosophie und ihrer Anwendung auf verschiedenste Kulturfelder gewidmet.198 Kant veröffentlicht geschichtsund politiktheoretische Schriften. Er setzt sich außerdem näher mit den oberen Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin sowie der unteren der Philosophie auseinander. Am Ende werden seine Anthropologie-, Logikund Pädagogik-Vorlesungen herausgegeben. War das vorkritische Werk sehr am Populären orientiert, lässt sich die Grundintention des nachkritischen Werks als pragmatisch bezeichnen. – Nachdem in den ersten drei Abschnitten die Politik, die oberen Fakultäten sowie die untere betrachtet werden, steht abschließend Kants Verhältnis zur Spätphase der Popularphilosophie im Mittelpunkt.
I. Politik: Anspruch und Ausübung Vor allem nach seinen drei Kritiken hat sich Kant wiederholt mit dem Thema ‚Politik‘ auseinander gesetzt. In der Kantforschung fand diese Problematik lange Zeit nur wenig Beachtung. Dies hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Seitdem herrscht in der Sekundärliteratur die Auffassung vor, es existiere bei Kant eine politische Philosophie oder eine Theorie der Politik. Nur liege sie nicht im Zusammenhang vor, sondern verteilt über verschiedene Arbeiten wie die Friedens- und die Religionsschrift, die Rechtslehre, der Gemeinspruch oder der Streit der Fakultäten.199 Kants Begriff von Politik ist der von einer Regierungs- oder Staatskunst, welche sich im Spannungsfeld von Recht, Moral und Urteilskraft bewegt. Während die Notwendigkeit von Recht und Moral in der Politik sehr vor198
Vgl. Irrlitz, S. 405 ff. Vgl. Gerhardt, Volker: Immanuel Kants Entwurf ‚Zum ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, S. 146 f.; Arendt: Urteilen, S. 46. 199
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
dergründig herausgearbeitet wird, begegnet die mitgedachte Unverzichtbarkeit der Urteilskraft eher versteckt. Wohl aus diesem Grunde wird Kant z. T. noch heute ein realitätsfremdes Politikverständnis unterstellt, eines, das die Bedeutung des Common Sense ignoriert. Im bewährten Dreischritt gesunder Menschenverstand – Urteilskraft – Gemeinsinn soll die Bedeutung des Common Sense für die Politik bei Kant untersucht werden. Da sich Kant im Kontext des Politischen zu keinem dieser Phänomene explizit geäußert hat, ist erneut weitgehend ‚zwischen den Zeilen zu lesen‘. Die Untersuchung stützt sich in erster Linie auf die beiden Anhänge von Zum ewigen Frieden. In ihnen konzentriert sich Kants politische Theorie. Die Betrachtung kann u. a. zeigen, dass der Vorwurf der Realitätsferne gegen Kants Politikkonzeption falsch ist. Politik ist bei Kant grundlegend definiert durch ihre Beziehung zum Recht, verstanden als eine von der praktischen Vernunft geforderte Ordnung menschlicher Beziehungen. Das Recht stellt bei Kant den Inbegriff von Bedingungen dar, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (MSR 6:230). Um diese Vereinbarkeit zu gewährleisten, ist es mit der ‚Befugnis zu zwingen‘ verbunden. (Vgl. MSR 6:229 ff.; Spruch 8:289 ff.; Vorarbeiten MS 23:227.) Das auf diese Weise charakterisierte Recht bildet für Kant den gesetzlichen Rahmen der Politik. Vor ihm hat sie ihre ‚Knie zu beugen‘. Diesem muss sie sich jederzeit anpassen. Mit der Bindung ans Recht und damit auch an ‚Rechtspflichten‘, ‚Rechtsgesetze‘ und ‚Rechtslehre‘ verpflichtet Kant die Politik im Grundsatz auf Legalität. (Vgl. ZeF 8:370 ff.; Lüge 8:429; Vorarbeiten MS 23:346; Kapitel E. II. 2.) Politik darf sich für Kant aber nicht ausschließlich aufs Juristische zurückziehen, vor allem dann nicht, wenn sie dieses nur als verantwortungsloses ‚Handwerk‘ zu größtmöglichem Privatnutzen oder als ‚mechanischer‘ Erfüllungsgehilfe der aktuellen Obrigkeit ausübt (vgl. ZeF 8:373 f.). Sie bedarf einer wichtigen Einschränkung – der Vereinbarkeit mit der Moral. Hoffnung auf Besserung der politischen Verhältnisse bis hin zu einem andauernden Frieden setzt Kant nur in ‚Staatsmänner‘, die so handeln, dass sie wollen können, ihre Maxime solle allgemeines Gesetz werden. Diesen ‚moralischen Politikern‘ stehen die ‚politischen Moralisten‘ oder ‚moralisierenden Politiker‘ gegenüber, die die Moral nur unter dem Gesichtspunkt ihres privaten Vorteils betrachten. Für sie heiligt der politische Zweck die Mittel. (Vgl. ZeF 8:372 f., 8:377.) „Die wahre Politik kann also keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben“ (ZeF 8:380). Politik macht für Kant aber auch mehr aus als juridische Gesetze und moralische Grundsätze. Zu Legalität und Moralität muss noch eine Urteilskraft hinzutreten, die für die angemessene Anwendung der Gebote sorgt.
I. Politik: Anspruch und Ausübung
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Eine solche politische Urteilskraft wird zwar von Kant nirgends erwähnt, was schon aufgrund der zeitlichen Nähe seiner politikrelevanten Schriften zur Kritik der Urteilskraft erstaunen muss, gleichwohl ist sie in seinem Denken angelegt. Sie begegnet unter anderen Namen und an verschiedensten Orten. So sieht Kant z. B. in der Klugheit oder „Staatsklugheit“ eine zentrale Voraussetzung für erfolgreiche Politik. Als auf Vorteil bedachte Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel ist sie für ihn in diesem Zusammenhang unentbehrlich (vgl. ZeF 8:370 ff.). Da die Staatsklugheit von Kant scharf kritisiert wird, kann dieser Aspekt leicht übersehen werden. Am Pranger steht jedoch nur die unmoralische Klugheit. Der moralische Politiker bringt Klugheit und Moralität überein – ohne dass das eine dem anderen zum Opfer fällt (vgl. ZeF 8:372). Bei offenbar werdenden Defiziten der Staatsverfassung z. B. betrachtet er es einerseits als moralische Pflicht, diese zu beheben. Andererseits sorgt er sich auch um eine kluge, angemessene Umsetzung der Reform, was etwa bedeuten kann, diese nicht sofort, sondern so bald wie möglich in Angriff zu nehmen. Auch zu diesem klugen, in anderen Zusammenhängen pragmatisch genannten Agieren gibt die Vernunft laut Kant ihre ‚Erlaubnis‘ (vgl. ZeF 8:372 f., 8:347 f.). Die von ihm in der Politik geforderte moralische „Staatsweisheit“ macht also Staatsklugheit keineswegs entbehrlich. Staatskunst bedarf einer zu Staatsweisheit erweiterten Staatsklugheit. Kants Leitspruch für die Politik lautet entsprechend: „Seid klug wie die Schlangen [. . .; RN] und ohne Falsch wie die Tauben.“ (ZeF 8:370). Vergleichbar verhält es sich beim Verhältnis ‚Klugheit – Legalität‘. Politiker, die die juridischen Gesetze nur zu eigenem Vorteil auslegen, handeln zwar staatsklug, jedoch unmoralisch und rechtsverletzend (vgl. ZeF 8:373 ff.). Dass sich ein kluger Umgang mit dem Recht deshalb aber nicht verbietet und sehr wohl mit der Moral in Einklang gebracht werden kann, hat Kant in seiner Rechtslehre deutlich gemacht. Ganz selbstverständlich bedarf dort das Recht zur angemessenen Anwendung auf konkrete Fälle der „Rechtsklugheit (Iurisprudentia)“ (vgl. MSR 6:229 ff., 6:363). In der Friedensschrift spricht sich Kant ebenfalls für eine ‚die rechtlichen Ideen pragmatisch ausführende Vernunft‘ aus, warnt aber zugleich vor einem aufgeweichten, ‚pragmatisch-bedingten‘ Recht (vgl. ZeF 8:380). Dass pragmatische Staatsklugheit eine Grundbedingung gelingender Politik darstellt, wird von Kant also offenbar auch ohne eindeutige Erwähnung vorausgesetzt. Er teilt darin eine im 18. Jahrhundert allgemein verbreitete Auffassung.200 Die große Gefahr vor Augen, die es bedeutet, Recht und 200 Im 17. bis weit ins 18. Jahrhundert werden ‚klug‘ und ‚politisch‘ beinahe synonym verwendet (vgl. Wiedmann, F./Biller, G.: Klugheit, in: Historisches Wörter-
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Moral dieser Praxis in einer Weise unterzuordnen, die der Aufhebung von Legalität und Moralität gleichkommt, betont Kant die Bedeutung dieser Elemente. Das hat den Nebeneffekt, dass sich vor allem dem heutigen Leser die Notwendigkeit jener politischen Urteilskraft neben der von Recht und Moral kaum darstellt. In Kants Kritik am Missbrauch der Staatsklugheit ist aber zugleich ein Beweis für ihre Unverzichtbarkeit zu sehen. Den wichtigsten Hinweis darauf, dass Politik notwendig Urteilskraft voraussetzt, liefert aber ihre Charakterisierung als „ausübende Rechtslehre“ (vgl. ZeF 8:370). Die Bezeichnung der Politik als Rechtslehre ist mehrdeutig. Im ersten Anhang der Friedensschrift, der diese Definition enthält, scheint sie die juristische Bedeutung von „Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist“ (MSR 6:229) zu haben. Im zweiten Anhang wird ‚Rechtslehre‘ dagegen auch ausdrücklich in moralischer Bedeutung verwendet (vgl. ZeF 8:383 ff.). Sie lässt sich daher im engeren Sinne als ausschließlich auf das Recht bezogen verstehen, im weiteren Sinne dagegen auf Recht und Moral. In beiden Fällen verkörpert sie die Vernunft, da sowohl Recht als Moral bei Kant auf dieser gründen müssen. Größere Aufmerksamkeit als die Rechtslehre verdient in Kants Formel aber der Begriff der Ausübung. Denn diese erfordert wesentlich Urteilskraft – das Vermögen, dem bei Kant die Aufgabe der Anwendung bzw. Umsetzung von Regeln, Prinzipien oder Gesetzen zukommt (vgl. Kapitel D. I. 1.). Zur Ausübung der Rechtslehre ist auch ein bestimmter Gebrauch der Urteilskraft nötig. Es bedarf pragmatisch-kluger Urteilskraft, um das äußerlich und das innerlich Gebotene zweckmäßig zu verwirklichen. Das Kluge und das Pragmatische ergeben bei Kant – ohne miteinander identisch zu sein – eine Sinneinheit. Die den Vorteil berechnende Klugheit und das auf Anwendung abzielende Pragmatische sind Formen konkreten, zweckmäßigen, praktischen Denkens. Es handelt sich um Handlungskompetenzen, die auf Nutzen und Glückseligkeit, auf Brauchbarkeit und Glück, ausgerichtet sind und in besonderem Maße auf Erfahrung basieren. In Kants praktischer Philosophie wird das Pragmatisch-Kluge von der technischen Geschicklichkeit und der moralischen Weisheit unterschieden. Im Vergleich mit dem Sittlichen erfährt es nur verhaltene Wertschätzung. Das PragmatischKluge fungiert bei Kant ebenfalls als Gegenbegriff zum Spekulativen oder zur Wissenschaft als Theorie im Allgemeinen. (Vgl. z. B. Racen 2:443; GMS 4:414 ff.; MSR 6:322 ff.; KrV A:806/B:834; ApH 7:119 ff.; Päd 9:455, buch, 4.1976, S. 860). Eine von Herder in der ersten Hälfte der 1760er Jahre notierte Vorlesungsbemerkung lässt darauf schließen, dass Klugheit für Kant – wenn auch in ihrem negativen Sinn – von Anfang an wesentlich zur Politik gehört hat: „Politicer müssen durch Lügen ihre Absicht erreichen und jeder fliehe solchen Stand, wo Unwahrheit ihm entbehrlich ist.“ (Praktische Philosophie Herder 27:62, vgl. auch Refl. 7681, 19:488).
I. Politik: Anspruch und Ausübung
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9:486; Moralphilosophie Kaehler, S. 7 ff.; Menschenkunde 25:855 f.; Anthropologie Mrongovius 25:1210 ff.; Philosophische Enzyklopädie 29:43.)201 Aufgrund dieser Verwendung können das Kluge und das Pragmatische bei Kant als wesentliche Formen des Gebrauchs der Urteilskraft betrachtet werden. Kant formuliert diesen Zusammenhang nur am Rande ausdrücklich (vgl. Metaphysik Mrongovius 29:890; MST 6:433; Refl. 4914, 18:28). Aber beide zeichnet aus, dass sie Besonderes und Allgemeines (aus der Perspektive des Besonderen) vermitteln. Als durch Erfahrung zu erwerbende Qualifikationen stehen sie außerdem in Opposition zur reinen theoretischen und reinen praktischen Vernunft, lassen diese aber auch erst wirksam werden. – In alldem zeigt sich deutlich, dass auch das Kluge und das Pragmatische oder die pragmatisch-kluge Urteilskraft dem Sinnbezirk des Common Sense zugeordnet werden müssen. (Vgl. Kapitel B. I., D. II. 2.)202 Der Aspekt der Nähe der pragmatisch-klugen Urteilskraft zum Common Sense – verstanden als erfahrungskluger, zweckmäßig urteilender, anwendungsorientierter Verstand – ist kurz zu vertiefen. Es soll der Frage nachgegangen werden, welchen Nutzen Kant diesem gesunden Menschenverstand für die Politik eingeräumt hätte. Lassen sich die drei Funktionen, die dem Common Sense in Bezug auf die Wissenschaften zugewiesen werden konnten, auch auf den Bereich der Politik übertragen? Ein kleiner Ausblick soll zeigen, dass diese Frage bejaht werden kann: Es ist anzunehmen, dass Kant dem Common Sense als Normal-, Erfahrungs- und Jedermannsverstand auch in der Politik große Bedeutung zugemessen hat. Erstens. In Hinblick auf Kants Wertschätzung für den empirischen Common Sense – etwa im Bereich des alltäglichen Lebens oder in seiner Moralphilosophie – kann davon ausgegangen werden, dass er diesem auch eine Basisfunktion für die Politik zugewiesen hätte. Politik muss wesentlich auf Common Sense aufbauen. Zum einen ist die Kenntnis der allgemein geteilten Überzeugungen, der mitunter einfachen Volksmeinungen, unentbehrlich für den Politiker. In diesen Common-Sense-Urteilen tritt das all201
Vgl. Hinske: Herausforderung, S. 89 ff.; Brandt/Stark, AA 25:XIVff. Auf den Zusammenhang von ‚Ausübung‘ und Urteilskraft, Klugheit, Pragmatik, Erfahrung sowie gesundem Menschenverstand ist im Rahmen wiederholter Auseinandersetzung mit der Formel der ‚ausübenden Rechtslehre‘ vor allem von Volker Gerhardt hingewiesen worden. Vgl. z. B. ders.: Frieden, S. 71 ff., 137 ff., 156 ff.; ders.: Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der Politik, in: Gerhard Schönrich/ Kato Yasushi (Hg.): Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt/M. 1997, S. 464 ff., v. a. S. 474 ff.; ders.: Partizipation, S. 380 ff., 417 ff. Von Ulrich Sassenbach ist speziell darauf aufmerksam gemacht worden, dass für Kant trotz seiner Fokussierung auf den ‚apriorischen Kern‘ des Politischen die konstitutive Bedeutung der Erfahrung für dieses außer Frage gestanden hat (vgl. ders.: Der Begriff des Politischen bei Immanuel Kant, Würzburg 1992, S. 7 ff., 25 ff.). 202
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
gemeine Interesse zutage, das zu befriedigen und somit für die Zufriedenheit bzw. Glückseligkeit der Bürger zu sorgen für Kant die eigentliche Aufgabe der Politik darstellt (vgl. ZeF 8:386). Das Wissen um die Belange der Allgemeinheit, die sich im Urteil der Mehrheit kundtun, legitimiert den Politiker außerdem erst als Repräsentanten und Interessenvertreter des Volkes. Zum anderen bedarf der Politiker des Common Sense als Fähigkeit. Der Common Sense als dieses Vermögen stellt genau die Urteilskraft dar, welche jener benötigt, um angemessen, also pragmatisch bzw. klug, zu entscheiden. Er ermöglicht ihm, konkrete Folgen abzuschätzen und die Umsetzbarkeit von Beschlüssen zu beurteilen. Der Politiker muss wissen, ‚worauf es ankommt‘, ein Gespür für Machtverhältnisse und Mehrheiten haben, ein Gefühl für das Machbare und den geeigneten Zeitpunkt. Die Urteilskraft des einfachen, erfahrungsklugen und gemeinschaftlichen Verstandes ist besonders vonnöten, wenn Menschen oder Situationen unmittelbar eingeschätzt werden müssen – wenn eine Entscheidung schnell getroffen werden muss, aber nur wenige Informationen zur Verfügung stehen. Aber auch wenn zu viele Fakten ein Urteil erschweren, ist ein durch konkrete Erfahrung, durch elementare Menschen- und Weltkenntnis, geschärftes Urteilsvermögen gefragt. Politiker sind selten Experten, wo sie zu entscheiden haben: Momentan ist in Deutschland z. B. ein Finanzbeamter Bundespräsident; Bundesfinanzminister war dagegen lange Zeit ein Deutschlehrer.203 Deshalb bedürfen Politiker der Fähigkeit zur realistischen Einschätzung von Spezialwissen – einer unverbildeten Common-Sense-Nüchternheit, etwa im Umgang mit sich widerstreitenden Theorien. Politik darf aber weder nur aus einem Laienverständnis heraus noch in blinder Expertenhörigkeit ausgeübt werden. Sie ist den bestmöglichen Lösungen für die Gesellschaft verpflichtet, wozu die Berücksichtigung und Vermittlung beider Perspektiven gehört. Zweitens. Entsprechend ist der Common Sense für die Politik auch als Maßstab von großem Nutzen. Insofern der Politiker als Volksvertreter seine Entscheidungen stets in Einklang mit den in einer Gesellschaft gemeinsam geteilten Überzeugungen, Werten, Interessen treffen sollte, stellt der Common Sense, in dem sich solche Gemeinsamkeiten niederschlagen, eine unentbehrliche Orientierungshilfe dar. Sein Urteil ist nicht nur ein wesentlicher Faktor für politische Entscheidungen, es dient auch zu deren Überprüfung. Am Common Sense kann sich Politik ihres Handelns vergewissern und sich selbst hinterfragen. Für den Politiker kommt Kants Forderung nach einem allgemeinen (Common-Sense)-Standpunkt, dem Prüfen des eigenen Urteils an dem anderer, eine besondere Bedeutung zu. Denn wie kaum ein anderes betrifft das politische Urteil letzten Endes immer alle 203
Gemeint sind Horst Köhler und Hans Eichel.
I. Politik: Anspruch und Ausübung
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Menschen der jeweiligen Gemeinschaft. Dass Kant den Common Sense auch als Maßstab der Politik gekennzeichnet haben könnte, zeigt sich z. B. darin, dass er – wie noch näher ausgeführt wird – den gemeinschaftlichen Willen als notwendige Basis des Rechts charakterisiert. Selbst in der Forderung nach Konsultation der Philosophen in Fragen von Krieg und Frieden kann ein Hinweis darauf gesehen werden. Denn es ist der Common Sense als die „allgemeine (moralisch-gesetzgebende) Menschenvernunft“ (ZeF 8:369), der zu der Meinungs- und Redefreiheit verpflichtet, über welche das Konsultieren realisiert werden soll. Drittens. Der Common Sense hat auch als Zielhorizont eine wichtige Funktion für die Politik. Es dürfte das Ziel jeder Politik sein, ihn auf ihre Seite zu bringen, was sowohl bedeuten kann, sich ihm anzupassen, als auch, dafür zu sorgen, dass dieser sich ihr anpasst. Denn am Ende entscheidet der Common Sense, die allgemein geteilte Überzeugung als Wählervotum, über die Zukunft eines Politikers. Der Common Sense ist weiterhin für die Vermittlung politischer Inhalte von großem Nutzen. Als die Fähigkeit zu konkretem Denken bildet er die Voraussetzung für wirklichkeitsnahe Themen und eine einfache Sprache mit anschaulichen Beispielen. Dies wird vor allem da benötigt, wo sich die Politik dem Volk mitteilt. Parlamentsjargon und abstraktes Erörtern tragen hier nur selten zu einem Verstehen bei. Da Kant vielfach für eine verständliche bzw. populäre Vermittlung komplexer Sachverhalte plädiert, dürfte er Ciceros Auffassung von der notwendigen Orientierung politischer Rhetorik am Common Sense geteilt haben (vgl. z. B. Logik 9:47 ff.; KrV A:749/B:777; KU 5:326 ff.; Kapitel A. II.). Dass vor allem Politiker eine allgemeinverständliche, volksnahe Sprache zu wählen haben, ergibt sich auch aus dem noch genauer zu betrachtenden Gedanken der Öffentlichkeit oder ‚Publizität‘, welche Kant für alle politischen Maximen fordert. Nach diesem Blick auf den Common Sense in seiner Bedeutung als gesunder Menschenverstand ist die politische Urteilskraft separat näher zu betrachten. Dazu soll sie vor dem Hintergrund ihrer zwei Verfahren bestimmt werden. Politik, die sich im Spannungsfeld von Recht, Moral und Urteilskraft bewegt, ist auf beide angewiesen. Für Recht und Moral ist vor allem bestimmende Urteilskraft ausschlaggebend, welche vom Allgemeinen ausgehend deduziert. Pragmatisch-kluge Urteilskraft jedoch lässt sich deutlich als reflektierende Urteilskraft verstehen, welche sich auch ohne feste Vorgabe im Konkreten orientiert oder das Allgemeine zweckmäßig anwendet. Die Politik ist zu ihrer fallgerechten Ausübung auf Reflexion angewiesen. Sie bedarf bestimmender Urteilskraft, um die Stimme der Vernunft zu vernehmen, und reflektierender, um ihr angemessen zu entsprechen. Politische Urteilskraft beinhaltet also sowohl bestimmende als auch reflektierende Urteilskraft.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Als politisch-bestimmende Urteilskraft kann das Verfahren betrachtet werden, welches mit den Ansprüchen der Rechtslehre – verstanden im weiteren Sinne als das, was Recht und Moral lehren – bekannt macht. In dieser Hinsicht lässt sich einerseits von einer das Recht betreffenden, also juridischbestimmenden Urteilskraft sprechen, die das nach äußeren Zwangsgesetzen Gebotene liefert. Andererseits muss auch die in Kapitel D. II. 2. charakterisierte moralisch-bestimmende Urteilskraft als politisch-bestimmende Urteilskraft betrachtet werden. Sie ermittelt, was innere Pflicht gebietet. Bei beiden handelt es sich – da ihre Urteile apriorischer Natur sind – um objektiv gültige reine bestimmende Verfahren. Als zur Ausübung der Rechtslehre erforderliche politisch-reflektierende Urteilskraft ist dagegen die pragmatisch-klug-reflektierende Urteilskraft zu verstehen. Sie hat die gleiche Funktion wie die praktisch-reflektierende Urteilskraft, welche die moralisch-bestimmende notwendig ergänzt, und eine zur angemessenen Anwendung des Rechts erforderliche juridisch-reflektierende Urteilskraft. Im Allgemeinen lässt sie sich ebenfalls als Variante der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft verstehen, welche anders als die ästhetische begrifflich vermittelt und daher bei Kant auch die ‚eigentliche‘ reflektierende Urteilskraft heißt. Da das Pragmatisch-Kluge wesentlich aus Erfahrung gewonnen wird, handelt es sich um subjektiv gültige empirischreflektierende Urteilskraft. Dies bestätigt die enge Verwandtschaft zwischen dem Pragmatisch-Klugen und dem Common Sense und stützt die Thesen über den Nutzen, der ihm für die Politik zugewiesen wurde. Versteht man dagegen die Rechtslehre in ihrem engeren Sinne als nur die rechtlichen Prinzipien betreffend, muss das moralisch-bestimmende Urteilsverfahren zur Ausübung hinzugerechnet werden. In diesem Fall hätten sich diese politisch-bestimmende und die politisch-reflektierende Urteilskraft in der Anwendung der rechtlichen Ideen gegenseitig zu kontrollieren. Die moralische Urteilskraft hätte zu verhindern, dass die pragmatisch-kluge auf private Vorteilnahme reduziert wird. Umgekehrt hätte diese dafür zu sorgen, dass die moralische Urteilskraft nicht zu einem realitätsfremden Moralismus und so zu handlungsunfähiger Politik führt.204 204 Dieser Gedankengang wurde verfolgt in: Nehring, Robert: Common Sense und Politik. Die Bedeutung des gesunden Menschenverstandes für die politische Urteilskraft bei Kant, in: Recht und Frieden in der Philosophie Kants. Akten des X. Internationalen Kant-Kongresses. Im Auftrag der Kant-Gesellschaft e. V., Valerio Rohden/Ricardo R. Terra/Guido A. de Almeida/Margit Ruffing (Hg.), Berlin/New York 2008, Band 4, S. 563 ff. Für diese Betrachtungsweise spricht z. B., dass Politik bei Kant am grundlegendsten auf dem Recht basiert und dieses zwar auf Moral gegründet werden soll, aber noch keine moralische Ausübung garantiert. Außerdem wurden die Sphären von Recht und Moral als Unterschied von äußerer und innerer Gesetzgebung in der Metaphysik der Sitten und der Religionsschrift sinnvoll von-
I. Politik: Anspruch und Ausübung
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So oder so ist es überaus wichtig, die Unentbehrlichkeit beider Verfahren der Urteilskraft für die Politik zu betonen. Kants Plädoyer für Recht und Moral mag zunächst einen Primat der bestimmenden Urteilskraft nahelegen. Wer dagegen die z. T. verborgene Rolle der pragmatisch-klugen Urteilskraft ernst nimmt, dem könnte schnell scheinen, dass Politik in erster Linie auf reflektierende Urteilskraft angewiesen ist. Es stellt ein großes Verdienst Hannah Arendts dar, auf die bedeutende Rolle der reflektierenden Urteilskraft für die Politik bei Kant hingewiesen zu haben. Wie aber wiederholt von Volker Gerhardt kritisiert wurde, ist in ihrer Betrachtung wie in den an sie anschließenden von Ernst Vollrath die Bedeutung der bestimmenden Tätigkeit der politischen Urteilskraft zu Unrecht in den Hintergrund geraten.205 Politik kann nicht nur keines der beiden Verfahren entbehren. Die Weise, in der sie einander voraussetzen, rechtfertigt auch keine Priorisierung eines der beiden Verfahren. Es ließe sich nun in Analogie zum Nutzen des gesunden Menschenverstandes für die Politik oder parallel zur Ergänzung der moralisch-bestimmenden Urteilskraft durch die praktisch-reflektierende zeigen, wie auch politisch-reflektierende Urteilskraft der Politik als Ausgangs-, Orientierungsund Zielpunkt dient. Dass politisch-bestimmender Urteilskraft diese Funktionen zukommen, steht außer Frage. Für die politisch-reflektierende ließe sich geltend machen, dass sie zur Entscheidung darüber erforderlich ist, ob ein Sachverhalt das Eingreifen der Politik überhaupt erfordert, welches Gebot betroffen ist und wie eine angemessene Umsetzung zu realisieren ist. Um aber eine Wiederholung zu vermeiden, soll direkt zur Frage übergeganeinander getrennt (vgl. MSR 6:218 ff.; RGV 6:94 ff.). Auch, dass Kants Politikkonzeption eine Verlängerung seiner kritischen Moralphilosophie darstellt und die Definition der ‚ausübenden Rechtslehre‘ im ersten Anhang der Friedensschrift zu finden ist, in welchem die Rechtslehre nur auf das Recht bezogen zu sein scheint, kann hier in Betracht gezogen werden. Letztlich wird eine eindeutige Zuordnung aber durch die ungenauen, vieldeutigen Ausführungen Kants verhindert. 205 Vgl. z. B. Arendt: Urteilen, v. a. S. 94 ff. (erläuternd zu Arendt: Beiner, Ronald: Hannah Arendt über das Urteilen, in: Arendt: Urteilen, S. 115 ff. sowie Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft, Lüneburg 1999); Vollrath, Ernst: Grundlegung einer philosophischen Theorie des Politischen, Würzburg 1987, v. a. S. 253 ff.; ders.: Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft, Stuttgart 1977, v. a. S. 140 ff.; ders.: Der reflexionsmoralische Fehlschluß, in: Kurt Bayertz (Hg.): Politik und Ethik, Stuttgart 1996, S. 91 ff.; Gerhardt, Volker: Vernunft und Urteilskraft. Politische Philosophie und Anthropologie im Anschluß an Immanuel Kant und Hannah Arendt, in: Martyn P. Thompson (Hg.): John Locke und Immanuel Kant. Historische Rezeption und gegenwärtige Relevanz, Berlin 1991, S. 316 ff., v. a. S. 331. Auch von Jean-François Lyotard wurde auf den Zusammenhang zwischen reflektierender Urteilskraft und dem Politischen bei Kant eingegangen (vgl. ders.: Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988, z. B. S. 25).
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
gen werden, ob sich auch ein politischer Gemeinsinn, ein sensus communis politicus, konstruieren lässt. Auf einen Gemeinsinn als apriorisches Prinzip politischer Urteilskraft weist zunächst die Beteiligung der moralisch-bestimmenden Urteilskraft hin, welcher bereits in Kapitel D. II. 3. ein sensus communis moralis zugrunde gelegt werden konnte. Im politischen Gebrauch der moralischen Urteilskraft kann dieser moralische als politischer Gemeinsinn betrachtet werden. Analog lässt sich ein juridischer Gemeinsinn als apriorische Bedingung juridisch-bestimmender Urteilskraft konstruieren. Denn auch in diesem Gebrauch bringt die Urteilskraft Vernunft und Verstand auf eine Weise überein, dass das auf dieser ‚Zusammenstimmung‘ basierende Urteil anderen zumutbar, also mitteilbar bzw. verallgemeinerbar ist. Der als das Allgemeine gegebene Begriff des Rechts oder eines Rechtsgesetzes verbürgt dabei die objektive Notwendigkeit des Urteils. Der juridische Gemeinsinn kann im Falle des politischen Gebrauchs der juridisch-bestimmenden Urteilskraft ebenfalls als politischer Gemeinsinn betrachtet werden. Aber selbst der pragmatisch-klugen als politisch-reflektierender Urteilskraft ist ein Gemeinsinn zuzuordnen. Als praktischen teleologisch-reflektierten Urteilen liegt mitteilbaren pragmatischen und/oder klugen politischen Urteilen der sensus communis teleologicus zugrunde. Dieser teleologische Gemeinsinn kann hier aufgrund des politischen Gebrauchs der Urteilskraft ebenfalls sensus communis politicus heißen. Politik ist auf ihn ebenso angewiesen wie auf moralischen und juridischen Gemeinsinn. Denn nur wenn auch ihre pragmatisch-kluge Ausübung von ihm getragen ist, wird sie Kants Forderung nach Einklang von Moralität und Klugheit gerecht. Ist das politische Urteil moralisch, seine Anwendung aber nicht verallgemeinerbar, könnte es sich um den von Kant abgelehnten Moralismus handeln. Ist es legal, seine Umsetzung aber nicht mitteilbar, könnte der ebenfalls zurückgewiesene Legalismus vorliegen, bei dem der Buchstabe über dem Geist des Gesetzes und damit über der Gerechtigkeit steht. (Vgl. Kapitel D. II. 3.) Also liegt politisch-bestimmender und politisch-reflektierender Urteilskraft ein politischer Gemeinsinn als apriorisches Prinzip zugrunde. Er stellt die Bedingung für gelingende, d.h. mitteilbare politische Urteile dar. Dieser sensus communis politicus steht auch – wie ein Blick auf die Bedeutung des gesunden Menschenverstandes für die Politik deutlich macht – in Analogie zum empirischen Gemeinsinn. Aufgrund seiner zentralen Bedeutung für die Politik kann der politische Gemeinsinn als Grundprinzip des Politischen bei Kant betrachtet werden. Dieser Befund lässt sich mit einigen Analogien untermauern, die sich auf verschiedenen Ebenen zu ihm bilden lassen.
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In der Grundidee des Gemeinsinns, die in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft entwickelt wird, verknüpft Kant zwei traditionelle Sensus-communis-Konzepte. Der Gedanke der Übereinstimmung zweier Kräfte im Gemüt wird mit dem des gerechtfertigten Anspruchs auf Übereinstimmung mit dem Urteil anderer Menschen verbunden. Auf diese Weise steht der Gemeinsinn bei Kant für ein Prinzip a priori von Urteilen, welche auf der Basis einer von Privatbedingungen freien Harmonie zwischen zwei Gemütskräften den Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erheben dürfen. Diese Idee des sensus communis verweist auf den urpolitischen Charakter des menschlichen Urteils- und Erkenntnisapparates. Denn aufgrund der bei allen gleichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisstruktur sind wir für Kant in jedem Urteil bereits auf alle anderen Menschen bezogen. Dadurch ist jeder Einzelne potenziell in der Lage zu wissen, ob sein Urteil mitteilbar ist oder nicht. Nur aufgrund dieser bei allen gleichermaßen vorhandenen Konstitution ist es dem Individuum möglich, einen allgemeinen Standpunkt einzunehmen und sich – etwa in Form von Selbstkritik – zu sich selbst als ein anderer zu verhalten. Kants Idee des Gemeinsinns als Prinzip der Mitteilbarkeit von Urteilen überhaupt findet in ihrer explizit politischen Variation eine besondere Ausprägung. Denn dieser sensus communis politicus steht als Prinzip mitteilbarer politischer Urteile in Analogie zum Begriff der Politik selbst. Wie sie – die schon durch ihre griechische Wortherkunft von polis in jedem Akt auf die Gemeinschaft bezogen ist – kennzeichnet auch ihn ein unentbehrlicher Bezug zu allen anderen Menschen. Wie jeder apriorische Gemeinsinn steht auch der politische wie erwähnt in Analogie zum empirischen Gemeinsinn. Als gesunder Menschenverstand gibt dieser bereits wieder, was jener nur ‚ansinnen‘ kann – allgemeine Zustimmung. In der ihn charakterisierenden realen Übereinstimmung mit den Urteilen der anderen zeigt sich auch seine politische Grundverfassung. Von politischem Gemeinsinn getragen ist ebenfalls Kants Idee der Publizität. Sie beinhaltet die notwendige Veröffentlichung politischer Maximen. Als ‚transzendentales Prinzip öffentlichen Rechts‘ stellt sie zugleich eine Grundbedingung für erfolgreiche Politik dar. Mit der Forderung nach Publizität verpflichtet Kant Politiker zur Bekanntgabe ihrer Beweggründe und Vorsätze. Dabei ist impliziert, dass diese Mitteilungspflicht für alle relevanten Motive gilt und diese stets Mitteilbares darstellen sollen. Denn es liegt auf der Hand, dass unmoralische Absichten nicht durch ihre bloße Bekanntgabe legitimiert werden können. Publizität beinhaltet demnach die Veröffentlichung von Veröffentlichungsfähigem, also Verallgemeinerbarem. Nur so stellt sie eine Bedingung für Politik dar, die sich im Einklang mit Recht und Moral befindet. In der Publizität als Grundvoraussetzung für
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Recht und Politik findet der nach Öffentlichkeit strebende Charakter der menschlichen Vernunft seine Entsprechung (vgl. auch den Exkurs zur allgemeinen Menschenvernunft in Kapitel D. III. 1.). Die Definition der Publizität stellt eine Variation des kategorischen Imperativs dar. Sie lautet: Nur „Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen“ (ZeF 8:386). Die Nähe, welche Inhalt und Form dieser Konstruktion zum moralischen Gesetz aufweisen, zeigt deutlich, dass auch dem Begriff der Publizität die Idee des Gemeinsinns von der Urteilsprüfung an der gesamten Menschenvernunft zugrunde liegt (vgl. Kapitel D. II. 3.). (Vgl. ZeF 8:381 ff.; SF 7:89 f.) Kant kennt noch einen weiteren politischen Gemeinsinn – den gemeinschaftlichen Willen. Er wird als sich a priori aus der Vernunft ableitende Grundvoraussetzung für ein öffentliches Recht charakterisiert, auf dem allein eine bürgerliche Verfassung errichtet werden soll. Von diesem allgemeinen Willen muss der „ursprüngliche Vertrag“, das „Grundgesetz“, getragen sein, auf dem diese Verfassung laut Kant beruhen muss. Insofern dieser gemeinsame, vereinigte Wille des Volkes allein bestimmt, was rechtens ist, stellt er einen „Probirstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“ (Spruch 8:297) dar. Der allgemeine Volkswille kommt einem gemeinsamen Bekenntnis zu einer Ordnung öffentlichen, moralischen Rechts gleich. Er ist Ausdruck des Gemeinsinns in der übertragenen Bedeutung einer Bejahung von Recht und Moral sowie auf ihnen gründenden politischen Institutionen. In Anthropologie wird dieser Wille als „Gemeinsinn (Aller vereinigt)“ bezeichnet, dem der „Privatsinn (Einzelner)“ mit zunehmender Kultivierung in einer Gesellschaft weicht (vgl. 7:329). Kants Formulierung erleichtert es zusätzlich, die Analogie zwischen dieser Idee eines allgemeinen Urteils der Bürger und dem Prinzip verallgemeinerbarer Urteile von Politikern zu erkennen. Beide stellen Grundbedingungen erfolgreicher Politik dar. (Vgl. ZeF 8:351, 8:371, 8:378, 8:383; Aufklärung 8:40; Spruch 8:291 ff.; MSR 6:313 f., 6:326, 6:338; RGV 6:98; Vorarbeiten MS 23:351.) Die Idee des politischen Gemeinsinns trägt bis hin zu einem friedlichen Zusammenleben von Völkern bzw. Staaten. Wie in Platons Politeia oder dem Leviathan von Hobbes werden in Kants politischer Philosophie Mensch und Staat in Analogie zueinander betrachtet (vgl. z. B. ZeF 8:354). Zu den Angelegenheiten eines Volkes oder Staates existieren Entsprechungen in den Angelegenheiten des einzelnen Menschen. So findet auch der gemeinsame Wille der Bürger zu einem verbindlichen Recht sein Analogon in einem vereinigten Willen der Völker respektive Staaten zu einer gemeinsamen, völker- wie weltbürgerrechtlich verfassten Ordnung (vgl. ZeF 8:354 ff.; Spruch 8:311 ff.; MSR 6:343 ff.; Idee 8:24 ff.). Auch dieser gemeinschaftliche Wille politischer Gemeinschaften lässt sich in Analogie
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zum politischen Gemeinsinn betrachten. Er ist heute – in Zeiten besonders rasant fortschreitender Globalisierung – vielleicht wichtiger denn je. Die Bedeutungsdimensionen des politischen Gemeinsinns reichen demnach von einem ‚politischen‘ Prinzip der Urteilskraft über von Bürgern und Politikern zu erfüllende Grundvoraussetzungen für gelingende Politik bis hin zur Bedingung für eine friedliche Koexistenz von Völkern und Staaten. Die Relevanz der vielfältigen Analogien zu diesem Gemeinsinn bestätigt diesen als Voraussetzung und grundlegendes Prinzip des Politischen.206 In den Analogien wird überdies die Notwendigkeit eines Übergangs von der gemeinsamen Teilhabe an einer politisch verfassten Vernunft zu einer gemeinsamen Teilnahme am politischen Geschehen deutlich. Zu gelingender Politik reicht es nicht aus, über ein gleichartiges, immer schon auf die anderen gerichtetes Instrumentarium zu verfügen – es muss auch in entsprechender Weise genutzt werden.207 Es lässt sich für dieses Kapitel zusammenfassend feststellen, dass dem Common Sense in seinen drei Bedeutungen ‚gesunder Menschenverstand‘, 206 Von Hannah Arendt wurde der Gemeinsinn in Form erweiterter Denkungsart, also einer Maxime des gemeinen Menschenverstandes, als Grundbedingung des Politischen bei Kant betrachtet (vgl. dies.: Urteilen, v. a. S. 80 ff., zur Gemeinsinn-Problematik auch insbesondere dies.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/ Zürich 1994 (1958), S. 272 ff.). Kritisiert wurde Arendts anthropologische Lesart der Idee des sensus communis z. B. von Lyotard (vgl. ders.: Analytik, v. a. S. 29, 240 ff. sowie Sensus communis, S. 223 ff.). Volker Gerhardt hat gegen Arendt deutlich gemacht, dass sich die Grundlage zu einer Theorie der Politik bei Kant nicht in der Episode von § 40 der dritten Kritik, sondern in den beiden Anhängen der Friedensschrift befindet (vgl. ders.: Vernunft und Urteilskraft, S. 316 ff. sowie Frieden, S. 12 f., 191 ff.). Tatsächlich bilden Recht, Moral und Urteilskraft das Fundament der Kant’schen Politiktheorie. Insofern diese Bausteine aber vom politischen Gemeinsinn als ihrem Grundprinzip getragen und zusammengehalten werden, kann eine Rekonstruktion dieser Theorie nicht an der Idee des Gemeinsinns vorbeigehen. Jedoch ist dabei eine Ästhetisierung der Politik oder Politisierung des Ästhetischen unbedingt zu vermeiden. Die politische ist keine ästhetische Urteilskraft und der sensus communis aestheticus nicht der sensus communis politicus. Deshalb wurde in diesem Kapitel auch lieber vom politischen Gemeinsinn als Grundprinzip des Politischen gesprochen. Da dieser nur eine Variante der Grundidee des Gemeinsinns darstellt, könnte zwar auch diese als das Prinzip des Politischen betrachtet werden. Es sollte aber eine Lesart verhindert werden, die dem Schönen, dem Erhabenen etc. eine grundlegende Bedeutung für die Politik zumisst. 207 Zur Veranschaulichung der Konsequenzen aus der Analogie ‚Individuum – politische Gemeinschaft‘ ist von Volker Gerhardt eine Bemerkung des altchinesischen Politikers und Philosophen Lü Bu We zitiert worden. Sie eignet sich zugleich, die praktischen Auswirkungen der Bedeutungsdimensionen des politischen Gemeinsinns aufzuzeigen: „Ist die eigene Person in Ordnung, so kommt die Familie in Ordnung; ist die Familie in Ordnung, so kommt der Staat in Ordnung; ist der Staat in Ordnung, so kommt die Welt in Ordnung.“ (Gerhardt: Partizipation, S. 48).
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
‚pragmatisch-kluge Urteilskraft‘ und ‚Gemeinsinn‘ bei Kant große Bedeutung für die Politik zukommt. Er ist für diese ebenso unentbehrlich wie Recht und Moral. Die Untersuchung hat außerdem deutlich werden lassen, dass sich in Kants Politikkonzeption Vernunft und Urteilskraft, bzw. Recht und Moral auf der einen und Common Sense auf der anderen Seite, die Waage halten. Auch wenn Kant es dem Leser nicht leicht macht, diese Balance zu erkennen, darf seine politische Philosophie keinesfalls als realitätsfremd betrachtet werden. Sie steht also beispielsweise nicht im Gegensatz zu der von Max Weber für die Politik geforderten Verbindung von Gesinnungsethik, in der allein die Absicht entscheidend ist, und Verantwortungsethik, in welcher die Folgen maßgebend sind.208 Kant hätte seine Zustimmung auch zu der Formel geben können, mit der der deutsche Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt sein Verständnis von Politik ausgedrückt hat – sie sei „pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken oder zu sittlichen Zielen“209. Es sollte nicht schwer fallen, die große und vielgestaltige Bedeutung des Common Sense für die Politik auf andere Bereiche zu übertragen. Der Common Sense im Sinne pragmatischer Klugheit konkurriert z. B. auch in Wirtschaft und Sport mit Recht und Moral. Langfristiger Erfolg ist hier ebenfalls nur denen beschieden, die alle drei Aspekte zur Übereinstimmung bringen.
II. Die oberen Fakultäten: Gelehrsamkeit und Gehorsamkeit Im Streit der Fakultäten von 1797, der letzten von ihm selbst veröffentlichten Schrift, thematisiert Kant das Verhältnis der drei oberen Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) zur unteren (Philosophie). Durch das Hinzuziehen weiterer Kant-Dokumente – wie z. B. der Religionsschrift und der Rechtslehre – lässt sich zeigen, dass der Common Sense auch in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist. Kant verweist die oberen Fakultäten nicht nur auf ein natürliches Verständnis von ihren Gegenständen, sondern auch auf den natürlichen Verstand. Diesen legt er zur Bewahrung und Berichtigung in die Hände der Philosophie.210 208 Vgl. Weber, Max: Politik als Beruf, Stuttgart 2004 (Vortrag von 1919), S. 70 ff. 209 Schmidt, Helmut: Maximen politischen Handelns. Bemerkungen zu Moral, Pflicht und Verantwortung des Politikers. Rede des Bundeskanzlers auf dem KantKongreß der Friedrich-Ebert-Stiftung am 12. März 1981, S. 20. 210 Zum Verständnis und den Hintergründen der Fakultätsschrift vgl. die ausführliche Monografie von Reinhard Brandt: Universität zwischen Selbst- und Fremd-
II. Die oberen Fakultäten: Gelehrsamkeit und Gehorsamkeit
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In der Fakultätsschrift macht Kant zunächst einen Unterschied zwischen den eigentlichen Gelehrten und den ‚bloß‘ Studierten. Mit Letzteren sind die Universitätsabsolventen der oberen Fakultäten gemeint, welche mit ihrer Ausbildung die Zugangsberechtigung für ein Amt erworben haben, also Beamte wie Pfarrer, Richter und Ärzte. Mit ihnen sichere die Regierung ihre Macht über das Volk. Kant charakterisiert diese „Geschäftsmänner“ der Gelehrsamkeit als Geschäftsleute der Gehorsamkeit. Das Urteil dieser „Instrumente“ oder „Werkzeuge“ der Regierung sei nie unabhängig von dieser: „Von den eigentlichen Gelehrten sind noch die Litteraten (Studirte) zu unterscheiden, die als Instrumente der Regierung, von dieser zu ihrem eigenen Zweck (nicht eben zum Besten der Wissenschaften) mit einem Amte bekleidet, zwar auf der Universität ihre Schule gemacht haben müssen, allenfalls aber Vieles davon (was die Theorie betrifft) auch können vergessen haben, wenn sie nur so viel, als zu Führung eines bürgerlichen Amts, das seinen Grundlehren nach nur von Gelehrten ausgehen kann, erforderlich ist, nämlich empirische Kenntniß der Statuten ihres Amts (was also die Praxis angeht), übrig behalten haben; die man also Geschäftsleute oder Werkkundige der Gelehrsamkeit nennen kann. Diese, weil sie als Werkzeuge der Regierung (Geistliche, Justizbeamte und Ärzte) aufs Publicum gesetzlichen Einfluß haben und eine besondere Klasse von Litteraten ausmachen, die nicht frei sind, aus eigener Weisheit, sondern nur unter der Censur der Facultäten von der Gelehrsamkeit öffentlichen Gebrauch zu machen, müssen, weil sie sich unmittelbar ans Volk wenden, welches aus Idioten besteht (wie etwa der Klerus an die Laiker), in ihrem Fache aber zwar nicht die gesetzgebende, doch zum Theil die ausübende Gewalt haben, von der Regierung sehr in Ordnung gehalten werden, damit sie sich nicht über die richtende, welche den Facultäten zukommt, wegsetzen.“ (SF 7:18).
Neben den oberen Fakultäten, die das vornehmliche Interesse der Regierung wahren, fristet die Philosophie als untere Fakultät ihr Dasein. An ihr – im Schatten dessen, was die Regierung für wichtig erachtet – wird laut Kant nur das Interesse der Wissenschaft verfolgt: „Es muß zum gelehrten gemeinen Wesen durchaus auf der Universität noch eine Facultät geben, die, in Ansehung ihrer Lehren vom Befehle der Regierung unabhängig, keine Befehle zu geben, aber doch alle zu beurtheilen die Freiheit habe, die mit dem wissenschaftlichen Interesse, d.i. mit dem der Wahrheit, zu thun hat, wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt sein muß: weil ohne eine solche die Wahrheit (zum Schaden der Regierung selbst) nicht an den Tag kommen würde, die Vernunft aber ihrer Natur nach frei ist und keine Befehle etwas für wahr zu halten (kein crede, sondern nur ein freies credo) annimmt.“ (SF 7:19 f.).
Die philosophische Fakultät ist die ‚Klasse der Universität‘, die das wissenschaftliche Interesse an der Wahrheit verfolgt. Da Letztere nicht an Obbestimmung. Kants ‚Streit der Fakultäten‘, Berlin 2003 sowie Bien, Günther: Kants Theorie der Universität und ihr geschichtlicher Ort, in: Historische Zeitschrift 219/3.1974, S. 551 ff. Die Aktualität der Fakultätsschrift für die in ihr thematisierten Wissenschaften stellt unter Beweis: Gerhardt, Volker (Hg.): Kant im Streit der Fakultäten, Berlin/New York 2005.
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rigkeiten gebunden ist, sondern ihre Erkenntnis unabhängiges Denken voraussetzt, darf der Philosophie das Recht auf Denkfreiheit nicht genommen werden. Diese Freiheit schließt für Kant eine Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit ein. Nur wenn die Philosophen ihre Überlegungen über die Wahrheit der theologischen, juristischen und medizinischen Lehren öffentlich äußern dürfen, können sie ihre Aufgabe erfüllen, die oberen Fakultäten „zu controlliren und ihnen eben dadurch nützlich zu werden“ (SF 7:28). Entsprechend müssen für Kant die Theorien der unteren Fakultät in besonderem Maße auf Vernunft basieren. Denn sie ist das Vermögen, frei zu urteilen. (Vgl. SF 7:27 ff.) Die Geschäftsleute der oberen Fakultäten dagegen „gründen die ihnen von der Regierung anvertraute Lehren auf Schrift“ (SF 7:22). Ihre Inhalte sind insofern von Befehlen getragen. Es „schöpft der biblische Theolog (als zur obern Facultät gehörig) seine Lehren nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht, der Arzneigelehrte seine ins Publicum gehende Heilmethode nicht aus der Physik des menschlichen Körpers, sondern aus der Medicinalordnung.“ (SF 7:23).
Der reine Bibeltheologe – so heißt es erläuternd – beweise die Existenz Gottes nicht aus der Vernunft, sondern aus dessen Präsenz in der Bibel. Selbst in der Auslegung dieser Schrift baue er statt auf vernünftige Einsicht auf übernatürliche Eingebung. Auch der Jurist suche als treuer Beamter nicht in seiner Vernunft nach den Gesetzen, sondern im öffentlichen Gesetzbuch. Sogar den Arzt kennzeichnet ein unkritischer Umgang mit seinem Regelwerk. Er sei der „Medicinalordnung“ unterworfen. Diese gebiete u. a. eine flächendeckende Versorgung und verbiete das Töten von oder Experimentieren an Kranken. Weil die Ärzte auf diese Weise für „öffentliche Bequemlichkeit“ und „Sicherheit“ sorgen, vergleicht Kant diese Geschäftsleute der medizinischen Fakultät mit Polizisten. (Vgl. SF 7:23 ff.) Zwischen den oberen Fakultäten und der unteren besteht für Kant ein „gesetzwidriger Streit“ um den Einfluss auf die Bevölkerung: Das Volk – die Ungelehrten, die lediglich auf gesunden Verstand Anspruch machen (vgl. SF 7:30) – hat ein größeres Interesse am Nutzen der oberen Fakultäten als an dem der unteren. Es möchte lieber wissen, wie man nach dem Tode selig, wie durch Gesetze sicher und auf welche Weise man schnell gesund werden kann, als wie man rechtschaffen und rechtmäßig leben und sich im Genuss mäßigen soll. Die Erwartungen, die das Volk an die Fähigkeiten der Beamten knüpft, sind grenzenlos. Die Menge verlangt zu erfahren, „wie, wenn ich auch ruchlos gelebt hätte, ich dennoch kurz vor dem Thorschlusse mir ein Einlaßbillet ins Himmelreich verschaffen, wie, wenn ich auch Unrecht habe, ich doch meinen Proceß gewinnen, und wie, wenn ich auch meine körper-
II. Die oberen Fakultäten: Gelehrsamkeit und Gehorsamkeit
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lichen Kräfte nach Herzenslust benutzt und mißbraucht hätte, ich doch gesund bleiben und lange leben könne.“ (SF 7:30).
Das Volk hat für Kant eine übertriebene Vorstellung von den Gelehrten – der Ungelehrte hält sie z. T. für „Wahrsager“ oder „Zauberer“. Aufgrund der Tendenz der ‚Geschäftemacher‘ von den oberen Fakultäten, sich als solche „Wundermänner“ zu präsentieren, bedarf es laut Kant der öffentlichen Zurechtweisung durch die Philosophie. Das Volk will von den Geschäftsmännern der oberen Fakultäten „geleitet“, gar „betrogen“ werden. Und so lange die Philosophie nicht dagegen einschreiten darf, wird ihm dieser Wunsch erfüllt. So lange die Beamten das Volk betrügen und die Regierung sie darin noch wider die Vernunft durch Autorisierung von Gesetzlosigkeiten unterstützt, besteht ein ewiger „gesetzwidriger Streit“ zwischen den oberen Fakultäten und der unteren. Verzichtet wie in diesem Fall eine der Streitparteien auf den Gebrauch der Vernunft, dann fehlt die gemeinsame Basis für eine „gesetzmäßige“, notwendige Auseinandersetzung an Universitäten. (Vgl. SF 7:29 ff.) Begegnet der Common Sense als der ungelehrte Normalverstand hier im Sinne von Naivität und unmoralischen Wünschen negativ besetzt, so kommt ihm später, im Kontext des Rechts und ebenfalls eher beiläufig, auch positive Bedeutung zu: „Volksaufklärung ist die öffentliche Belehrung des Volks von seinen Pflichten und Rechten in Ansehung des Staats, dem es angehört. Weil es hier nur natürliche und aus dem gemeinen Menschenverstande hervorgehende Rechte betrifft, so sind die natürlichen Verkündiger und Ausleger derselben im Volk nicht die vom Staat bestellte amtsmäßige, sondern freie Rechtslehrer, d.i. die Philosophen, welche eben um dieser Freiheit willen, die sie sich erlauben, dem Staate, der immer nur herrschen will, anstößig sind, und werden unter dem Namen Aufklärer als für den Staat gefährliche Leute verschrieen; obzwar ihre Stimme nicht vertraulich ans Volk (als welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern ehrerbietig an den Staat gerichtet und dieser jenes sein rechtliches Bedürfniß zu beherzigen angefleht wird“ (SF 7:89).
Die zitierte Passage steht im Kontext einer Forderung nach Publizität. Am Beispiel des Rechts erläutert Kant die Notwendigkeit freier Meinungsäußerung durch die Philosophen. Diese sollen das Volk über seine Rechte und Pflichten aufklären – obwohl sie sich gar nicht direkt an dieses, sondern nur beratend an die Regierung wenden. Verwehre man ihnen, ihre Überlegungen, mitunter ihre Bedenken und Verbesserungsvorschläge, öffentlich zu äußern, werde ein Fortschritt der Gesellschaft zum Besseren verhindert. Dieser Gedankengang birgt einen bedeutsamen Hinweis auf den Zusammenhang von Common Sense und Philosophie: Das Recht muss auch beim nachkritischen Kant von der Idee des natürlichen Rechts beseelt sein (vgl.
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Kapitel C. I., E. II. 2.). Seine Wurzel liegt insofern im „gemeinen Menschenverstande“. Aufgrund dieser Beziehung hält Kant statt der abhängigen Rechtsbeamten die autonomen Philosophen für die „natürlichen Verkündiger und Ausleger“ des Rechts. Die Philosophie wird damit zum Anwalt des Common Sense. Sie soll das natürliche Grundverständnis der Menschen gegenüber obrigkeitlicher Rechtswillkür und obrigkeitshörigen Juristen wahren. Ihr fällt für Kant also nicht nur die Aufgabe zu, die Ansprüche der höheren Vernunft zu sichern. Sie muss auch die der natürlichen, gemeinen, gesunden Vernunft vertreten. (Vgl. Kapitel E. III.) Es ist davon auszugehen, dass die Philosophie den Common Sense nicht nur vor einer Manipulation durch die Geschäftsleute der juristischen Fakultät bewahren soll. Denn auch Theologie und Medizin haben sich für Kant bei aller Wissenschaft an natürlicher Religion bzw. an natürlicher Gesundheit und natürlicher Heilkunde zu orientieren (vgl. Kapitel C. I., E. II. 1., E. II. 3.). Die natürliche Grundauffassung stellt in solchen Zusammenhängen eine Form von Common Sense dar und die Philosophie soll die Interessen dieses Vermögens gegenüber denen der oberen Fakultäten verteidigen. Bestätigung findet diese Interpretation in der Nachlassreflexion 430. Sie wird vage auf den Zeitraum 1780–84 datiert, könnte aber aufgrund ihres Inhalts auch später, im Entstehungszeitraum der Fakultätsschrift, entstanden sein.211 Die Reflexion ist überaus aufschlussreich für die Bedeutung des Common Sense hinsichtlich der Fakultäten. Aufgrund ihrer großen Relevanz sei ausführlicher aus ihr zitiert: „Alle drey obere facultäten laboriren theils an Gelehrsamkeit, theils an speculation, und in ihnen insgesammt ist die Wissenschaft provisorisch gut, [sie] hat aber doch zum Zweke, [. . .; RN] sie zum Gesunden Menschenverstande herabzubringen, der in der That hierin auch allein der beste Richter ist und der Probirstein der Richtigkeit der Satze, wie denn alle drey vor alle Menschen sind. 211 Der Inhalt der Reflexion legt nahe, dass diese nicht vor der ersten Kritik, sondern eher Mitte der 1780er Jahre verfasst wurde. Ihm korrespondiert nicht nur die Reflexion 193 von 1785–88 (vgl. 15:71 f.), sondern auch der Abschnitt über die oberen Erkenntnisvermögen in Anthropologie Mrongovius aus dem Wintersemester 1784/85 (vgl. 25:1296 ff.). In Menschenkunde von 1781/82 findet sich dagegen an vergleichbarer Stelle noch kein deutlicher Bezug (vgl. 25:1032 ff.). Eine Parallele existiert weiterhin zur Aufklärungsschrift von 1784. Bereits hier werfen sich Geistliche und Ärzte gern zu Vormündern auf und auch das natürliche Recht wird thematisiert (vgl. 8:35, 8:39 f.). Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Reflexion 430 und ihrer Referenzstellen erstaunt, dass Reinhard Brandt sie in seiner sehr detaillierten Arbeit über die Fakultätsschrift nicht einmal erwähnt (vgl. ders.: Streit). Anders Ralf Selbach: Staat, Universität, Kirche. Die Institutionen- und Systemtheorie Immanuel Kants, Frankfurt/M. 1993, S. 138 f.
II. Die oberen Fakultäten: Gelehrsamkeit und Gehorsamkeit
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1. Theologie muß endlich Religion bis zur Einsicht und Ueberzeugung des blos gesunden Menschenverstandes bringen. Denn sie ist entweder eine natürliche oder gelehrte Religion in Ansehung ihrer Mittheilung. Als gelehrte Religion kann sie nie vor alle Menschen seyn, also wird sie einmal dahin kommen müssen, daß jedermann nach seinem bloßen Menschenverstande, da sie einmal da ist, wird einsehen, sich davon überzeugen und sie fassen können. Da muß ieder Punct, der vielleicht anfänglich zur Introduction nothig war, wegfallen, wenn die Ueberzeugung von seiner Richtigkeit Gelehrsamkeit voraussetzt; doch wird immer Gelehrsamkeit nothig seyn, um durch Geschichte den Vorwitz zu [kützeln] züglen, damit er nicht durch Hirngespinste den Menschenverstand verführe. 2. Rechtskunde ist auch vor alle Menschen; denn iedermann muß doch wissen können, welches Recht iemand aus gewissen Handlungen oder Vorfällen gegen ihn hat, und er stellt sich natürlicher Weise auch ein Recht vor, das er aus eben dergleichen Ursachen erwirbt. Nun kann keine rechtliche speculation [ein] andere Principien des Rechts ersinnen als die des gemeinen Verstandes; denn Gesetze sollen das Recht, was Menschen natürlicher Weise fodern, nur verwalten. Es ist auch merkwürdig, daß keine Wissenschaft, die sich auf Vernunft gründet, so der vielheit der Falle nothig hat, an welchen die Regeln in concreto geprüft werden könten als Rechtswissenschaft. Man soll keine Rechte erfinden, [abe] sondern nur dasienige, was sich ieder denkt, deutlich und bestimt ausdrücken. Dazu gehort freylich Gelehrsamkeit. 3. Arzneykunde. Die Natur im Ganzen erhalt sich, und die Gattung wachst blühend fort. Also muß doch in dem Menschlichen Korper eine selbsthülfe stecken, zu der Arzney nichts hinzusetzen kan, und also ein Betragen, bey dem alle Menschen gesund seyn könten. [. . .; RN] Die Principien müssen in allen dreyen Wissenschaften nicht dogmatisch, sondern critisch genommen werden, um nur den Gemeinen Verstand zu sichern, nicht um ihm unbekante Regeln zu lehren“ (Refl. 430, 15:173 f.).
Die Nachlassreflexion, der dieser Auszug entnommen ist, enthält eine sehr dichte, stringente Argumentationskette. Einerseits lässt sie sich als Wiederholung oder Verlängerung von Kants vorkritischen Überlegungen zum Verhältnis ‚Common Sense – obere Fakultäten‘ verstehen (vgl. Kapitel C. I.). Andererseits wirkt sie wie eine Vorlage für oder eine Erläuterung bzw. ein Zusatz zur Fakultätsschrift. Der Absatz über die Rechtskunde liest sich wie eine ausführlichere Fassung der zuletzt zitierten Passage aus dieser (vgl. SF 7:89). Auch hier geht es um die öffentliche Belehrung des Volkes über die Rechtsgesetze sowie die notwendige Bindung des positiven an das natürliche Recht und damit an den Common Sense. Im zitierten Ausschnitt verweist Kant die oberen Fakultäten, welche für ihn hauptsächlich durch Gelehrsamkeit und Spekulation gekennzeichnet sind, mehrfach und nachdrücklich auf den Common Sense. Weil alle drei Wissenschaften für das Volk da sind, also allen Menschen nutzen sollen,
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
müssen sie ihre Erkenntnisse zum gesunden Menschenverstand ‚herabbringen‘. Kant fordert, den Common Sense in den oberen Fakultäten zu sichern, d.h. ihn zu respektieren und zu berücksichtigen. Statt ihn leichtfertig durch dogmatische Prinzipien zu ersetzen, sollten Theologen, Juristen und Mediziner kritisch mit ihren Erkenntnissen umgehen. (Vgl. Refl. 430, 15:172 ff.) In diesem Kontext kommt der Common Sense als Basis (natürliche Religion, natürliches Recht, natürliche Gesundheit und Gesundung), Maßstab („Probirstein“) und Zielhorizont („vor alle Menschen“) zum Tragen. Zugleich legt Kant aber Wert darauf, dass die Wissenschaftlichkeit in den oberen Fakultäten keineswegs durch die notwendige Orientierung am Common Sense entbehrlich wird. Die Theologie darf die Religion nicht zu einer Sache höherer Bildung oder Informiertheit machen. Der gesunde Menschenverstand allein muss ausreichen, um aus eigenen Stücken zur Überzeugung von ihr zu gelangen. Entsprechend hat die Rechtskunde dahin zu wirken, dass der einfache, ungebildete Verstand seine Rechte und Pflichten verstehen kann. Darüber hinaus müssen die Rechtsgesetze über einen Rückhalt im Common Sense verfügen. Die Arzneikunde schließlich verweist Kant analog auf die Selbsterhaltung oder Selbstheilung des Menschen. An dieser natürlichen ‚Selbsthilfe des Körpers‘ soll sich der Mediziner orientieren, anstatt vorschnell künstliche Medikamente zu verabreichen. Bevor die Rolle der Philosophie hinsichtlich des Common Sense beim nachkritischen Kant in Kapitel E. III. separat weiterverfolgt wird, soll die Bedeutung dieses Vermögens für die Inhalte und Methoden der drei oberen Fakultäten unter Zuhilfenahme weiterer Zeugnisse eingehender betrachtet werden. 1. Theologie Die Unterscheidung zwischen der Arbeit der Theologen und der der Philosophen ist auch außerhalb der Fakultätsschrift von großer Bedeutung für Kant. In der Religionsschrift wird unter den („biblischen“) Theologen ebenfalls zwischen Geistlichen und Gelehrten differenziert. Die Ersten besorgen das Heil der Seele, die Zweiten auch das der Wissenschaft. Beiden wird der nur aus der Vernunft schöpfende philosophische Theologe entgegengesetzt. Während er die Bibel nur zur Bestätigung nutzt, setzen die Bibeltheologen beinahe alles daran, die Bibel zu bestätigen. (Vgl. RGV 6:8 ff.; SF 7:18 ff.) Entsprechend unterscheidet Kant auch zwischen historischer, gelehrter Offenbarungsreligion und reiner, natürlicher Vernunftreligion oder zwischen
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statutarischem212 Kirchenglauben und moralischem Vernunft- oder Religionsglauben (vgl. RGV 6:102 ff., 6:154 ff.; SF 7:36 ff.; Orientieren 8:140 ff.; Refl. 430, 15:172 ff.). Kant, dessen Verhältnis zu seiner (protestantischen) Kirche als distanziert beschrieben werden kann213, steht auf der Seite der natürlichen Religion und philosophischen Theologie. Wiederholt wendet er sich vehement gegen Fetisch und Folklore, gegen Kultus und Ritus (vgl. z. B. RGV 6:168 ff.). Das Wichtigste an der Religion ist für ihn die Beförderung der Moral, welche der Religion nicht bedarf, aber zwangsläufig zu ihr führt (vgl. RGV 6:3 ff.). Schon aus diesen Gründen kommt es Kant darauf an, dass jeder von selbst – d.h. mit den Mitteln des einfachen, gemeinen Verstandes – zu Gott findet und sich diese Idee nicht aufzwingen lässt. Im Kontext der Gottesbeweis-Problematik der Kritik der teleologischen Urteilskraft wurde von Kant erneut und nachdrücklich ein sehr enger Zusammenhang zwischen dem Common Sense als gewöhnlichem, empirischem Verstand aller und der Gottesidee hergestellt (vgl. Kapitel D. I. 4.). Diese Auffassung begegnet auch mehrmals im nachkritischen Werk: Der Common Sense reiche vollkommen zur Überzeugung von der Existenz Gottes aus. Religion müsse – etwa durch populäre Predigten – auf eine diesem Laienverstand angemessene Weise vermittelt werden. Theologie bleibe aber schon deshalb unentbehrlich, weil sie als Wissenschaft vor seinen Irrtümern bewahren könne. (Vgl. z. B. Refl. 430, 15:172 ff.; Refl. 6080, 18:444; Refl. 6213, 18:497 ff.; Vorarbeiten SF 23:449 f.; Logik Busolt 24:626; Metaphysik Pölitz/L1 28:314 ff., 28:320 f.; Metaphysik K2 28:788; Religionslehre Pölitz 28:995, 28:1001 ff., 28:1123; Danziger Rationaltheologie 28:1238; Rationaltheologie Fragment 28:1323; Metaphysik Mrongovius 29:780; Brief an Fichte 11:321 f.) In der Religionsschrift kommt diese Grundüberzeugung noch einmal deutlich zum Ausdruck. Der wahre (vernünftige) Religionsglaube bietet sich für Kant „aller menschlichen Vernunft“ selbst dar (vgl. RGV 6:140, 6:181). Jede gute Religion müsse im Einklang mit der von ‚allgemeiner Menschenvernunft‘ getragenen natürlichen Religion stehen (vgl. RGV 6:165). Wie schon einmal in Kapitel D. I. 4. bemerkt, wird der Common Sense von Kant in Religionsfragen z. T. auch überfordert oder auf unrechtmäßige Weise vereinnahmt. Er wird nicht nur zur Beglaubigung von Gottesbeweisen herangezogen. In der Religionsschrift behauptet Kant gar, die triadische 212 ‚Statut‘ im Sinne einer Lehre, die nicht auf der Vernunft, sondern obrigkeitlicher Willkür basiert (vgl. SF 7:22). 213 Vgl. z. B. Kühn: Kant, S. 17 ff., 52 ff., 290, 368; Malter: Rede, u. a. S. 96, 139, 152 f., 204, 312, 370, 452, 513, 527, 595; Vorländer, Band 2, S. 176 ff.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Vorstellung von Gott werde in so vielen Völkern und verschiedensten Zeitaltern angetroffen, weil sie in der „allgemeinen Menschenvernunft“ angelegt sei (vgl. RGV 6:139 ff.). Andernorts wird der Common Sense genötigt zu bezeugen, dass der Polytheismus in die Irre führe und allein der Monotheismus die richtige Glaubensform sei (vgl. Religionslehre Pölitz 28:1040; KrV A:590/B:618). Weiterhin tritt Kant zwar als Verfechter der natürlichen Religion, aber zugleich als Verächter des Naturalismus auf: Während der „Naturalist der reinen Vernunft“ in der Metaphysik mit dem Common Sense weiter zu kommen glaube als mit Wissenschaft, verneine der ‚Naturalist in der Religion‘ jede übernatürliche göttliche Offenbarung – er lebe einen „Kirchenglauben ohne Bibel“. (Vgl. RGV 6:154 f., 6:118 f.; SF 7:44, 7:60; KrV A:855/ B:883; Prol 4:313 f.) Mit seiner Kritik am Naturalismus verwahrt sich Kant zugleich gegen den Atheismus, in dessen Nähe ihn sein Eintreten für reine und gemeine Vernunft in Religionsdingen und damit gegen ein buchstabengetreues Verhältnis zu Gott unweigerlich bringt. Wie wichtig dieses Distanzieren war, zeigt die Androhung „unfehlbar unangenehmer Verfügungen“, welche die Religionsschrift nach sich zieht (vgl. SF 7:6). Kants Äußerungen zum Common Sense in der Religionsschrift stehen in Einklang mit seinen Überlegungen im Streit der Fakultäten. Zugleich stimmen sie mit dem Inhalt der Reflexion 430 überein und beglaubigen ihn damit. Sie tragen außerdem zu einer Quellenlage bei, die erlaubt festzustellen, dass der Common Sense Kants gesamtes Schaffen hindurch als Kriterium für ‚wahre‘ Religion und somit als unumgänglicher Orientierungspunkt für die Theologie fungiert. An vielen Stellen seines Werks zeigt Kant die Eignung des Common Sense als Basis, Maßstab und Ziel von Religion und Theologie auf. Dieses Vermögen ist hier sowohl als Wissen wie als Fähigkeit von großer Bedeutung. Die Existenz Gottes stellt für Kant einerseits eine allgemein geteilte Überzeugung dar. Andererseits reiche die Urteilskraft des gewöhnlichen Laienverstandes aus, zu dieser Vorstellung zu gelangen. Auch im Sinne reflektierender Urteilskraft ist der Common Sense bei Kant im religiösen Kontext wirksam. Wie bereits gegen Ende von Kapitel D. I. 4. gezeigt werden konnte, setzt Religion für Kant wesentlich reflektierende Urteilskraft voraus. Denn es ist deutlich geworden, dass Gott als verständige Weltursache nur eine regulativ zu gebrauchende Vernunftidee darstellt, eine Hypothese, eine Vorstellung von nur subjektiver Notwendigkeit. Einer religiös-reflektierenden Urteilskraft kommt – unter anderen Namen – auch in der Religionsschrift eine wichtige Rolle zu. Sie charakterisiert z. B. den ‚reflektierenden Glauben‘. Kant unterscheidet ihn vom ‚dogmatischen Glauben‘, den religiös-bestimmende Urteilskraft kennzeichnet. Während sich dieser im Umgang mit dem Übernatürlichen „als ein Wissen
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ankündigt“ und der Vernunft „unaufrichtig oder vermessen vorkommt“, macht jener nur regulativen Gebrauch von Ideen wie den Wundern oder der göttlichen Gnade durch bloßes Bitten. Der reflektierende Glaube rechnet nicht mit diesem ‚vermeintlichen Wissen‘, schließt die Möglichkeit solcher Phänomene aber auch nicht von vornherein aus. Es handelt sich um einen nachdenkenden, seine Gedankengebäude aber von unten errichtenden Glauben. (Vgl. RGV 6:52, 6:70 f.) Die zwei von Kant unterschiedenen Arten der Bibelexegese – die ‚authentische‘, moralische der reinen Vernunftreligion und die ‚doktrinale‘, historische der Schriftgelehrsamkeit – lassen sich ebenfalls im Zusammenhang mit den beiden Verfahren der Urteilskraft betrachten. Während die Ergebnisse der authentischen Auslegung „für alle Welt gültig“, also nachvollziehbar sind, stellt die doktrinale eine systemstabilisierende Interpretation dar, die „der menschlichen Natur nicht sonderlich zur Ehre“ gereicht. Die authentische Interpretation sucht zum (besonderen) Bibelwort den (allgemeinen) moralischen Sinn. Die doktrinale Auslegung nimmt dagegen den Buchstaben der Schrift als allgemeines Gesetz und leitet von ihm nur ‚vernünftelnd‘ ab. (Vgl. RGV 6:114; SF 7:48, 7:66 f.; Vorarbeiten SF 23:445 ff.; Theodizee 8:264 ff.; OP 22:172 ff.)214 Folgerichtig bemüht Kant auch die Terminologie der Modi des Fürwahrhaltens, welche sich hauptsächlich als Formen reflektierender Urteilskraft oder des Common Sense betrachten lassen (vgl. Kapitel D. III. 2.). Er plädiert in Bezug auf religiöses Glauben für innere Überzeugung statt Überredung von außen. Außerdem macht er nochmals deutlich, dass es in der Religion hinsichtlich theoretischer Erkenntnis kein feststehendes Wissen, sondern nur problematische Hypothesen geben könne. Im Praktischen dagegen sei ein „freies assertorisches Glauben“ gefordert – eines, das anders als die bloße Meinung entsprechendes Handeln rechtfertigt. (Vgl. RGV 6:153 f., 6:171; Orientieren 8:141.) In der Religionsschrift begegnet der Gedanke, dass mit der Gottesidee nur regulativ, reflektierend umgegangen werden darf, sogar im Modell der ‚sichtbaren Kirche‘. Sie wird der ‚unsichtbaren Kirche‘ entgegengesetzt, dem Modell eines ethischen Gemeinwesens unter göttlicher, moralischer Gesetzgebung – einer unerreichbaren, ‚urbildlichen‘ Idee „von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung“. Mit der sichtbaren Kirche beschreibt Kant einen 214
Die in SF 7:66 f. von den anderen Fundstellen abweichende, scheinbar verwechselnde Verwendung des Paares ‚authentisch – doktrinal‘ geschieht vor dem Hintergrund, dass idealer Weise beide übereinkommen sollen. Vgl. dazu auch Brandt: Streit, S. 91, 113 sowie Selbach, S. 152 ff. und Makkreel: Einbildungskraft, S. 181 ff.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
realen gemeinsamen Erlebnisbereich, „eine wirkliche Vereinigung der Menschen“, welche dem Ideal der unsichtbaren Kirche so gut wie ihnen möglich nachstreben. Die sichtbare oder „wahre“ Kirche stellt eine pragmatische Zwischenlösung auf dem Weg zur unsichtbaren Kirche dar. Nur wer in ihrem Rahmen so agiert, „als ob alles auf ihn ankomme“, darf laut Kant auf Vollendung seiner Bemühungen durch eine höhere Weisheit hoffen. (Vgl. RGV 6:100 ff., 6:131.) Als Form regulativen und zugleich pragmatischen Gebrauchs der Gottesidee lässt sich auch die für Kant in der christlichen Religion unentbehrliche Veranschaulichung des Gottesbegriffs durch die Jesusfigur verstehen. Parallel zur notwendigen sichtbaren Vorstellung von der unsichtbaren Kirche bedarf es für ihn zur Ausübung dieser Religion der Vorstellung des Gottessohnes als Symbol oder Ideal. Ein solcher „Schematism der Analogie (zur Erläuterung)“ stelle aber nur so lange eine rechtmäßige und notwendige Versinnlichung dar, wie nicht anthropomorph vom Sinnlichen auf die Eigenschaften des Übersinnlichen geschlossen werde. Die Parallelität zur reflektierenden Urteilskraft wird darin besonders deutlich, dass das Symbol ‚Jesus‘ für Kant durch Aufwärtsbewegung von der konkreten Vorstellung des moralischen Menschen gewonnen werden muss und nicht durch ein von einer ‚unbegreiflichen‘ Gottesidee deduzierendes Hinabgehen. (Vgl. RGV 6:60 ff., v. a. 6:65; 6:192 ff.)215 Dennoch ist bei Kant in Bezug auf die Religion auch (religiös-)bestimmende Urteilskraft wirksam. Durch sie werden die religiösen Gebote kundgetan – ob es sich wie beim Kirchenglauben um äußere, dogmatische oder wie beim Vernunftglauben um innere, moralische handelt. Im zweiten Fall ist die religiös-bestimmende Urteilskraft identisch mit der moralisch-bestimmenden. ‚Wahrer‘ religiöser Glaube kann für Kant aber nur durch Reflexion zustande kommen, nur von unten hinauf reflektierend, nicht von oben hinab bestimmend (vgl. Kapitel D. I. 4.). Er darf insofern auch nicht vorgegeben werden, weder indirekt (wozu genau genommen schon Taufe, Konfirmation und Religionsunterricht zählen) noch direkt durch Zwang. Das Annehmen eines religiösen Glaubens setzt bei Kant Mündigkeit und Freiwilligkeit voraus. Reflexion ist auch zur Anwendung des in der Religion Gebotenen unentbehrlich. Denn es geht bei Kant – wie die Rede von reflektierendem Glauben und authentischer Schriftauslegung zeigt – um eine der Moral wie dem Leben angemessene Interpretation der Offenbarung. In der Religion kommt es demnach primär auf religiös-reflektierende Urteilskraft an. Umgekehrt verhält es sich in der Theologie. Als Wissenschaft ist sie in erster Linie auf bestimmende Urteilskraft angewiesen. Weil ihr Gegenstand, 215 Der Gedanke des Schematisierens und Symbolisierens in der Religionsschrift wird von Irrlitz näher ausgeführt (vgl. ders., S. 381 ff., v. a. S. 396 f.).
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die Religion, jedoch aus innerer Überzeugung leben und zu moralischem Verhalten motivieren soll, ordnet Kant die (bestimmende) historische Schriftgelehrsamkeit der (reflektierenden) moralisch-vernünftigen Schriftauslegung nach. Zugleich betont er aber, dass die gelehrte, mitunter theologische Beschäftigung mit der Schrift als göttlicher Offenbarung und mit Religion überhaupt nie entbehrlich wird. Gelehrte Auseinandersetzung mit Schrift und Religion erfordert für Kant also vor allem bestimmende Urteilskraft, bedarf aber schon aufgrund ihres Gegenstandes auch reflektierender Urteilskraft. (Vgl. RGV 6:112 f., 6:105 ff.; Kapitel D. I. 4.) Schließlich ist der Common Sense auch in der konstruierten Form eines religiösen Gemeinsinns bedeutsam. Im Rahmen der Betrachtung der Kritik der teleologischen Urteilskraft wurde bereits auf einen solchen sensus communis religiosus als Variante des teleologischen Gemeinsinns hingewiesen (vgl. Kapitel D. I. 4.). Er formuliert aber nur eine problematische Verallgemeinerbarkeit in Bezug auf das Zustandekommen (individuellen) religiösen Glaubens. In Kants nachkritischem Werk finden sich dagegen andere Kontexte, die einen religiösen Gemeinsinn plausibel machen. In der Religionsschrift wird hinsichtlich der religiösen Urteilskraft dem reinen Religionsglauben – und nur ihm – allgemeine Mitteilbarkeit bescheinigt. Religiöse Urteile, die auf bloßem Offenbarungsglauben oder einem inneren Gefühl basieren, rechtfertigen keinen Anspruch auf allgemeine Zustimmung. Weil nur der reine Religions- oder natürliche Vernunftglaube für Kant allgemein und notwendig ist, erfüllt ausschließlich er – und kein statutarischer Kirchenglaube – die Kriterien für eine „wahre Kirche“. Da er primär aufs Moralische abzielt, enthält er keine Geheimnisse, sondern bietet sich jedermann nachvollziehbar dar. Ihn kennzeichnet also ein grundlegend öffentlicher, mitteilbarer Charakter. (Vgl. RGV 6:102 f., 6:109, 6:113 f., 6:137 ff., 6:155; SF 7:49 f.) Insofern Urteile auf Basis des reinen, moralisch gebietenden Religionsglaubens mitteilbar sind und der Gemeinsinn bei Kant die Bedingung der Mitteilbarkeit von Urteilen darstellt, darf ein sensus communis religiosus als Voraussetzung dieser verallgemeinerbaren Urteile angenommen werden. Da sich hinter der religiös-bestimmenden Urteilskraft im Falle des Vernunftglaubens eigentlich nur die moralische Urteilskraft in religiösem Gebrauch verbirgt, handelt es sich beim religiösen Gemeinsinn hier entsprechend um eine Variante des moralischen Gemeinsinns. Kein Gemeinsinn liegt aufgrund fehlender Mitteilbarkeit den Urteilen zugrunde, die bloß auf statutarischem Kirchenglauben gründen. Wie im Falle der moralischen und der politischen Urteilskraft bedarf es für Kant auch in der Anwendung von religiösen Urteilen verallgemeinerbarer Reflexion (vgl. Kapitel D. II. 3., E. I.). Ihre pragmatische Umsetzung
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
muss von einem Gemeinsinn getragen sein. Da es sich dabei um praktischreflektierende Urteilskraft in Form teleologisch-reflektierender Urteilskraft handelt, ist an dieser Stelle religiöser Gemeinsinn als Variante des teleologischen Gemeinsinns gefordert. Nur wenn religiöses Handeln auch von ihm geleitet ist, kann dieses wie verlangt die Moralität befördern. Denn diese Form des sensus communis verhindert z. B. lebensfremden Moralismus und blinden Buchstabenglauben. Wer etwa das Bibelgebot „Du sollst nicht töten“ dogmatisch versteht, müsste sich lieber ermorden lassen als sein Leben durch Tötung des Angreifers in Notwehr zu erhalten. Er hätte dann zwar verallgemeinerbar geurteilt, aber nicht verallgemeinerbar gehandelt. Wo wie in solchen Fällen der Buchstabe über den Geist einer Offenbarung gestellt wird, es also des Gemeinsinns in der Anwendung entbehrt, da ließen sich auch religiös motivierte Kriege oder Terrorismus im Namen eines Gottes rechtfertigen. Wie der politische lässt sich auch der religiöse Gemeinsinn bei Kant ins Große rechnen. Als ein allgemeiner religiöser Wille stellt er in übertragenem Sinne die Voraussetzung für eine im Kant’schen Sinne wünschenswerte religiöse Gemeinschaft dar. Anders als in einem „rechtlich-bürgerlichen“ bzw. politischen Gemeinwesen ist in einem „ethisch-bürgerlichen“ bzw. religiösen Gemeinwesen nicht das Volk, sondern „der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher“ gesetzgebend. Deshalb muss der allgemeine religiöse Wille nicht wie der allgemeine politische der Legalität gelten, sondern der Moralität. Realisiert wird er durch ein gelebtes Bekenntnis zur gleichen (Vernunft-)Religion. Wie beim vereinigten politischen Willen darf ein solches moralisches Glaubensbekenntnis aber kein Wille Einzelner für sich sein. Es muss sich um einen kollektiven Willen handeln, der begleitet wird von einer „Vereinigung der Gläubigen in eine (sichtbare) Kirche nach Principien einer reinen Vernunftreligion“ (RGV 6:158). Um dieser sichtbaren Kirche Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit zu sichern, befürwortet Kant sogar statutarische Verordnungen. (Vgl. RGV 6:94 ff., 6:98 ff., 6:151 f., 6:157 f.; Kapitel E. I.)216 2. Rechtswissenschaft Wie von den Theologen hat der nachkritische Kant auch von den Juristen vorwiegend keine günstige Meinung.217 Den Nutzen der Rechtswissenschaft 216 Angedeutet findet sich der Zusammenhang zwischen sensus communis und realer Religionsgemeinschaft auch bei Leyva, S. 264 f., 266 f., 279 f. Zum Spannungsfeld von Moral, Politik und Religion vgl. Städtler, Michael (Hg.): Kants „Ethisches Gemeinwesen“. Die Religionsschrift zwischen Vernunftkritik und praktischer Philosophie, Berlin 2005. 217 Vgl. auch Malter: Rede, S. 139, 528.
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voraussetzend betont er ihre Defizite. Den Mitgliedern der juristischen Fakultät macht Kant ebenfalls zum Vorwurf, den Gegenstand ihrer Wissenschaft nicht kritisch zu hinterfragen, sondern ihn nur gehorsam anzuwenden. Da damit nicht selten das Rechte über das Gerechte gestellt werde, mahnt Kant auch sie zur Berücksichtigung des Common Sense. Die Charakterisierung der Beziehung des Rechts zum Common Sense kann aufgrund der Vorarbeiten in Kapitel E. I. kürzer ausfallen. Zur Erinnerung sei darauf hingewiesen, dass Kant unter ‚Recht‘ Bedingungen versteht, die ein Zusammenleben von Menschen als freie Personen ermöglichen, und unter ‚Rechtslehre‘ im Allgemeinen Regeln, die sich zu einer äußeren Gesetzgebung eignen (vgl. MSR 6:229 f.). Kants Überlegungen zum Recht sind sehr tiefsinnig und weitreichend. Von Wolfgang Kersting ist eine bislang unüberbotene Wertschätzung dieses Themas durch Kant festgestellt worden.218 Zentrale Bedeutung kommt in Kants Rechtsphilosophie dem Gedanken zu, dass niemand Gesetze über ein Volk beschließen soll, die dieses nicht auch selbst wollen kann (vgl. MSR 6:327 ff.; Aufklärung 8:39 f.; Spruch 8:304). In der Fakultätsschrift erklärt Kant die Philosophen zu den besseren, den „wahren“ Verkündern des Rechts. Dazu macht sie ihr im Gegensatz zu den Beamten der juristischen Fakultät unabhängiger Umgang mit diesem. Die Philosophen bilden aber auch deshalb die ‚natürlichen Interpreten‘ des Rechts, weil dieses aus dem natürlichen Recht, dem Rechtsverständnis des ‚gemeinen Menschenverstandes‘, hervorgehen muss. Prägnanter wird der Common Sense in der Reflexion 430 mit dem Recht verknüpft: Man soll keine Rechtsgesetze erfinden, sondern nur klar und verbindlich ausdrücken, was jeder, was also die allgemeine Menschenvernunft denkt. (Vgl. SF 7:89; Refl. 430, 15:173 f.) Der Gedanke des untrennbar mit dem Common Sense verbundenen natürlichen Rechts spielt auch in Kants Rechtslehre eine wichtige Rolle. Als „Naturrecht“ steht es für eine Rechtsauffassung, deren Prinzipien sich a priori aus der Vernunft ableiten. Naturrecht ist bei Kant insofern Vernunftrecht. Sein Bezug zum Common Sense als (all-)gemeinem Menschenverstand besteht darin, dass sich die Prinzipien dieses Rechts „jedes Menschen Vernunft“ darbieten. Sie sind jedem – selbst dem ‚gemeinen Mann‘ – einsichtig, wenn er sich auf seine Vernunft einlässt, also von den privaten Einflüssen auf sein Urteil absieht. Vom Naturrecht unterscheidet Kant das „statutarische“, das „positive Recht“, welches dem Willen des Gesetzgebers entspringt. Dieses bedarf stets eines Grundes im Naturrecht. Es soll dessen 218
Vgl. Kersting, Wolfgang: Kant über Recht, Paderborn 2004, S. 36. Näheres zu Kants Rechtsbegriff vgl. ders.: Recht, S. 13 ff. sowie ders.: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt/M. 1993, S. 97 ff.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Ansprüche sichern, befestigen. (Vgl. MSR 6:229, 6:237, 6:242, 6:256, 6:296 f.; Vorarbeiten MS 23:261; Refl. 8077, 19:610 f.; KrV A:43 f./B:61.) Die Einteilung in Natur- und positives Recht wird von Kant präzisiert zu der in natürliches und bürgerliches bzw. in Privat- und öffentliches Recht – also den zwei Teilen, in welche seine Rechtslehre gegliedert ist. Das Privatrecht umfasst Gesetze, die keiner öffentlichen Bekanntgabe bedürfen. Unter diesem Aspekt widmet sich Kant Fragen des „Mein und Dein“ wie Besitz und Erwerb. Öffentliches Recht dagegen bedarf der allgemeinen Bekanntmachung. Hier betrachtet Kant das Völker-, Staats- und Weltbürgerrecht. (Vgl. MSR 6:210, 6:242, 6:306 f., 6:311; Brief an Jung-Stilling 11:10.)219 Mit dieser Verpflichtung des positiven, bürgerlichen, öffentlichen Rechts auf Prinzipien des natürlichen, vernünftigen, privaten Rechts wird der Basis- und Orientierungscharakter des Common Sense für Recht und Gesetz beim nachkritischen Kant vollends deutlich. Sie ist gleichbedeutend mit der notwendigen Bindung der Rechtlichkeit an die Gerechtigkeit. Der Common Sense ist dabei von zentraler Bedeutung. Er verkörpert das natürliche Recht und fungiert als ‚Sinn‘ für das Gerechte (vgl. etwa KU 5:293). Den Unterschied zwischen der ‚Privatvernunft‘ des Common Sense und der ‚Gerichtsvernunft‘ veranschaulicht Kant am Beispiel der ‚Lädierung bei Leihe‘: Bei der Beschädigung von Geliehenem laute das ‚natürliche‘ Urteil der „gesunden Vernunft“, der Schaden falle auf den Beliehenen, welcher also eventuell auch zu entschädigen wäre. Ein öffentlicher Richter dagegen müsse den Schaden dem bürgerlichen Recht zufolge dem Leihenden zusprechen. (Vgl. MSR 6:300.) Wie in der Reflexion 430 wird für Kant aber auch in der Rechtslehre weder das positive durch das natürliche Recht entbehrlich, noch Rechtsgelehrsamkeit oder Rechtswissenschaft durch den Common Sense (vgl. z. B. MSR 6:229; Refl. 430, 15:174 f.). Kants Rechtstheorie legt keineswegs eine ausschließliche Berufung auf den gesunden Menschenverstand nahe. Dass etwa ein Rechtsbeistand mit viel Common Sense im Sinne von pragmatischer Klugheit in Missachtung von Recht und Moral – etwa durch Lug und Trug – einen Freispruch für seinen schuldigen Mandanten erwirkt, ist mit ihr nicht zu vereinbaren. Ein solches Verhalten lässt sich weder aus der Vernunft ableiten, noch verallgemeinern. Kants Rechtsphilosophie fordert zwar Respekt für das natürliche Rechtsbewusstsein und den Einzelfall, verweist 219 Dieser Dichotomie entsprechend unterscheidet Kant bei den Gesetzen, die sich zu einer äußeren Gesetzgebung eignen, ebenfalls natürliche und positive. Während den Erstgenannten auch ohne äußere Gesetzgebung Verbindlichkeit zukommt, werden die Zweiten erst durch eine solche für verbindlich erachtet. Analog gilt auch hier, dass jedem positiven ein natürliches Gesetz vorausgehen muss, von dem jenes seine Legitimation erhält. (Vgl. MSR 6:224.)
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aber zugleich auf den alternativlosen Rahmen eines auf Vernunft aufbauenden Rechts.220 In der Rechtslehre wird auch auf die Notwendigkeit einer ausgeprägten Urteilskraft im Umgang mit dem Recht hingewiesen. Dass Juristen ohne ein solches durch Übung gereiftes Vermögen sowie ohne eine entsprechende Geschicklichkeit Beamte werden, könne keinesfalls im Interesse eines Staates liegen (vgl. MSR 6:328). Andernorts heißt es noch deutlicher, bei einem Richter ohne Urteilskraft seien Gesetze umsonst gegeben, ein Advokat habe stets zu wissen, „worauf es ankommt“, oder: Juristen können schon deshalb der Urteilskraft nicht entbehren, weil die meisten Fälle nur dem Sinne nach und nicht buchstäblich im Gesetz Entsprechung finden. Rechtsgesetze bedürfen für Kant grundsätzlich einer pragmatisch-klugen Anwendung, die nicht mit den „sophistischen Subtilitäten“ der „Rechtsverdreher“ verwechselt werden darf. (Vgl. Menschenkunde 25:1036; ApH 7:228; Anthropologie Mrongovius 25:1297 f.; Metaphysik der Sitten Vigilantius 27:533 ff.; ZeF 8:373 ff.) Es wird deutlich, dass die von Kant zur angemessenen Anwendung der Gesetze geforderte Urteilskraft natürliche und das bedeutet reflektierende Urteilskraft sein muss (vgl. Spruch 8:275; KrV A:133 f./B:172 f.). Eine solche juridisch-reflektierende Urteilskraft wurde bereits in Kapitel E. I. erwähnt. Sie stellt die Fähigkeit dar, das Gesetz aus der Perspektive des konkreten Falls zu betrachten. Von diesem ausgehend sucht sie den passenden Paragrafen auf und sorgt dann für dessen angemessene Anwendung auf den zu beurteilenden Tatbestand. Sie muss die juridisch-bestimmende Urteilskraft, welche den (besonderen) Fall nur aus der Perspektive des (allgemeinen) Gesetzes beurteilt, notwendig ergänzen. Keines der beiden Verfahren macht das andere überflüssig. Erst die Anwendung der ‚Urteilskraft von unten‘ und der ‚Urteilskraft von oben‘ gewährleistet, dass der Jurist Fall und Gesetz gerecht wird.221 220 Bei aller Wertschätzung für den gesunden Menschenverstand hätte auch Kant den Missbrauch des Common Sense als ‚gesundes Volksempfinden‘ durch die deutschen Nationalsozialisten zweifellos verurteilt. Vgl. ausführlich z. B. Rückert, Joachim: Das „gesunde Volksempfinden“ – eine Erbschaft Savignys?, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 103.1986, S. 199 ff. Nachgewiesen werden sowohl Stellen, an denen das ‚gesunde Volksempfinden‘ ab 1935 in deutsche Gesetzestexte eingefügt wurde, als auch die Auswirkung dieses Vorgangs. Die These von der Erbschaft Savignys kann allerdings kaum überzeugen. 221 Reflektierende und bestimmende Urteilskraft werden im Kontext des Rechts bei Kant u. a. auch von Dieter Nörr (vgl. ders.: Das Verhalten von Fall und Norm als Problem der reflektierenden Urteilskraft, in: Text und Applikation. Poetik und Hermeneutik, Manfred Fuhrmann u. a. (Hg.), München 1981, Band IX, S. 395 ff.) und Friedrich Kaulbach (vgl. ders.: Einführung, S. 161 ff. und Studien zur späten
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In der Rechtslehre werden das juridisch-bestimmende und das juridischreflektierende Urteilsverfahren von den Konzepten ‚Rechtsgelehrsamkeit‘ und ‚Rechtsklugheit‘ verkörpert. Der Rechtsgelehrte („Iurisconsultus“) ist kundig im positiven Recht. Er hat Kenntnis vom Buchstaben, nicht aber dem Geist des Gesetzes. Er weiß, was rechtens, aber nicht, was (ge-)recht ist. Seine Urteilskraft ist gewohnt, vom aktuellen Gesetz unhinterfragt abzuleiten.222 Weil ihm die eigentliche Grundintention der einzelnen Gesetze verborgen bleibt, vermag er diese auch nicht angemessen anzuwenden. Der ‚gelehrige‘ Jurist bleibt, so lange er nicht auch in der Vernunft nach den Quellen der Gesetze sucht, einer empirischen Lehre vom Recht verhaftet. Für sie empfindet Kant nur begrenzt Sympathie: „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur Schade! daß er kein Gehirn hat.“ (MSR 6:230, vgl. Logik 9:22).223
Rechtsklugheit dagegen, die „Iurisprudentia“, bezeichnet den ‚rechtserfahrenen‘ Umgang mit den Gesetzen, ihre pragmatische Anwendung auf konkrete Fälle. Geht Rechtsgelehrsamkeit nicht mit ihr einher, verbleibt sie im Zustand bloßer Rechtswissenschaft („Iurisscientia“). (Vgl. MSR 6:229 f.) Juristen ohne Rechtsklugheit bezeichnet Kant auch als ‚borniert‘. Indem sie mit den Gesetzen umgehen, ohne deren Prinzipien zu kennen, behandeln sie jene wie „Orakel“ (vgl. Anthropologie Mrongovius 25:1297). Obwohl die Rechtsklugheit zur Anwendung jedes Rechtsgesetzes notwendig ist, gibt es einen Bereich, der sie als eine Form von Augenmaß oder Fingerspitzengefühl in besonderem Maße erfordert. Kant bezeichnet ihn als „Recht im weiteren Sinne“ – ein Gebiet, in dem „die Befugniß zu zwingen durch kein Gesetz bestimmt werden kann“. Hierhin gehören die „Billigkeit (Aequitas)“ und das „Nothrecht (Ius necessitatis)“, „von denen die erste ein Recht ohne Zwang, das zweite einen Zwang ohne Recht annimmt“. Auf Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, Würzburg 1982, S. 21 ff.) thematisiert. In der Rechtswissenschaft ist der Grundgedanke der reflektierenden Urteilskraft z. B. von Friedrich Karl von Savigny (1779–1861) fruchtbar gemacht worden (vgl. Meder, Stephan: Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungs- und Regelfindung, Frankfurt/M. 1999). Savigny ist es auch zu verdanken, dass in Preußen statt des Allgemeinen Landrechts das gemeine Recht als Basis des Jurastudiums durchgesetzt wurde (vgl. Savigny, in: Der Brockhaus. In drei Bänden, Mannheim 1991 f., Band 2, S. 208). 222 Vgl. Kant-Studien 51.1959/60, S. 4 (das so genannte „Krakauer Fragment“ zur Fakultätsschrift). 223 Zu dieser These und dem Hintergrund der Wortwahl vgl. Naucke, Wolfgang: Kritik der empirischen Rechtslehre, in: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 34/4.1996, S. 186 ff.
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Billigkeit, nicht aber auf das Recht (im engeren Sinne), kann sich u. a. berufen, wessen Lohn – etwa durch Inflation – an Zahlwert verliert, also nicht mehr denselben Gegenwert wie zu Vertragsabschluss besitzt. Notrecht macht geltend, wer sich z. B. bei drohender Lebensgefahr auf Kosten eines anderen rettet. Wer etwa bei Schiffbruch jemanden von der nur eine Person tragenden Planke stößt, dessen Verhalten gilt als ‚sträflich, aber unstrafbar‘. (Vgl. MSR 6:233 ff.) Juridisch-reflektierende Urteilskraft ist aber nicht nur – wie in Form ‚pragmatischer Strafklugheit‘ (vgl. MSR 6:363) – für das Wie der verhältnismäßigen Anwendung und der (teleologischen) Auslegung unerlässlich. Auch die Beurteilung, ob z. B. ein Fall vor Gericht verhandelt werden muss, ob eine Klage Aussicht auf Erfolg hat oder ob fahrlässig gehandelt wurde, setzt dieses Vermögen voraus. Nötig ist sie außerdem, um zu ermitteln, welcher Gesetzesverstoß genau vorliegt (Mord oder Totschlag etc.) und welcher von z. T. mehreren möglichen Paragrafen dem Vergehen angemessen ist. Schließlich lässt sich – wie bereits in Kapitel E. I. geschehen – auch sinnvoll von einem juridischen Gemeinsinn, einem sensus communis justus224, sprechen. Juridisch-bestimmten Urteilen scheint er der Idee nach aufgrund der Allgemeinheit des Gesetzes, von dem sie deduziert werden, immer schon zugrunde zu liegen. Ihre Mitteilbarkeit bezieht sich aber genau genommen nur auf Aussagen der Art ‚X verstößt (oder verstößt nicht) gegen das Gesetz‘. Im eigentlichen Sinne von allgemeiner Mitteilbarkeit muss auch das geltende Recht allgemein zustimmungsfähig sein. Juridischbestimmende Urteilskraft kann nur zu mitteilbaren Urteilen führen, wenn auch ihre Voraussetzung mitteilbar ist. Gelten etwa – analog zu den Dogmen eines statutarischen Kirchenglaubens – unmoralische, z. B. von einem Despoten erlassene Gesetze, kann es passieren, dass ein Richterspruch dem Gesetz entspricht, trotzdem aber nicht verallgemeinerbar ist. In Kants Rechtstheorie kommt dieses Problem jedoch insofern nicht zum Tragen, als das Recht wie die Religion auf Moral gegründet wird – ohne den fundamentalen Unterschied zwischen Moralität und Legalität in Frage zu stellen.225 Nur juridisch-bestimmten Urteilen, die Vernunft bzw. Moral nicht widersprechen, liegt also der dringend erforderliche juridische Gemeinsinn zugrunde. 224 Das Adjektiv ‚justus‘ (rechtmäßig) wurde den Ausdrücken ‚juridicus‘ (rechtsprechend) und ‚judicialis‘ (gerichtlich) vorgezogen. Bezieht sich der Gemeinsinn ausdrücklich auf die Beurteilung von Gesetzen, könnte auch von sensus communis legitimus gesprochen werden (legitimus für gesetzmäßig). 225 Ausführlich zur Beziehung von Recht und Moral bei Kant vgl. z. B. Kaulbach: Rechtsphilosophie, S. 55 ff., 135 ff., 169 ff. sowie Kersting: Freiheit, S. 112 ff., 175 ff. und ders.: Recht, S. 21 ff.
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Es ist aber auch notwendig, dass juridisch-reflektierte Urteile auf Gemeinsinn basieren, also mitteilbar sind. D.h., die juridisch-reflektierende Urteilskraft hat als Form teleologisch-reflektierender Urteilskraft Verstand und Vernunft so zu vermitteln, dass sie nicht nur angemessene Resultate hervorbringt, sondern zugleich verallgemeinerbare. Macht ein Richter etwa reflektierend von seinem Ermessensspielraum Gebrauch und verhängt eine geringere Strafe als das Gesetz für die Tat im Normalfall vorsieht, muss er einen für die Allgemeinheit nachvollziehbaren, zustimmungsfähigen Grund dafür angeben können. Kann er es nicht, so hat er seine Entscheidung ohne Gemeinsinn getroffen und sie ist nicht mitteilbar. Um illegale Willkürakte zu verhindern und einem Legalismus entgegenzuwirken, der den Buchstaben des Gesetzes über dessen Intention stellt, muss juridische Determination also in der Anwendung von verallgemeinerbarer juridischer Reflexion ergänzt werden. Juridisch-reflektierender Urteilskraft sollte generell der sensus communis justus, eine Variante des sensus communis teleologicus, zugrunde liegen. Der sensus communis justus ist auf vielen Feldern erforderlich. Für ein bürgerliches Gemeinwesen, wie Kant es versteht, wäre es z. B. unerlässlich, dass die zur Gesetzgebung gebrauchte juridische Urteilskraft auf Gemeinsinn basiert. Beim Erlassen von Gesetzen sollte sich entsprechend an natürlichem Recht und allgemeinem Willen orientiert werden. Auch für Richter erwächst aus der Idee des juridischen Gemeinsinns eine Verpflichtung. Ihre Urteile sollten einerseits öffentlich sein. Dies ergibt sich ebenfalls aus Kants Forderung nach Publizität, die ausdrücklich als Voraussetzung für Recht und Gerechtigkeit eingeführt wird (vgl. ZeF 8:381 ff.). Richterliche Urteile müssen dementsprechend aber auch wie erwähnt nachvollziehbar, also für das Volk bzw. juristische Laien verständlich sein. Richter, die das Recht im Geheimen anwenden und keine einleuchtende Urteilsbegründung publik machen, agieren nicht mitteilungsfähig. Schließlich ist auch der Anwalt gehalten, sein Tun mitteilbar, also mit Gemeinsinn, zu gestalten. Sein Mandat mag den Verteidiger oftmals an den Rand des Gesetzes treiben, dennoch hat er bei seiner Rechtsauslegung im Rahmen des Erlaubten zu verbleiben. Andernfalls handelt es sich um einen so genannten Winkeladvokaten.226 Wie im Falle des politischen und des religiösen Gemeinsinns finden sich bei Kant Hinweise auf eine diesem Urteilsprinzip analoge Bedeutungsdimension. Auch der juridische Gemeinsinn findet seine Entsprechung im allgemeinen Willen. Die Idee dieses vereinigten Volkswillens stellt für Kant 226 Der heute einen schlechten Rechtsbeistand bezeichnende Winkeladvokat steht im 18. Jahrhundert ursprünglich für einen unbefugt im Verborgenen arbeitenden Juristen, seine ‚Winkelzüge‘ entsprechend für geheime Machenschaften. Vgl. Winkel, in: Etymologisches Wörterbuch.
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den Maßstab der Legitimität öffentlicher Gesetze dar (vgl. Spruch 8:297). In dieser Bedeutung ist sie für ihn Grundvoraussetzung eines juridischen Gemeinwesens, einer bürgerlichen Gesellschaft unter öffentlichen Gesetzen (vgl. RGV 6:98 f.). Entsprechend durchzieht die Idee des gemeinschaftlichen Willens die gesamte Rechtslehre (vgl. z. B. MSR 6:250, 6:256, 6:259, 6:263 f., 6:267, 6:294, 6:302, 6:306, 6:311, 6:313 f., 6:318, 6:326, 6:328 f., 6:338 f., 6:342, 6:344, 6:372). 3. Medizin Zu Themen der Medizin schließlich hat sich Kant auch nach Erscheinen der ersten Kritik nur am Rande geäußert – neben der Fakultätsschrift u. a. in Anthropologie, der Nachricht an Ärzte von 1782, der Rektoratsrede De Medicina Corporis aus dem Jahre 1786227 und der Replik Aus Sömmering: Über das Organ der Seele von 1796. Auch im Nachlass finden sich verschiedene Bemerkungen zur Medizin (vgl. v. a. 15:937 ff.). Außerdem berühren z. B. die Kritik der teleologischen Urteilskraft und die kleinere Teleologie-Schrift von 1788 sowie die Abhandlung über die menschlichen Rassen aus dem Jahr 1785 und die Tugendlehre von 1797 medizinische Fragestellungen. Kant hat sich also nicht einmal selten mit Themen der Medizin auseinander gesetzt. Seinen Überlegungen fehlt nur der gewohnte systematische Zusammenhang. Fest steht jedoch, dass der Gegenstandsbereich der medizinischen Fakultät für ihn dem Zeitgeist der Aufklärung entsprechend von sehr großem Interesse war.228 Mit dem dritten Teil der Fakultätsschrift, Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein, kommt Kant der Bitte von Christoph Wilhelm Hufeland nach, die in seinem Buch Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern dargelegten Überlegungen zur Gesundheitsvorsorge – bzw. seinen Versuch, „das Physische im Menschen moralisch zu behandeln“ – aus philosophischer Sicht zu kom227 Eine Übersetzung der Rede und eine Auseinandersetzung mit der Frage, wann sie gehalten wurde, findet sich bei Brandt, Reinhard: Immanuel Kant: „Über die Heilung des Körpers, soweit sie Sache der Philosophen ist“ Und: Woran starb Moses Mendelssohn?, in: Kant-Studien 90.1999, S. 354 ff. 228 Vgl. auch Model, S. 314 ff. und Brandt: Streit, S. 141 ff. Zur Bedeutung Kants für die Medizin vgl. z. B. Wiesing, Urban: Immanuel Kant, seine Philosophie und die Medizin, in: Gerhardt: Streit, S. 84 ff. Speziell zum Verhältnis ‚Philosophie – Medizin‘ in der Aufklärung vgl. Mann, Gunter: Medizin der Aufklärung: Begriff und Abgrenzung, in: Medizinhistorisches Journal 1.1966, S. 63 ff.; Wittern, Renate: Medizin und Aufklärung, in: Helmut Neuhaus (Hg.): Aufbruch aus dem Ancien régime. Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln u. a. 1993, S. 245 ff. sowie Wenzel, Manfred, in: Soemmerring, Samuel Thomas von: Werke, Jost Benedum/ Werner Friedrich Kümmel (Hg.), Basel 1999, Bd. 9, S. 38 ff.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
mentieren.229 Kant antwortet verspätet und in der Hauptsache mit eigenen, empirischen, aus Selbstbeobachtung gewonnenen Überlegungen zum Thema ‚Gesundheit‘. Der Leser erfährt von ihm u. a., dass Schnupfen mit Nasenatmung und Husten durch Ablenkung überwunden werden kann. Außerdem sei das Bett ein Nest vieler Krankheiten und man solle nicht mehr als durchschnittlich acht Stunden pro Tag schlafen. Kant warnt auch davor, Kopf und Magen gleichzeitig zu belasten. Und wer lange leben möchte, dem rät er, sich im Alter nicht jede Arbeit abnehmen zu lassen und geistig rege zu bleiben. Das Philosophieren wird in diesem Zusammenhang übrigens als wahrer Jungbrunnen empfohlen. Der Metaphysiker aber werde aufgrund der Schwere seiner Aufgaben wiederum am ehesten krank. (Vgl. SF 7:97 ff., 7:113; Briefe an Kant 12:136 f., 12:203 f.; Briefe an Hufeland 12:148 f., 12:157 f., 12:232.) Kants Gedanken sind wie die Hufelands von der Idee der Diätetik geleitet. Diese wird im Allgemeinen als die Kunst bezeichnet, Krankheiten vorzubeugen. Die Diätetik steht im Gegensatz zur Therapeutik, der Kunst, Krankheiten zu heilen. Diese wird in Pharmazeutik und Chirurgie eingeteilt. Diät, Arznei und Operation bilden drei Grundformen ärztlicher Intervention. (Vgl. SF 7:98 ff.; Refl. 1540 ff., 15:965 ff.; Vorarbeiten SF 23:464.) Der heute fast nur noch als Ausdruck für die Ernährungslehre gebrauchte Begriff ‚Diätetik‘ hat bei Kant noch den ursprünglichen, sich vom griechischen Wort für ‚Lebensweise‘ (diaita) ableitenden Sinn einer richtigen, gesunden, ausgewogenen Lebensführung. Die Diätetik hat eine lange Tradition. Ihr prominentester Befürworter war Hippokrates von Kós. Als Motto der Lehre gilt das auch bei Kant begegnende Prinzip stoischer Philosophie sustine et abstine – Ertrage und sei enthaltsam! (vgl. z. B. SF 7:100, Vorarbeiten SF 23:464, OP 22:298; MSR 6:419, Päd 9:486 f.). Heute fallen vorbeugende, vorsorgende Maßnahmen zur Gesunderhaltung hauptsächlich unter die Begriffe ‚Prophylaxe‘ und ‚Prävention‘.230 Der diätetische Grundgedanke des dritten Abschnitts der Fakultätsschrift begegnet bereits in der Reflexion 430. Dort deutet sich an, dass Kant unter 229 Christoph Wilhelm (ab 1809 von) Hufeland war ein renommierter Arzt, welcher Goethe, Schiller und Mitglieder der königlichen Familie von Friedrich Wilhelm III. zu seinen Patienten zählte. Er fungierte als erster Dekan der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin sowie als Direktor der Berliner Charité. Die Schrift Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern von 1796 gilt heute als sein Hauptwerk. Das Buch erschien später unter dem Titel Makrobiotik. Christoph Wilhelm Hufeland darf nicht mit Gottlieb Hufeland verwechselt werden, dem Rechtswissenschaftler, dessen Abhandlung über das Naturrecht Kant 1786 rezensiert. Vgl. Hufeland, in: Brockhaus-Enzyklopädie online, 21. Auflage, 2005 ff., Stand: 08.2007. 230 Vgl. Sünkel, W.: Diätetik, in: Historisches Wörterbuch, 2.1972, S. 231 f.
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Diätetik nicht nur eine natürliche Selbsterhaltung, sondern auch eine natürliche Selbstheilung versteht. Bei genauem Hinsehen lässt sich dieses Verständnis auch im Streit der Fakultäten erkennen. Kants Ratschläge in Bezug auf Schnupfen und Husten sowie Hypochondrie und Schwindel lassen sich auch als Heilmaßnahmen lesen (vgl. SF 7:109 ff.). Gesundheit ist für Kant demnach ein natürlicher Grundzustand, der durch eine (gesunde) Lebensweise erhalten sowie dank der „Selbsthülfe der Natur“ (SF 7:30, vgl. KU 5:372; Refl. 430, 15:174), also durch natürliche Selbstheilung ohne Medikamente, wiederhergestellt werden kann. Die Diätetik ist für Kant untrennbar mit dem Gebrauch der Vernunft verbunden. Dieser schreibt er eine „unmittelbare Heilkraft“ zu, denn eine von ihr bestimmte Lebensweise kann Besuche im „Officin“ (Apotheke) oder beim Wundarzt (Chirurg) weitgehend überflüssig machen (vgl. SF 7:114). Der Diätetik erwächst daraus bei Kant eine Vorbildfunktion für die gesamte Medizin: Wenn sich diese Heilkunde nicht allein als Handwerk definiere, sondern auch von der Vernunft leiten lasse, dann offenbare sie sogar eine philosophische Dimension. Hufeland wird von Kant in dieser Hinsicht ausdrücklich als Philosoph gerühmt. Denn dieser konzentriere sich nicht nur auf die ‚geschickte‘ Technik der Anwendung von Heilmitteln, sondern suche allererst, was helfe und wie es moralisch verordnet werden könne, in der reinen Vernunft auf. (Vgl. SF 7:97 ff.) Als Negativlehre, die Krankheiten abhalten soll, steht die Diätetik bei Kant einerseits in Analogie zur kritischen Metaphysik – der Negativlehre, die Irrtümer abhalten soll (vgl. Menschenkunde 25:890 ff.; KrV A:11/B:25, A:711 f./B:739 f., A:795/B:823). Andererseits sieht er in ihr „moralischpraktische Philosophie“. Kant ist der Auffassung, dass „die Diätetik eine freye Kunst ist, die ein jeder, der auf sich Acht hat und dem Winke der Natur Folge leistet, sich selbst erwerben kann. Man sieht leicht, daß die letztere [die Diätetik; RN] eigentlich eine Philosophie, d.i. eine Vernunfterkenntnis aus Begriffen und darauf gegründeten stoischen Principien (sustine et abstine) sey und zwar eine (technische) praktische Philosophie sey, mithin ihrem Stoffe, den Empfindungen nach empirisch, der Form nach aber des Gebrauchs und der Anordnung derselben zu Erhaltung der Gesundheit ein Erkenntnis a priori (nicht die eines Empirikers) sey etc. etc.“ (Vorarbeiten SF 23:464, vgl. SF 7:26, 7:97 ff.).
In folgerichtiger Verlängerung seiner Aufklärungsphilosophie plädiert Kant auch bei Fragen, die Gesundheit und Krankheit betreffen, für ausgiebiges Selbstdenken. Damit verbunden weist er deutlich auf die Selbstverantwortung des Menschen für die eigene Gesundheit und Gesundung hin. Durch die Vernunft ist jeder – ob Gesunder oder Patient – dazu aufgerufen, ein mündiger, selbst mitdenkender Mensch zu sein. Kant legt also nicht nur das seelische, sondern auch das leibliche ‚Heil‘ in die Hände des Einzelnen.
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Jedermann ist zum ‚Polizisten‘ über das persönliche geistige wie körperliche Wohl geeignet. Das Volk möchte als Patient zwar auch vom Arzt „betrogen“ werden (vgl. SF 7:31). Am liebsten hätte jener es, dieser übernähme für ihn das Denken und beurteilte für ihn die Diät gegen Bezahlung (vgl. Aufklärung 8:35). Aber Selbstdenken und Selbstbestimmung können den Gang zum Arzt ersparen. Halte Maß und vertraue auf die Heilkraft der Natur – das ist für Kant der „kurze Weg“ zur Gesundheit (vgl. Vorarbeiten SF 23:426). Kants Aufforderung zum Selbstdenken in medizinischen Angelegenheiten ist von großer Aktualität. In Zeiten von ungezügelt agierenden Pharmakonzernen, die Heilung und Linderung letztlich nur unter wirtschaftlichen Aspekten – als Geschäft – betrachten, von verschreibungsfreudigen Ärzten, die ihr ‚Kassemachen‘ mit geringen Einkommen rechtfertigen, in Zeiten von beinahe religiösem Vertrauen in die Fähigkeiten des Arztes und zunehmender Medikamentenabhängigkeit liegt ein Schlüssel zur Lösung schwerwiegender Probleme der Gesundheitswesen im Mit- und Nachdenken des Individuums. Wo Medikamente zum zweiten Frühstück werden, bedarf es der Rückbesinnung auf eine gesunde Lebensweise in eigener Regie. Dabei können Common-Sense-Weisheiten wie „Wer rastet, der rostet“ oder „Was von allein kommt, das geht auch von allein“ zur Orientierung dienen. – Die Verantwortung für die eigene Gesundheit darf nicht einfach dem Arzt übertragen werden. Dieser wiederum sollte sich, wie auch der Psychotherapeut, nicht in erster Linie Gedanken darüber machen (müssen), wie er am meisten verdient, sondern wie er am wenigsten ‚zu tun‘ bekommt, wie die Menschen also gesund bleiben oder dies ohne fremde Hilfe werden können. Sind seine Dienste erforderlich, sollte vermieden werden, den Patienten in ein unnötiges Abhängigkeitsverhältnis zu bringen. Stattdessen sollte nach Möglichkeit Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden.231 Wie hängen Kants nachkritische Überlegungen zur Medizin mit dem Common Sense zusammen? Für den gesunden Menschenverstand finden sich in diesem Kontext keine eindeutigen Synonyme. Ein Rekurs auf dessen drei Grundeigenschaften kann aber zeigen, dass dieser in Kants MedizinKonzeption eine zentrale Rolle spielt: Kant betrachtet die Diätetik als eine Kunst, zu der jeder durch elementare Naturbeobachtungen, also Erfahrungen am eigenen Leibe, fähig ist (vgl. z. B. Vorarbeiten SF 23:464). Es bedarf demnach keines Medizinstudiums und keiner höheren Intelligenz, um herauszufinden, was der eigenen Gesundheit förderlich und was hinderlich 231 Im Übrigen lässt sich der Wortherkunft der Begriffe ‚Diätetik‘ und ‚Diät‘ von einer ‚geordneten Lebensart‘ ein wichtiger Gedanke in Bezug auf den heutigen Diätwahn entnehmen: Um nachhaltig abzunehmen, ist in den meisten Fällen nicht nur die Ess-, sondern auch die Lebensweise umzustellen.
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ist. Der einfache, empirische Verstand, über den jeder verfügt, reicht dazu vollkommen aus. Ein Arzt benötigt allerdings mehr als nur diesen. Zwar soll er seine Heilkunde der Natur entlehnen. Es ist aber notwendig, dass dies in Form einer Wissenschaft realisiert wird, wozu Universitätsgelehrsamkeit erforderlich ist (vgl. SF 7:26; Vorarbeiten SF 23:426).232 Trotzdem bleibt der Mediziner auf seinen gesunden Menschenverstand angewiesen. Denn nur auf Grundlage von medizinischem Bücherwissen, also ohne gemeine praktische Erfahrung, kann aus ihm kein guter Arzt werden (vgl. OP 21:102). Gesundheit, so ließe sich im Sinne Kants formulieren, ist auch wesentlich eine Sache des gesunden Menschenverstandes. Oder: Ein gesundes Leben erfordert gesunden Verstand. Diese Aussage ist zutreffend, insofern der gewöhnliche Verstand aufgrund seines besonderen Erfahrungsbezugs und seines pragmatischen Urteils nicht nur ein für die Diätetik ausreichendes, sondern auch unentbehrliches Vermögen darstellt. Falsch interpretiert wäre die These, wollte man ihr zufolge von körperlicher Gesundheit auf gesunden Menschenverstand oder umgekehrt von diesem auf jene schließen. Der Hinweis auf den aufgrund der Nervenkrankheit ALS an den Rollstuhl gefesselten Astrophysiker Stephen Hawking mag hier als Beweis genügen. Bei solchen Fehlschlüssen wird nicht selten auf die Formel „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper“ verwiesen. Die Grundform dieses Sinnspruchs, ein Zitat aus den Satiren des römischen Dichters Juvenal (X:356), begegnet auch bei Kant (vgl. Refl. 1526, 15:939; Refl. 1552, 15:974; OP 22:298, Vorarbeiten MS 23:399 f.233). Sie lautet: „Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano“ und bedeutet übersetzt, dass man lediglich darum bitten solle, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei. Statt sich mit vermessenen Wünschen an Gott zu richten, sei Gesundheit an Leib und Seele alles, worum man diesen ohne Anmaßung bitten könne. Im Kontext der Common-Sense-Problematik liegt eine Pointe von Juvenals Formulierung darin, dass mens sana – gewöhnlich übersetzt mit ‚gesunder Geist‘ – auch die Bedeutung von ‚gesunder Menschenverstand‘ hat. Der wirkliche Zusammenhang zwischen gesundem Körper und gesundem Menschenverstand besteht somit darin, dass beide zum Wichtigsten zählen, dessen ein Mensch bedarf. Insbesondere vom Arzt fordert Kant auch Urteilskraft (vgl. Spruch 8:275; Metaphysik Mrongovius 29:889 f.; KrV A:134/B:173). Wieder ist mit dieser 232 Zur Erinnerung: Unter „Gelehrsamkeit“ versteht Kant den Inbegriff wissenschaftlich-systematischer historischer Erkenntnisse. Im weiteren Sinne, als „Inbegrif der Wissenschaften so fern sie in Büchern enthalten sind“, umfasst sie auch die Vernunftwissenschaften (vgl. Vorarbeiten SF 23:429). 233 Vorher bereits ca. 1764–68 in: Refl. 6577, 19:92.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
reflektierende Urteilskraft gemeint. Denn die Rede ist an den betreffenden Stellen von einem Urteilsvermögen, das die Regeln im Konkreten anwenden kann, das ein erfahrungskluges, praktisches Urteilen ermöglicht, welches der jeweiligen Situation, dem Fall, gerecht wird. Auf diese medizinisch-reflektierende Urteilskraft weisen bei Kant auch die für den Arztberuf unentbehrlichen vorläufigen Urteile hin (vgl. Refl. 535, 15:233; Logik Dohna-Wundlacken 24:739 f.). Sie ist z. B. da erforderlich, wo die Krankheitssymptome keine eindeutige Diagnose zulassen, wo unter vielen möglichen Therapieformen die beste zu finden ist oder wo aufgrund fehlender Hilfsmittel improvisiert werden muss. Wie ihr religiöses und ihr juridisches Pendant kann sie als Form teleologisch-reflektierender Urteilskraft – also als begrifflich, aber zwanglos-zweckmäßig urteilendes Reflexionsvermögen – betrachtet werden.234 Im Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit ist aber auch medizinisch-bestimmende Urteilskraft unabdingbar. Zwar ist es ihr Gebrauch, mit dem die obrigkeitlichen Vorschriften, wie von Kant kritisiert, im Rahmen der Medizinalordnung ‚stur‘ befolgt werden. Aber sie stellt ebenfalls das Verfahren dar, welches Medizin zur Wissenschaft macht – zu einer systematischen Lehre, aus der verallgemeinerbare Ableitungen möglich sind (vgl. SF 7:26). Natürlich bedarf es auch in der gewöhnlichen Arztpraxis der Deduktion vom schwer erlernten Lehrbuchwissen. Wer wünscht sich schon einen Arzt, der zwar über praktische Erfahrung, aber über keine theoretisch gesicherten Kenntnisse verfügt? Der Beurteilung medizinischer Angelegenheiten kann auch ein Gemeinsinn zugrunde liegen. Ein solcher medizinischer Gemeinsinn lässt sich als Prinzip mitteilbarer medizinischer Urteile betrachten. Dieser sensus communis medicus liegt vor, wenn ein medizinisches Urteil verallgemeinerbar ist. Bei medizinisch-bestimmender Urteilskraft wäre dies z. B. der Fall, wenn von der Diagnose ‚Bruch‘ mechanisch auf die ‚vorgeschriebene‘ und allgemein anerkannte Therapieform ‚Gips‘ geschlossen wird. Medizinisch-reflektierender Urteilskraft steht hingegen keine allgemein bekannte Regel zur Verfügung. Aber überall dort, wo sie allgemein zustimmungsfähig gebraucht wird, basieren auch ihre Urteile auf dem Prinzip ‚Gemeinsinn‘. Kein sensus communis medicus liegt dagegen z. B. vor, wo Menschen ohne ihr Einverständnis zum Gegenstand von Experimenten gemacht werden. 234
Von Anselm Model ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass die der reflektierenden Urteilskraft gewidmete dritte Kritik nicht nur Fragen der Medizin der Aufklärung entspringt, sondern sie z. T. auch – mit der Idee der teleologisch-reflektierenden Urteilskraft, wie hinzugesetzt werden sollte – beantwortet (vgl. ders., S. 319 f.). Leider spart Model Überlegungen zur tieferen Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft im Sinne von Konsequenzen für den Arztberuf aus.
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Vergleichbar den Resultaten religiös- und juridisch-bestimmender Urteilskraft sind medizinisch-bestimmte Entscheidungen noch nicht deshalb verallgemeinerbar, weil sie medizinischen Vorschriften entsprechen. Sie könnten es sein, wenn sich diese Regeln nicht im Widerspruch mit der Moral befänden. Angesichts einer gesetzlich verordneten Euthanasie auf die Vernichtung ‚unwerten Lebens‘ zu entscheiden, mag z. B. legal sein können – moralisch wäre ein solches Urteil nicht zu rechtfertigen, denn die allgemeine Vorschrift ist hier nicht verallgemeinerbar. Gleiches gilt im Grunde schon, wenn eine (gute) Behandlung nur bei (‚guter‘) Bezahlung gewährt würde, was unter nur pragmatischen, wirtschaftlichen Gesichtspunkten nachvollziehbar sein kann. Selbst wer gegen den im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ausdrücklich geäußerten Willen eines Menschen dessen natürlichen Tod oder dessen Selbsttötung verhindert, kann legal, aber unmoralisch, weil nicht verallgemeinerbar handeln.235 Diese These findet bei Kant Bestätigung. Es gibt Anzeichen dafür, dass er die Medizin wie Religion und Recht auf Moral gegründet hätte, wenn es noch zu einer umfassenden Ausarbeitung gekommen wäre. Auf Hufelands Bitte, dessen Betrachtungen moralphilosophisch zu untermauern, gesteht Kant der Diätetik wie gezeigt eine moralisch-praktische Basis zu. Er betrachtet die auf ihr basierende gesunde Lebensweise auch grundsätzlich als eine Tugendpflicht: Die Kultivierung der Leibeskräfte etwa sei ein „Gebot der moralisch-praktischen Vernunft und Pflicht des Menschen gegen sich selbst“ (vgl. MST 6:444 f., Vorarbeiten MS 23:399 f.).236 Der moralische Charakter der Diätetik fungiert bei Kant als Vorbild für die gesamte Medizin, welche durch ihre Grundintention der Hilfe für andere auch genuin mit der Moral verbunden ist. Es müssen also einerseits die medizinischen Vorschriften allgemein mitteilbar sein, damit die medizinisch-bestimmende Urteilskraft zu verallgemeinerbaren Urteilen gelangen kann. Andererseits müssen medizinischbestimmte Urteile auch verallgemeinerbar angewendet werden. Die zur Um235 Kant war ein entschiedener Gegner von Selbstmord bzw. Selbsttötung (vgl. z. B. GMS 4:421 f., 4:429; MST 6:422 ff.; ApH 7:258 f.). Seine Position ist sehr umstritten. Sie stellt eine Selbsterhaltung um jeden Preis über die sonst eingeforderte Selbstbestimmung. Auch die Würde des Menschen wie die der Menschheit in dessen Person wird beschädigt. Außerdem muss bezweifelt werden, ob es allgemeines Naturgesetz sein könne, ein Leben nur noch künstlich zu erhalten. Ausführlich zur Selbsttötungsproblematik aus philosophischer Sicht vgl. z. B. Wittwer, Héctor: Selbsttötung als philosophisches Problem. Über die Rationalität und Moralität des Suizids, Paderborn 2003. 236 Zur Stärkung des Körpers gehört für Kant auch „die fortdauernde absichtliche Belebung des Thieres am Menschen“ (MST 6:445) – oder mit einem Wort: Sport! Die „Gymnastik“ stellt für Kant als ‚positive Gesundheitslehre‘ eine Ergänzung der negativen Gesundheitslehre Diätetik dar (vgl. Refl. 1540, 15:965).
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setzung nötige medizinisch-reflektierende pragmatisch-kluge Urteilskraft muss ebenfalls auf dem sensus communis medicus basieren, welcher hier wieder eine Variante des teleologischen Gemeinsinns darstellt. So kann z. B. verhindert werden, dass das moralische wie hippokratische Hilfsgebot aus pragmatischen Erwägungen ignoriert wird oder dass sich ein Arzt hinter Gesetz, Moral und Eid versteckt, wenn er das Leben eines unheilbar Kranken entgegen dessen im Vollbesitz der Urteilsfähigkeit ausdrücklich geäußerten Wunsch um jeden Preis erhält. Kants Idee des Gemeinsinns als rekonstruktiv erschließbares Urteilsprinzip lässt sich analog als Forderung an Urteile verstehen. (Mitteilbare) Geschmacksurteile basieren auf Gemeinsinn, also sollte – wer auf Zustimmung aus ist – sein Urteil über das Schöne auch bewusst auf Basis des Gemeinsinns, also unter Ausschluss von Privatbedingungen, hervorbringen. Gleichermaßen erwächst aus der Idee des sensus communis der Appell, medizinische Urteile mitteilbar, also mit Gemeinsinn, zu treffen. Entsprechend wäre wünschenswert, wenn Ärzte ihren Patienten Diagnose und Therapievorschlag auch verstehbar darlegen würden. Der Allgemeinmediziner z. B. sollte seine Berufsbezeichnung auch dahingehend verstehen, dass er gegenüber dem Kranken allgemeinverständlich, also mitteilsam und mitteilbar, auftritt. Das kommentarlose Ausschreiben eines Rezepts mag eine effiziente Praxis darstellen. Sie ist aber auch respektlos und behindert eine aktive, mitdenkende Teilnahme des Patienten an seiner Gesundung. In vielen Fällen kann die Kenntnis vom eigenen Zustand den Selbstheilungsprozess befördern. In Form einer ‚umgekehrten Hypochondrie‘, also im Sinne von Zuversicht und ‚selbst erfüllender Prophezeiung‘, lässt sich nicht selten mit der richtigen Einstellung zur Genesung beitragen. Zum medizinischen Gemeinsinn in seiner philosophischen Bedeutung existiert bei Kant ein sensus communis medicus in übertragenem, in psychologischem Sinne. In einem Abschnitt über Gemütskrankheiten237 in Anthropologie wird fehlender Gemeinsinn als das Unvermögen, das eigene Urteil aus einem anderen Standpunkt heraus zu prüfen, auch zum Kriterium geistiger Krankheit erklärt. Jemand, der über keinen Gemeinsinn verfügt, kann demnach einerseits ein Egoist sein (vgl. ApH 7:128 ff. sowie Kapitel D. III. 1.). Er kann aber andererseits auch unter einer Geisteskrankheit leiden, also im wahrsten Sinne des Wortes ‚nicht alle Sinne beieinander‘ haben: „Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensus privatus), z. B. ein Mensch sieht am hellen Tage auf seinem Tisch ein brennendes 237
Vgl. Nehring, Robert: Gemütskrankheit, in: Kant-Lexikon.
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Licht, was doch ein anderer Dabeistehende nicht sieht, oder hört eine Stimme, die kein Anderer hört. Denn es ist ein subjectiv-nothwendiger Probirstein der Richtigkeit unserer Urtheile überhaupt und also auch der Gesundheit unseres Verstandes: daß wir diesen auch an den Verstand Anderer halten, nicht aber uns mit dem unsrigen isoliren und mit unserer Privatvorstellung doch gleichsam öffentlich urtheilen.“ (ApH 7:219, vgl. Refl. 1506, 15:812 ff.; Anthropologie Mrongovius 25:1303).
Obwohl der Gemeinsinn in diesem Zitat einen deutlichen Bezug zur Idee des apriorischen sensus communis offenbart, wird er in seiner empirischen, anthropologischen Bedeutung der erweiterten Denkungsart verwendet. Auch im näheren Umfeld der Passage ist es der gesunde (Menschen)Verstand, der als Zustand geistiger Gesundheit bzw. als Gegensatz zu Seelenkrankheiten beschrieben wird.238 Bereits das so genannte ‚Steckenpferd‘, die liebenswürdige Schrulle, sei jenseits seiner „Gränzlinie“ (vgl. ApH 7:203 f.). Eine andere Bemerkung verweist unverhofft auf die Fakultätsschrift sowie die in Kapitel E. III. zu vertiefende Beziehung von Common Sense und Philosophie: Stellt sich vor Gericht die Frage, ob der Angeklagte zum Zeitpunkt seines Vergehens „im Besitz seines natürlichen Verstandes- und Beurtheilungsvermögens“, also bei „gesundem Verstande“ und nicht „verrückt“ war, so ist diese – sofern die Medizin zwar ein „Irrereden (delirium)“, aber keine körperliche Krankheit als dessen Ursache festgestellt hat – an die philosophische Fakultät weiterzureichen. Weil die Frage in diesem Fall die Psychologie und nicht die Physiologie betreffe, dürfe sie nicht von der Gerichtsmedizin entschieden werden. Nur der Philosoph könne kompetent beurteilen, ob jemand über gesunden Menschenverstand verfüge oder verrückt sei (vgl. ApH 7:213 f.).239 Es findet sich bei Kant außerdem ein leibliches Korrelat zum sensus communis. Mit ihm bekommt der medizinische Gemeinsinn auch eine physiologische Bedeutung. Gemeint ist das sensorium commune, welches Kant an mehreren Stellen thematisiert (vgl. Sömmering 12:31 ff.; Vorarbeit Sömmering 13:401 ff.; SF 7:116; ApH 7:216; Metaphysik Pölitz/L1 28:282). Unter diesem ‚gemeinsamen Empfindungsplatz‘ oder allgemeinen Sinnes238 Im Übrigen definiert Kant Gesundheit im Allgemeinen als körperliches Wohlbefinden, als ein Gleichgewicht der körperlichen Kräfte (vgl. z. B. KU 5:331; MST 6:384). Aber auch das geistige Wohl stellt für ihn – wie hier – ein Kriterium für Gesundheit dar. Insofern könnte Kant als ein Pate der heute maßgeblichen Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation betrachtet werden. Die WHO definiert Gesundheit seit 1948 unverändert als physisches und zugleich geistiges und soziales Wohlbefinden (vgl. www.who.int/suggestions/faq/en/, Stand: 08.2007). 239 Die Psychologie geht erst im 19. Jahrhundert als eigenständige Wissenschaft aus der Philosophie hervor. Als Entstehungsdatum gilt die Eröffnung des ersten psychologischen Labors durch den Philosophen Wilhelm Wundt im Jahre 1879 (vgl. z. B. Zimbardo, Philip G.: Psychologie, Berlin Heidelberg 51992, S. 1).
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
organ wird in Philosophie und Medizin traditionell ein Körperteil verstanden, in welchem – so die überwiegende Meinung – die Nervenbahnen zusammenlaufen. Das sensorium commune steht im Mittelpunkt einer Korrespondenz zwischen Kant und dem Anatomen Samuel Thomas Soemmerring (vgl. Briefe von Soemmerring 12:38 ff., 12:60; Briefe an Soemmerring 12:30, 12:41 f., 12:320). Dieser hatte es in seiner Schrift Über das Organ der Seele von 1796 in der Gehirnflüssigkeit verortet und zum Sitz der menschlichen Seele erklärt.240 In seiner Erwiderung Sömmering lässt Kant Sympathie für die These erkennen, die „Nervenbündel“ würden über das ‚Wasser der Gehirnhöhlen‘ miteinander verbunden bzw. in eine „durchgängige Gemeinschaft“ miteinander versetzt.241 Gegen die Vermutung, im „Gehirnwasser“ befinde sich damit auch der Sitz der Seele, verwahrt er sich dagegen entschieden: Die Seele könne im Körper nur in einer Weise anwesend sein wie Gott in der Kirche. Ihr komme nur „virtuelle Gegenwart“ zu. Kant stimmt der Behauptung vom sensorium commune im Hirnwasser aus der „anatomisch-physiologischen“ Sicht der medizinischen Fakultät weitgehend zu. Die These vom Sitz der Seele an diesem Ort lehnt er aber aus der „psychologisch-metaphysischen“ Perspektive der philosophischen Fakultät ab. (Vgl. Sömmering 12:31 ff.; Vorarbeit Sömmering 13:398 ff.; Metaphysik Pölitz/L1 28:280 ff.)242 Die Verwandtschaft von sensus communis und sensorium commune wird in diesem Kontext nicht deutlich herausgearbeitet. Sie liegt jedoch auf der Hand. In seiner Replik korreliert Kant das sensorium commune, welches für die „Einheit des Lebens“ sorgt, dem „inneren Sinn“, der die subjektive Einheit des Bewusstseins bewirkt (vgl. ApH 7:153 ff., 7:216 sowie Kapitel B. II.). Das gemeinsame Sinnesorgan wird als physische Basis, als Ort des inneren Sinns angenommen. Der Synthese der „Sinnenvorstellungen“ wird eine Tätigkeit der Nerven „in einem gemeinsamen Organ (sensorium commune)“ zugrunde gelegt. (Vgl. Sömmering 12:34.) – Insofern der sensus communis zwei Gemütskräfte zur Übereinstimmung bringt, stellt er ebenfalls einen Einheit stiftenden inneren Sinn dar. Dieser Gemeinsinn ließe sich daher auch an der Stelle des Körpers verorten, an der die Informationen der äußeren Sinne zusammentreffen: im Gehirn als dem Nervenzentrum. In Anthropologie findet sich ein Hinweis darauf, dass Kant den gemeinsamen Sinn und das gemeinsame Organ in Analogie zueinander be240 Der Autor von Über das Organ der Seele schreibt sich selbst „Soemmerring“ (ab 1808 von). Bei Kant begegnet sein Name dagegen in den verkürzten Schreibweisen „Sömmering“ und „Soemmering“. 241 Kant trägt sich zu dieser Zeit selbst mit der Absicht, einen „Ueberschritt von der Seelenlehre zur Physiologie (zur Natur belebter Materie) zu wagen“ (Vorarbeit Sömmering 13:398). 242 Vgl. Wenzel, in: Soemmerring, S. 79 ff.
III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht
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trachtet. Denn hier werden beide Ausdrücke verwendet, um das Phänomen der Verrücktheit als Geisteskrankheit zu beschreiben (vgl. 7:216, 7:219). Die Fruchtbarkeit einer solchen analogen Betrachtung von Psyche und Physis unterstreicht ein Blick in die Philosophiegeschichte. Der sensus communis und das sensorium commune lassen sich auf eine gemeinsame Grundidee zurückführen: den Begriff der koine aisthesis, einem von Aristoteles noch im Herzen lokalisierten inneren Sinn mit Synthesefunktion. Aus dieser ‚Urform‘ des Common Sense entwickeln sich – zunächst sehr langsam – zwei verschiedene Bedeutungsstränge. (Vgl. Kapitel A. II.)243
III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits auf den Unterschied zwischen den oberen Fakultäten und der unteren hingewiesen. Für Kant verfolgt die Philosophie das Interesse von Wahrheit und Wissenschaft. Sie gründet ihre Forschung nicht primär auf Schriften, sondern sucht in der Vernunft nach Erkenntnissen. Im Gegensatz zu den oberen Fakultäten ist die untere weitgehend unabhängig. Weil ihr Nutzen – wie der von Kunst und Wissenschaft im Allgemeinen (vgl. Aufklärung 8:41) – für die Regierung nur von nachrangiger Bedeutung ist, steht sie nicht unter dem direkten Befehl der Obrigkeit. Der Unterschied zwischen Unten und Oben an der Universität lässt sich auch als der zwischen Selbst- und Fremdbestimmung fassen. Während in der Philosophie beinahe alles aufs Selbstdenken ankommt, sind die oberen Fakultäten, wie deutlich von Reinhard Brandt herausgearbeitet wurde, in mindestens doppeltem Sinne fremdbestimmt. Zum einen werden ihnen die Ausbildungsinhalte staatlich vorgeschrieben – der Kirchenglaube, die Rechtsgesetze, die Medizinalordnung. Zum anderen geben die ausgebildeten Geistlichen, Juristen und Ärzte diese dogmatischen Verordnungen ans Volk weiter und machen dieses von sich abhängig.244 Kant stellt die Philosophie nicht nur in den Dienst von Wahrheit und Wissenschaft, sondern auch in den der Regierung – ob direkt in Form politischer Beratung oder indirekt durch ihren Einfluss auf die oberen Fakultäten, welche wiederum den Regierenden zu Diensten sind (vgl. SF 7:28 f., 243 Vgl. Müller, I.: Seelensitz, in: Historisches Wörterbuch, 9.1995, S. 105 ff.; Wenzel, in: Soemmerring, S. 20 ff. Das Verhältnis zwischen Gemeinsinn und seinem leiblichen Korrelat gehört auch zu den Themen von Nakamuras Buch Sensus communis. 244 Vgl. Brandt: Streit, S. 77 ff.; außerdem Kants Aufklärungsschrift (8:35 ff.) sowie Nehring: Selbstdenken.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
7:32 ff., 7:89; ZeF 8:368 f.). Die Nützlichkeit der Philosophie basiert auf einer Kontrollfunktion, die Kant ihr ausdrücklich zuschreibt: Die Philosophie soll die Inhalte und Vorgehensweisen der Regierung und der oberen Fakultäten kritisch prüfen (vgl. SF 7:28 ff.). Aufgrund ihrer Unabhängigkeit, ihrer Anspruchslosigkeit in Bezug auf Macht und Materielles sowie ihrer Neutralität, ist sie für diese Aufgabe prädestiniert. Die Philosophie stellt also auch im Allgemeinen eine Negativlehre dar, die Irrtümer und Anmaßungen abhalten soll. Für Kant ist sie im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften nicht progressiv, vorwärts blickend, auf Ergebnisse gerichtet. Sie trägt zum Erkenntnisfortschritt bei, indem sie durch Hinterfragen regressiv, rückwärts blickend, auf Widersprüche aufmerksam macht. Kant veranschaulicht die Rolle der Philosophie einprägsam durch Projektion auf den Bereich der Politik: „Die Classe der obern Facultäten (als die rechte Seite des Parlaments der Gelahrtheit) vertheidigt die Statute der Regierung, indessen daß es in einer so freien Verfassung, als die sein muß, wo es um Wahrheit zu thun ist, auch eine Oppositionspartei (die linke Seite) geben muß, welche die Bank der philosophischen Facultät ist, weil ohne deren strenge Prüfung und Einwürfe die Regierung von dem, was ihr selbst ersprießlich oder nachtheilig sein dürfte, nicht hinreichend belehrt werden würde.“ (SF 7:35).
Der Vergleich der Philosophie mit der politischen Opposition samt ihrer Lokalisierung im linken Spektrum erfolgt in Anlehnung an die Sitzordnung im französischen Revolutionsparlament.245 Er verdeutlicht die Unentbehrlichkeit der Philosophie: Die Dogmatik der oberen Fakultäten bedarf der Kritik der unteren Fakultät. Ihrer Wächterfunktion wird die Philosophie durch die Verteidigung der Vernunft gerecht. Wie bereits zu Beginn von Kapitel E. II. deutlich wurde, ist in diesem Kontext mit Letzterer aber keineswegs nur die reine Vernunft gemeint, die Vernunft in ihrem abstrakten, spekulativen Gebrauch, welcher große Übung und Disziplin voraussetzt und, obwohl er von jedem erlernt werden kann, eine Domäne der Wissenschaft darstellt. Die Philosophie ist zugleich Anwalt der gemeinen, gesunden Vernunft – des konkreten, erfahrungsnahen gesunden Menschenverstandes. Philosophie ist für Kant z. B. einerseits als reine Rechtslehre unentbehrlich, die die Prinzipien der Rechtsgesetze in abstracto prüft. Andererseits hat sie dafür zu sorgen, dass die Interessen des aus dem Common-Sense-Bewusstsein hervorgehenden natürlichen Rechts gewahrt bleiben – also das, was in concreto als Gerechtigkeit begegnet. (Vgl. Kapitel E. II. 2.) Beide Aufgaben, die Verteidigung der reinen und die der gemeinen Vernunft, sind eng miteinander verbunden. Denn der eigentliche Mandant ist 245
Vgl. link, in: Etymologisches Wörterbuch; Brandt: Streit, S. 39 ff.
III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht
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jeweils die Natur der Sache. Um diese zu ihrem Recht kommen zu lassen, muss die Philosophie ihre Gegenstände von oben (in abstracto), aber auch von unten (in concreto) betrachten. Die Kontrolle der oberen Fakultäten im Namen der Vernunft erfolgt also auch im Namen oder im Dienst des Common Sense. Eine Bestätigung liefert die Reflexion 430. Hier wird deutlich ausgesprochen, wer die Lehren der oberen Fakultäten „zum Gesunden Menschenverstande herabzubringen“ hat: Dieser unentbehrliche Vorgang soll „endlich vermittelst der Philosophie“ realisiert werden. Sie muss dafür sorgen, dass die Resultate der Wissenschaften für den Normalverstand verstehbar und brauchbar werden und dass sie an ihm als Erfahrungs- und Jedermannsverstand die Probe erhalten. (Vgl. Refl. 430, 15:173.) In einer anderen Nachlassnotiz – sie wird auf den Zeitraum 1785–88 datiert – heißt es prägnant: „Endlich alles zur Einfalt des gemeinen und Gesunden Verstandes, und philosophie ist dazu das Werkzeug.“ (Refl. 193, 15:72). Kant verknüpft die Sonderrolle der Philosophie aufs Engste mit ihrer Beziehung zum Common Sense: „In allen dreyen [den oberen Fakultäten; RN] Arbeitet die Wissenschaft [. . .; RN] unabläßig daran, um sich entbehrlich zu machen. Nur die Philosophie muß bleiben und wachen, daß der gemeine Menschenverstand ein Gesunder Verstand bleibe, und sie allein kan niemals entbehrlich werden.“ (Refl. 430, 15:174).
Es existieren im nachkritischen Werk weitere Textstellen, die den engen Zusammenhang von Philosophie und Common Sense dokumentieren. In der Vorarbeit zu Sömmering erklärt Kant die Philosophie in ihrer Funktion als Dienerin der allgemeinen Menschenvernunft zum „Direktor aller Classen“ (vgl. 13:404 f.). In Logik gilt der „gemeine Menschenverstand (sensus communis)“ als geeigneter „Probirstein“ für die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen. Im direkten Anschluss begegnen hier die drei Maximen des Common Sense, welche als Prinzipien zur Vermeidung von Irrtümern auch insbesondere für die Philosophie relevant sind. (Vgl. 9:57.) In Fortschritte bemerkt Kant, dass sich die Philosophen auf dem Feld der Theologie an der gemeinen Menschenvernunft orientieren sollen, um nicht in Überschwang zu geraten (vgl. 20:301). Vor diesem Hintergrund stellt sich einerseits wirklich die Frage, warum, wie Kant kritisch feststellt, Philosophie und Common Sense ein so großes Vorurteil füreinander hegen (vgl. Logik 9:78). Andererseits wird klar, dass sich die mit dem Common Sense verbundene Kontrollfunktion der Philosophie nicht nur auf die oberen Fakultäten beschränkt, sondern auf alle wissenschaftlichen Erkenntnisse inklusive der eigenen bezieht. Die Wächterfunktion der Philosophie kann bei Kant in Bezug auf den Common Sense demnach als dreifache bestimmt werden. Erstens wacht die Philosophie darüber, dass die oberen Fakultäten ihn aufrichtig berücksichti-
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
gen und nicht zu privatem Nutzen manipulieren.246 Zweitens wacht sie darüber, dass der Common Sense auch an der unteren Fakultät Beachtung findet, z. B. indem sie ihn konstruktiv mit den Resultaten von Metaphysik und Moralphilosophie in Beziehung setzt. Und drittens wacht die Philosophie über die Gesundheit des gemeinen Verstandes – indem sie seine Überzeugungen auf Richtigkeit prüft, schützt sie ihn auch vor sich selbst. Wie in Kants vorkritischer und kritischer Schaffensphase sind Philosophie und Common Sense als gesunder Menschenverstand also auch im nachkritischen Werk eng miteinander verzahnt (vgl. Kapitel C. II., D. III. 1.). Der Nutzen des Common Sense für die Philosophie lässt sich auf die drei bekannten Punkte bringen. Erstens dient er ihr als Basis. Wie mit natürlicher Religion, natürlichem Recht oder natürlicher Logik dient auch der Philosophie im Allgemeinen ein Naturzustand als Ausgangspunkt: die Natur der Sache, wie sie sich zunächst dem natürlichen Bewusstsein, dem natürlichen Verstand, darbietet. Zweitens dient er ihr zur Orientierung. Mit dem Common Sense verfügt die Philosophie über einen Maßstab zur Beurteilung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse. Drittens stellt der Common Sense für die Philosophie einen Zielhorizont dar. Zu ihm soll sie die Ergebnisse der Wissenschaften ‚herabbringen‘. – Nach 1781 und abseits der Kritiken bleibt also Kants große Anerkennung für den Common Sense auch im Kontext der Philosophie erhalten, ebenso wie seine Ablehnung einer ausschließlichen Berufung auf den gesunden Menschenverstand in der szientifischen Forschung. Kants Verständnis von Philosophie konzentriert sich in der Idee der ‚Philosophie nach dem Weltbegriffe‘, welche bereits in Kapitel D. III. 1. eingehend betrachtet wurde. Zentrale Stützen dieses Konzeptes sind der Gedanke der Wächterfunktion der Philosophie für oder ihre Be-Deutungshoheit über die Einzelwissenschaften sowie die Idee der Orientierungsfunktion des Common Sense für die Philosophie. Beide lassen sich zur Zusammenfassung und Bestätigung der bisherigen Ergebnisse in Beziehung zueinander setzen. Als „Wissenschaft von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft“ handelt die Philosophie nach dem Weltbegriff von den letzten Dingen oder den Fragen, auf die alles hinausläuft. Dies verleiht ihr einerseits selbst Würde, einen „innern“, „absoluten Werth“. Andererseits begründet diese 246
Robert Spaemann hatte wohl diesen Aspekt vor Augen, als er notierte, die Philosophie habe „im Grunde nichts anderes zu tun, als das, was die Gemüsefrau immer schon wußte, in Schutz zu nehmen gegen den fortgesetzten Versuch einer gigantischen Sophistik, es ihr auszureden“ (ders.: Philosophie als institutionalisierte Naivität, in: Hans Michael Baumgartner/Otfried Höffe/Christoph Wild (Hg.): Philosophie Gesellschaft Planung. Kolloquium Hermann Krings zum 60. Geburtstag vom 27.–29. September 1973, München 1976, S. 101).
III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht
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Ausrichtung die Wächterfunktion der Philosophie. Denn sie befähigt diese, allen anderen Wissenschaften und ihren Erkenntnissen Wert, also Sinn oder Bedeutung, zu verleihen. (Vgl. Logik 9:23 ff.) Die Einzelwissenschaften verfolgen ‚zufällige‘, „subalterne“ Zwecke. Metaphysik im Sinne von Philosophie als Weisheitslehre, welche stets auch ein praktisches Interesse verfolgt (vgl. Logik 9:24 ff., 9:87), weist ihnen und ihren Resultaten Bedeutung in Bezug auf das zu, was die Menschen wirklich interessiert. Denn Weltbegriffsphilosophie setzt sie in Beziehung zu den wesentlichen Zwecken der Menschheit. Weil diese ‚Welt‘-Philosophie mit der Vernunft die Basis aller anderen Wissenschaften zum Gegenstand hat, bekleidet sie für Kant ein „Censoramt“, „welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert und dessen muthige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen.“ (KrV A:851/B:879). (Vgl. KrV A:839 f./B:867 f., A:850 f./ B:878 f.)247
Die Orientierungsfunktion des Common Sense, sein Nutzen für die ‚Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung‘, entspricht dem Nutzen, welchen Kant diesem Vermögen für die Wissenschaft überhaupt zuweist. In Kapitel D. III. 1. wurde er bereits als Zielhorizont bestimmt. Daran aber, dass die Philosophie nach dem Weltbegriff für Kant auch eine Wissenschaft von dem darstellt, was jedermann interessiert, die sich also nicht nur mit selbst geschaffenen Problemen beschäftigt, sondern an den Fragen der allgemeinen Menschenvernunft abarbeitet, wird auch der Basis- und Orientierungscharakter des Common Sense für sie deutlich. Die Philosophie nach dem Weltbegriff beinhaltet demnach nicht nur eine finale Orientierung am Interesse des Common Sense. Dass die Fragen der Metaphysik erst diesem entspringen, ist hier bereits ebenso mitgedacht wie dessen Funktion als Maßstab für die Kritik ihrer Erkenntnisse. Zwischen der Wächterfunktion der Philosophie nach dem Weltbegriff und der Orientierungsfunktion des Common Sense für diese besteht ein offensichtlicher Zusammenhang: Philosophie kann ihre Aufgabe als Sinn verleihende Weisheitslehre nur durch Berücksichtigung des Common Sense erfüllen. Denn die Bedeutung wissenschaftlicher Ergebnisse und die der Wissenschaft selbst kann in Hinblick auf die wesentlichen Zwecke der allgemeinen Menschenvernunft nur beurteilen, wer diesen Common Sense kennt und in Betracht zieht. Der Nutzen des Common Sense für die Philosophie steht bei Kant also in direkter Beziehung zum Nutzen der Philoso247
Zur Zweckhierarchie bei Kant vgl. auch Falkenburg, Brigitte: Die Funktion der Naturwissenschaft für die Zwecke der Vernunft, in: Gerhardt: Streit, S. 117 ff., v. a. S. 123–128.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
phie selbst.248 Die Philosophie nach dem Weltbegriff oder als Weisheitslehre ist ohne Common Sense nicht denkbar. Bisher war in diesem Kapitel nur vom Common Sense in seiner Bedeutung als gesunder Menschenverstand oder allgemeine Menschenvernunft die Rede. Analog dazu lässt sich auch nach der Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft und des Gemeinsinns für die Philosophie fragen. Philosophie als Wissenschaft setzt (philosophisch-)bestimmende Urteilskraft voraus. Vor allem schulmäßige Philosophie erfordert sie wesentlich. Denn diese ist auf sie angewiesen, um das Allgemeine zu denken – um Begriffe, Gesetze, Prinzipien, Regeln abstrakt erfassen und von ihnen ableiten zu können. Philosophisch-bestimmende Urteilskraft ermöglicht rationale Argumentationen, logische Schlussfolgerungen, methodische Forschungen, formale Untersuchungen. Nur mithilfe dieses Verfahrens kann Philosophie ihrer Bestimmung als Arbeit an den Begriffen, deren Zergliederung und Zusammensetzung nach Prinzipien, gerecht werden (vgl. Ton 8:389, 8:393). Ohne philosophisch-bestimmende Urteilskraft wäre der Philosoph kein „Gesetzgeber der menschlichen Vernunft“ – er könnte Erkenntnissen weder „systematische Einheit“ noch „logische Vollkommenheit“ verleihen (vgl. KrV A:838 f./B:866 f.). 248
Der ‚Nutzen‘ der Philosophie darf nicht im Sinne marktwirtschaftlicher Profitabilität missverstanden werden. In diesem Punkt ist Kant eindeutig. Wie gemacht für ein Diktat in die Merkbücher derer, die mit Einsparungen die Existenz universitärer Philosophie bedrohen, ist folgende Passage, in der mit den Wissenschaften vor allem die Philosophie gemeint ist: „Es ist daher ein eben so unweiser als ungerechter Vorwurf, der großen Männern, welche mit mühsamen Fleiße die Wissenschaften bearbeiten, von schalen Köpfen gemacht wird, wenn diese hierbei fragen: wozu ist das nütze? Diese Frage muß man, indem man sich mit Wissenschaften beschäftigen will, gar nicht einmal aufwerfen. Gesetzt, eine Wissenschaft könnte nur über irgend ein mögliches Object Aufschlüsse geben, so wäre sie um deswillen schon nützlich genug. Jede logisch vollkommene Erkenntniß hat immer irgend einen möglichen Nutzen, der, obgleich uns bis jetzt unbekannt, doch vielleicht von der Nachkommenschaft wird gefunden werden. – Hätte man bei Cultur der Wissenschaften immer nur auf den materiellen Gewinn, den Nutzen derselben gesehen, so würden wir keine Arithmetik und Geometrie haben. Unser Verstand ist auch überdies so eingerichtet, daß er in der bloßen Einsicht Befriedigung findet und mehr noch als in dem Nutzen, der daraus entspringt.“ (Logik 9:42). – Vor allem im Zusammenhang mit den Geisteswissenschaften und insbesondere der Philosophie begegnet die hier angesprochene Beziehung zwischen Forschen und Nutzen oft auch – mit Bezug zu einer prominent gewordenen These von Karl Marx – als Missverhältnis zwischen Interpretation und Veränderung der Welt. Wenn diese aber überhaupt unabhängig voneinander betrachtet werden können, wie es Marx nahelegt, dann ist Erstere keinesfalls geringer zu bewerten. Das Deuten ist nicht weniger ‚nützlich‘. Ohne Theorie keine Praxis. Zur Marx’schen These vgl. insbesondere Gerhardt, Volker (Hg.): Eine angeschlagene These. Die 11. Feuerbach-These im Foyer der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1996.
III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht
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Kants Begriff von Philosophie erschöpft sich jedoch nicht in ihrem Schulbegriff. Sie muss sich auch auf diesem aufbauend am Weltbegriff orientieren. Philosophie besteht aus Wissen(schaft) und Weisheit (vgl. OP 21:7, 21:106, 21:130; Verkündigung 8:417, 8:420 f.; Logik 9:25). Weltbegriffsphilosophie oder Weisheitslehre betrachtet wie gesehen Sachverhalte in Bezug auf ihren Zweck und Zwecke überhaupt. Sie verleiht ihnen Bedeutung. Der Ingenieur fragt sich z. B., wie Autos schneller fahren können, der Philosoph, warum und damit ob wir schnellere Autos brauchen. Da für den Philosophen als Weisheitslehrer der jeweilige Zweck nicht von vornherein feststeht, erfordert sein Geschäft der Sinngebung wesentlich philosophisch-reflektierende Urteilskraft. Das Allgemeine ist von ihm stets noch zu ermitteln. Dazu muss er nach dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft verfahren – nach dem der Zweckmäßigkeit. Da Kant das Philosophieren als begrifflich vermitteltes Denken bestimmt und Philosophie „auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“ (KrV A:839/B:867) verpflichtet, kann auch die philosophisch-reflektierende Urteilskraft als Form teleologisch-reflektierender Urteilskraft betrachtet werden. Dieses zweckmäßige Urteilen ist ebenfalls nötig, um etwas aus der Sache selbst heraus zu verstehen. Indem es Besonderes und Allgemeines in ein passendes Verhältnis zueinander bringt, erlaubt es auch allererst, die richtigen, dem Gegenstand angemessenen Fragen zu stellen. Reflektierende Urteilskraft hilft außerdem, in Untersuchungen nicht vom Ziel, dem Wesentlichen, dem, worauf es ankommt, abzukommen. Kurz: Philosophie bedarf reflektierender Urteilskraft als Basis, zur Orientierung und zum Erreichen ihres Ziels. – Aber auch wenn weltorientierte Philosophie in erster Linie reflektierende Urteilskraft benötigt und schulmäßige Philosophie primär auf bestimmende Urteilskraft angewiesen ist, kann keine der beiden Philosophieformen auf eines der Urteilsverfahren verzichten. Die reflektierende Urteilskraft wurde in dieser Arbeit einmal veranschaulichend ‚Urteilskraft von unten‘ genannt (vgl. Kapitel E. II. 2.). Ihre große Bedeutung für die Philosophie wird auch daran deutlich, dass sich Kants Konzept von dieser Wissenschaft analog als ‚Philosophie von unten‘ bezeichnen lässt. Laut Kant hat der diskursive Verstand in dieser Wissenschaft mühsam die Stufen der Erkenntnis zu erklimmen. Die Philosophie muss sich „von unten hinauf“ quälen – eine „herculische Arbeit des Selbsterkenntnisses“ verrichten. Anders als „vornehme“ Gefühlsschwärmerei249 249 Die gemeinte Gefühlsphilosophie wird von Kant in Ton als Modeerscheinung der damaligen Zeit kritisiert. In ihr treten ‚Visionen‘, „intellectuelle Anschauungen“ an die Stelle philosophischer Kärrnerarbeit an den Begriffen. (Vgl. 8:389 ff.) – Der Ästhet ahnt die Wahrheit, die Muse küsst ihn im Schlaf. Die Erkenntnisse der Phi-
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
demonstriert echte Philosophie für Kant nicht „von oben herab“, Methodik, Systematik und Logik „überfliegend“. Um den Tatsachen auf den Grund zu gehen, darf sie nicht über ihnen schweben, sondern muss sich auf deren Boden, in Augenhöhe mit dem Problem, begeben. (Vgl. Ton 8:389 f., 8:416; Jachmann 8:441.) Um das Ganze zu überblicken, hat Philosophie stets „auf alles“ zu gehen. Dazu muss sie immer bei Null beginnen, im ‚Trümmerhaufen‘ der bisherigen Theorien, beim Problem in seiner natürlichen Umgebung und Bedeutung. (Vgl. Logik 9:23 ff.) Es widerspricht ihrem Wesen also z. B. zutiefst, auf Diskurse aufzusatteln, ohne die Hintergründe ausreichend zu kennen. Entsprechend zeigt sich bei Kant, dass der Weg zum Wissen auch in der Philosophie ein Pfad der Reflexion ist. Am Anfang des Philosophierens steht für ihn nicht die Kenntnis des Allgemeinen, sondern die sokratische Inkompetenzkompetenz, ein Wissen um das Nichtwissen (vgl. Logik 9:44 f.). Wie bei Aristoteles beginnt Philosophie bei Kant mit dem Staunen, einem ‚Be-‘ oder ‚Verwundern‘ (vgl. ApH 7:261). Durch ein Problematisieren des Erstaunlichen kommt es zu Fragen. Im Zuge zunehmender „Inkompetenzkompensationskompetenz“250 werden dann als erste Antworten Meinungen formuliert, die anschließend zu prüfen sind. Das Meinen stellt für Kant ein vorläufiges, problematisches, aber für jede und damit auch für philosophische Erkenntnis unentbehrliches Urteilen dar, das nur mithilfe reflektierender Urteilskraft zustande kommt. (Vgl. Logik 9:65 ff.; KrV A:820 ff./B:848 ff.) – Der Weg der Philosophie zur Wahrheit gleicht also einer Treppe, die von unten, reflektierend, zu besteigen ist. Die Relevanz philosophisch-reflektierender Urteilskraft für die Philosophie kann auch an deren Funktion der Kritik verdeutlicht werden. Reflektierende Urteilskraft kennzeichnet für Kant einen kritischen Umgang mit Begriffen, bestimmende dagegen charakterisiert deren dogmatischen Gebrauch (vgl. KU 5:395). Philosophie als (transzendentale) Kritik ist analog zur kritischen, vorsichtigen, prüfenden Verwendung von Begriffen um den Realitätsbezug der apriorischen Begriffe bemüht, um die Anwendbarkeit der reinen Kategorien, Ideen, Prinzipien. Als Propädeutik zu jeder Metaphysik beginnt sie mit der Suche nach einer Beziehung zu möglicher Erfahrung. Kritische Philosophie baut ihr Haus insofern von unten. Sie beginnt mit der Sichtung des Baumaterials auf seine Tauglichkeit oder Angemessenheit. Dogmatische Philosophie dagegen errichtet ihre Gedankengebäude von losophie dagegen sind Produkt harter Arbeit. Deshalb können ihre Untersuchungen – wie die vorliegende – auch einmal länger dauern. 250 Mit diesem Ausdruck wurde das Wesen der Philosophie von Odo Marquard beschrieben (vgl. ders.: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz in der Philosophie, in: Baumgartner: Philosophie, S. 114 ff.).
III. Die untere Fakultät: Philosophie prüft und wacht
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oben. Sie fängt die Gesetze philosophischer Statik missachtend mit dem Dach an. Das Fundament ist für sie zweitrangig. Bei ihren Erkenntnissen handelt es sich um Anmaßungen. Sie ‚vernünftelt ins Blaue‘ – ohne Blick für Wert und Unwert ihrer Spekulationen. Philosophie als Kritik verfährt in ihrer Grundintention reflektierend, von unten hinauf. Sie sorgt für eine umfassende Grundlagenreflexion. Ihre Methode schließt zwar wie im Falle notwendiger Deduktionen Akte bestimmender Urteilskraft ein – auch sie verfährt nach strengen Prinzipien beweisend. Dieses Bestimmen ist aber dem Ziel der Kritik untergeordnet, vor jeder Suche nach dem Allgemeinen die Vernunft auf ihre Tauglichkeit zum Erkennen von diesem zu prüfen. Zwar hat kritische Philosophie auch einen bestimmenden, sicheren Gebrauch der Begriffe zum Ziel. Einer solchen dogmatischen Determination muss jedoch eine kritische Reflexion auf die Rechtmäßigkeit der Ansprüche vorausgehen. (Vgl. KrV B:XXXVf., A:IX ff., A:11 ff./B:24 ff., A:707/B:735, A:758 ff./B:786 ff.; Prol 4:365 ff.; Logik 9:32 f.; Ton 8:390, 8:403; Verkündigung 8:415 f.) Analog zur großen Bedeutung des Common Sense für die Philosophie kann also auch die Unentbehrlichkeit der philosophisch-reflektierenden Urteilskraft festgestellt werden. Philosophie bedarf bestimmender Urteilskraft, um Wissenschaft zu sein. Ohne reflektierende Urteilskraft aber verbleibt sie im Schulstadium. Dabei verhält es sich wie mit reiner Gelehrsamkeit und gesundem Menschenverstand: Zur Philosophie wird beides erfordert. Es zeigt sich, dass Philosophie für Kant ihrem Wesen nach nicht nur eine bestimmend verfahrende Prinzipienwissenschaft ist, sondern im Wesentlichen auch eine zweckmäßig urteilende Reflexionswissenschaft darstellt. Schließlich kann auch ein philosophischer Gemeinsinn formuliert werden. Philosophie als Streben nach oder Liebe zur Wahrheit (vgl. z. B. SF 7:19 f., 7:27 ff., 7:32 ff.) ist wie keine zweite Wissenschaft auf einen solchen sensus communis philosophicus als Urteilsprinzip angewiesen. Dies zeigt sich an den Wahrheitskriterien, die Kant expliziert (vgl. KrV A:57 ff./B:82 ff.; Logik 9:49 ff.; Logik Busolt 24:628 f.; Kapitel D. III. 1.). Sie offenbaren einen genuinen Bezug zu den jeweils anderen Menschen. Für die Wahrheit als Übereinstimmung von Erkenntnis und Objekt oder Urteil und Beurteiltem kennt Kant verschiedene Kriterien. Die objektiven, logischen beinhalten eine formale Übereinstimmung eines Urteils mit den allgemeinen Regeln von Verstand und Vernunft. Zu den subjektiven Kriterien zählt das innere der Übereinstimmung mit eigener Erfahrung – mit Urteilen über anderes, welche sich bereits bewahrheitet haben. Als subjektives, äußeres Wahrheitskriterium bezeichnet Kant die Übereinstimmung mit den tatsächlichen Urteilen der anderen. Wer sein Urteil auf diese Kriterien hin prüft, legt es auf Mitteilbarkeit an. Ob als Generalprobe vor leerem Haus oder als Premiere vor kritischem Publikum – es handelt sich jeweils um einen Test auf All-
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
gemeinheit, auf allgemeine Mitteilbarkeit. Wahr ist für Kant, was für alle gilt. Deshalb ist Wahres stets mitteilbar. Also basieren wahre Urteile, um die sich Philosophie im Besonderen bemüht, auf dem sensus communis. Zwei Zitate aus dem nachkritischen Werk unterstreichen diese soziale Dimension der Wahrheit: „Alle Menschen haben bey Untersuchung der Wahrheit ein gemeinschaftliches Intereße, und daher müßen wir in solchem Streit Theilnehmende seyn, indem wir uns nicht dabey aufhalten zu zeigen, wo der andere geirret hat, sondern wo er Recht hat. Diese theilnehmende Gesinnung ist nun zwar moralisch, und gehört eigentlich nicht in die Logic. Aber die Logic schreibet die Regeln derselben als richtige Maximen vor.“ (Wiener Logik 24:828). „Allein wie viel und mit welcher Richtigkeit würden wir wohl denken, wenn wir nicht gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mittheilen, dächten!“ (Orientieren 8:144).
Dass die Philosophie ein besonderes Interesse an der Mitteilbarkeit ihrer Urteile und damit am Gemeinsinn als deren Prinzip kennzeichnet, verdeutlicht auch Kants Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie aus dem Jahre 1796. Sie liest sich wie ein großes Plädoyer für die allgemeine Kommunizierbarkeit in dieser Wissenschaft. Kant kritisiert die Entfernung von der ursprünglichen Bedeutung der Philosophie als „wissenschaftliche Lebensweisheit“. Konkret stellt er die damals populäre Gefühlsphilosophie in eine Reihe mit esoterischen Zirkeln wie denen der asketischen Mönche, der Alchemisten und der Geheimlogen. Sie alle beanspruchen den Namen ‚Philosophie‘ – für Kant zu Unrecht. Denn sie machen aus ihren Lehren ein Geheimnis, etwas, das sie nicht „allgemein mittheilen können“. Kant spricht ihnen den Status der Philosophie mit Hinweis auf deren notwendige Mitteilbarkeit ab. Zugleich votiert er damit für exoterische Philosophie. (Vgl. Ton 8:389 ff.) Es zeigt sich, dass Philosophie – als Wissenschaft und überhaupt – wie Moral, Politik, Religion, Recht oder Medizin nicht nur auf verallgemeinerbare Prinzipien, Begriffe, Regeln etc., sondern auch auf eine verallgemeinerbare Anwendung angewiesen ist. Bei Letzterer handelt es sich in erster Linie um eine zumindest in der Grundabsicht verständliche Vermittlung philosophischer Erkenntnisse. Es ergeht also die Forderung an die Philosophie, dass sowohl philosophisch-bestimmender als auch philosophisch-reflektierender Urteilskraft stets philosophischer Gemeinsinn zugrunde liegen soll. Der Ruf nach Gemeinsinn in der Philosophie findet eine Entsprechung in Kants Forderung nach Öffentlichkeit für ihre Erkenntnisse (vgl. Kapitel D. III. 1., E. II.). Die von ihm mehrfach postulierte Meinungs-, Redeund Veröffentlichungsfreiheit für die Philosophie steht in Analogie zum sensus communis philosophicus. Denn dieser Gemeinsinn lässt sich auch als Prinzip einer inneren Öffentlichkeit betrachten, welche vom Philosophieren-
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den in der Urteilsbildung herzustellen ist. Doris Vera Hofmann hat in der ‚Öffentlichkeit‘ bei Kant daher völlig zu Recht „eine Manifestation der Idee des Gemeinsinns“251 gesehen. In Bezug auf die Philosophie äußert sich Kants Forderung nach Mitteilbarkeit auch in seinem Ruf nach einem Recht auf Mitteilung. Es bedarf für ihn des sensus communis philosophicus und eines Klimas, in dem sich dieser entfalten kann. In Kants Anthropologie findet sich ein Satz, der die Idee des sensus communis als Prinzip einer inneren Öffentlichkeit sehr anschaulich macht: „Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproductive Einbildungskraft) Hören.“ (7:192, vgl. OP 21:103).
Kant weist hier – an unerwarteter Stelle – sehr deutlich auf die gemeinschaftliche Dimension hin, die jedes Denken birgt. Das Denken ist als ein stilles Sich-Äußern und zugleich Sich-Zuhören wie einem anderen oder wie ein anderer immer schon sozial verfasst. Es beinhaltet bereits die Betrachtung des eigenen Urteils aus einem anderen Standpunkt. Im Gegensatz zum bloßen Fühlen liegt somit jedem Denken schon ein Gemeinsinn zugrunde. Im Denken als diesem stummen Selbstgespräch ist für Kant bereits die öffentliche Diskussion angelegt. Der Weg des Denkens führt, wie Hofmann feststellt, zwangsläufig in die Öffentlichkeit: Das Reden mit sich müsse zu einem Reden mit anderen werden.252 – Kant definiert das Denken als eine Funktion des Verstandes, durch welche Vorstellungen vereinigt werden. Denken ist für ihn begriffliches Urteilen. Deshalb hat es wie die Wahrheit eine besondere Bedeutung für die Philosophie. Definiert man diese als Begriffsarbeit, dann stellt das Denken in seiner fortgeschrittenen Form ihren Beruf dar. Die Forderung nach Gemeinsinn als Prinzip philosophischer Urteile hat ihre Wurzel in der sozialen Konstitution des Denkens und findet ihre Entsprechung im Gang an die Öffentlichkeit. Von Hofmann ist in diesem Kontext noch auf einen zweiten Aspekt hingewiesen worden, den der gemeinschaftlichen, öffentlichen Dimension des Meinens. Da wie gesehen der Weg zur Wahrheit auch für die Philosophie mit Meinungen beginnt, sind diese hier ebenfalls relevant. Tatsächlich lädt das Meinen, wie Kant es definiert (vgl. Kapitel D. III. 2.), zur Teilnahme an der Beurteilung, zum Gedankenaustausch über einen Gegenstand, ein. 251 Hofmann, S. 213. Auch Klaus Blesenkempers Buch über den Öffentlichkeitsbegriff legt die Analogie zwischen Öffentlichkeit und sensus communis bei Kant – ohne sie ausdrücklich zu formulieren – nahe. 252 Vgl. Hofmann, S. 145 ff. Darauf, dass der Mensch bei Kant schon im Denken sozial sei, hat wie von Wolfram Hogrebe festgestellt wurde, bereits Max Adler 1924 hingewiesen (vgl. Adler, Max: Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Naturalismus und Kritizismus, ND Aalen 1975, S. 457 ff.; Hogrebe, S. 198).
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Da Meinungen mit dem vollen Bewusstsein ihrer Fehlbarkeit als problematische Urteile geäußert werden, regen sie in besonderer Weise zu Widerspruch oder Zustimmung an.253 Das Meinen animiert also zu erweiterter Denkungsart, ohne dass ihm – als nur privatgültigem Fürwahrhalten – selbst ein sensus communis zugrunde liegen würde. Den Philosophen charakterisiert eine existenzielle Bindung an die Öffentlichkeit. Er sollte diese aber nicht als ‚Viel-‘ oder ‚Lautsprecher‘ missbrauchen. Vielmehr hat die Philosophie als Wissenschaft, die vom ökonomischen Effizienzgedanken weitgehend befreit ist (oder sein sollte), das besondere Privileg und die besondere Pflicht, zu schweigen, wo sie nichts zu sagen hat. Zwar können für Kant auch falsche und wohl auch irrelevante Urteile über die öffentliche Auseinandersetzung, den Streit, zur Wahrheitsfindung beitragen (vgl. z. B. KrV A:405 ff./B:432 ff., A:738 ff./B:766 ff.; SF 7:32 ff.; Verkündigung 8:414). Aber vor allem der Philosoph ist für ihn auch gehalten, sein Urteil ‚zu suspendieren‘, es zurückzuhalten, wo er keine sichere Urteilsbasis vorfindet. Er darf ein vorläufiges Urteil nie ohne kritische Prüfung zu einem bestimmenden werden lassen (vgl. Logik 9:74). Philosophie ist für Kant auch wesentlich monologisches, antizipierendes Selbstdenken. Bevor sich der Philosoph der Öffentlichkeit stellt, geht er mit sich selbst ins Gericht. Entsprechend stellt für Kant ein Planet, auf dem jeder nur laut denken könnte, eine Horrorvorstellung dar (vgl. ApH 7:332). Der Philosoph sollte überlegt an die Öffentlichkeit treten. Andernfalls gleicht auch er einer „Trommel“, die „klingt, weil sie leer ist“ (ApH 7:139). – Daraus ließe sich die Regel ableiten: Sich erst mit einem Problem selbst auseinander setzen, sich dann darüber mit anderen zusammensetzen und sich schließlich noch einmal selbst mit dem eigenen Urteil und denen der anderen auseinander setzen. Ein enger Zusammenhang zwischen Philosophie und sensus communis deutet sich auch an, wo Kant den ‚egoistischen‘, eigenbrötlerisch in sein Fach versunkenen Wissenschaftler als Zyklopen bezeichnet. Diesem nur historisch Gelehrten, der über viel Wissen verfügt, aber wenig über dessen Bedeutung und Anwendung weiß, fehle das Auge der Philosophie zur zweckmäßigen Nutzung seiner großen Gelehrsamkeit. Der Theologe z. B. bedarf der Metaphysik, der Jurist der Rechts- und Moralphilosophie und der Arzt der Naturkenntnis. Zyklopen gibt es für Kant aber nicht nur unter den Gelehrten der oberen Fakultäten, sondern auch denen der unteren – etwa den Historikern, Philologen oder Mathematikern. Das philosophische Auge, welches das Maulwurfsauge ergänzen muss, hat die Aufgabe, den jeweiligen „Gegenstand noch aus dem Gesichtspunkte anderer Menschen“ (Refl. 903, 15:395) zu betrachten. Diese Einnahme eines allgemeinen Standpunk253
Vgl. Hofmann, S. 147.
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tes trägt zur ‚Selbsterkenntnis‘ in den Wissenschaften bei. Sie verleiht ihnen und ihren Resultaten Wert in Bezug auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft. So verstanden lässt sich das philosophische Auge in diesem Kontext auch als das Auge des Gemeinsinns betrachten. Denn sein Blick gilt den möglichen und wirklichen Urteilen anderer Menschen und Wissenschaften. Kant mahnt die oberen Fakultäten, sich nicht nur scheuklappenbewehrt der „bloßen Lohnkunst“ hinzugeben. Sie sollen ‚liberale Denkungsart‘ zeigen, ihr Treiben also auch aus der Perspektive anderer heraus distanziert und kritisch betrachten. (Vgl. Vorarbeit SF 23:428.) Die Philosophie soll darauf ein Auge haben – ihr Auge des sensus communis. In dieser Funktion sieht Kant generell eine Aufgabe der freien, brotlosen Künste der unteren Fakultät. Sie sollen die unfreien, berufsausbildenden Brotkünste der oberen Fakultäten an Eigennützigkeit und Selbstüberschätzung hindern. Durch das Auge der Philosophie wird für Kant die „humanitaet der Wissenschaften“ befördert, eine Kultur der Teilnahme und Mitteilung. – Das philosophische Auge wacht also über den Gemeinsinn in der Wissenschaft. Es verhält sich mit ihm wie im Leben: Mit dem zweiten sieht man besser. Und nur mit beiden Augen lässt sich auch in die Tiefe – also dreidimensional – schauen. (Vgl. Logik 9:45; ApH 7:227; Refl. 903 f., 15:394 ff.; Refl. 2020 ff., 16:198 ff.; Refl. 5081, 18:82; Logik Busolt 24:625; KU 5:355.) Der philosophische Gemeinsinn lässt sich wie der politische, der religiöse und der juridische hochrechnen (vgl. Kapitel E. I., E. II. 1., E. II. 2.). Er kann analog auch als Prinzip von ‚gelehrten Gemeinwesen‘ betrachtet werden, von Wissenschaftler-Gemeinschaften, wie die Universität eine darstellt (vgl. SF 7:17, 7:19; Vorarbeit SF 23:430; KrV A:851/B:879). Als ein ‚gemeinsamer Akademikerwille‘ zu verbindlichen Regeln für die Wissenschaft stellt der sensus communis philosophicus die Voraussetzung für eine gelingende Forschungs- und Lehr-Gemeinschaft dar, innerhalb welcher der notwendige „gesetzmäßige“ Streit der Fakultäten nie endet (vgl. SF 7:32 ff.). Wo der philosophische Gemeinsinn als solch ein vereinigter Wille vorhanden ist, da kontrollieren sich die Wissenschaften aus einem allgemeinen Standpunkt heraus selbst. Die Philosophie gibt durch ihr kritisches Hinterfragen jederzeit Anlass dazu und prüft zusätzlich selbst. In übertragenem Sinne lässt sich sogar die Philosophie selbst als sensus communis verstehen. Als Wissenschaft der Wissenschaften254 steht sie nicht nur ‚links‘ oder ‚unten‘. Als diese Universalwissenschaft lässt sie sich auch 254
In der Fakultätsschrift räumt Kant zwar ein, die erste Kritik habe ihm gezeigt, dass die Philosophie mehr als eine Wissenschaft der Wissenschaften eine Wissenschaft vom Menschen sei (vgl. SF 7:69). Die grundlegenden Funktionen, die er der Philosophie in Bezug auf die anderen Wissenschaften zuweist, sprechen jedoch dafür, dass diese Bezeichnung dennoch in seinem Sinne ist.
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in der Mitte der akademischen Disziplinen lokalisieren. Indem sie die Erkenntnisse aller Wissenschaften beurteilt, ihnen Ordnung, Zusammenhang und Bedeutung zuweist (vgl. Logik 9:26), stellt sie einen Kreuzungspunkt oder ein zentrales Organ des akademischen Körpers dar, seinen sensus communis oder sein sensorium commune. Die Philosophie verkörpert als Bedingung der allgemeinen Mitteilbarkeit aller Erkenntnisse der Wissenschaften deren zentralen Sinn. Johann Wolfgang Goethe hat diesen Zusammenhang anschaulich zum Ausdruck gebracht: „Die Wissenschaften einzeln sind gleichsam nur die Sinne, mit denen wir den Gegenständen Face machen; die Philosophie oder Wissenschaft der Wissenschaften ist der sensus communis.“255
* * * Um den in Kapitel E. II. mit der Fakultätsschrift begonnenen Kreis zu schließen, sei noch einmal ein Blick auf den Stellenwert der Philosophie bei Kant geworfen. Ihre Kennzeichnung als neutrale, devote, bloß beratende, ‚nur‘ Irrtümer vermeiden helfende Wissenschaft kann nicht verbergen, dass sie für Kant zugleich die ‚höchste Stufe der menschlichen Natur‘ darstellt. Der Philosophie kommt bei ihm schon deshalb eine herausragende Bedeutung zu, weil sie von allen Wissenschaften das größte Bedürfnis der Menschen – ihr wesentliches Interesse – zu befriedigen habe. (Vgl. Verkündigung 8:412, 8:417.) Das macht sie der Idee nach durchaus zur Königin unter den Wissenschaften, die sie in der Antike einmal war, oder zu der eigentlich oberen Fakultät, welche den anderen Wissenschaften nicht die Schleppe hinterher-, sondern die Fackel voranträgt (vgl. SF 7:28, 7:35; ZeF 8:369). Kant bezeichnet die Philosophie aufgrund ihrer Kontrollfunktion für die übrigen Wissenschaften bzw. ihres negativen Nutzens, Fehlurteile aufzudecken oder zu verhindern, folgerichtig als „Polizei im Reiche der Wissenschaft“ (Ton 8:404; vgl. KrV B:XXV; Prol 4:351; Refl. 5112, 18:93). Ihr ‚Zensoramt‘ (vgl. KrV A:851/B:879) als Wahrheits- und Bedeutungspolizei darf aber nicht im Sinne einer dogmatischen Überwachung missverstanden werden. Die Idealvorstellung beinhaltet in diesem Zusammenhang, dass sich die einzelnen Wissenschaften zu einer freiwilligen, philosophischen Selbstkontrolle verpflichten. Parallel sorgt die Philosophie durch öffentliches Diskutieren, Problematisieren, Kritisieren für die Einhaltung dieser Kontrolle. Die Philosophie lässt sich demnach eher als freiwillige Feuerwehr betrachten: Sie beugt Gefahren vor und wehrt sie ab. Sie wird aus einem inneren Bedürfnis, einem ureigenen Interesse heraus ins Leben geru255 Brief an Riemer vom 24.7.1807, in: Goethe, Johann Wolfgang von: Gespräche, Ernst Beutler (Hg.), Zürich/Stuttgart 1948 ff., S. 467.
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fen. Ihre Ratschläge sind ernst zu nehmen. Die Wege sollten ihr immer freigehalten werden. Philosophie und Feuerwehr teilen sogar das Schicksal, dass ihr Verschwinden in der Regel erst bemerkt wird, wenn es zu spät ist. Aufgrund der besonderen Relevanz der Philosophie ist es weiterhin jederzeit ratsam, ihr die Möglichkeit zur Institutionalisierung zu geben, also die Voraussetzungen für eine ‚Berufs-Feuerwehr‘ zu schaffen. Es hat sich gezeigt, dass die Philosophie ihre spezifische Funktion nur unter Berücksichtigung des Common Sense erfüllen kann. Ihre enge Beziehung zu diesem Vermögen trägt sogar zu ihrer herausragenden Bedeutung bei. Der Common Sense dient ihr als Basis, zur Orientierung und als Zielpunkt – ob als gesunder Menschenverstand oder analog in Form philosophisch-reflektierender Urteilskraft oder des sensus communis philosophicus. Existenz und Unabhängigkeit der Philosophie müssen schon deshalb gesichert werden, weil diese die unverzichtbare Anwaltsfunktion für den Common Sense an der Universität bekleidet. Als Insignien ihrer Macht hält die Philosophie demnach die Wissenschaft in der rechten und den Common Sense in der linken Hand. Obwohl die Wissenschaft für sie von konstitutiver und der Common Sense von nur regulativer Bedeutung ist, muss Philosophie beide in Balance bringen. Der Common Sense ist nicht nur für die Philosophie in ihrem engeren Sinne von großer Bedeutung. Er ist es auch für die Wissenschaften, die sich mit der Zeit aus der unteren Fakultät heraus verselbstständigt haben, vor allem jene Disziplinen, die heute als Natur- und Geisteswissenschaften bekannt sind (vgl. SF 7:28). Auf den Nutzen der in Analogie zum Common Sense stehenden teleologisch-reflektierenden Urteilskraft für die Naturwissenschaften wurde bereits in Kapitel D. I. 4. hingewiesen. Sie ist zur Naturerforschung unentbehrlich. Von viel grundlegender Art ist die Bedeutung des Common Sense für die Geisteswissenschaften. Anders als die Naturwissenschaften, die auf ein Erklären abzielen, geht es in den Geisteswissenschaften wesentlich um ein Verstehen und Auslegen. Sie werden daher auch als hermeneutische oder Interpretationswissenschaften betrachtet.256 Der Nutzen des gesunden Menschenverstandes für die Geisteswissenschaften liegt etwa darin, dass er diese vor Überinterpretationen schützen kann. „Manchmal ist ein Baum auch nur ein Baum“ lautet eines seiner nüchternen, aber unentbehrlichen Urteile. Es bedarf hier auch 256 Das noch heute dominierende Verständnis von den Geisteswissenschaften geht im Wesentlichen auf Wilhelm Dilthey zurück, der diese als Wissenschaften definiert hat, die im Spannungsfeld von Erleben, Ausdruck und Verstehen wirken. Vgl. u. a. ders.: Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883); Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), in: ders.: Gesammelte Schriften (1922 ff.), Bd. I, Leipzig/Berlin 1922 bzw. Bd. VII, Göttingen/Stuttgart 81992.
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deshalb einer Besinnung auf ihn, um – wie Albrecht Dihle zu bedenken gegeben hat – von allzu unfruchtbaren Methodendiskussionen loszukommen und wieder zur Aufgabe der Humanisierung und Selbstbescheidung sowie der Arbeit an der gesellschaftlichen Akzeptanz aller Wissenschaften zurückzufinden.257 Auf die besondere Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft für die Geisteswissenschaften wurde u. a. von Rudolf Makkreel hingewiesen. In seinem Buch über die hermeneutische Tragweite der dritten Kritik kommt er zu dem Schluss: Reflektierende Urteilskraft ist in Form von Interpretation konstitutiv für die Geistes- und regulativ für die Naturwissenschaften.258 Tatsächlich ist da, wo wie in Literatur- oder Geschichtswissenschaften259 Intentionen gedeutet und Bedeutungen verliehen werden müssen, in erster Linie das reflektierende Verfahren der Urteilskraft erforderlich. Das Allgemeine steht hier nicht schon fest, sondern ist erst interpretativ zu suchen. Von Hans-Georg Gadamer ist überzeugend herausgearbeitet worden, dass die Arbeitsweise der Geisteswissenschaften auf den sensus communis gegründet werden muss. Gadamer betrachtet den Gemeinsinn allerdings in seiner Bedeutung als Leitbegriff des Humanismus, als einen auch gemeinschaftsstiftenden Sinn, wie er bei Vico und Shaftesbury begegnet (vgl. Kapitel A. II.). Der Kant’schen Idee des sensus communis spricht er diese Funktion ab.260 Dabei formuliert dieser Gemeinsinn wie gesehen die Voraussetzung der von Gadamer eingeforderten Gemeinschaftlichkeit. Die große Relevanz des Gemeinsinns in seinen verschiedenen Bedeutungen stellen auch Bezeichnungen für die Geisteswissenschaften wie der Terminus ‚humaniora‘, die englischen Entsprechungen ‚humanities‘ oder ‚social 257
Vgl. Dihle, S. 30. Vgl. Makkreel: Einbildungskraft, S. 218. 259 Eine nähere Untersuchung des Verhältnisses ‚Geschichte – Common Sense‘ muss aufgrund des fortgeschrittenen Umfangs dieser Arbeit unterbleiben. Es sei nur kurz darauf verwiesen, dass die Erforschung der Geschichte bei Kant nicht nur eine ‚mechanisch‘ Fakten sammelnde und einordnende historisch-bestimmende Urteilskraft erfordert, sondern auch notwendig (teleologisch-)reflektierende Urteilskraft voraussetzt, die z. B. dem ‚verborgenen Plan der Natur‘ nachspürt, die der Historie Zusammenhang gibt bzw. Sinn verleiht und die Letztere „pragmatisch“ macht. Da Geschichte bei Kant – ähnlich wie Religion – in der Darstellung verallgemeinerbar sein soll, gar moralisch belehren muss, kommt zusätzlich nicht nur moralisch-bestimmender Urteilskraft, sondern auch der Idee des Gemeinsinns in Form eines sensus communis historicus besondere Bedeutung zu. Letzterer lässt sich hier einerseits als moralischer, andererseits als teleologischer Gemeinsinn auffassen. Vgl. z. B. Idee 8:17 ff.; Anfang 8:109 ff.; GMS 4:417; RGV 6:111; SF 7:79 ff.; Refl. 1438, 15:628; Anthropologie Mrongovius 25:1212. Vgl. außerdem Riedel, Manfred: Urteilskraft, S. 125 ff.; Kleingeld, Pauline: Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1995; Makkreel: Einbildungskraft, S. 167 ff., 213 ff.; Angehrn, Emil: Kant und die gegenwärtige Geschichtsphilosophie, in: Heidemann/Engelhard, S. 328 ff., v. a. S. 343 ff. 260 Vgl. Gadamer, S. 16 ff., v. a. S. 20. 258
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sciences‘ sowie die Ausdrücke ‚Gesellschaftswissenschaften‘ und ‚Kulturwissenschaften‘ unter Beweis. Sie zeugen von einem wesentlichen gemeinschaftlichen Bezug, der auch von Kant hervorgehoben wird (vgl. z. B. KU 5:355; Logik 9:45 f.). Aus der großen Bedeutung des Common Sense für Leben und Wissenschaft erwächst bei Kant auch eine besondere Aufgabe für die Pädagogik – die der Bildung des Common Sense. Wie Anthropologie und Physische Geographie nahelegen, ist bereits in der schulischen Ausbildung größter Wert auf die Vermittlung von gesundem Menschenverstand im Sinne allgemeinen Wissens über Mensch und Natur zu legen. Einerseits kann das erworbene Schulwissen nur so anschließend richtig eingeordnet und angewendet werden. Andererseits dient solche Kenntnis von der Welt auch der Vorbereitung zum weiteren Wissenserwerb. Das Reisen z. B. kann für Kant durchaus die Kenntnis vom Menschen erweitern, man „muß aber doch vorher zu Hause [. . .; RN] sich Menschenkenntniß erworben haben, wenn man wissen will, wornach man auswärts suchen solle“ (ApH 7:120). Wie in Kapitel D. II. 1. dargestellt wurde, plädiert Kant entsprechend auch mit Nachdruck für die Schärfung der reflektierenden Urteilskraft. Dieses nicht erlernbare, nur trainierbare Vermögen soll etwa mithilfe von Beispielen in die Lage versetzt werden, angemessen zu urteilen. Reflektierende Urteilskraft ist nicht nur zur Anwendung des moralischen Gesetzes, sondern auch zur selbstständigen Wissensaneignung sowie zu Deutung und Bedeutung erforderlich. Im Kontext der moralischen Bildung wird bei Kant außerdem deutlich, dass die Schüler schon früh zum Perspektivenwechsel angeregt werden sollen – zum Gemeinsinn in Form erweiterter Denkungsart. Auch innerhalb der universitären Bildung hat die Förderung des Common Sense ihren festen Platz. Sowohl die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als auch die Physische Geographie, von welcher Kant sagt, nichts sei geeigneter, „den gesunden Menschenverstand mehr aufzuhellen“ (PhysGeo 9:163), haben die Aufgabe, Common Sense in Form pragmatischer Weltkenntnis von Mensch und Natur zur Vor- und Nachbereitung von Lehre und Forschung zu vermitteln (vgl. Kapitel C. II. 5.). Die Übung der Urteilskraft und die Einübung eines allgemeinen Standpunktes sind hier mitgedacht, wie z. B. Stellen in Anthropologie zeigen, welche anschaulich mit dem Urteilsvermögen und dem sensus communis bekannt machen (vgl. ApH 7:197 ff., 7:220 ff.; 7:139 f., 7:219). Von der Aufgabe der Bildung des Common Sense zeugt auch die Kant’sche Veröffentlichung namens Pädagogik. Die genannte Verpflichtung wird hier nicht nur im bereits dargestellten Kontext der moralischen Erziehung deutlich. Die Ausbildung von pragmatischer (Welt-)Klugheit bzw. Urteilskraft ist für Kant generell fester Programmteil der Erziehung. Pragmatische Klugheit baut auf technischer Geschicklichkeit auf und bildet die Voraussetzung für sittliche Weisheit. (Vgl.
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Päd 9:449 ff., 9:455, 9:472, 9:477, 9:486 ff.) Zusammenfassend ließe sich Kant in diesem Kontext auf die Formel bringen: Fürs Leben lernen, fürs Leben forschen.261 Es kann für Kants gesamtes nachkritisches Werk festgestellt werden, dass der Common Sense die überaus wichtige und vielfältige Rolle behält, die ihm schon im vorkritischen und kritischen Werk zukommt. Sie liegt nicht immer offen zu Tage, aber egal, ob Politik, Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin oder Philosophie – überall zeichnet sich der diagnostizierte dreifache Nutzen des Common Sense ab. Der nachkritische Kant bleibt ein Freund des Common Sense. Ohne diesen überzubewerten weist Kant ihm zentrale Bedeutung für seine Philosophie zu. In Kapitel E. IV. soll flankierend zu diesem Ergebnis noch einmal ein Blick auf Kants Verhältnis zur Popularphilosophie geworfen werden.
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie Den gedanklichen Faden von Kapitel C. III. wieder aufnehmend, soll ein zweiter Blick auf Kants Verhältnis zur Popularphilosophie geworfen werden, diesmal für den Zeitraum ab der Erstveröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft im Jahre 1781. Eine Untersuchung der Beziehung zur ‚Philosophie des gesunden Menschenverstandes‘ während Kants kritischer und nachkritischer Schaffensperiode verspricht ebenfalls, aufschlussreich für dessen Haltung zum Common Sense zu sein. Es stellt sich die Frage: Bleibt Kant populär, gar ein Popularphilosoph, oder kehrt er dem Ideal der Popularität den Rücken? Diese Frage ist von großer Relevanz, weil die Popularität auch für den kritischen und nachkritischen Kant eng mit dem Common Sense verbunden 261 In der erziehungswissenschaftlichen wie pädagogischen Forschung wird in jüngerer Zeit folgerichtig auf die Bedeutung von reflektierender Urteilskraft und sensus communis für Erziehung, Bildung und Unterricht aufmerksam gemacht. Die notwendige Aufwertung des reflektierenden, selbstständigen, interessierten Urteilens gegenüber dem bestimmenden Urteilen auf Basis auswendig gelernten Wissens wird in Anlehnung an die ästhetische Urteilskraft bei Kant auch unter dem Stichwort ‚ästhetische Bildung‘ diskutiert. Vgl. z. B. Werschkull, Friederike: Ästhetische Bildung und reflektierende Urteilskraft. Zur Diskussion ästhetischer Erfahrung bei Rousseau und ihrer Weiterführung bei Kant, Weinheim 1994, S. 148 ff., 216 f. (ab S. 221 wird ein Überblick zum erziehungswissenschaftlichen Diskurs über die ästhetische Bildung gegeben); Wanninger, Thomas: Bildung und Gemeinsinn. Ein Beitrag zur Pädagogik der Urteilskraft aus der Philosophie des sensus communis, Bayreuth 1999, S. 95 ff., 128 ff.; Regenbrecht, Aloysius: Reflektierende Urteilskraft als Kriterium moralischer Erziehung im Unterricht, in: Jürgen Rekus (Hg.): Grundfragen des Unterrichts. Bildung und Erziehung in der Schule der Zukunft, Weinheim/München 1998, S. 95 ff.
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ist. Mehrfach charakterisiert er das Populäre ausdrücklich als Angemessenheit für dieses Vermögen (vgl. KrV A:467/B:495, A:472/B:500; GMS 4:391; Logik Busolt 24:612; Logik Dohna-Wundlacken 24:709; Wiener Logik 24:810). Popularität orientiert sich einerseits am Common Sense. Andererseits wird sie nur durch seine Ausübung erreicht. Die Fähigkeit, dem gesunden Menschenverstand als allgemein geteiltem Normalverstand gerecht zu formulieren, setzt diesen selbst voraus. Der Common Sense ist dabei auch insbesondere als zweckmäßig reflektierende Urteilskraft und als Urteilsprinzip ‚Gemeinsinn‘ gefragt. Dies findet u. a. Bestätigung in Kants Verständnis von Geschmack als der ‚Geschicklichkeit, populär zu wählen‘ (vgl. Refl. 1930, 16:160; Logik Pölitz 24:520). Der Begriff ‚Popularität‘ korrespondiert im Kant’schen Werk ebenfalls den Begriffen ‚Mitteilbarkeit‘, ‚Verallgemeinerbarkeit‘, ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Publizität‘. Bei dem zu untersuchenden Abschnitt der Popularphilosophie handelt es sich um deren Spätphase, die von ca. 1780 bis in die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts dauerte. Diese Periode ist zeitlich nahezu identisch mit der deutschen Spätaufklärung. Auch inhaltlich gibt es große Übereinstimmungen. Die späte Popularphilosophie und die Auseinandersetzung mit ihr sind prägend für jene. Im Vergleich zu den vorangegangenen Abschnitten der Popularphilosophie kennzeichnet ihre Spätphase u. a. ein breiteres Themenspektrum, trivialer werdende Veröffentlichungen, eine steigende Nachfrage seitens des bürgerlichen Lesepublikums und eine zunehmende Thematisierung des Begriffs ‚Popularität‘.262 Im Wesentlichen bleibt aber alles unverändert. Die in Kapitel C. III. herausgestellten Merkmale dieser Strömung kennzeichnen auch ihre letzte Periode. Entsprechend orientiert sich folgende Untersuchung wieder daran, wie, worüber, an wen und gegen wen Kant schreibt. Die erste Kritik bildet eine deutliche Zäsur in Kants Schaffen. Aber nicht nur inhaltlich wird in diesem Werk eine grundlegende Wende vollzogen, auch mit seinem Stil schlägt Kant einen neuen Weg ein. Sein Hauptwerk ist ganz und gar nicht populär verfasst. Es grenzt an ein kleines Wunder und ist wohl allein dem nur mit höchster Konzentration und großer Beharrlichkeit nachvollziehbaren Konzept der Transzendentalphilosophie geschuldet, dass es heute als sein bekanntestes und als eines der bekanntesten philosophischen Werke überhaupt gilt. Bereits seine Struktur ist – trotz einer ‚gothischen‘ Liebe zur Symmetrie263 – aufgrund mangelnder Proportionalität 262
Vgl. Böhr, S. 22, 86 und Ueding, S. 605, 613 f. Von Arthur Schopenhauer ist Kants symmetrische Gliederung der gothischen Bauart verglichen und als Produkt von übertriebenem Formzwang gescholten worden (vgl. ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Ludger Lütkehaus (Hg.), München 22002, S. 547 ff., v. a. S. 549). 263
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schwer zu erfassen. Hinzu kommt, dass ein Satz hier nicht selten zugleich einen vollständigen Absatz darstellt. Manchmal erreicht er die Länge einer ganzen Seite. Um solch ein Ungetüm zusammenzuhalten, bedarf es nun sämtlicher Finger, wie es Kants ehemaliger Kommilitone Wlömer ihm gegenüber ausgedrückt haben soll.264 Neben unzähligen Schachtelsätzen erschweren mehrdeutige Formulierungen das Nachvollziehen der Gedanken. Außerdem gebraucht Kant seine Begriffe in verschiedenen Bedeutungen. Zwar verzichtet er aus Überzeugung weitgehend auf Wortneuschöpfungen (vgl. KrV A:312 f./B:368 f.; KpV 5:10 f.). Seine sich aus Neudefinitionen traditioneller Termini zusammensetzende Kunstsprache macht den Umgang mit der Kritik aber kaum leichter. Hin und wieder ermöglicht Kant bildliche Vorstellungen zu seinen abstrakten Demonstrationen. Gern bedient er sich z. B. einer Gerichts- und Seefahrtsmetaphorik („Deduction“, „Gerichtshof“, „Ocean“, „Küsten“ etc.). Dem Verstehen sind sie aber meist nur begrenzt dienlich. Schließlich erschwert die streng wissenschaftliche, hoch systematische transzendentale Methode des Nachweises apriorischer Bedingungen den Zugang.265 Dass der Stil seiner Kritik keinesfalls als leserfreundlich oder populär bezeichnet werden kann, ist Kant vollauf bewusst. In der ersten Vorrede räumt er ein, dass die folgenden über 850 Seiten nur einen Anspruch auf innere, nicht auf äußere Klarheit erheben. In erster Linie macht Kant Platzgründe dafür verantwortlich. Rechtfertigend heißt es daneben aber auch, der Fachgelehrte sei ohnehin nicht so sehr auf Popularität angewiesen; außerdem lasse sich diese kaum mit der Grundintention der Kritik vereinbaren: „Was endlich die Deutlichkeit betrifft, so hat der Leser ein Recht, zuerst die discursive (logische) Deutlichkeit durch Begriffe, dann aber auch eine intuitive (ästhetische) Deutlichkeit durch Anschauungen, d.i. Beispiele oder andere Erläuterungen in concreto, zu fordern. Für die erste habe ich hinreichend gesorgt. Das betraf das Wesen meines Vorhabens, war aber auch die zufällige Ursache, daß ich der zweiten, obzwar nicht so strengen, aber doch billigen Forderung nicht habe Gnüge leisten können. Ich bin fast beständig im Fortgange meiner Arbeit unschlüssig gewesen, wie ich es hiemit halten sollte. Beispiele und Erläuterungen schienen mir immer nöthig und flossen daher auch wirklich im ersten Entwurfe an ihren Stellen gehörig ein. Ich sah aber die Größe meiner Aufgabe und die Menge der Gegenstände, womit ich es zu thun haben würde, gar bald ein; und da ich gewahr ward, daß diese ganz allein im trockenen, blos scholastischen Vortrage das Werk schon gnug ausdehnen würde, so fand ich es unrathsam, es durch 264
Vgl. Malter: Rede, S. 342 f. (Brief von Zelter an Goethe vom 4.12.1825). Vgl. Vorländer, Band 2, S. 94 ff.; Fischer, Ernst H.: Kants Stil in der Kritik der reinen Vernunft nebst Ausführungen über ein neues Stilgesetz auf historisch-kritischer und sprachpsychologischer Grundlage, Berlin 1907; Goetschel, S. 105 ff.; Böhr, S. 88 ff., 171 ff.; Irrlitz, S. 145 ff.; zu Kants Metaphorik insbesondere Sommer, Manfred: Die Selbsterhaltung der Vernunft, Stuttgart 1977. 265
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
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Beispiele und Erläuterungen, die nur in populärer Absicht nothwendig sind, noch mehr anzuschwellen, zumal diese Arbeit keineswegs dem populären Gebrauche angemessen werden könnte und die eigentliche Kenner der Wissenschaft diese Erleichterung nicht so nöthig haben, ob sie zwar jederzeit angenehm ist, hier aber sogar etwas Zweckwidriges nach sich ziehen konnte.“ (KrV A:XVII f., vgl. A:XIX).
Wenig später ergänzt Kant hinsichtlich seiner Verstöße gegen die Gesetze der Popularität. Die Kritik sei nicht nur trocken, sondern auch dunkel, weitläufig und enthalte viele ungewohnte Begriffe (vgl. Prol 4:261). In Briefen verweist Kant zu seiner Rechtfertigung zusätzlich auf Zeitnot. Um die Veröffentlichung der Ergebnisse von mehr als zwölf Jahren Forschung nicht noch weiter zu verzögern, habe er die Kritik „ohne Feile in der Hand“ in vier bis fünf Monaten „gleichsam im Fluge“ niedergeschrieben. Sein fortgeschrittenes Alter – bei Erscheinen ist Kant 57 – habe ihn auch fürchten lassen, er könne sie vielleicht gar nicht mehr publizieren. (Vgl. Brief an Mendelssohn vom 16.8.1783, 10:345; Brief an Garve vom 7.8.1783, 10:338 f.; Brief an Biester vom 8.6.1781, 10:272 f.)266 Die Folgen der allseits vermissten Popularität sind verheerend. Die Leserwelt antwortet mit längerem Schweigen. Als sich dann die ersten Fachgelehrten zu Wort melden, fällt das Urteil niederschmetternd aus. Hier und da werden Tief- und Scharfsinn honoriert. Es dominiert jedoch die Einschätzung eines kaum verständlichen Buches, das nur sehr wenigen Köpfen angemessen sei – ein ‚Nervensaft verzehrendes Werk‘, findet auch Mendelssohn (vgl. Brief von Mendelssohn vom 10.4.1783, 10:308). Von großer Bedeutung für die Aufnahme der Kritik sowie für Kants Einstellung zum Thema ‚Popularität‘ ist eine Rezension Garves, die im Januar 1782 in einem Göttinger Journal erscheint, welches zu den Organen der Popularphilosophie gezählt werden kann.267 Der von Feder veränderte und gekürzte sowie anonym veröffentlichte Text stellt einen auf offensichtlichen Fehlinterpretationen basierenden Verriss dar. Dagegen setzt sich Kant in den 1783 erscheinenden Prolegomena zur Wehr (vgl. v. a. Prol 4:372 ff.). Auf seine dort erhobene Forderung, der Rezensent solle sich bekennen, meldet sich Garve. In einem Brief vom 13.7.1783 wendet er sich mit der Bitte um Vertraulichkeit an Kant: Die Grundlage zu der Rezension stamme von ihm – sie sei aber untragbar bearbeitet worden. Trotzdem Garve tiefes Bedauern bekundet, bleibt er vor allem in einem Punkt auf Distanz zu Kant: „Aber das ist auch jetzt noch meine Meynung, vielleicht eine irrige: daß das Ganze Ihres Systems, wenn es wirklich brauchbar werden soll, populärer aus266
Zur Entstehungsgeschichte der ersten Kritik vgl. Vorländer, Band 1, S. 248 ff. Vgl. Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 3. Zugabe, 19. Januar 1782, S. 40 ff. 267
248
E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
gedrückt werden müsse, u. wenn es Wahrheit enthält, auch ausgedrückt werden könne“ (Brief von Garve, 10:331).268
In seiner Antwort an Garve äußert sich Kant zuversichtlich – die „erste Betäubung“ durch die neue Sprache der Kritik werde bald nachlassen (vgl. Brief an Garve vom 7.8.1783, 10:338). Diese Hoffnung soll sich aber nicht erfüllen. Die Angriffe auf das Werk nehmen zu. Vor allem wird die fehlende Zugänglichkeit moniert. Dies scheint auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Kants revolutionärer Theorie zu behindern. Wo sie erfolgt, wird Kant oft missverstanden.269 Vor diesem Hintergrund verhärtet sich Kants Standpunkt in Bezug auf die mangelnde Popularität seines Werkes. Wurde diese anfangs als Fehler eingestanden und wurden vor allem Platz- und Zeitgründe für sie verantwortlich gemacht, betont Kant nun zunehmend, die Kritik habe Popularität weder nötig noch sei sie ihr fähig (vgl. KrV B:XXXIVff.; Prol 4:262; MSR 6:206). Seine Position wird widersprüchlich. Mehrere von Kants Äußerungen stehen im Gegensatz zu seiner Auffassung, die Kritik könne und dürfe niemals populär sein. Es wäre ihm z. B. nicht schwer gefallen, sein Werk populär zu schreiben. Jedoch habe er zum „Wohl der Wissenschaft“ verzichtet. (Vgl. Prol 4:262.)270 Außerdem äußert Kant wiederholt die Absicht, die Kritik in Folgepublikationen nach und nach selbst zu popularisieren: Die „Maschine“ sei da, nun müsse sie nur noch ‚geölt‘ werden (vgl. Prol 4:261; Brief an Biester vom 8.6.1781, 10:273; Brief an Garve vom 7.8.1783, 10:338 f.; Brief an Mendelssohn vom 16.8.1783, 10:345). Schließlich formuliert er immer wieder den Wunsch nach jemandem, der dieses Buch für ihn in populäre Sprache übersetzt (vgl. KrV B:XLIII; Brief an Garve vom 7.8.1783, 10:339; KpV 5:10 f.; Brief an Bouterwek vom 7.5.1793, 11:432). Offenbar ganz im Sinne der gewonnenen Einsicht, durch Streit gelange die Vernunft zur Wahrheit, wird Kant in diesem Zusammenhang auch sehr polemisch. Vor allem die Prolegomena enthalten viele Feindseligkeiten. 268
Nach Veröffentlichung von Garves Erstfassung stellte sich im Übrigen heraus, dass sich deren Überarbeitung im Inhalt nicht wesentlich vom Original unterschied. Vgl. Gulyga, S. 155 f. und Dietzsch, Steffen: Ist denn Transzendentalphilosophie nicht als populäre möglich? Immanuel Kants „Prolegomena“ (1783), in: Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Steffen Dietzsch (Hg.), Leipzig 1979, S. 149. 269 Vgl. Rosenkranz, S. 302 ff.; Vorländer, Band 1, S. 285 ff.; Dietzsch: Prolegomena, S. 147 ff. 270 In einem Brief an Herz vom 11.5.1781 bemerkt Kant, um die Kritik populär zu verfassen, hätte er nur mit den Antinomien beginnen müssen (vgl. 10:269 f.). Hierbei fragt sich, warum die zum Ziel der Popularisierung dieser Schrift veröffentlichten Prolegomena dann nicht mit diesen anfangen.
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
249
Kant gibt sich verwundert, „von einem Philosophen Klagen wegen Mangels an Popularität, Unterhaltung und Gemächlichkeit zu hören“, und qualifiziert die von vielen „so beschrieene Dunkelheit“ als „gewohnte Bemäntelung [der; RN] eigenen Gemächlichkeit oder Blödsichtigkeit“ ab (Prol 4:261 ff.). In diesem Kontext stehen auch Kants abschätzige Bemerkungen über die deutschen Popular- und schottischen Common-Sense-Philosophen, auf die in Kapitel D. III. 1. bereits hingewiesen wurde. Kants Stil ist in der ersten Kritik also unpopulär und dies stellt sich als sehr folgenreich heraus. Ein Blick auf die beiden späteren Kritiken ergibt kein wesentlich anderes Bild. Sie fallen kürzer aus, sind dafür aber – vor allem die dritte Kritik – von nur schwer zu durchdringender Dichte. Kant behält seine Kunstsprache wie auch seinen Formzwang im Dienst der Sache bei und verzichtet weitgehend auf Veranschaulichungen. Die Folge sind ebenfalls viele dunkle, mehrdeutige Abschnitte, mit deren Interpretation Kant den Leser oft allein lässt. Positiv gewendet lässt sich sagen: Für Anlass zum Selbstdenken ist ausreichend gesorgt. Von Karl Vorländer ist treffend resümiert worden, die Werke der Kritik würden „eben nur belehren, nicht ergötzen“ wollen, nur „überzeugen, nicht überreden“.271 Der Stil der nachkritischen Arbeiten weicht z. T. stark von dem der kritischen ab. Das liegt schon daran, dass einige wie Prolegomena und Grundlegung den Zweck der Popularisierung oder Vorbereitung der Kritiken verfolgen. Andere, Zeitschriftenaufsätze und kürzere Abhandlungen etwa, sind naturgemäß verständlicher formuliert. Auch in seinen Vorlesungen formuliert Kant – das belegen die viele Mitschriften – im Rahmen des Schulgemäßen populärer.272 Die Titelwahl der Veröffentlichungen ist in Bezug auf deren Popularität weniger aussagekräftig als zu vorkritischen Zeiten.273 Titel wie ‚Prolegomena‘, ‚Grundlegung‘, ‚Rechtslehre‘, ‚Mutmaßlicher Anfang‘ oder der „Entwurf“ Zum ewigen Frieden legen zwar wie beim frühen Kant eine mit Bescheidenheit im Anspruch verbundene Vorläufigkeit nahe. Anders als dort verbergen sich dahinter jedoch in der Regel Theorien mit Hand und Fuß bzw. ausgereifte, kraftvoll verteidigte Standpunkte. Unter dem Aspekt der Methode betrachtet sind vor allem die Schriften, welche wie die Tugendlehre Kants kritische Moralphilosophie fortsetzen, vom Willen zur Anwendung der transzendentalphilosophischen Ergebnisse getragen. – Im 271
Vorländer, Band 2, S. 102. Vgl. Vorländer, Band 2, S. 59 ff. 273 Auch der Name ‚Kritik‘ ist in dieser Hinsicht zweideutig. Er bezeichnet einerseits nur eine Propädeutik – Voruntersuchungen zur späteren Bewirtschaftung. So ist die erste Kritik ein „Tractat von der Methode“, auf den das „System der Wissenschaft“ noch folgen soll (vgl. KrV B:XXII ff., A:11 ff./B:25 ff., A:841/B:869). Andererseits sind mit diesem Titel wahre Großwerke überschrieben, sowohl in Bezug auf den Anspruch als auch den Umfang. 272
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Allgemeinen ist der nachkritische Stil gedrängter, vieldeutiger und weit weniger poetisch als der vorkritische, aber populärer als der kritische. Kant tritt ab 1781 nicht mehr als eleganter Schriftsteller in Erscheinung, sondern vor allem als gelehrter Professor, der versucht, seine Theorie auszuweiten. Ähnlich wie mit der Form verhält es sich mit dem Inhalt. Die Metaphysik, bzw. die Erkenntnistheorie und -kritik, der sich Kant in seinem Hauptwerk widmet, stand in der Popularphilosophie als Thema nicht hoch im Kurs. Auf die Gegenstände der anderen Kritiken, das Moralische, das Ästhetische und das Teleologische, trifft das zwar nicht zu.274 Hier ist es aber wie im Falle der ersten Kritik die Art der Behandlung des jeweiligen Themas, die als unpopulär betrachtet werden muss. Hinzu kommt, dass viele Thesen der Kritiken als Vergehen wider die Popularität aufgenommen wurden. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden vor allem die Auffassung von Raum und Zeit als apriorische Formen der Anschauung, die These von der Nicht-Erkennbarkeit der Dinge an sich sowie die Negierung der tradierten Gottesbeweise, insbesondere des teleologischen, beanstandet. Sie widersprachen nicht nur dem gewöhnlichen, sondern auch dem wissenschaftlichen Common Sense. Gleiches gilt für das Ergebnis der Kritik der praktischen Vernunft, das moralische (Vernunft-)Gesetz verpflichte jedermann innerlich.275 Die Themenwahl der nachkritischen Arbeiten bietet ein anderes Bild. Kant nimmt vielfach Stellung zu aktuellen Zeitfragen, z. B. zum Fortschritt in der Geschichte (vgl. Idee, Anfang) oder – vor dem Hintergrund von Französischer Revolution und Basler Frieden – zur Politik (vgl. Friedensund Fakultätsschrift), zur Religion (vgl. Orientierungs-, Religions- und Fakultätsschrift) oder zur Medizin (vgl. Kapitel E. II. 3.). Mit der Aufklärungsschrift beantwortet er eine den Zeitgeist interessierende Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften. Kant äußert sich auch über Vulkane auf dem Mond sowie zu Fragen des Buchhandels und der Buchmacherei. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang seine Vorlesungen über Anthropologie und Geographie. In ihnen war Kant besonders auf das Interessante, Nützliche bedacht. Seine Anthropologie charakterisiert er vorab als „systematisch entworfene und doch populär (durch Beziehung auf Beispiele, die sich dazu von jedem Leser auffinden lassen) in pragmatischer Hinsicht abgefaßte“ Schrift (ApH 7:121). In der Vorrede der Religionsschrift weist Kant ebenfalls und nicht zu Unrecht auf die Popularität dieser Arbeit hin, deren Teile für eine Veröffentlichung in der Berlinischen Monatsschrift gedacht waren (vgl. RGV 6:14). Dass in der Vorrede der Fakultätsschrift unter dem Vorwurf der „Entstellung und Herabwürdigung“ von 274 275
Vgl. Ueding, S. 605, 626 ff. Vgl. Rosenkranz, S. 301.
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
251
Bibel und Christentum behauptet wird, die Religionsschrift sei ein so „unverständliches, verschlossenes Buch [. . .; RN], wovon das Volk keine Notiz nimmt“ (SF 7:8, vgl. Vorarbeiten SF 23:424 f.), darf als Kostprobe später Kant’scher Ironie angesehen werden.276 In dem Maße, wie die Inhalte der vorkritischen Periode als populär betrachtet werden können, sind die der nachkritischen pragmatisch zu nennen. Verrät die vorkritische Schaffensphase auch ein technisches Interesse (Kant untersucht u. a. die Erdumdrehung, die Erdbeben, das Feuer und die Winde), ist die nachkritische vor allem der Anwendung gewidmet – ob in Verlängerung der Transzendentalphilosophie oder unabhängig von dieser. Im Mittelpunkt steht die kluge und angemessene Umsetzung von Regeln, Prinzipien, Gesetzen etc. Kant orientiert sich wieder konkreter am allgemeinen Interesse. Dabei lässt er kaum einen Bereich der weitläufigen unteren Fakultät aus. Das nachkritische Werk ist also ganz wie die Popularphilosophie in erster Linie praktisch ausgerichtet. Die theoretische Philosophie wird angesichts der verstärkten Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie aber keinesfalls zu den Akten gelegt. Kant ist nicht nur in der dritten Kritik um die Vermittlung von Natur und Freiheit, von Theorie und Praxis bemüht (vgl. z. B. Spruch). Im nachkritischen Werk wird die Popularität auch oft thematisiert – vor allem zur Rechtfertigung der mangelnden Verständlichkeit der ersten Kritik. Ursprünglich ist die Problematik fester Bestandteil von Kants Logik-Vorlesungen. Wie schon vor 1781 wird hier unterschieden zwischen scholastischer und populärer Vortragsweise, zwischen diskursiver und intuitiver Deutlichkeit von Erkenntnissen oder ihrer logischen und ästhetischen Vollkommenheit. Durchgängig begegnet die Überzeugung, dass beides unverzichtbar ist: Wissenschaft muss gründlich und fasslich sein. Sie soll unterrichten und unterhalten, belehren und beleben. Kant legt jedoch Wert auf die Rang- und Reihenfolge: „Der scholastische Vortrag ist das Fundament des popularen; denn nur derjenige kann etwas auf eine populare Weise vortragen, der es auch gründlicher vortragen könnte.“ (Logik 9:19, vgl. Brief an Herz, Januar 1779, 10:247). Zuerst „müssen wir vor Allem auf die scholastische Vollkommenheit unsers Erkenntnisses, die schulgerechte Form der Gründlichkeit, sehen und sodann erst dafür sorgen, wie wir die methodisch in der Schule gelernte Erkenntniß wahrhaft populär, d.i. Andern so leicht und allgemein mittheilbar machen, daß doch die Gründlichkeit nicht durch die Popularität verdrängt werde.“ (Logik 9:47). (Vgl. KrV A:XVII f.; 276
Auch die recht kurze, oft auf den gesunden Menschenverstand rekurrierende Grundlegung kann als relativ zugänglich betrachtet werden, selbst wenn sich Kant im Widerspruch zu seiner Ankündigung gegenüber Mendelssohn schließlich von der Popularität dieser Arbeit distanziert (vgl. Brief an Mendelssohn vom 16.8.1783, 10:346 f.; GMS 4:391 f., 4:409 f.).
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Logik 9:35 ff., 9:61 ff., 9:100; Logik Pölitz 24:508 f., 24:514 ff., 24:520 f.; Logik Busolt 24:626 f.; Logik Dohna-Wundlacken 24:696, 24:707 ff.; Wiener Logik 24:795 f., 24:810 f., 24:820 f.; Entdeckung 8:217.)
Dass schulgemäße Genauigkeit jeder vereinfachenden, veranschaulichenden Popularisierung vorausgehen muss, ohne dass das eine das andere entbehrlich macht, ist Kants zentrale These in diesem Zusammenhang. In Analogie zu diesem Verständnis kann z. B. betrachtet werden, dass Philosophie nach dem Weltbegriff Philosophie nach dem Schulbegriff voraussetzt oder dass die Mitteilung stets auf Mitteilbarkeit Geprüftes zum Gegenstand haben sollte. In jedem Fall ist dieser bedingte Vorrang des Gründlichen vor dem Fasslichen oder der Wissenschaftlichkeit vor der Schönheit der Erkenntnis gemeint, wenn Kant darauf besteht, dass in der Wissenschaft nie mit dem Populären der Anfang gemacht werden dürfe oder dass hier zwar ein populärer Vortrag, nie aber eine populäre Methode gestattet werden könne (vgl. Prol 4:261, GMS 4:409 f., KpV 5:151, Brief an Garve vom 7.8.1783, 10:339; Logik 9:148, Logik Busolt 24:682 ff.). Entsprechend unterscheidet Kant auch zwischen wahrer und falscher Popularität. Als Voraussetzungen für wahrhafte Popularität nennt er Welt- und Menschenkenntnis sowie Verstand und Geschmack. Als Vorbilder gelten dabei u. a. Cicero und Shaftesbury. (Vgl. Logik 9:47 f.; KrV B:XLIV.) In einer „geschwätzigen Seichtigkeit“, die zur damaligen Zeit viele Popularphilosophen kennzeichnet, erblickt Kant die falsche, ‚angemaßte‘ Popularität (vgl. GMS 4:409 f.; KrV B:XXXVf.; ApH 7:139). – In der Wissenschaft heißt es für ihn also wie im Leben: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Nach der Betrachtung von Form und Inhalt bleibt noch zu klären, an und gegen wen sich Kants Schriften richten. Die erste Kritik wendet sich, wie Kant in der ersten Vorrede selbst erwähnt, ausschließlich an die „Kenner der Wissenschaft“ (KrV A:XVIII). Im schärferen Ton der zweiten Vorrede heißt es, das Unternehmen ‚Vernunftkritik‘ sei keinesfalls für das Volk geeignet. Denn dieses könne ihre „fein gesponnenen Argumente“ so wenig nachvollziehen wie mögliche Einwände gegen sie (vgl. KrV B:XXXIV). Die Prolegomena sind mit der Intention verfasst, die erste Kritik verständlicher werden zu lassen. Sie können dieses Versprechen aber im Wesentlichen und abgesehen vom geringeren Umfang nicht einlösen.277 Die ersten Sätze dieser Schrift entsprechen dem Geist der Kritik der reinen Vernunft: „Diese Prolegomena sind nicht zum Gebrauch für Lehrlinge, sondern für künftige Lehrer und sollen auch diesen nicht etwa dienen, um den Vortrag einer schon vorhandnen Wissenschaft anzuordnen, sondern um diese Wissenschaft selbst allererst zu erfinden. Es giebt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der alten 277
Vgl. Gulyga, S. 157; anders Vorländer, Band 1, S. 288.
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
253
sowohl, als neuen) selbst ihre Philosophie ist; für diese sind gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben.“ (Prol 4:255).
Wenig später wirkt Kant vor dem Hintergrund der kaum besseren Lesbarkeit der Schrift durchaus überheblich. Er bemerkt: Wer diese nun immer noch zu dunkel finde, der möge bedenken, „daß es eben nicht nöthig sei, daß jedermann Metaphysik studire, daß es manches Talent gebe, welches in gründlichen und selbst tiefen Wissenschaften, die sich mehr der Anschauung nähern, ganz wohl fortkommt, dem es aber mit Nachforschungen durch lauter abgezogene Begriffe nicht gelingen will, und daß man seine Geistesgaben in solchem Fall auf einen andern Gegenstand verwenden müsse“ (Prol 4:263 f.).
In Kritik und Prolegomena richtet sich Kant auch gegen philosophische Strömungen: gegen Dogmatismus und Skeptizismus, bloßen Rationalismus und sturen Empirismus (vgl. KrV A:IX f., B:XXX ff., B:22 f., A:466 ff./ B:494 ff., A:856/B:884; Prol 4:271 ff.). Trotz ihrer scholastischen Methode stehen beide Schriften in Opposition zu der von Wolff und Leibniz geprägten Schulphilosophie (vgl. KrV B:XXXVI ff., A:836 ff./B:864 ff.). Mehr Ablehnung als diese findet nur noch die Popularphilosophie samt ihrer schottischen Vorreiter (vgl. KrV A:X, B:XXXVf., A:855/B:883; Prol 4:258 f., 4:313 f.; Kapitel D. III. 1.). Trotz wirkungsvoller Ablehnung all dieser Strömungen schafft Kant mit seiner Philosophie Synthesen. Die kritische Philosophie vereint sowohl das Positive des Dogmatischen mit dem des Skeptischen als auch das des Rationalen mit dem des Empirischen sowie – z. B. im Kontext der Antinomien oder der Philosophie nach dem Weltbegriff – das Gute der Schul- mit dem der Popularphilosophie (vgl. KrV A:405 ff./B:432 ff., A:836 ff./B:864 ff.). Die beiden anderen Kritiken sind ebenfalls nur an den Kreis der professionellen Philosophen gerichtet. Nur dort konnte Kant aufgrund seiner Darstellungsweise sowie der neu beschrittenen Denkwege auf eine Würdigung hoffen. Die nachkritischen Arbeiten dagegen sind aufgrund ihrer pragmatischeren Ausrichtung zum größten Teil wieder an eine breitere Öffentlichkeit adressiert – an das wissenschaftlich interessierte bürgerliche Lesepublikum.278 An Gegnern mangelt es nicht: Im Rahmen aktueller Debatten wendet sich Kant in mehreren Veröffentlichungen gegen einzelne Personen und ganze Strömungen, etwa gegen Schlosser, Schlettwein und Fichte oder gegen die Popularphilosophie (wie im Zusammenhang mit der ersten Kritik) und die Schulphilosophie (wie im Streit mit Eberhard).279 278
Vgl. Bien, S. 572 f.; Blesenkemper, S. 210 ff. Ausführlich zu Kant als Polemiker vgl. Saner, S. 87–236, zu seiner Polemik im Kontext der Debatten insbesondere S. 126 ff. 279
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die drei Kritiken und vor allem die erste keines der Kriterien für Popularphilosophie zu erfüllen scheinen – weder in Bezug auf die Form, noch den Inhalt oder den Adressatenkreis machen sie einen populären Eindruck. Insofern sich Kant sogar offen gegen die Popularphilosophie wendet, liegt auch keine Übereinstimmung hinsichtlich des vierten Merkmals vor. Besonders schwerwiegend ist, dass sich Kant eines stilistischen Egoismus schuldig macht. Seine Darstellungsweise entbehrt der Verallgemeinerbarkeit und so eines Gemeinsinns. Mehr noch als die Inhalte bedeuten die strenge Systematik, die neue Kunstsprache und die vergleichsweise großen Umfänge einen Affront gegen die Popularphilosophie. Es ist nachvollziehbar, dass angesichts solcher Unzeitgemäßheiten der Eindruck einer Rückkehr zur Schulphilosophie entstehen konnte: Am Formalen entzündet sich die Kritik an Kant. Der unpopuläre Stil verhindert darüber hinaus eine angemessene Auseinandersetzung mit seinen Thesen. Was die nachkritischen Arbeiten betrifft, kann Kant in Bezug auf den verständlicheren Stil sowie die pragmatischen Inhalte und weitgehend auch sein Zielpublikum durchaus der Popularphilosophie zugerechnet werden. Die ebenfalls vorhandene Opposition zur Schulphilosophie scheint dagegen von seiner Kritik an der Popularphilosophie aufgehoben zu werden. Genau betrachtet richtet sich Kant aber nur gegen Popularphilosophen, die die Popularität missbrauchen, indem sie ihr den Vorrang gegenüber dem Gründlichen einräumen oder die Notwendigkeit des Letzteren sogar ganz in Frage stellen. Im Geiste bleibt Kant der Notwendigkeit der Popularität und in diesem Sinne auch der Popularphilosophie verbunden. Vor allem in seinen Logik-Vorlesungen macht er immer wieder auf die Unentbehrlichkeit der allgemeinverständlichen Vermittlung aufmerksam. Wogegen er sich aber richtet, ist eine Wissenschaft oder Philosophie, in der das Ziel der Forschung in erster Linie Popularität und nicht Erkenntnisgewinn ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich sogar die schwer zugänglichen Kritiken in die Nähe der Popularphilosophie bringen. Sobald verstanden wird, dass selbst diese Werke populäre Grundideen der Aufklärung transportieren, schmilzt das, was Kant von einer Popularphilosophie in ihrem positiven Sinne trennt, auf die formale Umsetzung zusammen, die er teils selbst bemängelt und die teils auch nachvollziehbar ist. Kants kritische Philosophie propagiert das Selbstdenken, befördert den Gleichheits- und Fortschrittsgedanken und hinterfragt die Autorität staatlicher wie religiöser Institutionen. All dies geschieht aber – anders als in den vor- und nachkritischen Arbeiten – selten vordergründig. Kant arbeitet an einer Fundierung dieser Ideen, z. B., indem er zeigt, wie und warum jedermann zu Urteilen über das Wahre, das Gute und das Schöne in der Lage ist oder dass Gott kein Gegenstand des Wissens, geschweige denn höherer Bildung, sein kann. Selbst
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
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der Kant der Kritiken lässt sich demnach als Vertreter der Popularphilosophie betrachten. Zugleich ist er aber auch ihr Überwinder. Denn einerseits liefert er für die Popularphilosophie Grundlagen. Andererseits trägt er auch maßgeblich zu ihrer (Selbst-)Kritik und indirekt zu ihrem Ende bei. Die erste Kritik stellt einen tiefen Einschnitt für die Popularphilosophie dar. Die über sie einsetzende Debatte führt in der Spätaufklärung zu einer zunehmenden Beschäftigung mit der Frage nach ‚wahrer Popularität‘. Schließlich tragen u. a. Kantianer wie Reinhold und Vertreter des deutschen Idealismus zum Ende dieser Strömung bei.280 Kant ist also im Guten wie im Schlechten von zentraler Bedeutung für die Popularphilosophie. Zu seiner harschen Kritik an ihr tragen viele Faktoren bei. In den Publikationen der Popularphilosophie gewinnt das Seichte immer mehr die Oberhand und vor allem aus dem Lager der ‚Populären‘ kommen ungerechtfertigte, vernichtende Urteile über die kritische Philosophie. Dagegen setzt sich Kant polemisch zur Wehr. Als Zielscheibe dient dabei die negative Seite der Popularphilosophie. Mit seinen Gegenstößen bringt sich Kant aber in eine widersprüchliche Position: Der Kritiker der überwunden geglaubten Schulphilosophie wird zu ihrem Verteidiger. Es wäre zu kurz gegriffen, die Umstände bzw. die unseriösen Angriffe auf die Transzendentalphilosophie allein für diese Entwicklung verantwortlich zu machen. Kant spielt hier eine aktive Rolle. Er ist es, der gegen den Zeitgeist verstößt, welchem er zuvor noch meisterhaft Ausdruck zu verleihen wusste. Außerdem unterlässt er es, für ausreichende Klarheit in Bezug auf seine Auffassung zu sorgen, dass Wissenschaft und Popularität aufeinander angewiesen seien. Er trägt also eine Mitschuld daran, dass man ihn als pedantischen Schulphilosophen missverstanden hat, als Antipoden der Popularphilosophie.281 Die Popularität, die ‚Angemessenheit zum Common Sense‘, hat bei Kant demnach das gleiche Schicksal wie der Common Sense: Ihr Missbrauch findet laute Ablehnung, ihr positiver Kern dagegen leise, aber aufrichtige und nachhaltige Wertschätzung. So wie Kant durchgängig ein Bewunderer des Common Sense bleibt, bleibt er auch ein großer Befürworter der Popularität. Ein abschließender Blick auf die Rolle des Common Sense in den Debatten, an denen der nachkritische Kant teilnimmt, soll die These der Schicksalsgemeinschaft erhärten. Auch hier wird der Widerspruch zwischen polemischer Ablehnung und aufrichtiger Anerkennung deutlich. Auf den Common Sense hat sich Kant in der polemischen Auseinandersetzung mit anderen Philosophen des Öfteren berufen. So entbehre etwa die 280 281
Vgl. Böhr, z. B. S. 86, 91 f., 203 ff. Vgl. Böhr, S. 174.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Argumentation Eberhards, der bei Leibniz eine bessere als die Kant’sche Vernunftkritik entdeckt haben wollte, des gesunden Menschenverstandes (vgl. Entdeckung 8:191, 8:239). In Fortschritte sind es die Grundsätze von Leibniz und Wolff selbst, die dem „gesunden Verstande“ widersprechen (vgl. 20:281 ff.). Es gibt jedoch zwei Kontroversen, in denen der Common Sense für Kant von zentraler Bedeutung ist: der Disput um die Unverständlichkeit der ersten Kritik und der Pantheismusstreit. Die Debatte über die erste Kritik wurde bereits skizziert. Die wirkungsvollsten Vorwürfe gegen dieses Werk stammten aus dem Lager der Philosophie des gesunden Menschenverstandes, der Popularphilosophie. Kants Reaktion in den Prolegomena kann einer indirekten Revanche verglichen werden. Seine Polemik gegen die Auffassung, man komme in der Metaphysik besser mit gesundem Menschenverstand als mit Wissenschaft voran, richtet sich im Vordergrund gegen die schottische Common-Sense-Philosophie (vgl. Kapitel A. II.). Im Hintergrund setzt er sich mit ihr aber gegen die Popularphilosophie zur Wehr, welche jener sehr zugetan war (vgl. Kapitel D. III. 1.). Mit dem Angriff auf die Inspiratoren der ‚Populären‘ versucht Kant, ein Exempel zu statuieren. Seine Schmähungen sind jedoch – was lange Zeit unbeachtet blieb – zu einem guten Teil unberechtigt. Mehr noch: Kants Philosophie ist der der Schotten in wichtigen Punkten sehr nah und es spricht einiges dafür, dass sie von dieser beeinflusst ist. Kants kritische Philosophie und die schottische Common-Sense-Philosophie, welche vor allem von Reid und Beattie repräsentiert wird, lassen sich als die beiden großen Antworten des 18. Jahrhunderts auf den Hume’schen Einwand betrachten, der Kausalbegriff werde nicht von der Vernunft a priori gedacht, sondern immer nur assoziativ aus der Gewohnheit der Erfahrung gebildet. Darauf ist von Manfred Kühn aufmerksam gemacht worden. Kühn hat ausführlich und stichhaltig gezeigt, dass die schottische Reaktion von großer Bedeutung für Kant war und dass die Common-SensePhilosophie schon deshalb vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.282 Zu Beginn der Prolegomena wirft Kant den Common-Sense-Philosophen Reid, Oswald, Beattie und Priestley in überaus scharfem Ton vor, sie hätten Hume missverstanden (vgl. Prol 4:257 ff., 4:310 ff.; KrV B:5, B:19 f., A:94 f./B:127 f., A:760 ff./B:788 ff.).283 Von Kühn ist dagegen gezeigt 282
Vgl. Kuehn: Scottish, v. a. S. 167 ff. Der erste Hinweis auf die Schriften der Common-Sense-Philosophen findet sich bei Kant in den Vorlesungen über Enzyklopädie von 1775. Wohl auf Oswalds Appeal anspielend wird dort die „Appellation an den gesunden Menschenverstand“ kritisiert (vgl. 29:35). Vgl. Kuehn: Scottish, S. 170 ff. und ders.: Dating, S. 302 ff. Kant ordnet auch Joseph Priestley den Common-Sense-Philosophen zu (vgl. Prol 283
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
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worden, dass sich Kant hierin geirrt hat. In der Common-Sense-Philosophie wurde das Spezifische des Problems voll erkannt. Humes Erkenntnis, dass die Verknüpfung von Ursache und Wirkung keine Leistung der Vernunft darstelle, findet sogar ihre Zustimmung. Trotzdem vertreten die CommonSense-Philosophen gegen ihn und genau wie später Kant die Ansicht, dass im Kausalitätsgesetz ein apriorisches, nicht aus der Erfahrung herzuleitendes Prinzip zu sehen ist. Die Differenz zu Kant besteht aber darin, dass sie es schlicht zu einem Common-Sense-Prinzip erklären, welches jederzeit vorauszusetzen ist, jedoch weder gerechtfertigt werden muss, noch kann. Dass Kant diese simpel scheinende (und dennoch wohlüberlegte) Argumentation angesichts des eigenen Konzeptes ablehnt, ist naheliegend. Die Unterstellung aber, die Schotten hätten Hume nicht verstanden, weil sie zur Bequemlichkeit neigten, entbehrt einer Grundlage.284 Auch aufgrund dieser Fehleinschätzung der schottischen Common-SenseDenker ist in der Sekundärliteratur die Frage diskutiert worden, ob Kant deren Schriften überhaupt hinlänglich bekannt waren. Kühn konnte hier plausibel machen, dass sie Kant vertraut waren, er sie richtig verstanden und gerade aus diesem Grund bewusst diffamiert hat. Eine für Kant beunruhigende Nähe seiner Grundthesen zu denen der Schotten komme sogar als wahrscheinliches Motiv für seine überzogene Kritik in Frage. Tatsächlich sind einige Parallelen zu den zeitlich früher in Erscheinung tretenden Common-Sense-Philosophen nicht von der Hand zu weisen. Ihre CommonSense-Prinzipien galten ihnen bereits als A-priori-Komponenten des Wissens. Sie wurden als sichere Gesetze betrachtet, die zwar mit der Erfahrung wahrgenommen werden, aber nicht Teil von ihr sind. Mit diesen Prinzipien hatten sie versucht, den Skeptizismus zu widerlegen, der die letztbegründeten Wahrheiten in Frage stellt. Der Common-Sense-Philosophie ist außerdem – wie Kant – eine Abneigung gegen strikten Empirismus und Rationalismus eigen. Auch eine Synthese der beiden nimmt sie bereits vorweg. Aus diesen und weiteren Gründen resultiert Kühns These über den Einfluss der Common-Sense-Philosophen auf Kant: „without the Scots there would have been no Kant“285. Kühn hält es daher für denkbar, dass Kant den 4:258). Diese Einschätzung ist jedoch fraglich. Der Erfinder des Sauerstoffs veröffentlicht zwar 1774 eine Examination of Dr. Reid’s Inquiry. Darin übt er aber von einem materialistischen Standpunkt aus Kritik an Reid, Beattie und Oswald. Er lässt sich ebenfalls nur schwer als Hume-Gegner betrachten (vgl. auch KrV A:745 f./B:773 f.). Vgl. von der Lühe, S. 648; Albersmeyer-Bingen, S. 102 f.; Körver, S. 173. 284 Vgl. Kuehn: Scottish, S. 167 ff. Zur verfehlten Verdammung der CommonSense-Philosophen vgl. auch Zimmerli: Schulfüchsische, S. 151 f. Zum Verhältnis ‚Hume – Reid‘ im Allgemeinen vgl. Lobkowicz, Erich: Common sense und Skeptizismus, Weinheim 1986. 285 Kuehn: Scottish, S. 248.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
Common Sense als eine ernst zu nehmende philosophische Kraft gefürchtet hat, an der man sein System messen würde. Deshalb habe er sich so polemisch von ihm distanziert.286 Ein ähnliches Bild liefert Kants Beitrag zum Pantheismusstreit – der im Oktober 1786 veröffentlichte Aufsatz Was heißt: Sich im Denken orientieren? Hier nimmt Kant zu der in philosophisch interessierten Kreisen damals viel diskutierten Kontroverse zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Heinrich Jacobi über den Spinozismus Stellung.287 Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts teilt Jacobi Mendelssohn mit, Lessing habe sich ihm gegenüber einige Monate vor seinem Tod zum Spinozismus bekannt. Mendelssohn wendet sich daraufhin in seiner Schrift Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes von 1785 scharf gegen den damals mit Atheismus und Fatalismus in Zusammenhang gebrachten Spinozismus und versucht, seinen Freund Lessing von diesem ‚Verdacht‘ freizusprechen. Seine Kritik macht auch vor dem Skeptizismus und dem kritischen Idealismus Kants nicht halt. Jacobi verteidigt dagegen fast zeitgleich in Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn den Spinozismus als einzig folgerichtiges System aller Begriffsphilosophie. Zwar folge aus ihm wie aus aller Verstandesphilosophie der Atheismus, aber vor dieser Gefahr könne ein Gefühl der Gewissheit, 286 Vgl. Kuehn: Scottish, S. 167 ff., 208, 238 ff. Zu den Gemeinsamkeiten von Reid und Kant vgl. auch Wolterstorff, S. 231; Ameriks, S. 108 ff.; Ledwig, S. 91 ff. Es ist in diesem Zusammenhang auch irritierend, dass Kant Humes Treatise gar nicht im Original gekannt haben soll, sondern im Wesentlichen nur aus Beatties Essay. Dass dem ‚preußischen Hume‘ das wichtigste Werk des schottischen Hume, in dem dieser seinen folgenreichen Zweifel äußert, hauptsächlich über die Schrift eines zum gemeinsamen Gegner stilisierten Denkers bekannt gewesen ist, der überdies Hume nicht verstanden haben soll, mag wie die offenbar falsche Zuordnung Priestleys eine Marginalie darstellen. Sie wirft aber ebenfalls einen beträchtlichen Schatten auf Kants Äußerungen in diesem Zusammenhang. Vgl. Vaihinger, Hans: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1881, Bd. 1, S. 340 ff., v. a. S. 347; Wolff, Robert: Kant’s Debt to Hume via Beattie, in: Journal of the History of Ideas 21.1960, S. 117 ff. Einschränkungen macht Kuehn: Scottish, S. 5 f., 178 f. 287 Zum Verlauf der Debatte vgl. Vorländer, Band 1, S. 329 ff.; Christ, Kurt: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1988; Goldenbaum, Ursula: Kants Stellungnahme zum Spinozismusstreit, in: Immanuel Kant und die Berliner Aufklärung, Dina Emundts (Hg.), Wiesbaden 2000, S. 98 ff. sowie di Giovanni, George: Hume, Jacobi, and Common Sense. An Episode in the Reception of Hume in Germany at the Time of Kant, in: Kant-Studien 89.1998, S. 44 ff. Insbesondere zur Orientierungsschrift bzw. der darin enthaltenen Idee der Orientierung vgl. Stegmaier, Werner: ‚Was heißt: Sich im Denken orientieren?‘ Zur Möglichkeit philosophischer Weltorientierung nach Kant, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 17/1.1992, S. 1 ff. und Jensen, Bernhard: Was heißt sich orientieren? Von der Krise der Aufklärung zur Orientierung der Vernunft nach Kant, München 2003.
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
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das keines Beweises bedürfe, in den Glauben retten. Gegen Mendelssohns Atheismus-Vorwurf an Jacobi wehrt sich dieser mit der Berufung auf Kants Kritik an den Verstandesbeweisen für das Dasein Gottes. Aus dem Streit entwickelt sich ein Zwei-Lager-Kampf zwischen den Vertretern der Berliner Aufklärung und den Anhängern der Glaubens- und Gefühlsphilosophie. Die Berliner Aufklärer, u. a. Herz und Nicolai, halten zu Mendelssohn – auch noch über dessen Tod 1786 hinaus. An die Seite Jacobis stellen sich z. B. Hamann und Lavater sowie die junge Dichtergeneration des Sturm und Drang, welche Goethe und Herder repräsentieren. Beide Seiten umwerben Kant, wollen sich seiner versichern. Zuerst hält es der Königsberger mit den Berlinern, weil ihn an diese seine literarische Vergangenheit bindet und er Spinozas Pantheismus sowie dessen dogmatischer Methode keine Sympathie entgegenbringt. Da er aber wiederum Mendelssohns (zu) hohe Meinung vom gesunden Menschenverstand und dessen Wolffianismus nicht teilt und Mendelssohn dogmatisch seine Kritik an den Gottesbeweisen beanstandet hatte, bleibt er dann im Ganzen unparteiisch. Wie es für den damals „ersten Philosophen unsers Landes“ (Brief von Biester vom 11.6.1786, 10:457) typisch ist, ergreift Kant in seinem lange erwarteten Kommentar für keine der Seiten Partei, sondern missbilligt beide Argumentationslinien. Er macht auf einen gemeinsamen Schwachpunkt von Mendelssohn und Jacobi aufmerksam – den gesunden Menschenverstand, wie er bei Mendelssohn vorkommt. Mendelssohn vertritt in den Morgenstunden den Standpunkt, dass, wenn Vernunft und Common Sense in Widerspruch zueinander geraten, man sich an Letzterem zu orientieren habe, da dieser erfahrungsgemäß öfter richtig liege. Kant behauptet nun, in metaphysischen Angelegenheiten sei der Common Sense kein zuverlässiger Wegweiser. Die Vernunft allein sei das letzte Kriterium der Wahrheit und deshalb könne nur sie in der Metaphysik sichere Orientierung geben. Schließlich sei sie es auch, die den Common Sense von seinen Widersprüchen reinige. Zum Beweis für die Unzuverlässigkeit des Common Sense führt er an, dass sich Jacobi in seiner Glaubensphilosophie auf diesen berufen und dies verheerende Auswirkungen nach sich gezogen habe. So schlägt Kant – wenngleich Jacobis ‚Gefühlsschwärmerei‘ härter als Mendelssohns Dogmatismus getroffen wird – beide Fliegen mit einer Klappe. Jacobis Ansatz erklärt er für unzulänglich, weil dieser im Grunde nur eine Berufung auf den Common Sense darstelle. Mendelssohns Argumentation lehnt er ab, weil sie mit der Aufwertung des Common Sense Grundlagen für die Betrachtungsweise Jacobis bereitet habe. (Vgl. Orientieren 8:133 ff.)288 288
Vgl. Vorländer, Band 1, S. 329 ff.
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E. Common Sense und Pragmatik. Das nachkritische Werk
In einer vorderen Passage des Aufsatzes umreißt Kant diesen Standpunkt: „Von dieser Art ist der Grundsatz, zu dem der sel. Mendelssohn, so viel ich weiß, nur in seinen letzten Schriften (den Morgenstunden S. 165–66, und dem Briefe an Lessings Freunde S. 33 und 67) sich ausdrücklich bekannte; nämlich die Maxime der Notwendigkeit, im spekulativen Gebrauche der Vernunft (welchem er sonst in Ansehung der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände sehr viel, so gar bis zur Evidenz der Demonstration, zutraute) durch ein gewisses Leitungsmittel, welches er bald den Gemeinsinn (Morgenstunden), bald die gesunde Vernunft, bald den schlichten Menschenverstand (an Lessings Freunde) nannte, sich zu orientieren. Wer hätte denken sollen, daß dieses Geständnis nicht allein seiner vorteilhaften Meinung von der Macht des spekulativen Vernunftgebrauchs in Sachen der Theologie so verderblich werden sollte (welches in der Tat unvermeidlich war); sondern daß selbst die gemeine gesunde Vernunft bei der Zweideutigkeit, worin er die Ausübung dieses Vermögens im Gegensatze mit der Spekulation ließ, in Gefahr geraten würde, zum Grundsatze der Schwärmerei und der gänzlichen Entthronung der Vernunft zu dienen? Und doch geschah dieses in der Mendelssohnund Jacobischen Streitigkeit“ (Orientieren 8:133 f.).289
Kants Argumentation ist um einiges komplexer und subtiler, als hier darzustellen sinnvoll wäre. Es ist bereits deutlich geworden, dass er seine drei Jahre zuvor in den Prolegomena sehr polemisch ausgefallene Kritik am Common Sense in der Orientierungsschrift erneuert. Kant setzt sich mit einem Kunstgriff über Jacobi und Mendelssohn hinweg, indem er den Common Sense als Schwachpunkt beider Auffassungen anprangert. Mit diesem geschickten Schachzug widersetzt sich Kant einer Vereinnahmung durch eine der Streitparteien und profiliert obendrein die eigene Philosophie. Wie in der Debatte um die Popularität der ersten Kritik sind Kants Äußerungen zum Common Sense im Pantheismusstreit widersprüchlich. Erneut lehnt er eine Orientierung am Common Sense in der Metaphysik schroff ab. Dabei weist er selbst, wie vor allem in den Kapiteln C. II. 2. und D. III. 1. dokumentiert, mehrfach auf eine solche Orientierungsfunktion hin. Weder in den Prolegomena noch in Orientieren findet sich aber eine Bemerkung darüber, wie wichtig es ist, sich „im speculativen Vernunftgebrauche durch den gemeinen Verstand [zu; RN] orientiren“ (Logik 9:57). Einerseits muss Kant demnach vorgeworfen werden, dass er sich im Dienste von Polemik und Strategie einseitig ausdrückt. Dargestellt wird nur der Nachteil des Common Sense in der Metaphysik, welcher zum Tragen kommt, wenn die reine Vernunft hier durch diesen ersetzt wird. Keine Erwähnung findet der selbst bemerkte Nutzen des Common Sense für die Metaphysik. Ande289 Vgl. Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 3.2, Leo Strauss (Bearb.), Stuttgart 1974, S. 79–88, 33 f. (Morgenstunden); S. 198 f., 211 (An die Freunde Lessings). Zu Mendelssohns ‚Balanceakt‘ zwischen Common Sense und Vernunft vgl. Hütter, S. 65 ff., 92 ff.
IV. Kant und die Spätphase der Popularphilosophie
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rerseits kann Kant sogar vorgeworfen werden, dass er sich selbst widerspricht. Im Pantheismusstreit geht es vor allem um die Frage nach Gott. In Orientieren lehnt Kant eine Berufung auf den Common Sense in diesem Kontext ab. Wie aber in den Kapiteln C. I., D. I. 4., D. III. 1. und E. II. 1. gezeigt wurde, bedient er sich bisweilen selbst dieses Mittels. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Kant in den zwei ausführlicher betrachteten Debatten rigoros Kritik am Common Sense übt. In beiden Fällen unterlässt er es, sein ambivalentes Verhältnis zum Common Sense deutlich zu machen. Seine Polemik legt nahe, dass Common Sense und Metaphysik oder gemeine und reine Vernunft einander abstoßende Pole darstellen. Vor dem Hintergrund der Nähe zur schottischen Common-SensePhilosophie sowie der ungerechten Behandlung seitens der deutschen Popularphilosophie und der Tendenz einiger ihrer Vertreter, sich von wissenschaftlicher Gründlichkeit zu entfernen, drängt sich der Eindruck auf, Kant revanchiere sich bei seinen ‚populären‘ Zeitgenossen. Indem er sich im Kampf um Anerkennung an ihrem Allerheiligsten, dem Common Sense, sowie an ihren Vordenkern, den Schotten, vergreift, setzt er sich nicht direkt zur Wehr, sondern spielt über Bande. Es ist nicht zu klären, ob sich Kant im Rahmen seiner Rechtfertigungen tatsächlich immer mehr in die Rolle eines Feindes von Popularität und Common Sense manövriert, welcher er letztlich nicht mehr entkommen kann, ohne sich erneut widersprechen zu müssen. Ebenso wenig kann es in der gesamten hier vorgebrachten psychologischen Deutung wohl jemals objektive Gewissheit geben. Die vorgebrachten Argumente machen die Problematik aber zumindest erwähnenswert. Sie werden außerdem bestätigt von den Ergebnissen in Bezug auf Kants (im Grunde positives) Verhältnis zur Popularität und seinem ‚eigentlichen‘ Verständnis von Metaphysik, für das – wie vor allem in Kapitel D. III. 1. gezeigt – der Common Sense von wichtiger Bedeutung ist. Im Endeffekt bietet sich folgendes Bild: Kant reagiert auf im Namen des Common Sense geäußerte unberechtigte Vorwürfe mit übertriebener Kritik am Common Sense. Wenn auch im Grunde ungewollt, trägt er auf diese Weise dazu bei, dass der Common Sense in der Philosophie wieder zur unerwünschten Person wird. Dennoch wäre es nicht falsch, auch den Kant ab 1781 als Popularphilosophen zu bezeichnen. Denn trotz scharfer Polemik schlägt sein Herz nach wie vor für Common Sense und Popularität. Kant vertritt in Bezug auf die Popularphilosophie aber keinen naiven, unseriösen, sondern einen reifen, durchdachten Standpunkt. In den Vorarbeiten zu den Prolegomena kommt seine wahre Überzeugung kurz überraschend deutlich ans Licht. Kant notiert: „Ich bin ein enthusiastischer Vertheidiger des gesunden Menschenverstandes“ (23:59).
Fazit und Ausblick Im Ergebnis dieser Arbeit kann festgestellt werden, dass der Common Sense Kants ganzes Werk hindurch maßgebend ist. Es handelt sich um einen zentralen Bezugspunkt seines gesamten Schaffens. Um dies zeigen zu können, war es nötig, die Problematik umfassend zu betrachten. Es wurde versucht, die wesentlichen Elemente einer Kant’schen Theorie des Common Sense in ihren Zusammenhängen herauszuarbeiten. Am Ende steht die paradox wirkende Erkenntnis, dass sich Kant als Common-Sense-Philosoph betrachten lässt – und das im positiven Sinne. In verschiedensten Kontexten stellt er unter Beweis, dass er sehr viel vom gesunden Menschenverstand hält. In Form der Ideen ‚reflektierende Urteilskraft‘ und ‚Gemeinsinn‘ sichert er diesem, bzw. wesentlichen Charakteristika von ihm, sogar feste Orte in seiner Transzendentalphilosophie. So erweist sich der Common Sense auch als ein Schlüssel zu dieser apriorischen Betrachtungsweise. Kant hat tiefschürfende und weitreichende Überlegungen zum Common Sense hinterlassen. Verbunden mit der großen Aktualität und Verbreitung seiner Philosophie können diese als fruchtbarster Beitrag der Begriffsgeschichte betrachtet werden. Die Ernte allerdings steht in Form von Anerkennung und Anwendung noch weitgehend aus. Der Bedeutungskomplex ‚Common Sense‘ wurde in Vorbereitung auf seine Analyse hinsichtlich des heutigen alltäglichen Sprachgebrauchs, seiner Begriffsgeschichte und seiner allgemeinen Verwendung bei Kant betrachtet. Im Rückblick lässt sich feststellen, dass der Common Sense von Kant als der auch heute allgemeinsprachlich begegnende Normal-, Erfahrungs- und Jedermannsverstand genutzt wird. Darüber hinaus werden die vier herausgestellten philosophiegeschichtlichen Bedeutungsfelder bei ihm wirksam. Der aristotelische synthetisierende Wahrnehmungssinn wird in der Idee des Gemeinsinns als der Einheit von Erkenntniskräften zu neuem Leben erweckt. Dem unkompliziert urteilenden gesunden Menschenverstand entspricht der unter vielen Namen auftretende gemeine, empirische Verstand samt seiner natürlichen Urteilskraft. Die soziale Dimension des Common Sense begegnet bei Kant ebenfalls in Form der Idee des sensus communis, hier aber verstanden als die Idee eines allgemeinen Standpunktes. Als Wissen oder Menge an Überzeugungen schließlich ist Kant der Common Sense im Sinne einer unwissenschaftlichen, weil unsystematischen Anhäufung von Meinungen ein Begriff. Er mahnt zum kritischen Umgang mit derlei Volksweisheiten, sieht aber auch ihren Nutzen. – In Kants Werk spiegelt sich bei-
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nahe die gesamte Begriffstradition des Common Sense. Die einzelnen Entwicklungsstränge kreuzen hier einander. Sie finden z. T. neue Bewertungen, die die Rezeption des Begriffskomplexes bis heute prägen. Kants Einstellung zum Common Sense als gesundem Menschenverstand ist ambivalent: Er tritt als polemischer Verächter und eiserner Verfechter auf. Obwohl Kant den niederen, empirischen Verstand wortgewaltig aus der Metaphysik verbannt, weist er ihm in diesem Bereich wichtige Funktionen zu. In der Moralphilosophie genießt der Common Sense ganz offen höchste Wertschätzung. Auch der Geschmack basiert bei Kant – wenngleich oft eher im Verborgenen – wesentlich auf diesem. Außerdem bleibt die Unentbehrlichkeit dieses gewöhnlichen Vermögens in Fragen des alltäglichen Lebens für ihn unbestritten. Die Befähigung zur Wissenschaft aber spricht Kant dem Common Sense, der nicht abstrakt denkt und sich über seine Urteile keine Rechenschaft gibt, ab. Dennoch gesteht ihm Kant einen dreifachen Nutzen für die Wissenschaft zu. Der gesunde Menschenverstand kann ihr als Basis, Korrektiv und Ziel dienen. Er stellt das natürliche Vorverständnis dar, aus dem wissenschaftliche Fragen erst entspringen. Er erbringt unentbehrliche Orientierungsleistungen für die Wissenschaften und trägt dazu bei, ihre Irrtümer zu entlarven. Schließlich verkörpert er als Voraussetzung für die realistische, pragmatisch-kluge Anwendung und verständliche Vermittlung szientifischer Erkenntnis auch das Ziel der Wissenschaft. Auf diesen vielgestaltigen Nutzen macht Kant über seine verschiedenen Schaffensphasen hinweg in verschiedenen Zusammenhängen aufmerksam. In der Gesamtschau kennzeichnet ihn ein überaus differenziertes, reflektiertes, wissenschaftliches, reifes Verständnis von Nutzen und Nachteil des Common Sense als gesundem Menschenverstand. Kants Position ist weit entfernt von kurzsichtiger Ablehnung und naiver Befürwortung. Einerseits setzt er diesem Vermögen klare Grenzen. Andererseits zollt er ihm innerhalb dieses Rahmens höchste Achtung. Kants Äußerungen zum gesunden Menschenverstand und vor allem seine scharfe Kritik an dessen Gebrauch in der Metaphysik müssen vor dem Hintergrund des geistigen Klimas ihrer Zeit betrachtet werden. Der gesunde Menschenverstand steht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland hoch im Kurs. Die Popularphilosophie übt als ‚Philosophie des gesunden Menschenverstandes‘ großen Einfluss aus. Für Kant scheint keine besondere Veranlassung zu bestehen, sich mit seiner zweifellos vorhandenen Wertschätzung gegenüber dem Common Sense zeitgemäß in den Vordergrund zu drängen. Er wählt den unzeitgemäßen Weg der Kritik am Missbrauch des natürlichen Verstandes – und ist damit seiner Zeit voraus. Herausgefordert von z. T. unberechtigten Vorwürfen gegen seine Philosophie,
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übertreibt er es mit seinen polemischen Missbilligungen des Common Sense und dessen Vertretern dann allerdings selbst. Der vorkritische Kant hat sich in der Untersuchung als Popularphilosoph par excellence erwiesen. Selbst in Bezug auf sein nachkritisches Werk, in dem das Pragmatische zunehmend an die Stelle des Populären tritt, lässt sich Kant der Popularphilosophie zuordnen. Diese Befunde untermauern die These von seiner prinzipiellen Hochachtung vor dem Common Sense. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass sich die positive Grundeinstellung zum Common Sense in den Hauptwerken von Kants kritischer Philosophie nicht ändert. Zwar sind die Kritiken schwer zugänglich geschrieben, also ganz und gar nicht populär verfasst. Dennoch handelt es sich um Kritiken des Common Sense. Denn in allen drei Werken wird nach den transzendentalen Prinzipien von menschlichen Leistungen gesucht, die der Common Sense alltäglich erbringt. Kants Suche nach dem Apriori in menschlichen Urteilen stellt insofern eine Erforschung des gesunden Menschenverstandes, des normalen Verstandes aller Menschen, dar. So gesehen bleibt sogar der Kant der Kritiken ein Popularphilosoph, ein Philosoph des Common Sense. Weiterhin lässt er sich, indem er auf den von ihm untersuchten Wissensgebieten auch stets einen natürlichen Zugang zur Natur der Sache sucht, ebenfalls als Naturalist bezeichnen – obwohl er die Anhänger der naturalistischen Methode für den Missbrauch ihrer Herangehensweise aufs Schärfste verurteilt. In Analogie zum gesunden Menschenverstand steht bei Kant die reflektierende Urteilskraft. Für beide sind Vergleich und Induktion typisch. Wie jener verfährt diese zweckmäßig, auch ohne den genauen Zweck zu kennen. Wie er sucht sie zum Besonderen das Allgemeine und bringt nur orientierende, keine letztbegründeten Urteile hervor. Die reflektierende Urteilskraft ist unentbehrlich für den Gebrauch der bestimmenden Urteilskraft, welche vom Allgemeinen auf das Besondere schließt. Jede Determination wird durch Reflexion ermöglicht und muss durch sie ergänzt werden. Umgekehrt ist aber auch die bestimmende Urteilskraft unentbehrlich für die reflektierende. Beide Verfahren verhalten sich zueinander wie Common Sense und Vernunft bzw. Wissenschaft. Die reflektierende Urteilskraft darf nicht als identisch mit dem empirischen Common Sense betrachtet werden. Bei empirisch-reflektierender Urteilskraft handelt es sich um ein wesentliches Charakteristikum des gesunden Menschenverstandes, bei transzendental-reflektierender Urteilskraft um ein apriorisches Substitut dieses empirischen Gemeinsinns. Die große Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft für Kants Philosophie wurde durch die Untersuchung mehrerer ihrer Gebrauchsformen erschlossen. Betrachtet wurden neben den beiden soeben genannten die ästhe-
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tisch-, die teleologisch-, die theoretisch-, die moralisch-, die praktisch-, die politisch-, die religiös-, die juridisch-, die medizinisch-, die philosophischund die historisch-reflektierende Urteilskraft. Dabei zeichnete sich analog zu den Funktionen des gesunden Menschenverstandes ein dreifacher Nutzen dieser ‚Urteilskraft von unten‘ ab. Wie sich am deutlichsten im Kontext von Kants kritischer Moralphilosophie gezeigt hat, ist die reflektierende Urteilskraft unverzichtbar für die Urteilsbildung, -prüfung und -anwendung. Auch in Form des apriorischen Gemeinsinns kommt dem Common Sense in Kants Transzendentalphilosophie eine zentrale Rolle zu. In der dritten Kritik wird der sensus communis aestheticus als apriorische Bedingung von Geschmacksurteilen konstruiert. Auf seine Grundform reduziert lässt sich die Idee dieses Gemeinsinns auf alle mitteilbaren Urteile übertragen. Nicht nur gelingende Urteile über das Schöne, sondern z. B. auch über das Erhabene und das Zweckmäßige sowie das Gute und das Wahre setzen einen Gemeinsinn voraus. Angezeigt wird dies jeweils dadurch, dass bei der Urteilsbildung erstens zwei der drei Gemütskräfte ‚Einbildungskraft‘, ‚Verstand‘ und ‚Vernunft‘ übereinstimmen, zweitens davon ein Gefühl der Lust erregt wird, welches drittens gemeinschaftlichen Charakter hat. Aufgrund dessen lässt sich der Kant’sche Gemeinsinn nicht nur reflektierender, sondern auch bestimmender Urteilskraft zugrunde legen. Als viertes Kriterium für den apriorischen Gemeinsinn hat sich eine Analogie zum empirischen Gemeinsinn erwiesen. Trotz ihrer Verschiedenheit verbindet beide Gemeinsinne nicht nur eine sprachliche Nähe, sondern auch ein essenzieller Bezug zu den anderen Menschen. Die Idee des sensus communis beinhaltet die Vorstellung einer Berücksichtigung der Urteile anderer. Gesunden Menschenverstand zu zeigen bedeutet wesentlich, seine ‚Denkungsart‘ durch Einnahme eines allgemeinen Standpunktes ‚zu erweitern‘. Die von Kant vielfach als Forderung formulierte Prüfung des eigenen Urteils an dem anderer wird vom gesunden Menschenverstand nahezu verkörpert. Der apriorische Gemeinsinn lässt sich daher als Idee von einem Grundprinzip des empirischen Gemeinsinns betrachten, als dessen Abstraktion oder Verinnerlichung. Die Analogie zum gesunden Menschenverstand ist von besonderer Bedeutung, weil erst sie die Idee des sensus communis legitimiert. Der empirische Gemeinsinn fungiert als Pate und Bürge seiner Repräsentanz in der Transzendentalphilosophie. Die Idee des Gemeinsinns ist von Kant zwar nur mit wenig Klarheit entwickelt worden, sie ist jedoch von großer Tragweite. So hat sie nicht nur als urteilsleitendes Prinzip, welches eine Abstraktion vom privaten Standpunkt durch Bezug zu anderen Positionen kennzeichnet, große Bedeutung. Sie steht auch für die allen gemeinsame Urteilsbasis, ohne die gegenseitiges Verstehen ebenso unmöglich wäre wie moralisches Handeln. Außerdem
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muss, wie ebenfalls gezeigt wurde, die Urteilsanwendung vom Gemeinsinn getragen sein, um einen Widerspruch zwischen Urteil und Umsetzung zu verhindern. Also steht auch die Unverzichtbarkeit des Gemeinsinns für erfolgreiche Urteile in Analogie zum dreifachen Nutzen des Common Sense. Es lassen sich bei Kant viele Bedeutungsdimensionen des Gemeinsinns nachweisen. Im engeren Sinne bezeichnet diese Idee erstens die von einem und demselben Urteilsgegenstand bei allen Menschen gleichermaßen hervorgerufene Konstellation zweier Erkenntniskräfte, zweitens ein anderen ansinnbares Resultat der Interaktion dieser Kräfte, der Reflexion, sowie drittens die allgemein geteilten Grundbegriffe. Der sensus communis steht damit für die bereits erwähnte allen Menschen gemeinsame Urteils- und Erkenntnisbasis. Dank ihr sind wir in jedem Urteil ursprünglich mit allen anderen Menschen verbunden und auf diese bezogen. Ohne diesen Gemeinsinn wäre es nicht möglich, sich in andere hineinzuversetzen. Die Idee des Gemeinsinns reicht aber noch weiter. Es konnten sowohl ein psychisches Analogon (geistige Gesundheit in der Bedeutung, alle Sinne beieinander zu haben) als auch ein physisches Korrelat (sensorium commune) herausgearbeitet werden. Im übertragenen Sinne eines allgemeinen Willens von Menschen oder Gemeinschaften ließ sich der sensus communis außerdem als Voraussetzung für Gemeinwesen betrachten, z. B. für politische, religiöse oder wissenschaftliche. Der Gemeinsinn hat sich ebenfalls als Bedingung für das Politische und das Populäre, für Öffentlichkeit und Kommunikation, Humanität und Kultur sowie für moralische Religion und Medizin offenbart. Er ist sogar Voraussetzung des gesunden Menschenverstandes. Denn nur so lange dessen Urteilen der apriorische Gemeinsinn zugrunde liegt, rechtfertigt er das Prädikat ‚gesund‘. Außerdem handelt es sich bei diesem gewöhnlichen Verstand wie gesehen selbst um einen Gemeinsinn. Schließlich kann in der Idee des sensus communis auch ein Prinzip von Sprachen gesehen werden, da diese Ausdrucksweisen darstellen, welche aus gemeinsam geteilten Wörtern und Regeln bestehen. Indem Kant der reflektierenden Urteilskraft und dem sensus communis zentrale Bedeutung in seiner Transzendentalphilosophie zukommen lässt, knüpft er einerseits an historische Entwicklungslinien des Bedeutungskomplexes ‚Common Sense‘ an – die aristotelische Begriffstradition des synthetisierenden Wahrnehmungssinns und das klassisch-humanistische Erbe einer sozialen Instanz. Insofern Kant diesen Bedeutungssträngen neue Aspekte hinzufügt, trägt er andererseits erheblich zur Weiterentwicklung des Komplexes bei. Die Konstruktionen ‚reflektierende Urteilskraft‘ und ‚Gemeinsinn‘ transportieren die Prinzipien ‚Zweckmäßigkeit‘ und ‚Allgemeinheit‘. Bei diesen handelt es sich um Regeln, die überaus charakteristisch für den empirischen
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Common Sense sind: Der gesunde Menschenverstand ist ein Sinn für das Verhältnismäßige und das Verallgemeinerbare. Dass es sich bei reflektierender Urteilskraft und Gemeinsinn, welche Kant zu Bedingungen von Urteil und Erkenntnis erklärt, um transzendentalphilosophische Destillate des natürlichen, allgemeinen Menschenverstandes handelt, unterstreicht, dass Kant stets versucht, die transzendentalen Bedingungen in Analogie zu den tatsächlichen, natürlichen Leistungen des menschlichen Geistes zu erschließen. In der vorliegenden Arbeit wurde ein großes Bedeutungsfeld für den Common Sense aufgezeigt. Ihm lassen sich u. a. sogar das Populäre und das Pragmatisch-Kluge, das Wahrscheinliche und das Vorläufige sowie Meinung und Mutterwitz zuordnen. Es existiert aber auch ein sehr weites Anwendungsfeld. So können grundsätzlich alle Wissenschaften von der Berücksichtigung des Common Sense profitieren. Selbst in der Mathematik bedarf es eines orientierenden ‚Fingerzeigs‘, eines ‚Peilens über den Daumen‘, etwa in Form von Überschlagsrechnungen. Der Common Sense hat sich bei Kant nicht nur als Sinn für das Wahrscheinliche und das Machbare bzw. Realistische erwiesen, sondern auch als unentbehrliches Wahrheitskriterium. Ihn in dieser Funktion zu gebrauchen bedeutet, sein Urteil mit dem der anderen zu vergleichen und dabei auftretende Widersprüche zum Anlass einer erneuten Selbstprüfung zu nehmen. Auf diese Weise hilft der Common Sense als gesunder Menschenverstand bei der Suche nach dem Wahren. Analog sind theoretisch-reflektierende Urteilskraft und sensus communis logicus als Voraussetzungen für Urteile über das Wahre zu betrachten. Somit ist der Common Sense in der Wissenschaft überhaupt und in der theoretischen Philosophie oder der Metaphysik im Speziellen unentbehrlich. Auch praktische und speziell Moralphilosophie kommt nicht ohne Common Sense aus. Es hat sich einerseits gezeigt, dass bei Kant der Verstand des ‚gemeinen Mannes‘ zu Urteilen über das Gute ausreicht, sodass im Normalfall jeder für sein Handeln verantwortlich ist und gemacht werden kann. Andererseits ist deutlich geworden, dass moralische Urteile gesunden Menschenverstand in Form der Einnahme eines allgemeinen Standpunktes immer schon voraussetzen. Entsprechend haben sich die reflektierende Urteilskraft und der Gemeinsinn in diesem Zusammenhang als unverzichtbar erwiesen – für die Maximenbildung, -prüfung und -anwendung. Auf vielfältige Weise ist von Kant gezeigt worden, dass der Geschmack untrennbar mit dem Common Sense verbunden ist. Er erweist sich als Common Sense hinsichtlich des Schönen. Für Kant ist zu Geschmacksurteilen jedermann in der Lage. Keinen Geschmack beweist für ihn, wer sein Urteil „X ist schön“ keinem anderen zumuten kann. Analog macht Kant deutlich, dass gelingende ästhetische Urteile nicht mit bestimmender, sondern allein
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mit reflektierender Urteilskraft getroffen werden können. So wie diese Urteile keine höhere Bildung erfordern, existieren auch keine allgemeingültigen Begriffe für sie. Mit dem ästhetischen Gemeinsinn setzt Kant dem Common Sense ein Denkmal. Denn dieser sensus communis aestheticus erklärt, wie die Resultate ästhetischer Urteilskraft trotz ihres nur subjektiven Charakters einen Anspruch auf allgemeine Zustimmung rechtfertigen können. In Analogie zum gesunden Menschenverstand zeigt Kant nachdrücklich, dass zweckmäßige Urteile nicht nur notwendig sind, um den Alltag pragmatisch zu meistern. Auch in der Wissenschaft bedarf es der zwar nur regulativ gültigen, aber Orientierung bietenden Aussagen. So sind insbesondere die Naturwissenschaften auf reflektierende Urteilskraft angewiesen: Ihre mechanisch erklärenden Determinationen müssen durch teleologisch erörternde Reflexionen geleitet und ergänzt werden. Nicht weniger wichtig ist die Reflexion in den Geisteswissenschaften. Wie sich aus Kants Überlegungen ergibt, ermöglicht erst sie das für diese wesentliche Verstehen, Deuten, Interpretieren. Nur reflektierend können Bedeutungen ermessen werden, wo etwa Zahlen nicht hinreichen. Auch der Gemeinsinn ist hier von zentraler Bedeutung. Er befördert das Humane des Kulturellen. Der realistische Blick des gesunden Menschenverstandes schließlich kann in diesem Kontext z. B. Überbewertungen verhindern. Reflektierendes, verallgemeinerbares und erfahrungsnahes Denken sind generell von so großer Bedeutung, dass ihre Förderung eines der Hauptziele allgemeiner Pädagogik darstellen muss. Dem verleiht Kant z. B. mit seinen Plädoyers für eine ‚geschärfte Urteilskraft‘ Ausdruck. Auch die so genannten oberen Fakultäten bedürfen für Kant wie gesehen des Common Sense. Sie lassen sich heute um Brotkünste wie die Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften erweitern. Egal ob Pfarrer, Jurist, Arzt, Ökonom oder Konstrukteur – keiner von ihnen darf den Common Sense ignorieren. Der Geistliche muss z. B. dem gesunden Menschenverstand verständlich sein. Wie der Anwalt das Pragmatische, so hat der Richter mit jenem das Angemessene zu erwägen. Der Arzt bedarf neben der Bücherkenntnis auch der praktischen Alltagserfahrung des Common Sense, um die richtigen Diagnosen zu stellen. Der Manager kann sich nicht allein auf sein gutes Diplom und teure Marktanalysen verlassen. Um erfolgreich zu wirtschaften, ist er auch auf einen Sinn für die Wirklichkeit und die Kunst, sich in potenzielle Kunden wie in seine Mitarbeiter hineinzuversetzen, angewiesen. Schließlich benötigt selbst der Maschinenbauer Common Sense, etwa, wenn er zwischen theoretischer Möglichkeit und praktischer Machbarkeit zu unterscheiden hat. Dann ist der erfahrungsgeschärfte Alltagsverstand und insbesondere seine Fähigkeit gefragt, konkret, etwa von den zur Verfügung stehenden Mitteln ausgehend, denken zu können.
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Selbst in der Politik ist der Common Sense – wie mit Kant festgestellt werden konnte – von zentraler Bedeutung. Denn hier kommt es auch wesentlich auf pragmatisch-kluges Agieren an. Zu Recht und Moral muss eine gereifte Urteilskraft treten, die für eine angemessene Anwendung sorgt. Außerdem hat sich der Kant’sche Gemeinsinn als Bedingung gelingender politischer Urteile und ihrer vertretbaren Ausübung sowie als wichtige Voraussetzung politischer Gemeinwesen und der Politik überhaupt erwiesen. Von allen Wissenschaften fällt bei Kant der Philosophie in Bezug auf den Common Sense die bedeutendste Aufgabe zu. Sie soll diesen nicht nur wie alle anderen berücksichtigen. Sie soll ihn kritisch prüfen und – beinahe noch wichtiger – in Schutz nehmen. Kant bestimmt die Philosophie zum natürlichen Verteidiger des Common Sense. Ihr kommt die Aufgabe zu, Manipulationen des gesunden Menschenverstandes, wie sie auch durch die Wissenschaften geschehen, zu verhindern. Mit ihrer Hilfe sollen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse, also auch die eigenen, am Common Sense die Probe erhalten sowie für ihn verständlich und brauchbar gemacht werden. Einerseits bedarf die Philosophie selbst des Common Sense: Die Orientierung am Orientierungsverstand ist eine wichtige Voraussetzung für ihre Funktion als Orientierungswissenschaft. Außerdem sind ohne Gemeinsinn und reflektierende Urteilskraft keine gelingenden Urteile über das Wahre möglich. Andererseits bedürfen die Einzelwissenschaften der Philosophie, damit ihre Erkenntnisse auf angemessene Weise in Beziehung zum Common Sense gesetzt werden: Eine den Common Sense respektierende Philosophie ist das zweite Standbein jeder Wissenschaft. Sie gewährleistet das für den sicheren Auftritt notwendige Gleichgewicht. Die Hoffnung auf einen produktiven Umgang mit dem Common Sense in den Wissenschaften ist für Kant also aufs Engste mit der Philosophie verknüpft – diese muss ihm die Tür, z. B. zur Universität, öffnen. Das besondere Verhältnis der Philosophie zum Common Sense trägt auch dazu bei, dass Kant in seiner Fakultätsschrift die gängige Praxis anprangert, die Philosophie in die Rolle der unteren, unbedeutenden, nur vorbereitenden Fakultät zu pressen. Man könnte schließen: Wo der Philosophie in der Wissenschaft geringe Bedeutung zukommt, muss auch der Common Sense von geringer Bedeutung sein. Hier fragt es sich, was sich seit Kant getan hat. Das in der Fakultätsschrift umrissene Universitätsmodell spielt schon wenig später eine wichtige Rolle. Es ist von großem Einfluss auf die 1810 erfolgte Gründung der Berliner Universität, der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin, welche aufgrund des mit ihr gemachten Neuanfangs noch immer im Ruf der „Mutter aller modernen Universitäten“290 steht. Auch 290
Vgl. www.hu-berlin.de/ueberblick/geschichte/hubdt_html, Stand: 10.2007.
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wenn Kants Konzept verwässert wird, findet doch sein Grundgedanke der Aufwertung der Philosophie Berücksichtigung. Dies lässt sich z. B. an einer für die damalige Zeit außergewöhnlichen Beförderung der noch zur unteren Fakultät gehörenden Naturwissenschaften erkennen sowie daran, dass mit Fichte und Hegel die ersten beiden Rektoren Philosophen sind.291 Seitdem ist die Philosophie jedoch wieder zur Randwissenschaft und beinahe zu einem Orchideenfach geworden. Da kann es kaum verwundern, wenn auch der Common Sense an dieser und vergleichbaren Einrichtungen nur ein bescheidenes Dasein fristet. Überdies lässt die Zukunft keine Besserung erwarten, denn auch an der Humboldt-Universität wurden im Studiengang Philosophie die internationalen Standards ‚Bachelor‘ und ‚Master‘ eingeführt. So lange mit diesen eine Verschulung dessen verbunden ist, was man laut Kant nicht lernen, nur betreiben kann, wird aus der Idee der Universität als einem Ort, an dem man sich bildet, auch in der Nische ein Institut, an dem man ausgebildet wird. Angesichts einer solchen Ver(fachhoch)schulisierung der Universität ist zu befürchten, dass man ‚Kant und dem Common Sense‘ auch in Zukunft fern bleibt, dass also Philosophie weiterhin nicht zu ihrer Aufgabe hinsichtlich des Common Sense findet und dadurch wie dieser von geringer Bedeutung bleibt. Ein Bezug lässt sich auch zur heutigen Bildungspolitik herstellen. Der Common Sense zählt nicht umsonst zu den Kernideen der Aufklärung. Auch er transportiert den von dieser Bewegung mit Nachdruck gegen kirchliche, politische oder scholastische Autoritäten verteidigten Gleichheitsgedanken. Wie bei Kant vor allem in Gestalt der allgemeinen Menschenvernunft deutlich wird, steht der Begriff ‚Common Sense‘ auch dafür, dass jeder Mensch in Bezug auf seine Vernunft vom Grundsatz her gleich und so auch potenziell zu höheren Erkenntnissen fähig ist. – Eine Gesellschaft, die diesen Sachverhalt ernst nimmt, sorgt für einen weder direkt noch indirekt vom Einkommen der Eltern abhängigen Zugang zu ihren Bildungsstätten. Bildungspolitik ist verpflichtet, die Umsetzung des auch Kant’schen Gedankens der natürlichen Gleichheit der Menschen zu gewährleisten. Die Anwendungsmöglichkeiten des Common Sense sind zahlreich. Er dient als Mittel gegen realitätsfremde Forschung und akademische Selbstüberschätzung. Besonders geeignet ist er als Waffe gegen blinde ZahlenGläubigkeit. Gesunder Menschenverstand ist vor allem da gefragt, wo die Welt allein mithilfe von Statistiken erklärt wird. Denn ohne angemessene 291 Vgl. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt/M. 41994 (1983), S. 36 ff.; Bruch, Rüdiger vom: Die Gründung der Berliner Universität, in: Humboldt Intern. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Basel 2001, S. 53 ff., v. a. S. 65, 71 ff. – Eine Aufwertung des Common Sense durch Fichte und Hegel war allerdings nicht zu verzeichnen, ganz im Gegenteil (vgl. Kapitel A. II.).
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Interpretation sind Datenerhebungen wertlos. Insbesondere dann, wenn Hochrechnungen dem Common Sense fundamental widersprechen, ist Vorsicht geboten. Der Common Sense bildet jederzeit selbst eine Form von Meinungsumfrage. Und wie z. B. politische Sonntagsfragen regelmäßig zeigen, liegt sein realistischer Blick am Ende nicht selten näher an der Wahrheit als das rechnerische Bild.292 Der Common Sense gehört untrennbar zum Leben und zur Wissenschaft. Wissenschaft darf sich jedoch nie einfach dem Common Sense beugen. Sie muss stets über diesen hinausgehen. Auf diese Weise nutzt sie dem Common Sense sogar. Indem sie ihn beglaubigt oder kritisch läutert, sorgt sie dafür, dass der gemeine Verstand auch künftig noch angemessen urteilen kann. Der Common Sense ist also auch auf die Wissenschaft angewiesen. Bestätigung und Berichtigung durch diese tragen entscheidend zu seiner Weiterentwicklung bei. Es ist beachtenswert, dass trotz der deutlichen Unterschiede zwischen Wissenschaft und Common Sense auch eine Verwandtschaft zwischen beiden besteht. Pragmatisch betrachtet lässt sich die Wissenschaft als eine Art von Common Sense begreifen – als wissenschaftlicher Common Sense. Denn sie umfasst eine Menge von Überzeugungen, welche von einer Forschergruppe geteilt werden, aber nur so lange Orientierung geben, bis eine kommende Forschergeneration sie durch andere Überzeugungen ersetzt.293 Schließlich stellt sich die Frage, wie sich der Common Sense in der Wissenschaft gebührend nutzen lässt. Zunächst einmal liegen mit den von Kant formulierten drei Maximen des Common Sense Grundregeln vor, welche jeden, ob Privatmann oder Wissenschaftler, zu Wahrheit und Weisheit führen. Für die wissenschaftliche Forschung ergibt sich aus ihnen die Verpflichtung, in ausreichendem Maße ‚selbst zu denken‘, also Lösungen (zuerst) in sich und nicht bei anderen zu suchen, Fremdes nicht für Eigenes auszugeben und Untersuchungen nicht von erwünschten – z. B. populären oder förderungsrelevanten – Resultaten leiten zu lassen. Notwendig ist es außerdem, die erzielten Ergebnisse aus der Perspektive anderer kritisch zu prüfen. Zu292 Zu den Schwächen der Statistik vgl. z. B. Krämer, Walter: So lügt man mit Statistik, Frankfurt/M./New York 41992. 293 Ein solcher Standpunkt ist u. a. von Willard van Orman Quine vertreten worden: „Wissenschaft ist nichts weiter als eine höchst ausgefeilte Form des ‚gemeinen Menschenverstandes‘ und an den unterschiedlichsten Stellen in unterschiedlichem Maße fehlbar. Sie kann jederzeit einmal aufgrund wissenschaftlicher Entdeckungen berichtigt werden müssen, doch bietet sich uns eben schlicht und einfach keine alternative Zugangsmöglichkeit zur Wahrheit.“ (ders.: Was ich glaube, in: ders.: Unterwegs zur Wahrheit. Konzise Einleitung in die theoretische Philosophie, Paderborn 1995 (1984), S. 158.).
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nächst bedeutet dies, zu versuchen, sich selbst zu widerlegen. In Ergänzung sollte man dies auch andere versuchen lassen. Schließlich heißt es, konsequent zu sein. Denn eigenes und perspektivisches Denken dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ein gründliches und grundsatzgeleitetes Denken muss beides zu einem reifen Standpunkt vereinen. Wer die drei Maximen befolgt, so kann behauptet werden, beweist in der Wissenschaft gesunden Menschenverstand und Gemeinsinn. Wie aber kann der Common Sense konkret für die Wissenschaft nutzbar gemacht werden, wie lässt er sich in diese integrieren? Die folgende – in Abwandlung der sokratischen Methode294 entworfene – Unterteilung des wissenschaftlichen Forschungsprozesses in sechs Stadien könnte sich als fruchtbar erweisen: (1) Problemwahl: Der Common Sense muss bereits bei der Auswahl des Forschungsthemas berücksichtigt werden. Denn wissenschaftliche Forschung, so weit man ihren Nutzen auch fasst, sollte stets in einer sinnvollen Beziehung zum allgemeinen Interesse stehen. Für dessen Einschätzung ist der Common Sense unverzichtbar. Als lebensweltliches Verständnis befragt hilft er dabei, die Bedeutung eines Problems zu ermessen. Durch seine Anwendung lässt sich unter Umständen feststellen, ob sich hinter einer Ausgangsfrage vielleicht nur ein Scheinproblem verbirgt oder ob es aus ähnlichen Gründen nicht lohnt, ihr nachzugehen. (2) Common-Sense-Betrachtung: Im Dienste der wissenschaftlichen Hypothesenbildung sollte dann die Common-Sense-Meinung zum jeweiligen Problem näher in Augenschein genommen werden: Wie erklärt sich der vom Konkreten ausgehende gewöhnliche Verstand den Sachverhalt? In welchen alltäglichen Situationen tritt er für dieses Vermögen zu Tage? Welche Zusammenhänge und Widersprüche existieren in der allgemein verbreiteten Auffassung? Da es hier gilt, das natürliche Vorverständnis zu berücksichtigen, ist der Common Sense auch in diesem Stadium in seiner Basisfunktion gefragt. (3) Wissenschaftliche Untersuchung: Es folgt die wissenschaftliche Erforschung des Problems. Dazu ist die Volksmeinung zu überschreiten bzw. vom Common-Sense-Bild zu abstrahieren. In dieser Phase muss unter Leitung der Vernunft systematisch und logisch gearbeitet werden. Gründlichkeit hat oberste Priorität. Jedes zu diesem Zeitpunkt erfol294
Die sokratische Methode ist in Anlehnung an die ‚Hebammenkunst‘ des Sokrates u. a. von Leonard Nelson entwickelt und seitdem auf vielfältige Weise in Lehre und Beratung eingesetzt worden. Vgl. Birnbacher, Dieter/Krohn, Dieter (Hg.): Das sokratische Gespräch, Stuttgart 2002; Marinoff, Lou: Sokrates’ Couch. Philosophie als Medizin der Seele, Düsseldorf 2000 (1999), S. 275 ff.
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gende Zugeständnis an die Popularität kann das spätere Ergebnis unbrauchbar machen. (4) Widerlegung durch Wissenschaft: Die Forschungsergebnisse müssen dann im Interesse ihrer Richtigkeit bzw. Mitteilbarkeit am Urteil weiterer Wissenschaftler sowie an anderen Theorien geprüft und, wo es sinnvoll erscheint, modifiziert werden. Dazu ist ein szientifischer Gemeinsinn gefragt bzw. das Bilden eines wissenschaftlich-allgemeinen Standpunktes. (5) Widerlegung durch Common Sense: Im Interesse von Wahrheit und Verallgemeinerbarkeit muss anschließend auch eine Probe am Common Sense erfolgen. Dazu ist ein unbegrenzt-allgemeiner Standpunkt erforderlich. Widerspricht ein wissenschaftliches Resultat dem gesunden Menschenverstand oder Beispielen aus seinem reichen Erfahrungsschatz, sollte auch dies Anlass zu erneuter Prüfung sein. Zwar ist es jederzeit möglich, dass die Wissenschaft den Common Sense hier eines Besseren belehrt. Aber auch der umgekehrte Fall kann nicht ausgeschlossen werden. Dann wird der Common Sense in seiner Orientierung gebenden Funktion als Korrektiv wirksam. (6) Ergebnisbegleitung: Schließlich muss der Common Sense bemüht werden, um die Bedeutung wissenschaftlicher Resultate richtig ermessen zu können, ihren Wert in Bezug auf das allgemeine Interesse, ihre Fruchtbarkeit oder ihren Nutzen. In diesem letzten Stadium muss auch für eine Einordnung der Erkenntnisse in den allgemeinen Wissenshorizont des Common Sense gesorgt werden. Darüber hinaus ist der Common Sense zur pragmatisch-klugen Anwendung der Ergebnisse im alltäglichen Leben unverzichtbar. Als Zielhorizont dient er zusätzlich als Maßstab für eine verständliche Vermittlung. Diese Aufstellung bildet nur eine grobe Skizze. Die Grundidee des Konzeptes besteht in einer Ergänzung, keiner Ersetzung der Wissenschaft durch den Common Sense. Ginge dieser Gedanke in (wissenschaftlichen) Common Sense über, könnte die Wissenschaft mit Sicherheit vom Common Sense profitieren. Als Moderator solcher Zwiegespräche ist die Philosophie am besten geeignet. Vielleicht kann sie durch eine verstärkte Ausübung dieser Vermittlungsfunktion wieder mehr Bedeutung erlangen.
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Personenregister Aufgenommen wurden hier nur die wichtigsten Autoren von Primärliteratur. Auf das Stichwort „Kant“ wurde aufgrund seiner Omnipräsenz verzichtet. Adorno, Theodor W. 16, 42 Aquin, Thomas von 32 Arendt, Hannah 42, 45, 185, 193, 197 Aristoteles 15, 31 ff., 37, 43, 45, 142, 227, 234, 262, 266 Avicenna 32 Ayer, Alfred Jules 42 f. Bacon, Francis 33 Basedow, Johann Bernhard 78, 86 Baumgarten, Alexander Gottlieb 38, 78, 106 Beattie, James 35, 37, 154, 256 ff. Beloselsky, Alexander Fürst von 91, 93 Berkeley, George 35 f. Brahe, Tycho 65 Camus, Albert 127 Cicero 32 f., 45, 191, 252 Comte, Auguste 43 f. Crusius, Christian August 38, 78, 83, 87 Cues, Nikolaus von 32 f. Deleuze, Gilles 112, 121, 146, 182 f. Descartes, René 15, 31, 34, 81, 83 Dilthey, Wilhelm 64, 241 Durkheim, Émile 44 Eberhard, Johann August 78, 253, 256 Engel, Johann Jacob 78, 86
Feder, Johann Georg Heinrich 78, 247 Feyerabend, Paul 43 Fichte, Johann Gottlieb 39, 205, 253, 270 Gadamer, Hans-Georg 35, 38, 42, 46, 91, 113, 118, 146, 182 f., 242 Galilei, Galileo 33 Garve, Christian 38, 78, 155, 247 f., 252 Gehlen, Arnold 42 Goethe, Johann Wolfgang von 218, 240, 246, 259 Habermas, Jürgen 16, 30 Hamann, Johann Georg 38, 78, 259 Hamilton, William 35 ff. Hawking, Stephen 221 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 15, 39, 106, 270 Herder, Johann Gottfried 37 f., 63, 72, 78, 188, 259 Herz, Marcus 68, 76, 248, 251, 259 Hippokrates 218, 224 Horkheimer, Max 16 Hufeland, Christoph Wilhelm 217 ff., 223 Hume, David 35 f., 78, 87, 154, 256 ff. Husserl, Edmund 44 Jacobi, Friedrich Heinrich 38, 78, 258 ff.
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Personenregister
James, William 40 ff. Juvenal 221 Kopernikus 27 Kuhn, Thomas Samuel 43 Lavater, Johann Caspar 259 Leibniz, Gottfried Wilhelm 10 f., 38, 78, 81, 83 f., 97, 253, 256 Leonardo da Vinci 33 Lessing, Gotthold Ephraim 258, 260 Locke, John 35 f., 78, 193 Lübbe, Hermann 30, 42 Lyotard, Jean-François 42, 112, 193, 197 Magnus, Albertus 32 Mannheim, Karl 44 Marcel, Gabriel 42 Marx, Karl 15, 39, 232 Meier, Georg Friedrich 78 Meiners, Christoph 78 Melanchthon 33 Mendelssohn, Moses 38, 46, 62, 78, 217, 247 f., 251, 258 ff. Mill, John Stuart 37 Moore, George Edward 43 Nicolai, Friedrich 259 Nietzsche, Friedrich 126 Oswald, James 35, 37, 154, 256 f. Paine, Thomas 21, 40 Peirce, Charles Sanders 40 f. Platner, Ernst 78 Platon 13, 196 Popper, Karl 42 f. Quine, Willard van Orman 271
Reid, Thomas 31, 35 ff., 41, 43, 154, 256 ff. Reimarus, Hermann Samuel 78, 87 Reinhard, Adolf Friedrich R. 83 Reinhold, Carl Leonhard 255 Rousseau, Jean-Jacques 46, 78, 87, 244 Russell, Bertrand 43 Sartre, Jean-Paul 127 Scheler, Max 44 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 39, 106 Schlettwein, Johann August 253 Schlosser, Johann Georg 253 Schmidt, Helmut 198 Schopenhauer, Arthur 106, 245 Schütz, Alfred 44 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of 35, 45, 242, 252 Smith, Adam 35 Soemmerring, Samuel Thomas von 55, 217, 226 f., 229 Sokrates 13, 88, 138, 234, 272 Spalding, Johann Joachim 78 Spencer, Herbert 44 Spinoza, Baruch de 129, 258 f. Stewart, Dugald 35, 37 Sulzer, Johann Georg 78 Tetens, Johann Nikolas 38, 78 Thales 13 Thomasius, Christian 38, 78 Vico, Giambattista 35, 45, 242 Weber, Max 44, 198 Wlömer 246 Wobser 88 Wolff, Christian 10, 38, 78, 80 f., 83, 253, 256, 259
Sachregister Gelistet sind nur die zentralen Begriffe. Nicht berücksichtigt wurde das Stichwort „Common Sense“, da nur wenige Seiten nicht von diesem handeln. als ob 102 f., 107, 118, 128, 173, 177, 208 Analogie 17, 23 f., 50, 60, 83, 90, 94, 98 f., 104 f., 108, 112, 114 f., 117, 120, 129 ff., 141, 145, 147 ff., 165, 169, 172 ff., 177 ff., 193 ff., 208, 219, 226, 236 f., 241, 252, 264 ff. Anthropologie 16, 42, 73 f., 75 ff., 82, 86, 113, 137, 139 f., 185, 193, 197, 225, 250 Antinomien 157 ff., 248, 253 Ästhetik siehe Geschmack Aufklärung 16, 18, 34, 38, 42, 47, 78, 81, 87, 161 f., 170, 201 f., 217, 219, 222, 227, 245, 250, 254 f., 258 f., 270 Bildung siehe Erziehung Biologie 123, 130 f. bon sens 14, 31, 33 f., 43 f., 54, 57, 60 ff., 91 f. common sense 14, 18, 20 ff., 31 ff., 47, 53 Common-Sense-Philosophie, schottische 15, 35 ff., 78, 87, 154, 249, 253, 256 f., 261 Denkungsart, erweiterte 104, 106, 114, 117, 130, 149, 151, 162, 164, 197, 225, 238, 243, 265 (siehe auch Maximen des gemeinen Menschenverstandes und allgemeiner Standpunkt) Diätetik 218 ff.
Egoismus 25, 36, 52, 118, 139, 149, 163, 224, 238, 254 Einbildungskraft 96, 101, 109 ff., 120 f., 170 ff., 179 ff., 207, 237, 242, 265 Erfahrung 14 ff., 22 ff., 40 ff., 47 ff., 54 ff., 68, 71, 75 ff., 79, 84 ff., 89 ff., 93 ff., 102, 106, 112, 114 f., 117 f., 120, 129, 139, 142 f., 145, 150 f., 152 ff., 169 ff., 178 ff., 188 ff., 214, 220 ff., 228 f., 234 f., 244, 256 ff., 262, 268, 273 Erhabenheit 42, 74, 100, 109 ff., 129 ff., 147, 150 f., 154, 182, 184, 197, 265 Erziehung (inkl. Bildung, Pädagogik, Schule) 26, 29, 33, 35 f., 38 f., 66, 75 ff., 78 ff., 82 f., 86 f., 137 ff., 151, 168, 185, 199, 204, 227, 232 ff., 239, 243 f., 249, 251 ff., 268, 270 Ethik siehe Moral Fakultäten 5, 86, 202 ff., 211, 214, 217 f., 225, 239 f., 250, 269 – obere 18 f., 66 ff., 185, 198 ff., 227 ff., 268 – untere Fakultät 18 f., 69 ff., 185, 198 ff., 227 ff., 251, 270 Fürwahrhalten 165 f., 175 ff., 207, 238 Gefühl 21, 28 f., 52, 73, 74 f., 100 ff., 119 f., 126, 130, 146 ff., 163, 175, 179 f., 190, 209, 214, 217, 233, 236, 258 f., 265
290
Sachregister
Geisteswissenschaften 121, 232, 241 f., 268 Gemeinsinn 14, 17 f., 20 ff., 25, 30, 31, 35, 37 ff., 42, 45 f., 47, 52, 54 ff., 64, 89 ff., 100 ff., 126, 129 ff., 132, 146 ff., 152, 162, 166, 178, 186, 194 f., 198, 224 ff., 236 ff., 242 ff., 245, 254, 260, 262, 265 ff. – ästhetischer 17, 42, 54, 62, 100 ff., 120, 129 ff., 146, 182, 184, 197, 265, 268, 272 – empirischer siehe gemeiner/gesunder (Menschen)Verstand und gemeine/ gesunde (Menschen)Vernunft – historischer 242 – juridischer 194, 215 ff., 239 – logischer 54, 56, 61 f., 105 f., 109, 112 f., 120, 178 ff., 265, 267 – medizinischer 222 ff., 266 – moralischer 112, 132, 146 ff., 184, 194, 209, 242, 265, 267 – philosophischer 232, 235 ff., 269 – politischer 42, 194 ff., 216, 239, 266, 269 – religiöser 129 f., 209 f., 216, 239, 266 – szientifischer 273 – teleologischer 105, 112, 120 f., 127 ff., 148 f., 182, 184, 194, 209 f., 216, 224, 242, 265 Gemeinwesen 45 – juridisches 210, 216 f. – politisches 210, 266, 269 – religiöses 207, 210, 266 – wissenschaftliches 239, 266 Geographie 75 ff., 82, 86, 250 Gerechtigkeit 56, 67, 113, 117, 120, 194, 211 f., 216, 228 Gerichtshof 67, 160 ff., 246 Geschichtswissenschaften 122, 185, 193, 238, 242, 250, 265 Geschmack 17, 38, 45, 55 f., 62, 72, 74 f., 79, 82, 85 f., 91, 98, 100 ff., 119, 124, 130 f., 140, 146 ff., 163 f.,
179, 181 ff., 197, 214, 224, 244 ff., 250 ff., 254, 263, 265, 267 (siehe auch ästhetische Urteilskraft) Geselligkeit 75, 88, 101, 118, 125 Gesundheit 21, 52, 68, 202 ff., 217 ff., 230, 266 Gleichheit 150, 254, 270 Gott siehe Theologie Humanismus 32 f., 35, 44 f., 118, 242, 266 Humanität 118, 239, 242, 266, 268 Humboldt-Universität zu Berlin 5, 218, 232, 269 f. Hypothesen 24, 29, 41, 48, 95, 98 f., 108, 120, 122, 128, 131, 172 ff., 181 f., 206 f., 272 Imperativ, kategorischer 133, 135, 142, 146 ff., 196 Induktion 24, 50, 79, 84, 94 f., 177, 264 Instinkt 32, 45, 52 intellectus communis 54, 56, 61 f. Interesse, allgemeines 32, 79, 85 f., 156, 167 f., 189 f., 231, 240, 251, 272 f. Intuition 29, 33, 36, 45, 52, 108, 246, 251 Klugheit 14, 21, 29, 34, 37, 50, 67, 79, 122, 133, 143, 145, 149 f., 164, 175, 187 ff., 212 ff., 222, 224, 243, 251, 263, 267, 269, 273 koine aisthesis 31 f., 37, 45, 227 Kritik 14, 16, 18, 29, 34 f., 37 ff., 47, 49, 56, 58, 76, 81 ff., 89, 95, 101 f., 104, 106, 112, 115 ff., 124, 128, 131, 132, 138 f., 142, 145, 146, 150 ff., 153 ff., 177 f., 183, 187 f., 193, 195, 197, 200, 204, 206, 210 f., 214, 222, 228 ff., 233 ff., 246, 249 f., 252 ff., 262 ff., 269, 271
Sachregister Kultur 21, 27, 30, 78, 103, 114, 122, 124 ff., 130, 185, 232, 239, 243, 266, 268 links 132, 135, 228, 239, 241 Logik 39, 60, 70 f., 79, 85, 98, 105 f., 115, 119 f., 149, 159, 163, 168 f., 224, 230, 232, 234 ff., 251, 254, 272 Lust 101, 105, 108 ff., 120 f., 150, 179 f., 265 Mathematik 71, 79, 83, 111, 120, 154, 175 ff., 238, 267 Maxime 41, 58, 95, 119, 128, 133, 135 ff., 141 ff., 147 ff., 175, 186, 191, 195 f., 198, 236, 260, 267 – Maximen des gemeinen Menschenverstandes 104, 106, 115, 117, 149, 164, 197, 229, 271 f. Medizin 17 f., 27, 66, 68, 80, 185, 198 ff., 217 ff., 236, 238, 244, 250, 265 f., 268, 272 Meinen/Meinung 24 f., 27, 32, 40, 46, 48, 52, 72, 75, 104, 114, 141, 159 ff., 165 f., 175 ff., 178, 189, 191, 200 f., 207, 210, 226, 234, 236 ff., 259 f., 262, 267, 271 f. (Menschen)Vernunft, (all)gemeine 37 f., 47 ff., 53 ff., 71, 75, 79, 93, 103, 107, 113, 128, 132 ff., 149, 152 ff., 183, 191, 196, 202, 205 f., 211, 228 f., 231 f., 260 f., 270 – gesunde 49, 53 ff., 66, 69 ff., 79, 84, 93, 113, 128, 143, 154, 202, 212, 228, 260 – natürliche 33, 53, 58 f., 61, 66, 93, 134, 202 (Menschen)Verstand 47, 53 f., 69, 203, 260 – (all)gemeiner 13, 28, 37 f., 46, 47 ff., 53 ff., 67, 70, 73 f., 84, 93, 103 ff., 109, 113, 115, 128, 133 ff., 140, 142, 148 f., 151, 153 ff., 179, 182 f., 197, 201 ff., 205, 211, 229 f., 260, 267, 271
291
– gesunder 5, 13 ff., 20 ff., 31, 34, 37, 39, 44 ff., 47, 49 ff., 53 ff., 65, 67, 72, 77, 78 f., 88, 91 f., 104 f., 109, 113, 122, 128, 135, 152 ff., 184, 186, 189, 191 ff., 200, 203 f., 212 f., 220 f., 225, 228 ff., 232, 235, 241, 243, 244 f., 251, 256, 259, 261, 262 ff. – natürlicher 5, 34, 38, 48 f., 53 f., 56 f., 61, 73, 87, 135, 198, 225, 230, 263, 267 Metaphysik 36, 38, 43, 59, 71 f., 76, 82, 84 f., 97, 116, 138, 152 ff., 173, 175, 177 f., 183, 206, 218 f., 226, 230 f., 234, 238, 248, 250, 253, 256, 259 ff., 263, 267 Methode 22 ff., 31, 34, 41, 43 f., 51, 69, 71, 79 f., 82 ff., 154, 159, 200, 204, 214, 232 ff., 242, 246, 249, 251 ff., 259, 264, 272 Mitteilbarkeit 101, 105 ff., 116, 125 f., 147 ff., 163, 166, 170, 179 f., 182, 194 f., 209, 215 f., 222 ff., 235 ff., 240, 245, 252, 265, 273 Moralphilosophie (inkl. Moral, Ethik) 16 f., 25, 32, 35 f., 39, 42, 45 f., 57, 59 f., 66 f., 73 ff., 76, 85 f., 89, 100, 109 ff., 116 ff., 122, 127 ff., 132 ff., 159, 161, 163, 166 ff., 175 f., 178 ff., 185 ff., 201, 205, 207 ff., 212, 215, 217, 219, 223 f., 230, 236, 238, 242 ff., 248, 250, 254, 263, 265 ff. Mutterwitz 48, 59, 80, 91, 174 f., 181, 267 Naturalismus 154, 206, 237, 264 Naturwissenschaften 29, 41, 44, 84 f., 123, 130, 177, 231, 241 f., 268, 270 Öffentlichkeit 13, 72, 83, 86, 116, 160 ff., 191, 195 f., 199 ff., 203, 209, 212, 216 f., 225, 236 ff., 245, 253, 266 Orientierung 21 ff., 29 f., 31 f., 41, 43, 48 ff., 62, 66, 71 f., 77 f., 84 f.,
292
Sachregister
88, 91, 96, 108, 123, 130 f., 135, 140 f., 149, 151, 160, 165 ff., 170, 172 f., 175 ff., 180, 183, 185, 189 ff., 193, 202, 204, 206, 212, 216, 220, 229 ff., 233, 241, 245, 250 f., 258 ff., 263 f., 267 ff. Pädagogik siehe Erziehung Pantheismusstreit 256, 258 ff. Philosophie 5, 13 ff., 21, 23 f., 31 ff., 47, 59, 62, 64, 69 ff., 78 ff., 89, 106, 112 ff., 121 f., 124, 126, 129 ff., 132, 134 ff., 139 f., 142, 150 f., 152, 154 f., 158 f., 163 f., 166 ff., 169 f., 176 ff., 183 f., 185, 191 ff., 196 f., 198 ff., 204 f., 210 f., 217 ff., 223 ff., 227 ff., 244 f., 248 f., 251 ff., 262 ff. – nach dem Weltbegriffe 122, 167 ff., 230 ff., 252 f. Physik 175, 200 Politik 16 f., 19, 26, 30, 31 f., 40, 42, 46, 90, 114, 124, 163 f., 185 ff., 209 f., 216, 227 ff., 236, 239, 244, 250, 265 f., 269 ff. populär 15 f., 26, 35 f., 38, 40 f., 64, 72, 80, 83 f., 86 f., 134, 137 ff., 154, 157, 185, 191, 205, 236, 244 ff., 264, 266 f., 271, 273 Popularphilosophie 18 f., 38 f., 64, 77, 78 ff., 138, 155, 185, 244 ff., 263 f. pragmatisch 16, 23, 29, 35, 41, 48, 50, 73, 75 ff., 79, 86, 114, 122, 137, 139, 145, 149 f., 164, 185 ff., 208 f., 212 ff., 221, 223 f., 242 f., 250 f., 253 f., 263 f., 267 ff., 271, 273 Pragmatismus, amerikanischer 15, 40 ff. Psychologie 34, 44, 72, 90, 159, 175, 180, 220, 224 ff., 246, 261, 266 Publizität 191, 195 f., 201, 216, 245 Recht (inkl. Jura, Legalität, Rechtsgelehrsamkeit, Rechtslehre, Rechtswissenschaft etc.) 18, 28, 45 f.,
66 ff., 85, 126, 138, 141, 144, 150, 160, 185 ff., 198 ff., 210 ff., 218, 222 f., 227 ff., 236 ff., 244, 249, 265, 268 f. recta ratio 54, 59, 61 ff. Reflexion 23, 25, 28, 42, 52, 73, 90, 94 ff., 101 ff., 119 f., 125 ff., 130 f., 144, 146 ff., 169 ff., 176, 178, 180 ff., 191, 193, 202, 208 f., 216, 222, 234 f., 264, 266, 268 (siehe auch reflektierende Urteilskraft) Religion siehe Theologie Rhetorik 28, 32, 39, 82, 84, 167, 191 sana ratio 54, 59, 61 ff. Schematismus 94 ff., 156, 170 ff., 178 ff., 208 Schönheit siehe Geschmack Schule siehe Erziehung Selbstdenken 25, 38, 79, 81, 99, 104, 115, 122, 140, 164, 219 f., 227, 238, 249, 254 sens commun 14, 31, 33 f., 54, 56, 61 f. sensorium commune 55, 225 ff., 240, 266 sensus communis siehe Gemeinsinn bzw. gesunder Menschenverstand sensus vulgaris 54 ff., 61 f. Sinn 14, 21, 23, 25, 29 f., 31 ff., 43, 45 f., 49 f., 52, 53 ff., 67, 101, 104 f., 109, 113, 117, 123, 126, 130 f., 135, 148, 172, 174, 196, 212, 226, 231, 233, 240, 242, 247, 262, 266 ff. – allgemeiner 21, 25, 53, 56, 61, 225 – gemeinschaftlicher 30, 35, 42, 44 f., 52, 53, 56, 60 ff., 75, 103 f., 113, 181 (siehe auch Gemeinsinn) – innerer 31 f., 45 f., 52, 55, 113, 226 f. – Sinn des Lebens 124 ff., 130 Sinnlichkeit 34 f., 38, 57, 72, 74 f., 117, 134, 141 f., 146, 155, 158, 170 f., 176, 179, 183, 208, 260
Sachregister Sprichwörter 25, 49, 52, 57, 93, 112 Standpunkt, allgemeiner 25, 52, 75, 103 f., 116 ff., 129, 149, 151, 162 f., 166, 190, 195, 224, 237 ff., 243, 262, 265, 267, 273 Stil 79 ff., 104 f., 152, 245 ff., 254 Stoa 32, 35, 218 f. Theologie (inkl. Glaube, Gott, Religion) 18, 27, 30, 33, 36 ff., 51, 60, 66 f., 73, 79, 82, 85 f., 95, 114, 122, 124, 127 ff., 158, 160, 165 ff., 173, 176 ff., 185, 192, 198, 200 ff., 204 ff., 210, 215 f., 220 ff., 226 f., 229 f., 236, 238 f., 242, 244, 250 f., 254, 258 ff., 265 f. Tugend 30, 35, 45 f., 136, 138 ff., 141, 145, 159, 223 Typik 141, 146 ff., 171, 181 Überzeugung 21, 23 ff., 41 ff., 46, 49, 51, 75, 92, 99, 102, 107, 112, 114, 129 f., 156, 159 f., 166 f., 176 f., 189 ff., 203 f., 205 ff., 209, 230, 249, 262, 271 Urteile, vorläufige 48, 83, 98 f., 108, 131, 174 ff., 181, 222, 234, 238 Urteilskraft 20 ff., 32, 34, 36 ff., 48 ff., 54, 57, 67, 89, 90 ff., 93 ff., 104 f., 108 f., 115, 122 ff., 130, 137, 139 f., 141 ff., 151, 164, 169, 173 f., 180 f., 185 ff., 206 f., 213 f., 221, 224, 233, 242 f., 265, 268 f. – ästhetische 39, 55, 95, 99, 100 ff., 120, 149, 179, 181 f., 184, 197, 244, 264 f., 268 (siehe auch Geschmack) – bestimmende 89, 93 ff., 105, 108, 110, 117, 119 ff., 141 ff., 146 f., 149, 151, 169 ff., 178 f., 191 ff., 206, 208 f., 213, 215, 222 f., 232 f., 235, 242 f., 264 f. – empirische 50, 90, 179, 181, 192, 264 – gesunde 60 – historische 242, 265
293
– intellektuelle 105, 113 – juridische 192, 194, 213 ff., 223, 265 – medizinische 221 ff., 265 – moralische 117, 141, 143 f., 146 ff., 184, 192 ff., 208 f., 242, 265 – natürliche 14, 21, 45, 90 f., 180, 262 – philosophische 232 ff., 265 – politische 187 ff., 209, 265 – praktische 89, 117, 128, 140 ff., 146, 148, 151, 179, 184, 192, 210, 265 – reflektierende 17 f., 50, 89 f., 93 ff., 105, 108, 118 f., 121, 123 ff., 140 ff., 146 ff., 152, 166, 169 ff., 178, 180 f., 183 f., 191 ff., 206 ff., 213 ff., 222, 224, 232 ff., 241 ff., 245, 262, 264 ff. – religiöse 128 ff., 206 ff., 223, 265 – teleologische 95, 99, 105, 118 ff., 145, 148, 173, 180, 182, 184, 192, 210, 216, 222 f., 241 f., 265 – theoretische 89, 128, 152, 169 ff., 178 ff., 265, 267 – transzendentale 90, 94, 97, 179 ff., 264 Vergleich 24, 50, 68, 94, 99, 101, 103, 125, 139, 144, 147, 161, 165, 169, 171, 173 f., 176 f., 180, 264, 267 Vernunft 13, 15 ff., 32 ff., 54 ff., 64, 67, 69 f., 71, 73 ff., 84 f., 90 ff., 96, 99, 104, 111 f., 117, 119 f., 122, 124, 127 ff., 132, 133 ff., 141 ff., 146 ff., 153 ff., 170, 172 ff., 182, 186 ff., 199 ff., 204 ff., 210 ff., 219, 221, 223, 227 ff., 246, 248, 252, 256, 258 ff., 264 f., 270, 272 Verstand 5, 21 ff., 33 f., 36 ff., 47 ff., 53 ff., 68, 70 ff., 87 f., 90 ff., 93, 95, 99, 101, 104, 109 ff., 120 ff., 134, 141, 146 ff., 153 ff., 169 ff., 179 ff., 189 f., 194, 201, 204, 205 f., 216,
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Sachregister
221, 225, 229, 232 f., 235, 237, 245, 252, 258 f., 262 ff. Volksempfinden, gesundes 213 Vorurteil 14, 16 f., 25, 33, 40, 44, 46, 48, 57, 65, 70, 99, 164, 176 f., 229 Wahrheit 14, 26 f., 31, 33, 35 f., 39 ff., 45 f., 48, 55 f., 66, 72, 80 f., 83, 95, 109, 113, 153, 157, 159 ff., 163, 165 f., 172, 175, 177 f., 184, 188, 199 f., 227 ff., 233 ff., 248, 254, 257, 259, 265, 267, 269, 271, 273 Wahrscheinlichkeit 23, 25 f., 29, 79, 83, 177, 267 Weisheit 21, 25 f., 43, 80, 83, 115, 137, 151, 164, 168, 187 f., 199, 208, 220, 231 ff., 236, 243, 262, 271 (siehe auch Weltweisheit)
Weltkenntnis 23, 75 ff., 84, 86, 164, 190, 243 Weltweisheit 79, 151 Wille 132 ff., 141 ff., 146 ff., 210 f., 223, 245, 249 – allgemeiner/gemeinschaftlicher (Volkswille) 45 f., 126, 191, 196, 210, 216 f., 239, 266 Wirtschaft 30, 124, 198, 220, 223, 232, 268 Witz 16, 35, 49, 80, 154, 173 ff., 203 Zweckmäßigkeit 23, 45, 50, 90, 95, 99, 100 f., 104, 106, 111, 118 ff., 145, 148, 150, 173, 184, 188 f., 191, 222, 233, 235, 238, 245, 264 f., 266, 268 (siehe auch teleologische Urteilskraft) Zyklop 163, 238