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German Pages [340] Year 2020
Emanuel John
Die Negativität des Sittlichen Zur Überwindung ethischen Leides
BAND 95 PRAKTISCHE PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495820698
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Alber-Reihe Praktische Philosophie Unter Mitarbeit von Jan P. Beckmann, Dieter Birnbacher, Sabine A. Döring, Andrea Esser, Heiner Hastedt, Konrad Liessmann, Guido Löhrer, Ekkehard Martens, Julian Nida-Rümelin, Peter Schaber, Oswald Schwemmer, Ludwig Siep, Dieter Sturma, Jean-Claude Wolf und Ursula Wolf herausgegeben von Bert Heinrichs, Christoph Horn, Axel Hutter und Karl-Heinz Nusser Band 95
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Emanuel John
Die Negativität des Sittlichen Zur Überwindung ethischen Leides
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Emanuel John The Negativity of Ethical Life On Overcoming Ethical Suffering Does an ethical way of encountering problems and conflicts that bring about suffering have any relevance for persons, whose life is shaped by traditions, pursuing interests and technical developments? Aren’t technical and strategical means much more efficient for overcoming suffering? Approaches responding to such questions by providing formal principles, a concept of human life or a social form of life, proof to be insufficient, because they cannot provide an understanding of the particular experiences and claims of persons. In contrary, an approach of negative metaphysics, developed in this inquiry in terms of negative ethics, departs from the free person, who is vulnerable and disposed to evil. In consciousness of ethical suffering, encountering problems and conflicts ethically turns out to be meaningful. Furthermore, problems and conflicts can be grapsed as contradictions to the universal claims of practical reason. Based on an understanding of the consciousness of ethical suffering, ethical subjectivity is then to be understood in the expression of lament about suffering. Ethical deliberation is to be traced back to the act of negating suffering. Ethical progress has to be conceived as a process in which suffering is overcome and a new way of realizing universal claims of practical reason is developed.
The Author: Emanuel John is Senior Lecturer for Ethics and Intercultural Competence at the University of Applied Sciences for Public Administration and Management of North Rhine-Westphalia. He received his PhD from Potsdam University.
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Emanuel John Die Negativität des Sittlichen Zur Überwindung ethischen Leides Hat für Personen, deren Leben durch kulturelle Traditionen, Einzelinteressen und technische Entwicklungen geprägt ist, eine ethische Auseinandersetzung mit ihrem Leiden an Problemen und Konflikten eine Bedeutung? Sind strategische und technische Lösungen zur Überwindung des Leides nicht viel effizienter? Ansätze, die diese Frage in Begriffen formaler Prinzipien, menschlicher Lebensformen oder sozialer Praktiken behandeln, erweisen sich als unzureichend, weil sie die singulären Erfahrungen und Ansprüche einzelner Personen nicht einbegreifen können. Eine Denkweise negativer Metaphysik, die in dieser Abhandlung in Form einer negativen Ethik entwickelt wird, geht hingegen von der einzelnen Person aus, deren Freiheit die Möglichkeit zum Bösen beinhaltet und die der Gefahr, verletzt zu werden, ausgesetzt ist. Die Bedeutung einer ethischen Auseinandersetzung mit Problemen und Konflikten im Sittlichen zeigt sich dann im Bewusstsein ethischen Leides. Darin werden sie als Widerspruch zum Anspruch praktischer Vernunft, das allgemein und unbedingt verbindlich Gute zu realisieren, begriffen. Ausgehend davon, ist ethische Subjektivität in der Klage über Leid zu begreifen, worin der Widerspruch von Allgemeinem und Partikularem artikuliert wird. Daraus folgt ein Verständnis ethischer Überlegungen als Negation von Leid und ethischer Fortschritt als Überwindung von Leid, worin eine neue Auffassung von deren Verhältnis und der Wirksamkeit praktischer Vernunft hervorgeht.
Der Autor: Emanuel John ist Dozent für Ethik und Interkulturelle Kommunikation an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW und promovierte mit vorliegender Abhandlung an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam.
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Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 816681/GRK1185
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49059-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82069-8
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Die Grenze ethischen Denkens Kapitel 1: Normativer Anspruch und kritische Reflexion I. Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute II. Die Formanalyse ethischen Wissens . . . . . . . III. Der Bezug auf praktische Umstände . . . . . . .
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Kapitel 2: Sittlichkeit und Person . . . . . . . I. Die immanente Analyse der Moral . . . II. Die substantielle Deutung der Sittlichkeit III. Die formale Deutung der Sittlichkeit . .
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. 70 . 71 . 83 . 102
Kapitel 3: Verdrängung und Freiheit I. Die Verdrängung der Person . II. Die Freiheit der Person . . . . III. Die Verletzlichkeit der Person
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Kapitel 4: Ethisches Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das praktische Bewusstsein als Bewusstsein vom Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil: Der Anfang ethischen Denkens
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Inhalt
II. III.
Das Bewusstsein ethischen Leides als Verhältnis zum Sittlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klage über ethisches Leid als Ausdruck von Freiheit . .
Kapitel 5: Praktische Negation . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Negation von Leid als Anfang ethischer Überlegungen II. Ethische Argumente als Interventionen . . . . . . . . . III. Solidarität als Form ethischer Überlegungen . . . . . .
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Kapitel 6: Ethischer Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ethischer Fortschritt als praktische Entwicklung . . . . . . II. Ethischer Dialog als Überwindung ethischen Leides . . . .
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Literatur
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister
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Einleitung
1.
Das Leben in der Ethik
Für die Beantwortung der Frage, worin ein gutes, gelingendes Leben besteht, bietet sich in einer Untersuchung der philosophischen Ethik die Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen an. So ist die Meinung, die Berücksichtigung der individuellen Lebensführung einer Person sei mit dem Respekt vor deren Wünschen und Interessen verbunden, weit verbreitet. Ebenso häufig wird man der Ansicht begegnen, dass nur durch Aufrechterhaltung kultureller Traditionen und Gemeinschaft das Leben einer Person gelingen kann. Eine weitere verbreitete Annahme besteht darin, dass die Entwicklung technischer Mittel sich verbessernd auf verschiedene Lebensbereiche der Menschen auswirken kann. Gegeben, dass die Lebensumstände von Personen zuvorderst durch das Verfolgen individueller Wünsche und Interessen, das Erlernen kultureller Gepflogenheiten und die Anwendung technischer Mittel geprägt sind, argumentiert diese Abhandlung, dass das Sittliche, was die Weise des Lebensvollzugs einer Person bestimmt, in Reduktion auf diese drei Aspekte unvollständig begriffen wird. Es wird hingegen gezeigt, dass die Beantwortung der Frage nach dem gelingenden Leben eines Verständnisses des ethisch Guten bedarf, das allgemein ist, weil es über die konkreten Prägungen des Lebensvollzugs einer Person hinausgeht, und das unbedingt verbindlich ist, weil es andere Antworten ausschließt und als Gründe für ein Misslingen des Lebens begreift. Einige Ansätze der philosophischen Ethik verfolgen diesen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit, indem sie einen Standpunkt formulieren, der in Abstraktion von den vielfältigen Interessen und Wünschen, kulturellen Traditionen und technischen Mitteln als fester und ruhiger Bezugspunkt verstanden wird. Die verschiedenen Ansätze werden dann in den Begrifflichkeiten unterschieden, in denen ein solcher Standpunkt formuliert wird. Die Negativität des Sittlichen
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Einleitung
Ansätze einer Tradition nehmen sich etwa vor, diesen in einem Begriff vom gedeihenden menschlichen Leben zu fassen, der dann etwa in einem Verständnis von Tugenden dargestellt wird. Andere gehen hingegen von universellen, moralischen Prinzipien aus, die als Maßstab für moralische Verpflichtungen dienen. Die Aufgabe der philosophischen Ethik bestünde dann darin, im argumentativen Streit für und wider verschiedene Standpunkte eine Stellung zu beziehen. Doch gehen wir zunächst von unbegriffenen und unüberwundenen praktischen Problemen, Konflikten und Widerständen aus, die dem Gelingen des Lebens einer Person entgegenstehen, somit Leid hervorrufen, wirkt der Streit der Ethik um verschiedene Standpunkte leer. Verharrt man in diesem Streit, wundert es nicht, wenn wiederum die Auffassung verbreitet ist, wonach der Gedanke vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten für das Leben einer Person nicht relevant sei, da dessen Gelingen viel besser in Bezug auf partikulare Wünsche oder Interessen, eine kulturelle Tradition oder durch Anwendung technischer Mittel zu verstehen sei, die das Leben einer Person unmittelbar prägen und darin wirken. Um nun solchen Auffassungen ihre Überzeugungskraft zu nehmen, ist zu zeigen, dass für die einzelne Person in ihrem Lebensvollzug ein Verständnis dessen, was allgemein und unbedingt verbindlich gut ist, eine Bedeutung hat. Dies ist durch die Abstraktion auf einen Standpunkt als fester Bezugspunkt für ethische Urteile und Begründungen nicht zu leisten, da dann die Realität des partikularen Lebensvollzugs einer Person, somit die Probleme, Konflikte und Widersprüche, die sie prägen, aus dem Blick geraten. Folglich hat diese Untersuchung zunächst von der negativen Einsicht auszugehen, dass die philosophische Reflexion keinen Standpunkt begründen und formulieren kann, der einer Person als ruhiger und fester Bezugspunkt inmitten von praktischen Problemen, Konflikten und Widerständen dienen kann. Hingegen gilt es zu zeigen, wie eine Person diese, die Unruhe, Unstetigkeit und Leid in ihrem Lebensvollzug hervorrufen, überwinden kann. Indem wir uns dieser negativen Einsicht stellen, scheinen wir jedoch in ein Dilemma zu geraten. Entweder müssen wir unsere Auffassung davon, was es heißt, philosophische Ethik zu betreiben, dahingehend ändern, dass der ethische Anspruch, die Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit einer Vorstellung des ethisch Guten zu begründen, aufgegeben wird. Diese kann dann nur Weisen des Umgangs mit praktischen Problemen, Konflikten und Widersprü10
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Ethischer Subjektivismus
chen diskutieren, die Bezug auf partikulare Wünsche und Interessen, tradierte kulturelle Normen oder technische Fertigkeiten nehmen. Oder aber wir müssen auf die negative Einsicht reagieren, indem wir gegen sie selbst Argumente vorbringen und wiederum für einen Stand- oder Orientierungspunkt argumentieren, der durch die praktischen Probleme, Konflikte und Widersprüche, mit denen eine Person konfrontiert ist, nicht in Frage gestellt werden kann. Aufgrund dieses Dilemmas wird die philosophische Ethik also entweder verflacht und unfähig den Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit zu stellen oder sie wird unfähig, konkrete praktische Probleme, Konflikte und Widersprüche zu begreifen, weil sie vom partikularen Lebensvollzug einer Person abstrahiert. Ein Ausweg aus diesem Dilemma besteht in den folgenden Schritten: Erstens ist eine Hinwendung zur einzelnen Person zu vollziehen. Zweitens ist zu zeigen, dass damit ein Verständnis des allgemein, unbedingt verbindlich Guten einhergeht, das die Pluralität der Auffassungen vom guten Leben und die Vielfalt der Erfahrungen einbegreift. Entsprechend wird in dieser Abhandlung ein Verständnis der negativen Einsicht dargestellt werden, für das der ethische Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit des Verständnisses des Guten genauso unabweisbar ist, wie die Pluralität von Vorstellungen vom guten Leben, die mit jeweils verschiedenen praktischen Problemen, Konflikten und Widerständen konfrontiert werden können.
2.
Ethischer Subjektivismus
Die negative Einsicht, die zur Kritik von ethischen Standpunkten führt, die vom Lebensvollzug einzelner Personen abstrahieren, geht Hand in Hand mit einer Kritik einer bestimmten Auffassung von Metaphysik und Ethik. Gegenstand der Kritik ist die Auffassung von Metaphysik und der damit zusammenhängenden Auffassung von Ethik, die bestrebt ist, eine theoretische Fundierung eines Begriffs des guten Lebens zu liefern. Im Rahmen einer solchen Auffassung von Metaphysik und Ethik wird Philosophie dann mit dem Anspruch betrieben, partikulare Lebensvollzüge in einer vernünftigen Ordnung der Welt vorzustellen, etwa indem normative Eigenschaften von Handlungen oder ein Endzweck, auf den hin diese geordnet sind, angegeben werden. David Hume, und in erneuerter Form der logische Die Negativität des Sittlichen
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Einleitung
Positivismus, formulieren eine Kritik an einer solchen Auffassung von Metaphysik und Ethik in einem empiristischen Sinnkriterium. Danach sind Normen, Zwecke oder Werte nicht als Teil der Welt zu verstehen, die durch die Naturwissenschaften beschrieben werden können, weshalb diesen keine Objektivität zukomme. Daraus folgt: Wertaussagen oder Sollsätze haben kein Objekt, mit dem sie korrespondieren, sondern bringen allein die subjektive, zufällige evaluative Haltung einer Person zum Ausdruck. 1 Mit dieser Kritik von Metaphysik und Ethik geht jedoch zugleich eine Wende zum Leben in der Ethik einher, insofern jegliche Art der Begründung oder Theorie über solche Aussagen, in Bezug auf eine höhere normative Ordnung der Welt oder einen Endzweck menschlichen Lebens, als sinnloses, wenn nicht gar schädliches Unterfangen betrachtet wird. Dem empiristischen Sinnkriterium und der daraus folgenden Kritik von Metaphysik und Ethik wird in vielfachen Widerlegungen seine Überzeugungskraft genommen, indem es seiner eigenen Naivität und seines eigenen Dogmatismus in Bezug auf die zugrunde gelegte Auffassung von Aussagen und Tatsachen überführt wird. 2 Der Einfluss dieser Kritik der Metaphysik und Ethik wirkt jedoch in den Antworten, die sie hervorruft, fort. Als Antworten darauf sind Ansätze zu verstehen, die versuchen, eine positive Bestimmung der Allgemeinheit oder Objektivität von Wertaussagen in die zufälligen, subjektiven evaluativen Haltungen sowie Vorstellungen vom guten Leben hineinzutragen. Es lassen sich drei Arten solcher Antworten unterscheiden: (1) Die erste Art der Antwort bestreitet nicht die Unterscheidung zwischen der Subjektivität von Wertaussagen und der Objektivität naturwissenschaftlicher Tatsachen. Unter diese Art der Antwort fallen einmal naturalistische Erklärungen menschlichen Verhaltens, wonach Ethik, Gesellschaft und Geschichte aus der natürlichen Beschaffenheit des Menschen, vor allem durch die Biologie, erklärt werden. 3 Solche Erklärungen sind in den letzten Jahrzehnten in den neu ent1 Vgl. Alfred Jules Ayer: Language, Truth and Logic. Oxford 1936, Kapitel 6, und Rudolf Carnap: Scheinprobleme der Philosophie. In: Ders.: Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphysikkritische Schriften. Hamburg 2005. 2 Vgl. Willard van Orman Quine: Two Dogmas of Empiricism. In: Ders.: From a Logical Point of View. Cambridge Mass. 1953. 3 Vgl. Frans De Waal: Good Natured: The Origing of Right and Wrong in Primates and other Animals. Cambridge Mass. 1996, Edgar Zilsel: Physics and the Problem of
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standenen Neurowissenschaften formuliert worden, wobei unter anderem eine Reformierung des Rechtssystems vorgeschlagen wurde. 4 Zudem fallen unter diese Art der Antwort auch Positionen, die allgemeine oder objektive Begründungen von Wertauffassungen durch eine Konzeption instrumenteller Rationalität begründen. Solche Begründungsweisen finden sich zum Beispiel in ökonomischen Entscheidungstheorien oder in manchen utilitaristischen Ethiken. Diese Begründungsweisen von Ansprüchen auf Allgemeinheit und Objektivität in der Ethik beziehen sich auf Tatsachen oder Kompetenzen, die dieser selbst äußerlich sind, weil sie sich auf Aussagen und Erkenntnisse anderer Lebensbereiche und Wissenschaften beziehen. Dagegen wollen wir hier eine genuin ethische Untersuchung durchführen, die zeigt, was ein gelingendes Leben und die Fähigkeit zum guten Handeln ausmacht. (2) Die zweite Art der Antwort geht von einer Pluralität zufälliger, subjektiver Wertauffassungen und Vorstellungen des guten Lebens aus, versucht aber, den Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit in der Ethik durch eine formale Auffassung des moralischen Diskurses oder der Fähigkeit zur Reflexion wieder einzuführen. Zugrunde gelegt wird eine terminologische Unterscheidung von Ethik und Moral. Unter die Ethik fallen demnach zufällige Vorstellungen des guten Lebens und unter die Moral allgemeine Prinzipien. Nach Jürgen Habermas wird etwa durch eine »Verfahrensrationalität« 5 ein gleichberechtigter, argumentativer Austausch und ein Konsens über die Prinzipien des Zusammenlebens von Personen mit verschiedenen zufälligen Vorstellungen vom guten Leben möglich. Aus ähnlichen Motiven werden neo-kantianische Ansätze formuliert, die die Bedingung eines Standpunktes der Reflexion darlegen, von dem aus getestet werden kann, ob die eigenen Wertvorstellungen verallgemeinert und gerechtfertigt werden können. 6 Durch diese Herangehensweise wird ein Verständnis der Herausforderung der Ethik geHistorico-Sociological Laws. In: Philosophy of Science. 8 (1941), S. 567–579, und Peter Railton: Moral Realism. In: The Philosophical Review. 95/2 (1986), S. 163–207. 4 Wolf Singer: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. In: Christian Geyer (Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt am Main 2004, S. 30–65. 5 Vgl. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt am Main 1992, S. 42 ff. 6 Vgl. Onora O’Neill: Constructions of Reason. Explorations of Kants’s Practical PhiDie Negativität des Sittlichen
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wonnen, der sich auch diese Untersuchung stellt. Diese Herausforderung besteht darin, die Frage nach der Begründung und Verbindlichkeit ethischer Normen an die Auseinandersetzung einer Person mit praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen zu koppeln. Diese können nach den genannten Ansätzen jedoch erst unter den Bedingungen einer formalen Prozedur moralischen Diskurses oder der Reflexion als solche begriffen werden. Diese Untersuchung vermeidet allerdings die Annahme solcher formaler, abstrakter Bedingungen und macht deren Annahme sowie die Unterscheidung von Ethik und Moral überflüssig, indem sie zeigt, dass ein Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit in der Wertvorstellung oder Vorstellung vom guten Leben einer Person angelegt ist und in Auseinandersetzung mit praktischen Problemen, Konflikten und Widerständen herausgebildet werden kann. (3) Die dritte Art der Antwort setzt bei einer Wiedergewinnung des Aristotelischen Naturbegriffs an. 7 Demnach soll wieder eine metaphysische Begründung der Ethik geliefert werden, die aber als Reaktion auf die Kritik von Metaphysik und Ethik zu verstehen ist, insofern sie den Zusammenhang von subjektiven, evaluativen Haltungen einer Person und einem der Natur der Person als Gattungswesen entsprechenden, somit objektiven Gut, zu begreifen beansprucht. 8 Dies wird möglich, indem subjektive, evaluative Haltungen als Fähigkeiten zum tugendhaften Handeln betrachtet werden. 9 Im Begriff der Tugend besteht, nach diesem Ansatz, der Zusammenhang mit der Natur der Gattung, deren Realisierung den Maßstab individueller Handlungsvollzüge darstellt. Durch die Wiedergewinnung einer Metaphysik der Natur, insbesondere einer Metaphysik menschlichen Lebens, zeigt sich somit ein Weg auf, um das allgemein, unbedingt verbindlich Gute im Zusammenhang mit partikularen Lebensvollzügen einer Person zu verstehen. Diese Denkweise droht losophy. Cambridge 1989, und Christine M. Korsgaard: The Sources of Normativity. Cambridge 1996. 7 Vgl. John H. McDowell: Mind and World. With a New Introduction. Cambridge Mass. 1996, Lecture V, und Michael Thompson: Life and Action. Elementary Strucures of Practice and Practical Thought. Cambridge Mass. 2012. 8 Vgl. hierzu Philippa Foot: Natural Goodness. Oxford 2001. 9 G. E. M. Anscombe: Modern Moral Philosophy. In: Mary Geach / Luke Gormally (Hrsgg.): Human Life, Action, and Ethics. Essays by G. E. M. Anscombe. Exeter/ Charlottesville 2005.
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Negative Ethik
jedoch reaktionär zu werden, wenn sie bemüht ist, eine positive Vorstellung einer bestimmten Art der Kultur oder einer Lehre von der Natur des Menschen zu artikulieren, die einen festen, metaphysisch begründeten Standpunkt für die Ethik darstellt. 10 Dann würde dieser Zusammenhang von einem Standpunkt aus formuliert, der außerhalb des konkreten Lebensvollzuges einer Person liegt, die praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen ausgesetzt ist. Diese Denkweise ist also unbefriedigend, wenn sie gerade nicht bei dem ansetzt, was für eine Person zunächst einmal relevant ist: eine Antwort auf Probleme, Konflikte und Widersprüche zu finden. Sie kann den Zusammenhang von partikularen Lebensvollzügen mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten also nur sinnvoll begreifen, wenn sie die dargestellte Kritik der Metaphysik und deren negative Einsicht, die dazu führt, vom Lebensvollzug einer Person auszugehen, in sich aufnimmt.
3.
Negative Ethik
Diese Untersuchung machen also drei Punkte aus: Erstens stellt sie eine genuin ethische Untersuchung dar, die sich nicht auf der Ethik äußerlicher Tatsachen oder Bezugspunkte bezieht, sondern auf spezifisch ethische Formen des Denkens und Lebens. Zweitens ist der ethische Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit im Bewusstsein einer Person von praktischen Problemen, Konflikten sowie Widersprüchen immer schon anwesend und spielt nicht erst durch die Annahme formaler Bedingungen eine Rolle für sie. Drittens kann eine Auffassung des ethisch Guten nicht ausgehend von einer Metaphysik der Natur gefasst werden. Nur ausgehend vom Lebensvollzug der einzelnen Person kann der ethische Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit eingelöst werden. Um diese drei Punkte zusammen zu begreifen, müssen wir die Form des Bewusstseins vom ethisch Guten mit dem Bewusstsein von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen zusammen denken, ohne ein theoretisch, positiv bestimmtes allgemeines Prinzip oder einen Begriff des Endzwecks des Lebens vorauszusetzen. Hier wird also in Übereinstimmung mit der dargestellten Kritik an Meta10 Alasdire MacIntyres Arbeiten gehen in diese Richtung. Vgl. besonders Ders.: Dependent Rational Animals: Why Human Beings Need the Virtues. Peru/Illinois 2001.
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physik und Ethik die Hinwendung zu den praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen einer Person vollzogen. Damit wird Ethik immer auch als Kritik von philosophischen und kulturellen Vorurteilen oder vermeintlich festen und ruhenden Standpunkten betrieben. Der Gedanke des ethisch Guten, als allgemein, unbedingt verbindlich, bedarf hier keiner Metaphysik der Natur und des menschlichen Lebens. Ausgehend von der Person wird hingegen gezeigt, wie der Gedanke vom ethisch Guten in der Überwindung von praktischen Problemen, Konflikten und Widerständen anwesend ist. Eine Auffassung vom ethisch Guten ist für eine Person dann nur insofern bindend, als sie auch im Sinnzusammenhang ihres Lebens Bedeutung hat und für den Umgang mit praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen relevant ist. 11 In den oben genannten drei Punkten wird der Frage und dem Gedanken vom allgemeinen, unbedingt verbindlichen Guten Bedeutung verliehen. In Abgrenzung von der empiristischen Kritik von Metaphysik und Ethik wird also gezeigt, dass dieses sich im Lebensvollzug einer Person angesichts von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen als bedeutsam erweist. Das heißt, erst in Bezug darauf, als abschließendes Maß für ein gutes, gelingendes Leben, können diese richtig begriffen und überwunden werden. Eine Denkweise, die sich als nachmetaphysisch versteht, legt jedoch nahe, darauf zu verzichten, über das Thema und die Frage eines Abschlussgedankens, etwa in Gestalt einer substantiellen Form oder eines Endzwecks des Lebens, nachzudenken. Es wird unterstellt, dass die Frage oder der Gedanke vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten, an dem sich das Gelingen und Misslingen der Lebensvollzüge einer Person misst, etwas Fremdes darstelle. Die Frage danach und der Gedanke davon stellten bloß Denkmuster vergangener kultureller und philosophischer Epochen dar, die wir heute nicht mehr verstünden oder die einer Übersetzung und Umdeutung bedürften. 12 Doch in Anbetracht von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen stellt der Gedanke vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten als Vgl. Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt am Main 1979, und Ders.: Antike und moderne Ethik. In: Probleme der Ethik. Ditzingen 2002. 12 Vgl. Jürgen Habermas: Die Philosophie als Platzhalter und Interpret. In: Ders.: Moralbewußtsein und Kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983. Axel Honneth sagt dies über den Begriff der Verdinglichung. Vgl. Axel Honneth: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Berlin 2015, S. 18–19. 11
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Endzweck des Lebens nichts Fremdes oder nicht mehr Verständliches dar. Begreifen wir die praktische Verortung einer Person in einer von Menschen gestalteten Welt richtig, so die Argumentation in dieser Abhandlung, drängt sich in Anbetracht von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen der Gedanke des verbindlich Guten einer Person auf, ohne dass sie dabei einen theoretisch fundierten, scheinbar festen und ruhenden Standpunkt einnehmen muss. Um den Gedanken des allgemein, unbedingt verbindlich Guten ausgehend von der negativen Einsicht zu fassen, wonach vermeintliche feste ethische Standpunkte zu kritisieren und eine Hinwendung zur Person zu vollziehen ist, findet sich ein Hinweis in Ansätzen, die manchmal unter dem Titel negative Metaphysik 13 diskutiert werden. Diese Ansätze ermöglichen eine Hinwendung zur Person, die den Zusammenhang mit dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit negativ begreift. In Ludwig Wittgensteins »Vortrag über Ethik« 14 findet sich ein Hinweis für ein negatives Verständnis dieses Zusammenhanges, wenn er sagt, absolute Werte seien nur in mystischen Erfahrungen gegeben. In mystischen Erfahrungen zeigt sich ethisch Bedeutsames, das zugleich außerhalb des Bereiches dessen liegt, was sinnvoll artikuliert werden kann. In Martin Heideggers Sein und Zeit findet sich ein Ansatz für ein negatives Verständnis dieses Zusammenhanges, wenn er in Bezug auf die praktisch relevanten Sinnzusammenhänge im Lebensvollzug einer Person vom »Sein zum Tode« spricht. Der Tod stellt die »Erfassungsmöglichkeit eines ganzen Daseins« 15 einer Person dar, die sie gleichzeitig nicht diskursiv ausformulieren kann. Dennoch stehen daraufhin ihre Lebensvollzüge in einem Sinnzusammenhang, auf welchen eine Stimmung, wie etwa existentielle Angst, verweist. Ein weiterer Ausgangspunkt für ein negatives Verständnis des Zusammenhanges der Hinwendung zur Person mit dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit findet sich bei Theodor W. Adorno. In seiner Negativen Dialektik formuliert er diesen, wenn er sagt, dass eine positive Formulierung einer Vorstellung von metaphysischen Sinnzusammenhängen und vom Guten nicht länger be-
Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt am Main 1992, S. 35. Ludwig Wittgenstein: Vortrag über Ethik. In: Ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Frankfurt am Main 1989, besonders S. 18–19. 15 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 19. Aufl. Tübingen 2006, § 47. 13 14
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ansprucht werden kann, aufgrund des »Unrecht[s] an den Opfern« 16, das aus deren praktischer Realisierung hervorgeht. Vermeintliche Auffassungen davon, worin das Gute bestehe, werden in Anbetracht ihrer praktischen Auswirkung auf das Leben der einzelnen Person kritisch auf ihre Sinnhaftigkeit befragt, ohne dass ein positiver Maßstab des Guten vorausgesetzt wird. Vielmehr wird die Sinnhaftigkeit einer Vorstellung vom Guten mit Bezug auf die Person, die zum Opfer wird, befragt. Der Bezug auf eine mystische Erfahrung, den Tod oder das Opfer, ermöglichen dem Gedanken vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten, somit dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit, einen Platz einzuräumen, ohne einen vermeintlich festen Standpunkt einzunehmen, und damit über die Herausforderungen, die sich einer Person in ihrem Lebensvollzug stellen, hinwegzusehen. Es liegt jedoch die Annahme nahe, die philosophische Ethik könne ausgehend vom negativen Verständnis des Zusammenhanges der Hinwendung zur Person und des ethischen Anspruchs auf Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit lediglich noch ihre Grenzen aufzeigen oder die Verkehrung der Welt offenlegen, indem sie zeigt, inwiefern er nicht eingelöst wird. Wie kann nun aber solch eine negative Auffassung zu einer Weise, Ethik zu betreiben, führen, die weder von einem festen, ruhenden Standpunkt ausgeht, noch auf rein zufällige, partikulare Vorstellungen des Guten beschränkt bleibt? Zur Beantwortung dieser Frage stellt sich die Aufgabe, den kritischen Anspruch dieser negativen Auffassung mit einer Darstellung der Form des ethischen Bewusstseins, das die Fähigkeiten einer Person umfasst, ein ethisches Leben zu führen, zu verbinden. Ausgehend von der an die negative Metaphysik angelehnte Formulierung der negativen Einsicht ist diese Aufgabe ganz anders zu verstehen, als ausgehend von der Formulierung der negativen Einsicht, die durch das empiristische Sinnkriterium geleistet wird. Danach wird die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit oder Objektivität praktischer Normen und Werte immer erst mit Verweis auf der Ethik äußerlichen Tatsachen, formale Bedingungen oder durch eine Metaphysik der Natur und nicht im Zusammenhang mit einer Hinwendung zur Person verstanden. Auch kann diese Aufgabe nicht mit Nietzsches genealogischer Kritik der Moral, die den Wert von moraTheodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Band 6. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1990, S. 354.
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lischen Begriffen für das Leben befragt, richtig verstanden werden. Diese liefert zwar ebenso eine Kritik an vermeintlich theoretisch fundierten, festen und ruhenden ethischen Standpunkten, führt aber nicht zum Gedanken des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, weil sie sich nicht als negative Metaphysik begreift. 17 In einer negativen Ethik können hingegen, ausgehend von der im Lebensvollzug einer Person verorteten Negativität des ethischen Anspruchs auf Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit, praktische Fähigkeiten von Personen, Probleme, Konflikte und Widersprüche zu verstehen, Gründe zu geben sowie daraus hervorgehende Gestaltungsund Entwicklungsmöglichkeiten der eigenen Lebensbedingungen wahrzunehmen, dargestellt werden. 18
4.
Das ethische Bewusstsein
Das ethische Bewusstsein umfasst die Fähigkeiten einer Person, die richtige, gute Antwort auf die Frage zu geben, was zur Überwindung von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen zu tun sei. In Antworten auf solche, sich praktisch im Vollzuge des Lebens aufwerfenden Fragen, kann ein Verständnis des allgemein, unbedingt verbindlich Guten herausgebildet werden. Doch um solche Antworten geben zu können, ist die Ausübung der Fähigkeiten von Personen, Probleme, Konflikte und Widersprüche zu erkennen, Gründe zu geben sowie daraus hervorgehende Gestaltungs- und EntwicklungsVgl. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Kritische Studienausgabe Band 5. 9. Aufl. Berlin/New York 2007. 18 Mit dem dem Bezug auf den kritischen Anspruch einer negativen Metaphysik steht diese Arbeit nicht allein. So wird in neueren Abhandlungen die Fragen der Menschenrechte und des Politischen behandeln, verschiedentlich auf ihn Bezug genommen. (Vgl. zum Beispiel Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011, Christoph Menke: Kritik der Rechte. Berlin 2015 und Jay M. Bernstein: Torture and Dignity: An Essay on Moral Injury. Chicago 2015.) Auch wird im Zusammenhang von Auseinandersetzungen mit der metaphysischen Tradition Bezug darauf genommen. (Vgl. zum Beispiel Gunnar Hindrichs: Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2011 oder Guido Kreis: Negative Dialektik des Unendlichen. Kant, Hegel, Cantor. Berlin 2015.) Von diesen Abhandlungen unterscheidet sich die vorliegende darin, dass sie den kritischen Anspruch einer negativen Metaphysik im Zusammenhang ethischer Fragen und Diskussionen ausformuliert. 17
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Einleitung
möglichkeiten der eigenen Lebensbedingungen zu realisieren, auf das negative Bewusstsein einer Person vom ethisch Guten zurückzuführen. Praktisch bildet eine Person dieses Bewusstsein des Leidens an zu begreifenden und zu überwindenden praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen heraus. Das ethische Bewusstsein ist somit in Rückbezug auf das Bewusstsein ethischen Leides zu begreifen. Die Darlegung des Ansatzes einer negativen Ethik besteht in zwei Schritten: Im ersten Schritt wird eine kritische Abgrenzung von rein subjektivistischen sowie von sich auf verallgemeinernde Standpunkte berufende Auffassungen des ethisch Guten vollzogen. Das Bewusstsein ethischen Leides wird als der Punkt dargestellt, in dem die einzelne Person unabweisbar im Zusammenhang mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten steht. Im zweiten Schritt wird die Form des ethischen Bewusstseins dargestellt, indem gezeigt wird, wie eine Person im Bewusstsein ethischen Leides durch die Ausübung von Fähigkeiten Gründe zu geben sowie Praktiken zu gestalten und zu entwickeln, ein Verständnis des ethisch Guten herausbilden und dadurch die praktischen Probleme, Konflikte und Widersprüche, an denen sie leidet, überwinden kann. Diesen beiden Schritten entsprechend, besteht diese Abhandlung aus zwei Teilen. Der erste Teil liefert eine kritische Diskussion der Möglichkeit, die konstitutive Form des Lebens darzustellen, in dem das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck kommt. Das erste Kapitel fragt nach dem Anfangspunkt der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute. Dieser wird in der kritischen Frage nach der Bedeutung allgemeiner, normativer ethischer Geltungsansprüche im partikularen Lebensvollzug einer Person verortet. Philosophische Ethik zu betreiben besteht demnach darin, zu zeigen, wie im Lebensvollzug der einzelnen Person, die kritisch nach der Bedeutung der Auffassung des ethisch Guten für ihr Leben fragt, der ethische Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit plausibel gemacht werden kann. Das zweite Kapitel diskutiert den Zusammenhang partikularer Lebensvollzüge von Personen mit dem normativen Anspruch auf allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit des ethisch Guten. Hegels Begriff der Sittlichkeit liefert ein Verständnis der begrifflichen Ebene, um diesen Zusammenhang in einem Begriff einer guten ethischen Praxis zu fassen, weist jedoch sowohl in seiner substantiellen als auch in seiner formalen Deutung Erklärungslücken auf. Das dritte Kapitel stellt den Ansatz einer negativen Ethik dar, der ausgehend von den Erklärungslücken im Begriff der Sittlichkeit den Wider20
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Das ethische Bewusstsein
spruch einer Person zu sittlichen Praktiken begreiflich macht. Dieser Widerspruch wird mit Bezug auf den Aristotelischen Begriff der Privation sowie auf Kants und Arendts Analysen des Bösen dargestellt. Die Reflexion auf die Möglichkeit des Bösen führt zur Einsicht in die Negativität der Ethik, die verlangt, zuvorderst die Verletzlichkeit und Fehlbarkeit der einzelnen Person als Bezugspunkt für die ethische Frage danach, was gut zu tun sei, herauszustellen. Der zweite Teil liefert eine Darstellung der Formen des Bewusstseins vom ethisch Guten im Lebensvollzug einer Person. Das vierte Kapitel beginnt nicht direkt mit der Darstellung der Fähigkeiten zur Reflexion, zum Diskurs sowie zur Gestaltung und Entwicklung eines ethisch guten Lebens, sondern mit der Darstellung des Bewusstseins ethischen Leides verletzlicher und fehlbarer Personen. Im Bewusstsein ethischen Leides können praktische Probleme, Konflikte und Widersprüche erst in ihrer ethischen Dimension, das heißt aus dem Anspruch an eine Vorstellung vom ethisch Guten auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit, begriffen werden, ohne dass eine positive Bestimmung von diesem vorausgesetzt wird. Im fünften Kapitel wird herausgestellt, wie aus einem Begriff des Bewusstseins ethischen Leides heraus ein Begriff eines ethischen Bewusstseins entwickelt werden kann, in dem die praktischen Probleme, Konflikte und Widersprüche zum Gegenstand argumentativer Auseinandersetzung werden können. Den Ansatzpunkt ethischen Bewusstseins stellt die praktische Negation der Handlungsweisen dar, die Leid hervorrufen. Die ethische Rechtfertigung einer solchen praktischen Negation wird nicht mit Bezug auf vorausgesetzte, formale Bedingungen möglich, sondern in einer Form des Bezugs auf die zweite Person als verletzliche und fehlbare, die der Form solidarischer Interaktion entspricht. Das sechste Kapitel hat schließlich die Möglichkeit der Überwindung ethischen Leides zum Gegenstand, die durch ein neues Verständnis einer ethisch guten Weise zu handeln erlangt wird, durch die das Leben einer Person, befreit von Leid, gelingen kann. Hier zeigt sich, wie innerhalb der negativen Ethik ethischer Fortschritt gedacht werden kann. Dabei wird einmal eine Abgrenzung von Konzeptionen historischen Fortschritts vorgenommen, die die Perspektive der verletzlichen und fehlbaren Person nicht fassen können. Stattdessen zeigt sich, dass ethischer Fortschritt allein als praktische Entwicklung einer Person im Zusammenhang eines solidarischen und engagierten ethischen Dialogs vollzogen wird. Der Argumentationsgang wird mit dem Ziel vollzogen, den Sinn Die Negativität des Sittlichen
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Einleitung
des Gedankens vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten für praktische Probleme, Konflikte und Widersprüche, die den Lebensvollzug der einzelnen Person betreffen, zu erfassen, ohne dass der Verdacht des Dogmatismus, der Illiberalität, des Reaktionären oder der kulturellen Relativität gegen diesen Gedanken erhoben werden kann. Dabei werden die Probleme und Widersprüche, auf die die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute unweigerlich stößt, dargelegt und die Form des Bewusstseins vom Leben, das darauf abzielt, den ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit zu realisieren.
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Erster Teil Die Grenze ethischen Denkens
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Kapitel 1: Normativer Anspruch und kritische Reflexion
Dieses erste Kapitel führt in den Gegenstand dieser Untersuchung ein. Das ethisch Gute wird als Gegenstand philosophischer Ethik spezifiziert, indem kritisch nach der Möglichkeit eines Verständnisses von dessen Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit gefragt wird. Es wird gezeigt, dass die philosophische Reflexion das ethisch Gute nur dann zu ihrem Gegenstand nehmen kann, wenn sie von der Frage Ausgang nimmt, ob es für das Gelingen des guten Lebens einer Person eine Bedeutung hat. Ansätzen, die das ethisch Gute entweder dogmatistisch als schlicht gegeben oder skeptisch als bedeutungslos betrachten, wird dabei ihre Überzeugungskraft genommen, weil sie den Ansatzpunkt der philosophischen Ethik falsch verstehen. Die Herausforderung der philosophischen Ethik, so wird sich zeigen, besteht darin, zu artikulieren, wie die allgemeine, unbedingte Verbindlichkeit des ethisch Guten mit dem Sinnzusammenhang des partikularen Lebensvollzugs einer Person verschränkt ist. Abschnitt I. stellt den Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute im Lebensvollzug einer Person dar. Diese beginnt mit einer kritischen Distanznahme zu vermeintlich dogmatisch gegebenen Auffassungen vom ethisch Guten, droht dabei aber in einer skeptischen Position zu enden, wonach eine Vorstellung vom Guten nur relativ auf zufällige subjektive Perspektiven zu denken sei. Ausgehend von der Möglichkeit, dass die kritische Distanznahme der philosophischen Reflexion in einer skeptischen Position endet, besteht die Herausforderung der philosophischen Ethik darin, die Antinomie von individuellen und allgemein, unbedingt verbindlichen Geltungsansprüchen auflösen. Abschnitt II. zeigt, inwiefern die philosophische Reflexion diese Antinomie auflösen kann, indem sie als Formanalyse praktischer Fähigkeiten vollzogen wird. Dabei trifft sie aber wiederum auf eine neue Herausforderung. Diese besteht in den praktischen Umständen von Personen, die ein Hindernis zur gelingenden Ausübung von deren praktischen Fähigkeiten darstellen Die Negativität des Sittlichen
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
kann. Abschnitt III. hinterfragt kritisch die Möglichkeit der philosophischen Ethik als Formanalyse praktischer Fähigkeiten. Diese kann nur dann gelingen, wenn sie die praktischen Bedingungen, unter denen Personen praktische Fähigkeiten richtig ausüben können, mit einbezieht. Somit ist die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute in der Spannung von konstitutiver Form ethischen Urteilens und Handelns und der praktischen Realität des Lebens von Personen, in der diese Urteile und Handlungen vollzogen werden, zu betrachten.
I.
Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute
Dieser Abschnitt zeigt auf, wie die Frage nach dem ethisch Guten zum Gegenstand der philosophischen Ethik wird. Dabei werden die Widersprüche dargestellt, in die die philosophische Ethik sich verwickeln kann. Die Frage nach dem ethisch Guten kann zunächst nur dort sinnvoll gestellt werden, wo Personen ihre Überlegungen darüber, was zu tun sei, auf abschließende und nicht bloß auf relative Ziele ausrichten (§ 1). Die philosophische Ethik kann einmal eine Theorie mit einem Anspruch auf unbedingte Geltung formulieren, um eine Auffassung abschließender Ziele auszulegen, wozu aber der kritische Anspruch, die Bedeutung einer Vorstellung vom ethisch Guten im partikularen Lebensvollzug einer Person nachzuweisen, in Widerspruch tritt (§ 2). Als kritische Reflexion droht die philosophische Ethik aber in einer skeptischen Position zu enden, insofern sie dann allein auf die Frage der Bedeutung eines Gutes im Lebensvollzug eines Individuums beschränkt bleibt (§ 3). Eine skeptische Position, so werden wir sehen, kann vermieden werden, wenn die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute die Antinomie vom Anspruch auf allgemeine und unbedingt verbindliche Geltung und der Perspektive des individuellen Lebensvollzugs auflösen kann. Die Möglichkeit der Auflösung dieses Widerspruches stellt sich somit als Aufgabe der philosophischen Ethik dar (§ 4).
1.
Das Ende ethischer Überlegungen
Das Ziel der philosophischen Reflexion, die das ethisch Gute zum Gegenstand hat, besteht darin zu zeigen, wie ethische Überlegungen zu einem Ende kommen. Was kann die philosophische Reflexion über 26
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das Ende ethischer Überlegungen und die Bedingungen zu dessen Erreichen sagen? Wir können zur Beantwortung dieser Frage bei Aristoteles ansetzen. Nach diesem besteht ein Verständnis des ethisch Guten im Verständnis der Fähigkeit zum guten Handeln. Das heißt, es wird dargestellt, wie in der Ausübung von Praktiken, Handlungsweisen und Überlegungen Übereinstimmung mit dem ethisch Guten besteht, das Aristoteles das »beste Gut« (ariston) nennt. Aristoteles’ Weise, die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute zu vollziehen, stellt eine immanente Reflexion dar. Das heißt, es wird die Form der Überlegungen, die das ethisch Gute zum Gegenstand haben, als Form der Fähigkeit einer Person zur Begründung bestimmter Handlungsvollzüge dargestellt. Diese Auffassung von Aristoteles steht in Abgrenzung zu solchen Positionen, die er als Platonismus beschreibt. Diese Positionen argumentieren, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute sei unabhängig von der Fähigkeit zur Begründung bestimmter Handlungsvollzüge zu fassen. Die philosophische Reflexion nimmt also gemäß dem von Aristoteles so genannten Platonismus nicht eine Form der Handlungsbegründung zu ihrem Gegenstand, sondern die Möglichkeit unabhängig davon, eine Vorstellung von einem umfassenden, abschließenden Gut zu erlangen. 19 Dieses Gut stellte, dem von Aristoteles kritisierten Platonismus folgend, einen Maßstab dar, der außerhalb der Maßstäbe liegt, die eine Person in verschiedenen Aktivitäten zu erfüllen bestrebt ist. Das Ende ethischer Überlegungen hätte dann zunächst nicht mehr viel mit der Frage nach dem Sinnzusammenhang des ganzen gelingenden Lebens einer Person zu tun. In Bezug auf diesen stellt sich der Begriff vom Guten aufgrund seiner mangelnden Erklärungskraft als leer dar. Aristoteles folgend wollen wir das Ende ethischer Überlegungen hier innerhalb des Erklärungszusammenhanges des Handelns und Urteilens einer Person darstellen, worin das Gute im Sinnzusammenhang ihres Lebens erst Bedeutung für sie haben kann. Somit gilt zu zeigen, wie die Vorstellung vom »besten Gut« mit der Vorstellung von Handlungsgründen verschränkt ist. Das ethisch Gute wird dann innerhalb des Lebensvollzuges einer Person erfasst werden. Das heißt zunächst, das ethische Gute wird als Ziel aufgefasst, das den Bezugs-
Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt durch Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006, 1096 b, 14.
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
punkt für die Begründungen verschiedener Handlungsvollzüge in verschiedenen Situationen einer Person liefert. Daraus folgt, dass das »beste Gut« von einer Person innerhalb ihres praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhangs zu begreifen ist, der wie folgt strukturiert ist: Eine Handlung A steht also in Relation zum Ziel B, durch das sie begründet wird. Der Gegenstand ethischer Überlegungen lässt sich als eine Art von Ziel B darstellen. Verschiedene Auffassungen vom Ziel B können dadurch unterschieden werden, wie eine konkrete Auffassung von B wiederum begründet wird. Die Unterscheidung verschiedener Arten von B können anhand von folgendem Schema dargestellt werden: »Ich tue A, weil ich B tue, denn X.« Die verschiedenen Arten von B unterscheiden sich in den möglichen Substituten für X. Nach einer möglichen Substitution von X wird das Realisieren von B als ein Mittel für ein weiteres Ziel begründet. In diesem Fall besteht das Substitut für X in demselben Schema mit B anstelle von A und einer neuen Variable X für ein Ziel anstelle von B. (1) Ich tue A, weil ich B tue, denn ich tue B, weil ich C tue, denn X. Diese Spezifizierung von B liefert eine relative Auffassung von B, insofern B relativ auf einen weiteren Zweck begriffen wird. Aristoteles bezeichnet so begründetes Handeln als poiesis. Als solche können Handlungen bezeichnet werden, die zum Zwecke der Erzeugung einer Sache oder eines konkreten Zustandes vollzogen werden. Das heißt, es werden bestimmte Bewegungsschritte vollzogen bis das Ziel realisiert worden ist, wie etwa wenn ich den Schrank öffne um das Salz herauszuholen, welches wiederum benötigt wird, um die Suppe zu salzen. Das heißt, jeder Bewegungsschritt kann auf weitere Gründe befragt werden. Im Begriff der praxis liefert Aristoteles den Begriff eines Zieles, das ein unbedingtes Gut darstellt. Das heißt, es kann nicht mit Bezug auf ein weiteres Ziel gerechtfertigt werden, warum B zu tun gut ist. Wenn ich etwa sage, ich spende Geld, um den Armen zu helfen, dann ist die Handlung des Spendens als Wirklichkeit der Praxis des Helfens zu verstehen. Helfen stellt ein internes Gut dar, das um seiner selbst willen realisiert wird. Das heißt, es kann nicht mit Bezug auf noch ein anderes Ziel begründet werden als dem, helfen zu wollen. Es ist somit als ein abschließendes Ziel zu verstehen, das nicht durch ein weiteres
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begründet werden kann. 20 Spenden stellt nur eine Weise der Verwirklichung der Praxis des Helfens unter bestimmten Umständen dar. Doch alle Handlungsweisen des Helfens werden um ihrer selbst willen vollzogen, sodass die Praxis des Helfens entsprechend gegebener Umstände verwirklicht wird. Damit B als solch eine Art von Ziel charakterisiert werden kann, ist eine andere Art von Substitut für X in dem obigen Schema anzugeben, welches kein weiteres Ziel mehr sein kann, da B als internes Gut zu begreifen ist. Abhängig davon, von welcher Moralauffassung die handelnde Person überzeugt ist, würde sie eines der Substitute von X aus folgender Liste wählen: (2) Ich tue A, weil ich B tue, denn ich tue B, weil es ein göttliches Gebot darstellt. es eine normative Tatsache ist. es moralische Gefühle erregt. mit ganzem Herzen angestrebt wird. es Freude bringt. es Bedürfnisse befriedigt. es zentral für meinen Lebensplan ist. es konstitutiv für Selbstbestimmung ist. Die genannten Begründungen von B betrachten B als Maßstab für ein gutes Leben, in dem ethische Praktiken erfolgreich realisiert werden. Ein Maßstab für ein gutes Leben stellt dann noch nicht einen Gegenstand philosophischer Reflexion dar. Es wird lediglich gezeigt, dass eine ethische Praxis dort bestehen kann, wo eine Auffassung von B als abschließendem unbedingten Prinzip des Handelns vorgestellt wird. Die philosophische Reflexion auf dieses hat zur Aufgabe zu klären, inwiefern solche Auffassungen zu einer Auffassung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten führen. Die formale Unterscheidung zwischen relativen und unbedingten Zielen sagt bisher Zum Verständnis dieser von Aristoteles ausgehenden Unterscheidung zweier Arten von Handlungszielen ist Anselm Müllers Diskussion der Unterscheidung und des Zusammenhanges von endlichen und unendlichen Zielen als »zweierlei Finalität« des Handelns hilfreich – vgl. Anselm W. Müller: Produktion oder Praxis. Philosophie des Handelns am Beispiel der Erziehung. Frankfurt 2013, S. 96. Andere Darstellungen dieser Unterscheidung finden sich in Sebastian Rödl: Self-Conscsciousness. Cambridge Mass. 2007, Kapitel 2, Abschnitt 3, Ders.: The Form of the Will, In: Sergio Tenenbaum (Hrsg.): Desire, Practical Reason, and the Good. Oxford 2010, S. 138– 160, und in John Ackrill: Energeia and Kinesis. In: Ders.: Essays on Plato and Aristotle. Oxford 1997, S. 149 ff. 20
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also allein etwas über den Punkt, an dem die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute beginnen könnte. 21 Denn nur dort, wo Personen bestrebt sind, unbedingte Ziele zu realisieren, können ethische Überlegungen überhaupt erst vollzogen werden und zu einem Ende kommen. Das heißt, dort kann das ethisch Gute zum Thema werden. Damit ist aber noch nicht etwas darüber gesagt, wie das ethisch Gute aufzufassen ist und somit, ob das Gut, das um seiner selbst willen, unbedingt angestrebt wird, auch allgemein verbindlich ist. Diese Fragen stellten sich, da es nicht selbstevident ist, dass das Handeln einer Person zur Realisierung eines unbedingten Ziels auch mit der Vorstellung von einem allgemein und unbedingt verbindlich gerechtfertigtem Gut zusammenhängt. Eine Person kann eine schlechte moralische Erziehung erfahren haben oder sie kann durch Einfluss anderer Personen ein Gut als unbedingt erstrebenswert betrachten, das nicht allgemein verbindlich ist. An diesem Punkt, so wird sich zeigen, wird also erst die philosophische Reflexion auf das ethische Gute gefordert. Um zu zeigen, wie ethische Überlegungen zu einem Ende kommen können, müssen wir uns also einer weiteren Frage stellen: Wie sind Überlegungen zu verstehen, die zu einer richtigen Auffassung einer guten ethischen Praxis führen, durch deren Realisierung eine Person ihr Leben in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten führt?
2.
Der Anspruch der philosophischen Reflexion
Die Auffassung einer guten ethischen Praxis ist nicht mit einer beliebigen Auffassung des Endes ethischer Überlegungen vereinbar. Die philosophische Ethik betrachtet die Form der Handlungen und Überlegungen, die zur Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten führen, indem sie die gute ethische Praxis bestimmt. Die Herausforderung der philosophischen Ethik könnte demnach so verstanden werden, dass sie eine Explikation des Begriffs der Natur der Person zu vollziehen hat, wodurch allgemeine Bestimmungen dessen angegeben werden, was das Leben als Person wesentlich ausmacht. Was eine gute ethische Praxis ist, hängt demnach davon ab, Anselm Müller zeigt an verschiedenen Stellen, dass beide auch in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, insofern unbedingte Ziele nicht ohne Bezug auf relative Ziele realisiert werden können. Vgl. Ibidem.
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was dem Sein von Personen entspricht, und der Lebensvollzug einer Person ist dann als gelungen zu betrachten, wenn das, was das Leben von Personen wesentlich ausmacht, darin zum Ausdruck kommt. Dieses Bild von philosophischer Ethik kann einmal so aufgefasst werden, dass abhängig von der theoretischen Annahme darüber, was die Natur der Person ausmacht, eine Praxis oder Handlungsweise als gut gilt. Um diese Auffassung von philosophischer Ethik zu verstehen, ist hier nicht entscheidend, welche konkreten Annahmen über die Natur der Person gemacht werden. Entscheidend ist der zugrunde liegende Gedanke, dass ethische Begründungen im Zusammenhang mit einer theoretischen Bestimmung der Natur der Person stehen. Konkretisiert werden kann eine Bestimmung der Natur der Person etwa in einem Begriff vom guten Charakter, der in einem bestimmten Lebensplan realisiert wird, oder auch in einem Begriff der Fähigkeit zur selbstbestimmten Wahl. 22 Ebenso könnte von Bestimmungen des Menschen ausgegangen werden, die entweder innerhalb einer wissenschaftlichen Praxis gemacht oder durch kulturelle Praktiken tradiert werden. Je nachdem, wie die theoretischen Vorannahmen darüber, was die Natur des Menschen ausmacht bzw. für Personsein 23 wesentlich ist, verstanden wird, wird auch anders konkretisiert, auf welche Weise zu handeln einem guten, gelungenem Leben entspricht, also tugendhaft ist. Fasst man die Aufgabe der philosophischen Ethik auf die geschilderte Weise auf, bleibt ein blinder Fleck für den Vollzug von Praktiken in den je eigenen, partikularen Lebensvollzügen einer Person, die durch theoretische Annahme über die Natur der Person begründet werden soll. Weil dafür ein blinder Fleck besteht, wird nicht verständlich, wie eine allgemeine theoretische Annahme über die Natur der Person sich zu dem Sinnzusammenhang des Lebensvollzuges einer Personen verhält, und kann somit nicht innerhalb des Erklärungsund Begründungszusammenhanges des Handelns einer Person begriffen werden; solche theoretischen Annahmen bleiben für den Vorwurf des von Aristoteles sogenannten Platonismus (vgl. § 1) anfällig. 24 Dieser blinde Fleck besteht aufgrund des vorausgesetzten Vgl. die Liste in § 1 für weitere Beispiele. Für manche Ansätze besteht ein großer Unterschied zwischen der Rede vom Menschen und der Person. An diesem Punkt ist eine solche Unterscheidung noch nicht von Bedeutung. 24 Eine solche Position stellt jedoch nicht einfach eine Variante des von Aristoteles oben in § 1 so genannten Platonismus dar, der in seiner strengsten Form nicht über 22 23
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Standpunktes, von dem aus solche Erklärungen gegeben werden. Es wird ein archimedischer Standpunkt vorausgesetzt, der ein naturwissenschaftliches Erkenntnisideal darstellt. Ausgehend von einem solchen Standpunkt, kann frei von subjektiven Perspektiven, die Gültigkeit von Wertauffassungen und angestrebten Gütern begründet werden. Das heißt, unter der Voraussetzung eines archimedischen Standpunktes unterscheidet sich das Nachdenken über die Gültigkeit von Aussagen über ethische Werte nicht prinzipiell vom Nachdenken über die Gültigkeit von Aussagen über Pflanzen oder physikalische Vorgänge. Nach dem oben skizzierten Bild der philosophischen Ethik müsste eine Theorie in der Ethik das eine oder andere betreffend allgemeine Eigenschaften über das Leben von Personen angeben können. Doch dabei geht eine Einsicht der Aristotelischen Auffassung des Guten verloren. Es handelte sich nicht um eine Begründung einer Auffassung des ethisch Guten, die einer Person gegeben werden oder die eine Person geben kann, da vom Sinnzusammenhang abstrahiert wird, innerhalb dessen Handlungsweisen und Wertauffassungen für sie Bedeutung haben können. Personen können lediglich Rat durch Experten oder Vorgaben aus einem ethischen Kompendium befolgen. Dass ein guter Rat durch einen Experten oder eine richtige Vorgabe aus einem ethischen Kompendium hilfreich sein können, wird hier nicht in Frage gestellt. Das Problem des vorausgesetzten Standpunktes ethischer Experten oder Kompendien liegt darin, dass ausgehend von diesen erst gar nicht der Raum für eine ethische Begründung besteht, weil nicht von vornherein die Perspektive der Person einbezogen wird, deren Praxis bestimmt werden soll. Vom vorausgesetzten Standpunkt eines Experten oder eines Kompendiums kann lediglich eine Begründungsweise ausgelegt, propagiert und befolgt werden – der vorausgesetzte zufällige Standpunkt wird selbst nicht hinterfragt. Wird ein solcher Standpunkt vorausgesetzt, wird die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute, worin erst nach der Möglichkeit einer abschließenden Begründung gefragt wird, sinnlos. Sie dient lediglich als Hilfsmittel zur kompetenten Auslegung eines gegebenen Standpunktes. Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute als Nachdenken über die Möglichkeit abschließend begründeten Wissens darüber, was einen gelungenen Lebensvollzug ausmacht, beginnt deshalb mit der Infragestellung gegebener Standpunkte, also die Bestimmung der Praxis nachdenkt, während es hier um die Bestimmung der Praxis geht. Insofern gerät sie nur in strukturell ähnliche Probleme.
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den Objektivitätsansprüchen von Begründungsweisen, die mit deren Einnahme einhergehen. Durch philosophische Reflexion wird also ein solcher Standpunkt infrage gestellt, insofern er als bloß gegeben begriffen wird. Das heißt, er wird als dogmatistisch entlarvt, womit zugleich eingesehen wird, dass es darüber hinaus noch weiterer Begründung bedürfte, um zu einem abschließenden Verständnis des ethisch Guten zu kommen. Indem die philosophische Reflexion einen Standpunkt entlarvt, schafft sie Raum für eine neue Einsicht. Damit wird die philosophische Reflexion auf eine mögliche ethische Begründung guter Weisen zu handeln notwendig. Die bloße Auslegung der Kriterien eines Standpunktes zur Bestimmung einer guten ethischen Praxis ist dann unzureichend. Nicht für jede Art philosophischer Untersuchung mag es zwingend sein, in die Reflexion einzutreten, in der verschiedene Begründungsweisen vorgestellt und vermeintlich feste Geltungsansprüche hinterfragt werden. In der Ethik stellt der Eintritt in die Reflexion die Voraussetzung dafür dar, dass beim Nachdenken über die gute ethische Praxis für ein gutes, gelingendes Leben einer Person, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute überhaupt zum möglichen Bezugspunkt werden kann. Das heißt, es wird erst zum möglichen Gegenstand des Nachdenkens, weil in der Reflexion eingesehen wird, dass eine allgemein, unbedingt verbindliche Auffassung des ethisch Guten nicht unmittelbar gegeben sein kann – sei es durch die Autorität einer Tradition oder durch Erkenntnis einer Einzelwissenschaft. Daraus folgt nun nicht, dass die Reflexion eine neue, gültige Fundierung in Form des wahrhaftigen ethischen Standpunktes geben muss. Sie muss vielmehr den begrifflichen Raum bestimmen, innerhalb dessen der Gedanke des allgemein, unbedingt verbindlich Guten mit Bezug auf den Lebensvollzug verschiedener Personen Sinn haben kann. Wie weit die Einsicht der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute reichen kann, gilt es im Folgenden zu zeigen. Bisher haben wir nur gesehen, dass erst durch die philosophische Reflexion das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Gegenstand des Nachdenkens werden kann, und nicht ein zufälliger Standpunkt und eine damit einhergehende Begründungsweise kann das Nachdenken darüber, was gut zu tun sei, vorbestimmen. Wenn die philosophische Reflexion vollzogen wird, gilt keine Vorbestimmung des Guten, sondern es besteht eine Unbestimmtheit und Klärungsbedarf hinsichtlich des Guten, das im Sinnzusammenhang, durch den eine Person ihr Leben Die Negativität des Sittlichen
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vollzieht, zum Ausdruck gebracht wird. Daraus folgt aber nicht, dass die Reflexion gar keinen Bezugspunkt mehr hat. Die Unbestimmtheit und der Klärungsbedarf, die durch sie eingesehen werden, gehen damit einher, in die Reflexion auf das ethisch Gute die Motive und Gründe einer einzelnen Person, unter den Umständen einer Situation, mit einzubeziehen. Will die Ethik, anders als der von Aristoteles kritisierte Platonismus (vgl. § 1), das Gute im Leben begreifen, muss sie, ohne vorausgesetzten Standpunkt, von der Perspektive der einzelnen Person als Bezugspunkt ausgehen. Damit kann also nicht von einer Theorie des Guten ausgegangen werden. Da der Aristotelischen Auffassung ethischer Überlegungen folgend, wie wir in § 1 gesehen haben, ein »bestes Gut« nur begriffen werden kann, insofern es für eine Person im Sinnzusammenhang ihres Lebensvollzuges, in dem Erklärungen und Begründungen möglich sind, Bedeutung erlangt, sind die Bedingungen abschließender Überlegungen auch aus dieser Perspektive nachzuvollziehen. Aus dieser Perspektive kann, wenn überhaupt, die Rede von der Natur der Person für die philosophische Ethik einen Sinn ergeben. Nachdem wir bereits Probleme bei der Bestimmung des ethisch Guten als »bestes Gut« von einem vorbestimmten Standpunkt aus gesehen haben, stellt sich die Perspektive der Person als Bezugspunkt der Reflexion auf das ethisch Gute dar. Unter Einbezug dieser Perspektive wird die philosophische Reflexion zweifach motiviert: Erstens befreit sie von der vermeintlichen Autorität eines vorgegebenen Standpunktes und damit einhergehender vorbestimmter ethischer Begründungsweisen. Zweitens wird im Vollzuge der philosophischen Reflexion eine Begründungsweise gesucht, die ihren Begründungsanspruch für die einzelne Person unter den Umständen einer bestimmten Situation geltend machen kann, was von schon vorgegebenen Standpunkten aus nicht eingelöst werden kann. Es stellt sich der philosophischen Reflexion somit die Herausforderung, die Möglichkeit der Begründung der Wertvorstellungen und des Handelns einzelner Personen im allgemein, unbedingt verbindlich Guten, innerhalb der materiellen Bedingungen und praktischen Begründungszusammenhänge, in denen sie sich befindet, zu begreifen. Vor dem Hintergrund dessen, was in diesem Abschnitt bisher gesagt wurde, kann ein Gegensatz von zwei Betrachtungsweisen des ethisch Guten eingeführt werden. Die erste kann die theoretische Auffassung genannt werden, die eine Auffassung des guten Lebens in Besitz nehmen und vorgeben will. In dieser Auffassung steckt zu34
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gleich der normative Anspruch des Nachdenkens darüber, was gut sei, der darin besteht, das dieses mit objektiver Gültigkeit, als Darstellung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, gefasst werden kann. Diesen Anspruch werde ich im Folgenden als normativen Anspruch der philosophischen Ethik bezeichnen. Zunächst sind wir diesem Anspruch außerhalb der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute begegnet, als vorgegebene Auffassung vom Guten. Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute beginnt hingegen mit der kritischen Befragung von vorgegebenen Auffassungen darüber, wie das gute Leben zu verstehen sei, insofern sie danach fragt, welche Auffassung des Guten für einzelne Personen motivierend oder überzeugend sein kann. Diese Hinterfragung von Auffassungen des ethisch Guten aus der Perspektive einzelner Personen will ich im Folgenden als kritischen Anspruch der philosophischen Ethik bezeichnen. Dieser kritische Anspruch zeigt zunächst nur durch Verneinung, Gegenüberstellung oder Vergleich verschiedener Auffassungen des ethisch Guten, dass ein Verständnis davon, was allgemein, unbedingt verbindlich gut ist, nicht unmittelbar gegeben sein kann. Es stellt sich uns nun die Frage, wie der Zusammenhang vom kritischen und normativen Anspruch der philosophischen Ethik möglich ist.
3.
Befreiung durch Reflexion
Die Bedingung, das ethisch Gute im Zusammenhang des Lebensvollzuges einer Person zu begreifen, formuliert Hume in An Enquiry Concerning the Principles of Moral wie folgt: It appears evident, that the ultimate ends of human action can never, in any case, be accounted for by reason, but recommand themselves entirely to the sentiments and affections of mankind, without any dependence on the intellectual faculties. 25
Humes Verweis auf die »sentiments and affections of mankind« fordert die Einlösung des kritischen Anspruches der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute ein, insofern sie unabhängig vom Gebrauch der »intellectual faculties« zu verstehen sind, die über Tatsachen oder Relationen urteilen. 26 Aus dieser für die Ethik grundDavid Hume: An Enquiry Concerning the Principles of Morals. Indianiapolis/Cambridge 1983, S. 87. (Hervorhebung im Original.) 26 Ibidem, S. 84. 25
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legenden Unterscheidung der Objektivität von »intellectual faculties« und subjektiven »sentiments and affections« folgt für Hume, wie für ihm folgende Autoren 27, die Unmöglichkeit jeder ethischen Theorie mit einem normativen Anspruch. Denn über Werte seien keine wahren Aussagen möglich, wie sie in den Naturwissenschaften oder der Mathematik gemacht werden können. Hier soll nicht das Argument Humes in all seinen detaillierten Schritten nachvollzogen werden, sondern die philosophische Haltung, die die Ablehnung einer ethischen Theorie motiviert, soll erfasst werden. Diese Haltung findet sich zum Beispiel in Bernard Williams’ Schriften wieder, der Humes in dem Zitat artikulierten Gedanken weiterführt, indem er zwischen internen und externen Gründen unterscheidet. 28 Interne Gründe stellen nach Williams solche dar, die in der Motivationsstruktur einer Person verankert sind. Für eine einzelne Person ist ein Handlungszweck demnach normativ, weil er im Zusammenhang mit deren internen Gründen steht. Externen Gründen ist hingegen charakteristisch, unabhängig von den Motiven einzelner Personen einen Geltungsgrund ethischer Normen zu liefern. Doch eine Rolle im Zusammenhang einer Handlungserklärung einer einzelnen Person können externe Gründe nur haben, wenn sie in Bezug auf deren subjektive Motivationsstruktur stehen. Handlungsbegründungen sind also begrenzt, insofern sie nur relativ auf die subjektive Motivationsstruktur einer Person möglich sind. Dem Humeanischen Gedanken folgend gehen Wertaussagen auf Dispositionen, die eine Person aufgrund ihrer Motivationsstruktur besitzt, zurück. Somit ist die Formulierung einer ethischen Theorie, die deren Begründung liefert, nicht möglich. Das liegt auch daran, dass die Möglichkeit einer solchen Theorie am Wahrheitsanspruch naturwissenschaftlicher Erkenntnisse gemessen wird 29, den WertausAutoren, die bezüglich des hier vollzogenen Argumentationsganges in Humes Nachfolge stehen, mögen mit einem anderen Anspruch und aus einer anderen philosophischen Motivationslage zu betrachten sein. Sie teilen jedoch das Problemverständnis mit Hume, wonach praktisch motivierende Affekte und theoretisch begründender Intellekt unterschieden sind. Um die Problematik dieses Problemverständnisses geht es hier. Ich denke etwa an folgende Ansätze zeitgenössischer Autoren: Michael Smith: The Moral Problem. Oxford 1994; Keiran Setiya: Reasons without Rationalism. New Jersey 2007; Nomy Arpaly / Timothy Schroeder: In Praise of Desire. Oxford 2014. 28 Bernard Williams: Internal and External Reasons. In: Ders.: Moral Luck. Cambridge 1981, S. 101 ff. 29 Vgl. John L. Mackie: Ethics. Inventing Right and Wrong. London 1990, S. 15 und 19. 27
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sagen nicht einlösen können. Die Ablehnung einer Theorie, die Motive und Wertaussagen fundieren soll, kann auch als eine Befreiung der Person von der Last metaphysischer Welterklärungen betrachtet werden, wodurch sie erst Verantwortung für eine Auffassung der guten Praxis entwickeln könne. 30 Aufgrund dieser Befreiung von metaphysischen Vorannahmen oder szientistischen Bestimmungen von außen, von »sideways-on« 31, nach McDowells Formulierung, sei Raum für eine genuin praktische Betrachtung des ethisch Guten gegeben. Die Frage nach dem Guten wird demnach erst das Gelingen des guten Lebens der einzelnen Person betreffend zu einer genuin ethischen Frage. Sie steht im Zusammenhang mit dem Nachdenken einer einzelnen Person darüber, wie sie leben will. Das heißt, das Gute muss ihr im und aus dem Zusammenhang ihres Lebensvollzuges verständlich werden. Die Dispositionen zu bestimmten Evaluationen und situativen Reaktionen stellen damit den Ausgangspunkt der Bestimmung ethischer Überlegungen dar. Dazu kann auch die soziale Rechtfertigung der jeweiligen Aussagen und Reaktionen gehören. 32 Das heißt, was gut ist, ist, wenn überhaupt, aus der Perspektive der Ausübung der praktischen Fähigkeiten einzelner Personen, nach ihren Motiven zu handeln, zu begreifen. 33 Wir sehen, wenn wir der Humeanischen Weise, über das ethisch Gute nachzudenken, folgen, bleibt kein Raum mehr für eine Theorie über das ethisch Gute, denn dieses kann nur innerhalb der Motive und Dispositionen einer einzelnen Person erfasst werden. Demnach ist eine Begründung einer guten ethischen Praxis in theoretischen Begriffen von göttlichen Geboten, normativen Tatsachen, moraVgl. Rudolf Carnap: Theoretische Fragen und praktische Entscheidungen. In: Natur und Geist. 2 (1934), S. 257–260. 31 Vgl. John H. McDowell: Mind and World. With a New Introduction. Cambridge Mass. 1996, S. 35. McDowell ist kein Humeaner. Er teilt mit diesen lediglich die Kritik der »sideways-on«-Perspektive. 32 Ausführungen dazu finden sich bei den Vertretern des metaethischen Expressivismus.Vgl. Allan Gibbard: Thinking How to Live. Cambridge Mass./London 2003, S. 173, 178, S. 274–278 und S. 283–287. und Simon Blackburn: Ruling Passions. A Theory of Practical Reasoning. Oxfod 1998, S. 73, S. 200–212 und S. 310. 33 Vgl. hierzu auch Bernard Williams: Internal and External Reasons. In: Ders.: Moral Luck. Cambridge 1981, S. 101–113. Michael Smith argumentiert in seinem Buch The Moral Problem, dass jede ethische Theorie davon ausgehen muss, was eine Person motiviert, bestimmte Zwecke als handlungsleitend anzunehmen. Vgl. Michael Smith: The Moral Problem. Oxford 1994, S. 92 ff., und Ders.: The Humean Theory of Motivation. In: Mind. 96/381 (1987), S. 36–61. 30
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lischen Gefühlen, menschlichen Bedürfnissen oder einem rationalen Lebensplan nicht möglich. Das ethisch Gute kann, wenn überhaupt, im Erklärungs- und Begründungszusammenhang der Handlungsweisen einzelner Personen zum Ausdruck kommen. Die Frage nach der Begründung einer ethischen Praxis muss stattdessen in praktischen Begründungsformen gegeben werden. Eine praktische Begründungsform muss zum Beispiel erklären, dass es gut ist, dass ich einer Person P Geld gebe, um ihr zu helfen, weil sie sich in einer Situation befindet, in der sie hungrig ist. Indem ich P in der gegebenen Situation Geld gebe, ist ihr geholfen, da sie sich Essen kaufen und somit ihren Hunger stillen kann. Der Bezug auf einen theoretisch fundierten Standpunkt würde hier kein Verständnis der Norm des Helfens geben, sondern den Blick auf die praktischen Umstände nur versperren. Innerhalb einer praktischen Begründungsform stellen sich bloß theoretisch fundierte ethische Begrifflichkeiten als sinnlos und leer heraus. 34 Worin besteht dann die Einsicht in der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute? Deren Einsicht stellt sich zunächst als eine Befreiung dar. Indem die Ethik von theoretischen, ethischen Begrifflichkeiten befreit wird, löst sie ihren kritischen Anspruch ein. Sie kritisiert ethische Theorien, die Erklärungen zu geben vermeinen, die außerhalb des Sinnzusammenhanges des Lebensvollzuges einer Person und somit außerhalb des ihr zugänglichen Erklärungs- und Begründungszusammenhangs stehen. Die philosophische Reflexion, die danach fragt, wie die Handlungsweisen einer Person das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck bringen, sieht somit nur die Grenzen solcher Theorien ein. Denn jede Bestimmung, die durch die Reflexion getroffen wird, scheint zwangsläufig vom partikularen Erklärungs- und Begründungszusammenhang des Urteilens und Handelns einer Person zu abstrahieren. Dieser Argumentation folgend, steht der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das Gute dem normativen Anspruch einer ethischen Theorie unversöhnlich entgegen. Daraus folgt nicht, dass die philosophische Reflexion damit nichts leistet. Jede kritische Einsicht stellt eine Befreiung von vermeintlich objektiv gültigen Auffassungen des guten Lebens dar. Folgen wir der Humeanischen Unterscheidung von »sentiments Auch von Wittgenstein beeinflusste Autoren, wie Cora Diamond, verweisen auf diesen Punkt. Vgl. Ders.: Eating Meat and Eating People. In: Philosophy. 53/206 (1978), S. 465–479. 34
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and affections of mankind« und »intellectual faculties«, oder Williams’ von internen und externen Gründen, können wir also lediglich den kritischen Anspruch der Ethik als Befreiung von theoretischen Bestimmungen des ethisch Guten verstehen. Zugleich kommt die philosophische Reflexion, die Motive und Gründe einzelner Personen miteinbezieht, dabei nur zu einem skeptischen Ende, da sie nur die Falschheit oder aber bloß dogmatistisch behauptete Autorität einer vermeintlichen Bestimmung des ethisch Guten, aber nicht eine mögliche Einlösung des normativen Anspruches der Ethik einsieht. Gäben wir uns damit zufrieden, bliebe es bei einer Beschränkung auf subjektive Motivationsstrukturen und es würde nicht ersichtlich, wie Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute genommen werden kann. Im Folgenden wollen wir untersuchen, inwiefern eine Versöhnung des kritischen Anspruches der philosophischen Reflexion mit dem normativen Anspruch der Ethik möglich ist. Das heißt, es gilt zu zeigen, ob die philosophische Ethik notwendig skeptisch sein muss, oder es ihr möglich ist, im Vollzug ihrer Reflexion mit einem normativen Anspruch aufzutreten, insofern er also nicht als bloß gegeben betrachtet wird.
4.
Die Antinomie der Ethik
Fassen wir zusammen. Wir haben in § 1 mit der Feststellung begonnen, dass die Frage nach dem ethisch Guten möglich ist, wenn Handlungsbegründungen und praktische Überlegungen von der Art möglich sind, die in einem Ziel, das um seiner selbst willen verfolgt wird, enden. Mit dieser formalen Unterscheidung verschiedener Arten von Handlungsbegründungen ist noch nicht das ethisch Gute als Gegenstand der philosophischen Reflexion begriffen. Für diese ist es nicht schlicht gegeben. Diese fragt hingegen, welche Vorstellung von einem Handlungsziel, das um seiner selbst willen verfolgt wird, dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten entspricht – in dieser Frage bezieht sie sich auf den normativen Anspruch der Ethik. Neben und entgegen der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute wird auch mit Bezug auf tradierte Auffassungen des guten Lebens oder szientistische Erklärungen, von einem archimedischen Standpunkt aus, beansprucht, den normativen Anspruch einer allgemein, unbedingt verbindlichen Auffassung des ethisch Guten einzulösen. Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute beginnt jedoch damit, Die Negativität des Sittlichen
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Auslegungen und Erklärungen über gutes Handeln und Leben nicht mehr unmittelbar zu vertrauen, sondern zu hinterfragen und Raum für verschiedene Möglichkeiten der Begründung zu schaffen (§ 2) – darin besteht der kritische Anspruch. Dabei befreit sie von vermeintlichem Wissen und Theorien darüber, was zu tun gut sei, indem sie über dieses aus der Perspektive des praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhanges einer Person aufklärt. Durch die Einlösung ihres kritischen Anspruches begrenzt die philosophische Reflexion sich zunächst nur selbst, indem sie in ihrer aufklärenden und befreienden Tätigkeit zugleich skeptisch wird. Das heißt, sie begreift die eigene Unfähigkeit, eine Theorie des ethisch Guten zu liefern (§ 3). Die philosophische Reflexion begrenzt also die Möglichkeit eines Verständnisses des allgemein, unbedingt verbindlich Guten auf den einer Person zugänglichen praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhang. Daraus folgt: Der normative Anspruch der philosophischen Ethik kann durch die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute nur innerhalb der Grenzen, die durch Einlösung ihres kritischen Anspruches gesetzt werden, eingelöst werden. Das heißt, das ethisch Gute kann nur innerhalb des praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhang sinnvoll für eine Person begriffen werden. Erklären lässt sich bisher jedoch allein der Gegensatz des kritischen und normativen Ansatzes der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute. Somit bleibt sie angreifbar, so lange sie ihrem eigenen normativen Anspruch nicht gerecht wird, weil sie dann keine Orientierung geben kann und Raum für vom theoretischen Standpunkt gegebene ethische Begründungsweisen und Handlungsanweisungen ließe. Dass die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute angreifbar bleibt, wenn sie nicht selbst einen normativen Anspruch formuliert, kann daran verdeutlicht werden, dass sie dadurch in eine Antinomie, also in interne Widersprüche gerät. Diese Antinomie besteht nicht allein im Widerspruch zwischen Theorie auf der einen und Praxis auf der anderen Seite. Vielmehr entsteht diese Antinomie aus den eigenen Ansprüchen der philosophischen Reflexion: Auf der einen Seite hat sie den kritischen Anspruch, der in der Einsicht in die Unmöglichkeit einer theoretischen Bestimmung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten eingelöst wird. Auf der anderen Seite hat sie den normativen Anspruch, der eingelöst wird, indem die Unbestimmtheit der ethischen Begründung des Handelns in der Reflexion aufgelöst wird, indem sie selbst eine Auffassung des ethisch Guten 40
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liefert, die einen allgemein und unbedingt verbindlichen Geltungsanspruch besser einlöst als vorgegebene Auffassungen oder Theorien über das ethisch Gute. Nach dem bisher Gesagten scheinen der normative und der kritische Anspruch unvereinbar. Die Antinomie, in die die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute gerät, kann also dargestellt werden, indem betrachtet wird, inwiefern ihr kritischer und ihr normativer Anspruch jeweils zeigen, dass der andere unberechtigt ist. Wird der normative Anspruch eingelöst, wird auf einen Begründungsanspruch reflektiert, durch den gute und schlechte, das heißt ethisch begründete und widersprüchliche Auffassungen von ethischen Praktiken unterschieden werden können. Doch eine Theorie, durch die eine solche Unterscheidung möglich wird, ist wiederum nur möglich, wenn sie von konkreten Begründungs- und Erklärungszusammenhängen abstrahiert. Damit wird sie zugleich aber praktisch wirkungslos. Die Begrifflichkeiten, die sie liefert, bleiben leer oder würden, soweit sie praktische Autorität zu erlangen versucht, als dogmatistisch aufgefasst. Zum Beispiel kann eine theoretische Unterscheidung zwischen bloß subjektiven Handlungszwecken, die Freude oder Genuss dienen, und objektiven Handlungszwecken, die zu einer vernünftigen Ordnung passen und verpflichtend sind, gemacht werden. 35 Diese Unterscheidung besteht alleine innerhalb theoretischer Bestimmungen, da sie gegenüber den konkreten praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhängen, die einer Person zugänglich sind, eine bloße Annahme bleibt. Das heißt, worin die konkrete Bedeutung von Genuss oder Pflicht für eine Person besteht, kann nicht entschieden werden. Durch den Nachweis der praktischen Sinnlosigkeit theoretischer Unterscheidungen durch Aufklärung über und Befreiung von vermeintlichen Auffassungen über das ethisch Gute, wird der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute eingelöst. Dieser besteht darin, auf die Unzulänglichkeit jeder theoretischen Begründung gegenüber dem praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhang einer Person zu verweisen. Aus dieser Perspektive ist es möglich, dass neue Handlungsmöglichkeiten gesehen werden. Auch sind ein praktischer Diskurs und Überlegungen
35 Vgl. etwa das Vorgehen Candace Voglers in Reasonable Vicious. Cambridge Mass./ London 2002, S. 113 ff.
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möglich. 36 Das Problem liegt jedoch darin, dass deren Möglichkeit allein aus der Aufklärung über theoretische Sinnlosigkeit erwächst, aber keine Aufklärung über genuin praktische Widersprüche betrieben wird. Die philosophische Ethik bleibt somit dumm und ausgeliefert, da sie nicht den Sinnzusammenhang des Lebensvollzuges einer Person sowie den von ihr angenommenen praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhang kritisch befragen oder begründen kann. Somit kann sie anderen, dogmatistischen ethische Auffassungen und Theorien nichts entgegenstellen. Das Nachdenken über das ethisch Gute gerät also im Vollzuge seiner selbst in eine Antinomie. Einerseits beginnt diese Befragung mit dem kritischen Befragen gegebener Auffassungen des ethisch Guten, denn sonst bleibt es bei bloßen Annahmen, die bloß Auslegen erfordern, aber keine Begründung aus der Perspektive der Person geben können. Andererseits ist sie herausgefordert, selbst Bestimmungen davon, was gut sei, zu liefern, da sie sonst gegenüber praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen dumm und ausgeliefert bleibt. Um diese Antinomie der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute aufzulösen, ist sie auf eine Weise zu vollziehen, die beiden Ansprüchen gerecht wird. Das erfordert, dass sie zeigen kann, wie die Begründung der Gültigkeit einer Weise zu Handeln innerhalb einer praktischen Begründungsform gegeben werden kann. Das hieße, in dieser Begründungsform wird Bezug auf den Maßstab des richtigen Handelns genommen, durch den eine Unterscheidung von gutem und schlechtem als gelungenem und misslungenem Handeln vollzogen werden kann, ohne dass eine Theorie von einem vorgegebenen, äußerlichen Standpunkt formuliert wird. Diese Unterscheidung muss also innerhalb der praktischen Sinnzusammenhänge einer Person möglich sein. Dann erst würde die Unterscheidung von gelingendem und misslingendem Handeln praktisch, das heißt allein durch die Bedingungen der Ausübung praktischer Fähigkeiten möglich. Das heißt, es gilt praktisch zu erklären, warum es schlecht ist, unter gegebenen praktischen Umständen das eine zu tun, aber gut ist, das andere zu tun. Es gilt mit Bezug auf die praktischen Umstände zu Diese zeigen Vertreter des zeitgenössischen metaethischen Expressivismus, wie Simon Blackburn: Ruling Passion. A Theory of Practical Reasoning. Oxford 2000, S. 200–212, und Allan Gibbard: Thinking How to Live. Cambridge Mass./London 2003, S. 159–178.
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zeigen, dass es eine misslungene Ausübung praktischer Fähigkeiten darstellt, wenn nicht eine gute ethische Praxis realisiert wird, etwa bloß die Praxis, die aus der Verpflichtung gegenüber einer bestimmten Gruppe von Personen hervorgeht. Die Auflösung der Antinomie verlangt also zu verstehen, wie eine Unterscheidung von misslungenen und gelungenen Ausübungen praktischer Fähigkeiten, also Handlungen im weitesten Sinne, zu verstehen ist, ohne dass Bezug auf eine ihr äußerliche Theorie über das ethisch gute Leben genommen werden muss, die einen Begriff eines Lebensplanes, göttlicher Gebote, einer Auffassung von Freude oder sonstiger Kandidaten aus der Liste in § 1 darstellt. 37 Die Möglichkeit einer solchen Begründung verlangt jedoch von der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute, unter Berücksichtigung ihres kritischen Anspruchs die Möglichkeit der Einlösung ihres normativen Anspruches zu begreifen. Das heißt, sie muss eine Ebene erlangen, auf der sie ihrem kritischen Anspruch gerecht wird, ohne in einer skeptischen Position zu enden. Wir sehen an diesem Punkt also, was verlangt wird, damit die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute überhaupt möglich ist, ohne in eine Antinomie zu geraten. Sie muss den normativen Maßstab für das Urteilen und Handeln einer Person in Verbindung mit deren praktischen Fähigkeiten analysieren.
II.
Die Formanalyse ethischen Wissens
Dieser Abschnitt stellt eine Auffassung des Vollzuges der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute dar, die sowohl den normativen Anspruch, einem Maßstab des allgemein, unbedingt verbindlich Guten zu entsprechen, als auch den kritischen Anspruch, dessen Bedeutung im partikularen Lebensvollzug einer Person zu erweisen, einlösen kann. Es wird gezeigt werden, dass die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute als Formanalyse praktischer Fähigkeiten zu vollziehen ist, um beiden Ansprüchen gerecht zu werden (§ 1). Im Rahmen einer Formanalyse ist der Gegenstand der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute als substantielle Form des Lebens aufDie Möglichkeit dieser Unterscheidung wird von Vogler (vgl. Fußnote 11) geleugnet. Ethik sei stattdessen nur in Bezug auf die thomistische Theologie und nicht unter säkularen Bedingungen möglich. Vgl. Candace Vogler: Reasonable Vicious. Cambridge Mass./London 2002, S. 193 ff. 37
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zufassen, die eine normative Beschreibung verschiedener, situationsbedingter Lebensvollzüge erlaubt (§ 2). Personen, die nach Gründen fragen und sich aus Gründen auf eine Wertvorstellung oder Weisen zu handeln beziehen, entsprechen der Norm der substantiellen Form des Lebens durch selbstbewusste Ausübung ihrer Fähigkeiten. Es wird geklärt werden, wie die Formanalyse als Analyse der selbstbewussten Ausübung von Fähigkeiten zu verstehen ist. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis vom normativen und kritischen Anspruch erneut (§ 3).
1.
Metareflexion auf die Form guten Handelns
In Anbetracht der Antinomie, in die die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute gerät, scheint es, als stehe die philosophische Ethik vor dem Dilemma, zwischen praktisch leeren theoretischen Differenzierungen und einer dummen, ausgesetzten Praxis entscheiden zu müssen. Einen möglichen Ausweg aus diesem Dilemma der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute können wir mit Hilfe von G. E. M. Anscombes Diagnose des Problems der Moralphilosophie finden, das sie in ihrem Aufsatz »Modern Moral Philosophy« darstellt. Nach Anscombe fehlt der modernen Moralphilosophie, die sie in ihrem Aufsatz kritisiert, die entsprechende Analyse von Handlungsfähigkeiten, um zu verstehen, wie ethisches Sollen, dem Gesetzeskraft zugeschrieben wird, für ein Individuum, in Anbetracht der materiellen Umstände seines Lebensvollzuges, verbindlich sein kann. Diese Verbindlichkeit könne nach Anscombe nicht erklärt werden, wenn man versuche, eine Gesetzesethik zu formulieren, absehend vom deskriptiven Gehalt von Urteilen und Handlungen, von dem Hume ausgeht. 38 Das Problem der Moralphilosophie besteht nach Anscombe also in dem Widerspruch zwischen deskriptiven und normativen Gehalten der Moral, also zwischen dem Erklärungs- und Begründungszusammenhang des Handelns einzelner Personen und dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten. Anscombe liefert in ihrem Aufsatz keinen Vorschlag zu einer Lösung dieses Problems, zeigt jedoch, auf welchem Wege man dorthin gelangen könnte. Der Vgl. G. E. M. Anscombe: Modern Moral Philosophy. In: Mary Geach / Luke Gormally (Hrsgg.): Human Life, Action, and Ethics. Essays by G. E. M. Anscombe. Exeter/Charlottesville 2005, S. 174–175.
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Weg zur Lösung dieses Problems könne allein in einer Analyse der Handlungsfähigkeiten von Individuen liegen. Dieser Einsicht folgend, gilt es somit zu zeigen, durch welche Art von Handlungsfähigkeiten tugendhaftes Handeln, also solches, das zur Realisierung des ethisch Guten führt und menschliches Leben gedeihen lässt, möglich wird. 39 Im Folgenden wird gezeigt, inwieweit die normative Analyse von Handlungsfähigkeiten den Widerspruch des normativen und kritischen Anspruches der philosophischen Ethik auflösen kann. Wie wir in § 1 von Abschnitt I dieses Kapitels bereits gesehen haben, werden Handlungen mit verschiedenen Arten von Zielen realisiert. Einfache Handlungen zielen zum Beispiel darauf ab, einen einfachen materiellen Zustand zu verändern, in dem einmal bestimmte Handlungsschritte ausgeführt werden, wie das Licht anzuschalten, indem ich aufstehe, zum Schalter laufe und ihn antippe. Tugendhaftes Handeln stellt eine spezifische Art des Handelns dar, bei dem unbedingte Ziele realisiert werden. Das ist nur durch eine Art von Fähigkeit möglich, die sich nicht darin erschöpft, einen bestimmten materiellen Zustand hier und jetzt zu erzeugen. Die Analyse der Fähigkeit in Übereinstimmung mit dem ethisch Guten, an das der Anspruch auf allgemein, unbedingte Verbindlichkeit besteht, zu handeln, wird durch den Kontext der unbedingten Ziele ethischer Praktiken bestimmt, die in unendlich vielen verschiedenen Situationen verschiedentlich realisiert werden können. Verfolgt man diesen, von Anscombe vorgeschlagenen Weg, wandelt sich das Vorgehen der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute. Durch diesen Wandel kann sie sich selbst von ihrer Antinomie befreien, indem sie ihren Gegenstand auf neue Weise begreift. Sie verbindet ihren normativen Anspruch und ihre kritische Begrenzung auf den Erklärungs- und Begründungszusammenhang des Handelns einer Person, indem sie die Ausübung praktischer Fähigkeiten einer Person, als Fähigkeiten aus dem Maßstab tugendhafter Praktiken zu handeln, darstellt. Der Vollzug der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute führt somit weder zu einer Theorie über das gute Leben noch besteht dieser allein in einer Kritik von vermeintlichen Auffassungen vom Guten. Vielmehr besteht der Vollzug der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute in der Darstellung der Form des Tätigseins, als praktisch orientiertes Denken, durch das 39
Ibidem, S. 174 und S. 193.
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eine Person ein Wissen von dem, was gut zu tun sei, erlangen kann. Die philosophische Reflexion, deren Vollzug in einer Formanalyse besteht, ist dann als Metareflexion zu vollziehen, welche die konstitutive Form, die Bedingungen des ethisch guten Handelns, darstellt. Diese Metareflexion kann in zwei Punkten charakterisiert werden. Erstens stellt sie eine Formanalyse dar, weil sie die konstitutive Form von Fähigkeiten darstellt, die in verschiedenen möglichen Begründungs- und Erklärungszusammenhängen von verschiedenen Personen, gilt. Dadurch, dass die Form von Fähigkeiten zum Gegenstand genommen wird, können erst Bedingungen der richtigen Ausübung von Fähigkeiten tugendhaften Handelns formuliert werden, die allgemein gelten und nicht nur relativ auf einen lokalen Kontext der konkreten praktischen Erklärungs- und Begründungsweise einer Person. Dadurch wird die Formanalyse dem normativen Anspruch gerecht. Zweitens stellt die Formanalyse die Form eines Begründungsund Erklärungszusammenhanges ethischer Praktiken dar. Sie formuliert somit auch die Norm, durch die Gelingen und Scheitern sowie Gutes und Böses im Vollzug partikularer Handlungsvollzüge unterschieden werden können. Dadurch wird sie dem kritischen Anspruch gerecht. Durch den Vollzug einer Formanalyse des Tätigseins und Denkens, das Bezug auf das ethisch Gute nimmt, werden der normative und der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute somit zusammen eingelöst. Durch die Analyse der allgemeinen konstitutiven Form ethischen Handelns wird also die interne Norm des konkreten Vollzugs der Fähigkeit zu ethischen Überlegungen und zum gelingenden Handeln dargestellt. 40 Weil diese interne Norm eine allgemeine Bedingung der richtigen Ausübung dieser Fähigkeit darstellt, erfüllt sie den normativen Anspruch. Weil es sich um eine Norm einer Fähigkeit handelt, deren Inhalt in den Handlungsweisen der Individuen liegen, die sie ausüben, wird der kritische Anspruch eingelöst. An diesem Punkt sind zwei Begriffe von Form als Gegenstand der Formanalyse zu unterscheiden. Ein Begriff von Form findet sich in solchen Positionen, die eine Unterscheidung zwischen Ethik und Moral machen. Die Ethik betrifft demnach rein subjektive Auffassungen des guten Lebens, während zur Moral objektiv gültige Normen 40 Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewusstseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie. Frankfurt am Main 2005, S. 45 und S. 50.
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gehören, die unter bestimmten Bedingungen von allen Personen angenommen werden müssen. Die subjektive Vorstellung vom guten Leben wird von der objektiven Gültigkeit von Normen des richtigen Verhaltens prinzipiell unterschieden. Der normative Anspruch der ethischen Reflexion wird dann in der Moral geltend gemacht, indem dort objektiv gültige Normen dargestellt werden. Der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion wird geltend gemacht, indem sie in der Formulierung objektiv geltender moralischer Normen die Perspektive und Position der einzelnen Person, die eine partikulare Vorstellung vom guten Leben hat, berücksichtigt. Gegenstand der Formanalyse sind dann die Regeln eines Diskurses oder das Prozedere, durch das verschiedene Personen mit verschiedenen teils inkompatiblen Vorstellungen vom guten Leben, objektiven moralischen Normen Geltung verschaffen. 41 Wie ein Ansatz unter der Voraussetzung dieser Auffassung von Form ausformuliert wird, soll an diesem Punkt nicht gezeigt werden. Es zeigt sich aber schon in der Motivation solcher Ansätze, die Geltung objektiver moralischer Normen auf prinzipiell verschiedener Ebene von partikularen Vorstellungen des guten Leben zu erklären, dass eine bestimmte Art der Formanalyse vorausgesetzt wird. 42 Diese Art der Formanalyse ist dadurch gekennzeichnet, dass sie allein formalistisch Regeln und ein Prozedere darstellen kann, indem sie von verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben abstrahiert. 43 Geht man von einer prinzipiellen Unterscheidung vom ethisch Guten und moralisch Richtigen aus, hat man aber nicht das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Gegenstand. Allein Regeln und Prozedere, unter deren Voraussetzung verschiedene Personen Unter der Voraussetzung dieser Auffassung von Form werden verschiedene Arten von Ethik betrieben. Ein Beispiel stellt der Ansatz Jürgen Habermas dar. Er redet von transzendentalen Bedingungen, die detranszendentalisiert als »Argumentationsvoraussetzungen« gedeutet werden. (Vgl. Jürgen Habermas: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. Ditzingen 2001, S. 12–13.) 42 Vgl. Lutz Wingert: Gemeinsinn und Moral. Grundzüge einer intersubjektivistischen Moralkonzeption. Frankfurt am Main 1993, S. 23–27 und S. 48–52, Jürgen Habermas: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft. In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main 1991, S. 105–107; Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 2007, S. 100 ff.) 43 Damit ist nicht gesagt, dass die Form eines solchen Diskurses inhaltlich neutral ist. Es können sehr wohl Regeln formuliert werden, die Gerechtigkeit oder Fairness im Diskurs garantieren. 41
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mit verschiedenen Vorstellungen vom guten Leben in Austausch treten können, werden angegeben, aber das interne Verhältnis von partikularen Urteilen und Handlungsvollzügen auf ein Gut, mit allgemeiner und unbedingter Verbindlichkeit, wird nicht thematisiert. 44 Somit wird die Formanalyse hier bezüglich des normativen Anspruchs auf eine vorausgesetzte Ebene, die von partikularen Vorstellungen vom Guten abstrahiert, begrenzt. Ein anderer Weg der Formanalyse liegt darin, die substantielle Form ethischen Lebens zum Gegenstand der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute zu machen. Diese entspricht deren normativen Anspruch, bleibt jedoch zugleich kritisch, wenn sie dessen Einlösung an einer Analyse der Fähigkeiten, die substantielle Form des Lebens im Handeln zu realisieren, nachvollzieht. Für Anscombe stellt die Analyse von Handlungsfähigkeiten und dem, was zu einem gedeihenden menschlichen Leben führt, den Gegenstand einer philosophischen Psychologie dar. Die Rede von Psychologie ist nicht mit empirischer oder klinischer Psychologie zu verwechseln. Sie geht von der Aristotelischen Auffassung der Seele, der psyche, als Prinzip einer Art des Lebens aus. Die Aristotelische Psychologie stellt eine philosophische Untersuchung dar, insofern sie die substantielle Form der Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Handelns darstellt. Eine Untersuchung menschlicher Wahrnehmungsfähigkeiten hat dann die Art der Relation zu sinnlich gegebenen Objekten zum Gegenstand, in der allgemein begründbare Aussagen über diese möglich werden. Die Herausforderung der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute besteht dann darin, eine spezifische Art von Handlungsfähigkeiten zu untersuchen. Es gilt die Untersuchung der Fähigkeiten, in einem bestimmten Erklärungsund Begründungszusammenhang zu handeln, zu einer Formanalyse des ethischen Handelns, das in der Auffassung der guten ethischen Praxis zu einem Ende kommt, zu erweitern. Das heißt, der Erklärungs- und Begründungszusammenhang einer Person, in dem bestimmte Handlungsweisen eine bestimmte Bedeutung haben, ist in Bezug auf allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit einer Vorstellung vom ethisch Guten hin zu betrachten.
Da in dem hier dargestellten Ansatz die Unterscheidung von Ethik und Moral nicht gilt, wird im Folgenden mit der Verwendung der Wörter »Moral« und »Ethik« kein systematischer Punkt verbunden. Beide Wörter verweisen auf dieselbe Sache. Welches Wort verwendet wird ergibt sich aus dem Kontext.
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Substantielle Form
Die philosophische Ethik, als Formanalyse vollzogen, stellt den Zusammenhang der Lebensvollzüge eines Individuums mit der substantiellen Form dar, unter die sie fallen. Weil die Lebensvollzüge eines Individuums innerhalb von dessen konstitutiver Form des Lebens betrachtet werden, wird der normative Anspruch der Reflexion auf das ethisch Gute eingelöst. Wenn also in einer Situation Geld zu spenden richtig ist, dann ist es auch zugleich gut, weil Geld zu spenden zur Realisierung des Ziels, ein ethisch gutes Lebens zu führen, beiträgt. Der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute wird eingelöst, weil die substantielle Form des Lebens die normativen Maßstäbe für die korrekte Ausübung von dessen praktischen Fähigkeiten darstellt. Die Norm der Ausübung der Fähigkeiten besteht in dem Ziel, in einer Situation die substantielle Form des Lebens zu realisieren. Dieses Ziel ist nicht als ein zukünftiger Zustand zu begreifen. Die substantielle Form des Lebens umfasst vielmehr die notwendigen, konstitutiven Eigenschaften und Aktivitäten von Individuen einer bestimmten Art. Im menschlichen Leben bestehen diese Aktivitäten in guten ethischen Praktiken, wie zum Beispiel hilfsbereit oder besonnen oder gesund zu sein. Die richtige Realisierung dieser Weisen zu handeln führt zu einem tugendhaften, gedeihendem Leben. Unter den verschiedenen Formen des Lebens, deren Darstellung die Aufgabe verschiedener Wissenschaften ist, macht philosophische Reflexion auf das ethisch Gute sich die substantielle Form menschlichen Lebens zum Gegenstand. Sie stellt diese erstens dar, indem sie die spezifisch tugendhaften Aktivitäten, wie etwa Helfen, Besonnensein oder seine Gesundheit zu erhalten, analysiert. Zweitens ist die Fähigkeit zum guten Handeln bezüglich der Herausforderungen der Umstände der Situationen zu untersuchen, unter denen eine Person ihre Fähigkeiten ausübt. Je nach Umständen einer Situation unterscheidet sich die Weise, wie tugendhaftes Handeln gelingen kann; es kann etwa durch Geld oder durch gutes Zureden geholfen werden. Die Gesundheit kann durch Sport oder durch eine Diät erhalten werden. Dieser Analyse der substantiellen Form liegt die Idee zugrunde, dass die Herausbildung und fehlerfreie Ausübung der Fähigkeiten einer Person, in Situationen individueller Lebensvollzüge, das zum Ausdruck bringen, was der Form menschlichen Lebens entspricht und deshalb als allgemein und unbedingt verbindlich gut gilt. Die Die Negativität des Sittlichen
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
philosophische Reflexion auf das ethisch Gute stellt also dar, wie eine Person in ihrem Handeln in Bezug auf ihre Wesenseigenschaften steht, die die substantielle Form menschlichen Lebens ausmacht. 45 Um den Begriff einer substantiellen Form menschlichen Lebens zu verstehen, durch den das ethisch Gute innerhalb des Lebensvollzuges einer Person thematisiert wird, können wir zunächst Philippa Foot folgen, die in ihrem Buch Natural Goodness 46 sagt, dass die Frage nach dem ethisch Guten gestellt wird, wenn nach dem Ziel des vernünftigen Willens gefragt wird. Ihr Ansatz folgt der Lesart der Aristotelischen Ethik, wonach das Gute jeweils als interne Norm der Tätigkeiten zu verstehen sei, die evaluiert werden (vgl. auch Abschnitt I.1). Sie konkretisiert die immanente Auffassung des Guten, indem sie es als das versteht, was für das Leben eines Individuums, dessen Aktivitäten evaluiert werden, substantiell ist. Was für das Leben eines Individuums substantiell ist, stellt das natürliche Gute dar. Anders als die in Abschnitt I.2 diskutiert Verwendung von »Natur«, im Sinne wesentlicher Eigenschaften personalen Lebens, kann Foots Verwendung von »Natur« oder »natürlich« nicht im Sinne eines szientistischen Naturalismus verstanden werden, wonach Erklärungen sich in der Beschreibung rein empirischer Zusammenhänge erschöpfen. Diese begrenzte Auffassung von Natur nehmen zum Beispiel solche Neurowissenschaftler an, die aus Signalen von Neuronen 47, die bestimmte Aktivitäten des Nervensystems erklären, allgemeinere Schlüsse auf die Natur des menschlichen Geistes und die Moral machen. Die Evolutionstheorie, als anderes Beispiel, ist auf konkrete empirische Zusammenhänge beschränkt, wenn sie die Entwicklung von individuellen Lebewesen und ihrer Art mit Bezug auf Umwelteinflüsse untersucht. 48 Foots Verwendung von »Natur« und »natürlich« muss solche Auffassungen jedoch auch nicht als konträr Vgl. Andrea Kerns Analyse des Begriffs vernünftiger Fähigkeiten als konstitutive Einheit. (Andrea Kern: Quellen des Wissens. Frankfurt am Main 2004, S. 194–206.) 46 Philippa Foot: Natural Goodness. Oxford 2001. 47 Vgl. hierzu paradigmatisch Patricia Churchland, die in ihren Arbeiten argumentiert, dass eine reduktionistische Erklärung des Geistes möglich sei. Vgl. Patricia S. Churchland: Neurophilosophy. Toward a Unified Science of the Mind/Brain. Cambridge Mass. 1989, S. 315 ff., und Patricia S. Churchland: Braintrust. What Neuroscience Tells Us about Morality. Princeton 2011, S. 3. 48 Für solche Auffassungen eines Naturalismus, der beansprucht, menschliche Tätigkeiten zu erklären, vgl. Hilary Kornblith: Knowledge and its Place in Nature. Oxford/ New York 2002. Eine Differenzierung verschiedener Begriffe von Naturalismus findet sich in Geert Keil: Naturalismus und menschliche Natur. In: Wolf-Jürgen Cramm / 45
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zu der ihrigen betrachten. Vielmehr will sie die normative Betrachtung materiell bedingter Lebensprozesse möglich machen, indem diese auf ihren natürlichen Zweck hin betrachtet werden, der in der Form des Lebens vorgestellt wird. Das Gut des vernünftigen Willens entspringt demnach der Natur von Lebewesen, die im Besitz vernünftiger, praktischer Fähigkeiten, also eines Willens, sind. Folgen wir Foots Auffassung von Natur, liegt der Analyse der substantiellen Form von Fähigkeiten zum guten Handeln also eine umfassende Annahme darüber zugrunde, was die Natur eines Lebewesens qua substantieller Form des Lebens ist. Um eine Auffassung des ethisch Guten aus einer solchen Auffassung von »Natur« und »natürlich« zu entwickeln, nimmt Foot den von Michael Thompson entwickelten Begriff einer »Form des Lebens« (»Form of Life«) zu ihrem Ausgangspunkt. Nach Thompson besteht die Fähigkeit, eine Vorstellung von einer Lebensform zu entwickeln darin, individuelle Lebensvollzüge normativ, also auf ihr Gelingen oder Misslingen hin, zu beschreiben. Die Vorstellung von einer Form des Lebens besteht zunächst darin, einem Individuum eine Form des Lebens als Prädikat zuzuschreiben, wodurch es als Exemplar eben dieser betrachtet wird. Im Rahmen einer Form des Lebens können verschiedene Erscheinungsweisen und Tätigkeiten eines Individuums als Teil eines Lebensprozesse begriffen werden. 49 Das gilt auch schon für Pflanzen: So kann das Keimen der Eichel immanent der Form des Lebens der Eiche als zugehörig zu dem Baum, der aus ihr erwächst, gedacht werden; allein durch bloße empirische Beobachtungen einer keimenden Eichel und des Sprösslings einer Eiche könne dieser Zusammenhang nicht erfasst werden. Die Vorstellung einer Form des Lebens besteht also in einer allgemeinen inhaltlichen Charakterisierung der für eine bestimmte Art von Lebewesen notwendigen Lebensprozesse, die Thompson als »Aristotelian categoricals« bezeichnet. Diese werden in »natural historical judgments« 50 vorgestellt, die den üblichen Ver-
Geert Keil (Hrsg.): Der Ort der Vernunft in einer natürlichen Welt. Logische und anthropologische Ortsbestimmungen. Weilerswist 2008, 192–215. 49 Die Rede von »Form« stellt zwar eine Abstraktion von Einzelfällen dar, ist aber deswegen nicht leer von Inhalt. Somit ist die Rede von »Form« hier nicht mit der Rede von »formalen« Prinzipien zu vergleichen, die von jeglichen – allgemeinen – Inhalten entleert sind. 50 Michael Thompson: Life and Action. Elementary Strucures of Practice and Practical Thought. Cambridge Mass. 2012, S. 75. Die Negativität des Sittlichen
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lauf eines gedeihenden Lebens darstellen. 51 Die Form des Lebens eines Storches kann zum Beispiel in folgenden »natural historical judgments« vorgestellt werden: »Ende August zieht der Storch nach Zentralafrika.«, »Der Storch brütet im Frühling in Mitteleuropa.« oder »Männchen und Weibchen kooperieren beim Füttern der Jungen.«. Diese Urteile stellen in der Einheit einer Form des Lebens den normativen Kontext der Beschreibung von individuellen Lebensprozessen dar. 52 Sie beinhalten zugleich die materiellen Gegebenheiten, unter denen die in der Lebensform vorgestellten Aktivitäten vollzogen werden können. Durch diese Urteile kann angegeben werden, ob Lebensvollzüge gelingen beziehungsweise ob sie mangelhaft sind. Der Mangel wird hier als Privation, also Defekt begriffen. Das heißt, ein Individuum wird innerhalb der Form des Lebens als mangelhaft oder defekt beschrieben, wie etwa der einzelne Storch, der Ende August nicht gen Süden zieht, da er den Sammelpunkt des Schwarms nicht finden oder die Thermik der Winde nicht nutzen kann. Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen zum Begriff der Form des Lebens kann Foots Ansatz, das ethisch Gute als Gegenstand des Willens durch die Darstellung der substantiellen Form menschlichen Lebens zu begreifen, erst verstanden werden, da erst dadurch die Ausübung vernünftiger, praktischer Fähigkeiten einer Person im Zusammenhang mit Normen gedacht werden kann, die für sie gelten, weil diese für ihre Form des Lebens konstitutiv sind.
3.
Selbstbestimmung
Das Gelingen und Misslingen der Lebensvollzüge eines Individuums wird durch die Vorstellung von dessen Form des Lebens möglich. Die Formanalyse liefert die Darstellung der Fähigkeit, eine Vorstellung von einer Form des Lebens herauszubilden. Durch den Begriff einer Form des menschlichen Lebens, die konstitutiv für den guten Willen ist, soll nach Foot eine Alternative zum ethischen Subjektivismus geliefert und dem daraus folgenden Skeptizismus in der Moralphilosophie entgegnet werden. 53 Das heißt, der kritische Anspruch
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Ibidem, S. 67. Thompson spricht vom »wider context of the vital description«, Ibidem. S. 54 ff. Vgl. Philippa Foot: Natural Goodness. Oxford 2001, Kapitel 1.
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Die Formanalyse ethischen Wissens
der philosophischen Ethik soll eingelöst werden, ohne dass dabei ein Widerspruch zu deren normativen Anspruch entsteht. Zunächst wird der kritische und normative Anspruch der philosophischen Reflexion verbunden, indem das, was allgemein und unbedingt verbindlich gut ist, weil es für die Form menschlichen, ethischen Lebens konstitutiv ist, als interner Maßstab der Ausübung praktischer, vernünftiger Fähigkeiten aufgefasst wird. Das heißt, eine Person übt praktische, vernünftige Fähigkeiten richtig aus, wenn es in einer konkreten Situation, je nach Herausforderung einer Situation, das tut, was tugendhaft ist, also zum Beispiel Hilfe leistet, besonnen handelt und das tut, wodurch seine Gesundheit erhalten wird. Foots Ansatz bleibt anfällig für eine Kritik seitens des von ihr kritisierten ethischen Subjektivismus, da sie keine Erklärung davon liefert, wie die Vorstellung der substantiellen Form des ethischen Lebens mit dem Erklärungs- und Begründungszusammenhanges, innerhalb dessen eine Person ihr Leben gestaltet, zusammenhängt. Sie sagt lediglich, dass ethische Normativität in der Form des Lebens vom Menschen liegt, kann aber nicht erklären, wie eine Person, die in bestimmten Erklärungs- und Begründungszusammenhängen handeln kann, sich darauf bezieht. Das heißt, wir müssen einen Weg finden, die Verschränkung der Vorstellung dessen, was für ein ethisch gutes Lebens normativ ist, mit der Vorstellung von Handlungsgründen, die eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation haben kann, zu verstehen. Den kritischen Anspruch der philosophischen Ethik einzulösen, verlangt, dass eine Person im Vollzug praktischer Überlegungen und in der Ausübung praktischer, vernünftiger Fähigkeiten selbst immer schon Bezug auf die internen Normen seiner Form des Lebens nimmt. Nähme eine Person in der Ausübung praktischer, vernünftiger Fähigkeiten nicht selbst Bezug auf die Form des Lebens, stellte die Vorstellung einer substantiellen ethischen Lebensform bloß ein Schema dar, das ein Weiser, Theoretiker oder Wissenschaftler von außen auf partikulare Lebensvollzüge verschiedener Personen anwenden kann. Aus der Perspektive der Personen, auf die eine Vorstellung einer ethischen Lebensform so angewendet wird, kann deren Geltung jedoch in konkreten Situationen in Frage gestellt und als irrelevant im Sinnzusammenhang ihres Lebens betrachtet werden. Dann ist noch keine Alternative zu Humes Subjektivismus und daraus folgender Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines Begriffs vom allgemein, unbedingt verbindlichem Guten gefunden. Die Negativität des Sittlichen
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute, die ihrem normativen wie auch kritischen Anspruch gerecht wird, kann eine substantielle Form des Lebens zu ihrem Gegenstand machen, insofern deren Gehalt im Sinnzusammenhang des Lebens einzelner Personen, die in bestimmten praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhängen handeln, nachvollzogen wird. Es wird vorausgesetzt, dass die substantielle Form des Lebens, deren Prinzip das darstellt, was ethisch normativ ist, nicht durch rein physische Eigenschaften oder Verhaltensweisen gefasst wird, sondern in Handlungsweisen, die durch Gründe motiviert werden. Nur solche interessieren hier. Dazu bedarf es nicht einer metaphysischen Begründung der Unterscheidung von physikalisch bewirkten und willentlichen Bewegungen, welche in der Debatte um die so genannte Willensfreiheit behandelt wird. Eine Formanalyse bedarf nicht einer solchen metaphysischen Unterscheidung, da sie nicht in Konkurrenz dazu steht, sondern danach fragt, inwiefern normative Erklärungen, also Begründungen und Beschreibungen materieller Prozesse, möglich sind, die sich nicht in der Beschreibung beobachteter, empirischer Zusammenhänge erschöpfen. Im Vollzug der philosophischen Metareflexion als Formanalyse wird hier also die Frage gestellt, wie eine substantielle ethische Form des Lebens in den praktischen Erklärungs- und Begründungsweisen einer Person gefasst werden kann, durch die sie den Zusammenhang ihres eigenen Handelns unter gegebenen materiellen Bedingungen begreift. Die Fähigkeit, praktische Erklärungen und Begründungen von Handlungen zu geben, die Bezug auf die substantielle Form des Lebens nehmen, setzt voraus, dass eine Person weiß, was ihr entspricht. Man könnte nun annehmen, das vorausgesetzte Wissen davon, was einer substantiellen Form des Lebens entspricht, ist zunächst zu erwerben, bevor eine Person die Fähigkeit entwickeln kann, dementsprechend auch zu handeln. Dass das Wissen darüber, was gutes, tugendhaftes Leben ausmacht, vor der Ausübung der praktischen Fähigkeiten zu erwerben und zu verstehen sei, erscheint zunächst nicht unplausibel. Demnach müsste man aufgrund einer theoretischen Einsicht oder Expertise über die Form menschlichen Lebens in einem ersten Schritt etwa anerkennen, dass eine gerechte Verteilung zum Überleben wichtiger Güter ein allgemein und unbedingt verbindliches Gut darstelle. In einem zweiten Schritt wäre dann zu erklären, wie man es schafft, auch unter Berücksichtigung der Umstände in verschiedenen Situationen, richtig zu handeln, also Güter gerecht zu 54
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Die Formanalyse ethischen Wissens
verteilen. 54 Diese Unterscheidung zweier Schritte führte aber zurück zu unserem Anfangsproblem in Abschnitt I.2, zu erklären, wie der normative Anspruch einer ethischen Theorie mit dem Sinnzusammenhang des Lebensvollzuges einer Person sowie den praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhängen des Handelns zusammenhängt. Hier stellt sich das Problem nur anders dar, insofern die handelnde Person selbst als Theoretiker betrachtet wird. Die separate Betrachtung beider Aspekte setzte also einen Standpunkt außerhalb der Formanalyse voraus, die die Darstellung der internen Norm der praktischen Fähigkeiten von Personen zum Gegenstand hat. Eben diese Unterscheidung zwischen zwei Ebenen der Ansprüche der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute soll durch die Formanalyse aber nun gerade vermieden werden. Die Unterscheidung von zwei Schritten in der Analyse der Fähigkeit in Übereinstimmung mit dem, was ethisch gut ist, zu handeln, ist nach dieser Auffassung der substantiellen Formanalyse nicht möglich. Vielmehr besteht die Vorstellung der substantiellen Form des Lebens in den guten Gründen, die eine Person in einer bestimmten Situation erfasst. Eine Vorstellung von der substantiellen Form des Lebens besteht also in der Anerkennung der entsprechenden situativen Handlungsgründe, die für eine Person, die praktische Überlegungen korrekt vollzieht, unausweichlich sind. 55 Demnach erfasst eine Person die Gründe, die in einer Situation zur Realisierung einer menschlichen, also ethischen Lebensform führen, wenn sie praktische Überlegungen fehlerfrei vollzieht. Eine Person weiß also nicht einfach allgemein, dass Helfen, besonnenes Handeln oder die Pflege der Gesundheit gut ist, sondern sie sieht, dass zu spenden, seine Affekte zu kontrollieren oder Diät zu halten in einer konkreten Situation zu tun sind. Was eine substantielle Form ethischen Lebens beinhaltet, wird also nur in der Ausübung der praktischen, vernünftigen Fähigkeiten einer Person, und nicht unabhängig von diesen, verständlich. Eine Person handelt in Übereinstimmung mit dem, was als ethisch gut gilt, indem sie sich selbst bestimmt, auf diese und nicht auf jene Weise zu handeln, also etwas Geld zu spenden und nicht bloß gute Wünsche In einer solchen Auffassung mündet z. B. der Ansatz von Thomas Hoffmann. (Vgl. Thomas Hoffmann: Das Gute. Berlin/New York 2014.) 55 Vgl. Anselm W. Müller: Acting Well. In: Royal Institute of Philosophy Supplement. 54 (2004), S. 32–33. 54
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
auszusprechen. Durch den internen Maßstab der Ausübung praktischer Fähigkeiten ist zugleich zu begreifen, worin für verschiedene Personen unter verschiedenen praktischen Umständen gelungenes ethisches Handeln im Unterschied zu misslungenem ethischen Handeln besteht. Geht man also davon aus, dass die substantielle Form menschlichen, also ethischen Lebens zugleich das innere Maß der Ausübung praktischer Fähigkeiten darstellt, geht aus der gelungenen Ausübung praktischer Fähigkeiten hervor, welche Weise zu handeln einer guten ethischen Praxis entspricht. Die Herausforderung besteht nun darin zu erklären, wie diese Perspektive, die auch als die der ersten Person, die von Ich-Sagern oder des Selbstbewusstseins dargestellt wird, einerseits innerhalb der Allgemeinheit der substantiellen Form als inneres Maß für die Ausübung praktischer Fähigkeiten und andererseits mit Bezug auf die jeweils verschiedenen praktischen Umstände, unter denen Personen ihr Leben vollziehen, begriffen werden kann. Davon, ob dieser Zusammenhang gefasst werden kann, hängt es ab, ob praktisch, also unter partikularen praktischen Umständen, zwischen gelungener Ausübung praktischer Fähigkeiten, die der substantiellen Form ethischen Lebens entspricht, und misslungener, die dieser nicht entspricht, unterschieden werden kann.
III. Der Bezug auf praktische Umstände In Abschnitt I. haben wir den inneren Widerspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute als Antinomie von ihrem normativen und kritischen Anspruch dargestellt. Dieser Widerspruch wird aufgelöst, so wurde in Abschnitt II. gesehen, indem die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute als Formanalyse vollzogen wird. In diesem Abschnitt wird eine neue Herausforderung an die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute dargestellt. Diese Herausforderung besteht darin, den Zusammenhang der formalen Geltungsbedingungen und der konkreten Umstände der Ausübung der selbstbestimmten Ausübung praktischer Fähigkeiten zu fassen. Dieser Zusammenhang wird nicht gefasst, wenn die Bedingungen der korrekten Ausübung der Fähigkeit zur praktischen Selbstbestimmung abstrakt, theoretisch dargestellt wird (§ 1). Es stellt sich uns das Problem der Genese der Fähigkeit einer Person zur praktischen Selbstbestimmung unter konkreten praktischen Umständen, die durch praktische soziale und historische Umstände geprägt sind (§ 2). 56
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Der Bezug auf praktische Umstände
Vor dem Hintergrund des Problems der Genese, stellt sich die Möglichkeit einer einzelnen Person, in Übereinstimmung mit dem als allgemein und unbedingt verbindlich verstandenen Guten ihr Leben zu gestalten, als praktische Herausforderung zur Realisierung des Endzwecks guten Lebens dar (§ 3). Um die praktisch sozialen und historischen Umstände einer Person in Bezug auf den Endzweck des ethischen Lebens zu begreifen, muss die philosophische Reflexion ihre Perspektive nochmals verschieben. Wir werden sehen, dass sie als praktische Reflexion zu vollziehen ist, die die sozialen und historischen Umstände des Lebensvollzugs einer Person miteinbezieht (§ 4).
1.
Darstellung von Geltungsbedingungen
Vor dem Hintergrund der Erörterungen in Abschnitt I. und II. stellt sich der Formanalyse, als Vollzug der Metareflexion auf die Fähigkeiten zum guten Handeln, ihr Gegenstand auf folgende Weise dar: (1) ein Verständnis davon, was der substantiellen Form des ethischen Lebens entspricht, erlangt eine Person in Handlungsgründen, die sich auf die partikularen Umstände einer Situation beziehen. Was ein ethisch gutes Leben ausmacht, ist somit nicht unabhängig von der Ausübung praktischer Fähigkeiten unter den Umständen einer Situation zu verstehen. (2) Die praktische Fähigkeit sich vorzustellen oder davon Wissen zu erlangen, was gut zu tun ist, ist durch die Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit der Form der Ausübung praktischer Fähigkeiten möglich. Da die substantielle Form des ethischen Lebens also als die allgemeine Form der Ausübung von praktischen Fähigkeiten aufgefasst wird, kann eine Person allgemein, unbedingt verbindliche Gründe fassen, die jede andere Person unter denselben situativen Umständen auch fassen muss, wenn sie ihre praktischen Fähigkeiten fehlerfrei ausübt. Die Gründe zum Handeln, die eine Person erfasst, stellen eine Art der praktischen Selbstzuschreibung dar 56, da sie als das Subjekt, das diese Vgl. hierzu Sebastian Rödl: Praktisches Wissen um die menschliche Lebensform. Ein Widerspruch? und Matthias Haase: Drei Formen des Wissens vom Menschen.
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
Gründe fasst, identisch ist mit dem konkreten Lebewesen, dessen Handeln dadurch erklärt und begründet wird. Die normative Beschreibung der eigenen Lebensvollzüge in der praktischen Selbstbestimmung wird insofern anders vorgestellt und verstanden als die normative Erklärung und Begründung von Verhalten von Lebewesen und Prozessen, die der Person als urteilendem Subjekt äußerlich sind. In der praktischen Selbstbestimmung konstituiert sich eine Person in der normativen Selbstbeschreibung ihrer Lebensvollzüge also selbst, da sie sich erst selbst realisiert, indem sie die Gründe erfasst, nach denen, unter den Umständen einer Situation, zu handeln ist. 57 Das heißt, eine Person handelt in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten, indem sie durch Ausübung ihrer praktischen Fähigkeiten die materiellen Bedingungen, in denen sie sich befindet, auf eine bestimmte Weise ordnet. 58 Das heißt konkret, sie selbst unterscheidet zwischen guten und schlechten, also hilfreichen und behindernden, affektgeleiteten und besonnenen oder etwa die Gesundheit befördernden und der Gesundheit abträglichen Verhaltensweisen. Durch Punkt (1) wird zunächst der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute eingelöst, da ein Verständnis des ethisch Guten demnach nur aus der Perspektive der Person, in den von ihr bestimmten Handlungsgründen möglich ist. Durch Punkt (2) wird der normative Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute eingelöst, da der Maßstab der Ausübung der praktischen Fähigkeit, Handlungsgründe zu fassen, in deren allgemeiner Form liegt. Punkt (1), die Auffassung der richtigen Gründe, ist also durch (2), die Gestaltung des eigenen Lebens durch die allgemeine Form praktischer Fähigkeiten, bedingt. Das heißt, die Fähigkeit zu erfassen, was zur Realisierung des ethisch Guten führt, kann nicht ohne die konstitutive Bindung an den normativen Kontext der Form des ethischen Lebens gedacht werden. Diese Zuordnung Beide In: Thomas Hoffmann / Michael Reuter (Hrsg.): Natürlich gut. Aufsätze zur Philosophie von Philippa Foot. Frankfurt am Main 2010. 57 Vgl. Stephen Engstrom: The From of Practical Knowledge. A Study in the Categorical Imperative. Cambridge Mass. 2009, S. 97 ff. 58 Diese Seite der Ausübung praktischer Fähigkeiten stellt Christine Korsgaard in ihrem Buch Self-Constitution dar, wo sie den Zusammenhang der Fähigkeit zum guten Handeln und der Form einer praktischen Identität diskutiert. (Christine M. Korsgaard: Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity. Oxford/New York 2009, S. 42–43.)
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Der Bezug auf praktische Umstände
beider Ansprüche in der philosophischen Metareflexion auf das ethisch Gute kann dem ethischen Konstruktivismus von Christine Korsgaard folgend in drei Schritten vorgenommen werden. 59 Erstens wird von den zufälligen Umständen einer Person ausgegangen, deren Verhalten und Evaluationsweisen durch einen zufälligen sozialen und historischen Kontext bestimmt sind. Demgegenüber kann eine Person sie zum Gegenstand von Überlegung und Reflexion machen, wodurch sie sich zu ihnen als ihr Ziel bestimmt. Zweitens ist dieser Prozess des Überlegens und Reflektierens dadurch bedingt, dass nur solch ein Handlungsgrund und -ziel eine Person binden kann, das nicht der Ausübung ihrer Fähigkeit, ihre Weise zu handeln selbst zu bestimmen, widerspricht. Darin besteht nach Korsgaard das Menschsein 60, das im Handeln realisiert wird. Das Menschsein, das das Wesen der Person als Akteur ausmacht, wird somit in der praktischen Überlegung, in deren Vollzug eine Person sich zu einer bestimmen Weise zu handeln bestimmt, mitvorgestellt. 61 Drittens liegt die allgemeine, unbedingt verbindliche Bedingung dafür, was für eine Person Bedeutung in der selbstbestimmten, aktiven Gestaltung ihrer Lebensweise haben kann, in der Bestimmung dessen, was sie als Bedingung in der Ausübung ihrer praktische Fähigkeiten mit-vorstellen muss. Was als Bedingung der Ausübung praktischer Fähigkeiten, unter verschiedenen praktischen sozial und historisch bedingten Umständen, mit-vorgestellt wird, ist das, was die Metareflexion auf das ethisch Gute über die richtige Ausübung praktischer Fähigkeiten darstellen kann. Darin besteht die konstitutive Bedingung, unter der der normative und kritische Anspruch zusammengedacht werden könIbidem, S. 52. Dieser Ansatz wurde von John Rawls zuerst formuliert: John Rawls: Kantian Constructivism in Moral Theory. Journal of Philosophy. 77/9 (1980), S. 519. 60 Vgl. Christine M. Korsgaard: Kant’s Formula of Humanity. In: Creating a Kingdom of Ends. Cambridge 1996, S. 109 und S. 120–121. Sowie in Self-Constitution, wo sie sagt: »By following the categorical imperative, you make yourself [Hervorhebung im Original] the cause.« (Christine M. Korsgaard: Self-Constitution. Agency. Identity, and Integrity. New York/Oxford 2009, S. 72.) 61 Heidegger stellt diesen Punkt in seinen Vorlesungen zu Kants praktischer Philosophie auf einleuchtende Weise heraus: »Im willentlichen Vorstellen ist also immer und notwendig das Wollen mitvorgestellt. Dieses, das Wollen als solches, kann daher grundsätzlich auch vorgestellt werden als das Bestimmende. Geschieht das, so ist das Wollen als solches das Bestimmende des Willens. Dann aber nimmt das Wollen seinen Bestimmungsgrund nicht anderswoher, sondern aus sich selbst.« (Martin Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie. Gesamtausgabe Band 31. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994, S. 277.) 59
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nen. Was für eine bestimmte Person als Akteur gut ist, wäre demnach für jede Person als Akteur, unter denselben praktischen Umständen, allgemein, unbedingt verbindlich gut. So ist die Bestimmung der konstitutiven Form der selbstbestimmten Ausübung der praktischen Fähigkeiten in Übereinstimmung mit einem Gut zu handeln, das unbedingt und allgemein verbindlich ist, zu verstehen. Durch diese konstitutive Form der Fähigkeiten, kann die Geltungsbedingung einer gegebenen Handlungsweise als gute ethische Praxis aus der Perspektive der einzelnen Person erfasst werden. Durch die Formanalyse wird die Geltungsbedingung von Akten praktischer Fähigkeiten, also das gefasst, was in jedem Vollzug ethischer Überlegungen immer schon anwesend ist. Sie kommen also zu einem Ende, wenn gefasst wurde, was gut zu tun ist und somit im Zusammenhang eines tugendhaften, also ethisch guten Lebens darstellt, was das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck bringt. In dieser Hinsicht steht der ethische Konstruktivismus sogar mit verschiedenen Positionen des moralischen Realismus zusammen, obwohl er sich ursprünglich von diesem abgrenzt. Wer für einen moralischen Realismus argumentiert, geht von normativen Fakten aus, die ein Subjekt, das rationale Fähigkeiten besitzt, im Vollzug ethischer Überlegungen notwendig als Gründe erkennen muss. 62 Sie stehen zusammen, insofern sie auf eine allgemeine Geltungsbedingung verweisen. Beide suchen nach Bestimmungen der Bedingungen für die richtigen, gelungenen Urteile und Handlungsvollzüge in verschiedenen Situationen. Der Unterschied zwischen beiden Positionen besteht, aus dieser Perspektive, lediglich in der Redeweise über diese Bestimmungen – also ob es eine formale Bedingung der Ausübung praktischer Überlegung genannt wird (Konstruktivismus) oder ob es normative Fakten (Realismus) genannt wird, mit dem richtig vollzogene praktische Überlegungen notwendig übereinstimmen.
2.
Das Problem der Genese
Wir haben bisher nur verstanden, dass eine Person gute Handlungsweisen, also die Normen ethischer Praktiken, richtig begreift, wenn Vgl. Thomas Scanlon: Being Realistic about Reasons. Oxford 2014, Lecture 3 and 5, und David Enoch: Taking Morality Seriously. A Defense of Robust Realism. Oxford/ New York 2013, S. 53 ff.
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sie durch die korrekte Ausübung praktischer Fähigkeiten ihre ethischen Überlegungen zu einem Ende führt und und entsprechend handelt. Das heißt, sie kann demnach nicht anders, als das zu tun, was gut ist. Wir haben dabei die Zuordnung der beiden Punkte aus dem vorhergehenden Abschnitt, in denen die Formanalyse die Geltungsbedingung von ethisch guten Handlungsweisen darstellt, auf folgende Weise gefasst: 1. die Gründe die eine Person, in den Umständen einer Situation hat, um eine bestimmte Handlung zu vollziehen, haben Geltung, weil sie 2. durch die richtige Ausübung praktischer Fähigkeiten in Übereinstimmung mit deren allgemeiner Form gefasst werden. 1. wird also durch 2. erklärt. Bisher haben wir also die logische Abhängigkeit von 1. und 2. bezüglich der Geltung ethischer Urteile und Handlung, durch die eine Person ihr Leben in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten vollzieht, dargestellt. Es stellt sich jedoch eine weitere Herausforderung, die darin besteht zu verstehen, wie in die Form der Fähigkeiten zum ethischen Handeln und Urteilen deren Realität im partikularen Lebensvollzug einer Person einbegriffen werden kann. Diese Herausforderung zeigt sich ausgehend von 1. wonach eine gute Handlungsweise allein in den situativ gefassten Gründen einer Person gefasst wird. Es besteht erst Wissen davon, worin ein gutes Leben besteht – das heißt, ethische Überlegungen kommen zu einem Ende und die Ausübung praktischer Fähigkeiten gilt als gelungen –, wenn eine Person weiß, dass X zu tun und Y zu unterlassen ist. Um für X und gegen Y zu urteilen, kann also nicht von den praktischen Umständen, in denen eine Person sich befindet, abstrahiert werden. Die Ausübung praktischer Fähigkeiten um X zu tun, ist immer im sozialen Umfeld, unter institutionellen Gegebenheiten, in der historischen Entwicklung moralischer Begrifflichkeiten sowie vor gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen zu denken. In gerechten Institutionen kann man anders handeln als in korrupten, in einer ökonomischen Krise oder im Krieg werden Überlegungen wiederum anders beeinflusst als in einer stabilen Gesellschaftsordnung. Somit bleibt die Frage, wie einer Person innerhalb der Umstände eines konkreten praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhanges, in dem sie sich befindet, X zu tun, also den Geltungsbedingungen ethischen Urteilens und Handelns entsprechen kann. In dieser Frage wird der kritische Anspruch der philosophischen Ethik erneut geltend gemacht. Der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion fordert hier also heraus, zu erklären, wie eine einzelne PerDie Negativität des Sittlichen
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
son, unter den Bedingungen praktischer Umstände ihre praktischen Fähigkeiten ausüben und somit den Geltungsbedingungen guten Handelns entsprechen kann. Er tritt hier also erneut dem normativen Anspruch entgegen, indem die philosophische Reflexion fragt, wie praktische Umstände beschaffen sein müssen, damit eine Person diesen im Vollzuge ihres Lebens einlösen kann. Diese neue Frage nach dem Verhältnis von kritischem und normativem Anspruch der philosophischen Reflexion auf das Gute bedarf weiterer Erläuterungen. Das Problem des Verhältnisses beider Ansprüche zeigt sich hier in der Genese der Handlungsweisen und -gründe einer Person. Ich will dieses Problem somit im Folgenden Problem der Genese nennen. Das Problem der Genese wird bewusst, wenn verständlich wird, dass die Möglichkeit des ethischen Wissens, also des Wissens darüber, welche Handlungsweisen gut und welche schlecht sind, durch den Kontext und den praktischen Begründungsund Erklärungszusammenhang, der einer Person in bestimmten praktische Umständen zugänglich ist, begrenzt wird. Diese Begrenzung kann mit Bezug auf den Umstand erläutert werden, dass die Herausbildung praktischer Fähigkeiten Zeit benötigt. Sie benötigt einmal Zeit, insofern eine Person sie durch Einübung und Eingewöhnung erwirbt. Doch mit Einübung alleine ist noch nicht notwendig gegeben, dass eine Person ihre praktischen Fähigkeiten gemäß deren konstitutiver Norm ausüben kann. 63 Vielmehr stellt dieser praktische Erklärungs- und Begründungszusammenhang, in den eine Person eingeübt ist, zunächst nur den Kontext dar, innerhalb dessen sie zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu handeln unterscheiden kann. Wenn sie also fragt, was zu tun sei oder eine Handlungsweise kritisch betrachtet, dann müssen mögliche Antworten oder Kritikpunkte in Bezug auf den bestehenden praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhang einer Person erfasst werden. 64 Das Problem der Genese zeigt sich hier in der Herausforderung, zu erklären, wie eine Person unter den Umständen des eingeübten und eingewöhnten praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhanges den John McDowell spricht in diesem Zusammenhang von der »logical weakness of ›Aristotelian categoricals‹«. (John H. McDowell: Two Sorts of Naturalism. In: Ders.: Mind, Value, and Reality. Cambridge Mass./London 2002, S. 172.) 64 Diese Begrenzung beschreibt McDowell mit der Metapher von Neuraths Boot, dessen Planken auf der Fahrt Stück für Stück ausgetauscht werden können. Es kann jedoch nicht das ganze Boot ausgetasucht werden. Genauso kann die gute Handlungsweise nicht auf einen Schlag gegeben werden. Vgl. Ibidem, S. 187. 63
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Der Bezug auf praktische Umstände
Geltungsbedingungen ethischen Urteilens und Handelns entsprechen kann. Werden die praktischen Umstände, unter denen sie praktische Fähigkeiten herausbildet und zur Gestaltung eines ethisch guten Lebens ausübt, nicht mit einbezogen, wird die Bestimmung von Geltungsbedingungen leer oder ergibt nur im Zusammenhang mit idealisierten praktischen sozialen und historischen Zuständen Sinn. Eine Formulierung der Geltungsbedingungen, wie im vorherigen Abschnitt mit Bezug auf Korsgaards Ansatz dargestellt, zeigt somit allein die Möglichkeit auf, eine Handlungsweise zu begründen. Die Frage nach der Möglichkeit der Einlösung dieser Geltungsbedingungen unter den Bedingungen der Genese konkreter Handlungsweisen und -gründe, erfordert jedoch eine weitergehende Betrachtung. Betrachten wir die Genese der Fähigkeit einer Person zum guten Handeln, stellt sich der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion als praktische Herausforderung dar, insofern die richtige Herausbildung und Ausübung praktischer Fähigkeiten von den Umständen des zugänglichen praktischen Erklärungs- und Begründungszusammenhang abhängt. Hier ist eine Abgrenzung von Jonathan Dancys ethischem Partikularismus nötig, wonach die Genese guter Gründe nicht mit Bezug auf Prinzipien oder einen normativen Maßstab verstanden werden kann, sondern aus den Gegebenheiten einer Situation hervorgeht. Im Kontext einer Situation ist so kühles, nachdenkliches und besonnenes Handeln gut, im Kontext einer anderen, etwa in dem intimer Partnerschaften, affektbestimmtes, leidenschaftliches Handeln. 65 Ebenso können nach Annahme Dancys ethischem Partikularismus, aufgrund der Beschaffenheit der Bezugssituation, entgegen der Erwartung, sich gewichtige Gründe für besonnenes Verhalten gegenüber einem Partner herausstellen. Damit, dass ein Verständnis des ethisch Guten nur im konkreten praktischen Bezug auf eine Situation möglich ist, stimmen wir hier überein. Doch da der kritische Anspruch hier im Zusammenhang mit einem normativen Anspruch des situationsübergreifenden, allgemein, unbedingt verbindlich Guten gefasst wird, ist der Bezug auf die Situation innerhalb dieses Zusammenhanges zu fassen, wonach weder allein der Bezug zur praktischen Situation noch die Vorstellung eines normativen Maßstabes allein primär ist. Demnach steckt gerade nicht in der Situation selbst ein normativer Bestimmungsgrund, sondern diese ist Jonathan Dancy: Ethics Without Principles. Oxford 2004, vor allem Abschnitte 2 und 8.
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daraufhin zu betrachten, inwiefern unter konkreten praktischen Gegebenheiten praktische Hindernisse bestehen, aufgrund derer die Ausübung praktischer Fähigkeiten misslingt. Die praktischen Umstände der Situation, in der eine Person sich befindet, sind hier also nicht allein als der Ort zu verstehen, in dem der Gehalt der Form ethischen Lebens in Handlungsgründen erfasst wird, sondern auch als Ort, der die Einlösung dieses normativen Anspruches ver- oder behindern kann. Das Problem der Genese stellt also eine Herausforderung an die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute dar. Diese ist als Formanalyse, die die Geltungsbedingungen für die gelungene Ausübung praktischer Fähigkeiten formuliert, nicht abgeschlossen. Sie muss zudem die Möglichkeit der Einlösung der Geltungsbedingungen unter den praktischen Umständen, in denen eine Person sich befindet, miteinbeziehen. Anders gesagt, die Bestimmung der substantiellen Form ethischen Lebens bleibt leer, wenn ein Leben, in dem deren Realität und Inhalt zum Ausdruck kommen können, nicht möglich ist. Die Analyse der Form der Fähigkeiten von Personen wird dem kritischen Anspruch der philosophischen Ethik also erst gerecht, wenn sie die besonderen praktischen Umstände und die darin auftretenden praktischen Hindernisse, die verhindern, dass eine bestimmte Person diese ausüben kann, mit einbezieht. Die praktischen Umstände, in die eine Person eingeübt und eingewöhnt ist, können somit zum Beispiel ein praktisches Hindernis für die Ausübung praktischer Fähigkeiten darstellen, weil sie zum Beispiel durch eine bloß subjektive Auffassung des guten Lebens strukturiert wird. Die theoretische Herausforderung des ethischen Subjektivismus stellt sich hier somit als praktische Herausforderung dar. Eine solche Auffassung des guten Lebens kann als das beschrieben werden, was manchmal Ideologie genannt wird. Sie stellt eine behauptete Allgemeinheit dar, obwohl es sich nur um ein partikulares Interesse handelt. Die Bedingungen der Genese der Handlungsweisen einer Person entsprechen dann nicht den Geltungsbedingungen ethischen Lebens, sondern dem, was nach dem Interesse Einzelner oder einer Gruppe Geltung verliehen wird. Ein weiteres Beispiel für ein praktisches Hindernis besteht, wenn die Genese der Weise des Handelns als rein zufällig, allein durch einen gegebenen sozialen Kontext gefasst wird. Beispiele hierfür stellen Ansätze dar, die unter der Bezeichnung »ethischer Relativismus« diskutiert werden und die Genese an eine bestimmte kulturelle Tradition binden. Demnach könnten keine Gründe für Kritik, die allgemein, unbe64
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Der Bezug auf praktische Umstände
dingt verbindlich gelten können, gefasst werden. Erst wenn die praktischen Hindernisse und Umstände durch die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute miteinbezogen werden, kann sie überhaupt auf die Lebensvollzüge von einzelnen Personen Bezug nehmen. Damit ist also bisher über das ethisch Gute allein gesagt, dass es einen Gegenstand der philosophischen Reflexion darstellt, indem diese die Unterscheidung des Gelingens und Misslingens der Ausübung praktischer Fähigkeiten mit Bezug auf verschiedene praktische Umstände artikuliert.
3.
Der Endzweck ethischen Lebens
Das Problem der Genese der Handlungsweisen und -gründe einer Person verweist auf die konkreten praktischen Gegebenheiten, in denen eine Person sich befindet, insofern sie die Ausübung praktischer Fähigkeiten bedingen. Ausgehend vom Problem der Genese gilt es also den Zusammenhang von kritischem und normativem Anspruch der philosophischen Reflexion zu begreifen. Die Geltung einer Vorstellung vom ethisch Guten besteht demzufolge, was in Abschnitt II.3 gezeigt wurde, wenn ethische Überlegungen zu einem Ende gekommen sind, praktische Fähigkeiten also korrekt ausgeübt worden sind. Die Formulierung dieses Geltungsanspruches kann lediglich zeigen, was für Überlegungen, je nach ihrem Geltungsanspruch, konstitutiv ist. Der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute wird durch diese Auffassung der Geltungsbedingungen nicht vollständig erfasst. Dieser muss zudem die praktischen Umstände, innerhalb derer eine Person handelt, in die Formanalyse praktischer Fähigkeiten mit einbeziehen, damit diese praktische Hindernisse, die ein gutes Leben verhindern, und deren Überwindung, die ein ethisch gutes Leben möglich macht, einbegreift. Erst dann kann die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute überhaupt einen normativen Anspruch formulieren, der im Sinnzusammenhang des Lebensvollzuges einer Person Bedeutung haben kann. Anders gesagt, erst dann kann die Einlösung des Geltungsanspruches, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck zu bringen, als Endzweck des Lebens einer Person betrachtet werden. Die Formulierung eines normativen Anspruches kann also immer erst Bedeutung im Lebensvollzug einer Person erlangen, wenn sie im Verhältnis zu praktischen Hindernissen, die sich in Problemen, Konflikten und Widersprüchen Die Negativität des Sittlichen
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Normativer Anspruch und kritische Reflexion
darstellen, und als Möglichkeit von deren Überwindung begriffen wird. Bei der Bestimmung formaler Geltungsbedingungen ist also der Bezug auf die praktischen Umstände, als deren mögliche Realität und Verhinderung immer mit einzubeziehen. Die als Formanalyse vollzogene Metareflexion auf das ethisch Gute vollzieht also eine Wende zu den praktischen Bedingungen des Gelingens und Misslingens der Ausübung praktischer Fähigkeiten. Wir haben gesehen, dass der Maßstab für gelingendes Handeln nicht vorab angegeben werden kann, weshalb die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute den Zusammenhang der folgenden beiden Einsichten begreifen muss: (1) Eine Person bringt das ethisch Gute im Vollzuge ihres Lebens zum Ausdruck, wenn ihre Weise zu Handeln durch die korrekte Ausübung praktischer Fähigkeiten bestimmt ist. Der Vollzug solcher Weisen des Handelns stellt den Endzweck eines ethischen Lebens dar. Als gute Weisen des Handelns gelten solche, durch die es gelingt, den Endzweck Lebens zu bewirken. Das heißt, der eigene Lebensvollzug wird durch die korrekte Ausübung praktischer Fähigkeiten als allgemein und unbedingt verbindlich gut bestimmt. Schlechte Handlungsweisen, durch die dieses nicht gelingt, werden als solche verstanden, weil ein falsches Verständnis vom Guten oder ein Hindernis besteht. (2) Eine Person kann das ethisch Gute im Vollzuge ihres Lebens nur dann zum Ausdruck bringen, wenn keine praktischen Hindernisse sie davon abhalten. Das Gelingen und Misslingens des Vollzuges solcher Handlungsweisen, die den Endzweck ihres Lebens bewirken, sind also durch deren praktische Umstände, die eingewöhnten Erklärungs- und Begründungszusammenhänge und die erworbenen Auffassungen des Sinnzusammenhanges des eigenen Lebensvollzuges bedingt. Innerhalb der partikularen, praktischen, materiell bedingten Umgebung und dem praktischen Sinnzusammenhang ihres Lebensvollzuges stellt sich die Frage nach dem Endzweck ihres Lebens erst, um Schlechtes, das ein praktisches Hindernis darstellt, somit zum Misslingen führt, und Gutes, wodurch ein gutes ethisches Leben gelingen kann, zu unterscheiden. In Einsicht (1) wird die philosophische Reflexion ihrem normativen Anspruch gerecht, den sie jedoch in Einsicht (2) wiederum herausfordert. Diese beiden Einsichten stellen uns vor das Problem, unter der 66
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Einsicht (2) den Begriff einer guten ethischen Praxis, die zum Endzweck ethischen Lebens führt, zu explizieren. Durch die Explikation des Begriffs der guten ethischen Praxis mit Bezug auf den Endzweck ethisch guten Lebens können misslungene Ausübungen praktischer Fähigkeiten von gelungenen unterschieden werden. Der Begriff eines Endzwecks besteht nun nicht, wie in einem falsch verstandenen Katechismus, in der Auflistung aller Handlungsschritte oder Entscheidungen, die eine Person vollziehen sollte, um ein gutes Leben zu führen. Dann müsste ein Buch über das Leben eines Individuums geschrieben werden. Dieses Buch stellte das Gegenstück zu einem Roman dar, der das Scheitern und die Leiden einer Person darstellt. Ausgehend von Einsicht (2) wird die Explikation eines Endzwecks zunächst nur als kritische Kategorie zum Thema, die eine kritische Betrachtung ethischer Praktiken erlaubt, die etwa durch zufällige, rein subjektive Auffassungen des guten Lebens, sowie von außen vorgegebenen oder durch dogmatistisch behaupteten Auffassungen des guten Lebens bestimmt sind. Der Endzweck ethischen Lebens kann also auf keine Weise unmittelbar gegeben sein, sondern ist als Verhältnis vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten und einzelner Person, die sich unter bestimmten praktischen Umständen befindet, zu begreifen.
4.
Der Diskursraum der philosophischen Ethik
Der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute bieten sich nun die folgenden drei Wege an: Erstens wird vom normativen Anspruch und der Einsicht in die Geltungsbedingungen von erfassten Weisen und Gründen zu handeln ausgegangen. Zweitens wird vom kritischen Anspruch und den praktischen Umständen, die den Lebensvollzug einer Person bedingen, ausgegangen. Drittens wird nach dem Zusammenhang beider Seiten gefragt. Die ersten beiden Möglichkeiten stellen sich als einseitig dar. Die meisten Ansätze der philosophischen Ethik lassen sich als Verfechter der einen oder der anderen Einsicht einordnen, was sich etwa in Gegensätzen von stoizistischer und epikureischer Ethik, Realismus und Expressivismus oder Kognitivismus und Non-Kognititvismus darstellt. Findet der Diskurs in philosophischer Ethik nur als Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Einsichten statt, verliert sie sich in theoretischen Unterscheidungen, die deren eigentlichen Gegenstand, das ethisch gute Leben, verfehlen. Es Die Negativität des Sittlichen
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bleibt im Grunde dabei, dass sich beide Einsichten gegenseitig herausfordern. Die Einsicht in die Geltungsbedingungen von Handlungsgründen stellt die formale Bedingung an eine legitime Auffassung eines ethisch guten Lebens dar, wird aber herausgefordert, durch die praktische Frage, wie eine Person als Individuum unter konkreten praktischen Umständen dieses führen kann. 66 Sich in den Diskursraum philosophischer Ethik zu begeben, bedeutet also auf dem dritten Weg, nach dem Zusammenhang der beiden konfligierenden Einsichten zu fragen. Das folgt aus den beiden Einsichten der Formanalyse, erstens die formale Geltungsbedingung von Weisen zu Handeln und zweitens die konkreten praktischen Gegebenheiten einzelner Personen als Bedingungen der Genese praktischer Fähigkeiten zu begreifen. Der normative Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethische Gute wird eingelöst, indem die Handlungsweise einer Person in Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute begriffen wird. Der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute wird eingelöst, indem von der Perspektive der einzelnen Person, die sich unter konkreten, praktischen Umständen einer Situation befindet, ausgegangen wird. Wenn eine Person bemüht ist, gut zu handeln, um das ethisch Gute in ihren Lebensvollzügen zum Ausdruck zu bringen, dann denkt sie sich in Bezug auf den Endzweck ethischen Lebens. Das bedeutet nicht, dass zwangsläufig gut gehandelt wird, sondern zunächst allein, dass eine Person ihre praktischen Gegebenheiten auf die Möglichkeit oder die Einschränkung des Handelns in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten begreifen kann. Der Diskursraum 67 der philosophischen Ethik verschiebt sich somit vom Gegensatz zwischen kritischem und normativem Anspruch der philosophischen Reflexion, womit wir in Abschnitt I. begonnen haben, zu den möglichen Erklärungen von deren Zusammenhang. Ausgehend von der Frage nach diesem Zusammenhang wird ein Begriff einer guten ethischen Praxis, innerhalb derer nach Aristoteles eine Person Erklärungen und Begründungen geben kann (vgl. I.1), erst möglich. Die Möglichkeit der Darstellung ethischen Lebens verNatürlich finden sich nicht in allen Positionen Begriffe, wie »ethisches Leben« oder »Endzweck«. Ich benutze diese Begriffe hier jedoch, um verschiedene Positionen, die in ihren Details sehr verschieden sein können, zu ordnen. 67 Mit »Diskursraum« meine ich hier den Raum, in dem auf philosophische Gedanken reflektiert wird, und nicht einen philosophischen Ansatz, der den Begriff eines »Diskursraumes« darlegt. 66
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langt also die Verbindung der beiden Ansprüche und der daraus folgenden Einsichten der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute. Das bedeutet, es ist zu zeigen, wie eine Person sich unter gegebenen praktischen Umständen zum Endzweck ihres Lebensvollzuges verhält, damit der Gedanke eines allgemein, unbedingt verbindlich Guten überhaupt Sinn ergeben kann. Im Diskursraum der philosophischen Ethik wird somit eine Auffassung des Verhältnisses von partikularer Person zum allgemein, unbedingt verbindlich Guten herausgearbeitet, die in deren Lebensvollzug selbst Sinn macht. In den folgenden beiden Kapiteln wird zunächst für die Auffassung dieses Verhältnisses argumentiert. Ausgehend davon werden die Formen ethischen Bewusstseins dargestellt, also das Bewusstsein einer Person, die sich im Kontext ihres partikularen praktischen Begründungs- und Erklärungszusammenhanges auf das ethisch Gute beziehen kann.
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Kapitel 2: Sittlichkeit und Person
Im vorherigen Kapitel 1 haben wir gesehen, dass die Form ethischen Lebens im Zusammenhang zweier Seiten zu begreifen ist. Auf der einen Seite besteht der normative Anspruch, dass im Vollzuge ethischen Lebens und Überlegens eine Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten besteht. Auf der anderen Seite besteht der kritische Anspruch, den Vollzug ethischen Lebens aus der partikularen Perspektive einer Person, die sich in konkreten praktischen Umständen einer Situation befindet, zu verstehen. Die Einheit beider Seiten zu begreifen, verlangt zu verstehen, wie das allgemein, unbedingt verbindlich Gute ausgehend von den jeweiligen partikularen, situativen Umständen, in denen eine Person sich befindet, begriffen werden kann. Es gilt also einen Begriff des ethischen Lebens zu fassen, dessen Endzweck darin liegt, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute, mit Bezug auf die Pluralität praktischer Umstände verschiedener Situationen zum Ausdruck zu bringen. In diesem zweiten Kapitel werden verschiedene Weisen, die Einheit beider Seiten in einem Begriff ethischen Lebens zu fassen, unterschieden. Abschnitt I. fragt nach der Möglichkeit eines Begriffs der Einheit von allgemein, unbedingt verbindlich Gutem und partikularem Lebensvollzug einer Person. Es wird mit Bezug auf Kants Antinomie der praktischen Vernunft gezeigt, inwiefern der Begriff eines Endzwecks, in dem diese Einheit erfasst wird, aus dem Gedanken eines allgemein, unbedingt verbindlich Guten als Gegenstand praktischer Vernunft folgt. Für Kant ist diese Einheit für die menschliche Vernunft transzendent, wogegen Hegels Begriff der Sittlichkeit einen Begriff dieser Einheit, unter den Bedingungen endlichen Wissens, zu liefern beansprucht. Abschnitt II. analysiert eine Deutung von Hegels Begriff der Sittlichkeit, die die Herausbildung der Fähigkeiten einer Person innerhalb einer guten ethischen Praxis begreift. Diese Deutung der Sittlichkeit kann zeigen, wie, ausgehend von den praktischen Umständen, in denen eine Person sich befindet, Fähigkeiten zum gu70
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ten Handeln herausgebildet werden können. Sie stößt aber auf das Problem, dass sie die Voraussetzung des Begriffs einer guten ethischen Praxis nicht vollständig erklären kann. Abschnitt III. diskutiert eine formale Deutung von Hegels Begriff der Sittlichkeit, die ausgehend vom Begriff der Selbstbestimmung zu begreifen ist. Selbstbestimmung wird als Fähigkeit zur Gestaltung der zufälligen praktischen Umstände der sozialen Lebensform einer Person zu guten ethischen Praktiken verstanden, die ein freies Leben ermöglichen. Diese Deutung der Sittlichkeit stößt auf das Problem, dass ein selbstbestimmtes, freies Leben sich als nicht einlösbares Ideal erweist.
I.
Die immanente Analyse der Moral
Dieser Abschnitt stellt dar, unter welchen Voraussetzungen ethisches Leben als Einheit von allgemein, unbedingt verbindlich Gutem und partikularem Lebensvollzug einer Person zum Gegenstand philosophischer Reflexion gemacht werden kann. Kants Moralphilosophie führt zu den Grenzen der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute, wonach diese aus sich diese Einheit nicht erfassen kann und somit zur Religion führt (§ 1). Im Begriff der Sittlichkeit liefert Hegel, ausgehend von Kants Bestimmung der Grenze der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute, einen Begriff ethischen Lebens (§ 2). Die Herausforderung für ein Verständnis des Begriffs der Sittlichkeit liegt darin, die Einheit ethischen Lebens durch die Freiheit des selbstbestimmten Willens zu begreifen (§ 3).
1.
Die Grenze der philosophischen Reflexion
Die Herausforderung der Darstellung der Form eines ethischen Lebens besteht darin, das Verhältnis einer Person, die sich in partikularen, praktischen Umständen einer Situation befindet, zum Endzweck ethischen Lebens, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck zu bringen, zu begreifen. Darin, wie diese Herausforderung angegangen wird, können verschiedene Ansätze philosophischer Ethik unterschieden werden. Demnach werden die verschiedenen Ansätze der philosophischen Ethik also danach unterschieden, ob und wie sie dieses Verhältnis erklären. Die Weise, auf die ein möglicher Ansatz formuliert werden kann, der die Herausforderung annimmt, Die Negativität des Sittlichen
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sowohl den normativen als auch kritischen Anspruch der philosophischen Reflexion (vgl. Kapitel 1, Abschnitt I) einzulösen, will ich in diesem Kapitel eine immanente Analyse der Moral nennen. Eine solche Analyse begreift keinen dieser beiden Ansprüche, die der Reflexion auf das ethisch Gute immanent sind, mit Bezug auf einen äußerlichen Bezugspunkt. Nach der Vorgehensweise einer immanenten Analyse kann keine der beiden Seiten den alleinigen Ausgangspunkt darstellen. Beide Seiten können nicht als äußerlich zueinander entgegenstehend betrachtet werden. Diesen Anspruch einzulösen erfordert die Entwicklung eines Verständnisses des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, womit übereinzustimmen dem normativen Anspruch entspricht, innerhalb des partikularen Lebensvollzuges einer Person, wodurch der kritische Anspruch gewahrt bleibt. Dass für die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute sowohl der normative als auch der kritische Anspruch unabweisbar sind, ist die Einsicht von Kants Moralphilosophie. Wir wollen nun ausgehend von deren Einsicht fragen, wie die philosophische Reflexion die Einheit beider Ansprüche im Begriff eines Endzwecks ethischen Lebens begreifen kann. Vielfach wird Kants Moralphilosophie als Repräsentant einer Ethik gelesen, die allgemeine Prinzipien als Fundament für ethische Urteile darstellt, was der Annahme eines Endzwecks entgegenstehe. Eine solche Betrachtung einer Kantischen Formulierung von praktischen Prinzipien kann in den folgenden beiden Punkten zusammengefasst werden: Erstens, Kant liefere ein Prinzip der Deliberation zur Bestimmung moralischer Normen, wonach eine solche ein Subjekt verpflichtend binde, wenn diese den Bedingungen der Selbstgesetzgebung entspreche. Die Freiheit des vernünftigen Subjekts bestehe demnach darin, dass dieses sich selbst an bestimmte Normen bindet und nicht durch einen natürlichen Zweck gebunden ist. In solchen moralischen Normen, denen ein Subjekt sich selbst verpflichte, werde dessen Freiheit realisiert. 68 Zweitens, nach Kant liege der moralische Wert eines Subjekts allein in der Maxime, also Norm des Handelns, und nicht in dem, was durch den Vollzug konkreter, zielgerichteter Handlungen bewirkt wird. Diese Sichtweise wird mit der Annahme begründet, dass die Handlungszwecke eines Z. B. Charles Larmore schreibt Kant einen Ansatz zu, der dem ersten ähnelt und lehnt ihn deshalb ab. Vgl. Charles Larmore: Vernunft und Subjektivität. Frankfurter Vorlesungen. Berlin 2012. Teil I, und Ders.: The Autonomy of Morality. Cambridge 2009, Kapitel 2.
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Subjekts unmittelbar gegeben und somit Ausdruck von dessen Neigungen und individuellen Glücksstreben seien. Deshalb könnten diese nicht den Gegenstand der Moralphilosophie darstellen. Somit wird der moralische Wert eines Subjekts allein in den Normen, denen es sich verpflichtet, gesehen und nicht im konkreten Handeln. 69 Ausführungen zum Begriff der Selbstgesetzgebung oder zur Differenzierung zwischen Maximen und Konsequenzen des Handelns mögen auf einer bestimmten Ebene der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute berechtigt sein. Jedoch lässt sich die Kantische Moralphilosophie auch aus dem Verständnis einer anderen Herausforderung begreifen, von der aus sich die Frage nach dem Endzweck ethischen Lebens ergibt. Das heißt, Kants Moralphilosophie lässt sich aus der Herausforderung begreifen zu zeigen, wie eine empirisch bedingte Person aus dem moralischen Gesetz, an das alle vernünftigen Wesen in der Ausübung ihrer vernünftigen Fähigkeiten gebunden sind, handeln kann. Erst wenn diese Herausforderung richtig verstanden wird, kann die Kantische Kritik der praktischen Vernunft, die zu zeigen beansprucht, wie Vernunft praktisch, also in der Welt, in der Personen leben, wirksam sein kann, überhaupt erst zu einem Ergebnis kommen. 70 Stellt man sich den Untersuchungsgegenstand von Kants Moralphilosophie ausgehend vom Begriff der praktischen Vernunft vor, drängt sich die Frage nach einem Endzweck ethischen Lebens auf. Die Frage danach drängt sich auf, wenn wir Kants Untersuchung der praktischen Vernunft ausgehend von der Dialektik der praktischen Vernunft nachvollziehen. Das führt zu der Herausforderung zu zeigen, wie das moralische Gesetz als Form der praktischen Vernunft auf Inhalte angewandt, das heißt, wie es im Handeln einer Person bewirkt werden kann. Kants Auffassung dieser Herausforderung zeigt sich in der Spannung zweier Bezugspunkte, die er als das oberste und das vollendete Gut unterscheidet. 71 Das oberste Gut stellt das formale Prinzip der praktischen Vernunft dar, das also alle durch verschiedene Subjekte vollzogenen Akte praktischer Vernunft umfasst. Das vollendete Gut stellt den finalen Zweck Barbara Hermann diskutiert den Kontrast dieser Lesarten kritisch in Barbara Hermann: Making Room for Character. In: Ders.: Moral Literacy. Cambridge Mass./London 2007, in der Unterscheidung von »reason-following« und »reason-responsive« (S. 9). 70 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe Band VII. Frankfurt am Main 1974, A 3. 71 Ibidem, A 198. 69
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dar, durch dessen Realisierung eine Person im Vollzuge ihres Lebens Vollkommenheit erlangt. Mit Bezug auf das vollendete Gut wird also das Gelingen des Lebens einer Person als endlichem, empirisch bedingtem Wesen in Betracht genommen. Das oberste und das vollendete Gut stehen somit in einer Antinomie, weil sie als einander äußerlich betrachtet werden, das heißt, empirische Bedingungen des Lebensvollzuges einer Person und die formalen Bedingungen praktischer Vernunft können nicht in einem Begriff ethischen Lebens zusammengedacht werden. Dies würde erst durch einen Begriff von einem höchsten Gut, als Zweck, der dem obersten formalen Prinzip der Moral, das als inneres Prinzip praktischer Vernunft durch nichts äußerliches bedingt ist, entspricht, möglich. Um zu einem Begriff von solch einem Zweck als höchstem Gut zu gelangen, ist ein weiterer Schritt nötig. In diesem Schritt gilt es die Möglichkeit der Auflösung der Antinomie von real möglichem, empirischen Gehalt und formal notwendigem Gehalt eines ethisch guten Lebens zu fassen. Kant führt als Lösung der Antinomie der praktischen Vernunft nicht einfach einen Endzweck ethischen Lebens ein. Zunächst reflektiert Kant auf die Bedingungen der Möglichkeit von deren Lösung. Erst wenn dies begriffen ist, kann der Begriff eines Endzwecks ethischen Lebens zum Thema werden. Nach Kant hängt die Möglichkeit der Einheit beider Seiten, somit der Auflösung der Antinomie, von real möglichem, empirischen Gehalt und formal notwendigem Gehalt, von einem unendlichen Standpunkt ab. Von einem unendlichen Standpunkt aus wird der Gedanke der Einheit beider Seiten möglich, weil dieser nicht empirischen Bedingungen entgegensteht, die der Allgemeinheit der Vernunft entgegenstehen können. Solch ein Standpunkt muss durch die praktische Vernunft postuliert werden, um ihre eigene Realität, unter empirischen Bedingungen des Lebens einer Person als praktisch möglich zu begreifen. In der Postulierung der Unsterblichkeit der Seele wird, so Kant, die Voraussetzung artikuliert, dass für eine Person erst im Unendlichen, also nicht in ihrem Leben, das Erreichen von moralischer Vollkommenheit ein denkbares Ziel ist. 72 In der Postulierung des Daseins Gottes wird nach Kant so die Voraussetzung artikuliert, dass allein in einer Welt, die so geordnet ist, dass darin das höchste Gut bewirkt werden kann, Handeln in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz denkbar ist. Nur un-
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Ibidem, A 220–223.
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ter diesen Postulaten kann nach Kant gedacht werden, dass die Vernunft praktisch sein kann. Denn nur von einem unendlichen, unbedingten Standpunkt aus wird die Einheit von Vernunft und empirischen Bedingungen des Lebensvollzuges von Personen denkbar. Die Postulate stellen deshalb notwendige Voraussetzungen dafür dar, dass die Vernunft als praktisch wirksam gedacht werden kann. 73 Hier zeigt sich, dass die Kantische Reflexion auf einen Begriff des ethischen Lebens allein ihre eigene Grenze begreift. Diese Grenze zeigt sich darin, dass ein ethisches Leben nur unter der Einsicht notwendiger Voraussetzungen als praktisch möglich betrachtet werden kann, die durch praktische Vernunft selbst nicht begriffen werden. Dass die philosophische Reflexion auf einen Begriff des ethischen Lebens hier auf eine Grenze stößt, zeigt sich darin, dass die Frage nach dem Gehalt des ethischen Lebens durch Postulate als notwendige Voraussetzungen der praktischen Vernunft nicht erschöpfend beantwortet werden kann. Unter diesen Voraussetzungen kann, Kant folgend, erst ein Endzweck gedacht werden, wenn durch ihn der Gehalt ethischen Lebens praktisch erfasst wird. Dieser Gehalt, die Handlungsweisen, deren Ausübung zur Realisierung des Endzwecks ethischen Lebens führt, stellt den Inhalt, der unter das moralische Gesetz als formales Prinzip praktischer Vernunft fällt, dar. Es gilt also zu verstehen, wie eine Person ihren Willen durch einen solchen Zweck bestimmen kann. 74 Da dieser Gedanke eines Endzweckes erst unter der Voraussetzung eines unendlichen Standpunktes möglich wird, wie er in den Postulaten artikuliert wird, kann er nicht durch praktische, endliche vernünftige Fähigkeiten begriffen werden. Dieser Gedanke verweist hingegen auf die Religion. Kant sagt deshalb: »Moral führt unumgänglich zur Religion, wodurch sie sich zur Idee eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außerhalb des Menschen erweitert, in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des Menschen sein kann und soll.« 75 Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen sehen wir also, zu welchem Problem uns Kant bei dem Begriff des Endzwecks des vernünftigen, ethischen Lebens führt. Folgen wir Kants Analyse der Ibidem, A 223–238 und A 239. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, B VI. 75 Ibidem, A IX. 73 74
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praktischen Vernunft, liegt der Endzweck, somit das höchste Gut des Handelns, darin, in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz zu handeln. In dessen Realität besteht der vollständige Begriff des Guten, als das »[…] ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft […]«. 76 Zugleich liegt dessen Realität außerhalb der Grenzen des endlichen, für den Menschen durch Ausübung seiner vernünftigen Fähigkeiten erreichbaren Wissens. Der Inhalt des höchsten Gutes stellt sich ihm allein aus der Perspektive seiner Fähigkeiten, Wissen zu erlangen, also negativ dar. Positiv wird er erst in der Religion gegeben, die das Verhältnis des Menschen zu Gott thematisiert. Zur Religion erweitern muss sich die Moral also nicht nur, da sie die Möglichkeit eines Endzwecks postulieren muss, sondern auch um dessen Realisierung im Lebensvollzug zu erfassen, was nicht allein aus der Selbstbestimmung des vernünftigen Willens erklärt werden kann. Würde man diesem Ansatz weiter folgen, bedeutete das nicht, dass die immanente Analyse der Moral aufgegeben werden muss und sich blind auf eine religiöse Tradition, in der an ein Offenbarungsereignis erinnert wird, verlassen werden müsste. Vielmehr nähme die immanente Analyse der Moral, unter Einsicht ihrer eigenen Grenzen, einen kritischen Bezug auf die Überlieferung einer religiösen Tradition als ihren möglichen Inhalt. Es bleibt also hier eine Differenz zwischen kritischer Vernunft und der vorausgesetzten Überlieferungstradition einer Offenbarungsreligion, insofern sie nicht vollständig versöhnt werden, obwohl sie aufeinander bezogen bleiben. Die religiöse Überlieferungstradition droht ohne Kritik dogmatistisch zu werden. Die Moral bliebe aber, nach Kant, ohne Bezug auf die Religion leer. Im Folgenden wollen wir hingegen diskutieren, ob ein Ansatz möglich ist, nach dem die immanente Analyse der Moral nicht nur ihre Grenzen einsieht, sondern das Verhältnis einer Person zum Endzweck ethischen Lebens begrifflich darstellen kann.
Durch das »[…] ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft […]« wird die Lösung der Antinomie der Vernunft erst möglich. (Vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe Band VII. Frankfurt am Main 1974, A 215.) Das »[…] ganze Objekt der reinen praktischen Vernunft […]« kann wiederum nur durch die Voraussetzung der Postulate der reinen praktischen Vernunft gedacht werden.
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2.
Der Gedanke der Einheit
Für Kant führt die Moral unumgänglich zur Religion, da die immanente Analyse der Moral für ihn nicht zu einem Abschluss kommt. Das heißt, sie kann lediglich darstellen, dass eine Betrachtung der Lebensvollzüge einer Person innerhalb des allgemein, unbedingt verbindlich Guten nur unter Voraussetzungen möglich ist, die durch die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute nicht vollständig eingeholt und zur Darstellung gebracht werden können. Das zeigt sich daran, dass sich für Kant Fragen von Religion und Theologie stellen. 77 Bei Kant stößt die immanente Analyse der Moral am Endzweck eines ethischen Lebens also auf die Grenze endlichen Wissens. Um zu verstehen, wie ein Begriff des Endzwecks ethischen Lebens möglich ist, ist der darin liegende Erklärungsanspruch vor Augen zu halten. Er stellt das dritte Moment dar, in dem der Widerspruch der ersten beiden – dem formalen Prinzip der praktischen Vernunft und den Handlungszwecken von Personen, die sich unter partikularen, empirischen Umständen befinden – aufgelöst wird. Der Widerspruch besteht solange, wie die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute jeweils nur die beiden widerstreitenden Ausgangspunkte kennt, aber nicht den Punkt, in dem beide zusammenkommen. Bei Hegel wird der Begriff des ethischen Lebens durch die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute eingeholt. Ethisches Leben wird im Begriff der Sittlichkeit dargestellt, insofern darin die konstitutive Form ethischer Praktiken dargestellt wird, in deren Ausübung die »konkrete Identität des Guten« besteht, worin die Besonderheit des Lebensvollzuges einzelner Personen und eine formale Allgemeinheit zusammengedacht werden. 78 Der Grundgedanke des Hegel’schen Begriffs der Sittlichkeit soll im Folgenden herausgestellt werden. Dabei wird von der Herausforderung ausgegangen, den Zusammenhang der beiden Ausgangspunkte zu fassen, die Kant lediglich sich widersprechend, negativ zueinander verhaltend, fasst. Beide
In der Kritik der Urteilskraft treibt Kant diese Reflexion im Rahmen einer Analyse ästhetischer und teleologischer Urteile weiter voran. Jedoch stößt Kant auch hier wieder auf die Frage der Gottesbeweise. (Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X. Frankfurt am Main 1974, B 419 ff.) Unten werden wir sehen, wie mit Hegel diese Reflexion noch weiter vorangetrieben werden kann. 78 Vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke 7. Frankfurt am Main 1986, § 141. 77
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stellen jeweils den Ausgangspunkt von einem der beiden Teile seiner Metaphysik der Sitten dar: Der erste Ausgangspunkt besteht in den besonderen Zielen von Personen. Er führt zum Begriff des Rechts, in dem die Übereinstimmung verschiedener besonderer Ziele reflektiert wird. Der zweite Ausgangspunkt besteht im moralischen Gesetz und strebt danach, einen für alle vernünftigen, endlichen Wesen unbedingt verbindlichen Zweck zu denken. Er führt zum Begriff der Tugend, in dem ein allgemein, unbedingt verbindlicher Zweck dargestellt wird. 79 In diesen beiden Ausgangspunkten der Reflexion auf das ethisch Gute spiegeln sich die Dialektik der praktischen Vernunft und das damit zusammenhängende Problem wieder, die Einheit von Form und Inhalt zu denken, wovon ausgehend auch der Hegel’sche Begriff der Sittlichkeit zu verstehen ist. Hegel diskutiert beide Seiten in der Philosophie des objektiven Geistes in den Begriffen Recht und Moralität. Die erste geht von der Person mit verschiedenen konkreten Willensbestimmungen aus. 80 Die zweite geht von einem abstrakten Begriff des allgemeinen Guten als reinem Reflexionsbegriff aus, ohne dessen Realität fassen zu können. Während im Recht die Allgemeinheit nicht begrifflich gefasst werden kann, kann in der Moralität deren Verwirklichung im Leben nicht gefasst werden. Den Übergang zu der Ebene, auf der die Wirklichkeit eines solchen vernünftigen Endzwecks, der des ethischen Lebens, gedacht werden kann, artikuliert Hegel im Begriff der Sittlichkeit. Dieser vereint beide Seiten als das »lebendige Gute« 81 oder als »[…] Einheit des Begriffs des Willens und seines Daseins, welches der besondere Wille ist […]«. 82 Im Hegel’schen Begriff der Sittlichkeit werden zwei philosophische Traditionen verbunden. Ausgegangen sind wir von den inneren Widersprüchen, auf die die immanente Analyse der Moral nach Kant stößt. Hegels Fortführung dieser Denkweise überwindet deren inneren Widersprüche, indem er die Aristotelischen Begriffe von Substanz und Vermögen für einen Begriff der Einheit der sich widersprechenden Seiten in einer immanenten Analyse der Moral wiedergewinnt. Wie für Kant ist für Hegel die Analyse des Guten an die Vgl. Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, A 4–A 5. 80 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke 7. Frankfurt am Main 1986, §§ 43–44. 81 Ibidem, § 142. 82 Ibidem, § 143. 79
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des Willens gebunden. Doch Hegel führt diese Analyse weiter, indem er zeigt, dass der Wille, der den »freien Willen will« 83, als »[…] die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderheit; – Einzelheit; die Selbstbestimmung des Ich […]« 84 darlegt. Anders gesagt, der freie Wille wird als Fähigkeit eines Subjekts aufgefasst, besondere Zwecke des Handelns in der Einheit einer Allgemeinheit zu bestimmen. Hegel zeigt dies, indem er den Begriff des freien Willens, als Vermögen der Vernunft praktisch zu sein, in einer Konstitutionsanalyse der ethischen Praktiken entfaltet, durch die der Lebensvollzug einer Person, angesichts verschiedener Umstände von Situationen, in denen sie sich befinden kann, durch die Einheit ethischen Lebens begreiflich werden soll. Die Form des Prinzips des vernünftigen Willens wird in dieser Art der Analyse im Zusammenhang mit dem Inhalt dieses Prinzips, also der konkreten Willensbestimmungen, gedacht. Hegel beschreibt an anderer Stelle, in der Einleitung in den dritten Teil der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften, diese Art der Analyse, indem er Freiheit als die Form des Geistes beschreibt. Unter dem Begriff »Geist« werden verschiedene Weisen der Erscheinung menschlichen Lebens analysiert, insofern darin die Allgemeinheit der Form und die Partikularität des individuellen Lebensvollzugs in einer Einheit begriffen werden. 85 Diese Analyse des Geistes wird auf verschiedenen Ebenen vollzogen und mündet im Begriff des absoluten Geistes, der den Titel für Weisen, die Form und Einheit des Geistes selbst zu thematisieren, darstellt. 86 Hier beziehen wir uns auf den Begriff der Sittlichkeit als Darstellung der konstitutiven Form der ethischen Praktiken, durch die ein Begriff des ethischen Lebens, als eine Erscheinungsform des Geistes, erfasst wird. Im Folgenden gilt zu analysieren, wie ein solcher Begriff der Sittlichkeit verstanden werden kann, wobei es mir nicht darum geht, anhand einer Textexegese zu zeigen, was Hegel in diesem Begriff genau gedacht haben mag. Vielmehr soll auf die Möglichkeit reflektiert werden, den darin enthaltenen Erklärungsanspruch einzulösen, die konstitutive Form der ethischen Praktiken darzustellen, in deren selbstbestimmter Ausübung das allgemein, unbedingt verbindliche Gut der Ibidem, Einleitung. Ibidem, § 7. 85 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Werke 10. Frankfurt am Main 1986, § 382. 86 Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophie des Selbstbewusstseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie. Frankfurt am Main 2005, S. 100. 83 84
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praktischen Vernunft mit den besonderen Bedingungen und Bestimmungen des Lebensvollzuges einer Person vermittelt wird.
3.
Selbstbestimmung im Guten
Im Hegel’schen Begriff der Sittlichkeit steckt der Anspruch, die Wirklichkeit des allgemeinen, unbedingt verbindlich Guten der Vernunft in einzelnen Willensbestimmungen von Subjekten zu begreifen. In diesen wird Allgemeines und Partikulares vermittelt, was hier gemäß Thomas von Aquins’ conversio ad phantasmata 87 erläutert werden kann, welche besagt, dass das Denken zur Erkenntnis der Allgemeinheit nur im Partikularen, in der Vorstellung einer konkreten Sache oder Tat möglich ist. 88 Beide Seiten werden nicht getrennt voneinander begriffen, sondern es besteht immer schon ein Bezug beider Seiten aufeinander. Es ist somit nicht von bloßer Sinnlichkeit oder Neigung gegenüber einem losgelösten Intellekt, der abstrakte Vorstellungen von Allgemeinbegriffen umfasst, auszugehen. Tugendhaftes Handeln stellt ein Beispiel für eine solche Konversion dar, in der Sinnlichkeit und Neigung transformiert werden, insofern sie innerhalb der Ausübung der Tugend und nicht als schlichte Gegebenheit erfasst werden. Eine Tugend, wie zum Beispiel Großzügigkeit, wird also nicht abstrakt durch ein allgemeines Kriterium gefasst. Das Wissen eines tugendhaften Menschen besteht hingegen darin, in Situationen erfassen zu können, worin großzügiges Handeln besteht. In der Hinwendung zu und dem richtigen Erfassen von verschiedenen Situationen besteht die fortwährende Konversion einer tugendhaften Person. Mit Bezug auf den Begriff der Sittlichkeit ist somit eine Konversion – oder Wandlung – als Vollzug des freien Willens zu verstehen, in der eine selbstbestimmte Ausübung von Praktiken und Tätigkeiten als Teil des umfassenden Endzwecks begriffen wird. Häufig wird ar-
Vgl. Karl Rahners, im Ausgang von Thomas von Aquin, entwickeltes Verständnis der Konversion in Karl Rahner: Geist in Welt. Sämtliche Werke Band 2. Düsseldorf 1996, zweiter Teil. 88 John McDowell benutzt den Begriff der Konversion auch im Kontext seiner metaethischen Diskussionen. Konversion stellt eine Prägung individueller Motive durch objektive Gründe dar. Vgl. John H. McDowell: Might there Be External Reasons? In: Ders.: Mind, Value, and Reality. Cambridge Mass./London 2002. 87
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gumentiert, die Ethik könne, den Begriff der Selbstbestimmung als Ausgangspunkt nehmend, gerade nicht davon ausgehen oder müsse sogar davon ablassen, anzunehmen, dass eine Person in ihren Handlungs- und Evaluationsweisen im Zusammenhang mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten, was von der praktischen Vernunft als höchstes Gut vorgestellt wird, stehe. 89 Nach solchen Positionen kann Selbstbestimmung etwa bloß wie folgt bestimmt werden: (1) Selbstbestimmung: Eine Person kann selbst wählen und bestimmen, wie sie leben will. 90 Solch ein Begriff der Selbstbestimmung kann nun nicht als ethische Konversion verstanden werden. In der ethischen Konversion wird vielmehr Selbstbestimmung als Realisierung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten begriffen. Nun könnten diejenigen, die meinen, Selbstbestimmung stehe einer allgemein, unbedingt geltenden Auffassung des Guten oder des Richtigen entgegen, fordern, dass bewiesen wird, dass eine Person sich auf eine solche bezieht, weil sich alles andere als widersprüchlich erweist. Hier kann zunächst angenommen werden, dass auch ein Leben ohne Moral irgendwie möglich ist. Auch ist unser Ziel hier nicht, dem Moralskeptiker zu zeigen, dass er sich selbst widerspricht. Vielmehr gehen wir hier vom Anspruch der immanenten Analyse der Moral aus, um zu zeigen, wie das allgemein, unbedingt verbindlich Gute, das von der praktischen Vernunft vorgestellte Gut, überhaupt praktisch werden kann. Das umfasst und ermöglicht auch die Bedeutung und den Sinn, den es im Lebenszusammenhang einer Person hat bzw. haben kann, zu erfassen. Erst wenn das gezeigt worden ist, könnte auch gezeigt werden, was im Leben fehlt, wenn ein ethisches Gut nicht in Betracht gezogen wird. 91
Die Fraglichkeit dieser Verbindung stellt den zentralen Punkt von Tugendhats Selbstbewusstseinsbegriff dar, in Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt am Main 1979. 90 Diese Formulierung ist angelehnt an Ibidem, S. 241. 91 Dann erst können solche Untersuchungen (vgl. z. B. Hans-Joachim Höhn: Das Leben in Form bringen. Konturen einer neuen Tugendethik. Freiburg im Brsg. 2014, S. 44.) durchgeführt werden, ohne den Ton einer bloßen Zeitdiagnose oder Kulturkritik anzunehmen. 89
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Wie das allgemein, unbedingt verbindliche Gut der Vernunft praktisch werden kann, ist hier durch einen Begriff der Selbstbestimmung zu verstehn, der eine ethische Konversion darstellt. Kant sieht deren Notwendigkeit, bestimmt aber auf der Ebene, auf der ein Begriff ethischer Konversion möglich wird, die Grenze der philosophischen Reflexion. Hegels Begriff der Sittlichkeit kann in einen Begriff der Konversion dargestellt werden, in dem das sich selbstbestimmende Subjekt sich in seinem Tätigsein im Endzweck des vernünftigen, ethischen Lebens begreift. Durch den Begriff der Konversion wird somit der Anspruch eines Übergangs auf eine Ebene des Denkens eingelöst, auf der der Widerspruch zwischen empirischer Bedingtheit einer Person, die besondere Zwecke verfolgt, und allgemeinem, unbedingt verbindlichen Gut der praktischen Vernunft aufgelöst wird. In diesem Rahmen will ich hier folgenden Begriff der ethischen Konversion diskutieren: (2) Ethische Konversion: Das Gute, durch das eine Person ihren Lebensvollzug bestimmt, stimmt mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten, dem von der praktischen Vernunft vorgestellten Gut, überein. Ausgehend von diesem Begriff der ethischen Konversion kann der Hegel’sche Begriff der Sittlichkeit auf seinen Kern hin 92 als Darstellung des objektiven Geistes 93 verstanden werden, worin die Einheit von äußeren realen und inneren wesentlichen, formalen Bestimmungen erfasst wird. 94 Dass beide Seiten für sich genommen einen nur unvollständigen Begriff des ethisch Guten liefern können, zeigt sich darin, dass die immanente Analyse der Moral mit Bezug auf nur eine der beiden Seiten unabgeschlossen bleibt. Nach einer ist der Wille bloß als das Vermögen, über äußerliche Sachen 95 zu verfügen, beIch habe nicht den Anspruch, exegetisch zu zeigen, was Hegel wirklich gedacht haben mag. Hier bin ich lediglich an dem in seinen Ausführungen enthaltenen Grundgedanken interessiert. 93 Vergleiche hierzu vor allem die §§ 483–485 der Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften III. 94 Vgl. Terry Pinkard: Innen, Aussen und Lebensformen. Hegel und Wittgenstein. In: Michael Quante / Christoph Halbig / Ludwig Siep (Hrsgg.): Hegels Erbe. Frankfurt am Main 2004. 95 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Werke 10. Frankfurt am Main 1986, § 488. 92
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stimmt. Die Analyse dieses Vermögens erklärt sich für Hegel im Begriff des Eigentums. Dadurch wird ein Begriff der Freiheit entwickelt, der sich durch das »formelle, abstrakte Recht« 96 erklärt. Ein allgemeines, inneres Prinzip des Willens wird unter dem Titel der Moralität thematisiert. Dies führt zu einem Begriff des subjektiven Willens, der moralisch frei und aus einem eigenen Vorsatz begriffen wird. 97 Das Prinzip, unter das ein Subjekt dabei fällt, bleibt aber ein abstraktes Prinzip im Gewissen. 98 Beide Seiten für sich genommen sind ungenügend für einen Begriff des ethischen Lebens, der nach Hegel im Begriff der Sittlichkeit die »konkrete Identität des Guten und des subjektiven Willens« 99 darstellt. Es gilt also in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels einen Begriff der ethischen Konversion zu entwickeln, in dem der Zusammenhang des allgemein, unbedingt verbindlich Guten und des selbstbestimmten Lebensvollzuges, unter den Umständen verschiedener Situationen, erfasst wird.
II.
Die substantielle Deutung der Sittlichkeit
Dieser Abschnitt vollzieht eine substantielle Deutung der Sittlichkeit nach, die von einem Begriff der Substanz ethischen Lebens ausgeht. Dieser Deutung der Sittlichkeit liegt der Aristotelische Begriff des Vermögens zugrunde, auf dessen Grundlage erworbene praktischethische Fähigkeiten betrachtet werden (§ 1). Die substantielle ethische Konversion ist im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Herausbildung ethisch-praktischer Fähigkeiten, zur Bewirkung des ethisch Guten im Lebensvollzug, zu begreifen (§ 2). Eine Person, die praktisch-ethische Fähigkeiten herausbildet, kann in verschiedenen Situationen bestimmen, was gemäß einer guten ethischen Praxis gut zu tun ist (§ 3). Die richtige Auffassung einer guten ethischen Praxis scheint jedoch eine moralische Tradition vorauszusetzen, wodurch jedoch der normative Anspruch der Sittlichkeit, den Endzweck ethischen Lebens, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zu realisie-
Ibidem, § 487. Ibidem, § 503. 98 G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke 7. Frankfurt am Main 1986, § 141. 99 Ibidem. 96 97
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ren, nicht eingelöst werden kann (§ 4). Damit stellt sich die Aufgabe zu verstehen, wie eine gute ethische Praxis, ohne Voraussetzung einer moralischen Tradition, verstanden werden kann (§ 5).
1.
Aristoteles’ Begriff der Vermögen
Eine substantielle Deutung der Sittlichkeit wird möglich, wenn ein Begriff ethischen Lebens ausgehend von Aristoteles Begriff der Vermögen verstanden werden kann. Der Aristotelische Begriff der Vermögen ist an den Begriff einer substantiellen Form einer Tätigkeit gebunden. Darin liegt der Maßstab des gelungenen Erwerbs und der richtigen Ausübung von einem Vermögen, eine bestimmte Tätigkeit zu vollziehen. Den Gegenstand dieser Untersuchung stellen die Vermögen zum ethischen Handeln dar. Damit kehren wir hier jedoch nicht einfach nur zu Aristoteles zurück, womit wir wieder in Abschnitten I.1 und II von Kapitel 1 angelangt wären, wo sich, ausgehend von Aristoteles’ Auffassung des Endes ethischer Überlegungen, erst die Frage nach einer guten ethischen Praxis an die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute gestellt hat. Hier wird nun auf die Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage reflektiert, indem der Aristotelische Begriff von Vermögen im Rahmen der immanenten Analyse der Moral betrachtet wird. Aristoteles’ Begriff der Vermögen im Rahmen der immanenten Analyse der Moral zu begreifen, verlangt, daraus eine Antwort auf die mit Bezug auf Kants Dialektik der praktischen Vernunft formulierte Herausforderung zu finden (vgl. Abschnitt I.). Das heißt, es gilt die konstitutive Form der ethischen Praktiken darzustellen, durch die zwischen der jeweils besonderen Perspektive einer Person und dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten vermittelt wird. Dem Aristotelischen Begriff der Vermögen liegt eine Unterteilung in drei Ebenen zugrunde, die sich Abschnitt II.5. von De Anima entnehmen lässt. 100
Aristoteles: Über die Seele. Griechisch/Deutsch. Übersetzt durch Gernot Krapinger. Ditzingen 2011, 417 a, 24 – 417 b, 25.
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II.
III.
Vermögen 1: Ein Indivi- Wirklichkeit 1: Ein Indiduum hat das Vermögen, viduum bildet ein Verein Vermögen X zu tun, mögen, X zu tun, heraus. herauszubilden. Vermögen 2: Ein IndiWirklichkeit 2: Ein Individuum besitzt das viduum vollzieht Akte, Vermögen, X zu tun. in denen es X tut.
Dieses Schema teilt sich in drei Ebenen auf, innerhalb derer zwei Verständnisse von Vermögen und Wirklichkeit unterschieden werden können. Wirklichkeit 2 und Vermögen 1 treffen sich dabei auf einer Ebene. Auf dieser Ebene wird ein Vermögen als operatives Vermögen eines Individuums, das heißt, als dessen Fähigkeit etwas zu tun, erfasst. Auf Ebene I. wird ein Individuum hingegen als vermögend zur Ausbildung eines operativen Vermögens betrachtet. Hat es dieses auf Ebene II. herausgebildet, kann es Konkretes auf Ebene III. bewirken, wie eine Katze etwa Beute erkennen und fangen oder ein Schüler eine Mathematikaufgabe lösen kann. Betrachten wir zur weiteren Erläuterung des Schemas diese Beispiele innerhalb des oben aufgeführten Schemas. Ein Katzenjunges besitzt auf Ebene I. das Vermögen Sehkraft zu erwerben, weil es Augen hat, so wie der Schüler das Vermögen hat, Mathematik zu erlernen, weil ihm etwa natürliche-physische und kulturelle Bedingungen zur Teilnahme an mathematischer Praxis gegeben sind. Dieses Vermögen führt zu einem ersten Begriff von Wirklichkeit auf Ebene II., der darin besteht, dass die Katze die Sehkraft hat und der Schüler mathematisches Wissen. Der erste Begriff von Wirklichkeit ist untrennbar mit einem zweiten Begriff von Vermögen verbunden. Da die Katze im Besitz von Sehkraft ist, hat sie das Vermögen zur Wahrnehmung von konkreten Gegenständen, so wie der Schüler, der im Besitz von mathematischem Wissen ist, das Vermögen hat, eine bestimmte Rechnung durchzuführen. Ein zweites Verständnis von Wirklichkeit auf Ebene III. folgt aus dem Vollzug von Vermögen auf Ebene II. und besteht also in der konkreten Wahrnehmung der Katze von ihrer Beute oder der Lösung einer Rechenaufgabe. Den Gegenstand dieser Untersuchung stellt ein operatives Vermögen, also eine Fähigkeit dar, die ethisches Wissen darstellt. Auf Ebene III. wird durch deren Ausübung somit das allgemein, unbedingt verbindlich Gute in konkreten Handlungsvollzügen zum AusDie Negativität des Sittlichen
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druck gebracht. In Bezug auf die Fähigkeit zum Vollzug ethischen Lebens wird folgende Variante des Schemas zugrunde gelegt: I.
II.
Vermögen 1: Ein Individuum hat das Vermögen, die Fähigkeit herauszubilden, das ethisch Gute zum Ausdruck zu bringen.
Wirklichkeit 1: Ein Individuum bildet die Fähigkeit, das ethisch Gute zum Ausdruck zu bringen, heraus. Vermögen 2: Ein Individuum besitzt die Fähigkeit, das ethisch Gute zum Ausdruck zu bringen.
III.
Wirklichkeit 2: Ein Individuum vollzieht eine Tätigkeit, durch die das ethisch Gute zum Ausdruck gebracht wird.
Der Grund für die Umformulierung des Schemas, liegt darin, dass je nach Art des Vermögens das Verhältnis der drei Ebenen anders zu verstehen ist. Der basale Unterschied verschiedener Arten von Vermögen zeigt sich darin, ob ein Individuum eine Fähigkeit von Natur aus besitzt oder durch Einübung erwerben muss. Die Art der von Natur aus besessenen Vermögen bestimmt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik wie folgt: Wir haben nämlich die Wahrnehmungsvermögen nicht durch wiederholtes Sehen oder Hören erworben, sondern umgekehrt: Weil wir Wahrnehmungsvermögen schon hatten, haben wir sie gebraucht; wir haben sie nicht durch den Gebrauch erst bekommen. 101
Was es demnach heißt, ein Wahrnehmungsvermögen zu besitzen, lässt sich am Beispiel der Katze erläutern. Die Katze hat das Vermögen Sehkraft herauszubilden, weil sie Augen hat (Vermögen auf Ebene I.). Um zu einem operativen Vermögen auf Ebene II. zu kommen, sind externe Einflüsse, wie etwa das Sonnenlicht, nötig. Aber das Sehvermögen ist auf einer Ebene schon da. Es liegt in den Sinnesorganen, mit denen die Katze ausgestattet ist. 102 Anders verhält es sich bei den durch Gebrauch zu erwerbenden vernünftigen Vermögen, dem, wozu Personen fähig sind, wie der Entwicklung tech-
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt durch Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006, 1103 a. 102 Die Besonderheit des Unterschiedes von vernünftigen und bloßen Wahrnehmungsvermögen ist hier nicht wichtig. 101
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nischer Kompetenzen, dem Betreiben von Mathematik oder tugendhaftem Handeln. Aristoteles sagt: Die Tugenden hingegen erwerben wir dadurch, dass wir sie zuvor betätigen, wie das auch bei den Arten des Herstellungswissens (techne) der Fall ist. 103
und Die Fähigkeiten (hexis) entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten. 104
Diese Zitate aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik besagen, dass es kein Organ des tugendhaften Handelns gibt. Das heißt, ein denkendes Wesen, das mathematische Aufgaben lösen, Pläne umsetzen und tugendhaft handeln kann, hat nicht schon das Vermögen dazu als Anlage in biologischen Organen und muss es nur noch durch Stimulierung zum operativen Vermögen herausbilden. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass ein Subjekt ein Vermögen (Vermögen 1 auf Ebene I.) zur Mathematik, zum Bauen eines Hauses oder zum ethisch guten Handeln besitzt, das durch Stimulierung durch externe Einflüsse zu einer Fähigkeit im Sinne eines operativen Vermögens (Vermögen 2 auf Ebene II.) wird. Die Erklärungsrichtung verläuft hier andersherum; sie beginnt auf Ebene III., ohne dass vom Besitz von Fähigkeiten auf Ebene II. ausgegangen werden muss. Es gilt somit zu verstehen, wie ein Subjekt Fähigkeiten herausbildet, wie die einen Plan zu realisieren, ein Haus zu bauen oder die zum guten, tugendhaften Handeln, indem es entsprechende Tätigkeiten vollzieht. Ausgehend vom Vollzug von Handlungsweisen auf Ebene III. wird erst Ebene II. herausgebildet. 105 Das heißt, durch die Ausübung bestimmter Weisen zu handeln, also von Wirklichkeit 2 kommt man erst zu Wirklichkeit 1. Deshalb werden Fähigkeiten zur Realisierung der Einheit ethischen Lebens hexis (Aristoteles), habitus (Thomas) oder Gewohnheit (Hegel) genannt. Im Folgenden werde ich mich auf diese Fähigkeiten mit dem Wort hexis beziehen.
Ibidem. Ibidem, 1103 b, Übersetzung angepasst. Ursula Wolf übersetzt hexis mit »Disposition«. 105 Dass eine Person als vernünftiges Subjekt im Sinne von Ebene I. vermögend ist, Fähigkeiten herauszubilden, ist in Bedingungen zu beschreiben, die nicht allein biologischer Natur sind, sondern auch bestimmte institutionelle, soziale und kulturelle Aspekte, als das, wo Vernunft möglich wird, umfassen. Wie diese Bedingungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen sind, kann hier nicht dargestellt werden. Hier wird lediglich auf die Tatsache solcher Voraussetzungen reflektiert. 103 104
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In der herausgebildeten hexis ist das Vermögen der praktischen Vernunft zu verstehen, also als Fähigkeit (II.) zum guten Handeln (III.). Um ausgehend von diesem Aristotelischen Begriff des Vermögens die ethische Konversion zu begreifen, ist auf den Ebenen I.III. zu erklären, wie die Herausbildung einer Fähigkeit ausgehend von Ebene III. zur Erklärung eines Begriffs von Selbstbestimmung dienen kann, deren Endzweck darin besteht, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck zu bringen.
2.
Die substantielle ethische Konversion
Der Struktur des Aristotelischen Schemas der Vermögen folgend, stellt der Vollzug guter Handlungen den Ausgangspunkt für das Verständnis der Fähigkeit, ein ethisch gutes Leben zu führen, dar. Die ethische Konversion wird demnach durch konkrete Handlungsvollzüge möglich, durch die die Fähigkeit, ethische Praktiken zu realisieren, erworben wird, die für ein ethisches Leben konstitutiv sind. Demnach ist die ethische Konversion wie folgt zu formulieren: (2’) Substantielle ethische Konversion: Das Gute, durch das eine Person ihren Lebensvollzug bestimmt, stimmt mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten, dem von der praktischen Vernunft vorgestellten Gut, überein. Dies ist möglich, weil die Realisierung des Gutes der praktischen Vernunft die Norm der richtigen Herausbildung und Ausübung der praktischen Fähigkeiten einer Person darstellt. Um ethische Konversion ausgehend von dem Aristotelischen Schema der Vermögen zu erklären, ist die Voraussetzung zu klären, unter der ein konkreter Handlungsvollzug als Ausdruck des allgemein, unbedingt verbindlich Guten verstanden werden kann. Durch unmittelbaren Bezug auf ein Prinzip ist dies nicht möglich. Dann müsste es so etwas wie eine Blaupause für gute Handlungen oder ein Instrument zur Berechnung geben, wodurch gezeigt wird, was wann zu tun ist. Ich weiß etwa nicht von der Dankbarkeit an sich, sondern nur vom Verschenken der Blumen an den, der sich an Blumen erfreut, als dankbare Handlung. Durch konkrete Handlungen weiß man jedoch zunächst nur, was gut zu tun ist. Dieses Wissen um das Was kann jedoch nur zur Herausbildung der Fähigkeit, ethisch Gutes 88
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zu tun, herangezogen werden, wenn es im Zusammenhang mit der Begründung, warum etwas gut zu tun ist, betrachtet wird. Die Begründung, warum etwas gut ist, liegt aber im Begriff ethischen Lebens, wovon eine Person jedoch allein mit Bezug auf das Was, den Handlungsakten, Wissen erlangen kann. Somit ist die Herausbildung der Fähigkeit, ethisch Gutes zu tun also nur möglich, wenn die einzelnen Handlungen schon in der Einheit der Form des ethischen Lebens gründen, bevor ein Subjekt Wissen von deren Begründung hat, also eine Antwort auf die Frage Warum? geben kann. Es besteht also die Herausforderung zu zeigen, wie das Wissen, was gut zu tun ist, mit Verständnis dafür, warum etwas gut zu tun ist, zusammenhängt. 106 Im ethischen Handeln und Leben steht das Warum zu Was nicht in dem Verhältnis von Form und Zweck eines Organs zu seinem konkreten Gebrauch, wie dem Auge und dem Erspähen einer Beute. Das heißt, die Gründe liegen nicht in Bezug auf die Kausalität biologischer Anlagen im Was. Deshalb handelt es sich bei der Fähigkeit zum ethisch guten Handeln nicht um ein natürliches Vermögen. Die hexis, also das operative Vermögen, geht vom Was aus, was sich darin zeigt, dass die Schritte von den Ebenen I.–III., des Schemas in II.1, ausgehend von Ebene III. zu verstehen sind. Uns stellt sich somit die Aufgabe zu erklären, wie der Bezug auf das Warum, die Einheit des Endzwecks, zu verstehen ist, wenn die Fähigkeit, Begründungen zu erfassen, allein durch konkrete Handlungsvollzüge erworben werden kann. In Anbetracht des Verhältnisses von Warum zu Was scheint die substantielle ethische Konversion in ein Paradox zu führen. Das Paradox besteht darin, dass einerseits die Begründung als Ausgangspunkt für gutes Handeln zu verstehen ist, andererseits die Fähigkeit, Begründungen zu geben, ausgehend von Handlungsvollzügen erworben werden kann. Dieses Paradox wird vermieden, wenn gezeigt werden kann, dass die Tätigkeiten, durch die eine hexis ausgebildet wird, damit begründet werden, dass sie ein ethisch gutes Leben befördern. Doch unter welchen Bedingungen kann dies gezeigt werden? Anstatt von Zweck und Funktion natürlicher Vermögen könnte etwa von dem Ethos bestehender Institutionen ausgegangen werden, wodurch eine Vorstellung vom guten ethischen Leben vermittelt wird. Das Be106 Ich verdanke dem Zusammenhang von »Was« und »Warum« Myles Burnyeat in: Aristotle on Learning to Be Good. In: Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.): Essays on Aristotle’s Ethics. Berkely 1980, S. 69–92.
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stehen solcher Institutionen mag für die Herausbildung von Fähigkeiten, nach der Norm einer Praxis zu handeln, wichtig sein. Doch hier stellt sich die Aufgabe, den Bezug auf das ethisch Gute im Rahmen einer immanenten Analyse der Moral zu begreifen, die zunächst nicht auf einen Ethos, sondern allein auf Akte der Selbstbestimmung Bezug nehmen kann, die nicht davon ausgehen, dass in einem Ethos schon eine Vorstellung vom guten ethischen Leben vermittelt ist. Ob Selbstbestimmung dann mit dem Bezug auf die moralische Tradition eines Ethos kompatibel ist, wird unten in § 4 dieses Abschnittes thematisiert. Mit Bezug auf eine selbstbestimmte Begründung, stellt sich das Paradox, das sich am Begriff der hexis aufdrängt, im Konfligieren zweier Erklärungsrichtungen dar: Erstens, durch Selbstbestimmung kann eine Person ihr Leben begründend in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten der Vernunft vollziehen. Zweitens, die Fähigkeit, die hexis als Fähigkeit einer Person Begründungen zu geben, formiert sich in konkreten Handlungen, dem Was. Um zu zeigen, dass das genannte Paradox nicht besteht, ist darzulegen, an welchem Punkt beide Erklärungsrichtungen zusammen kommen. Wird der Aristotelische Begriff der hexis in die immanente Analyse der Moral aufgenommen, ist dieser Punkt als der zu verstehen, in dem sich Selbstbestimmung des Willens und die Herausbildung der hexis gegenseitig erklären.
3.
Die Qualitäten der selbstbestimmten Person
Es stellt sich nun die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Herausbildung einer hexis als selbstbestimmte Fähigkeit zu handeln begriffen wird, durch die eine Person begründend erfasst, was zum Gelingen eines ethisch guten Leben führt. Den zunächst greifbaren Ausgangspunkt stellt die konkrete Person, die sich in partikularen Umständen einer Situation befindet, dar, die durch die Herausbildung einer hexis eine Veränderung erfährt, insofern sie dadurch in ein begründendes Verhältnis zu ihrem Lebensvollzug tritt. Die Art dieser Veränderung können wir ausgehend von Thomas Aquinus verstehen, der die als hexis erworbenen Fähigkeiten zu handeln, als eine Qualität von Subjekten begreift. 107 Wie ist diese Art Qualität, die sich an einem Subjekt zeigt, das 107
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Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Lander 2012, I–II, q. 49, a. 2, arg. 2.
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eine hexis erwirbt, zu verstehen? Es handelt sich weder um physische Qualitäten, wie etwa die Größe oder Haarfarbe einer Person, noch handelt es sich um zufällige Eigenschaften, wie Nationalangehörigkeit oder soziale Rollen, die etwa durch Beruf oder Zugehörigkeit zu einer Altersgruppe definiert werden. Es handelt sich vielmehr um Qualitäten, die darstellen, was für ein ethisches Leben notwendig, also konstitutiv ist. Sie stellen somit substantielle, bleibende Qualitäten für eine Person als ethisches Subjekt dar. Zudem unterscheiden sich solche Qualitäten von den anderen genannten, da eine Person sie besitzt, weil sie sie auf eine bestimmte Weise erworben hat, und sie nicht bloß aufgrund ihrer zufälligen physischen Eigenschaften oder der Mitgliedschaft in einer Gruppe besitzt. Diese bestimmte Weise des Erwerbs ist untrennbar mit dem Begriff der hexis, des habitus oder der Gewohnheit zu verstehen, für den das Handeln auf Ebene III. vor dem Besitz des Vermögens zu handeln auf Ebene II. des in Abschnitt III.1 aufgeführten Schemas steht. Der Erwerb einer Fähigkeit als hexis verändert ein Subjekt, da es dadurch eine Qualität erwirbt. Um diese als substantielle, bleibende Qualität zu begreifen, die das darstellt, was für ein ethisches Leben als solches konstitutiv ist, ist zunächst eine weitere Unterscheidung zu machen. Diese Veränderung, die sich im Erwerb am Subjekt vollzieht, ist nicht analog zu einer Bewegung oder äußeren Einwirkung zu verstehen, wie etwa die Verdunkelung der Hautfarbe bei Sonneneinstrahlung oder die Heilung von einer Krankheit. In Fällen dieser Art findet eine Veränderung von einem zum anderen Zustand statt. Sie beruht auf einer Bewegung, welche im Fall der Bräunung der Haut in Form von chemischen Prozessen beschrieben werden kann. Hier gilt es, eine Veränderung ohne Bewegung zu etwas anderem zu verstehen. 108 Es handelt sich vielmehr um eine Veränderung, die mit der Herausbildung von Fähigkeiten geschieht. Die Entwicklung des Vermögens zum ethischen Handeln stellt also eine Veränderung vom unfähigen, unwissenden zum fähigen, wissenden Subjekt dar. Dabei wird keine Bewegung vollzogen, sondern ein Vermögen herausgebildet. Diese Qualität besteht darin, dass ein Subjekt gute ethische Praktiken ausüben kann. Die Qualität, die eine Person durch das Herausbilden einer hexis darstellt, besteht somit darin, Subjekt einer ethischen Praxis zu sein. In der ethischen Praxis liegt das Warum, während das Was in Tätigkeiten einer Person 108
Vgl. Myles Burnyeat: De Anima II.5. In: Phronesis 47/1 (2002), S. 28–90.
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besteht. Eine Person, die nach der Norm einer ethischen Praxis handelt, strebt nach dem Guten, wird also tugendhaft in dem Sinne, dass sie ihre Lebensvollzüge durch diese Praxis begreift und bestimmt. Subjekt dieser Praxis zu sein, kann deswegen auch als eine bleibende Charakterqualität beschrieben werden, weil in dieser die substantielle Form ethischen Lebens dargestellt wird. Die Qualitäten, die eine Person erwirbt, indem sie die Fähigkeit erwirbt, eine ethische Praxis zu realisieren, sind des Weiteren von Qualitäten zu unterscheiden, die in erworbenen Fähigkeiten bestehen, ein Produkt herzustellen, wie zum Beispiel Schuhe. Aristoteles nennt solche Fähigkeiten, wie wir bereits in Kapitel 1, Abschnitt I. § 1 gesehen haben, im Unterschied zur praxis poesis, die als technisches Können oder Herstellungswissen bestimmt wird. 109 Ein Subjekt, das die Qualität besitzt, ein guter Schuhmacher zu sein, ist auf die Realisierung eines Produkts ausgerichtet. Dieses trägt seinen Zweck nicht in sich selbst, sondern dessen Herstellung ist durch äußere Zwecke motiviert, wie zum Beispiel den Wünschen des Kunden gerecht zu werden oder Geld zu verdienen. Das heißt, das Was und das Warum lassen sich im Wissen, das befähigt, ein Produkt herzustellen, voneinander trennen, weil eine konkrete Tätigkeit in diesem Fall verschiedentlich begründet werden kann. Bei der Ausübung einer ethischen Praxis sind das Warum und Was untrennbar – die Norm einer Praxis besteht in internen Zwecken. Es stellt eine bleibende, substantielle Qualität eines Subjekts dar, die nicht allein in bestimmten Produkten angezeigt wird, sondern im Verlaufe eines ganzen Lebens sichtbar werden soll und kann. Die Einheit des Was und Warum im Handeln nach dem Gut einer ethischen Praxis ist wie folgt zu verstehen. Ein Beispiel für eine solche Praxis stellt das Helfen dar. Dass ein Subjekt einer Praxis Wissen vom Gut des Helfens hat, zeigt sich daran, dass es weiß, wann zu helfen ist. Das heißt, es kann eine Situation S mit dem Gut des Helfens verbinden. »X Phi-t in S, weil X durch Phi-en in Situation S hilft«. 110 Beide Seiten können nicht getrennt betrachtet werden. Dann müsste man annehmen, dass das Gut des Helfens in einen frei-
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt durch Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006, 1140 a. 110 Diese Unterscheidung verdankt sich Michael Thompsons Begriff von Praktiken und Dispositionen in Michael Thompson: Life and Action. Elementary Strucures of Practice and Practical Thought. Cambridge Mass. 2012, S. 161–162. 109
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schwebenden Korpus von Normen eingeschrieben ist und situationsinvariant begriffen werden kann. Doch dies ist nicht der Fall. Das ethische Wissen, wie das um das Gut des Helfens, besteht darin, den Zusammenhang zwischen einer Situation S und dem Gut des Helfens herzustellen. Dass ethisches Wissen in der Verbindung von einem Gut, wie dem des Helfens, und einer Situation S besteht, zeigt sich daran, dass Helfen in verschiedenen Situationen verschiedene Handlungen erfordert. Will zum Beispiel jemand den Menschen in einem wirtschaftlich unterentwickelten Land helfen, so kann er dieses durch das Spenden von Geld tun. Genauso kann das Spenden von Geld auch schädlich sein, sollte dadurch etwa die lokale Wirtschaft des Landes zerstört werden. In solch einer Situation könnte stattdessen der zollfreie Import der Waren aus diesem Land behilflich sein. Das tugendhafte Subjekt besitzt die Fähigkeit, in Situationen die richtigen Handlungsgründe zu sehen, also Unterscheidungen zwischen verschiedenen Weisen der Verwirklichung einer Praxis zu machen. 111 Eine ethische Praxis wird also dadurch realisiert, dass ein Subjekt dieser Praxis weiß, unter welchen Umständen verschiedener Situationen so zu handeln ist, dass deren Norm entsprochen wird. Im gelungenen Vollzug von Handlungen ist ihm somit immer zugleich transparent, warum es sie so und nicht anders vollzogen hat. Die Charakterisierung des Bezugs auf eine Praxis als transparent ist hier so zu verstehen, dass die Handlungen dem Zweck der Praxis entspringen und diese somit sichtbar machen. 112 Mit Transparenz ist hier nicht bloß Sichtbarkeit gemeint, wie eben die Haarfarbe einer Person sichtbar ist. Die Transparenz einer Praxis besteht vielmehr darin, dass eine Person Gründe für Handlungen, die sie zur Realisierung bringen, mit Bezug auf die Umstände verschiedener Situationen erfassen und geben kann. Sie kann sich über den Zusammenhang zwischen Praxis und Umständen einer Situation erklären, insofern besteht hier Transparenz. 113 In dessen Handeln und Evaluieren anderer Handlun111 McDowell charakterisiert Tugenden durch dieses Vermögen in John H. McDowell: Virtue and Reason. In: Ders.: Mind, Value, and Reality, Cambridge Mass./London 2002. 112 Michael Thompson formuliert diesen Gedanken, wenn er von der »Transparency of Practices« (Michael Thompson: Life and Action. Elementary Strucures of Practice and Practical Thought. Cambridge Mass. 2012, S. 174) redet. 113 Richard Moran diskutiert Transparenz insofern Gründe für Überzeugungen und Handlungen aus der ersten Person gegeben werden. Ders.: Authority an Estrangement. An Essay on Self-Knowledge. New Jersey 2001, S. 60 ff.
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gen zeigt sich somit die Qualität einer Person als tugendhaftem Subjekt. Die Allgemeinheit einer Praxis stellt dann eine innere, charakterliche Bestimmung einer Person als Subjekt einer ethischen Praxis dar, die nur in äußeren Bestimmungen unter konkreten praktischen Umständen erfasst und zeigt. Mit der Rede von Innerem und Äußerem wird also kein Gegensatz dargestellt, sondern beide sind im internen Zusammenhang zu verstehen. Wir sehen an diesem Punkt, die Qualität der Person als tugendhaftem Subjekt, das eine hexis zum guten Handeln herausbildet, besteht und zeigt sich darin, dass es eine ethische Praxis transparent macht. Der transparente Bezug zur Praxis ist also als eine bestimmte Form von Aktivität zu verstehen. Den Aktivitäten, durch die die Qualitäten des tugendhaften Lebensvollzuges erworben und realisiert werden, liegt die Form praktischer Selbstbestimmung zugrunde, die als die eben dargestellte Art von Transparenz erklärt wird. Ein Subjekt bestimmt seinen Lebensvollzug durch eine ethische Praxis, indem es deren Verwirklichung in verschiedenen Situationen erfasst. Dadurch schreibt es sich zugleich eine ethische Praxis selbst zu, es bestimmt seinen Lebensvollzug durch diese. Die Ausübung der Fähigkeit nach einer Praxis zu handeln, ist somit als erstpersonaler Akt der (praktischen) Selbstbestimmung zu verstehen, da sich darin ein Subjekt in die Einheit der Gründe einer ethischen Praxis stellt und seinen Lebensvollzug dadurch begreift, indem es die materiell bedingten praktischen Umstände, unter denen es sich befindet, dadurch erfasst und ordnet. 114 In solchen Akten der (praktischen) Selbstbestimmung besteht somit die Wirklichkeit einer ethischen Praxis im Lebensvollzug einer Person, die Subjekt dieser ist. Nur durch diese Form des Zuschreibens wird sie realisiert und die Qualität der Tugendhaftigkeit im Handeln eines Subjekts sichtbar. 115 Im Handeln, in dem die Verbindung zwischen Warum und Was hergestellt wird, referiert ein Subjekt auf sich als Handelnden und Urteilenden, da es sich auf seinen Handlungsvollzug und zu den Gegenständen seiner Urteile als die eigenen bezieht. Andernfalls besteht keine Einheit von Warum und Was, sondern bloß ein Was, das nur durch andere 114 Diese Auffassung des Zusammenhangs von erstpersonalen Akten und materiell bedingtem Lebensvollzug findet sich in Kapitel 4. von Sebastian Rödls Buch SelfConsciousness. Cambridge Mass./London 2007. 115 Dieses sieht schon Aristoteles in der Unterscheidung von »kata logon« und »meta logou«, vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt durch Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006, 144 b, 25.
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Ursachen als den selbstbestimmten Bezug eines Subjekts auf eine ethische Praxis, erklärt werden müsste. In dieser Verbindung stellt sich die ethische Praxis im Vollzug der praktischen Selbstbestimmung dar, insofern sie nur dadurch verwirklicht wird. Mit Bezug auf den Begriff der ethischen Praxis besteht das oben in Abschnitt II.2 formulierte Paradox zwischen selbstbestimmten Lebensvollzug und Bedingungen der Herausbildung der hexis, als Fähigkeit begründend eine Praxis auszuüben, folglich nicht. Der Grund dafür liegt darin, dass im Rahmen einer ethischen Praxis erworbene Fähigkeiten als Fähigkeiten zur selbstbestimmten Ausübung einer guten Praxis zu verstehen sind. Nach dieser Erklärung sind selbstbestimmte Handlungsvollzüge nicht anders begründet als diejenigen, durch die eine Person innerhalb einer Praxis die Fähigkeit diese auszuüben erwirbt, etwa indem andere Personen ihr im Erziehungsprozess ein Vorbild sind, sie korrigieren oder ihr Erklärungen geben. Diese Erklärung des Erwerbs und der Herausbildung und Ausübung praktisch-ethischer Fähigkeiten setzt jedoch den Begriff einer guten ethischen Praxis voraus. Diese Voraussetzung liegt in der Annahme, dass ein Subjekt einer guten ethischen Praxis, das in seinem Lebensvollzug die Qualität des Tugendhaften sichtbar macht, dadurch zugleich das allgemein, unbedingt verbindliche Gut der praktischen Vernunft in ihrem Lebensvollzug zum Ausdruck bringt. Davon, ob und wie der unterstellte Zusammenhang von selbstbestimmter Ausübung einer guten ethischen Praxis und dem Gut praktischer Vernunft erklärt werden kann, hängt die Plausibilität der substantiellen Deutung der Sittlichkeit ab. 116
4.
Die gute ethische Praxis
Es gilt nun zu erklären, wie der Bezug auf eine gute ethische Praxis möglich ist. Eine gute ethische Praxis bestimmt den Lebensvollzug von Personen, insofern sie einen konkreten Bezugspunkt für das Verständnis, was zu tun ist, darstellt und soll zugleich eine Tätigkeit dar-
116 John McDowell stellt die Entwicklung der Fähigkeiten zum guten Handeln dar, in seinem Aufsatz: Deliberation and Moral Development in Aristotle. In: Stephen Engstrom / Jennifer Whiting (Hrsgg): Aristotle, Kant, and the Stoics. Cambridge 1996, S. 19–35. Er sagt explizit, dass er bzw. Aristoteles das Gute nicht wie Kant durch die Form des guten Willens begreift (Ibidem, S. 35). Genau das soll hier gezeigt werden.
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stellen, die in Bezug auf den Endzweck ethischen Lebens zu verstehen ist. Die gute ethische Praxis ist bisher in der Erklärung dieses Verhältnisses vorausgesetzt worden. Die substantielle ethische Konversion steht damit vor der Aufgabe, erklären zu müssen, wie diese Voraussetzung garantiert werden kann. Die immanente Analyse der Moral kann sich nicht mit der bloßen Voraussetzung von einer guten ethischen Praxis zufrieden geben, sondern muss zeigen, wie sie im Begriff des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, dem des Endzwecks ethischen Lebens, zur Ruhe kommt, und nicht von äußerlichen Voraussetzungen oder zufällig Gegebenem abhängt. Die Begründung einer guten ethischen Praxis kann nicht durch einen Bezugspunkt erklärt werden, der außerhalb der Praxis selbst liegt, wie »Zwei-Ebenen-Ansätze« annehmen. 117 Auf den Endzweck des guten Lebens würde dann nicht durch eine Praxis, sondern durch ein äußerliches Kriterium Bezug genommen. Das widerspricht jedoch dem hier dargestellten Begriff einer ethischen Konversion, wonach allein innerhalb der selbstbestimmten Lebensvollzüge einer Person verstanden werden kann, was allgemein, unbedingt verbindlich gut ist. Alasdair MacIntyre argumentiert als Alternative zu solchen Ansätzen, die von verschiedenen Ebenen ausgehen, dafür, gute ethische Praktiken und somit tugendhaftes Handeln durch eine »moralische Tradition« 118 zu begreifen. Es gilt zu überprüfen, ob dieser Ansatz eine Erklärung des normativen Anspruchs der ethischen Konversion liefert, den Begriff der guten ethischen Praxis nicht vorauszusetzen, sondern immanent, innerhalb des selbstbestimmten Lebensvollzugs einer Person zu begreifen. Bei MacIntyre sind für den Begriff der guten ethischen Praxis und dem damit zusammenhängenden Begriff der Tugend drei Aspekte wesentlich. 119 Der Begriff der Praxis stellt den ersten Aspekt dar. Eine Praxis ist als eine Handlungsweise zu verstehen, die dem guten Leben entspricht. Dieser Begriff einer Praxis ist grundlegend, weil er ein Verständnis von Handlungsweisen, die um ihrer selbst willen zur Realisierung eines moralischen Zwecks vollzogen werden, ermöglicht. Der zweite Aspekt besteht darin, dass ein Individuum in einem soziokulturellen Kontext in eine Praxis ein117 Vgl. hierzu Michael Thompson: Life and Action. Elementary Structures of Practice and Ethical Thought. Cambridge Mass./London 2012, S. 167–174. 118 Alasdair MacIntyre: After Virtue. Third Edition with New Prologue. 3. Aufl. London 2011, Kapitel 15. Die Übersetzung von »moral tradition« als »moralische Tradition« geht auf mich zurück, E. J. 119 Ibidem, S. 186–187.
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geübt wird. Dabei entwickelt das Individuum das Verständnis der Praktiken, an denen es teilnimmt, ständig weiter, indem es diese in Bezug auf die verschiedenen Umstände und Anforderungen von Situationen neu interpretiert. Der dritte Aspekt besteht im Begriff einer moralischen Tradition. Eine moralische Tradition besteht dadurch, dass ein Individuum Praktiken nach einem bestimmten telos weiter entwickelt. 120 Dieses telos besteht in der Aufrechterhaltung der Praktiken. Somit verbindet sich hier der Zweck des Lebens eines Individuums mit der Aufrechterhaltung einer moralischen Tradition, durch die das Gute vermittelt wird. MacIntyre liefert eine Erklärung dafür, wie wir die Voraussetzungen einer guten ethischen Praxis fassen könnten. Diese Erklärung nimmt Bezug auf den sozio-historischen Kontext einer Tradition und orientiert sich an einem telos, das durch ein Narrativ einer Tradition vermittelt wird. 121 In diesem Narrativ wird eine Tradition vergegenwärtigt, entwickelt und fortgeführt. Durch ein solches Narrativ wird der Zusammenhang verschiedener historischer Praktiken im Lebensvollzug der Person erklärt, die an ihnen teilnimmt. In einem Narrativ werden die Normen von Praktiken in einem weiteren Zusammenhang des telos betrachtet, ohne dass ein Bezugspunkt außerhalb von Praktiken nötig ist. Eine Person erfasst das Narrativ, in dem das telos gefasst wird, durch die Teilnahme an Praktiken und entwickelt diese wiederum mit Bezug auf dieses Narrativ weiter. Das Narrativ der moralischen Tradition wird dann zugleich zum Narrativ ihrer praktischen Identität. Innerhalb eines Narrativs, durch das der Endzweck einer moralischen Tradition gefasst wird, besteht also immer schon ein Zusammenhang von Praktiken und dem Endzweck ethischen Lebens, durch den eine Praxis als gute ethische Praxis erwiesen wird. So eingängig MacIntyres Ansatz auch wirken mag, als so problematisch erweist er sich. Dessen Ansatz kann eine bestimmte moralische Tradition und dazugehörige Praktiken als Bezugsrahmen abstecken. Das Problematische daran ist, dass nach diesem Ansatz die immanente Analyse der Moral zugleich davon abhängt, dass eine konkrete moralische Tradition als Bezugsrahmen gegeben ist. Dies widerspricht dem Anspruch der immanenten Analyse der Moral, die Möglichkeitsbedingungen für das Gute im Lebensvollzug zum Ausdruck zu bringen, primär aus der Form des freien Willens, also prak120 121
Ibidem, S. 217 ff. Ibidem, S. 215.
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tischen Fähigkeiten und Selbstbestimmung einer Person, und nicht primär durch einen durch Tradition geprägten Willen zu begreifen. Die Qualitäten, die ein Subjekt im Vollzuge ihres Lebens sichtbar macht, sind dann bloß die eines Teilnehmers einer Tradition und nicht substantielle Eigenschaften eines Lebens, dessen Endzweck darin besteht allgemein, unbedingt verbindlich Gutes zum Ausdruck zu bringen. 122 Der Widerspruch zur immanenten Analyse der Moral zeigt sich also darin, dass der normative Anspruch der substantiellen ethischen Konversion weiter reicht als der Rahmen einer gegebenen Tradition. Sie verlangt einen Bezug auf den spezifischen Endzweck eines vernünftigen ethischen Lebens, dessen Realität die Realität eines kategorischen, die Vernunft abschließenden Prinzips darstellt. Auf diesen Zusammenhang geht MacIntyre, zumindest in After Virtue, nicht ein. Die Ressourcen einer moralischen Tradition bleiben in seinem Ansatz der einzig erkennbare Bezugspunkt für eine Auffassung guter ethischer Praktiken. Für die immanente Analyse der Moral ist dieses Verständnis einer guten ethischen Praxis jedoch zu eng gefasst. Im Narrativ einer Tradition kommt sie nicht in ihrem abschließendem Punkt zur Ruhe, sondern wird ruhig gestellt.
5.
Ethisches Leben
Wir befinden uns an folgendem Punkt der Untersuchung der Deutung des Begriffs der Sittlichkeit, die vom substantiellen Verständnis vernünftiger Fähigkeiten ausgeht: Die Herausbildung der Fähigkeit zum ethischen Handeln kann, anders als ein natürliches Vermögen, nicht von dessen Anlage in einem Organ ausgehen, sondern muss konkrete, tugendhafte Handlungsvollzüge zum Ausgangspunkt nehmen. Dass konkrete Handlungsvollzüge tugendhaft sind, ist durch den Bezug auf eine gute ethische Praxis begründet. Die substantielle ethische Konversion erklärt also, wie im selbstbestimmten Handeln der Bezug auf die gute ethische Praxis begriffen werden kann. Jedoch findet sich ein blinder Fleck im Verständnis des normati-
122 Auch wenn eine Tradition beansprucht, Universelles darzustellen, wie bestimmte religiöse Traditionen, wäre das Problem nicht behoben. Die ethische Konversion wäre immer noch begrenzt, da sie von etwas ihr Äußerlichem abhinge (vgl. dazu die Diskussion von Kants Auffassung des Zusammenhangs von Moral und Religion in Abschnitt I.1).
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ven Anspruches der substantiellen Deutung der Sittlichkeit, deren Kerngedanke hier als substantielle ethische Konversion dargestellt wird. Dieser blinde Fleck zeigt sich in der Voraussetzung der guten ethischen Praxis, durch die eine Person die Fähigkeit, ihren Lebensvollzug selbstbestimmt zu begreifen und zu vollziehen, herausbildet und ausübt. Die immanente Analyse der Moral kommt erst an diesem Punkt zur Ruhe, da darin die Übereinstimmung des ethischen Wissens mit seinem Gegenstand, dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten im Lebensvollzug einer Person, besteht. Diese Übereinstimmung kann aber, so haben wir oben in § 1 dieses Abschnitts gesehen, nur ausgehend von Akten der guten ethischen Praxis erlangt werden. Nun kann durch die immanente Analyse der Moral eine gute ethische Praxis nicht einfach vorausgesetzt werden. Insofern besteht ein blinder Fleck für deren eigene Voraussetzungen. Dieser blinde Fleck kann nicht durch den Verweis auf eine bestehende moralische Tradition ausgefüllt werden, in der eine Auffassung einer guten ethischen Praxis überliefert wird. Traditionen und Kulturen, innerhalb derer bestimmte Werte überliefert und ethischen Praktiken zugrunde gelegt werden, mögen zwar einen Rahmen dafür darstellen, Fähigkeiten zum Handeln zu entwickeln. Aber als Bezugspunkt zur Einlösung des normativen Anspruches zu erklären, wie mit Bezug auf eine gute ethische Praxis das allgemein, unbedingt verbindlich Gute im Lebensvollzug einer Person zum Ausdruck gebracht wird, ist sie ungenügend. Aufgrund der aus dem Begriff der hexis folgenden Erklärungsordnung, die ausgehend vom Akt der guten ethischen Praxis herausgebildet wird, kann auch der Versuch, diesen blinden Fleck auszufüllen, dadurch »materiell reichhaltigere[n] Formen dessen anzugeben, was für Menschen natürlich gut ist« 123, wie Thomas Hoffmann es formuliert, nicht gelingen. Das Problem liegt bei dieser Vorgehensweise darin, dass sie von einem Begriff einer materiell »reichhaltigen Form« des Lebens ausgeht, aber nicht die materielle Bedingtheit des Akts einer guten ethischen Praxis einbegreift, durch den eine Person die hexis, also die Fähigkeit zum Handeln gemäß der Norm einer guten ethischen Praxis zu handeln, herausbildet. In Anbetracht der materiellen Bedingtheit des Aktes einer guten ethischen Praxis haben wir nicht schon eine Vorstellung »materiell reichhaltigerer Formen«, sondern gehen von der materiellen Reichhaltigkeit des Lebens von 123
Thomas Hoffmann: Das Gute. Berlin/New York 2014, S. 201.
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einzelnen Personen aus. Damit wird die Frage nach dem, »was gut für den Menschen ist«, ausgehend von der partikularen Bedingtheit der Person in verschiedenen Umständen von Situationen verstanden. Ausgehend von der materiellen Reichhaltigkeit des Lebens von Personen bieten sich also zwei Möglichkeiten, die Bedingungen eines selbstbestimmten Lebensvollzug einer Person zu formulieren: Erstens kann eine Person die materiell bedingten Umstände, in denen sie sich befindet, mit Bezug auf eine beliebige gegebene Vorstellung einer ethischen Praxis bestimmen, womit aber die Frage nach der Begründung dieser als tatsächlich guter ethischer Praxis ungeklärt bleibt. Es wird nicht mehr dem Erklärungsanspruch der substantiellen ethischen Konversion entsprochen, sondern bloß dem einer substantiellen ethischen Konversion, wobei das, was als substantiell vorgestellt wird, nur dem entspricht, was für eine beliebige Lebensweise bestimmend, aber nicht dem, was für ein vernünftiges, ethisches Leben konstitutiv ist. So können bestimmte Merkmale oder Verhaltensweisen für eine Gruppe konstitutiv sein, die aber nicht mit dem übereinstimmen, was für ein ethisches Leben konstitutiv ist. Zweitens kann ausgehend von der materiellen Reichhaltigkeit des Lebens von Personen das Problemverständnis verschoben werden, indem die Frage gestellt wird, ob eine Praxis einer guten ethischen Praxis entspricht, aus deren Ausübung eine gute Antwort auf gegebene Umstände hervorgeht. An zwei Beispielen lässt sich die Relevanz dieser Frage danach, ob eine ethische Praxis einer guten ethische Praxis entspricht, verdeutlichen. Von außen betrachtet können Fremde, die eine andere Vorstellung einer guten ethischen Praxis haben, diese Frage herausfordern. Die Auseinandersetzung mit Fremden kann zu der reflexiv gewonnenen Einsicht führen, dass die eigene Vorstellung einer guten ethischen Praxis nicht die einzig gültige ist. Von innen betrachtet wird diese Frage herausgefordert, wenn etwa eine Person die Ausübung einer Praxis als Beschränkung erfährt. Sie übt sie zwar begründend aus, entwickelt aber ein Bewusstsein dafür, dass diese Praxis ihr dennoch fremd ist. Dieses Bewusstsein von Fremdheit tritt besonders dann ein, wenn die Deutung einer Praxis aufgrund von Machtverhältnissen bestimmt wird, die etwa eine bestimmte Interpretation einer moralischen Tradition durchsetzen und damit die Weise des Vollzugs von Praktiken dominieren. Unter solchen Umständen, in denen eine Begegnung mit Fremden stattfindet oder sich ein Bewusstsein für die Fremdheit der ausgeübten ethischen Praxis einstellt, zeigt sich, dass der blinde Fleck für 100
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die Voraussetzung einer guten ethischen Praxis immer wieder praktisch auftauchen kann. Kurzum, die Voraussetzung endlicher Bestimmungen, wie etwa der einer konkreten kulturellen Tradition, sind nicht mit einem Begriff einer ethischen Konversion kompatibel, die begreiflich machen will, wie eine Person durch die Herausbildung von Fähigkeiten mit Bezug auf eine ethische Praxis das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck bringt. Diese Einsicht fordert dazu heraus, die Herausbildung der Fähigkeiten zum gelingenden Leben im Guten, hinausgehend über die zufälligen, kulturell geprägten moralischen Traditionen und gewohnten Ausübungen von ethischen Praktiken zu begreifen. Dann könnte die Überwindung von Fremdheit erst denkbar werden. In Abgrenzung zur Endlichkeit der Voraussetzung einer kulturellen, moralischen Tradition könnte man auch vom Unendlichen als dem Rahmen sprechen, aus dem der Akt einer guten, ethischen Praxis erst als Akt der Selbstbestimmung, in dem darauf abgezielt wird, allgemein, unbedingt verbindlich Gutes zum Ausdruck zu bringen, begriffen werden kann. Selbstbestimmung, die Fremdheit überwinden kann, ist folglich immer mehr als die Fähigkeit zu Bestimmung dessen, was eine ethisch gute Praxis unter bestimmten Umständen ausmacht. Die Selbstbestimmung, die darauf abzielt, allgemein, unbedingt verbindlich Gutes zum Ausdruck zu bringen, tritt somit den im Rahmen guter ethischer Praktiken erworbenen Fähigkeiten entgegen. Darin, dass die Auffassung einer guten ethischen Praxis im Endlichen nicht erschöpfbar ist, zeigt sich der Anspruch und zugleich die Grenze der substantiellen Deutung der Sittlichkeit. Deren Grenze zeigt sich insofern, als die Voraussetzung der guten ethischen Praxis nicht eingelöst werden kann. Der Begriff des Unendlichen ist in diesem Kontext nicht als metaphysisch aufgeladen zu verstehen, sondern allein als Abgrenzung zu endlichen Bestimmungen. Hier wird mit der Rede von Unendlichkeit lediglich die Herausforderung verdeutlicht, die darin besteht, partikulare, materiell bedingte Lebensvollzüge, die durch unendlich viele verschiedene praktische Umstände von Situationen bedingt sein können, in der Einheit des Begriffs des Guten zu bestimmen, das sich der erschöpfenden Bestimmung durch endliche Bedingungen und Erscheinungen entzieht. Im Folgenden gilt es also zu zeigen, wie die Frage nach der guten ethischen Praxis beantwortet werden kann, ohne sie auf die Gegebenheit endlicher Bestimmungen reduzieren zu müssen.
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III. Die formale Deutung der Sittlichkeit Den Gegenstand dieses Abschnitts stellt eine Auseinandersetzung mit einer formalen Deutung der Sittlichkeit dar, die von der Selbstbestimmung der Person ausgeht. Es zeigt sich, dass ohne ein Verständnis der selbstbestimmten Gestaltung von Praktiken der normative Anspruch der Sittlichkeit nicht erfasst wird (§ 1). Formale Deutungen der Sittlichkeit nehmen an, dass die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben nur verstanden werden kann, wenn dieses durch Selbstgesetzgebung verstanden wird, die von einer inhaltlichen Bestimmung des guten Lebens abstrahiert (§ 2). Diese formale Deutung der Sittlichkeit ist jedoch der Kritik ausgesetzt, die Realisierung der Freiheit zur Selbstbestimmung nicht erklären zu können (§ 3). Es zeigt sich somit, dass weder die substantielle noch die formale Deutung der Sittlichkeit einen Begriff vom Endzweck ethischen Lebens liefern können. Aus dem gemeinsamen Problem beider Deutungen geht jedoch ein neuer Ansatz für die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute hervor (§ 4).
1.
Normativer Anspruch
Das allgemein, unbedingt verbindlich Gute kann begriffen werden, sofern eine Person fähig ist, ihre partikulare, materiell bedingte Situation darin zu begreifen und danach zu gestalten. Im vorherigen Abschnitt II. haben wir bereits gesehen, dass die Herausbildung der Fähigkeit einer Person unter den Umständen verschiedener Situationen nur unter der Voraussetzung einer guten ethischen Praxis möglich ist, die durch eine immanente Analyse der Moral selbst nicht eingeholt werden kann. Sie bleibt ihr äußerlich und kann die Bedingungen für das Gelingen ethisch guten Handelns, folglich auch des Lebens, somit nicht ausformulieren. Es gilt somit zu zeigen, wie diese Äußerlichkeiten eliminiert werden können. Dann erst sind wir zu einer Ebene übergegangen, auf der das allgemein, unbedingt verbindliche Gut der praktischen Vernunft mit den besonderen Bestimmungen des Willens der partikular, materiell bedingten Person in einer Einheit gedacht werden kann. Erst auf dieser Ebene verhalten sich beide Seiten nicht mehr einander äußerlich, sich negierend, zueinander. Ein Weg, die Äußerlichkeit der partikular, materiell bedingten Umstände einer Situation einer Person gegenüber dem allgemein, 102
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unbedingt verbindlichen Gut der praktischen Vernunft zu eliminieren, zeigt sich in John McDowells Begriff von Konversion. Dieser ist bei ihm aus einem allgemeinen Verständnis des Verhältnisses von Geist und Welt zu begreifen. Mit dem Begriff der Konversion wird der Zusammenhang von Allgemeinem und Partikularem als Tätigkeit begriffen, eine Vorstellung vom Allgemeinen begründend auf Partikulares zu beziehen. 124 So soll durch eine bestimmte Auffassung von Erkenntnis- und Handlungsvermögen verständlich werden, wie Wahrnehmung nicht bloß einen subjektiven Eindruck, sondern eine begründende Tätigkeit darstellen kann und wie subjektive Handlungsmotive mit objektiven Gründen übereinstimmen können. Es wird also nicht zwischen zwei separaten Ebenen, wie etwa begrifflichem Gehalt und sinnlich Gegebenem oder dem Begriff des Guten und den Motiven, getrennt. Hier gilt zu klären, unter welchen Voraussetzungen der Zusammenhang beider Seiten in der Konversion verstanden werden kann, sodass daraus ein Verständnis des Anspruchs einer immanenten Analyse der Moral gewonnen werden kann. Dieser Anspruch besteht darin, durch Analyse der erworbenen Fähigkeiten einer Person innerhalb von deren Lebensvollzug, und nicht abgeleitet von einem äußerlichen Bezugspunkt, Bestimmungen des Guten angeben zu können. McDowell entwickelt ein Verständnis von Konversion ausgehend von der Herausbildung von Fähigkeiten, sich begründend und verstehend zur Welt zu verhalten. Dass eine Person zum Beispiel eine Klangfolge als Komposition nach Regeln der Zwölftonmusik betrachten kann, setzt nach McDowell voraus, dass sie ein Verständnis davon hat, was Zwölftonmusik ausmacht. 125 Das Verhältnis von verschiedenen Klangfolgen, welche eine Person vernimmt, und den ästhetischen Begriffen der Zwölftonmusik besteht in deren Fähigkeit, Klangfolgen als Beispiele von Zwölftonmusik wahrzunehmen und zu interpretieren. Verschiedene, mehr oder weniger gute Kompositionen nach Regeln der Zwölftonmusik, können erst von derjenigen Person, die ein Verständnis von Zwölftonmusik hat, als solche betrachtet 124 Vgl. Matthew Boyle. Additive Theories of Rationality. A Critique. In: European Journal of Philosophy 24/3, (2016) und Matthias Haase: Life and Mind. In: Thomas Khurana (Hrsg.): The Freedom of Life. Hegelian Perspectives. Freiheit und Gesetz III. Berlin 2013. 125 McDowell nutzt das Beispiel der Zwölftonmusik zur Illustration der Konversion (Ders.: Might there Be External Reasons? In: Mind, Value, and Reality. 2. Aufl. Cambridge Mass./London 2002, S. 107.).
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und bewertet werden. Die Herausbildung der Fertigkeit und Gewohnheit, bestimmte Klangfolgen auf bestimmte Weise zu interpretieren, stellt eine aktive und somit selbstbewusste Form des Hörens dar. Diesem aktiven Verhältnis zu den Klängen liegt die Ausbildung der Hörgewohnheiten im Rahmen der ästhetischen Praxis der Zwölftonmusik an einzelnen Kompositionen zugrunde. Im Bereich des ethischen Wissens stellt sich für das Verständnis der Konversion ein besonderes Problem dar. Nach der immanenten Analyse der Moral erwirbt und hat ein Subjekt Wissen vom ethisch Guten, indem es bestimmte ethische Werte praktiziert. Dadurch wird seine Lebensweise im Guten gewandelt. Doch im Bereich ethischen Wissens gilt es zu erklären, wodurch garantiert wird, dass diese Vorstellung vom Guten, zu der ein Subjekt gewandelt wird und nach dem es die Welt versteht und ordnet, auch tatsächlich das darstellt, was allgemein, unbedingt verbindlich gut ist. Dazu müsste gezeigt werden, wie ein Subjekt sich in dieser Praxis als Substanz ethischen Lebens und seines Vollzugs begreift und bestimmt. Darin besteht ein normativer Anspruch, der sich bei McDowell darin zeigt, dass die Konversion die Einheit von subjektiven Motiven und objektiv gültigen Gründen erklären soll. An anderer Stelle erklärt McDowell das, was hier als Konversion diskutiert wird, mittels eines Begriffs von einer zweiten Natur, wodurch praktische Vernunft als »logos, der sich in der Welt ausdrückt« 126 begriffen wird; die zweite Natur umfasst dann die erworbenen Fähigkeiten einer Person, vernünftige Gründe zu geben und zu sehen. Durch die Herausbildung einer zweiten Natur im Rahmen gegebener ethischer Praktiken bildet eine Person ein Verständnis des ethisch Guten heraus, nach dem sie verschiedene Lebenssituationen ordnet, beurteilt und meistert. Bis zu diesem Punkt kann Konversion lediglich als das, was ich hier eine epistemologische Erklärung nennen will, verstanden werden. Diese zeigt, wie Praktiken innerhalb der Ausübung der Fähigkeiten eines Subjekts realisiert und entwickelt werden können. Davon kann nicht abstrahiert werden, da sonst ein Standpunkt, der diesem äußerlich ist, angenommen werden müsste,
126 Meine Übersetzung von »[…] logos expressed itself in the world […]« aus John H. McDowell: Two Sorts of Naturalism. In: Mind, Value, and Reality. 2. Aufl. Cambridge Mass./London 2002, S. 185. Zu McDowells Auffassung von zweiter Natur vergleiche außerdem: Ders.: Mind and World. With a New Introduction. Cambridge Mass. 1996, S. 87 ff.
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Die formale Deutung der Sittlichkeit
was dem Anspruch der Konversion, das allgemein, unbedingt verbindlich Gute durch Ausübung praktischen Vernunft im Lebensvollzug einer Person zu verstehen, widerspräche. Die epistemologische Erklärung, als die ich McDowells Ansatz charakterisiere, stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen es möglich wird, ethisches Leben zu denken, ohne äußerliche Vorannahmen machen zu müssen. Diese, auch als quietistisch bezeichnete Argumentationsstrategie, geht von der Abgrenzung von vermeintlichen Begründungsansprüchen aus, die außerhalb des Rahmens einer epistemologischen Erklärung liegen. Innerhalb des Rahmens der epistemologischen Erklärung bleibt dann kein Kriterium oder Bezugspunkt, um die erworbene zweite Natur als Ausdruck praktischer Vernunft zu begründen. Vielmehr besteht der Optimismus, dass die Vernunft in der Ausübung von Fähigkeiten und der ständigen Weiterentwicklung von Praktiken zum Ausdruck gebracht wird, falls wir nicht darauf verfallen, den Standpunkt äußerlicher Maßstäbe einzunehmen. McDowells Weg, äußerliche Begründungsstandpunkte zu eliminieren, liefert selbst keinen Begründungsansatz für eine gute ethische Praxis, sondern einen therapeutischen Ansatz dafür, falsche, bloß vermeintliche Begründungen zu vermeiden. Es stellt sich die Frage, ob es nicht doch Argumente und Möglichkeiten dafür gibt, einen Begründungsansatz zu formulieren. In Robert Pippins Entgegnung auf McDowells Ansatz zeigt sich ein anderer Weg, die Äußerlichkeit der partikular, materiell bedingten praktischen Umstände der Situation einer Person gegenüber dem allgemein, unbedingt verbindlichen Gut der praktischen Vernunft zu eliminieren. Bei diesem Weg verlangt schon das Verständnis der Fragestellung einen anderen Ansatzpunkt. Pippin sagt: The question is this: how does a claim of reason, or the commitment to an ideal, or goal become part of the fabric of some form of life. How is the achievement of genuinly common mindedness (something quite different from a codified, explizit belief system or subjective commitments to ideals) possible? 127
127 Robert Pippin: Leaving Nature Behind, or Two Cheers for »Subjectivism«. In: Nicholas H. Smith (Hrsg.): Reading McDowell. On Mind and World. London/New York 2002, S. 68. Dieser Text stellte den Ausgang zu einer Debatte zwischen Pippin und McDowell dar. Der zentrale Punkt dieser Debatte ist die Frage nach dem rechten normativen Ausgangspunkt.
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Während McDowell bestrebt ist zu zeigen, wie die Unterscheidung von verschiedenen Begründungsebenen innerhalb des begrifflichen Raumes vermieden werden kann, in dem die Ausübung der Fähigkeiten einer Person als Ausdruck praktischer Vernunft begriffen werden kann, fragt Pippin, wie ein solcher begrifflicher Raum überhaupt möglich ist. Dafür, diese Frage zu stellen, gibt es Argumente. Der Begriff einer zweiten Natur, die erklärt, wie die praktische Vernunft in der Welt zum Ausdruck kommt, wird als Ausdruck praktischer Vernunft, somit des allgemein, unbedingt verbindlich Guten verstanden. Das scheint aber nicht von selbst gegeben zu sein, weshalb Pippin in dem eben aufgeführten Zitat zwischen »claim of reason« und »subjective commitments to ideals« als verschiedene Arten begrifflicher Räume, in denen jemand sein Leben vollziehen kann, unterscheidet. Es besteht hier ein ähnliches Problem, wie es sich am Ende von Abschnitt II. in § 5 herausgestellt hat. Dort haben wir gesehen, dass Akte von praktischen Fähigkeiten erst noch als Akte einer guten ethischen Praxis begriffen werden müssen und sich nicht von selbst als solche erklären. Dass die zweite Natur »logos, der sich in der Welt ausdrückt« sei und nicht subjektive Haltungen oder Ideale, gilt es deshalb nach Pippin erst zu erklären. Für Pippin folgt aus der Frage, wie Vernunft in der Welt ausgedrückt wird, also praktisch wird, dass bei der Form der Subjektivität anzusetzen sei, die fähig ist, Vernunft zu verwirklichen und somit nach Gesetzmäßigkeiten in der Welt zu handeln und diese zu erkennen. 128 Dieser Ansatzpunkt verändert zugleich den Status des Begriffs der zweiten Natur. Diese wird somit nicht als der begriffliche Raum verstanden, in dem, gemäß Hegels Begriff der Sittlichkeit, die Einheit von allgemein, unbedingt verbindlich Gutem der praktischen Vernunft und materiell bedingter Person dargestellt wird. Es wird hingegen vom Gegensatz von Subjektivität und Natur ausgegangen, den es durch die Verwirklichung der Vernunft erst noch zu überwinden gilt. Die Verwirklichung der Vernunft kann wiederum nur gedacht werden, wenn diese in Differenz zur Natur begriffen wird. Demnach konstituieren nicht natürliche oder als zweite Natur erworbene Anlagen und Bedingungen ein Subjekt, sondern dieses konstituiert sich durch deren Überwindung und ist Bezugspunkt dafür, Vernunft in der Welt denken zu können. 129 Nach Pippins Ansatzpunkt 128 129
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Ibidem, S. 60. Pippins Formulierung ist deshalb »leaving nature behind« (Ibidem.).
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wird der begriffliche Raum, innerhalb dessen ethisches Leben gedacht werden kann, erst dadurch erfasst, dass das Subjekt seine eigene Lebensweise zum Guten formt, während McDowell von der Herausbildung der praktischen Fähigkeiten im Guten ausgeht und eine epistemologische Erklärung gibt. Es gilt nun zu betrachten, ob die Subjektivität der Person so begriffen werden kann, dass sie ihre Lebensweise zum Guten formt. Daran zeigt sich, ob Begründungsansprüche einer guten ethischen Praxis erklärt werden können und nicht bloß der Optimismus aufrechtzuerhalten ist, wonach die Welt, in der Personen leben, eine vernünftige Gestalt annehmen werden, wenn nur vermeintliche, vom Rahmen der epistemologischen Erklärung abstrahierende Begründungsweisen als solche entlarvt werden.
2.
Die formale ethische Konversion
Der normative Anspruch der ethischen Konversion besteht darin, dass eine Person ihren Lebensvollzug unter den Umständen verschiedener Situationen so bestimmen kann, dass das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck kommt. Dazu wird sie fähig, indem sie durch die Normen guter ethischer Praktiken ihren Lebensvollzug bestimmt und begreift. Nach Pippin kann der normative Anspruch in der ethischen Konversion nur ausgehend von einem zugrunde liegenden Verständnis von Subjektivität eingelöst werden. Demnach ist die ethische Konversion wie folgt zu formulieren: (2’’) Formale ethische Konversion: Das Gute, durch das eine Person ihren Lebensvollzug bestimmt, stimmt mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten, dem von der praktischen Vernunft vorgestellten Gut, überein. Dies wird möglich, indem die Person als Subjekt begriffen wird, das die allgemeinen strukturellen und formalen Bedingungen realisiert, durch die es ihr möglich wird, nach ihren jeweiligen partikularen Werten und Zwecken zu leben. Bevor wir diese Auffassung ethischer Konversion genauer untersuchen, wollen wir die Motivation für diese Denkweise, die von der Person als Subjekt ausgeht, das an bestimmte strukturelle und formale Bedingungen seines Subjektseins gebunden ist, in Betracht ziehen. Ansätze dieser Art argumentieren für ein Verständnis der Sittlichkeit, das die Einheit von partikularem Lebensvollzug und allgemein, Die Negativität des Sittlichen
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unbedingt verbindlich Gutem ohne eine substanzielle Auffassung ethischen Lebens erfasst. Sie begreifen die Sittlichkeit hingegen im Übergang zu den Bedingungen, unter denen ein freies, selbstbestimmtes Leben möglich ist. Durch Einsicht und Realisierung dieser Bedingungen findet eine ethische Konversion statt. Diese Vorgehensweise wird als grundlegend für die Denkweise betrachtet, die programmatisch, Jürgen Habermas folgend, nachmetaphysisches Denken genannt wird. Diese Denkweise zeige sich in verschiedenen philosophischen Motiven, Entwicklungen und methodischen Vorgehensweisen. 130 Entscheidend ist hier das zentrale Motiv des nachmetaphysischen Denkens, das in dem Anspruch liegt, nicht von ontologischen Annahmen oder metaphysischen Abstraktionen auszugehen, aber dennoch deren universellen Erklärungsanspruch beizubehalten. Bei Axel Honneth finden wir, Habermas’ Programmatik folgend, eine explizit nachmetaphysische Auffassung des Begriffs der Sittlichkeit: Ein formales Konzept der Sittlichkeit umfasst die qualitativen Bedingungen von Selbstverwirklichung, die sich von der Vielfalt aller besonderen Lebensformen insofern abheben lassen, als sie allgemeine Voraussetzungen der personalen Integrität von Subjekten bilden; […]. 131
Die nachmetaphysische Auffassung des Begriffs der Sittlichkeit ist nach Honneth als »formales Konzept« zu verstehen. Dies liefert eine Analyse der verbindlichen Bedingungen guten Lebens, indem von inhaltlichen Aspekten des guten Lebens abstrahiert wird. Das heißt, sie formuliert »allgemeine Voraussetzungen der personalen Integrität von Subjekten« unter Annahme »der Vielfalt aller besonderen Lebensformen«. Diese Analyse erfasst also allein die Bedingungen, durch die Selbstverwirklichung möglich wird. Ziel und Gehalt der Selbstverwirklichung zeigt sich in einer Pluralität von Vorstellungen vom guten Leben. Durch Selbstverwirklichung wird also zunächst nur eine besondere Vorstellung vom guten Leben realisiert. Dass dabei allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit besteht, bedeutet dann, dass die Bedingungen zur selbstbestimmten, freien Realisierung einer Vorstellung vom guten Leben allgemein, unbedingt verbindlich sind. Vgl. Jürgen Habermas: Nachmethaphysisches Denken. Frankfurt am Main 1992, insbesondere S. 20–30. 131 Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main 1994, S. 280. 130
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Der selbstbestimmte Lebensvollzugs ist im Rahmen der formalen ethischen Konversion nicht zuerst an die Herausbildung der Fähigkeit, sein Leben durch eine konkrete gute ethische Praxis zu begreifen und zu vollziehen, gebunden. Deshalb kann hier nur von einer formalen ethischen Konversion geredet werden. Die Realisierung einer besonderen Lebensform durch Selbstverwirklichung ist nur möglich, wenn deren strukturelle und formale Bedingungen in die Handlungsweisen einer Person integriert sind. Diese umfassen etwa ein bestimmtes Verhalten zu mir selbst, zu anderen und zur Welt, durch die ein freier selbstbestimmter Lebensvollzug möglich wird. Dieses Verhältnis wird zum Beispiel durch eine bestimmte Struktur »sozialer Freiheit« 132, die die intersubjektiven Bedingungen der Realisierung der Freiheit der einzelnen Person immer schon mit einbegreift oder durch eine bestimmte Art der Responsivität im Kontrast zur Entfremdung 133 fasst. Was eine Praxis normativ macht, ist also durch die Bedingung, ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können, bestimmt. Diese Bedingungen stellen die normativen Anforderungen an Subjekte dar, die danach streben, sich selbst zu bestimmen und zu verwirklichen, das heißt, ihre besonderen Vorstellungen vom guten Leben zu realisieren. Diese formalen Ansätze gehen vom Subjekt aus, das nach Selbstverwirklichung gemäß seiner besonderen Vorstellung vom guten Leben strebt. In der geglückten Selbstverwirklichung besteht das freie und somit gute Leben. Daraus ergeben sich allgemein, unbedingt verbindliche normative Anforderungen, die an das Subjekt, das dieses Bestreben hat, gestellt werden. Die Erfüllung dieser Anforderungen anzustreben und einfordern zu können, ist somit eine Bedingung für ein gutes Leben. In diesem Rahmen sehen wir also, wie diese Denkrichtung ein Verständnis von Subjektivität zum Ausgangspunkt nehmen kann, das nicht im substantiellen Begriff ethischen Lebens gründet, sondern von der Fähigkeit zur Selbstbestimmung als Selbstverwirklichung ausgeht. Die formale ethische Konversion setzt somit voraus, dass die Selbstverwirklichung der besonderen Zwecke und Werte einer Person, was diese zum guten Leben führt, mit allgemein, unbedingt verbindlichen Strukturen als deren Bedingung verschränkt Ders.: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011, S. 232. 133 Vgl. Hartmut Rosa: Weltbeziehung im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin 2012, S. 9. 132
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ist. 134 Es gilt zu überprüfen, wie diese Verschränkung begrifflich zu fassen ist.
3.
Uneinlösbare Versprechen formaler Bedingungen
Im vorhergehenden Abschnitt wurde gezeigt, was eine formale Deutung der Sittlichkeit ausschließt und wie deren Erklärungsanspruch stattdessen zu verstehen ist. Ein formales Verständnis der ethischen Konversion geht von der Tätigkeit Selbstbestimmung aus. Darin wird der Bezug auf allgemein, unbedingt verbindliche Normen hergestellt, die das Leben einer Person so regulieren, dass diese ein freies, vernünftiges Leben durch Selbstverwirklichung führen kann. In Akten der Selbstbestimmung wird das Verhältnis zweier Ebenen hergestellt: 1. 2.
allgemeine Normen, durch die ein freies Leben möglich ist, besondere sozio-historische Lebensformen.
An Akte der Selbstbestimmung, in denen beide Ebenen verbunden werden, ist das Verständnis eines freien, vernünftigen Lebens gebunden. Selbstbestimmung stellt das Fundament einer formalen Auffassung der Sittlichkeit dar. Diese bedarf also nicht einer epistemologischen Erklärung der Fähigkeit einer Person, ihr Leben durch eine gute ethische Praxis zu begreifen und zu vollziehen. Im Rahmen einer epistemologischen Erklärung stellte 2. immer schon ein Verständnis von 1. dar. Wird hingegen ein Akt der Selbstbestimmung als Quelle dieser Normen betrachtet, stellt 1. die allgemein, unbedingt verbindliche, formale Bedingung dafür dar, 2. als freie, vernünftige Lebensform zu verstehen. Ich will hier auf Robert Pippins Lesart der praktischen Philosophie Hegels Bezug nehmen, da sie einen zeitgenössischen Ansatz für eine formale Deutung der Sittlichkeit darstellt. 135 Ausgangspunkt Diese Denkweise wird als nicht-substantialistische Antwort auf Kants angeblich subjektivistische, formalistische Ethik formuliert. Vgl. Axel Honneth: Die Normativität der Sittlichkeit. Hegels Lehre als Alternative zur Ethik Kants. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 62/5 (2014), S. 787–800. Um dieses zu sehen, ist Paul Cobbens Analyse und Kritik von Honneths Ansatz hilfreich. Vgl. Paul Cobben: The Nature of the Self. Recognition in the Form of Morality and Right. Berlin/New York 2003, Kapitel 5. 135 Andere zeitgenössische Autoren, die den Begriff der Sittlichkeit auf diese Weise 134
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stellt bei Pippin die Tätigkeit der Selbstbestimmung dar, die – je nach Diskussionsebene – als Selbstgesetzgebung (Self-Legislation) oder Selbstautorisierung (Self-Authorization) 136 beschrieben wird. Im Folgenden werde ich von Selbstgesetzgebung sprechen, wenn ich auf das spezifische Verständnis von Selbstbestimmung der formalen ethischen Konversion verweise. Durch einen Akt der Selbstgesetzgebung wird einer sozio-historischen Lebensform die normative Struktur, die den Bedingungen eines freien vernünftigen Lebens entspricht, gegeben. Dieser Akt liegt dem Verständnis davon, was vernünftig und frei heißt, zugrunde. Handlungsweisen und Institutionen erweisen sich als vernünftig, wenn sie ein freies Leben ermöglichen. Im Kern heißt das, eine Person ist Subjekt dieser Normen von Institutionen und Handlungsweisen, wenn sie sich durch einen Akt der Selbstgesetzgebung an sie binden kann. Andernfalls wären die Normen von Institutionen und Handlungsweisen als beliebig und zwanghaft zu betrachten, wie etwa in dem Fall, in dem despotische Regeln einer Tradition bloß um der Tradition willen aufrecht erhalten werden und nicht, um ein Leben aus Selbstverwirklichung zu ermöglichen. Dass bei Pippin beide separaten Ebenen (vgl. oben 1. und 2.) vorausgesetzt und durch einen weiteren Akt der Selbstgesetzgebung verbunden werden, ist mit seiner Auffassung des Problems der Normativität verbunden. Für ihn liegt das Problem der Normativität darin, dass der Akt der Selbstgesetzgebung als paradox befunden wird. Dieses Paradox, das häufig auch »Paradox der Autonomie« 137 genannt wird, besteht darin, dass Selbstgesetzgebung unter den normativen Bedingungen eines freien Lebens möglich ist, zugleich aber seinen Ausgangspunkt in einem pränormativen Zustand hat, der durch einen Akt der Selbstgesetzgebung erst in eine normative Praxis transbegreifen, sind: Ludwig Siep: Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie: Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg im Brsg./München 1979, Frederick Neuhouser: Foundations of Hegel’s Social Theory. Cambridge Mass. 2000, und Michael Quante: Die Wirklichkeit des Geistes. Studien zu Hegel. Berlin 2011. 136 Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life. Cambridge 2008, S. 19. 137 Vgl. Terry Pinkard: German Philosophy 1760–1860. The Legacy of German Idealism. Cambridge 2011, S. 56, Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life. Cambridge 2008, S. 75, Christine M. Korsgaard: Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity. Oxford/New York 2009, S. 41 ff., und Thomas Khurana: Paradoxien der Autonomie zur Einleitung. In: Thomas Khurana / Christoph Menke (Hrsgg.): Paradoxien der Autonomie. Freiheit und Gesetz I. Berlin 2011. Die Negativität des Sittlichen
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formiert wird. Auf der einen Seite ist ein Akt der Selbstgesetzgebung also als freier Akt, durch Normen, die ihn ermöglichen, bedingt. Auf der anderen Seite gründen diese Normen aber selbst in einem Akt der Selbstgesetzgebung. Dieser geht somit von der Realität einer besonderen sozio-historischen Lebensform aus, in der er selber nicht durch eine vernünftige Norm bestimmt ist. Wer dieses Paradox annimmt, geht also von der wesentlichen Unterscheidung beider Ebenen (vgl. oben 1. und 2.) aus. Der Akt der Selbstgesetzgebung vermittelt erst zwischen beiden, indem dadurch eine sozio-historische Lebensform nach den normativen Bedingungen, unter denen ein freies Lebens möglich ist, gestaltet wird. Von Ansätzen mit diesem Ausgangspunkt wird es als ihre Aufgabe betrachtet, dieses Paradox zu lösen oder mit ihm umzugehen, sodass die normative Bindung einer selbstbestimmt lebenden Person an allgemein, unbedingt verbindliche Normen verständlich wird. Zur Lösung dieses Paradoxes, so sieht es Pippin, muss gezeigt werden, dass auch die besondere sozio-historische Lebensform, die den Ausgangspunkt der Selbstgesetzgebung darstellt, schon normativen Strukturen, durch die ein freies Lebens ermöglicht werden soll, entspricht, ohne aber, wie die substantielle Deutung der ethischen Konversion, eine immer schon bestehende Bindung an Substanz ethischen Lebens vorauszusetzen. Seine Lösung des Paradoxes beruht auf folgender Annahme: What is ›other‹ than the Concept can itself play the role as other only as so conceptualized; there is no ›self‹ to be legislated to except by virtue of the constraint of what must be collective legislation. 138
Die Lösung des Paradoxes besteht nach Pippin darin, Selbstgesetzgebung als kollektiven, historischen Prozess zu erklären. 139 Somit kann der Ausgangspunkt eines Aktes der Selbstgesetzgebung als eine schon durch vernünftige Normen geprägte sozio-historische Realität verstanden werden. 140 Diese vernünftigen Normen gelten schon bevor die einzelne Person sich auf sie bezieht, da sie durch viele verschiedene Subjekte im Verlauf der Geschichte gesetzt worden sind. Im Ausgang von ihrer historischen Situation können Personen ihre Subjektivität herausbilden, indem sie durch Akte der Selbstgesetz138 Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life. Cambridge 2008, S. 105. Hervorhebung durch mich, E. J. 139 Ibidem. 140 Pippin spricht von einem »historical life«. (Ibidem, S. 110 und 112.)
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gebung an der Selbstverwirklichung des vernünftigen, freien Willens teilnehmen. Dieser Prozess wird unter anderem dadurch angetrieben, dass sich bestimmte normative Institutionen als konfliktbeladen oder ungenügend erweisen. 141 Insofern ist eine Person als Teil eines historischen, kollektiven Prozesses der Selbstverwirklichung immer schon unter normativen Strukturen zu denken, an deren Entwicklung sie aber teilnehmen kann. Durch historisch und kollektiv verstandene Selbstverwirklichung ist das Paradox scheinbar gelöst, da nicht von einem normfreien Zustand ausgegangen werden muss. Stattdessen werden normative Strukturen in einem kollektiven, historischen Prozess entwickelt. Zur Erklärung der Einheit der beiden Ebenen, dem allgemein, unbedingt verbindlichen Gut der praktischen Vernunft und dem partikularen, materiell bedingten Lebensvollzug einer einzelnen Person, tritt dieser kollektive, historische Prozess an die Stelle, die in der substantiellen Deutung der Sittlichkeit der Aristotelische Vermögensbegriff einnimmt, worin diese Einheit immer schon besteht. Doch betrachten wir nun, wie innerhalb dieses kollektiven, historischen Entwicklungsprozesses der Zusammenhang von 1. allgemeinen Normen, durch die ein freies Leben möglich ist, und 2. besonderen sozio-historischen Lebensformen verstanden wird. Pippin sagt: »The formation of and self-subjection to such normative constrains is gradual and actually historical.« 142 Die historische Realität, innerhalb derer Selbstverwirklichung als kollektiver Entwicklungsprozess stattfindet, wird als graduelle Annäherung an eine Lebensform verstanden, in welcher allgemein, unbedingt verbindliche Bedingungen zur Führung eines freien Lebens herrschen. In diesem Punkt ist zu sehen, dass, auch wenn Akte der Selbstgesetzgebung als Teil eines historischen, kollektiven Entwicklungsprozesses verstanden werden, ein Dualismus von Ebene 1. und 2. bestehen bleibt – bis Bedingungen eines vernünftigen, ethischen Lebens durch Akte der Selbstgesetzgebung vollständig verwirklicht sind. Solange dieser Dualismus beider Ebenen besteht, steht ein Subjekt in seiner besonderen sozio-historischen Lebensform den Bedingungen des freien und vernünftigen Lebens äußerlich gegenüber, während es zugleich danach strebt, diesen zu entsprechen.
141 142
Pippin spricht von »breakdowns of forms of life« (Ibidem, S. 91.) Ibidem, S. 117.
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Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen zum kollektiven, historischen Prozess der Überwindung der Dualität von zwei Ebenen zeigt sich das Scheitern einer formalen Deutung der Sittlichkeit an ihrem eigenen Anspruch. Die Motive eines Subjekts, durch welche bestimmte Werte und Ziele des Handelns erkannt werden, stehen den normativen Bedingungen eines freien, vernünftigen Lebens entgegen. Durch einen Akt der Selbstgesetzgebung kann die Überwindung der Gegenüberstellung zwar prinzipiell gedacht werden, aber der historische Prozess des Vollzuges dieser Akte müsste unendlich verlaufen, bis diese Gegenüberstellung überwunden ist. Also bleibt es immer bei einer lediglich graduellen Annäherung. Der normative Anspruch der ethischen Konversion bleibt somit verfehlt, da erst unter Voraussetzung eines unendlichen Lebens die Aufhebung der Unterscheidung beider Ebenen begriffen werden könnte. Für endliche, vernünftige Wesen bleiben, auch wenn diese sich in einem geschichtlichen Prozess kollektiv um eine Entwicklung bemühen, die normativen Bedingungen für ein freies, selbstbestimmtes Leben immer unerfüllt. Das Kernproblem der formalen Deutung der Sittlichkeit liegt schon in ihrem Ausgangspunkt, sozio-historischen Lebensform entgegen der formalen Bedingungen einer vernünftigen, guten ethischen Praxis zu betrachten. Durch diese Entgegensetzung macht es erst Sinn, das Paradox der Autonomie als Problem der Vermittlung beider Seiten zu begreifen. Demnach stellt sich erst die Herausforderung, sozio-historische Lebensformen zum Ausgangspunkt zu nehmen, die erst durch einen subjektiven Akt der Selbstgesetzgebung in den normativen Raum des allgemein, unbedingt verbindlich Guten hineingeholt werden. Dass Selbstgesetzgebung als kollektiver, historischer Entwicklungsprozess verstanden wird, löst das Problem der Trennung von zwei Ebenen nicht, da dadurch das Paradox nur kaschiert wird. In seiner Grundstruktur bleibt es bestehen, da die Trennung beider Ebenen prinzipiell bestehen bleibt und somit die Äußerlichkeit der normativen Voraussetzung einer guten ethischen Praxis durch die formale Deutung der Sittlichkeit nicht eliminiert werden kann.
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4.
Hinwendung zur Person
Im Begriff der Sittlichkeit wird nach Hegel das »lebendige Gute« expliziert (vgl. oben Abschnitt I.3 dieses Kapitels). Dieser Explikation unterliegt der Anspruch, die guten ethischen Praktiken und Handlungsweisen zu begreifen, durch die das allgemein, unbedingt verbindlich Gute in partikularen Lebensvollzügen zum Ausdruck kommt. Wie dieses Kapitel zeigt, realisiert sich dieses Vorhaben auf zwei Wegen, die historisch auch als alt- bzw. rechts- und jung- bzw. linkshegelianisch unterschieden werden. 143 In Abschnitt II. haben wir die Möglichkeit einer substantiellen Deutung der Sittlichkeit in Betracht gezogen. Dabei hat sich für die immanente Analyse der Moral das Problem ergeben, dass sie einen Begriff der guten ethischen Praxis voraussetzen muss, ohne sie als solche bestimmen zu können. Somit bleibt sie aus der Perspektive der partikularen, materiell bedingten Person, die sich in verschiedenen Umständen von Situationen befinden kann, unabgeschlossen. In diesem Abschnitt – III. – wurde in Betracht gezogen, wie die Voraussetzung einer guten ethischen Praxis durch die immanente Analyse der Moral eingeholt werden kann. Dabei hat sich gezeigt, dass eine formale Deutung der Sittlichkeit den normativen Maßstab für eine gute ethische Praxis formulieren kann, aber zugleich nicht begreiflich machen kann, wie er aus der Perspektive des partikularen, materiell bedingten Lebensvollzugs einer Person jemals realisiert werden kann. Die Grenzen der beiden Wege, das »lebendige Gute« zu explizieren, zeigen sich jeweils im Blick auf die einzelne Person. In Bezug auf die einzelne Person kann deshalb das Problem formuliert werden, aus dem Einsichten für das weitere Vorgehen gewonnen werden können. Zur Herausstellung dieser Problematik sind die beiden Wege, das »lebendige Gute« zu explizieren, nochmals zusammenfassend zu betrachten. Der erste Weg setzt bei der Herausbildung der substantiellen Form menschlichen Lebens an (vgl. Abschnitt 2.II). Hier wird die einzelne Person mit ihren besonderen Bedingungen, Hintergründen und Bedürfnissen immer schon unter der Einheit des ethisch guten 143 Auch wenn die Unterscheidung der formalen und der substantiellen Deutung der Sittlichkeit nicht mit der von Links- und Rechtshegelianismus deckungsgleich ist, so lässt sie sich dennoch allgemein den beiden Richtungen, denen viele Hegelianer folgen, zuordnen. Vgl. weiterführend für die verschiedenen Arten des Hegelianismus Johannes Hirschberger: Geschichte der Philosophie. Band II. Neuzeit und Gegenwart. Köln 2000, S. 433–438.
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Lebens betrachtet. Doch die philosophische Ethik muss sich, nimmt sie diesen Weg, auf eine weitere Voraussetzung stützen. Sie muss einem Wertegefüge einer Tradition und Gemeinschaft eine unabhängige Autorität zuschreiben, die den Rahmen ethischer Bildung und Wissens setzt. Eine Person kann dann erst ihre Fähigkeiten zum guten Handeln herausbilden, indem sie sich andere Personen, die ein Wertegefüge oder einer Tradition schon kennen, zum Vorbild nimmt. Um sich nicht auf diese Art von Voraussetzung stützen zu müssen, ist zu zeigen, wie ethische Bildung und Wissen sich an jeder unvertretbaren Person und in jeder Situation aufs Neue beweisen können, eben ohne einem Wertgefüge oder einer Tradition unabhängig Autorität zuzuschreiben. Dieser Punkt kann am Beispiel ethischer Bildung verdeutlicht werden. Der Erzieher muss nicht nur die besonderen Umstände, in denen sein Schüler sich befindet, beachten – wozu auch dessen biographischen Hintergründe und Bedürfnisse zählen –, sondern zugleich eine Vorstellung ethischer Werte neu herausbilden. Im Verhältnis von Erzieher und Schüler hat Ersterer zwar mehr Erfahrung und Wissen, aber dennoch wird ein neues Verstehen von Werten verlangt, das der besonderen Situation des Schülers gerecht wird. An jedem Schüler zeigt sich aufgrund seiner Unvertretbarkeit und Unvorherbestimmbarkeit durch Tradition oder Kultur somit die Unbestimmtheit des ethisch Guten. Hier wird also wiederum die Herausforderung ersichtlich, die durch den Bezug auf die einzelne Person auftritt. Jede bereits gegebene Vorstellung davon, was dem menschlichen Leben substantiell sei, kann hinterfragt werden, wenn sie in Anbetracht der partikularen Umständen und Bestimmungen des Lebensvollzuges einer Person kein Verständnis davon geben kann, was zu tun und was zu vermeiden sei. Somit wird mit Bezug auf die einzelne Person die Entwicklung ethischen Wissens eingefordert, so dass sich ein Verständnis des ethisch Guten herausbilden kann, das in Bezug auf die partikularen Umstände ihres Lebensvollzuges Sinn ergibt. Der zweite Weg setzt bei den formalen Bedingungen, ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen, an, unter denen das Subjekt seine historische, soziale Lebensform entwickelt (vgl. Abschnitt 2.III). Der Denkweise, die diesem Weg folgt, hängt jedoch das Problem an, dass sie die formalen Bedingungen freien, selbstbestimmten Lebens nicht aus den historischen, sozialen Lebensformen begreift, sondern dieses äußerlich gegenüberstellt. Denken wir auf diese Weise darüber nach, wie ein Subjekt zu Wertvorstellungen kommt, die allgemein, unbe116
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dingt verbindlich sind, haben wir wohl ein Begründungsprinzip, das aber für die Situation einer Person in einer historischen Praxis blind bleibt, da eine Lücke zwischen dieser und jenem besteht. Diese Lücke kann wiederum am Beispiel der ethischen Bildung veranschaulicht werden. Der Erzieher steht einem Schüler mit besonderen Bedingungen, Hintergründen und Bedürfnissen, die zum Beispiel von dessen Kompetenzen, soziokulturellen Hintergrund oder Alter abhängen, gegenüber. Doch um den Schüler zu lehren, wie er frei und selbstbestimmt leben kann, muss der Erzieher Bezug auf formale Bedingungen nehmen. Doch bleibt es unverständlich, wie ethische Bildung eines Schülers mit besonderen Bedingungen, Hintergründen und Bedürfnissen gelingen kann, wenn die formalen Bedingungen des gelingenden, guten Lebens diesem äußerlich sind. In dieser Lücke zeigt sich, inwiefern die einzelne Person eine Herausforderung für die Ethik darstellt, da diese sich einer formalen Bestimmung entzieht – sie ist mehr als das. Ethische Bildung und Wissen können also nur unter Einbeziehung der einzelnen Person, die sich in Umständen verschiedener Situationen befindet, verständlich werden. Die Unvollständigkeit der beiden Deutungen der Sittlichkeit, denen wir bisher begegnet sind, stellen sich als Blindheit dar. Sie sind beide blind für die einzelne Person, deren Lebensvollzug unter den Umständen der Situationen, in denen sie sich befindet, zu betrachten ist. Als einzelne, durch besondere Umstände von Situationen bestimmte, kann eine Person nicht vorab und nicht abschließend bestimmt werden. Diese Blindheit ist also unumgänglich, wenn auf die einzelne Person Bezug genommen wird. Hier tritt der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute also wieder auf, insofern eine Auffassung vom Sittlichen gegenüber dem Sinnzusammenhang der Lebensvollzüge einer einzelnen Person unvollständig bleibt. Die formale Deutung ist blind für die materiellen, praktischen Umstände, unter denen eine Person handeln kann. Sie beinhaltet Wissen der Personen davon, wohin es gehen soll, kann aber nicht erklären, wie dahin gelangt werden kann. Die substantielle Deutung ist blind für das Ziel, wohin es gehen soll. Sie beinhaltet ein Wissen der Personen von ihren praktischen Gegebenheiten und vorgegebenen Vorstellungen vom Guten, in denen sie sich befinden, kann aber den Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute nicht erklären. Die Deutung der Sittlichkeit, durch deren Begriff die Übereinstimmung von partikularen Lebensvollzügen und dem allgemein, unbedingt verbindlichen Guten erfasst wird, kann weder Die Negativität des Sittlichen
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eine Blindheit für das eine noch für das andere zur Folge haben. Der in Abschnitt III. von Kapitel 1. dargestellte Gegensatz von normativem und kritischem Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute ist hier somit noch nicht aufgelöst. Dazu müsste die Sittlichkeit das Wissen sowohl um die konkreten praktischen Umstände, in denen eine Person sich befindet, als auch um den Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute beinhalten. Ein Erzieher berücksichtigt dann in seinem Verhältnis zum Schüler dessen besondere Bedingungen, biographische Hintergründe und Bedürfnisse, aber in Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute. Erst wenn diese Verbindung verstanden ist, kann auch verstanden werden, wie durch ethische Bildung ein Schüler die Fähigkeit zum ethischen Urteilen und Handeln herausbilden kann. Der normative und der kritische Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute sind also in den hier diskutierten Deutungen des Begriffs der Sittlichkeit entweder nur unter der Voraussetzung guter ethischer Praktiken oder in einem sich erst im unendlichen realisierenden Ideal vernünftiger, guter ethischer Praktiken begriffen und eingelöst werden. Der aus den dargestellten Aporien der substantiellen und formalen Deutung der Sittlichkeit folgende Schritt kann nun nicht darin bestehen, eine dritte Deutung des Begriffs der Sittlichkeit zu formulieren. Durch die substantielle und formale Deutung sind die Möglichkeiten zur Deutung der Sittlichkeit als Einheit des Lebensvollzuges der einzelnen Person, unter den besonderen Umständen einer Situation, und dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten erschöpft. Entweder wird davon ausgegangen, dass diese Einheit innerhalb einer guten ethischen Praxis immer schon besteht (II.), oder es wird vom Widerspruch ausgegangen, der durch Akte der Selbstbestimmung überwunden wird (III.). Bleibt der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute also als dritte Alternative allein die Einsicht in die eigenen Grenzen, wie es aus der Kantischen Auffassung der Antinomie der praktischen Vernunft in Abschnitt I.1 dieses Kapitels hervorgeht? Eine Antwort auf diese Frage zu geben, verlangt, die Folgerungen aus der Diskussion des Hegel’schen Begriffs der Sittlichkeit für das weitere Vorgehen in zwei Punkten zu verdeutlichen: Erstens scheint es, auf diese Frage sei bejahend zu antworten, da sich gezeigt hat, dass die konstitutiven Formen ethischer Praktiken der Sittlichkeit, durch die das allgemein, unbedingt verbindlich Gute im Lebensvollzug einer einzelnen Person zum Ausdruck kommt, nicht abschließend bestimmt werden können. 118
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Insofern werden hier die Grenzen der Ethik, als immanente Analyse der Moral vollzogen, bestimmt. Zweitens müssen wir jedoch auf diese Frage nicht bejahend antworten, da aus der Einsicht, dass ein Begriff der Sittlichkeit in eine Aporie führt, nicht folgt, dass wir auf die theoretische Ausgangsposition der Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft zurückgeworfen werden. Dies folgt nicht, wenn die Herausforderung der Antinomie nicht als Aufgabe, eine Analyse der praktischen Realisierung der Einheit beider Seiten zu liefern, betrachtet wird. Anstatt ausgehend von ihr zu versuchen, die konstitutiven Bedingungen eines guten ethischen Lebens zu formulieren, können stattdessen Widersprüche, die in ihm auftreten können, betrachtet werden. Dieses Vorgehen führt zu einer praktischen Deutung der negativen Einsicht in die Unabgeschlossenheit des Begriffs ethischen Lebens, der im Begriff der Sittlichkeit gefasst wird, die etwa Paul Ricoeur phänomenologisch als die »[menschliche] Zerbrechlichkeit« 144 und Thomas Rentsch im Rahmen einer transzendentalen Anthropologie als die »Durchsetztheit der menschlichen Existenz mit der Negativität« 145 artikuliert. Diese negative Einsicht wird als praktischer Widerspruch begriffen, der zwischen Vorstellungen vom ethischen Leben und den Perspektiven partikularer Personen, die sich in konkreten praktischen Umständen befinden, auftreten kann. Damit wird die immanente Analyse der Moral nicht aufgegeben. Der Begriff der Sittlichkeit stellt sich vielmehr als der begriffliche Raum dar, innerhalb dessen ein solcher praktischer Widerspruch erst erfasst werden kann. Es gilt also zu zeigen, wie praktischen Widersprüche zu sittlichen Gewohnheiten und Praktiken begriffen werden können, ohne dass ein äußerlicher Maßstab vorausgesetzt wird. Mit dem Anspruch diese Widersprüche zu begreifen, ist zugleich aber auch der Optimismus aufzugeben, alle Widersprüche lösten sich schon zum Guten auf. Im folgenden Kapitel gilt es somit zu zeigen, wie eine Person ihren Lebensvollzug innerhalb der Einheit des ethischen Lebens begreifen und artikulieren kann, auch wenn sittliche Gewohnheiten und Praktiken diesem widersprechen und dessen Realisierung nicht zulassen.
144 Paul Ricoeur: Die Fehlbarkeit des Menschen: Phänomenologie der Schuld I. Übersetzt durch Maria Otto. 2. Aufl. Freiburg im Brsg. 1989, S. 182. 145 Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt am Main 2000, S. 85.
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Kapitel 3: Verdrängung und Freiheit
Kapitel 1 stellt den Widerspruch zwischen den partikularen Umständen, unter denen eine Person ihr Leben vollzieht, und dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten dar. Kapitel 2 diskutiert Hegels Begriff der Sittlichkeit als Auflösung dieses Widerspruches. Sowohl die substantielle als auch die formale Deutung der Sittlichkeit erweist sich dabei als unvollständig. Dieses dritte Kapitel zeigt, wie das ethisch Gute im Lebensvollzug einer Person nach der Einsicht in die Unvollständigkeit des Begriffs der Sittlichkeit gedacht werden kann. Es wird nicht eine dritte Deutung des Begriffs der Sittlichkeit geliefert. Stattdessen wird ausgehend von der Einsicht in die Unvollständigkeit des Begriffs der Sittlichkeit, die Auffassung der Unterscheidung von Gelingen und Misslingen, Gutem und Bösem sowie Verfehlungen und Verletzungen so umformuliert, dass sie aus dem Widerspruch einer Person zum Sittlichen erfasst wird. Dabei werden die Weisen, diesen Widerspruch zu artikulieren, untersucht. Abschnitt I. deutet die theoretische Unvollständigkeit der substantiellen und formalen Deutung des Begriffs der Sittlichkeit als praktisches Problem der Verdrängung von fremden und schwachen Personen. In der Verdrängung als Widerspruch gegen das Leben der Person zeigt sich eine Differenz der Person zum Sittlichen, in der sich die Frage nach dem ethisch Guten erneut stellt. Abschnitt II. diskutiert, wie in Differenz zum Sittlichen Verdrängung als Gegensatz der Freiheit der Person begriffen werden kann. Es wird gezeigt, dass ausgehend von der Freiheit der Person nur die Grenzen der Möglichkeit der Bestimmung des ethisch Guten dargestellt werden kann. Diese Grenze zeigt sich in der Möglichkeit zu Bösen, die in der Freiheit der Person liegt. Abschnitt III. zeigt, wie ein Umgang mit Verdrängung innerhalb des Sittlichen möglich ist. Dabei wird die Perspektive der Freiheit der Person gewendet und zwar von der Möglichkeit des Scheiterns der Person zu den Gefahren, verletzt zu werden und Ver-
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Die Verdrängung der Person
fehlungen zu begehen, denen sie im Zusammenhang konkreter sittlicher Praktiken ausgesetzt ist.
I.
Die Verdrängung der Person
Dieser Abschnitt liefert eine Darstellung des Verhältnisses von Person und Sittlichkeit. Die Frage nach der Person drängt sich im Begriff der Sittlichkeit durch die blinden Flecken in dessen substantieller und formaler Deutung auf. Durch ein Verständnis der Möglichkeit der Verdrängung von Personen als Fremden und Schwachen im Sittlichen, stellt sich das Verhältnis von Person und Sittlichkeit als praktisches Problem dar (§ 1). Verdrängung kann nicht als Scheitern oder Misslingen am normativen Maßstab vernünftiger Fähigkeiten begriffen werden, sondern nur in Differenz zu diesem Maßstab (§ 2). Ausgehend von Nietzsches genealogischer Betrachtung der Moral wird die Möglichkeit dieser Differenz begreifbar. Diese Differenz kann erst aus der Perspektive der Freiheit der Person als Gegensatz zur Verdrängung begriffen werden (§ 3).
1.
Die Person im Sittlichen
Es gilt zu zeigen, wie nach der Einsicht in die Grenzen des Begriffs der Sittlichkeit im vorhergehenden Kapitel, also ohne dass ein Begriff der guten ethischen Praxis vorausgesetzt wird, das Sittliche thematisiert werden kann. Um zu verstehen, wie eine Thematisierung des Sittlichen nach Einsicht in die Begrenztheit des Begriffs der Sittlichkeit möglich ist, können wir mit Seyla Benhabibs Artikulation dieser Grenzen in ihrem Aufsatz »Im Schatten von Aristoteles und Hegel« beginnen: Moralität ist ein zentraler Bereich in der Welt der Werte, die die jeweilige Kultur definieren, und es ist diese Kultur, die die motiviationalen Muster prägt und die symbolischen Deutungen vorgibt, vor deren Hintergrund die einzelnen ihre narrative Geschichte einordnen, ihre Visionen vom guten Leben entwerfen, ihre Bedürfnisse interpretieren. Dieses »Material« ist der Moral gewissermaßen vorgegeben. 146 146 Seyla Benhabib: Im Schatten von Aristoteles und Hegel. Kommunikative Ethik und Kontroversen in der zeitgenössischen praktischen Philosophie. In: Ders.: Selbst
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Verdrängung und Freiheit
Dieses Zitat mag zunächst den Eindruck erwecken, als sei über die Moral nicht mehr sagbar, als innerhalb eines bestimmten soziokulturellen Kontextes gesagt werden kann. Benhabib geht es in diesem Zitat jedoch um die Spannung von einem konkreten soziokulturellen Kontext, den sie als das Material benennt, das der Moral vorgegeben ist, zur Moralität, die auf ein universelles Werteverständnis abzielt. Darin, das Verhältnis zwischen dem vorgegebenem Material und Moralität zu erklären, besteht für Benhabib die Aufgabe der Ethik. Die Ethik nimmt demnach ihre Aufgabe an, indem sie eine Darstellung des Sittlichen liefert, jenseits von einem ahistorischen, formalistischen Universalismus, der von den materiell vielfältig bestimmten Situationen von Personen abstrahiert, sowie jenseits einer konservativen Theorie der Gemeinschaft, die ihre Konventionen als substantielle moralische Werte auffasst. Im Folgenden werde ich die beiden Auffassungen, von denen Benhabib sich abgrenzt, als formalistische und konventionalistische Auffassungen des Sittlichen bezeichnen, wobei letztere eine Art der Auffassung dessen, was dem Sittlichen substantiell ist, darstellt. 147 Die Folgerungen aus Benhabibs Formulierung dieser Aufgabe der Ethik führen zu einer praktischen Reflexion der Blindheit der formalen und substanziellen Deutung der Sittlichkeit (vgl. Kapitel 2, besonders Abschnitt III.4). Benhabib stimmt mit der verbreiteten Kritik an formalistischen Ansätzen überein, wonach sie ethischen Universalismus zwar begründen, aber nicht den Bezug auf die materiell bedingten Situationen von Individuen zu erklären vermögen. Zugleich ist sie bestrebt zu zeigen, dass die Alternative dazu nicht zwangsläufig in einer »konservativen Theorie der Gemeinschaftsethik« 148 und einer Abkehr vom ethischen Universalismus liegt. Das mangelnde Verständnis formalistischer Ansätze für die materielle Bedingtheit verschiedener Individuen und die damit einhergehende Blindheit 149, könne folglich
im Kontext. Gender Studies. Übersetzt durch Isabella König. Frankfurt am Main 1995, S. 74. 147 Ich rede hier von einer konventionalistischen Auffassung des Sittlichen, um sie von einer substantiellen Deutung der Sittlichkeit abzugrenzen, die ihre eigenen Begrenztheit und Negativität reflektiert. 148 Ibidem, S. 37. 149 Benhabib spricht von der »Geschlechterblindheit eines Großteils der modernen und zeitgenössischen universalistischen Theorie«. (Ibidem, S. 69 – Hervorhebung von mir, E. J.)
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nicht durch die Kategorien einer Gemeinschaft oder einer Tradition beseitigt werden, die konkrete Vorstellungen darüber, worin ein gutes Leben bestehe, beinhalten. Stattdessen sei bei einzelnen Personen in ihren jeweiligen materiellen, ethischen Kontexten anzusetzen, wo durch die Normen sozialer Praktiken und Gewohnheiten ein Verständnis ethischer Werte und somit des guten Lebens gegeben ist. Diese Kontexte können sich verschiedenen Personen unterschiedlich darstellen. Wie diese sich ihnen darstellen, hängt nicht nur von der Art der Kultur und Gesellschaft ab, in der eine Person sich befindet, sondern auch von deren Stellung in dieser, also von ihrem Geschlecht, ihren ökonomischen Verhältnissen, ihrer sozialen Herkunft oder ethnischen Abstammung. Die unterschiedlichen Weisen, auf die sich materielle, ethische Kontexte verschiedener Personen darstellen, bieten Benhabib den Ansatzpunkt für ein Verständnis eines ethischen Universalismus. Dieser wird der materiellen Bedingtheit der Moral gerecht, wenn er Adressaten von Wertaussagen oder ethischer Kritik als »konkrete Andere« betrachtet. Sie sind nicht als »verallgemeinerte Andere« 150 zu verstehen, die allgemeine Prinzipien für das Prozedere ethischen Denkens voraussetzen, wodurch aber nur allgemeine Eigenschaften eines idealisierten Subjekts wie »hat die Fähigkeit zu rationalen Entscheidungen«, »hat einen Lebensplan« oder »handelt autonom« in Betracht gezogen werden könnten. Mit dem Bezug auf den »konkreten Anderen« werden der philosophischen Ethik die Augen geöffnet für die einzelne Person in einer konkreten Situation. Das heißt, der blinde Fleck für die einzelne Person in formalistischen und konventionalistischen Auffassungen sittlicher Praktiken wird ausgefüllt. Doch daraus folgt noch nicht, dass wir nun eine Konzeption konstitutiver Bedingungen eines gelingenden Lebens einer Person in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten formulieren können. Mit Bezug auf den »konkreten Anderen« kann diese Übereinstimmung nicht unmittelbar positiv erfasst werden, sondern zunächst wird die Möglichkeit dieser Übereinstimmung durch den »konkreten Anderen« hinterfragt, da er eine konkrete praktische Herausforderung an ethische Geltungsansprüche darstellt. Um den Gedanken, der von Benhabib im Begriff des »konkreten Anderen« dargestellt wird, zu fassen, sind die Folgerungen für das ethische Denken aus der Einsicht darzulegen,
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Ibidem.
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Verdrängung und Freiheit
dass es mit den Aussagen, Einwänden und Ansprüchen konkreter Personen beginnen muss, und nicht von einer gegebenen, konventionellen, bloß vermeintlich substantiellen Vorstellung vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten oder einer formalen Regel des Diskurses, der für allgemein, unbedingt verbindliche Geltung von Normen konstitutiv ist, ausgehen kann. Die Folgerungen aus dem Begriff des »konkreten Anderen« gehen mit einer Verlagerung des ethischen Denkens auf eine andere Ebene einher. Wie ist diese andere Ebene zu verstehen? Der »konkrete Andere« kann nicht der sein, der den gleichen Regeln folgt wie ich oder der sich meinen Konventionen anpasst. Das wären Beispiele für den »allgemeinen Anderen«, mit dem ich Regeln oder Konventionen teile und von dem ich lediglich in meinem Auftreten unterschieden bin. Auch wenn ich mit einem »konkreten Anderen« viel gemeinsam habe und ein Grundverständnis teile, und auch wenn ich meine Vorstellung von Werten und vom guten Leben nicht ablegen kann, betrachte ich ihn zunächst ohne vorbestimmte Begrifflichkeiten, die uns verbinden. Wenn ich durch den »konkreten Anderen« adressiert werden kann oder ihn adressiere, verhalte ich mich zu ihm als konkreten Unbekannten, Ausgeschlossenen, Fremden, Gescheiterten, Irrenden, Schwachen oder Unwissenden. Aus dem Bezug auf den »konkreten Anderen« folgt somit zunächst, dass die Geltung jeder Auffassung des Guten sich als illegitim und falsch erweist, wenn sie solche Leute ausschließt und sie somit aus dem Bereich des Ethischen verdrängen. Diese Art des Ausschlusses oder diese Verdrängung widersprechen dem Anspruch eines ethischen Universalismus, der ein allgemein unbedingt verbindliches Gutes begreifen will, da es in dessen Anspruch steckt, dass niemand ausgeschlossen werden darf. Um diesen möglichen Widerspruch zu vermeiden, der durch Ausschluss und Verdrängung entsteht, ist also das Sittliche, als mögliche Einheit allgemein, unbedingt verbindlich Guten und partikularem Lebensvollzug einer Person, auf der Ebene der konkreten Forderungen, Bedürfnisse, Ansichten, Ansprüche und Probleme von Personen zu fassen, die als »konkrete Andere« adressiert werden. Auf der Ebene, auf die uns Benhabibs Begriff des »konkreten Anderen« verweist, kann nicht auf ein Verständnis des Gelingens ethischen Lebens und Überlegens, also wann eine Person in ihrem Urteilen und Handeln allgemein, unbedingt verbindlich Gutes unter partikularen praktischen Umständen zum Ausdruck bringt, gefolgert werden. Zunächst kann nur auf ein Verständnis der Möglichkeit des 124
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Misslingens gefolgert werden. Die Möglichkeit des Misslingens wird dargelegt, indem das Problem der Blindheit für die Person, auf das die Reflexion auf die Gelingensbedingungen eines ethisch guten Lebens stößt, als Problem der Verdrängung gefasst wird. Worin Verdrängung besteht, gilt es zu erläutern. Verdrängung stellt einen Umgang mit praktischen Hindernissen dar, die Gelingen verhindern, und nicht die Unfähigkeit zur (theoretischen) Bestimmung von Gelingensbedingungen. Verdrängung wird motiviert, wenn ethische Überlegungen in Anbetracht von etwa einer Fremden oder einer Schwachen nicht auf gewohnte Weise zu Ende geführt werden könnten, also misslingen. Verdrängung entsteht also, wenn versucht wird, die Bedingung zum Gelingen ethischen Urteilens und Handelns – sowie damit zusammenhängender Überlegungen – durch Ausschluss störender Personen herzustellen. Nun erweisen sich ethische Überlegungen, die nur durch Verdrängung zu Ende gebracht werden können, zugleich als ethisch ungültig, da sie dem Anspruch auf Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten nicht genügen können. Sie wurden nur scheinbar zu Ende gebracht, denn sie konnten ja nur gelingen, da Personen verdrängt, also aus diesen Überlegungen ausgeschlossen werden, womit sie ihrem eigenen Anspruch auf allgemeine, unbedingte Verbindlichkeit unterlaufen. Sie gelten nur unter der Bedingung der Verdrängung und folglich nur für einen eingeschränkten Kreis von Personen, die die Macht haben, andere zu verdrängen. Die Ausübung sittlicher Praktiken muss sich folglich in einem Bewusstsein für Verdrängungen entwickeln. Nur wo ein Bewusstsein für das Verdrängte oder die Verdrängten besteht, können zum Beispiel die Fremde oder die Schwache in ethische Überlegungen, somit in die sittlichen Praktiken, mit einbezogen werden. Entsprechend den jeweiligen blinden Flecken in der formalistischen und der konventionalistischen Auffassung der Sittlichkeit können zwei allgemeine Arten der Verdrängung bestimmt werden. Die Art der Verdrängung, die mit der konventionalistischen Auffassung der Sittlichkeit einhergeht, kann unter dem Titel des Fremden gefasst werden. Als Fremde gelten Personen, die die Realisierung einer eingeübten Praxis behindern, weil sie eine Praxis einer anderen Gestalt ausüben, ein anderes moralisches Vokabular anwenden und für sie andere Phänomene ethisch bedeutsam erscheinen. Die Fremdheit beginnt schon mit der Weise, wie ethische Überlegungen kommuniziert werden. Ob man jede Person gleichberechtigt anspricht oder etwa nur bestimmte Vertreter Die Negativität des Sittlichen
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einer Gemeinschaft von Personen, wie etwa den Vorstehenden einer Familie, stellt schon einander fremde Auffassungen praktischer Umstände dar. Um hier überhaupt in einen Austausch treten zu können, müsste man sich der Relativität und Unbestimmtheit der eigenen Wertauffassungen bewusst sein. Dann erst kann der Andere nicht bloß als Fremder, der die Auffassung vom Guten verfehlt und den es im äußersten Fall zu bekämpfen gilt, betrachtet werden. Vielmehr kann ihm als ethischem Subjekt begegnet werden. Die Art der Verdrängung, die mit der formalistischen Auffassung der Sittlichkeit einhergeht, kann unter dem Titel des Schwachen gefasst werden. Als Schwache gelten Personen, denen es an der Fähigkeit mangelt, an ethischen Überlegungen und fortschreitender, kollektiver Entwicklung des ethischen Lebens teilzunehmen, wozu etwa alte oder behinderte Personen zählen. Diese bedürften besonderer Berücksichtigung und besonderen Schutzes, damit sie als ethische Subjekte agieren können. Verdrängt werden sie, wenn ihnen hingegen ein Sonderstatus zugeschrieben wird, durch den sie ausgeschlossen werden oder indem sie paternalisiert oder hospitalisiert werden – es besteht eine Blindheit für sie als ethische Subjekte, da ein gelingendes Leben nur unter der Bedingung des Vollzuges verdrängender Maßnahmen möglich scheint. Es können aber auch Personen erst geschwächt, also zu Schwachen gemacht werden, indem ihre Stimme zu ethischen Fragen nicht berücksichtigt oder ernst genommen wird, was zum Beispiel ein Problem der Geschlechterdiskriminierung ist. 151 Diese Form der Verdrängung stellt den Fokus der Diskussionen der sogenannten feministischen Ethik dar, die auch Benhabibs Überlegungen zum »konkreten Anderen« motiviert. Unter den Titeln Verdrängung, Fremde und Schwache kann dieses Problem in seiner Allgemeinheit gefasst werden, an dem sich jede Vorstellung des guten Lebens und sittlicher Praktiken und Handlungsweisen beweisen muss.
151 Inspiriert wurde diese Diskussion durch Carol Gilligans empirische, nicht philosophische Studie In a Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development. Cambridge Mass. 2003.
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2.
Verdrängung als Scheitern
Aus der Diskussion von Benhabibs Begriff des »konkreten Anderen« folgt, dass ein Bewusstsein von Verdrängung grundlegend dafür ist, dass sich sittliche Praktiken als begründet erweisen können. Aus einem solchen Beweis folgt an diesem Punkt der Argumentation noch nicht, dass eine bestimmte Form der Relation zum Anderen konstitutiv dafür ist, was als ethisch gut gilt. Hier wird mit Bezug auf den »konkreten Anderen« allein die negative Einsicht in die Begrenztheit einer Auffassung des ethisch Guten erfasst, insofern sie bei der Verdrängung einzelner Personen ihre Geltung verliert. In der Möglichkeit der Verdrängung zeigt sich die Möglichkeit des Widerspruchs einer jeden Auffassung des ethisch Guten zu den zeitlichen Bedingungen des Lebens von Personen, somit die Endlichkeit ethischen Wissens. Ethisches Wissen muss auf die endlichen Bedingungen personalen Lebens bezogen werden, damit es nicht zu Ausschluss und Verdrängung kommt. Die Form ethischen Wissens muss also den Bezug auf mögliche Verdrängung als ihren Gegensatz einbegreifen. Aufgrund des Bezuges auf die zeitlichen Bedingungen des Lebens einer Person, die in der Verdrängung zum Thema werden, kann also davon geredet werden, dass sittliche Praktiken sich als begründet erweisen können, insofern eine Person durch deren Ausübung ein ethisches Leben führt. Angesichts der beiden Arten der Verdrängung, die im vorherigen Abschnitt herausgestellt wurden, ist eine Auffassung des ethisch Guten also ausgehend von folgendem Schema zu denken: VERDRÄNGUNG … Eine Auffassung des Sittlichen beweist sich an der Person, die als »konkrete Andere« adressiert wird. … VON FREMDEN Die Auffassung des Sittlichen wird dem Anderen gegenüber neu verstanden.
… VON SCHWACHEN Die Auffassung des Sittlichen wird auf den Anderen ausgeweitet.
Es gilt zunächst, auf die Möglichkeiten eines Bewusstseins von Verdrängung innerhalb sittlicher Gewohnheiten und Praktiken zu reflektieren. Das verlangt, in Betracht zu ziehen, ob die Aristotelische Analyse vernünftiger, im Sittlichen erworbener Fähigkeiten ein Bewusstsein von Verdrängung erlaubt. Damit würde auch eine Antwort auf den blinden Fleck der substantiellen Deutung der Sittlichkeit geDie Negativität des Sittlichen
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geben, die anders als die mögliche Antwort der formalen Deutung der Sittlichkeit nicht in einem formal bestimmten Begriff von Selbstbestimmung einen neuen Ansatzpunkt sucht (vgl. Kapitel 2, Abschnitte II.5 und III.1–2). 152 Wenn Verdrängung besteht, gilt ethisches Leben im Sittlichen als misslungen und gescheitert. Das Scheitern am ethischen Leben stellt nach dem Aristotelischen Begriff vernünftiger Fähigkeiten einen Mangel dar, der im Bewusstsein der internen konstitutiven Norm des Lebensvollzuges von Personen, dessen, was sein sollte – das Leben im Guten –, gefasst wird. Mein Scheitern begreife ich demnach als Mangel, weil ich weiß, ich sollte X tun, aber meine Lebensrealität entspricht nicht-X. Das Bewusstsein von solch einem Mangel hat eine doppelte Struktur, deren eine Seite ein Bewusstsein von einer Realität ist, die nicht-X ist, und deren andere Seite das X, das sein sollte, darstellt. 153 Die Form der Erklärung gleicht der Struktur der Beschreibung eines dreibeinigen Katers als privativem Exemplar der Spezies des Katers oder einer jungen Katze, die es nicht schafft, die Maus zu fangen und deren Lebensvollzug gemäß der Form des Lebens einer Katze als noch unvollkommen gilt. Wir versehen dann die gescheiterten Handlungs- und Lebensvollzüge von Individuen einer Art mit einem »-« oder einem »nicht-«, das den Kontrast dazu anzeigt, wie es eigentlich, seinem Wesen entsprechend, sein sollte. Es gilt nun zu untersuchen, ob Verdrängung durch einen Begriff misslungener und gescheiterter Ausübung vernünftiger Fähigkeiten erklärt werden kann. Ausgehend vom Begriff vernünftiger Fähigkeiten ist die misslungene und gescheiterte Ausübung vernünftiger Fähigkeiten nach Andrea Kern in folgenden drei Punkten zu erklären: Erstens: Ein gelungener Akt geht aus der Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit hervor. Er wird in Abhängigkeit von deren konstitutiver Einheit und aus der Vorstellung ihrer Norm vollzogen. Ein Tanzschritt, wie die Linksdrehung beim Tangotanzen, kann nur in der Einheit des Tangotanzens als solche verstanden und als richtig oder falsch vollzogen betrachtet werden. 154 Zweitens: Das Scheitern der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten ist nur mit Bezug auf die Norm 152 Die formalistische Deutung der Sittlichkeit hat sich in Kapitel 2, Abschnitt III.3 als nicht umsetzbar herausgestellt, weshalb sie nicht zu berücksichtigen ist. 153 Diese Formulierung von einer doppelten Struktur des Bewusstseins ist einem Vortrag Andrea Kerns an der Universität Potsdam entlehnt. 154 Vgl. Andrea Kern: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten. Frankfurt am Main 2006, S. 212–213.
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der gelungenen Ausübung vernünftiger Fähigkeiten zu begreifen. Ein misslungener Tanzschritt kann also nur mit Bezug auf die Norm des gelungenen Tanzschritts als solcher verstanden werden. Im Verhältnis vom misslungenen und gelungenen Akt einer vernünftigen Fähigkeit besteht eine »explanatorische Asymmetrie« 155. Man kann also nur mit Bezug auf die Vorstellung der Norm vom gelungenen Tanzschritt diesen erlernen. 156 Drittens: Gelungene und gescheiterte Akte stellen zwei Klassen von Akten dar, die innerhalb der konstitutiven Einheit vernünftiger Fähigkeiten zu verstehen sind. Sie unterscheiden sich dadurch, dass gelungene Akte aus der unmittelbaren Ausübung vernünftiger Fähigkeiten hervorgehen und gescheiterte Akte durch zufällige Umstände ungünstig beeinflusst oder gar bewirkt werden. Wenn jemand daran scheitert, die Linksdrehung beim Tanzen des Tangos richtig zu vollziehen, so hängt das von den Umständen ab, wie zum Beispiel dem Wuchs der Beine des Tänzers, der Beschaffenheit des Bodens, des Schuhwerks oder auch dem Erklärungstalent eines Lehrers. Daraus folgt: Das Gelingen der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten hängt ebenso davon ab, wie die Umstände der Situation von deren Ausübung beschaffen sind und wie weit diese kontrolliert werden können. 157 Wird der dritte Punkt nun bezüglich der Fähigkeit, in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten zu handeln, betrachtet, ist deren misslungene Ausübung im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Verdrängung der Person zu verstehen, sowohl als verdrängte als auch als verdrängende. Denn in der Verdrängung besteht der Widerspruch zum ethisch Guten, das mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit vorgestellt wird. Dieser ist als gescheiterte oder misslungene Ausübung vernünftiger Fähigkeiten zu begreifen. Verdrängung besteht, wenn eine eingeübte, zur Gewohnheit gewordene Weise zu handeln, nicht eine gute ethische Praxis realisiert. Wird eine eingeübte, zur Gewohnheit gewordene Weise zu handeln, nun als Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit begriffen, ist sie in Verbindung mit der Norm der guten ethischen Praxis zu verstehen, wodurch das Gelingen und Misslingen von deren Realisierung unterschieden werden kann. Um zu verstehen, inwiefern ein Bewusstsein möglicher Verdrängung als 155 156 157
Ibidem, S. 279. Ibidem, S. 277. Ibidem, S. 281–282.
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Verdrängung und Freiheit
misslungene oder gescheiterte Ausübung vernünftiger Fähigkeiten gefasst werden kann, gilt es also aus der Perspektive der verdrängten und aus der Perspektive der verdrängenden Person zu zeigen, inwiefern diese Bezug auf eine Norm der guten ethischen Praxis nehmen können, um das sich in der Verdrängung darstellende Scheitern und Misslingen ethischen Lebens zu fassen. Erstens ist das Bewusstsein des Scheiterns und Misslingens aus der Perspektive der verdrängten Person zu betrachten. Begreift man Verdrängung als misslingende und scheiternde Ausübung vernünftiger Fähigkeiten, ist sie nach dem oben genannten dritten Punkt, ausgehend von den Umständen der Situation der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten, zu begreifen. Die Person ist eingeschränkt, wenn sie scheitert, insofern sie nicht aus der Vorstellung der Normen der konstitutiven Einheit ihrer Fähigkeiten wirksam sein kann. Das Scheitern und Misslingen der Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit besteht nun gerade nicht darin, dass eine Person den Umständen ihrer Situation passiv ausgesetzt ist. Sie kann sich zu den Umständen einer Situation mit Bezug auf die Norm der gelungenen Ausübung der Fähigkeit, zu den Umständen einer Situation verhalten. Scheitert eine Person zum Beispiel bei der Ausübung einer Wahrnehmungspraxis, wie der Arzt beim Erkennen von Krankheitssymptomen, kann er ein Bewusstsein für sein Scheitern entwickeln, etwa wenn er versteht, dass unter den Umständen der Behandlung weitere Informationen über den Lebenswandel eines Patienten fehlen. Der Arzt kann mit seinem Scheitern umgehen, wenn er den Patienten noch einmal betrachtet und weitere Informationen einholt, um die Umstände der Untersuchung zu verbessern. Der Arzt bleibt also trotz des Scheiterns vermögend, seine Fähigkeit richtig auszuüben, insofern ihm Zeit gegeben wird, zu einer richtigen Beschreibung der Krankheitssymptome zu kommen. Gleiches gilt für den Tangotänzer. Derjenige, der die Tanzschritte nicht richtig vollzieht, weil er sie in der Situation falsch verstanden hat, kann sie sich vom Tanzlehrer noch einmal erklären lassen und bleibt so vermögend, sie richtig zu vollziehen. Eine Person ist beim Scheitern der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten also vermögend und frei, deren gelungene Ausübung zu erreichen, sofern ihr die Zeit und Mittel gegeben sind, um sich zu ihrem Gegenstand, wie dem zu heilenden Patienten oder der zu vollziehenden Tanzschritte, zu verhalten. Scheitern und Misslingen von ethischem Urteilen und Handeln am Maßstab des allgemein, unbedingt verbindlich Guten liegt etwa 130
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dann vor, wenn eine Person aufgrund eingeübter Handlungsweisen aus der Teilnahme an Institutionen ausgeschlossen wird (Fremde) oder sie aufgrund paternalistischer Bevormundung nicht als Person betrachtet wird, die ihre Bedürfnisse selbst artikulieren kann (Schwache). Die verdrängte Person kann mit Bezug auf die herrschende ausschließende oder paternalisierende Auffassung einer Praxis keinen Umgang mit ihrer Verdrängung finden. Damit eine Person ein Bewusstsein von Verdrängungen als Scheitern einer ethischen Praxis herausbilden kann, bedarf es weiterer Voraussetzungen als beim Arzt, der mit Fehldiagnosen umgehen kann, indem er weitere Informationen heranzieht und den Patienten genauer untersucht, oder als beim Tangotänzer, der Fehler in der Schrittfolge beheben kann, wenn er durch den Tanzlehrer auf die konventionell festgelegte Schrittfolge hingewiesen wird. Der normative Standard, durch den Scheitern verstanden wird, liegt in bestimmten Krankheitsbildern bzw. konventionalisierten Tanzschritten. Dass eine Person verdrängt wird, liegt nun nicht allein daran, dass eine gegebene ethische Praxis aufgrund verhindernder Umstände schlecht ausgeübt wird. Verdrängt wird eine Person in einer ethischen Praxis auch, weil die Vorstellung von deren konstitutiver Norm mangelhaft ist. Das heißt, verdrängt wird eine Person in einer ethischen Praxis etwa durch nicht gewährte gleichberechtigte Teilnahme oder Paternalisierung, also weil diese mit der Vorstellung eines normativen Standards ausgeübt wird, die Werte wie Gleichberechtigung oder Selbstbestimmtheit nicht mit einbegreifen. Die Ausübung solcher ethischer Praktiken schafft erst Situationen, in denen Verdrängung besteht. Innerhalb vernünftiger Fähigkeiten kann hier also nur insofern von Scheitern geredet werden, als die verdrängte Person dadurch die Vorstellung der normativen Standards, durch die ethische Praktiken ausgeübt werden, thematisieren kann. Der Maßstab selbst, durch den die Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit mit Bezug auf bestehende Umstände von Situationen als gescheitert betrachtet werden kann, ist also bei Fähigkeiten, ethische Praktiken zu realisieren, zu thematisieren. Dann erst wird die Person vermögend, den Verdrängenden zu zeigen, dass deren Weise, ethische Praktiken auszuüben, scheitert, weil dadurch Umstände geschaffen werden, in denen Personen ausgeschlossen oder paternalisiert, folglich verdrängt werden. Die Umstände, aus denen das Scheitern der Ausübung der vernünftigen Fähigkeit, eine ethische Praxis zu realisieren, erklärt werden kann, werden durch deren Realisierung geschaffen. Somit ist die Erklärung des Scheiterns gemäß des dritten Die Negativität des Sittlichen
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Verdrängung und Freiheit
Punktes erst möglich, wenn die verdrängte Person eine Vorstellung der richtigen konstitutiven Norm der Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit herausbilden kann. Dann erst können schlechte Umstände, in denen verdrängt wird, als solche erfasst und misslungene Akte als solche erklärt werden. Dass die verdrängte Person Scheitern und Misslingen innerhalb vernünftiger Fähigkeiten, eine ethische Praxis auszuüben, erklären kann, hängt also davon ab, ob sie eine Vorstellung der Norm der guten ethischen Praxis herausbilden kann. Zweitens ist die Möglichkeit des Scheiterns und Misslingens aus der Perspektive der verdrängenden Person zu betrachten. Die verdrängte Person übt ihre vernünftigen Fähigkeiten aus, indem sie andere verdrängt. Dass vernünftige Fähigkeiten bei gleichzeitiger Verdrängung ausgeübt werden können, klingt zunächst widersprüchlich. Denn dass verdrängt wird, weist darauf hin, dass Umstände in einer Situation bestehen, die der gelingenden Ausübung vernünftiger Fähigkeiten widersprechen. Bei einer vernünftigen Fähigkeit zur Ausübung einer Wahrnehmungspraxis, wie Krankheitssymptome zu erkennen, mag es unmöglich sein, beides zusammen zu denken, denn ohne Zeit, ausreichende Informationen und Zugang zum zu beschreibenden Gegenstand kann deren Ausübung nicht gelingen. Auch beim Tanzen des Tangos ist die Situation so zu denken, dass jemand, der die Schritte nicht beherrscht oder dessen Bein gebrochen ist, die Schritte nicht vollziehen kann. Doch wenn Scheitern und Misslingen als mögliche Verdrängung betrachtet werden, ist der Zusammenhang zur Möglichkeit der Ausübung einer Fähigkeit anders zu betrachten. Eine Person kann innerhalb der konstitutiven Einheit ihrer Fähigkeit, also ihrer jeweiligen Vorstellung einer ethischen Praxis, wie etwa sich an gesellschaftlichen Institutionen zu beteiligen, meinen gute Gründe zu haben, diese auszuüben, ohne dass mangelhafte Umstände sie daran hindern, etwa wenn diese Institution ungerecht oder ethisch verwerflich ist. Das heißt, sie übt ihre Weise zu handeln, ohne äußere Hindernisse, in Übereinstimmung mit ihrer Vorstellung der Norm einer guten Praxis aus, obwohl das Verdrängung zur Folge hat – etwa durch eine Institution, die den Ausschluss von Personen einer bestimmten ethnischen Abstammung betreibt. Obwohl verdrängt wird, kann einer Person die Realisierung ihrer Vorstellung einer Praxis gelingen, ohne dass die zugleich mangelhaften Umstände der Situation – dass also eine Gruppe von Personen ausgeschlossen ist – dies behindern. Und dennoch muss gesagt werden können, dass eine Situation be-
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steht, die nicht bestehen darf, weil sie Verdrängung, die bis zum Tod anderer führen kann, mit sich bringt. Wird eine Person bei der Ausübung ihrer vernünftigen Fähigkeit, aus der Vorstellung einer ethischen Praxis zu handeln, verdrängt, besteht eine mangelhafte Situation, die dem ethisch Guten widerspricht. Diese Situation wird aber innerhalb der Praxis, die die konstitutive Einheit der vernünftigen Fähigkeit darstellt, die eine Person ausüben kann, nicht als schlechte betrachtet. Vielmehr stellt das Bestehen der Situation für die Person zugleich einen Ausdruck der gelungenen, guten Ausübung ihrer Fähigkeiten dar. 158 Diese Konsequenz widerspricht dem dritten Punkt, wonach aus den Umständen einer Situation misslungene und gescheiterte Ausübung erklärt werden kann. Somit fällt auch die interne Verbindung von Verdrängung und vernünftigen Fähigkeiten auseinander, da Umstände einer Situation, die dem ethisch Guten widersprechen und zur Verdrängung führen, nicht zum Scheitern und Misslingen der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten führen. Wenn eine solche Situation nicht als schlecht erfasst werden kann, besteht auch nicht die Möglichkeit, für die verdrängte Person Gründe für die Abschaffung oder Entwicklung der Auffassung einer Praxis zu entwickeln, womit die oben unter erstens genannte Voraussetzung der Freiheit, mit Misslingen und Scheitern so umzugehen, dass es nicht zu Verdrängung führt, nicht mehr gegeben ist. 159 Um Verdrängung zu begreifen, bedarf es einer Betrachtung der Umstände einer Situation mit Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute, die nicht durch die Norm einer vernünftigen Fähigkeit bestimmt ist und somit für verschiedene Personen, unabhängig ihrer Fähigkeiten und der materiellen Bedingungen von deren Ausübung, bindend ist. Dadurch wird erst denkbar, dass eine Person in einer bestimmten Situation die Macht besitzt, zu tun, was sie gemäß der Vorstellung von der Norm vernünftiger Fähigkeiten tun soll, dieses dennoch nicht geschehen soll. 160 158 Hier handelt es sich nicht bloß um eine Illusion, die dadurch aufgeklärt wird, dass die »ungünstigen Umstände« benannt werden (vgl. Ibidem, S. 329–330.). Hier werden die Umstände so gesehen, wie sie sind, aber ohne dass Schlechtes darin gesehen wird. 159 Laut Kern sei die Kritik an bestimmten vernünftigen Fähigkeiten selbst Teil von deren Ausübung (vgl. Ibidem, S. 345–348.). Es wird aber nicht klar, wie diese Kritik als Teil dieser verstanden werden kann. 160 Diese Einsicht macht auch G. E. M. Anscombe mit Bezug auf das Böse, das denkbar wird, wenn wir die Grammatik von »Sollen« betrachten. Es kann der Fall sein,
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Verdrängung und Freiheit
Wir enden hier mit der negativen Einsicht, dass der Bezug auf die verdrängte oder verdrängende Person nicht erschöpfend als Scheitern und Misslingen der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten zur Realisierung einer ethischen Praxis erfasst werden kann. Verdrängung ist unvernünftig, insofern sie dem Begriff einer guten ethischen Praxis entgegensteht, die dem Gut praktischer Vernunft entspricht. Da aber durch einen Begriff des Scheiterns der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten Verdrängung nicht begriffen werden kann, kann auch durch vernünftige Fähigkeiten der Begriff des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, der Anspruch der Vernunft, nicht erschöpfend erfasst werden, denn: Erstens, die verdrängte Person kann sich nicht auf die gegebene, gewohnte Vorstellung eines Maßstabes der Fähigkeit zur Ausübung einer Praxis beziehen, aus der Verdrängung folgt. Aufgrund der Verdrängung erweist sie sich als beschränkt. Eine Person muss also auch diesen Maßstab selbst thematisieren, um ihre Verdrängung, somit das Scheitern der Praxis, bewusst machen zu können. Zweitens, der Maßstab der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten ist gegenüber der verdrängenden Person beschränkt, da deren Verdrängung anderer mit der gelungenen Ausübung ihrer Fähigkeiten eine ethische Praxis zu realisieren, einhergehen kann. Sie scheitert nicht aufgrund der mangelhaften Umstände, die sie dabei schafft. Es ist also ein Ansatzpunkt zu begreifen, durch den Verdrängung begriffen wird, ohne Bezug auf den normativen Gehalt der Normen der eingeübten Ausübung vernünftiger Fähigkeiten zu nehmen. 161 Denn wir können die Mangelhaftigkeit der Ausübung vernünftiger Fähigdass X durch Y geschlagen werden soll, aber dennoch Y X nicht schlagen darf. Dass Y X schlagen soll, heißt nicht, dass etwas Schlechtes gesollt wird. Sondern wir können sagen, dass Y X schlagen soll, weil etwa die Institution der Prügelstrafe besteht, deren Folgen aber wiederum nicht bestehen dürfen. Die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen einer Situation, die auf eine Weise so sein soll und auf andere Weise nicht sein soll, setzt eine Freiheit des Willens voraus, die nicht materiell bedingt ist und sie an eine schlechte Institution binden kann oder sich unabhängig von den normativen Bindungen einer Institution zu einem höheren Gut bekennen kann. Vgl. G. E. M. Anscombe: Sin. In: Mary Geach / Luke Gormally (Hrsgg.): Faith in a Hard Ground. Essays on Religion, Philosophy, and Ethics by G. E. M. Anscombe. Exeter/Charlottesville 2008, S. 145 und S. 156. 161 Die Möglichkeit des Widerspruchs zwischen verschiedenen vernünftigen Fähigkeiten stellt keine Erklärung dieses Problems dar. Durch das Erfassen eines solchen Widerspruches kann nicht erklärt werden, wie aus der Perspektive einer vernünftigen Fähigkeit, die Situation, die nicht sein sollte, begriffen werden kann, wenn alle Fähigkeiten gut, ohne unmittelbar auf Konflikte zu stoßen, ausgeübt werden können.
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keiten nicht mit Bezug auf den Maßstab der Ausübung von Fähigkeiten erfassen, sondern zunächst allein, weil eine Situation besteht, in der eine Person verdrängt wird oder andere verdrängt.
3.
Die genealogische Betrachtung der Moral
Es gilt nun zu zeigen, wie ein Bewusstsein der Verdrängung auch in Differenz zum normativen Gehalt erworbener, sittlicher Fähigkeiten möglich ist. Ein Ansatz findet sich beim späten Nietzsche, der in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral nach der »Herkunft unserer moralischen Vorurtheile« 162 fragt. In einer genealogischen Betrachtung der Moral wird nach den historischen Bedingungen und Umständen gefragt, unter denen bestimmte Wertvorstellungen entstehen können. 163 Doch bleibt es bei Nietzsche nicht bei einer rein historischen Betrachtung von Wertvorstellungen. Seine genealogische Betrachtung der Moral ist zugleich kritisch, da sie damit einhergeht den »Werth dieser Werthe […] in Frage zu stellen« 164. Die Infragestellung bestimmter Wertvorstellungen besteht zunächst darin, sie als historische Erscheinungen und Vorurteile und nicht als unhinterfragbare Ordnung zu betrachten. Was nach gegebenen Wertvorstellungen als falsch, schlecht, wertlos oder böse gilt, gilt in einer genealogischen Betrachtung der Moral nicht notwendig als falsch, schlecht, wertlos oder böse, sondern wird auf Wertvorstellungen und damit einhergehende normative Strukturen, die in einem bestimmten sozialen, kulturellen sowie historischen Kontext gelten, relativiert. Der kritische Anspruch der genealogischen Betrachtung der Moral beschränkt sich bei Nietzsche aber nicht auf die Relativierung einer Wertvorstellung, indem sie sie als nur eine von vielen darstellt. Sie ist zudem kritisch, weil nach dem »Werth dieser Werthe« mit Bezug auf ein anderes Gut, das jenseits gegebenen Unterscheidungen von Wertlos und Wertvoll, Gelingen und Misslingen oder Gut und Schlecht liegt, gefragt wird. Damit wird aber nicht auf eine jenseitige, Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Kritische Studienausgabe Band 5. 9. Aufl. Berlin/New York 2007, S. 248. 163 Ibidem, S. 249–250; S. 253. 164 Ibidem, S. 253. Vgl. hierzu auch Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Kritische Studienausgabe Band 5. 9. Aufl. Berlin/New York 2007, § 2. 162
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abstrakte theoretisch-metaphysische Ebene verwiesen, auf der das andere Gute existiert. Die genealogische Betrachtung der Moral fragt nach dem »Werth dieser Werthe« innerhalb des Lebens des Subjekts, aus dessen Bedingungen und Umständen eine Wertvorstellung erst hervorgeht. Das andere Gut besteht somit im Leben des Subjekts selbst. Wertvorstellungen im Leben eines Subjekts zu betrachten, bedeutet, sie daraufhin zu betrachten, inwiefern sie eine »Verneinung des Lebens« 165 darstellen. Das Gut, das im Leben des Subjekts besteht, stellt somit eine kritische Ebene dar, die als Gegensatz zu dessen Verneinung in Differenz zu den gegebenen Wertvorstellungen gefasst wird. Der Frage, wie dieses andere Gut in Nietzsches Werk zu verstehen sei, soll hier nicht nachgegangen werden. Hier soll lediglich die Struktur von Nietzsches genealogischer Betrachtung der Moral berücksichtigt werden, insofern sie den Gedanken der Differenz eines Subjekts zu einer Auffassung des Sittlichen möglich macht. Wie diese Differenz ausgehend von Nietzsches genealogischer Betrachtung der Moral gedacht werden kann, wird am Beispiel der Macht deutlich. Durch eine genealogische Betrachtung der Moral wird die Geschichte nicht bloß als Geschichte von den Machthabenden begriffen. Einem Subjekt zeigen sich in der Entfaltung seines Lebensvollzuges Möglichkeiten, im Gegensatz dazu neue normative Ordnungen herauszubilden und selbst Macht zu erlangen. Im Zusammenhang mit dem Beispiel der Macht kann auch Verdrängung innerhalb der genealogischen Betrachtung der Moral gefasst werden. Ein Bewusstsein von Verdrängung ist demnach denkbar, wenn sich die Möglichkeit, einen Gegensatz zur bestehenden Verdrängung herzustellen, bietet sowie ein Gegensatz zur bestehenden Macht hergestellt werden kann. Dieser Gegensatz zur Verdrängung wird erstens möglich, wenn der Geltungsanspruch einer gegebenen normativen Ordnung einer Wertvorstellung auf einen sozialen, kulturellen sowie historischen Kontext relativiert wird. Zweitens, wird er möglich, wenn andere Möglichkeiten zur Gestaltung des Lebens durch Schaffung anderer normativer Strukturen eröffnet werden. Ein Subjekt begreift sich dann also nicht mehr als unabänderlich zu konkreten Verhaltensweisen bestimmt, sondern als verdrängt. Zudem kann es dann selbst gestaltende Macht über sein Leben gewinnen, um Verdrängung zu überwinden. 165 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Kritische Studienausgabe Band 5. 9. Aufl. Berlin/New York 2007, § 4.
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Im zweiten Punkt zeigt sich nun ein Problem. Zum einen zeigt sich in diesem Punkt die Möglichkeit der Überwindung von Verdrängungen, in normativen Ordnungen, die eine »Verneinung des Lebens« darstellen. Zum anderen wird aber Verdrängung damit nicht allgemein ausgeschlossen. Die neue normative Ordnung sowie die damit womöglich einhergehenden Veränderungen von Machtverhältnissen können neue Verdrängungen zur Folge haben, wenn etwa das Machtverhältnis, und damit das Verhältnis von Täter und Opfer, bloß umgekehrt wird. Aus dieser Auffassung des zweiten Punktes ließe sich etwa folgern, dass jede Bestimmung einer normativen Ordnung zwangsläufig Verdrängung zur Folge hat, sich dabei nur die Arten der Verdrängung ändern und andere Gruppen von Personen von Verdrängung betroffen sind. Somit ginge das Übel der Verdrängung mit dem Bestehen einer jeglichen normativen Ordnung einher. Lediglich in Ereignissen wie revolutionären Bewegungen und im performativen Durchbrechen einer normativen Ordnung, durch etwa Protestverhalten, bestünde noch ein Moment der von Verdrängung frei ist. 166 Sobald eine neue normative Ordnung entsteht, entsteht jedoch wieder Verdrängung. Ist diese Konsequenz unausweichlich, stellen sich normative ethische Ansprüche, der Verdrängung etwas entgegenzustellen, als grundsätzlich verkehrt dar. Es gilt also zu zeigen, dass diese Konsequenz nicht unausweichlich ist, also unter endlichen Bedingungen ein Ausweg aus einem ewigen Zirkel der Verdrängung möglich ist. Die im zweiten Punkt genannte Möglichkeit zur Herausbildung neuer normativer Ordnungen ist folglich so zu verstehen, dass daraus nicht immer wieder neue Verdrängung entsteht. Christoph Menke liefert eine Auffassung der genealogischen Betrachtung der Moral, die auf diese Herausforderung eingeht, indem er die Gestaltung des Lebens einer Person mit der Auffassung einer normativen Ordnung verbindet. Er erläutert diese Verbindung anhand des Zusammenhanges des normativen Gehalts eingeübter vernünftiger Vermögen, der die praktische Subjektivität bestimmt, mit »ästhetischer Subjektivität«. Durch »ästhetische Subjektivität« wird eine Differenz zum normativen Gehalt praktischer Vermögen aufgemacht, weil dadurch eine 166 In den Schriften Judith Butlers findet sich der Versuch, diesen Punkt darzustellen und dieses Durchbrechen zu verstehen. Vgl. Ders.: Kritik der ethischen Gewalt. Übersetzt durch Rainer Ansén und Michael Adrian. Frankfurt am Main 2003, besonders S. 86 und S. 93.
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Lebendigkeit zum Ausdruck kommt, die nicht als gelingende Ausübung praktischer Vermögen und der damit verbundenen Teilnahme an sozialen Praktiken bestimmt ist. 167 Sie ist, anders als die Subjektivität in der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten, nicht durch die Allgemeinheit einer Norm gebunden, sondern sie stellt eine Lebendigkeit dar, die vernünftigen Fähigkeiten vorausliegt. Durch sie werden die »dunklen Kräfte eines Subjekts« zum Ausdruck gebracht, die noch nicht zu einer Fähigkeit geformt sind, und somit nicht durch normative Erklärungsstrukturen beleuchtet werden. 168 Das Schaffen des Künstlers, der sich nicht allein innerhalb normativer Strukturen bewege, sondern in seinem »Spiel der dunklen Kräfte« etwas schaffe, das darüber hinausgehe, stellt nach Menke somit ein Vorbild für denjenigen dar, der die Frage nach dem guten Leben stellt. Denn im Schaffen des Künstlers, also in dessen Lebendigkeit, tritt die Differenz von normativem Gehalt vernünftiger Vermögen, der Scheitern und Gelingen unterscheidet, und »des Guten, das in der Lebendigkeit liegt« 169 hervor. In dieser Differenz kann erst nach dem guten Leben gefragt werden, das durch erworbene vernünftige Fähigkeiten nicht vollständig bestimmt werden kann. Durch Menkes ästhetische Anthropologie wird die genealogische Betrachtung der Moral als Erinnerung an das verstanden, was der Einübung vernünftiger Fähigkeiten voraus liegt. Dadurch wird freigelegt, was zwischen der partikularen, materiellen Bedingtheit und dem allgemein, unbedingt verbindlichen Gut der Vernunft liegt, ohne dass dieses, wie in der substantiellen Deutung der Sittlichkeit, die Einheit beider Seiten darstellt. Vielmehr wird die Unabgeschlossenheit dieses Verhältnisses begriffen und somit zugleich freigelegt, was einem Subjekt über den normativen Gehalt vernünftiger Fähigkeiten hinaus noch möglich ist. Durch diese Erinnerung wird nun nicht ein abstrakter Bezugspunkt vorgestellt, der außerhalb der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten liegt. Es wird hingegen in die Ausübung vernünftiger Fähigkeiten das »ästhetische Spiel der dunklen Kräfte« einbezogen. Hier zeigt sich die Verbindung beider Seiten. Sie liegt in der ständigen Transformation der Ausübungsweise vernünftiger Fähig167 Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main 2008, S. 105 und S. 118–119. 168 Vgl. hierzu auch Kapitel 6 in Sabina Lovibond: Ethical Formation. Cambridge Mass./London 2002. 169 Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt am Main 2008, S. 121.
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keiten zur Realisierung einer Praxis. Sie lassen ständige Überschreitungen und somit die Eröffnung neuer Möglichkeiten zu. Die Subjektivität eines Subjekts besteht demnach nicht allein darin, sich dem normativen Gehalt, der die Ausübung vernünftiger Fähigkeiten bestimmt, anzupassen, sondern darin, sich selbstzuerschaffen, indem es diesen ständig überschreitet und transformiert. Diese Selbsterschaffung zeigt sich darin, dass die normative Abwertung einer Handlungsweise als gescheitert oder wertlos zu einer Handlungsmöglichkeit, die einen Wert für die Lebensgestaltung eines Subjekts hat, umgedeutet werden kann. 170 Hier wird die freie Gestaltung des Lebens zusammen mit einer normativen Ordnung gedacht, indem diese als nie zu Ende bestimmte und immerfort zu transformierende Praxis des freien Subjekts, das sich selbst erschafft, gedacht wird. Das oben genannte Problem des zweiten Punktes der genealogischen Betrachtung der Moral, dass aus jeder neue Wertvorstellung neuen Verdrängung folge, besteht dann nicht, da eine Differenz zum normativen Gehalt vernünftiger Fähigkeiten in der Struktur von deren Ausübung, insofern damit deren ständige Transformation einhergeht, ausgemacht wird. Diese Art der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten wird durch die Freiheit zur Selbsterschaffung gefasst. Die Möglichkeit der Freiheit der Person, aus der Transformation und Wandel von Praktiken zur Überwindung von Verdrängung verständlich wird, stellt sich somit als unser Thema dar. Die genealogische Betrachtung der Moral stellt die Bedeutung der Freiheit der einzelnen Person heraus, die mehr ist als der normative Gehalt eingeübter Fähigkeiten. Somit wird der Gegensatz zur Verdrängung der Person möglich. Die Frage der Ethik verlagert sich dann auf den Gegensatz zwischen der Freiheit der Person und deren Verdrängung. Die genealogische Betrachtung der Moral führt zu dieser Verlagerung, da ihr folgend die Freiheit der Person zur Selbsterschaffung zunächst als Gegensatz zu normativen Bestimmungen und Bedingungen der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten auftritt. An der Freiheit der Person zeigt sich die Begrenztheit des Begriffs der Sittlichkeit, da sie sich nicht durch die Reflexion auf die normativen Bedingungen und Bestimmungen sittlicher Praktiken erschöp170 Auf diesen Punkt geht Dirk Setton umfassend ein, vgl. Dirk Setton: Unvermögen. Die Potentialität der praktischen Vernunft. Zürich 2012, vgl. vor allem S. 203; S. 209– 213. Auf Seite S. 281 sagt er, dass im Scheitern neben der Irrationalität auch der Weg einer zukünftigen Rationalität liege.
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fend fassen lässt. Somit stellt sich hier die Frage, wie durch einen Begriff der Freiheit der Person, der sich aus der Differenz zu sittlichen Praktiken und darin angelegten Möglichkeiten der Verdrängung ergibt, das ethisch Gute möglich wird. 171
II.
Die Freiheit der Person
Der vorherige Abschnitt I. zeigt, dass mit Bezug auf mögliche Verdrängung Geltungsansprüche im Sittlichen kritisch befragt werden können. Dieser Abschnitt behandelt die Frage, wie ausgehend von einem Verständnis der Freiheit der Person, die nicht in einer bestimmten Vorstellung vom Sittlichen aufgeht, ein Gegensatz zur Verdrängung gedacht werden kann, wodurch sie als überwindbarer Mangel an Gutem gedacht werden kann. Die Freiheit der Person zur Selbsterschaffung ist ungenügend, um den Gegensatz zur Verdrängung zu begreifen (§ 1). Es ist hingegen ein Begriff der Freiheit der Person zu formulieren, mit dem ein Bewusstsein von Verdrängung einhergeht, insofern die Person aus Freiheit zu ihrem Gegensatz, dem Bösen, fähig ist (§ 2). Durch einen Begriff der Wahlfreiheit wird diese Möglichkeit zum Bösen nicht verstanden (§ 3). Kants Analyse des Bösen folgend, ist sie als Selbstwiderspruch einer Person zu begreifen, der durch Freiheit möglich wird, aber ausgehend von der Freiheit der Person nicht begriffen werden kann. Somit können wir Kant folgend nur die Grenze ethischen Wissens bestimmen (§ 4).
1.
Selbsterschaffung
Die Freiheit der Person stellt den Gegensatz zur Verdrängung dar. Ihre Freiheit besteht, indem sie eine Differenz zum normativen Ge171 Daraus, dass Verdrängung im Verhältnis zu anderen Personen dargestellt wurde, folgt hier noch nicht, dass auch die Freiheit der Person in einem Begriff von Intersubjektivität oder ethischer Gemeinschaft aufgeht. Bevor Formen der Intersubjektivität oder ethischer Gemeinschaft zum Thema werden können, gilt zunächst zu fragen, ob eine Person ihr Leben überhaupt innerhalb des Begriffs des allgemein, unbedingt verbindlich Guten begreifen kann, damit ausgehend von dieser Differenz der normative Anspruch der philosophischen Reflexion auf das ethisch Gute eingelöst wird. Dass das nur in einer bestimmten Form des Bezugs auf andere möglich ist, wird erst in Kapitel 5 gezeigt.
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halt, der die Ausübung praktischer Fähigkeiten bestimmt, aufmacht. Möglich wird diese Differenz durch eine genealogische Betrachtung der Moral. Es gilt nun weiterführend zu untersuchen, wie diese zu fassen sei, um dadurch der Herausforderung der Verdrängung gerecht zu werden. Durch diese Differenz wird ein Raum für Kritik, Entwicklung und Wandlung von Wertvorstellungen eröffnet. Weil in der Möglichkeit zu Kritik, Entwicklung und Wandlung von Wertvorstellungen die Person als freies Subjekt herausgestellt wird, liegt darin zugleich die Möglichkeit für einen Umgang mit Verdrängung als dessen Gegensatz. Die Freiheit versteht sich zunächst als Freiheit zur Selbsterschaffung, die kritisieren, entwickeln und verwandeln kann, weil sie eine Differenz zu normativen Bestimmungen und Bedingungen aufmacht. Ausgehend von der Freiheit des Subjekts zur Selbsterschaffung wird also das ethisch Gute möglich, insofern eine Differenz zu gegebenen Wertvorstellungen möglich wird. Doch erweist sich eine Auffassung der Möglichkeit zu Kritik, Entwicklung und Wandlung von Wertvorstellungen, die allein von der Freiheit des Subjekts zur Selbsterschaffung ausgeht, als unvollständig, da sie Verdrängung nicht ausschließen kann. Denn genauso wird dadurch auch die Durchsetzung beliebiger Motive und Möglichkeiten, die dem ethisch Guten widersprechen, möglich. Eine zufällig durch die Freiheit des Subjekts als Selbsterschaffung motivierte Differenz konfligiert beispielsweise nicht mit der Beschränkung ihrer Ausübung auf eine Gruppe oder Elite. Folglich kann sie ohne Bezug auf ein allgemein, unbedingt verbindliches Gut gedacht werden und stellt nicht notwendig einen Gegensatz zur Verdrängung dar. 172 Es mangelt hier also noch an einer Erklärung dafür, wie die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten begriffen werden können, die nicht sein dürfen. Um diese Erklärung zu geben, bedarf es eines Ausgangspunktes, von dem aus kein Widerspruch gegen das Leben von Personen selbst beoder entstehen darf. 173 Die Freiheit des Subjekts kann also in dieser 172 Vgl. hierzu auch Susan Neimans Darstellung von Nietzsche in ihrem Buch Evil in Modern Thought, wo sie feststellt, dass Nietzsche eher das Leiden an einem Weltschmerz als praktischen Widerspruch zugrunde legt (Susan Neiman: Evil in Modern Thought. An Alternative History of Philosophy. 7. Aufl. Princeton 2004, S. 223.) 173 Auch Foucaults Auffassung genealogischer Kritik als eine Kritik, die nach den praktischen Folgen normativer Standpunkte fragt, hilft hier nicht weiter. Hier geht es darum zu verstehen, was einzelne Personen als Verdrängung konkret fassen können. (vgl. etwa Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Eva Erdmann / Rainer Forst / Axel Honneth (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung.
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Differenz nicht allein als Selbsterschaffung verstanden werden, sondern nur in Bezug auf den Anspruch der Vernunft, der das allgemein, unbedingt verbindlich Gute beinhaltet, wodurch erst der Gegensatz zur Gefahr der Verdrängung, als das, was nicht sein darf, begriffen werden kann. Wird der Widerspruch und der eröffnete Raum für Kritik, Entwicklung und Wandlung von Wertvorstellung allein aus der Freiheit der Person zur Selbsterschaffung erklärt, kann das immer noch die Verdrängung anderer einschließen. Angesichts von Verdrängung, die Fremde und Schwache betrifft, wird die Ausrichtung auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute aber eingefordert, indem sie zunächst die Frage danach aufwirft, ob überhaupt ein Raum für die Lebendigkeit einer Person besteht. Besteht auch für den Fremden die Möglichkeit, über den normativen Gehalt gegebener Praktiken hinauszugehen, oder werden sie hingegen als Gefahr für diese betrachtet? Ist die Bedingung gegeben, dass Schwache ihrer Lebendigkeit Ausdruck verleihen können? Eine Auffassung von Differenz zu und ständiger Transformation von normativen Bestimmungen und Bedingungen der Ausübung von Praktiken, die diese Fragen ausschließt, bleibt auf eine verengte Perspektive beschränkt, die nicht zum allgemein, unbedingt verbindlich Guten fähig ist. Die Freiheit der Person kann also nicht allein in Differenz zu normativen Bestimmungen und Bedingungen gefasst werden. Im Bewusstsein der Verdrängung wird der Raum für Kritik, Entwicklung und Wandlung von Wertvorstellung ausgehend von diesen Fragen nach den Fremden und Schwachen eröffnet, womit er aus einem Widerspruch motiviert wird, der sich aber auch gegen das Leben von Personen als solches richten kann, unabhängig von ihrem zufälligen Zustand. Wie kann nun ein Gegensatz zur Verdrängung der Person gefasst werden, wenn sie durch einen Begriff der Sittlichkeit nicht gefasst und durch die Freiheit als Selbsterschaffung nicht ausgeschlossen werden kann? Den Gegensatz zur Verdrängung stellt die Freiheit der Person dar, die zur Ausrichtung auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute fähig ist, also ihr Leben gestaltet, ohne zu verdrängen. Das heißt umgekehrt, erst im Bewusstsein der Verdrängung und dem damit einhergehendem Widerspruch gegen die Freiheit der Person Übersetzt durch Eva Erdmann und Rainer Forst. Frankfurt am Main/New York 1990.) und Raymond Geuss: Genealogy as Critique. In: Ders.: Outside Ethics. New Jersey 2005, S. 155 ff.
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selbst besteht eine Ausrichtung auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gut der Vernunft. Das Problem des Begriffs der Freiheit als Selbsterschaffung liegt also darin, dass sie nicht aus diesem Gegensatz begriffen wird. Die Freiheit der Person hat hingegen die Möglichkeit von Verdrängungen, die alle Personen betreffen können, insofern jede Person irgendwo fremd sein und jede Person alt, krank und schwach werden kann, einzubegreifen. Der Raum für Kritik, Entwicklung und Wandlung von Wertvorstellung wird erst dann als Raum für ethische Begründungen dargestellt, wenn er im Bewusstsein dieses Widerspruches auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gut der Vernunft ausgerichtet ist. Hier zeigt sich, inwiefern ausgehend von der Freiheit der Person ein negatives Verhältnis zu normativen Bindungen im Sittlichen möglich wird und dadurch ein Raum für Kritik, Entwicklung und Wandlung von normativen Ansprüchen möglich werden kann.
2.
Freiheit und ihr Gegensatz
Fassen wir zusammen: Erstens, die Freiheit der Person stellt den Gegensatz zur Verdrängung der Person dar, da sie in Differenz zu normativen Bestimmungen und Bedingungen der Ausübung von Fähigkeiten zur Ausübung einer ethischen Praxis steht. Es wird begriffen, dass sich das ethisch Gute darin nicht erschöpfend bestimmen lässt. Zweitens, die Freiheit der Person steht nicht prinzipiell normativen Bindungen entgegen, da sie dann Verdrängung als Widerspruch ausgeliefert bleibt. Es wird begriffen, dass die Freiheit der Person nicht allein eine Befreiung von normativen Bestimmungen und Bedingungen darstellt, sondern die Bindung an allgemein, unbedingt verbindlich Gutes erst denkbar macht. Aus dem Gegensatz der Freiheit der Person und der Verdrängung der Person wird die normative Bindung an allgemein, unbedingt verbindlich Gutes somit zum Thema. Vor dem Hintergrund des Problems der Verdrängung, das sowohl die Grenze der substantiellen als auch der formalen Deutung des Begriffs der Sittlichkeit darstellt, ist Ethik allein möglich, sofern die Freiheit der Person als Gegensatz der Verdrängung begriffen werden kann. Ethik wird also nicht zuerst durch einen Begriff der Einheit von partikularer, materieller Bedingtheit und dem allgemein, unbedingt verbindlichem Gut der Vernunft in einem Begriff der Sittlichkeit möglich, durch den die Freiheit des Willens im Guten bestimmt wird. Die Negativität des Sittlichen
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Durch das Problem der Verdrängung wird hingegen der Widerspruch beider Seiten bewusst und im Lebensvollzug einer Person verortet. Die Freiheit der Person ist hier folglich, als Gegensatz zur Verdrängung, somit aus diesem Widerspruch, zu begreifen. In diesem besteht die Freiheit der Person als Form einer Subjektivität, die in ihrer Unbestimmtheit und Negativität besteht. Als Gegensatz zur Verdrängung ist die Freiheit der Person demnach zunächst wie folgt zu verstehen: (1) Die Freiheit der Person besteht in der Negativität zu materiellen Bestimmungen, denen sie als endliches Wesen unterliegt. Sie ist gegenüber gegebenen endlichen, sittlichen Praktiken unbestimmt. Ein negatives Verhältnis zu Bestimmungen und Bedingungen ermöglicht Freiheit. Diese Formulierung der Freiheit der Person ist für sich stehend leer, soll sie ein Verständnis davon liefern, wie eine Person als endliches Wesen sich aus Freiheit bestimmen kann. Die Endlichkeit der Freiheit besteht darin, dass sie sich zu ihrem Gegensatz verhält, der sie begrenzt und ihr zunächst als Widerspruch entgegen tritt. Dieser Widerspruch kann einmal durch die Natur als äußere Macht erklärt werden. Als Widerspruch gegen das Leben der Person stellt sich die Natur dar, wenn sie sich als unbeherrschbar darstellt, wie sie sich zum Beispiel im Erdbeben von Lissabon gezeigt hat. Mit Verbreitung der Nachricht vom Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 begann seiner Zeit eine Debatte über die Frage, ob die Welt angesichts solch schrecklicher Ereignisse, die das Leben von tugendhaften Personen vernichten, überhaupt als Gottes gut geordnete Schöpfung begriffen werden kann. Die Frage, die diese Debatte zum Gegenstand hat, die Theodizeefrage, reicht jedoch über den Rahmen der Ethik, wie wir ihn hier fassen, hinaus. Da wir uns im Rahmen der Ethik befinden, die ausgehend vom Begriff der Sittlichkeit formuliert wird, handelt es sich hier um Widersprüche innerhalb einer durch endliche Subjekte geschaffenen Realität. Widersprüche gegen das Leben von Personen betreffen die Ethik in diesem Rahmen, wenn sie geschaffen sind. 174 Aufgrund dieser Unterscheidung verschiedener Arten von Widersprüchen gegen das Leben von Personen wird auch Auschwitz, gegenüber dem Erdbeben von Lissabon, als das Ereignis dargestellt, in dem nicht die Natur den Menschen bedroht, sondern dessen eigenes 174 Heute gehören dazu natürlich auch Umweltkatastrophen, deren Ursachen in der menschlichen Beeinflussung des Klimas und der Zerstörung der Umwelt liegen.
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Die Freiheit der Person
Schaffen, das als zweite Natur nicht Leben ermöglicht, sondern diesem als Macht entgegentritt. Im Bereich dessen, was von Personen geschaffen ist, stellt sich dann die Frage nach einer Ethik, die solche Widersprüche, in die Personen sich selber oder andere bringen, begreiflich machen kann. 175 Erst dann ist die Endlichkeit und die damit einhergehende Möglichkeit zur Verdrängung und Fehlbarkeit der freien Person vollständig verstanden. In dieser Unterscheidung zwischen der Freiheit im Gegensatz zur Natur, die ihr als Widerspruch entgegen treten kann, und der Freiheit im Gegensatz zur Verdrängung, die als zweite Natur, als aus Freiheit Geschaffenes, auftreten kann, ist Freiheit im Zusammenhang mit einem zweiten Punkt zu verstehen: (2) Eine Person begreift die Verdrängung, durch die die Gestaltung ihres Lebensvollzuges bestimmt wird, als Widerspruch gegen ihre Freiheit. Die Endlichkeit der Freiheit wird begriffen, indem dargestellt wird, wie Personen in der Lage sind, aus Freiheit einen Widerspruch hervorzurufen und mit diesem umzugehen. Die Freiheit der Person rückt somit ins Zentrum der Ethik. Da durch (1) alleine nicht die Widersprüche erfasst werden können, die aus Freiheit selbst hervorgehen können, bedarf es einer Erweiterung in (2), durch die Verdrängung, als Widerspruch gegen das Leben, in den Begriff der Freiheit der Person aufgenommen wird. Erst im Zusammenhang von (1) und (2) kann begriffen werden, wie eine Person aus Freiheit mit Verdrängung umgehen kann. Die Freiheit als Unbestimmtheit, wie in (1) genannt, ist dazu nicht hinreichend. Dann bleibt sie leer. Ein Bewusstsein ihrer Unbestimmtheit und Negativität kann sie erst konkretisieren und lokalisieren, wenn sie es im Gegensatz zur Verdrängung begreift, als über diese hinausreichend. Dann kann die Freiheit der Person, dem, 175 Theodor W. Adorno sagt in seiner Negativen Dialektik, es gelte ein neuer kategorischer Imperativ, und zwar, »daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« (Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Band 6. 4. Auflage. Frankfurt am Main 1990, S. 358.). Mit Bezug auf die Theodizeefrage findet sich eine Darstellung bei Regina Ammicht Quinn: Von Lissabon nach Auschwitz. Zum Pradigmenwechsel in der Theodizeefrage. Freiburg im Brsg. 1992. Eine Darstellung des ideengeschichtlichen Zusammenhanges findet sich bei Susan Neiman: Evil in Modern Thought. An Alternative History of Philosophy. Princeton 2002, S. 253–254.
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Verdrängung und Freiheit
was ihr entgegengesetzt ist, gegenübergestellt werden. Durch (2) wird der Gegensatz, der in Verdrängung besteht, in die Freiheit einbegriffen. Die Freiheit der Person ist nicht allein aus dem Verhältnis zur Natur, in deren Ordnung sie sich verwirklichen kann, zu verstehen. Das Verhältnis zur durch Naturgesetze bestimmten Natur, wie sie etwa in der Debatte um die Willensfreiheit 176 theoretisch diskutiert und im natürlichen Tod praktisch erfahren wird, berührt noch nicht die Frage der Verdrängung als Widerspruch gegen die Freiheit, die im äußersten Fall als unnatürlicher Tod, durch Fremdeinwirkung oder Selbsttötung erfahren wird. Wenn hier von Freiheit oder der freien Person als Gegensatz zur Verdrängung die Rede ist, dann betrifft das also nicht allein das Verhältnis von Welt und Geist, denn Verdrängung kann nur auftreten, wo ein solches Verhältnis schon besteht. Sie betrifft den Widerspruch zur Freiheit, die durch freie Wesen selbst geschaffen ist, und wie eine zweite Natur sich als einschränkender Gegensatz darstellen kann. In der Möglichkeit dieses Widerspruches zeigt sich zugleich, dass die Freiheit der Person nicht erschöpfend durch historische sittliche Praktiken begriffen werden kann. Aus dieser Positionierung der Freiheit der Person kann erst der normative Anspruch der Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten begriffen werden, weil die Person aus einer Lage gedacht wird, die nicht durch eine historisch bedingte Auffassung von Fähigkeiten zum guten, tugendhaften Handeln oder durch formale Bedingungen vorbestimmt ist. Die Freiheit wird hingegen aus der Negativität und Unbestimmtheit einer Person gegenüber den konkreten Umständen einer Situation begriffen. Die substantielle Deutung der Sittlichkeit kann diese Negativität und Unbestimmtheit nicht fassen, weil sie im Rahmen der internen Normen von praktischen Fähigkeiten die Umstände von Situationen einer Person begreift, in denen vom Negativen schon immer zu einer Bestimmung zum Guten, also einer guten, ethischen Praxis, übergegangen wurde. Die formale Deutung der Sittlichkeit kann prozedurale Bedingungen negativ zu den Umständen einer Situation begreifen, doch kann diese Negativität nicht in der Person, die sich in den Umständen dieser Situation befindet, lokalisiert werden. Der Übergang zu einer Bestimmung des guten, freien Lebens bleibt somit bloß ein nicht erreich176 Ich verweise hier auf diejenige Debatte um Willensfreiheit, die z. B. Geert Keil diskutiert: Geert Keil: Willensfreiheit. Berlin/Bosten 2013.
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Die Freiheit der Person
bares Ziel und nicht einlösbares Versprechen. Hier gilt es die Freiheit der Person ohne einen Übergang, eben im Widerspruches zu begreifen. Das heißt, die Freiheit der Person, die das ethisch Gute aufgrund der Möglichkeit von Verdrängung einbegreift, gilt es aus ihrer Unbestimmtheit und Negativität zu begreifen.
3.
Freiheit zur Wahl
Bei Kant findet sich eine Darstellung der Freiheit, die sich in der Spannung von partikularer, materieller Bedingtheit und allgemein, unbedingt verbindlich Gutem begreift, ohne dass ein Begriff der Einheit beider Seiten schon gegeben ist. Die Darstellung dieser Auffassung von Freiheit, die zwischen beiden Seiten steht, ohne einer begrifflichen Bestimmung von deren Einheit vorauszusetzen, findet sich in Kants Religionsschrift, in der er auf die »Gesinnung« der Person eingeht: »Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein, und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muss durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden.« 177 Eine Person nimmt eine Norm einer Handlungsweise (eine Maxime) selbst an, womit sie ihr zugerechnet werden kann, das heißt, sie realisiert eine Weise zu handeln nicht aufgrund zufälliger Umstände, sondern verhält sich aktiv und selbstbestimmt zu dieser. Doch dass sie eine Maxime aus einer »Gesinnung« als »erstem subjektiven Grund« aufnimmt, zeigt, dass der Ausgangspunkt hier nicht allgemeine Bestimmungen des Begriffs einer Einheit, wie der Sittlichkeit, darstellt. Dass eine Person sich aus dem »ersten subjektiven Grund« aktiv verhält, wird erst ausgehend von der Freiheit der Person, die in ihrer Unbestimmtheit besteht, denkbar (vgl. Formulierung (1) im vorherigen Abschnitt II.2). Allein aufgrund dieser Unbestimmtheit kann sie sich in Differenz zum Sittlichen, also entgegen Verdrängung, begreifen. Aber wie aus diesem Begriff von Freiheit auch ein Begriff von Verdrängung zu verstehen ist, gilt es im Folgenden zu erklären. Denn ohne dass eine Formulierung von Freiheit im Zusammenhang mit Verdrängung gefasst wird (vgl. die Formulierungen (1) und (2) im vorherigen Ab177 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, B 14–15.
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schnitt II.2), wird die Freiheit der Person nur unvollständig begriffen, weil sie sich dann nicht zu ihrem Gegensatz verhalten kann, sondern diesem ausgesetzt bleibt. Dabei stellt sich die Herausforderung zu erklären, wie eine Person ihre Lebensrealität aus einem »ersten subjektive[n] Grund der Annehmung der Maximen« als widersprüchlich und somit im Zusammenhang mit Verdrängung begreifen kann. Hier sind immer zwei Möglichkeiten zu berücksichtigen: Erstens, eine Person, die verdrängt wird, muss sich frei und aktiv, also bewusst, zu ihrer Situation verhalten können, die der Ausübung ihrer Freiheit widerspricht. Zweitens, eine Person, die ihre Freiheit ausübt, indem sie andere verdrängt, muss ein Bewusstsein der Widersprüchlichkeit ihres Verhaltens herausbilden können. Kants Zeitgenosse Carl Leonhard Reinhold entwickelt in Auseinandersetzung mit dessen Moralphilosophie eine Auffassung von Freiheit, für welche Gutes und Böses einen Gegenstand der Wahl darstellt. Er definiert Freiheit wie folgt: »[…] im positiven Sinne ist sie das Vermögen der Selbstbestimmung durch Willkür für oder gegen das praktische Gesetz.« 178 Dieses Verständnis der Freiheit des Willens geht vom Begriff der Freiheit aus, nach dem sie selbst gegenüber dem praktischen Gesetz, das vernünftigem Handeln zugrunde liegt, indifferent ist, weil sie von diesem unabhängig ist. 179 Dieser Begriff der Freiheit ist unabhängig von einem normativen Zusammenhang, der sie bestimmt, zu denken. Dadurch kann sie erst als Fähigkeit, sich »für oder gegen« X oder Y zu bestimmen, gedacht werden. Nach der negativen Einsicht in die Begrenztheit der Sittlichkeit gegenüber dem Lebensvollzug der einzelnen Person, stellt dieser Begriff der Freiheit somit zunächst den plausiblen Ausgangspunkt dar: (1’) Die Freiheit der Person besteht in der Fähigkeit zur Wahl zwischen verschiedenen Handlungsweisen X und Y, die in materiell bestimmten Kontexten ihres Lebensvollzuges gegeben sind. Diese Fähigkeit zur Wahl zwischen verschiedenen Handlungsweisen besteht erst aufgrund der Freiheit von einer konkreten Bestimmung durch Handlungsnormen und -weisen von gegebenen sittlichen Praktiken.
178 Carl Leonard Reinhold: Erörterung des Begriffs von der Freiheit des Willens. In: Rüdiger Bittner / Konrad Cramer (Hrgg.): Materialien zu Kants »Kritik der praktischen Vernunft«. Frankfurt am Main 1975, S. 256. 179 Traditionell wird dieser Begriff von Freiheit als liberum arbitrium indifferentiae diskutiert.
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Es gilt nun jedoch zu zeigen, wie diese Auffassung der Freiheit der Person deren Verdrängung einbegreifen kann. Es bedarf also eines Maßstabes für die Unterscheidung von einer guten und einer schlechten Wahl, an die sich eine Person bei der Ausübung ihrer Freiheit bindet. Der Bezug auf die Verdrängung könnte somit mit Bezug auf die Gesinnung 180 der Person begriffen werden, aus der sie wählt. (2’) Eine gute Gesinnung, die auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gute ausgerichtet ist, ist Voraussetzung dafür, dass eine Person aus den Handlungsweisen X und Y nicht diejenige auswählt, die diesem widerspricht und zu Verdrängung führt. In der Formulierung von (2’) wird ein normativer Maßstab für die Ausübung der Wahlfreiheit angesetzt, ohne dass dieser der Fähigkeit, diese Freiheit auszuüben, intern ist. Es wird hingegen von einer Verbindung zu einem externen Maßstab ausgegangen, an dem eine Person sich bei der Ausübung ihrer Wahl orientiert. Bei der Ausübung der Wahlfreiheit kann eine Person in Verbindung zu einem externen Maßstab auf zweifache Weise scheitern; je nachdem, ob die Verdrängung von ihr ausgeht oder ob Verdrängung ihr geschieht. Erstens kann eine Person scheitern, weil sie verführt wird, entgegen ihrem Gewissen Böses zu tun. In diesem Fall wird ihre Perspektive eingeengt und sie verdrängt andere. Zweitens kann eine Person, die die ihr zur Wahl stehenden Optionen nicht klar erkennt, scheitern und deshalb unklug oder entgegen ihres Gewissen wählen. Dieser Fall ist daraus zu erklären, dass eine Person verdrängt wird, weil ihr Kompetenzen und Mittel zur gelingenden Ausübung ihrer Freiheit fehlen. Diese beiden Optionen, um ausgehend von der Wahlfreiheit das Scheitern einer Person am ethisch Guten zu erklären, führen in zwei Problemkomplexe. Der erste Problemkomplex besteht, weil die Erklärung der Verführung einer Person zum Bösen den Bezug auf einen Punkt außerhalb der Person verlangt. Es müssen der Person äußer180 Der Bezug auf die Gesinnung führt nun nicht notwendig zu einer Position, nach der eine Auffassung des guten Lebens als Privatsache betrachtet wird, was im Namen sogenannter Gesinnungsethiken verteidigt oder diskreditiert wird. Dann endete man in einer Gegenüberstellung von »Gesinnungsethiken« und »Verantwortungsethiken«, wie sie mit Bezug auf Max Weber diskutiert wird. Vgl. Max Weber: Politik als Beruf (1919). In: Ders.: Gesammelte Politische Schriften. 5. Aufl. Tübingen 1988, S. 441–449.
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liche Einflüsse, Kräfte oder Mächte erfasst werden, die sie dazu bewegen, gegen die auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute gerichtete Gesinnung zu handeln. Eine Vorstellung und Kenntnis äußerlicher Einflüsse müsste gegeben sein, damit eine Person Verdrängung verstehen kann. Die Möglichkeit der Existenz solcher Einflüsse, Kräfte oder Mächte, etwa als dämonische Kraft, wird hier nicht prinzipiell ausgeschlossen, doch können sie nicht zur Erklärung des Bösen herangezogen werden, da damit metaphysische Annahmen eingeführt würden, die die ganze Untersuchung auf eine andere Ebene als die der Freiheit der Person verlagerten, womit eine neue Begründungslast aufgetragen würde. Von dieser Begründungslast befreit uns aber gerade die negative Einsicht in die Begrenztheit der Sittlichkeit und die daraus folgende Auffassung der Freiheit der Person. Der zweite Problemkomplex besteht darin, dass die Voraussetzung, eine wählende Person müsse Klarheit über ihre Wahloptionen haben, ebenso wiederum die Annahme eines der Person äußerlichen Standards verlangt, um sie als verdrängt begreifen zu können. Die Möglichkeit Klarheit über Wahloptionen zu haben, ist verbunden mit einem bestimmten Ideal von der rationalen Kompetenz, Transparenz über alle Optionen sowie die eigenen Intentionen zu erlangen. Dieses Ideal stellt eine Abstraktion vom situativ bedingten partikularen Lebensvollzug einer Person dar, in dem Unbestimmtheiten und Uneindeutigkeiten unvermeidlich sind. 181 Auch in diesem Problemkomplex zeigt sich also, dass er zu metaphysischen Annahmen in Form eines Standpunktes, der Klarheit über Wahloptionen ermöglicht, führt. Diese Annahmen sollen aber hier nun gerade vermieden werden, indem auf das ethisch Gute innerhalb des Lebensvollzuges einer Person reflektiert wird. Ausgehend von der Auffassung der Freiheit als Wahlfreiheit wird der Zusammenhang von (1’) und (2’) nur mit Bezug auf weitere Annahmen möglich. Ohne diese weiteren Annahmen bleibt die Wahlfreiheit unbestimmt und leer, weil sie nicht ihren Gegensatz gegenüber ihrer Unbestimmtheit und Negativität begreift, und somit Verdrängung ausgesetzt bleibt. Das heißt, die Ausübung von Wahlfreiheit kann mit Bezug auf eine externe Instanz als misslungen oder schlecht begriffen werden. Reinhold sieht in seiner Auffassung »po181 Iris Murdoch kritisiert dieses Ideal von Rationalität aufgrund seiner Voraussetzung von »crystal clear intentions« – Iris Murdoch: The Sovereignty of Good. London/New York 2014, S. 36.
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sitiver Freiheit« die konsequente Folgerung aus Kants Auffassung der Freiheit der Willkür, als Vermögen, eine Maxime auf sich zu nehmen 182. Doch die normative Unterscheidung von Gut und Böse, somit das Bewusstsein von Verdrängung, bleibt dem Gebrauch der Freiheit selbst äußerlich. Doch wir finden bei Kant selbst eine Alternative zur Auffassung der Freiheit der Willkür, welche ein Verständnis der normativen Unterscheidung von Gut und Böse erlaubt, das dem Gebrauch der Freiheit einer Person immanent ist. Er bestimmt sie als »das Vermögen der praktischen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein« 183 (vgl. hierzu auch Kapitel 2, Abschnitt I.1). Demnach stellt die »Freiheit der Willkür« also das praktische Vermögen einer Person dar, ihre Lebensvollzüge innerhalb der Allgemeinheit zu bestimmen, die für ihre Freiheit selbst konstitutiv sind. Die Möglichkeit des Scheiterns ist dann als Möglichkeit der Freiheit zum Selbstwiderspruch, also der ihr konstitutiven Normen zu widersprechen, zu verstehen. Das heißt Scheitern führt zu einer Beschädigung des eigenen Lebens oder des Lebens anderer, da es dessen Gedeihen und Gelingen widerspricht. Es verdrängt die Person beim Leben und ruft Leid hervor. Somit ist im Folgenden zu zeigen, wie eine Person, die in ihren Überlegungen und Tätigkeiten darauf abzielt, sich im Guten zu bestimmen, einen Selbstwiderspruch als solchen verstehen kann, indem sie Normen und Weisen zu handeln, zu denen sie sich bestimmt, durch die interne, konstitutive Norm der Freiheit als Weg zum Gelingen und Gedeihen oder eben als Misslingen und Beschädigung des Lebens begreifen kann.
4.
Freiheit zum Bösen
Wir stehen nun vor der Herausforderung, zwei konfligierende Einsichten verbinden zu müssen: Wird die Freiheit der Person unabhängig von einem normativen Zusammenhang betrachtet, kann Verdrängung als Widerspruch zur Freiheit nur mit Bezug auf eine äußere normative Ordnung oder durch äußere Mächte erklärt werden, was aber wiederum metaphysische Annahmen aufbürden wür182 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, B 12. 183 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, B 6.
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de. Wird die Freiheit der Person hingegen innerhalb der Normen vernünftiger Fähigkeiten erklärt, kann Verdrängung nicht begriffen werden, wie in Abschnitt I.2 gezeigt wurde. Sie kann nur durch einen Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute erfasst werden, der unabhängig von der Ausübung vernünftiger Fähigkeiten zu betrachten ist. 184 Im ersten Teil von Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft findet sich eine Darstellung der Freiheit der Willkür, die beiden Einsichten gerecht wird. Ein Begriff von Verdrängung wird dort innerhalb der Freiheit der Person möglich, da deren Negativität und Unbestimmtheit in der Möglichkeit des Bösen dargestellt wird. Das Böse stellt eine Möglichkeit endlicher Freiheit dar, da diese zum Widerspruch gegen das Leben von Personen fähig ist. Die Verdrängung als Herausforderung für eine Auffassung des Sittlichen führt also zu einer bestimmten Auffassung des Problems des Bösen, das dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten entgegensteht. Das Problem des Bösen kann einmal ausgehend von der Frage nach der Theodizee betrachtet werden. Dann ist nicht primär von der Freiheit der Person auszugehen, sondern von der Frage danach, wie Gott als allmächtig und wohlwollend angesichts von erfahrenem Übel gedacht werden kann. Uns stellt sich hier hingegen das Problem des Bösen ausgehend von der ethischen Fragestellung nach dem sittlichen, guten Leben von Personen. Diese Fragestellung hat auch immer die Möglichkeit der Verdrängung, die dem ethischen Leben widerspricht, mit einzubegreifen. 185 Ausgehend von der ethischen Fragestellung stellt die Möglichkeit des Bösen zuvorderst ein Problem der Freiheit der Person dar. Der Widerspruch zum allgemein, unbedingt verbindlich Guten, den das Böse darstellt, führt dann zur Verdrängung, wenn es aus Freiheit im Lebensvollzug einer Person realisiert wird. Verdrängung kann also als genuine Herausforderung der Freiheit der Person verstanden werden, insofern sie aus ihrer Möglichkeit zum Bösen selbst hervorgeht. Nur im ZusammenDieses Dilemma wird auch nicht durch die Trennung der Handlungsrationalität von der ethischen Frage gelöst, wie Candace Vogler in ihrem Buch Reasonable Vicious (Cambridge Mass./London 2002, S. 180–184.) argumentiert. Ethik ist vielmehr nur unter einer höheren Synthese beider Seiten möglich. 185 Das entspricht Ricoeurs Ansatz, das Böse ausgehend von Gefühlen und Handeln zu begreifen, da die Frage danach innerhalb des Lebensvollzuges von Personen auftritt. Vgl. Paul Ricoeur: Evil, a Challenge to Philosophy and Theology. In: Journal of the American Academy of Religion. LIII/3 (1985), S. 635–636. 184
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hang mit Freiheit, im Gegensatz zur Verdrängung, ist ein ethisches Leben denkbar. Zugleich ist in der Freiheit aber auch der Gegensatz zum ethischen Leben angelegt, insofern sie zum Bösen fähig ist, somit das Leben verdrängt und nicht befördert. Die Möglichkeit des Bösen kann erst ausgehend von der negativen Einsicht in die Unbestimmtheit der Freiheit der Person mit Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute als Herausforderung für die ethische Frage nach dem sittlichen Leben begriffen werden. Nach der Einsicht, dass der Optimismus über die fortschreitende Entwicklung ethischer Fähigkeiten und Praktiken aufzugeben ist, werden Subjektivität und Freiheit der Person zum Thema. (vgl. Kapitel 2, Abschnitt III.1). Nach der Einsicht, dass sich die formalen Prinzipien der gelungenen Selbstverwirklichung als ungenügend zur Bestimmung einer guten ethischen Praxis erweisen, lässt sich kein fester Ausgangspunkt innerhalb der Freiheit als Selbstbestimmung finden (vgl. Kapitel 2, Abschnitt III.2–3). Ausgehend von diesen Einsichten, ist die Freiheit der Person als negativ und somit aus ihrer Unbestimmtheit zu begreifen. Das zeigt sich darin, dass sie zu ihrem eigenen Widerspruch – zum Selbstwiderspruch – fähig ist. Auszugehen ist nach dieser Einsicht von Kants Antinomie der praktischen Vernunft. Dann ergibt sich die Möglichkeit des Bösen als Herausforderung einer ethischen Fragestellung, da die Handlungsweisen, die dem moralischen Gesetz entsprechen, immer erst noch bestimmt werden müssen (vgl. Kapitel 2, Abschnitt I.1). 186 Die Möglichkeit des Bösen liegt dann nicht primär im fehlerhaften Vollzug eines kognitiven Vorganges, dessen Maßstab im moralischen Gesetz liegt, sondern es besteht erst, weil die Freiheit aus der Unbestimmtheit der Person heraus begriffen wird und somit zum Bösen fähig ist. In der Möglichkeit des Bösen stellt sich der Lebensvollzug freier Personen als Ort der Negativität der Freiheit der Person in Bezug auf das ethisch Gute sowie die damit zusammenhängende Unbestimmtheit, dar. Mit Bezug auf den ersten Teil von Kants Religionsschrift wird die Möglichkeit des Bösen aus der inneren Struktur der Freiheit verständlich. Kant geht dort von einer Unterscheidung der Anlage des
186 Kants Formulierung eines moralischen Gesetzes ist also nicht als kognitives Prinzip zu verstehen, auf das zur Identifizierung von Bösem Bezug genommen werden kann, wie etwa Christine Korsgaard argumentiert. Vgl. Christine M. Korsgaard: The Right to Lie. Kant on Dealing with Evil. In: Philosophy and Public Affairs. 15/4 (1986), S. 332.
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Menschen zum Guten und dessen Hang zum Bösen aus. 187 Beide werden in drei Stufen dargestellt. Die Analyse der Anlage des Menschen zum Guten setzt bei der »Tierheit des Menschen« an, welche eine Art der »Selbstliebe« im Sinne des Selbsterhaltungstriebes eines Lebewesens darstellt. Die nächste Stufe stellt die »Anlage zur Menschheit« dar, welche in der »Selbstliebe« rationaler Lebewesen besteht. Dieser ist der kulturell und rational gezügelte Umgang mit Bedürfnissen spezifisch, der durch Übung erlangt wird. Auf der dritten und höchsten Stufe steht die »Anlage für die Persönlichkeit«. Diese stellt keine Art der Selbstliebe dar, sondern wird von Kant als die »Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz« beschrieben. 188 Auf dieser dritten Stufe findet ein radikaler Wandel der Perspektive auf die Selbsterhaltung, auch in Form eines kulturell und rational gezügelten Umgangs mit Bedürfnissen, statt. Auf dieser Ebene kann eine Person danach fragen, ob das, was sie zur physischen Selbsterhaltung und in Übereinstimmung mit den rationalen Standards kultureller Praktiken tut, dem moralischen Gesetz, das allgemein, unbedingt verbindlich gilt, entspricht. Die ersten beiden Stufen, die Arten der Selbstliebe darstellen, machen Ursachen und Gründe begreiflich, die Personen allein aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit antreiben oder motivieren. Auf der dritten Stufe wird erst eine Ebene greifbar, auf der die Person durch mehr bestimmt ist als durch materielle Gegebenheiten und erworbene Fähigkeiten. Sie »[…] fängt vom unsichtbarem Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen unsichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemein, notwendiger Verknüpfung erkenne.« 189 Auf dieser dritten Ebene kann die Person erst als freie betrachtet werden, weil sie sich dort zum Gut der Vernunft verhält, das sich aufgrund seiner Allgemeinheit und unbedingten Verbindlichkeit nicht in die materiellen Umstände ihres Lebensvollzuges auflösen lässt, sondern Negativität behält. Ausgehend von diesen Erläuterungen zu
187 Ders.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, B 18. 188 Alle Zitate: Ibidem, B 18–19. 189 Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Werkausgabe Band VII. Frankfurt am Main 1974, A 289.
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Die Freiheit der Person
Kants Anlagen des Menschen zum Guten, ist die Freiheit der Person wie folgt zu fassen: (1’’) Die Freiheit der Person besteht nicht zuerst in der Einheit mit, sondern in der Differenz zur materiellen Welt, die durch den Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute der Vernunft erst möglich wird. Es gilt nun zu erklären, wie aus der Anlage des Menschen zum Guten zu verstehen ist, wie eine Person ihr Leben im Sinne eines ethischen Lebens vollziehen kann. Das erklärt sich aus dem Verhältnis der drei verschiedenen Ebenen, auf denen Kant die Anlage des Menschen zum Guten darstellt. Man könnte nun meinen, die dritte Ebene sei im Gegensatz zu den anderen beiden, deren Prinzip Selbstliebe ist, zu betrachten. Allgemein lässt sich diese Annahme mit Verweis darauf entgegnen, dass von einer partikularen Person ausgegangen wird, die ihre partikularen Bedürfnisse als Lebewesen und den kulturellen, rationalen durch Übung gezügelten Umgang mit diesen nicht einfach hinter sich lassen kann. In Kants Darstellung zeigt sich dies, da er die dritte Stufe als Verhältnis von »Selbstliebe« und »Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz« und nicht als eine davon separate Ebene versteht. Die »Selbstliebe« als Titel für die Gestaltungsweise des materiell bedingten Lebens stellt die Grundlage für eine individuelle Existenz unter materiellen Bedingungen dar. So verstanden ist sie als unhintergänglich zu betrachten. Der Wandel der Existenz eines materiell bedingten Individuums auf der dritten Stufe besteht also darin, dass die Gestaltung und der Erhalt der eigenen Existenz, also die »Selbstliebe«, sich nicht primär an der Befriedigung von physischen Bedürfnissen (Tierheit) und das Denken sich nicht allein auf einen gezügelten Umgang mit diesen (Menschheit) beschränkt. Auf der dritten Stufe wird die Selbstliebe der einzelnen Person im Sinne der Tierheit und der Menschheit erhoben und gewandelt, sodass durch sie das ethisch Gute bewirkt werden vermag. Die Selbstliebe einer Person wird dann als Medium des Guten begriffen und nicht als dessen Gegensatz. Der Zusammenhang von Leben und dem ethisch Guten wird dann erst begreifbar. 190 Aus Kants Erklärung, wie aus der Anlage zum Guten zu ver190 An dieser Stelle sehen wir die Bedingung der Möglichkeit einer ethischen Konversion (vgl. Kapitel 2).
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stehen ist, wie eine Person ihr Leben im Sinne eines ethischen Lebens vollziehen kann, folgt die Möglichkeit des Bösen. Da die »Anlage für die Persönlichkeit« allein aus der Unbestimmtheit der Person zu begreifen ist, erfolgt die Erhebung der Selbstliebe zum Medium des Guten nicht zwangsläufig. Nach Kant sehen wir zunächst allein die Grenzen der Ethik, die nicht den Optimismus zulassen, jede Weise des Erhaltes und des Vollzuges der materiell bedingten Existenz führe zum ethisch Guten. In der »Anlage für die Persönlichkeit« liegt nach Kant deshalb zugleich der Hang zum Bösen. Ein Hang zum Bösen stellt also nicht eine Alternative oder einfach einen Gegensatz zur Anlage zum Guten dar. Kant beschreibt den im Menschen angelegten Hang zum Bösen wiederum in drei Stufen, was vermuten lässt, dass diese direkt mit den drei Stufen der Anlage korrespondieren. Doch besteht keine direkte Korrespondenz, sondern der Gang durch diese Stufen setzt bereits bei der »Anlage für die Persönlichkeit« an, da das moralisch Böse in Bezug auf das moralische Gesetz zu begreifen ist und es sich ansonsten um andere Arten des Mangels und Leides handelte, aber nicht um solche, die einem ethischen Leben widersprechen. 191 Der Hang zum Bösen wird in einer neuen Stufenleiter dargestellt, die innerhalb der »Anlage für die Persönlichkeit«, also innerhalb der Freiheit der Person, als deren Möglichkeit zu verstehen ist. Das daraus hervorgehende Böse kann dann erst innerhalb des logisch vorgänglichen Begriffes des ethisch Guten als Mangel von diesem begriffen werden. Auf der ersten Stufe hat eine Persönlichkeit einen Hang zum Bösen aufgrund ihrer »Gebrechlichkeit« 192, wenn sie unvermögend ist, trotz guten Willens auch gute Handlungen zu vollziehen; wie wenn eine erkannte Grausamkeit aufgrund fehlender Mittel nicht verhindert werden kann. Auf der zweiten Stufe hat sie einen Hang zum Bösen aufgrund ihrer »Unlauterbarkeit« 193, wenn sie noch weiterer Motive bedarf als der Orientierung am ethisch Guten alleine, also auch äußerer Zwang oder Berechnung eine Rolle spielen; 191 Kant begründet diesen Ansatzpunkt mit folgender Unterscheidung: »Aller Hang ist entweder physisch […] oder er ist moralisch […]. Im ersten Sinn gibt es keinen Hang zum moralisch Bösen; denn dieser muß aus der Freiheit entspringen; und ein physischer Hang […] zu irgendeinem Gebrauche der Freiheit, es sei zum Guten oder Bösen, ist ein Widerspruch. Also kann ein Hang zum Bösen nur dem moralischen Vermögen zur Willkür ankleben.« (Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Werkausgabe Band VIII. Frankfurt am Main 1977, B 25–26.) 192 Ibidem, B 22. 193 Ibidem, B 23.
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wie wenn etwas Grausames geschieht, eine Person aber willensschwach ist und wegschaut, weil sie sich nicht die Laune verderben lassen will. Auf der dritten Stufe habe sie einen Hang zum Bösen aufgrund von »Verderbtheit« 194, welche darin besteht, ein zufälliges Motiv als Verständnis der Allgemeinheit des ethisch Guten auszugeben und zur Geltung zu bringen, obwohl es diesem widerspricht; wie wenn eine Grausamkeit gar nicht als solche gesehen wird, sondern die Weise zu handeln, aus der sie hervorgeht, als vermeintlich das ethisch Gute befördernd betrachtet wird. Dann wird ein Motiv der Selbstliebe als Realisierung des ethisch Guten gedeutet, widerspricht diesem aber zugleich. Die Freiheit gerät in einen Selbstwiderspruch. Was aus Freiheit als ethisch Gut bestimmt wird, widerspricht diesem. Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen können wir einen Begriff vom Bösen und folglich der damit einhergehenden Verdrängung innerhalb der Freiheit der Person fassen: (2’’) Die Möglichkeit der Freiheit zum Bösen, das dem allgemein, unbedingt verbindlichen Gut der Vernunft entgegensteht, stellt die Möglichkeit des Selbstwiderspruchs der Freiheit der Person dar. Verdrängung ist somit mit Bezug auf die partikulare Vorstellung vom Guten, durch die eine Person ihr Leben vollzieht, zu begreifen. Verdrängung geht also aus dem Bösen, einer verkehrten Vorstellung des ethisch Guten, hervor. Eine Person muss dem allgemein, unbedingt verbindlichen Gut der (praktischen) Vernunft eine Bestimmung geben. Weil dieses seine Negativität in jeder einzelnen Bestimmung behält, kann es dabei zu einer verkehrten Vorstellung vom ethisch Guten kommen. Die freie Person ist also für das ethisch Gute als Maßstab ihres Lebensvollzuges empfänglich und kann sich dazu wandeln oder aber sich in einer bloß scheinbaren Einheit des Guten begreifen, die diesem widerspricht. Ist Letzteres der Fall, ist das Böse radikal (Kant), der Partikularwille wird als Allwille dargestellt 195 (Schelling), welches zur Allgemeinheit des ethisch Guten prinzipiell einen Widerspruch darstellt. Das Scheitern besteht auf dieser Ebene nicht in einem bloß materiellen Mangel, sondern in einer prinzipielVgl. Ibidem, B 23. F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Hamburg 1997, S. 61.
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len Verfehlung, die aus der Aktivität der Selbsterhaltung und -bestimmung hervorgeht. Das Handeln einer Person stellt dann nicht die Ausübung praktischer Vernunft dar. Das heißt, sie handelt nicht in der Einheit des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, welche die konstitutive Bedingung des Bestehens der Freiheit darstellt, sondern betrachtet eine zufällige Vorstellung der Einheit ihrer verschiedenen Handlungsvollzüge – was auch in sozialen und politischen Bezügen als Ideologie bezeichnet wird. 196 Wir sehen also, dass Böses zu tun, in der Freiheit der Person liegt, weil sie zum Selbstwiderspruch fähig ist. 197 Doch da das Böse, Kants Analyse folgend, nur unter Voraussetzung der Negativität und Unbestimmtheit der Freiheit der Person begriffen werden kann, folgt zugleich, dass eine Begründung dafür, was eine Person zur Übereinstimmung mit dem ethisch Guten in seiner Allgemeinheit und unbedingten Verbindlichkeit führt und vom Widerspruch des Bösen abwendet, nicht mehr angegeben werden kann. 198 Insofern kann Verdrängung in der Freiheit der Person verortet werden, aber nicht die Alternative dazu, deren Vermeidung, erfasst werden. Die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute zeigt mit Bezug auf die Möglichkeit zum Bösen jedoch Grenzen auf, weil sie aus der Freiheit eine Bestimmung zum Guten die Unbestimmt der Person und die Negativität des ethisch Guten begreift. 199 Diese Grenze kann im Zusammenhang der folgenden beiden Punkte eingesehen werden: Erstens, es ist einer Person möglich, sich aus Freiheit in einen Selbstwiderspruch zu begeben. Dieser Selbstwiderspruch stellt nicht bloß eine theoretische Möglichkeit dar, sondern eine reale, praktische Möglichkeit in ihrem Leben. Das heißt, die Möglichkeit eines Selbstwiderspruchs stellt eine Möglichkeit im Leben einer Person dar, der 196 So bestimmt auch Schelling das Böse als Möglichkeit der Freiheit. Vgl. Ibidem, S. 42. 197 Vgl. Paul Ricoeur: Schuld, Ethik und Religion. In: concilium 6 (1970), S. 384–393. 198 Diese Folgerung stellt Paul Ricoeur dar in Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, wo er sagt: »Das Rätsel ist seither der ›Sprung‹ vom Fehlbaren zum bereits Fehlgegangenen […].« (Übersetzt durch Maria Otto. 2. Aufl. Freiburg im Brsg./München 1989, S. 185.) 199 Der Bezug auf Freiheit stellt einen Unterschied zu Badious Deutung des Bösen dar, der es im Subjekt verortet, das sich gegen einen Wahrheitsprozess stellt. Somit wird das Böse durch das Subjekt erklärt, aber nicht dessen Gegensatz, der im Wahrheitsprozess und dessen Kontinuität liegt, der über das Subjekt hinausreicht. Vgl. Alain Badiou: Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen. Übersetzt durch Jürgen Brakel. Wien 1993, S. 90–94.
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Die Verletzlichkeit der Person
ausgelebt werden kann. Zweitens, der Widerspruch in den eine Person sich begeben kann, kann als solcher nicht erkannt und verstanden werden, da ihr kein Maßstab für die Unterscheidung von Gutem, das das Leben von Personen befördert, und Bösem, das dem Leben von Personen widerspricht, gegeben ist. Eine Person weiß also aufgrund ihrer Freiheit um die Möglichkeit des Widerspruchs, verfügt aber nicht über das Wissen und die Fähigkeiten diesen zu verhindern – sie begreift sich allein im Widerspruch zwischen ihren partikularen, materiellen Bedingungen und dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten und nicht, wie im Begriff der Sittlichkeit, in deren Einheit. Deshalb stellt Kant diese Grenze auch in seiner Religionsschrift dar, da die Unterscheidung von Gut und Böse für ihn, nicht allein durch endliche Fähigkeiten bestimmt werden kann. Im Folgenden ist zu zeigen, wie, ausgehend von dieser Einsicht in die Grenzen einer Bestimmung der Freiheit der Person, ein Umgang mit Verdrängung möglich ist. Ausgehend von dieser Einsicht in die Begrenztheit der Ethik, kann erst das praktische Verhalten einer Person in Ausrichtung auf die Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlichen Gut der praktischen Vernunft, begriffen werden.
III. Die Verletzlichkeit der Person Die Möglichkeit der freien Person zum Bösen und somit zum Selbstwiderspruch weist über die konkrete Gestalt des Sittlichen hinaus. Die Person behält gegenüber dem Bereich endlich vernünftigen Lebens, den die philosophische Ethik erfassen kann, Negativität und begreift in ihrer Freiheit ihre Unbestimmtheit. Der Ursprung der Verdrängung kann somit erklärt werden, aber die Möglichkeit eines Umgangs mit dem praktischen Problem der Verdrängung der Person bleibt unbegriffen. In diesem Abschnitt wird der Zusammenhang des Sittlichen und der Möglichkeit der Freiheit zum Bösen ausgehend von deren Unbestimmtheit und Negativität dargestellt. Es wird also deren Zusammenhang gedacht, ohne dass die Bedingung der Einheit beider Seiten abschließend formuliert wird. Zunächst ist mit Hannah Arendt das Problem des Bösen als ein praktischen Problem zu begreifen (§ 1). Das erfordert eine Interpretation der Frage »Was soll ich tun?«, die konkrete Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, einbegreift (§ 2). Es drängt sich die Frage auf, ob eine ethische Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« aus Freiheit überhaupt Die Negativität des Sittlichen
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möglich ist oder ob das nur durch eine Umdeutung von Verfehlungen und Verletzungen in Bezug auf Transzendentes möglich ist (§ 3). Es wird gezeigt werden, dass eine ethische Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« möglich ist, wenn ein ethisches Bewusstsein von Personen durch einen Begriff von ethisch-praktischer Relevanz und Bedeutung dargestellt wird (§ 4).
1.
Die Banalität des Bösen
Die Einsicht in die Grenzen der Ethik, die die Reflexion auf die Möglichkeit des Bösen aufzeigt, steht der Möglichkeit eines Verständnisses von Verdrängungen innerhalb der Freiheit der Person als Bösem und somit als Selbstwiderspruch der Person nicht entgegen. Ein solches Verständnis wird möglich, indem eine andere Perspektive auf die beiden Punkte, in denen die Reflexion die Grenzen der Ethik ausmacht, eingenommen wird. Kant folgend wurde diese Grenze ausgehend vom Verhältnis der Person als Akteur zur Negativität und Unbestimmtheit des ethisch Guten bestimmt. Dieser Ansatz geht von der Ausübung praktischer Fähigkeiten einer Person aus, sich zu einer Vorstellung des ethisch Guten zu bestimmen. Diese Fähigkeiten kann sie erstens widersprüchlich ausüben und Böses tun. Zweitens kann sie diesen Widerspruch, das Böse, als Akteur nicht selbst verstehen. Ein Verständnis dieses Widerspruchs wird erst möglich, wenn die Ausübung praktischer Fähigkeiten in konkreten praktischen Zusammenhängen betrachtet wird. Ohne die mögliche Verdrängung zu sehen, kann auch gelungene von misslungener Ausübung praktischer Fähigkeiten nicht unterschieden, und somit auch nicht begriffen werden, wie Böses vermieden und Gutes möglich ist. Es wird ein Perspektivwechsel nötig, der die in der Freiheit verortete Möglichkeit des Bösen aus praktischer Perspektive begreiflich macht. So wird eine Auseinandersetzung mit dessen Realisierung im Verlaufe der Zeit in verschiedenen Situationen erst möglich. Dieser Perspektivwechsel wird vollzogen, indem erstens gefragt wird, wie Böses und Gutes die einzelne Person in ihrem praktischen Lebensvollzug betrifft, und zweitens, wie diese Person dann aus dieser Betroffenheit ein konkretes Bewusstsein für das unbestimmte Gute herausbildet und sich fragt, was zu tun sei. Kant vollzieht diesen Perspektivwechsel nicht innerhalb der Ethik, weshalb die Moral für ihn unumgänglich zur Religion führt, weil sie selbst unzulänglich ist, um diese Unterschei160
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dung zu machen. Das heißt, sie wird im Verhältnis einer Person zu Gott thematisiert. Der Hegel’sche Begriff der Sittlichkeit stellt den Begriff der Einheit von praktischem Lebensvollzug und allgemein, unbedingt verbindlich Gutem als Maß für die richtige Ausübung praktischer, vernünftiger Fähigkeiten dar (vgl. 2.I), bleibt aber unvollständig, weil er Verdrängung nicht ausschließen kann (vgl. 3.I). Hier ist nun ausgehend von der Möglichkeit des Bösen, ein Verständnis des Widerspruchs gegen das Leben von Personen innerhalb der praktischen Umstände des Sittlichen zu entwickeln, indem ein Perspektivwechsel von der Freiheit der Person zu deren Bewusstsein für die Auswirkungen des Bösen in konkreten Situationen und deren konkretem Bedürfnis zum Guten vollzogen wird. Das heißt, ausgehend von der konkreten, praktischen Gefahr der Verdrängung wird verstanden, wie eine Person sich im Verhältnis zum allgemein, unbedingt verbindlich Guten und somit frei unter den praktischen Umständen ihres Lebensvollzuges begreifen kann. Hannah Arendts Analyse des Bösen ermöglicht ein Verständnis eines solchen Perspektivwechsels auf die Möglichkeit des Bösen. Ausgehend von Arendts Betrachtung dieses Zusammenhanges wollen wir den Wechsel der Perspektive verstehen. Sie sagt: »Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.« 200 In diesem Zitat zeigt sich der entscheidende Unterschied von Arendts zu Kants Auffassung des Bösen: Während Kant das Böse in der freien Person verortet, die ihre Lebensvollzüge und ihr Handeln in einer verkehrten Ordnung begreift, liegt es für Arendt in der Abwesenheit von Personen, die sich frei zu ihrem Leben und dessen Sinnzusammenhang verhalten. 201 Das gegenüber Kants Auffassung tiefere Problem des Bösen für die Ethik besteht für sie, wenn Individuen zu Mitläufern, Technikern oder Bürokraten werden, die Befehle ausführen oder verbreiteten Auffassungen eines Gutes dienen, ohne sich frei zu ihrem Tun zu verhalten, indem sie sich dessen Inhalt und Sinn bewusst machen und in Frage stellen. 202 Sie spricht deshalb von 200 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Übersetzt durch Ursula Lutz, 9. Aufl. München/Zürich 2014, S. 101. 201 Ibidem, S. 127–128. 202 Hannah Arendts Beschäftigung mit dem Problem des Bösen wurde bekanntlich durch ihre Teilnahme als Prozessbeobachterin des Prozesses gegen Adolf Eichmann beeinflusst. In der auf ihren Beobachtungen beruhendem Buch Eichmann in Jerusalem stellt sie Eichmann als einen solchen Bürokraten dar, der nicht darüber nach-
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der Banalität des Bösen und nicht wie Kant von der Radikalität des Bösen. Das radikale Böse, von dem Kant spricht, stellt eine Verkehrung des Sinns ethischen Lebens, ist aber innerhalb des Begriffs ethischen Lebens zu fassen, weil der Zweck, der dem Leben von freien Personen widerspricht als Gut mit einem Anspruch auf allgemein unbedingte Verbindlichkeit vorgestellt wird. Die Banalität des Bösen, von der Arendt spricht, steht außerhalb des Sinns ethischen Lebens – es findet innerhalb einer banalen Auffassung des Lebens statt, innerhalb derer die Frage nach dem, was gut zu tun sei, nicht mehr in der Einheit des ethisch guten Lebens gestellt werden kann. Dann hört ein Mensch auf, freie Person zu sein, seine Existenz wird banal. Der Perspektivwechsel in Arendts Auffassung des Bösen ermöglicht ein anderes Verständnis des Zusammenhanges vom Scheitern der Person aus Freiheit und dem Bösem, das verdrängt, als bisher zugrunde gelegt wurde. Nicht in der Möglichkeit des Scheiterns, Verkehrten und Widerspruches wird Verdrängung als Gegensatz zur Freiheit der Person begriffen, sondern aus der Weise des Umgangs mit dieser Möglichkeit. Dieser Zusammenhang kann in den folgenden drei aufeinander aufbauenden Punkten dargelegt werden. Erstens, die Möglichkeit des Scheiterns und Widersprüchlichen ist Teil des Mangels, der dem Menschen als endlichem Wesen anhaftet und kann somit nicht beseitigt werden. Darin selbst liegt noch nicht das Böse und die Verdrängung. Zweitens, das Böse liegt nicht in der Begrenztheit der Erkenntnisfähigkeit und der Schwäche des Willens, sondern in der Indifferenz, Unwilligkeit und Unfähigkeit einer Person, sich mit der konkreten praktischen Möglichkeit des Scheiterns und dessen Folgen für andere Personen auseinanderzusetzen. Drittens zeigt sich somit, dass, so lange eine Person nicht indifferent, unwillig und unfähig ist sich mit der Möglichkeit des Scheiterns und Widersprüchlichen auseinander zu setzen, das ethisch Gute möglich ist, auch wenn keine allgemeine Fundierung oder ein Kriterium für dessen Erkenntnis gegeben ist. Die Person kann sich nicht als Akteur durch den absoluten Maßgedacht hat, für wen und was er eigentlich handelt (Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen. 11. Aufl. München/Zürich 2015, S. 57). In der Beschreibung Eichmanns ragen folglich die Stellen heraus, in denen sie dessen Umgang mit eigenen Zweifeln beschreibt, die ethische Aspekte seines Tuns nicht berühren, sondern eher die eigene Karriere (vgl. S. 204–209.). Auch wenn ihre Thesen, liest man sie als historische These über die Person Adolf Eichmann, als widerlegt gelten, ist der philosophische Gedanke, der darin artikuliert wird, gültig.
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stab ihres Lebensvollzugs begreifen, aber sie kann sich selbst, im Bewusstsein für die Wirkung ihres Tuns, befragen oder diesbezüglich befragt werden. Ihre Taten werden unter den praktischen Umständen einer konkreten Situation Bezug auf mögliche Opfer von Verletzungen betrachtet. 203 Die ethische Relevanz und Bedeutung der eigenen Verfehlung und und auch von Mangel an Exzellenz erfasst eine Person, indem sie den möglichen praktischen Folgen ihres Handelns für das Zusammenleben mit anderen, somit möglicher Opfer, eingedenkt. 204 Das Böse besteht hier nicht allein darin, dass jemand durch das Handeln eines anderen verletzt oder benachteiligt wird, sondern darin, dass diese Verletzung und Benachteiligung nicht als solche betrachtet wird. Wenn das Opfer nicht als solches betrachtet und der Täter sich nicht als solcher begreift, dann besteht nicht die Möglichkeit zur Vergebung, zum Gedenken und somit also schließlich der Vermeidungen der Verletzungen und Verfehlungen. Das größere Übel, als in der so oder so unvermeidbaren Möglichkeit des Scheiterns und damit einhergehender Verfehlungen und Verletzungen, die andere betreffen, besteht in der Auflösung der Person, die sich zur Möglichkeit von Verfehlungen und Verletzungen, die andere betreffen, verhält. Mit Bezug auf die eben aufgeführten drei Punkte, den Zusammenhang der Möglichkeit des Scheiterns und des Bösen betreffend, ist Ethik also nur möglich, wenn eine Person sich zu ihrem Tun und anderen Personen als mögliche Opfer von Verletzungen verhält. Dass es eine Person gibt und nicht vielmehr niemanden, stellt somit die Voraussetzung der Ethik dar. Der Begriff der Banalität des Bösen erfasst die Nichterfüllung dieser Voraussetzung und somit eine nicht auf sich genommene Freiheit, wie Arendt es bei Adolf Eichmann be203 Für die Wende zum Verständnis des Bösen, bei Arendt, aus dem Zwischenmenschlichen, wo Opfer als solche nicht gesehen werden, vgl. Wolfgang Heuer: Hannah Arendt über das Böse im 20. Jahrhundert. In: Detlef Horster (Hrsg.): Das Böse neu denken. Frankfurt 2006. 204 Wenn hier von »Folgen« die Rede ist, wird damit keine Nähe zum Konsequentialismus hergestellt. Nicht die Folgen entscheiden über die Güte der Handlung, sondern mit Blick auf die Folgen kann die Vorstellung vom Guten, aus der Handlungen vollzogen werden, erst thematisiert werden. Zum Verhältnis von Kants und Arendts Auffassungen des Bösen zeigt Richard J. Bernstein, dass Kants Auffassung des Bösen beschränkt ist, da er es ausgehend von der Person als voll verantwortlichen Akteur begreift. Für Arendt lieg das Problem eher im Mangel an Verantwortung und Akteurschaft. Vgl. Richard J. Bernstein: Radical Evil. Kant at War with Himself. In: María Pía Lara (Hrsg.). Rethinking Evil. Berkley/Los Angeles 2001, S. 85.
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obachtete. Dieser sei kein Bösewicht gewesen, der seine Ideologie mit aller Macht durchsetzten wollte, sondern habe ein banales Leben geführt, weil er nicht im Zwiegespräch mit sich selbst fragte, ob er mit sich selbst leben könnte, und somit sein Leben nicht in einem Rahmen betrachten konnte, der über den Horizont kleinbürgerlicher Gewohnheiten hinausgeht. 205 Aus Arendts Auffassung des Problems des Bösen folgt für den Fortgang dieser Untersuchung nun zweierlei. Erstens stellen nicht mehr das Scheitern und einzelne schlechte Taten das Hauptproblem dar. Dass Menschen scheitern und Schlechtes tun, scheint unvermeidbar. Dass Personen scheitern können, wird hingegen als Möglichkeit dazu begriffen, sich mit ihrem Scheitern auseinanderzusetzen, es zu erinnern und zu bereuen. Ethik ist also möglich, so lange eine Person sich zu ihrem Leben verhält und sich fragt, ob das, was sie getan hat, was sie tut oder was sie tun soll, gut sein kann. Zweitens wird von den Auffassungen des guten Lebens einzelner Person ausgegangen und diese hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und möglicher Widersprüche im eigenen Leben so wie im Verhältnis zu anderen befragt. Eine Person, die sich mit ihrem Scheitern und ihrer Widersprüchlichkeit auseinandersetzt, erinnert und bereut, kann einsehen, dass sie etwas Falsches, Schlechtes oder Böses getan hat oder dass sie die Möglichkeit dazu hat solches zu tun, auch wenn sie nicht vollständig bestimmen kann, was stattdessen Gutes zu tun sei. Da eine umfassende, absolute Unterscheidung von Gutem und Bösen nicht eingeholt werden kann, bleibt allein ein Umgang mit konkreten, praktischen Ereignissen oder Möglichkeiten des Scheiterns und Widersprüchen, denen Personen ausgesetzt sind, möglich. Nur eine Person, die sich zu möglichen Widersprüchen und deren Einfluss auf das eigene sowie das Leben anderer Personen verhält, kann für eine Einsicht in das ethisch Gute offen sein. 206 In diesem Verhalten der Person steht ein Bewusstsein von möglicher Verdrängung im internen Zusammenhang mit deren Freiheit, insofern erste nicht aus Scheitern, Verkehrungen und Widersprüchen folgt, so lange eine Person sich frei, befragend zu ihrem Lebensvollzug verhält. Nach Arendts Analyse des Bösen und damit einhergehender VerHannah Arendt: Über das Böse: Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Übersetzt durch Ursula Lutz. 9. Aufl. München/Zürich 2014, S. 81. 206 Arendt macht diese Verbindung selber nicht explizit, sondern fokussiert auf das politische Leben als der Ort, wo Fragen darüber, wie wir leben wollen und sollen, diskutiert werden. Vgl. Hannah Arendt: Vita Activa oder vom tätigen Leben. 9. Aufl. München/Zürich 2010, S. 22–27. 205
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drängung wird die Freiheit der Person also nur innerhalb einer Welt begriffen, in der Personen in Bezug aufeinander existieren und sich als fehlbare und verletzliche Wesen zueinander verhalten.
2.
Die Frage: »Was soll ich tun?«
Wissen vom ethisch Guten ist unter der Voraussetzung möglich, dass Personen ihr Leben befragen. Damit geht ein negatives Bewusstsein des ethisch Guten einher, also dass keine Vorbestimmung des Guten für eine Person verfügbar ist, sondern sich zu diesem fortwährend neu positioniert und danach gefragt werden muss. Die grundlegende Form dieser Befragung liegt in der Frage »Was soll ich tun?« Diese Frage stellt jemand, der sich nicht sicher ist, was zu tun sei, damit auch das wird, was sein soll. Die Möglichkeit und Weise, diese Frage mit dem Verlangen nach einem Verständnis dessen, was allgemein, unbedingt verbindlich gut ist, zu stellen, stellt einen Ausdruck der Freiheit der Person in Bezug auf andere Personen dar, die eine Antwort geben könnten. Es soll nun die Form der Art die Frage »Was soll ich tun?« zu stellen, herausgestellt werden, in der nach dem ethisch Guten gefragt wird. Nicht immer, wenn eine Person die Frage »Was soll ich tun?« stellt, will sie wissen, was ethisch gut ist. Eine Person, die bloß einer beliebigen Autorität untersteht, würde die Frage »Was soll ich tun?« im Sinne der Aufforderung »Sage mir, was gut zu tun ist« stellen. Sie hat dabei die Erwartung, dass ihr eine Autorität sagt, was sie in einer Situation angesichts gegebener Umstände tun soll. Deren Beantwortung kann in Form einer beschlossenen Regel, Anweisung, eines Befehls oder einer Vorgabe, wie »Wenn die Ampel rot ist, musst du stehen bleiben«, gegeben werden. Wenn eine Person bloß den Inhalt beschlossener Regeln, Vorgaben, Anweisungen oder Befehle als Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« bekommt, ist das Stellen dieser Frage nicht als Ausdruck ihrer Freiheit, sondern als Ausdruck von Anpassung, Unterwürfigkeit oder Fremdbestimmung zu verstehen. Das Stellen der Frage »Was soll ich tun?« ist als Ausdruck freien, aktiven Verhaltens einer Person zu betrachten, wenn sie sie stellt, um in einer Situation unter gegebenen Umständen selbst eine Entscheidung zu treffen. Dass sie die Frage »Was soll ich tun?« stellen kann, ist dann als Ausdruck ihrer Selbstbestimmtheit zu betrachten, weil sie sie in Erwartung einer Antwort stellt, die sie die Gründe sehen lassen, Die Negativität des Sittlichen
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die sie dazu überzeugen, dass unter gegebenen Umständen dieses und nicht jenes zu tun sei. Eine Person, die zur Selbstbestimmung fähig ist, muss also durch eine Antwort auf ihre Frage zugleich von Gründen überzeugt werden. Diese Unterscheidung zwischen den beiden Weisen die Frage »Was soll ich tun?« zu stellen, kann in den folgenden Schemata verdeutlicht werden: an Autorität: Frage: Was soll ich in Situation X tun? Antwort: Tue φ ist in Situation X, denn das ist nach gegebenen (sozialen) Standards geboten. aus Freiheit: Frage: Was soll ich in Situation X tun? Antwort: Tue φ in Situation X, und φ zu tun überzeugt, weil es gut ist. Exemplarisch für ein verbreitetes Verständnis für die Verschränkung von Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung und sozialen Praktiken argumentiert Ernst Tugendhat in seinem Aufsatz »Antike und moderne Ethik« 207 dafür, die freie, selbstbestimmte Wahl 208 eines Wertes als wünschenswert, zum Ausgangspunkt für die Bestimmung dessen, was ein gutes Leben ausmacht, zu nehmen. Tugendhat entwickelt diesen Ausgangspunkt in Gegenüberstellung zur »antiken Ethik«, die von einem Erziehungsprozess, der zum »substantiellen Wissen« 209 führe, ausgeht. Die »antike Ethik« könne keine Begründung ihres eigenen Geltungsanspruches liefern, sie sei dezisionistisch. Aus dem Verständnis von Freiheit als selbstbestimmter Wahl ließe sich demnach auch ein Verständnis der spezifischen Verletzlichkeit ethischer Wesen begreifen. Diese bestehe in einem Mangel oder in Einschränkungen selbstbestimmter Wahl. 210 Im Ausgang der Fähigkeit zur Selbstbestimmung scheint der Bruch, den Tugendhat als historischen Bruch von antiker und moderner Ethik darstellt, also unumgänglich. Es entsteht zwingend ein Widerspruch zum normativen Gehalt sozialer Praktiken, da diese erst vom sich selbstbestimmenden Subjekt als wünschenswert angenommen werden müssen und somit von Beginn
207 Ernst Tugendhat: Antike und moderne Ethik. In: Ders. Probleme der Ethik. Ditzingen 2002, S. 33–56. 208 Ibidem, S. 55. 209 Ibidem, S. 39. 210 Ibidem, S. 55.
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an ihre Gültigkeit hinterfragt wird. Die Verletzung und Einschränkung, die von diesen ausgeht, wenn sie selbst, vertreten durch Traditionalisten, einen Gültigkeitsanspruch ausüben, stellt sich dann als Verlust der Selbstbestimmung dar. Doch mit Tugendhats Gegenüberstellung zweier Perspektiven, aus denen die Frage »Was soll ich tun?« gestellt werden kann, ist noch nicht viel für ein Verständnis einer genuin ethischen Weise, sie zu stellen, gewonnen. Schematisch können beide Interpretationen als Blick nach oben, im Falle der antiken Ethik, und Blick auf mich, im Falle der modernen Ethik, unterschieden werden. Dass es unzureichend ist, die Frage »Was soll ich tun?« allein mit Blick nach oben zu stellen, ist nicht schwer einzusehen. Dann wird sie nicht aus Freiheit gestellt, sondern es besteht allein ein Bezug zur Autorität, die Befehle oder Ratschläge gibt, die unabhängig von deren Empfänger als gerechtfertigt gelten. Doch stelle ich die Frage »Was soll ich tun?« mit Blick auf mich, bedarf es einer weiteren Bestimmung dessen, was ich dort sehen kann. Ansonsten bleibt unklar, was eine Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« zu einer überzeugenden Antwort für eine freie, selbstbestimmte Person macht und was nicht überzeugen kann, weil es der eigenen Freiheit und Selbstbestimmung, dem »[…] Wie des Wollens […]« 211, widerspricht. Was der Weise des Wollens, dessen Wie, widerspricht, wird erst klar, wenn wir verstehen, durch welche Art von Ziel das Verhältnis einer Person zu einer Situation X bestimmt ist, und, wie in diesem Verhältnis, eine Person widersprechendes, verletzendes und zu tuendes Gutes unterscheiden kann. Die erste in Betracht zu ziehende Option besteht darin, das Verhältnis von Person zur Situation X ausgehend von deren internen Motiven und Wünschen zu begreifen: aus Freiheit nach Wünschen: Frage:
Was soll ich in Situation X tun? Antwort: Tue φ in Situation X, denn dadurch wird das Motiv des Wunsches A realisiert.
Gemäß dieser Auffassung der aus Freiheit gestellten Frage »Was soll ich tun?« sind mögliche Verletzungen am Ende lediglich darauf zurückzuführen, ob eine Person die Fähigkeit, frei verfolgte Wünsche 211
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und Motive zu realisieren, ausüben kann, also als Antwort ein Verständnis der Weise ihre Wünsche und Motive zu realisieren bekommen kann. Das Problem der Banalität des Bösen, wie eine Person sich aus Freiheit zu ihren Verfehlungen und daraus folgenden Verletzungen, die ihr Zusammenleben mit anderen betrifft, verhalten kann, wird durch dieses Verständnis der Frage »Was soll ich tun?« nicht erfasst. Es kann lediglich vermittelt gefragt werden, ob auch andere frei und selbstbestimmt ihre Wünsche und Motive realisieren können. Nun liegt die Alternative zu dieser Auffassung nicht darin, die Frage »Was soll ich tun?« in Bezug auf einen externen Bezugspunkt zu stellen. Das entspräche Tugendhats Antipoden der antiken Ethik, und die Frage »Was soll ich tun?« würde nicht aus Freiheit gestellt. Es ist also ein Weise des Stellens der Frage »Was soll ich tun?« zu bestimmen, die vom Verhältnis einer Person zu einer Situation X ausgeht, wodurch mögliche Verfehlungen und Verletzungen als Widersprüche gegen die Freiheit der Person begriffen werden. Verfehlungen und Verletzungen können wiederum nicht durch eine vorausgesetzte Vorstellung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten bestimmt werden. Das Verhältnis einer Person zur Situation X kann stattdessen nur auf ein allgemein, unbedingt verbindliches Gut verweisen und somit Widersprüche gegen die Freiheit der Person ausschließen, wenn sie von dessen Negativität und somit auch von der Unbestimmtheit bezüglich Motiven für eine Handlung φ ausgeht. Während Tugendhat sich allein auf das Wie des Wollens von Individuen beschränkt, wird dann ein Verständnis der Freiheit der fragenden Person denkbar, die Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gute nimmt, wenn sie beim Fragen auf mögliche Verfehlungen und Verletzungen Bezug nimmt. Wie dieser Bezug zu denken ist, der mehr darstellt als das »Wie des Wollens«, ohne in das, was Tugendhat »antike Ethik« nennt, zurückzufallen, sehen wir ausgehend von folgendem Schema der Weise die Frage »Was soll ich tun?« zu stellen: aus Freiheit nach ethischem Gut: Frage: Was soll ich in Situation X tun? Antwort: Tue φ in Situation X, denn dadurch werden ethische Verfehlungen und Verletzungen in Situation X vermieden und ein Verständnis einer guten bzw. besseren Handlungsweise wird möglich. 168
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Das ethische Verständnis der Frage »Was soll ich tun?« ist mit der Autorität eines festen Bezugspunktes oder Kriteriums, auf das sich der Fragende berufen kann, nicht vereinbar. Dennoch wird sich auf mehr bezogen als auf das Wie des Wollens, denn die Verortung des Fragenden in einer Situation geht hier mit einem Bewusstsein für Negativität und Unbestimmtheit des allgemein, unbedingt verbindlich Guten einher. Die Verortung einer Person in einer Situation wird, jenseits von Tugendhats beiden Antipoden, inhaltlich bestimmt, ohne damit der Freiheit der Person zu widersprechen. Wie ist diese Verortung der fragenden Person in einer Situation zu verstehen? Eine Person ist in einem sozialen Kontext, also Praktiken, Rollen und Konventionen, verortet. Das bedeutet, diese stellen den Rahmen dar, in dem sie handeln und sich ein Bewusstsein möglicher Antworten auf die Frage »Was soll ich tun?« herausbilden kann. In einem sozialen Kontext, in dem diese Frage gestellt wird, bildet sich zunächst ein Bewusstsein für verschiedene Handlungsmöglichkeiten heraus. Dieses im sozialen Kontext verortete Bewusstsein der fragenden Person wird mit Bezug auf allgemein, unbedingt verbindlich Gutes nochmal spezifiziert. Im Bewusstsein, das sie auf dieses ausrichtet fragt sie im situativ verorteten Bewusstsein der Gefahr von Verfehlungen und Verletzungen, die einen Widerspruch gegen das Leben von Personen darstellen. Erst in Bezug auf konkrete Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, bildet eine Person ein Bewusstsein von Widersprüchen heraus und nimmt aus Freiheit Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gute. Dieses Bewusstsein liegt im Ansatz der Bereitschaft und Erwartung einer Person, eine ethisch begründete Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« zu bekommen. Aus diesem Bewusstsein lässt sich bestimmen, für welche Antworten eine Person empfänglich ist. Im Bewusstsein des Mangels und der Gefahr der Verletzung und Verfehlung können für eine Person die Antworten überzeugend sein, die in einem Verhältnis zu (möglichen) Erfahrungen ethischen Leides stehen. Im Folgenden gilt es zu zeigen, unter welchen Bedingungen eine Person in ihrer kontextuellen und situativen Verortung ein Bewusstsein von Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, herausbilden und somit eine Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« geben und verstehen kann.
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3.
Entwertung der Ethik
Wir sehen nach dem eben Gesagten: Eine Person stellt die Frage »Was soll ich tun?«, wenn unbestimmt ist, was gut zu tun ist. Eine gute und richtige Antwort auf diese Frage liefert ein Verständnis davon, was in einer konkreten Situation zu tun ist. Auf ethische Weise wird die Frage aus dem Bewusstsein von Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen gestellt. Die konkreten Möglichkeiten und Gefahren einer Person, eine ethische Verfehlung zu begehen oder eine Verletzung zu erleiden, stellt die Bedingung für den Sinn möglicher Antworten auf die ethisch gestellte Frage »Was soll ich tun?« dar, da eine überzeugende Antwort zeigen muss, wie mit diesen Möglichkeiten und Gefahren umzugehen ist, so dass sie vermieden werden können. Die freie Person ist also vorausgesetzt, insofern sich nur an ihr zeigen kann, was gut ist. Aus dieser Voraussetzung ein Verständnis von Verfehlungen, Verletzungen und deren möglicher Überwindung innerhalb der Ethik zu liefern, verlangt, die Form der vernünftigen Aktivitäten von Personen darzustellen, durch die sie ein Bewusstsein von Verletzungen und Verfehlungen erlangen und diese überwinden kann. An diesem Punkt ist eine Abgrenzung vom Denken Søren Kierkgaards nötig, für den die Ethik selbst keine Erklärungskraft besitzt. Nach Kierkegaard hingegen wird, ein Bewusstsein von Widersprüchen und eine Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« zu geben, nur mit Transzendenzbezug möglich. Von Kierkegaards Folgerung auf die Wertlosigkeit der Ethik findet sich eine Darstellung in seiner Schrift Die Krankheit zum Tode. Sie findet sich dort in der Unterscheidung zwischen einem ethischen Maßstab für die Verzweiflung des Menschen, der in dessen Selbst liegt, und einem Verständnis der Verzweiflung vor Gott als Sünde. 212 Diese Unterscheidung motiviert Kierkegaard, indem er zeigt, dass jeder Versuch, einen ethischen Maßstab innerhalb des Selbst zu suchen, unvollständig bleibt und somit auch die selbständige Überwindung der Verzweiflung beschränkt bleibt. Das heißt, jeder Versuch, ein ethisches Maß zu fassen, bleibt beschränkt auf eine enge Perspektive, die dem Anspruch auf allgemeine, unbedingte Verbindlichkeit nicht aus der existentiellen Lage der einzelnen Person gerecht wird. 212 Vgl. Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Darlegung zur Erbauung und Erweckung. Übersetzt durch Gisela Perlet. Ditzingen 2002, S. 90–91.
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Das Bestreben, den Gegensatz von Gut und Böse zu verstehen, ist somit in sich begrenzt. Die Unterscheidung von Gut und Böse beruht bloß auf Meinungen über das Wesen des Menschen, auf Konventionen oder wird nur in abstrakten Reflexionsbegriffen philosophisch bestimmt. Kierkegaard zufolge könnte innerhalb der Ethik so keine überzeugende Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« gegeben werden, die für eine einzelne Person Sinn macht. Erst im Gegensatz von Sünde und Glaube, der im Verhältnis des Selbst zu Gott erfasst wird, kann ein richtiges Verständnis und ein Umgang mit Verletzungen und Verfehlungen wie auch Verzweiflung und Mangel gefunden werden. Da die erlernbare ethische Perspektive unzureichend ist, kann nur durch die Einlassung auf das Paradox des religiösen Glaubens 213, sich durch einen transzendenten ewigen Sinn zu begreifen, der nicht als Allgemeinheit begrifflich artikulierbar ist, eine Einsicht in die Sünde und unbedingt Gebotenes möglich werden. Diese Einlassung auf dieses Paradox stellt einen inneren Vorgang dar, der aber nicht aus Gründen oder Ursachen erklärt werden kann. 214 Erst im religiösen Bewusstsein kann eine Person aus ihrer existenziellen Situation heraus, und nicht durch die Allgemeinbegriffe, die sie in Ausübung vernünftiger Fähigkeiten erfasst, den Wert der Welt, des Lebens und den von anderen Personen sehen. Erst dadurch könnte die Leere eines bloß erträumten Lebens im Wohlstand und der Wert, sich für andere Personen aufzuopfern, obwohl das ein beschwerlicheres Leben mit sich bringen mag, begriffen werden. Mit Bezug auf das Paradox, sich durch begrifflich nicht Bestimmbares zu begreifen, wird die Ethik somit entwertet. Sie verliert ihren Wert für das Begreifen von Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen und dem Guten, durch die sie überwunden werden. Die Ethik wird, Kierkegaards Ansatz folgend, zu einem zufälligen Produkt menschlichen Strebens, das heißt, sie stellt nur eine begrenzte Betrachtungsweise neben anderen dar. Doch Kierkegaard beachtet nicht, dass das ethische Bewusstsein von Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen einen Widerspruch betrifft, der auch ohne Voraussetzung des religiösen Bewusst-
Vgl. zum Paradox des Glaubens: Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio. Werke III. Übersetzt durch Lieselotte Richter. Hamburg 1961, S. 28–29 und S. 51. 214 Im Kontrast zu einer Erklärung durch Ursachen und Gründe ist auch Kierkegaards bekannte Formulierung vom Sprung des Christwerdens zu verstehen. 213
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seins gefasst werden kann. Indem er von Letzterem ausgeht, setzt er eine innere Wandlung der Personen voraus, durch die eine Person sich zu Gott als ihrem anderen verhält und sich auf eine gewandelte Betrachtungsweise ihrer Umwelt, also auch anderer Personen, einlässt. Nun setzt die Ethik bei den möglichen Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen an, die einen Widerspruch gegen das Leben von Personen darstellen. Solch ein Widerspruch wird immer auch als äußere Gefahr für das Leben betrachtet und nicht bloß als Problem, das aus der Empfindung der existenziellen Leere des Lebens erwächst. Wenn beispielsweise Gewalt angewendet wird, kann ich dieser nicht ausweichen. Sie erfüllt für den Moment den Raum. Es hängt nicht vom Zustand meiner Innerlichkeit ab, ob ich einen Schlag spüre. 215 Daraus folgt nicht, dass ein Bewusstsein von Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen, aus dem nach dem Guten gefragt wird, bloß von äußerlichen Umständen bewirkt wird. Aber das Verständnis von deren Relevanz und Bedeutung im Leben einer Person und der damit verschränkte Bezug auf das ethisch Gute, wird auch ohne einen Transzendenzbezug gefasst, den eine Person innerlich herstellt. Innerhalb des praktischen Verhältnisses zu den gegebenen Umständen und Geschehnissen, in denen sie sich befindet, stellen sich ihr bestimmte praktische Umstände als praktisch relevant und bedeutsam dar. Dabei muss nicht wiederum eine erklärungsmächtige ethische Theorie oder Vorstellung vom Guten herangezogen werden. Sondern ausgehend von der Begrenztheit des Wissens über das ethisch Gute, kann eine freie Person als solche betrachtet werden, die unter den praktischen Umständen und Geschehnissen der Situation, in der sie sich befindet, herausgefordert wird ein Bewusstsein vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten herausbilden.
4.
Praktische Relevanz und Bedeutung
Es gilt nun zu zeigen, dass eine Person in der Negativität des ethisch Guten, ausgehend von der Unbestimmtheit in ihrer Freiheit, ein Bewusstsein von Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen herausbilden und eine Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?« geben kann. Die mit der Negativität und Unbestimmtheit einhergehende 215 Vgl. hierzu Jörg Baberowskis Definition von Gewalt in Räume der Gewalt. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2015, besonders S. 35 ff.
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Die Verletzlichkeit der Person
Begrenzung der philosophischen Ethik lässt sich auf eine Weise auslegen, sodass sie als Gewinn einer Perspektive auf das Leben von Personen selbst betrachtet wird. Erstens wird sie dadurch von dem Anspruch, eine Letztbegründung oder einen positiven, abschließenden Bezugspunkt anzugeben, befreit, wie etwa, wenn sie den Bezug auf einen Begriff des Wesens menschlichen Lebens oder formale Bedingung von vernünftigen Praktiken zu fassen beansprucht. 216 Das heißt also, die philosophische Ethik wird von der Last befreit, sich auf theoretische Darlegungen von Bedingungen des gelungenen praktischen Vollzuges ethisch guten Lebens berufen zu müssen. Zweitens kann die Ethik somit den Blick auf den praktischen Vollzug des Lebens von Personen freimachen und folglich ein Verständnis dessen entwickeln, was für Personen in ihren konkreten praktischen Umständen von Situationen relevant ist, weil es eine Gefahr, Verfehlungen zu begehen oder verletzt zu werden, darstellt oder Bedeutung hat, weil es zum Gelingen des Lebens beiträgt. Das ethische Denken bleibt auf den Bereich von Überlegungen beschränkt, die zum Gegenstand haben, was für eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation relevant ist, weil es eine Gefahr darstellt, und was Bedeutung für sie hat, weil es für das Gelingen und Gedeihen des Lebens wichtig ist. Das heißt, ihre Begrifflichkeiten sind dafür geeignet, zu verstehen, was für das Gelingen des guten Lebens einer Person bedeutsam und relevant ist, ohne dass das gute Leben vordefiniert sein muss. Aus der Einsicht in die Grenze der Ethik folgt also nicht, dass das ethisch gute Leben kein Thema für die Ethik mehr ist. Es folgt daraus lediglich, dass ein allgemeiner Begriff vom ethisch guten Leben leer bleibt. Aus dieser Einsicht kann es jedoch erst in Bezug auf die Lage einer Person befragt werden. Diejenige, die die Frage »Was soll ich tun?« stellt, fragt demnach danach,
216 Thomas Pröpper betont in diesem Sinne die Eigenständigkeit der Ethik und übergibt die umfassendere Frage nach der Existenz und dem Sinn des Lebens der Religion. Die Ethik muss nach Pröpper letztendlich die Religion voraussetzen, insofern sie erst klären kann, warum einer Person ethische Fragen wichtig sind. Jedoch führt seine Argumentation nicht zu einer Entwertung des Ethischen, als selbständiger Wissensbereich darüber, wie der Mensch als freies Wesen sich zur Welt und seinen Mitmenschen verhält. Vgl. Thomas Pröpper: Theologische Anthropologie. Zweiter Teilband. 2. Aufl. Freiburg im Brsg./Basel/Wien 2012, S. 777. Nach dieser Position beziehen wir uns allein auf die ethischen Fragen, aus dem Bewusstsein der Voraussetzung der freien Person als Bewusstsein der Grenze der philosophischen Ethik.
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Verdrängung und Freiheit
was sich in den praktischen Umständen, in denen sie sich befindet, mit Bezug auf den Sinnzusammenhang, in dem sie den Zusammenhang ihres Lebensvollzuges begreift, als relevant und bedeutsam erweisen kann. Der Bereich, auf den die Ethik beschränkt bleibt, ist im Zusammenhang der folgenden Punkte zu fassen: Relevanz und Bedeutung: (1) Innerhalb des weiteren Kontextes von Gewohnheiten zur Ausübung von Praktiken, in die eine Person eingeübt ist, kann sie bestimmte Gegebenheiten als praktisch relevant und bedeutsam betrachten, wie zum Beispiel eine ungleiche oder gerechte Verteilung von materiellen Gütern. (2) Was eine Person innerhalb dieses Zusammenhanges als praktisch relevant und bedeutsam betrachtet, wird im Sinnzusammenhang ihrer Vorstellung vom guten Leben bestimmt, wie zum Beispiel in der Möglichkeit zu einem materiell selbstbestimmten Leben. Doch diese Erklärung von Relevanz und Bedeutung erweist sich wiederum als unvollständig, da in deren Zusammenhang auch ein Verständnis des Sinnzusammenhanges des Lebensvollzuges einer Person möglich ist, das dem Anspruch auf ein allgemeines und unbedingt verbindliches Verständnis des Guten widerspricht, weil es zur Verdrängung von Personen führt. Um das zu verstehen, bedarf es der Berücksichtigung eines weiteren Punktes. Was für eine Person praktische Bedeutung und Relevanz hat, ist nicht allein durch den Sinnzusammenhang ihres Lebensvollzuges bestimmt, sondern hängt zudem davon ab, wie sie diesen in gegebenen Umständen einer Situation versteht und interpretiert. Es folgt Verdrängung, wenn eine Person ihn in den Umständen einer Situation in Ignoranz für den anderen und Gewalt in Kauf nehmend interpretiert. Eine Person, für die die Möglichkeit, ein materiell selbstbestimmtes Leben zu führen, den Sinnzusammenhang ihres Lebensvollzuges in verschiedenen Situationen unter verschiedenen Umständen darstellt, führt etwa in einen solchen Widerspruch, wenn daraus die Affirmation von Umständen, in denen materielle Güter ungleich verteilt sind und somit andere nicht materiell selbstbestimmt leben können, folgt. Das Problem liegt hier nicht zuerst darin, dass übersehen wurde, dass materielle Güter ungleich verteilt werden. Das Problem liegt hier vielmehr in einer 174
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Die Verletzlichkeit der Person
falschen Betrachtung der Situation, in der konkrete andere Personen als Teil der praktischen Umstände nicht auftreten. Nach den oben aufgeführten Punkten (1) und (2) kann eine Person etwa die Teilnahme an bestimmten ökonomischen Institutionen als praktisch bedeutsam und relevant begreifen, insofern sie dadurch in gegebenen Umständen die Mittel zur materiellen Selbstbestimmung gewinnt. Doch dieses Verständnis von Relevanz und Bedeutung ist nicht vollständig praktisch, da es unabhängig von der konkreten Beschaffenheit praktischer Umstände die Vorstellung einer materiell selbstbestimmten Lebensführung als anzustrebendes Gut mit bestimmten Institutionen und Gewohnheiten verbindet. Das Verständnis und die Interpretation des Sinnzusammenhanges ihres Lebensvollzuges sind somit vorbestimmt. Ein genuin praktisches Verständnis des Sinnzusammenhanges der Lebensvollzüge einer Person ist hingegen nur durch eine Interpretation möglich, die von den praktischen Umständen einer Situation ausgeht. Ohne ein voreingenommenes Verständnis des Sinnzusammenhanges kann eine Person sich auf die anderen Personen beziehen und Verdrängung vermeiden. Was spezifisch praktisch relevant und bedeutsam für eine Person ist, ergibt sich aus einer Betrachtung praktischer Umstände als ein Zusammenhang, in dem andere Personen anwesend und betroffen sind. Wie ein Wert, wie materielle Selbstbestimmung, gelebt werden kann, kann dann erst aus der Situation heraus verstanden werden. Sobald eine Person die Gefahr, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, nicht in Relation auf andere erfasst, besteht kein vollständig praktisches Verständnis der Umstände einer Situation. Denn Vorannahmen oder institutionelle, gewohnheitsgemäße Vorbestimmungen färben dann ein, was einer Person als praktisch relevant und bedeutsam erscheint. Die beiden Punkte, in denen ein Verständnis von Relevanz und Bedeutung formuliert wird, sind somit weiter zu spezifizieren, um eine nicht-praktische Widersprüche erzeugende Interpretation des Sinnzusammenhanges des Lebensvollzuges von Personen auszuschließen. Praktische Relevanz und Bedeutung: (1) Was für eine Person praktisch relevant und bedeutsam ist, kann sich ihr innerhalb des weiteren Kontextes eingeübter Gewohnheiten und Praktiken zeigen, in denen sie im Zusammenhang mit anderen Die Negativität des Sittlichen
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Verdrängung und Freiheit
Personen immer schon steht. Eine Person ist bestimmten praktischen Umständen ausgesetzt, unter denen sie überhaupt handeln und werten kann. So wird in einer industrialisierten Gesellschaft, in der Arbeitsteilung besteht, die Verteilung materieller Güter, was praktisch relevant und bedeutsam für eine Person ist, anders aufgefasst als in einer Gesellschaft, in der jeder von den Erträgen seines Bodens lebt. (2) Eine Person wird durch ihr Bewusstsein von den Gefahren, verletzt zu werden oder eine Verfehlung zu begehen, bestimmt. Hier wird der Zusammenhang mit anderen Personen dahingehend spezifiziert, dass sie als fehlbar und verletzlich betrachtet werden. Dabei bewusst gewordene Verletzungen und Verfehlungen fordern die Befragung einer Auffassung des guten Lebens und den dadurch vorgegebenen Sinnzusammenhang heraus. Eine Vorstellung von diesem kann nicht allein bestimmend für das sein, was für eine Person praktische Relevanz und Bedeutung hat. Eine Person kann für eine gleiche Verteilung von Gütern Gründe sehen, die nicht von ihrer Wertvorstellung alleine ausgehen. Der Wert der materiellen Selbstbestimmung selbst kann sich als verfehlt erweisen und dessen Ausleben Verletzungen hervorrufen. Nach der Spezifizierung des Bereichs der praktischen Verhältnisse der Person, auf den das ethische Denken beschränkt bleibt, hängt das, was für eine Person praktisch relevant und bedeutsam ist, untrennbar mit Handlungs- und Evaluationsweisen zusammen, durch welche die Gefahren, verletzt zu werden oder eine Verfehlung zu begehen, abgewendet werden. Eine Auffassung des guten Lebens und der darin bestehende Sinnzusammenhang kann nur im Zusammenhang mit deren Folgen und Wirkungen auf das Leben von Personen gefasst werden. Dann können sie und die daraus folgenden Handlungsweisen sich im Lebensvollzug einer Person beweisen. Im Bereich praktischer Relevanz und Bedeutung ist der Lebensvollzug einer einzelnen Person also von vornherein mit dem Leben anderer Personen und dem Fortgang des eigenen Lebens verwoben. In diesem Zusammenhang ist ein praktisches Verständnis von sittlichen Praktiken, Wertvorstellungen und damit zusammenhängenden Handlungsweisen erst möglich. Das genuin praktische Verständnis des im Lebensvollzug erfassten Sinnzusammenhanges ermöglicht erst ein Verständnis der Verschränkung von praktischer Relevanz und Bedeutung mit einem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit. Das 176
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Die Verletzlichkeit der Person
heißt nicht, dass das bloße Verhältnis zu anderen Personen schon konstitutiv ist für das, was richtig und gut ist. Das allgemein, unbedingt verbindlich Gute ist mehr als diese praktischen Beziehungen zwischen Personen. Insofern es mehr ist, ist es in endlichen, praktischen Handlungsvollzügen nicht erschöpfend bestimmbar. Es kann lediglich dessen Negativität in der Verletzlichkeit und Fehlbarkeit der freien Person praktisch verortet werden. Ästhetik, Religion oder Mystik können dann andere Weisen des Bezuges darauf thematisieren, was aber hier nicht diskutiert wird. Das wäre Thema der Ästhetik oder Religionsphilosophie. Von einem Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute wird hier zunächst nur insofern geredet, als dieser im Selbstverhältnis, im Verhältnis zu den Umständen einer Situation und somit immer auch im Verhältnis zu anderen Personen, praktisch Bedeutung und Relevanz hat. Die Form des praktischen Bewusstseins der beiden oben genannten Punkte zu praktischer Relevanz und Bedeutung stellt, mit Wittgenstein gesagt, die Grammatik ethischer Aussagen dar, bei deren Äußerung das allgemein, unbedingt verbindliche Gute zum Gegenstand von Überlegungen werden kann. 217 Indem das, was praktisch relevant und bedeutsam ist, aus dem Bewusstsein möglicher Gefahren, verletzt zu werden oder eine Verfehlung zu begehen, verstanden wird, geht aus der Einsicht der Negativität des ethisch Guten und aus der Unbestimmtheit der Freiheit der Person folglich nicht die prinzipielle Unmöglichkeit eines ethischen Lebens hervor. An diesem Punkt der Untersuchung haben wir aber auch noch nicht dargelegt, wie eine Person zu der Einsicht dessen, was gut zu tun sei, kommen kann. Es ist lediglich gezeigt worden, wie eine solche Darlegung möglich werden kann, ohne theoretische Vorannahmen zum Ausgangspunkt zu nehmen und ohne Raum für die Verdrängung der freien Person zu lassen.
217 Für diese Vorgehensweise vgl. auch Friedrich Kambartel: Begründungen und Lebensformen. Zur Kritik des ethischen Pluralismus, In: Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main 1986, S. 85–100.
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Zweiter Teil Der Anfang ethischen Denkens
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Kapitel 4: Ethisches Leid
Die ersten drei Kapitel führten zur Einsicht, dass die Einheit der Lebensvollzüge einer Person unter partikularen praktischen Umständen und des allgemein, unbedingt verbindlichen Guten in einem Begriff der Sittlichkeit nicht abschließend dargestellt werden kann (Kapitel 1 und 2). Diese Begrenzung der Ethik stellt sich in der Möglichkeit der Verdrängung und der Freiheit der Person dar, die sich in Widerspruch zum allgemein, unbedingt verbindlichen Guten begeben kann (Kapitel 3.I). Ausgehend von dieser Begrenzung kann lediglich die Negativität des ethisch Guten bezüglich der einzelnen Person eingesehen werden. Die Negativität der Freiheit wird in der Unbestimmtheit der Person als Möglichkeit zum Bösen begriffen (Kapitel 3.II). Ausgehend von dieser Begrenzung der Ethik kann die Form der praktischen Bedeutung und Relevanz von Widersprüchen als Gefahr, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, dargestellt werden (Kapitel 3.III). In diesem Kapitel wird gezeigt, wie das praktische Bewusstsein der Gefahr, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, als ein Bewusstsein vom allgemein, unbedingt verbindlichen Guten zu verstehen ist. Abschnitt I. dieses Kapitels zeigt, dass das, was für eine Person praktische Relevanz und Bedeutung für ihr Leben hat, nicht mit Bezug auf Glück als Endziel des Lebens einer Person begriffen werden kann. Allein durch das Leiden der einzelnen Person an den Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, als Gegensatz zum Glück kann begriffen werden, was für ihr Leben praktische Relevanz und Bedeutung hat. Abschnitt II. dieses Kapitels liefert eine Darstellung des Bewusstseins ethischen Leides als ein praktisches Bewusstsein von möglichen praktischen Problemen, Widersprüchen und Konflikten, die sich für eine Person als Gefahr, Verfehlungen zu begehen oder verletzt zu werden, darstellt. In diesem Bewusstsein wird, praktisch verortetet, der Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit negativ gefasst. Abschnitt III. dieses Kapitels stellt die Die Negativität des Sittlichen
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Ethisches Leid
Form des Bewusstseins von diesem negativ gefassten Anspruch als Bewusstsein ethischen Leides dar. Dessen Form wird dabei als Form der Aktivität über Leid zu klagen und es zu hören dargestellt.
I.
Das praktische Bewusstsein als Bewusstsein vom Widerspruch
Dieser Abschnitt zeigt, inwiefern die Frage nach dem ethisch Guten als für eine Person praktisch relevant und bedeutsam verstanden werden kann. Das Bewusstsein einer Person, von Gefahren, Verfehlungen zu begehen und Verletzungen zu erleiden, ist als praktisches Bewusstsein zu verstehen, in dem sich eine Person zum allgemein, unbedingt verbindlichen Guten verhält (§ 1). Das praktische Bewusstsein einer Person kann nicht ausgehend vom Begriff des Glücks als Endzweck des Lebens gefasst werden (§ 2). Ein Verständnis des Zusammenhanges des praktischen Bewusstseins mit dem allgemein, unbedingt verbindlichen Guten wird hingegen in einer negativen Ethik möglich. Eine negative Ethik geht vom Leid einer Person aus, der die Gefahren, Verfehlungen zu begehen und Verletzungen zu erleiden, als relevant bewusst sind, wodurch erst eine Vorstellung davon möglich wird, was für ein gelingendes, glückliches Leben bedeutsam ist (§ 3).
1.
Ethische Relevanz und Bedeutung
Die Lebensweise einer Person wird durch zur Gewohnheit gewordenen Ausübung von Praktiken bestimmt. Der Zusammenhang verschiedener Gewohnheiten stellt den weiteren Kontext dar, innerhalb dessen eine Person handelt und das Handeln anderer versteht. Doch als Person reagiert sie nicht bloß nach gewohnten Mustern, sondern verhält sich aktiv zu den praktischen Umständen, in denen sie sich befindet. Als aktives Verhalten zu praktischen Umständen stellt die Ausübung einer Gewohnheit nicht bloß ein Verhaltensmuster, sondern eine eingeübte Weise der Ausübung einer praktischen, vernünftigen Fähigkeit, nach einer allgemeine Norm einer ethischen Praxis zu handeln und zu urteilen, dar. So besteht zum Beispiel eine Auffassung vom Wert der Gewaltlosigkeit in der Gewohnheit, Rücksicht auf andere zu nehmen, indem nicht mit deren Wertvorstellungen und Handlungsweisen interferiert wird. 182
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Das praktische Bewusstsein als Bewusstsein vom Widerspruch
Mit Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gute ist das Verhältnis einer Person zu praktischen Umständen jedoch nicht vorrangig durch die zur Gewohnheit gewordene Ausübung von Praktiken zu verstehen. Denn das praktische Bewusstsein, in dem dieser Bezug besteht, wird durch bestimmte Gewohnheiten, die zur Ausübung praktischer, vernünftiger Fähigkeiten befähigen, nicht erschöpfend erfasst. Sie ermöglichen nur eine Art von Antwort auf gegebene praktische Umstände. Es können sich jedoch immer wieder neue Herausforderungen zeigen, auf die sie keine Antwort geben können und somit nicht unbedingt verbindlich sind. Mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit wird der Zusammenhang des Wertes von Gewaltlosigkeit und einer zur Gewohnheit gewordenen Praxis ihn auszuüben, wie Rücksichtnahme durch Verzicht auf Interferenz, im Verhältnis einer Person zu gegebenen praktischen Umständen nicht vorausgesetzt. Das Verhältnis einer Person zu den praktischen Umständen von Situationen wird hingegen zuerst durch das Bewusstsein von bestehenden Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, bestimmt. Aus dem Bewusstsein möglicher Gefahren von Gewalt oder gemachten und erinnerten Gewalterfahrungen, können sich verschiedene Zusammenhänge von Handlungsweisen und Werten, als Verständnis von Gewaltlosigkeit, erst ergeben. Handlungsweisen wie Rücksichtnahme durch Verzicht auf Interferenz werden so erst in Zusammenhang mit dem Wert der Gewaltlosigkeit gebracht, weil sie sich dafür, angesichts einer konkreten Gewalterfahrung, durch Interferieren als bedeutsam und begründet erweisen. Genauso könnte sich der Verzicht auf Interferenz, unter den Umständen anderer Erfahrungen von Gewalt, als verkehrte Antwort darstellen. Denn unter bestimmten Umständen kann der Verzicht auf Interferenz auch als Vernachlässigung oder unterlassene Hilfe verstanden werden. Folglich können Arten der Interferenz unter Umständen auch eine Bedeutung erlangen. Aus dieser Vorstellung des Verhältnisses einer Person zu den praktischen Umständen einer Situation folgt nun nicht, dass Gewohnheiten, also über einen längeren Zeitraum eingeübte Handlungsweisen, wertlos oder gar gefährlich sind. Sie stellen den Ausgangspunkt jedes praktischen Verhaltens dar. Aus dem Bewusstsein von Gefahren, Verfehlungen zu begehen oder verletzt zu werden, können sie jedoch erst mit Bezug auf das ethisch Gute begriffen und entwickelt werden. Diese Form des Bewusstseins gilt es zu verstehen. Dass der Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute Die Negativität des Sittlichen
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im praktischen Bewusstsein bestehen kann, hängt davon ab, ob eine Person praktisch unterscheiden kann, was gut, also für das Gelingen ihres Lebens bedeutsam ist, und was relevant ist, weil es böse, also diesem widersprechend ist, und folglich eine Gefahr von Verfehlungen und Verletzungen darstellen kann. Um diese Unterscheidung zu verstehen, können wir bei Logi Gunnarssons Auffassung von »praktischen Argumenten« 218 ansetzen. Durch praktische Argumente sei der Außenseiter, der allein durch subjektive Gründe motiviert wird und sich nicht um ethische Gründe schert, von einer bedeutungsvolleren, ethischen Lebensweise zu überzeugen. 219 Der Außenseiter, der skeptisch gegenüber moralischer Kritik und Entwicklung seiner Lebensweise sei, werde somit nicht einem logischen Denkwiderspruch überführt, was zum Beispiel Habermas in seinem Ansatz der Diskursethik versucht zu zeigen. 220 Das heißt, es ist für den Skeptiker möglich, allein durch subjektive Gründe motiviert zu leben. 221 Praktische Argumente überzeugten hingegen durch einen praktischen Bedeutungsgewinn durch das Führen einer gehaltvolleren ethischen Lebensweise. Eine Person werde nach Gunnarsson von praktischen Argumenten dazu überzeugt, weil sie dadurch erst bestimmte Krisen, Konflikte und praktische Fragen verstehen und beantworten könne. 222 Ein gehaltvolleres Leben stelle also ein Leben dar, das durch »substantielle Gründe« bestimmt wird, die einen weiteren Raum von Gründen umfassen, auch solche, die gelten, obwohl sie den subjektiven Motiven einer Person äußerlich sind. 223 Um den Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute und die damit einhergehende Relevanz von Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, in Form von praktischen Argumenten zu fassen, ist eine weitere Unterscheidung nötig als die von 218 Logi Gunnarsson: Making Moral Sense. Beyond Habermas and Gauthier. Cambridge 2000, besonders Kapitel 12. 219 Vgl. Ibidem, S. 171 ff. 220 Vgl. Jürgen Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1988, S. 53–125. 221 Logi Gunnarsson: Making Moral Sense. Beyond Habermas and Gauthier. Cambridge 2000, S. 184–186. 222 Ibidem, S. 174–177. 223 Substantielle Gründe werden in metaethischen Diskussionen als externe Gründe bezeichnet, die unabhängig davon, ob eine Person entsprechende Motive hat, gelten. Die Geltung subjektiver Gründe ist hingegen von den partikularen Motiven einer Person abhängig.
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subjektiven und substantiellen Gründen. Das wird nötig, wenn sie ethische Fragen betreffen. Hier gilt es innerhalb substantieller Gründe, durch die eine Person den Sinnzusammenhang ihres Lebensvollzuges fassen kann, den Unterschied zu verstehen zwischen derjenigen Person, die ihr Leben bloß durch den vorgegebenen Bedeutungsrahmen von Gewohnheiten begreift, und derjenigen Person, für die die Unterscheidung von ethisch Gutem und Bösem, das dem Leben der Person widerspricht, eine Bedeutung hat. Das heißt, es ist zu unterscheiden zwischen zwei weiteren praktisch möglichen Lebensweisen, die beide im Rahmen von substantiellen Gründen möglich sind: Erstens, die Lebensweise derjenigen, die Widersprüche gegen das Leben von Personen nicht als solche beachten, wozu sowohl diejenigen gehören können, deren Leben dadurch konkret bedroht wird, als auch diejenigen, die nicht unmittelbar durch diese betroffen sind. Zweitens, die Lebensweise derjenigen, denen die Widersprüche gegen das Leben von Personen als ethisches Leid bewusst werden. Das heißt, diese werden gedeutet und es wird ein Umgang damit gesucht. Personen, die ein Bewusstsein ethischen Leides herausbilden, erfassen Bedeutung in ihrem Lebensvollzug in Verbindung mit Krisen, Konflikten und praktischen Fragen, die unweigerlich Relevanz für ihr Leben haben. Es ist also nicht allein die Unterscheidung von subjektiven und substantiellen Gründen zu vollziehen. Zudem ist auch die Unterscheidung verschiedener Auslegungen substantieller Gründe zu verstehen: eine die ethischem Leid gegenüber passiv und ignoranten ist und eine die aktiv ein Bewusstsein für ethisches Leid herausbildet. Diese Unterscheidung kann an den folgenden beiden Bedingungen zu praktischer Relevanz und Bedeutung erläutert werden: Eine Handlungsweise X erweist sich im Lebensvollzug einer Person als praktisch bedeutsam, (1) wenn X eine Antwort auf die Herausforderung der Umstände konkreter Situationen geben kann. (2) wenn X mit Bezug auf den Sinnzusammenhang des Lebens einer Person als Ganzem begriffen wird. Im Zusammenhang von (1) und (2) wird begreiflich, was ein gelingendes und erfülltes gutes Leben einer Person ausmacht. Wenn sowohl Bedingung (1) als auch (2) erfüllt ist, gelten die Lebensvollzüge Die Negativität des Sittlichen
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einer Person als gelungen. Das heißt, ihre Lebensvollzüge gelingen, wenn sie durch die Ausübung ihrer Handlungsweisen die Antworten auf die Herausforderungen der Umstände bestimmter Situationen geben kann. Diese Handlungsweisen geben wiederum Antworten auf Herausforderungen, die innerhalb der Auffassung des Sinnzusammenhanges des Lebens einer Person als Ganzem betrachtet werden. Die Gefahr, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, besteht demnach, wenn ein Widerspruch gegen das Leben von Personen besteht mit Bezug auf beide Bedingungen: Zum einen besteht sie, wenn gemäß (1) innerhalb bekannter Begründungsweisen keine Antwort auf die Herausforderung der Umstände einer Situation gegeben werden kann. Zum anderen besteht sie, wenn gemäß (2) die Herausforderung nicht ethisch, sondern mit Bezug auf einen anderen Zweck begriffen wird. Es hängt also von der Deutung von (2) ab, ob sie bestimmte praktische Probleme, Konflikte und Widersprüche überhaupt sieht und sich zum aktiven Umgang damit begreift. Somit werden dann auch Kompetenzen und Antworten auf bestimmte Arten von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen innerhalb einer passiven Lebensweise nicht entwickelt; sie bleibt auf gegebene Verhaltensweisen und Deutungsmuster beschränkt. Ersteres ist der Fall, wenn eine Person bestimmte Krisen, Konflikte oder praktische Fragen nicht verstehen kann. Mangelnde Kompetenz, überhaupt substantielle Gründe zu entwickeln, kann ebenso solch einen Fall darstellen. Das Zweite ist der Fall, wenn der Sinnzusammenhang des Lebens so gedeutet wird, das bestimmte Krisen, Konflikte und praktische Fragen erst gar nicht verstanden werden, was für eine passive Lebensweise charakteristisch ist. Das Beharren auf rein subjektiven Motiven oder auf dem Deutungsmuster der Handlungsgewohnheit einer kleinen kulturellen Gruppe kann die Perspektive einer Person auf diese Weise einschränken. Durch eine aktive, ethisches Leid bewusst machende Auslegung substantieller Gründe können Krisen, Konflikte und mangelndes Verständnis praktischer Fragen als Einschränkung verstanden werden. Dabei ist zu beachten, wenn eine Gefahr von Verfehlungen und Verletzungen gemäß (2) besteht, besteht eine solche auch immer gemäß (1). Das Umgekehrte gilt nicht, wie etwa wenn grundsätzlich ein Bewusstsein für alle möglichen Krisen, Konflikte und praktischen Fragen besteht, es aber an Möglichkeiten mangelt, mit diesen umzugehen. Wer ein passives, ignorantes, Leid nicht bewusst machendes Leben führt, folgt etwa bloß dem Deutungsmuster bestimmter Gewohnheiten. Er stellt 186
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Das praktische Bewusstsein als Bewusstsein vom Widerspruch
sich dann nicht die Frage nach der immer wieder neuen Auslegung des Sinnzusammenhanges, in dem er sein Leben deutet, sondern stellt sich lediglich die Frage, wie er gegebene Ziel- und Wertvorstellungen realisieren kann. Wie kann nun eine aktive, ethisches Leid bewusst machende Auslegung gegenüber einer passiven, ignoranten Auslegung substantieller Gründe dargestellt werden? Kann erstere praktische Relevanz und Bedeutung aufzeigen, die überzeugt? Man könnte nun meinen, dass jemand, der Verletzungen erleidet, nicht erst von deren Relevanz und Bedeutung überzeugt werden muss. Doch hier zeigt sich eine Besonderheit von ethischem Leid gegenüber physischem Leid, die mit Leibniz traditionell als malum morale und malum physicum unterschieden werden. 224 Bis hierhin ist Leid alleine als ethisches Leid aus dem Kontext ethischer Fragestellungen zum Thema geworden. Doch die Bestimmung der Bedingungen der Herausbildung des Bewusstseins von ethischem Leid, das aus einer mangelhaften oder verkehrten Auffassung des Sittlichen hervorgeht, erfordern eine genauere Abgrenzung von einem Begriff physischen Leides, das innerhalb der Form oder Grammatik des Sprechens über körperliche Zustände Sinn macht. Physisches Leid ist als Mangel an guter physischer Verfassung zu begreifen. Innerhalb des Sinnzusammenhanges des Lebensvollzuges einer Person begreift sie solches Leid als Einschränkung des Gelingens eines sinnerfüllten Lebens, weil körperlich sowie in der Lebenszeit Einschränkungen bestehen. Hier geht es aber um einen Begriff des Leides, der innerhalb des Anspruches auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit Sinn macht. Es gilt also, einen spezifisch ethischen Begriff von Leid zu fassen. Während physisches, also körperliches Leid in Bezug auf die Erfüllung jeglicher Vorstellungen von einem gelungenen und sinnerfüllten, sittlichen Leben abhängt, hängt die Rede von ethischem Leid davon ab, innerhalb welcher Vorstellung vom gelungenen, sinnerfüllten Leben sie artikuliert wird. Jemand, der bloß den Deutungsmustern bestimmter sittlicher Gewohnheiten folgt, begreift nicht das ethische Leid der Fremden oder Schwachen, die an diesem Deutungsmuster nicht teilhaben. Er mag hingegen die
224 Eine Positionierung zum malum metaphysicum ist an dieser Stelle nicht nötig. Das erübrigt sich, weil in Kapitel 3, Abschnitte II.4–5 das Böse als Möglichkeit der Freiheit begriffen wurde. Vgl. zu Leibniz’schen Begrifflichkeiten und deren Wandel auch: Odo Maquard: Malum. In: Karlfried Gründer (Hrsg.). Historisches Wörterbuch Philosophischer Begriffe. Band 5. Basel 1980, S. 654–655.
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Anwesenheit von Fremden, die die Ausübung dieses Deutungsmusters stören, sogar als ethisches Leid begreifen. Die Form des Bewusstseins ethischen Leides kann aus dieser Perspektive also nicht vollständig gefasst werden, da es sich um die Perspektive der passiven, ethischem Leid gegenüber ignoranten Person handelt. Die Form des Bewusstseins ethischen Leides, also die Grammatik der Rede darüber, ist Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit möglich, mit dem es zur aktiven Deutung des Leides von Fremden und Schwachen, über gewohnte Deutungsmuster hinaus, auffordert.
2.
Das glückliche Leben
Ein Bewusstsein ethischen Leides besteht im Zusammenhang mit der Vorstellung eines gelungenen und sinnerfüllten Lebens. Die Aufgabe, das Spezifikum des Bewusstsein ethischen Leides zu begreifen, könnte nun so verstanden werden, dass dieses nur mit Bezug auf eine spezifische Vorstellung vom gelungenen, sinnerfüllten, also dem, was allgemein ein glückliches Leben genannt wird, begriffen werden kann. Demnach wäre ein Bewusstsein spezifisch ethischen Leides nur mit Bezug auf die spezifische Vorstellung und Erwartung eines glücklichen Lebens zu begreifen, das aus einem Lebensvollzug in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten hervorgeht. In diesem Zusammenhang stellt sich ethisches Leid als Mangel eines gelungenen, sinnerfüllten und glücklichen Lebens dar. Physisches Leid bedarf dieser Spezifizierung hingegen nicht, da es in Bezug auf alle möglichen Vorstellungen vom gelungenen, sinnerfüllten Leben einen Mangel und eine Einschränkung darstellen könnte. 225 Ausgehend von der Herausforderung, ethisches Leid mit Bezug auf eine Vorstellung und Erwartung eines gelungenen, sinnerfüllten, glücklichen Lebens zu begreifen, stellen diejenigen Personen ein Problem dar, die ein scheinbar gelungenes, sinnerfülltes und glückliches Leben führen, obwohl sie allgemein Böses tun. Trotz Mangel an ethisch Gutem, begreifen diese Personen ihr Leben als gelungen und
225 Bei Sportlern oder bei Anhängern bestimmter Rituale kann physischer Schmerz als Glück erfahren werden. Solche Beispiele können kompliziert sein, doch selbst in diesen können bestimmte körperliche Leiden Einschränkungen darstellen, die die Erfahrung des Glücks physischen Schmerzes verhindern, wie zum Beispiel im Fall von Invalidität.
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Das praktische Bewusstsein als Bewusstsein vom Widerspruch
glücklich. Das Böse wird dann nicht als solches gedeutet, weil es der Erfahrung des eigenen Lebens als gelungen, sinnerfüllt und glücklich nicht entgegensteht. 226 Vielmehr wird das, was allgemein als Böses gilt, als Gut, das zur Überwindung von Bedrohungen und Gefahren geboten ist, begriffen. Durch solch einen Fall wird eine Spezifizierung der Vorstellung von einem gelungenen, sinnerfüllten, glücklichen Leben nötig, durch die ethisches Leid bewusst werden kann. Es gilt zu verstehen, wie derjenigen Person, die Böses tut, aber ihr Leben als gut vorstellt, weil ihre Betrachtung ihres Lebens als glücklich und sinnerfüllt ihr keinen Grund gibt, ihre Weise zu handeln in Frage zu stellen, gezeigt werden kann, welches Glück und welche Sinnerfüllung ihr mangeln. An diesem Punkt bedarf es einer Positionierung zu John Stuart Mills Auffassung vom Glück. Diese scheint eine Lösung des aufgeworfenen Problems der Person, die Böses tut, aber ihr Leben als gut vorstellt zu liefern, weil ihre Betrachtung ihres Lebens als glücklich und sinnerfüllt ihr keinen Grund gibt, ihre Weise zu handeln in Frage zu stellen. Mills Auffassung von Glück hat einen praktischen Ausgangspunkt und liefert auch eine Begründungsweise für moralische Standards. Nach Mill stellt die Vermehrung des Glücks eines jeden Individuums das grundlegende Prinzip einer utilitaristischen Moral dar. Ein moralischer Standard, der auf dieses zurückgeführt werden kann, erweist sich als nützlich für das menschliche Leben. 227 Mills Auffassung des grundlegenden Prinzips des Utilitarismus ist praktisch zu verstehen, insofern er es nicht als ein abstraktes Prinzip begreift, durch das die Lebensvollzüge verschiedener Personen von einem apriorischen Standpunkt betrachtet werden. Hingegen wird das Glück von Individuen zum Prinzip, in dem sich jeder moralische Standard beweisen muss. 228 Mit Bezug auf das individuelle Glück, des eigenen sowie das von anderen, kann eine Person moralische Standards folglich befragen und kritisieren. Doch Mills Auffassung vom Glück liefert hier keine Lösung des Problems der Person, die Böses tut, aber ihr Leben als gut vorstellt, weil ihr Glück ihr keinen Grund gibt, ihre Weise zu handeln in Frage zu stellen. Stellt das Glück des 226 Philippa Foot erläutert dieses Problem an einem Nazi Kommandeur, der trotz der Beteiligung am Holocaust ein glückliches Leben zu führen scheint. Philippa Foot: Natural Goodness. Oxford 2001, S. 90–91. 227 John S. Mill: Utilitarianism / Der Utilitarismus. Übersetzt durch Dieter Birnbacher. Ditzingen 2006, Kapitel 1. 228 Ibidem, S. 76 und S. 108.
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Ethisches Leid
Individuums einen äußerlichen Bezugspunkt dar, von dem aus nach dem Nutzen der Moral gefragt werden kann, dann kann es keine Antwort auf das Problem liefern, da dieses Problem ja verlangt, das, was ein Individuum als Glück oder Sinnerfüllung begreift, selbst kritisch zu befragen. Wird hingegen eine Übereinstimmung vom Glück des Individuums und dem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit unterstellt, müsste nach Mills Ansatz gezeigt werden können, dass das Böse nicht das Glück eines Individuums vermehrt, sondern diesem entgegenwirkt. Doch das Ansinnen, dieses zu zeigen, stellt sich schon als problematisch dar, da es voraussetzt, dass individuellen Glückserfahrungen innerhalb des ethisch Guten verstanden werden und somit zur Entfaltung des Gehalts moralischer Standards und zur Identifizierung des Bösen dienen. Wie und ob diese Voraussetzung zu fassen ist, müsste jedoch erst geklärt werden, bevor ein Verweis auf Glückserfahrungen Sinn machen kann. Eine Lösung des Problems der Person, die Böses tut, aber ihr Leben als gut vorstellt, weil die Betrachtung ihres Lebens als gelungen, sinnerfüllt und glücklich ihr keinen Grund gibt, ihre Weise zu handeln, in Frage zu stellen, wird also erst ausgehend von der Reflexion auf einen spezifisch ethischen Begriff vom glücklichen Leben möglich. Philippa Foot macht eine begriffliche Unterscheidung zwischen einer flachen Vorstellung von Glück und der »greatest, deepest happiness«, worin der Zusammenhang vom Glück einer Person zum allgemein, unbedingt verbindlich Guten besteht. 229 Dieser Unterscheidung folgend müsse davon ausgegangen werden, dass eine Person, die Böses tut, »greatest, deepest happiness« nicht erfahren könnte. Mit der Rede von einer »greatest, deepest happiness« wird auf den Aristotelischen Begriff der eudaimonia verwiesen, der das Leben einer Person in Bezug auf seine Vervollkommnung auf dessen Ende hin und nicht bloß auf relativ kurzfristige Ziele von Lust oder Freude erfasst. 230 Mit Bezug auf die Auffassung de Glücks als eudaimonia wird das Leben einer Person in seiner Ganzheit betrachtet. Die Ganzheit des Lebens einer Person kann nicht auf einen Schlag erfasst werden, sondern ist fortwährend in jeder Entscheidung und Tat zu erfüllen. Deshalb kann immer nur vom Gelingen oder Sinnerfüllung als Hinweis auf das Glück in einem Moment, unter den Umständen einer Philippa Foot: Natural Goodness. Oxford 2001, S. 90. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt durch Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006, 1098 a.
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konkreten Situation, geredet werden. 231 Zugleich heißt das, diese formale Bestimmung von Glück als Übereinstimmung mit dem unbedingt, allgemein Guten bleibt also leer, wenn sie nicht im Lebensvollzug einer Person dargestellt werden kann. Der zu verstehende Zusammenhang der Ganzheit des sich vervollkommnenden Lebens mit deren praktischer Bedeutung für eine einzelne Person unter den Umständen einer bestimmten Situation zeigt die Grenzen des Begriffs der ethischen Art von Glück oder glücklichen Lebens auf. Insofern diese Art von Glück sich in einer singulären praktischen Erfahrung darstellt, ist dessen inhaltliche Bestimmung unverfügbar, da es zunächst nur für die einzelne Person gilt. Was es heißt, Glück zu erfahren oder ein gelungenes, sinnerfülltes, glückliches Leben zu führen, lässt sich nicht auf bestimmte Qualifizierungen von Erfahrungen, wie zum Beispiel von Freude, wie Anhänger des Hedonismus annehmen, oder von Erfolg, Geborgenheit oder Selbstbestimmung zurückführen. Ebenso bleibt Glück in seinem allgemeinen Gehalt, der Ganzheit eines gelungenen, sinnerfüllten, glücklichen Lebens unverfügbar, behält gegenüber einzelnen Bestimmungen Negativität. Denn von der Ganzheit des Lebens einer Person ist kein Begriff möglich, der deren praktische Erfüllung umfasst. Die Unverfügbarkeit des erfüllten, glücklichen Lebens einer Person als Ganzem kommt schon in der Einsicht des Aristoteles zum Ausdruck, erst am Ende des Lebens einer Person könne gesagt werden, ob es gelungen, sinnerfüllt oder glücklich sei. 232 Dem Bösen, der sein Leben als gut vorstellt, weil die Betrachtung seines Lebens als gelungen, sinnerfüllt und glücklich ihm keinen Grund gibt, seine Handlungsweisen in Frage zu stellen, kann also ethisches Leid nicht mit Verweis auf ein wahres zu erlangendes Glück, der »greatest, deepest happiness«, die er nie erfahre, bewusst gemacht werden. Nun folgt aus dieser Negativität eines ethischen Begriffs von Glück nicht, dass ein Bewusstsein ethischen Leides nicht bestimmt werden kann. Es steht im Zusammenhang mit dem Gedanken an ein gelungenes, sinnerfülltes, glückliches Leben, das dem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit erfüllt. Dieser Zusammenhang kann jedoch nicht erfasst werden, wenn eine ErkläVgl. zu diesem Punkt Robert Spaemann: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik. Stuttgart 1989, S. 85 und S. 89. 232 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt durch Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2006, 1098 a. 231
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rungsrichtung angenommen wird, wonach eine Vorstellung vom gelungenen, sinnerfüllten, glücklichen Leben vorausgesetzt wird, wie schon Kapitel 3 gezeigt hat. Eine andere mögliche Erklärungsrichtung besteht darin, vom Bewusstsein ethischen Leides als Bewusstsein eines Widerspruchs zum allgemein, unbedingt verbindlich Guten auszugehen. Ausgehend vom Bewusstsein eines solchen Widerspruches, kann dann erst die Frage danach gestellt werden, worin ein gelungenes, sinnerfülltes, glückliches Leben, in dem Leid überwunden ist, besteht. Es gilt zu zeigen, wie diese Erklärungsrichtung verstanden werden kann. Für die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute wird, dieser Erklärungsrichtung folgend, eine Bestimmung dessen, was Glück ist, nicht nur unmöglich, sondern auch überflüssig, ohne dass daraus der Gedanke, dass das Gelingen eines ethischen Lebens mit dem Gelingen eines sinnerfüllten, glücklichen Lebens übereinstimmt, als unsinnig verworfen werden muss. 233 Die spezifische Form des Bewusstseins ethischen Leides, das sich ohne Voraussetzung eines positiven Bezuges darauf, worin ein gelungenes, sinnerfülltes, glückliches Lebens besteht, herausbilden kann, gilt es im Folgenden zu bestimmen. Durch diese Form des Bewusstseins ethischen Leides werden Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen, denen Personen unter konkreten Umständen ausgesetzt sind, bewusst gemacht. Demjenigen, der Böses tut, sein Leben aber als glücklich und sinnerfüllt betrachtet, könnten diese konkreten Verfehlungen und damit zusammenhängende Verletzungen dann vorgehalten werden. Dabei müsste nicht das Argument angebracht werden, dass wer Böses tut, zu tiefem Glück und Sinnerfüllung nicht fähig sei.
3.
Negativität im Leid
Die praktische Bedeutsamkeit und Überzeugungskraft des ethisch Guten gegenüber dem Bösen stellt sich nicht automatisch ein. Eine Person kann das Schlechte und Böse erst als solches begreifen, wenn 233 Martin Seel stellt diese Spannung zwischen Glück und Moral dar: Vgl. Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks. Studien zur Ethik. Frankfurt am Main 1995, S. 193–194. Michael Hampe verweist auf den Zusammenhang zwischen Leid und Glück: Michael Hampe: Das vollkommene Leben: Vier Meditationen über das Glück. München 2011, S. 136–146. Beide Autoren gehen jedoch vom Begriff des Glücks aus, während er hier auf die Begrenztheit von dessen Erklärungskraft reflektiert wird.
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sie ein Bewusstsein ethischen Leides herausbildet. Es gilt also zu zeigen, dass eine Person, die ein Bewusstsein ethischen Leides herausbildet, gegebene sittliche Praktiken und daraus normativ folgende Handlungsweisen mit Bezug auf eine Unterscheidung von Gutem und diesem widersprechenden Bösen mit dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit fassen kann. Die Unterscheidung von ethisch Gutem und Bösem wird dann im praktischen Bewusstsein gemacht, also mit Bezug auf das, was für den Lebensvollzug einer Person unter den Umständen einer Situation praktische Relevanz und Bedeutung hat. Im praktischen Bewusstsein besteht kein Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindliche Gute, wenn bloß eine zufällige Vorstellung des Guten affirmiert wird. Die Affirmation kann in zwei Punkten dargestellt werden: Erstens, Affirmation bezieht sich immer auf gegebene Handlungsweisen. Eine Person affirmiert zum einen, wenn sie eine Handlungsweise, die zur Gewohnheit geworden ist, ohne sie zu hinterfragen, immer weiter ausübt. Zum anderen affirmiert sie, wenn sie ihre partikulare Vorstellung vom gelungenen, sinnerfüllten, glücklichen Leben zum Maßstab macht, ohne Widersprüche aufzunehmen. Es wird beansprucht, einen Maßstab inhaltlich vorzustellen, der unverfügbar ist. Zweitens, das gute Leben einer Person geht dann mit dem Funktionieren gemäß der internen normativen Standards einer gegebenen Vorstellung des Guten einher, die sich auf den Gehalt bestimmter zur Gewohnheit gewordener Deutungsweisen beschränkt. Die praktische Relevanz und Bedeutung von bestimmten Werten und Normen kann unter der Voraussetzung von Affirmation nicht mit der Unterscheidung von Gutem und Bösem, somit nicht mit dem Bewusstsein bestimmter Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen, einhergehen. In der Form praktischen Bewusstseins, in der praktische Relevanz und Bedeutung mit einer Unterscheidung von Gutem und Bösem einhergeht, werden Normen und Werte mit Bezug auf die Umstände einer bestimmten Situation, in der eine Person sich befindet, erfasst. Die Möglichkeit eines solchen Beweises ist unvereinbar mit jeder Form der Affirmation, da diese immer von etwas ausgeht, durch das eine Person unabhängig von den Umständen einer Situation bestimmt ist (vgl. auch Kapitel 3, Abschnitt III.4). Diese Form des praktischen Bewusstseins, durch die ein solcher Beweis möglich ist, kann nur als kritisches Verhältnis zu Praktiken und damit einhergehenden Gewohnheiten sowie Vorstellungen vom gelungenen, sinnerfüllten, Die Negativität des Sittlichen
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glücklichen Leben gefasst werden. Ein kritisches Bewusstsein fasst also erstens zunächst allein die Widersprüche in gegebenen Handlungsweisen. Die einzelne Person ist sich zweitens dieser Widersprüche als ethisches Leid bewusst, das erst herausfordert zu verstehen, was in Übereinstimmung mit dem ethisch Guten zur Überwindung ethischen Leides zu tun sei. In § 1 dieses Abschnittes werden die beiden Bedingungen, unter denen sich im praktischen Bewusstsein eine Handlungsweise als bedeutsam und relevant beweisen kann, mit Bezug auf eine Auffassung des Sinnzusammenhanges, in dem eine Person ihren Lebensvollzug begreift, gefasst. Doch eine Auffassung davon, wie dieser durch eine Vorstellung vom gelungenen, sinnerfüllten und glücklichen Leben zu bestimmen ist, ist nicht verfügbar. Jeder Anspruch darüber zu verfügen, stellt eine Affirmation dar, die der Negativität und Unbestimmtheit, die im Anspruch des allgemein, unbedingt verbindlich Guten entgegen jeder Bestimmung behalten werden, entgegensteht. Um diese Bedingungen des praktischen Bewusstseins der Bedeutung und Relevanz der Unterscheidung von Gutem und Bösem für eine Person in einem kritischen Verhältnis zu fassen, sind diese zu reformulieren. Die Bedingungen praktischer Relevanz und Bedeutung einer Handlungsweise X für eine Person sind dann so zu formulieren, dass sie im Bewusstsein des ethischen Leides ansetzen als Bewusstsein von ethischen Widersprüchen, aus denen eine Gefahr für das Leben von Personen hervorgeht. Eine Handlungsweise X erweist sich demnach im Lebensvollzug einer Person als praktisch bedeutsam, (1’) wenn X die Verhinderung von oder einen Umgang mit ethischem Leid ermöglicht, das sich in einer Situation als konkrete Gefahr zur Verletzung und Verfehlung darstellt. (2’) wenn X nicht neues Leid verursacht, sondern ein Verstehen von dem, was Gelingen, Sinn und Glück bedeutet, herausfordert. In (1’) wird dargestellt, dass die Auffassung von X einerseits Ausgang nimmt vom subjektiven Bewusstsein von Handlungsweisen, von deren Ausübung ethisches Leid ausgeht, insofern sie sich einer Person in ihren Lebensvollzügen als Gefahr, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, darstellen. Doch zugleich steht ein Bewusstsein 194
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ethischen Leides im Verhältnis zum allgemein, unbedingt verbindlichen Guten, indem bestimmt wird, was diesem widerspricht. In (2’) wird weiterführend dargestellt, dass, sofern X erfasst werden kann, es sich für eine einzelne Person als unvermeidlich beweist, weil dadurch Leid überwunden wird. Punkt (2’) stellt gegenüber (1’) also eine notwendige Weiterführung dar, weil darin erst über das bloß negative Bewusstsein vom Widerspruch hinaus eine Begründung von X möglich erscheint. Im Zusammenhang beider Punkte wird Wissen vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten, das zur Gestaltung einer Welt führt, in der Personen leben, möglich. Die Darstellung der Form ethischer Überlegungen und daraus hervorgehender Entwicklungen dieses Wissens wird in Kapitel 5 und 6 geliefert. Zunächst gilt es in diesem Kapitel die Form des Bewusstseins ethischen Leides als Ausgangspunkt darzustellen. Ein Bewusstsein vom Leid stellt zunächst ein Bewusstsein des Widerspruchs zum Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit dar. Daraus folgt jedoch nicht, dass ethischem Leid dieser Anspruch äußerlich ist. In der Form des Bewusstseins ethischen Leides liegt vielmehr der basale Punkt der Ethik, in dem Zufälliges, Partikulares und Allgemeines, unbedingt Verbindliches zusammenstehen. Dass ein Zusammenhang mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten im Lebensvollzug erfasst werden kann, ist somit im Bewusstsein ethischen Leides angelegt, in dem eine Person in ihrer Partikularität Allgemeines darstellt. Diesen Zusammenhang ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides zu denken, entspricht einer negativen Ethik. Für diese muss sich eine Handlungsweise im praktischen Bewusstsein einer Person als verbindlich erweisen können, ohne dass dieses auf einem Akt der Affirmation gründet. Sie ist hingegen in ihrem Ansatz kritisch, da sie im Bewusstsein ethischen Leides ansetzt, das konkrete Gefahren Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, zum Inhalt hat. Trotz kritischem Ausgangspunkt besteht im Bewusstsein ethischen Leides ein normativer Anspruch, da es ein Bewusstsein vom ethisch Guten darstellt, insofern darin ein Widerspruch zu diesem bewusst wird, somit dessen Negativität darin verortet ist. Die kritische Befragung der praktischen Umstände einer Situation, in der eine Person sich befindet, stellt somit einen Ausgangspunkt ethischer Überlegungen dar und nicht ein unterstelltes Ideal eines gelungenen, sinnerfüllten glücklichen Lebens. Zur Formulierung einer negativen Ethik ist also zunächst darzustellen, wie im praktischen Bewusstsein einer einzelnen Person Die Negativität des Sittlichen
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ethisches Leid verstanden, verhindert und überwunden werden kann. Nicht allein ausgehend von einer Vorstellung der Person als Subjekt aktiver, machtvoller Gestaltung wird eine Auffassung des Misslingens und Gelingens und damit einhergehenden Leides und Glückes möglich. Indem von der Person als verletzlicher und fehlbarer ausgegangen wird, wird ihre Subjektivität zunächst unabhängig vom Besitz der Macht zur Gestaltung ihres Lebens begriffen. In einer praktisch widersprüchlichen Situation erfährt eine Person ethisches Leid, wenn sie sich als diejenige begreift, die das Geschehen erfährt. Wenn sie ein Bewusstsein ethischen Leides herausbildet, ist sie zwar »schicksalslos« 234, das heißt, sie besitzt nicht die Macht ihr Leben zu gestalten, aber sie begreift ihre Lebenswirklichkeit als die ihrige, auch wenn sie dieser ausgeliefert ist. Eine insofern leidende Person kann erst Glück erfahren, wie zum Beispiel in einem Moment der Zuneigung oder wenn glückliche Umstände das Leben retten, nur ist sie nicht Meister ihres Glückes, da sie keine gestalterische Macht über ihr Leben besitzt. Doch das Bewusstsein ethischen Leides steht dennoch nicht der Möglichkeit der philosophischen Ethik entgegen. Es stellt sich als Anlage für ein ethisches Bewusstsein dar, in dem Wissen darüber bestehen kann, was gut zu tun sei, das heißt, wie ein gutes Leben gestaltet werden kann. Das ethische Bewusstsein wird aus dieser Perspektive kritisch dargestellt, da ein Verständnis vom Gelingen und Glück einer Person aus dem Bewusstsein ethischen Leides als Bewusstsein von Gefahren, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, entwickelt wird.
II.
Das Bewusstsein ethischen Leides als Verhältnis zum Sittlichen
Dieser Abschnitt zeigt, dass eine Person, die ein Bewusstsein ethischen Leides herausbilden kann, einen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit ihrer Auffassungen von Gelingen und Misslingen, also Gutem und Bösem herausbilden kann. Innerhalb der eingeübten Gewohnheiten sittlicher Praktiken ist es einer
234 »Schicksalslos« ist hier zu verstehen im Sinne des Titels von Imre Kertészs Roman Roman eines Schicksalslosen. Übersetzt durch Christina Viragh. 14. Aufl. Berlin 2003.
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Das Bewusstsein ethischen Leides als Verhältnis zum Sittlichen
Person sowohl möglich aus Freiheit ein ethisches Leben zu führen, als auch Widersprüche zu erfahren, die Gefahren, Verfehlungen zu begehen oder verletzt zu werden, darstellen (§ 1). Die Widersprüche, denen eine Person im Kontext ihrer Gewohnheiten ausgesetzt ist, können nicht allein als Widersprüche, die innerhalb der Normen sozialer Lebensformen verstanden werden, gefasst werden (§ 2). Mit Bezug auf die einzelne Person werden diese Widersprüche als ethisches Leid bewusst (§ 3). Das Bewusstsein ethischen Leides stellt sich als freies Verhältnis zu Gewohnheiten und Praktiken sozialer Lebensformen dar (§ 4).
1.
Die Macht der Gewohnheit
In der Untersuchung des Bewusstseins vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten als Bewusstsein von Personen, die ihre Lebensweise auf Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen befragen, gilt es den folgenden Punkt zu betrachten: Eine Person handelt im Kontext gegebener Praktiken. Sie sind ihr eine Gewohnheit, die wie eine zweite Natur, ihre Weise zu handeln bestimmt. Dadurch ist sie in eine gestaltete Welt, in der verschiedene Personen zusammenleben, eingebunden. Durch die Herausbildung von Gewohnheiten wird eine Person in einen bestimmten Handlungsraum gesetzt, in dem ihre Bedürfnisse befriedigt werden, in dem sie Gründe sieht und in dem sie sich orientieren kann. Durch die Macht der Gewohnheit wird für eine Person ein Verhalten zu sich und anderen aus Freiheit möglich, denn dadurch ist sie den Umständen verschiedener Situationen nicht ausgesetzt, sondern sie kann Gründe für Verhaltensweisen verstehen, unterscheiden und beurteilen. Zugleich sind in der Ausübung von Gewohnheiten mögliche Gefahr der Verletzung und Verfehlung von Personen zu betrachten, insofern Personen darin verdrängt werden können und somit in bestimmten Umständen Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen ausgesetzt sein können. Mit Bezug auf die Zweiseitigkeit der Macht der Gewohnheit ist also das Bewusstsein ethischen Leides zu begreifen. In der Abteilung des subjektiven Geistes im dritten Teil seiner Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften findet sich bei Hegel eine Charakterisierung der Gewohnheit, welche diese zwei Seiten der Macht der Gewohnheit verständlich macht. Durch Übung bildet ein Individuum bestimmte Fähigkeiten heraus. In der Gewohnheit Die Negativität des Sittlichen
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besteht, so Hegel, eine innere Verbindung von Geist und Leib. 235 Einerseits hat durch die »[…] Gewohnheit […] des Sittlichen […]« 236 das »[…] vernünftige Denken freien Weg […]«. Doch der »Mensch stirbt auch durch Gewohnheit« 237 andererseits. Die Macht der Gewohnheit kann also zur bestimmenden Macht werden, welche die Möglichkeiten, sich als Person zu bestimmen, ausfüllt und auf bestimmte Muster festlegt. Einer Person werden damit die Fähigkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten, genommen. Statt Freiheit zu geben, »[…] verschwindet die Tätigkeit und Lebendigkeit, und die Interessenlosigkeit, die alsdann eintritt, ist geistiger und physischer Tod.« 238 Die Macht der Gewohnheit wird dann zur Gewalt über eine Person. Sie stellt einen Widerspruch zur Freiheit der Person dar, sie verdrängt. 239 Es gilt zu erklären, wie diese Zweiseitigkeit der Macht der Gewohnheit gefasst werden kann. Die Macht der Gewohnheit macht eine Person also frei und gibt ihr die Möglichkeit, ein Leben im Guten zu zu führen. Zugleich geht von ihr eine Gefahr zur Verletzung und Verfehlung aus. Ausgehend von dieser Unterscheidung der beiden Seiten der Macht der Gewohnheit ist der Inhalt des Bewusstseins der leidenden Person als Bewusst-
Vgl. G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der Philosophischen Wissenschaften in ihrem Grundrisse 1938. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Werke 10. Frankfurt am Main 1986, § 410, Zusatz. 236 Ibidem. 237 Beide Zitate: G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke 7. Frankfurt am Main 1986, § 151, Zusatz. 238 Ibidem. Diesen Aspekt der zweiten Natur betonen Georg Lukács (Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied 1963, S. 61 ff.) und Theodor W. Adorno (Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Band 6. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1990, S. 52.) in ihrer Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie. Vgl. dazu außerdem Christoph Menkes Unterscheidung der affirmativen und der kritischen Auffassung zweiter Natur. (Autonomie und Befreiung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 58/5 (2010), S. 675–694, sowie Zweite Natur. Kritik und Affirmation. In: Malte Völk / Oliver Römer / Sebastian Schreull / Christian Spiegelberg / Florian Schmitt / Mark Lückhof / David Nax (Hrsgg.): »… wenn die Stunde es zuläßt«. Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie. Münster 2012, S. 154–171.) 239 Ein Argument dafür, dass die Ethik ohne diese Unterscheidung abstrakt und leer bleibt, weil sie dann die einzelne Person unter konkreten Umständen nicht fasst, findet sich in Emanuel John: Ethisches Leid und soziales Bedürfnis. In: Wort und Antwort. Dominikanische Zeitschrift für Glaube und Gesellschaft. Gerechtigkeit Denken: Perspektiven der Sozialethik. 56/3 (2015), S. 101–106. 235
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sein der Gefahr der Verletzung und Verfehlung, die innerhalb der Ausübung von Gewohnheiten bestehen können, zu fassen. Diese Bewusstseinsinhalte des Bewusstseins ethischen Leides lassen sich, entsprechend der Zweiseitigkeit der Macht der Gewohnheit, in den folgenden drei Punkten erläutern. (1) Die Macht der Gewohnheit macht eine Person frei, da sie durch deren Einübung die Fähigkeit zum Handeln in rationalen Strukturen herausbildet. Dadurch ist eine Person in der Lage, die Gründe ihres Handelns abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Sie befähigt zum Beispiel, Verteilungsgerechtigkeit oder vertragliche Bindungen als Handlungsnormen anzunehmen, die das Handeln einer Person in verschiedenen Kontexten begründet. Als innere Macht übt die Gewohnheit Gewalt aus, wenn bestimmte Handlungsnormen auf eine Weise interpretiert oder gewertet werden, die dazu führt, dass sie andere einschränken und sich schließlich gegen die Anlagen und Bedürfnisse von Personen stellen wie etwa, wenn die Einhaltung eines Vertrages Verteilungsgerechtigkeit unmöglich macht. (2) Des Weiteren versetzt die Macht der Gewohnheit eine Person in die Lage, sich in einem komplexen Zusammenhang von Praktiken zu orientieren, indem sie verschiedene Handlungsnormen in einem Raum von Gründen und Diskurs zusammenbringt. Als äußere Macht übt die Gewohnheit Gewalt aus, wenn diese Orientierung verloren geht. Eine Person kennt sich nicht aus und versteht andere nicht. Das hat etwa zur Folge, dass die Rückwirkungen von Handlungsweisen aufeinander nicht eingesehen und Einsprüche nicht nachvollzogen oder neue Herausforderungen nicht aufgenommen werden können, wie zum Beispiel wenn die negativen Konsequenzen eines Vertrages für die Verteilungsgerechtigkeit gar nicht überblickt werden können. 240 Einen anderen Fall stellen neue oder unbekannte Praktiken, zum Beispiel die fremder Kulturen, dar, welche von außen Orientierungslosigkeit hervorrufen, da für sie keine Verständnis-, Umgangs- oder Bewertungsweise gegeben ist. 241
240 Alasdire Macintyre diskutiert eine solche Begebenheit, vgl. Social Structures and their Threats to Moral Agency. In: Philosophy, 3 (1999), S. 311–329. 241 Barbara Hermann diskutiert dieses Problem in Can Virtue be Thought? In: Ders.: Moral Literacy. Cambridge Mass./London 2008.
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(3) Durch die Macht der Gewohnheit kann eine Person ein gutes ethisches Leben führen, wenn die Handlungsnormen guter ethischer Praktiken mit äußeren Bedingungen zusammenstimmen. Zugleich ist hier eine vollkommene Verkehrung der Macht der Gewohnheit denkbar. Sie wird zur absoluten Gewalt, die das Handeln einer Person vollständig bestimmt, ohne dass sie darin eine Möglichkeit zum guten und richtigen Handeln hat. Hier besteht auf einer Ebene immer noch ein Leben. Es ist aber ein bloß scheinbares Leben, da die Person dort keine Möglichkeit zum Guten sieht. Eine Person erfährt sich in diesem Fall negativ zu ihrer Individualität oder lebt unter einer falschen Vorstellung des Guten. In den drei Punkten zur Macht der Gewohnheit ist zu sehen, dass von ihr eine Gefahr der Verletzung und Verfehlung ausgeht, auch wenn sie eine Person zunächst dazu befähigt, überhaupt irgendetwas zu tun. Es ist im Folgenden das Bewusstsein von diesen Gefahren darzustellen als Bewusstsein innerhalb der Gewohnheiten, ethische Praktiken auszuüben.
2.
Soziale Konflikte und Widersprüche
Wenn eine Person eine konkrete Verletzung erfährt, so heißt das, dass sie in ihren Erwartungen enttäuscht wird, sich nicht zu orientieren weiß, ihr es an Zugang zu geeigneten Mitteln mangelt oder sie physisch an bestimmten Handlungen gehindert wird. Sie findet sich in einem ethischen Problem, Konflikt, also Widerspruch wieder. Doch die Frage, wie eine Person dieses als solche begreift, führt wiederum in ein Dilemma von ethischer Unterbestimmtheit auf der einen und ethischer Überbestimmtheit auf der anderen Seite. Geht man von rein individuellen Erfahrungen von Problemen, Konflikten oder Widersprüchen aus, besteht eine Unterbestimmtheit bezüglich der Möglichkeit, diese ethisch zu deuten. Geht man hingegen von einem externen Kriterium zur Deutung dieser aus, besteht eine Überbestimmtheit. Eine bestimmte Deutung und Lösung von Problemen, Konflikten und Widersprüchen droht durch »ethische Gewalt« 242 aufgezwungen zu werden, insofern diese nicht ausgehend von der ein242 Vgl. Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Übersetzt durch Rainer Ansén und Michael Adrian. Frankfurt am Main 2003, S. 37.
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zelnen Person nachvollzogen werden. Ein Ausweg aus diesem Dilemma verlangt den Zusammenhang zwischen normativen Ansprüchen und einzelner Person darzustellen. Innerhalb dieses Zusammenhangs soll eine Person ein Problem, einen Konflikt oder einen Widerspruch ethisch deuten können. Das Verständnis eines Problems, Konflikts oder Widerspruchs im Zusammenhang von einzelner Person und ethischer Norm kann ausgehend von Axel Honneths Begriff »sozialer Pathologien« 243 nachvollzogen werden. Eine soziale Pathologie stellt nach Honneth einen Mangel einer sozialen Praktik dar, den deren Teilnehmer als Problem, Konflikt oder Widerspruch erfahren. Für ein Verständnis sozialer Pathologien wird vorausgesetzt, dass die Teilnehmer sozialer Praktiken sich auf darin enthaltene normative Ansprüche als kritischen Maßstab für deren Zustand beziehen. Danach erweist sich eine soziale Praxis weder an einem externen Maßstab noch in der Bewahrung der Gestalt bestimmter Praktiken oder Institutionen als gut. Den Gewohnheiten, an sozialen Praktiken teilzunehmen ist hingegen der normative Bezugspunkt für ein kritisches Verhältnis einer Person zu ihrer Situation, in der sie Probleme, Konflikte und Widersprüche erfährt, enthalten. In einem neueren Ansatz wird diese Weise soziale Probleme, Konflikte und Widersprüche zu verstehen und zu kritisieren in einem Begriff sozialer Lebensformen gefasst. Der Bezug auf die konstitutiven Normen von sozialen Lebensformen wird zugleich als Bezugspunkt für die Deutung von Problemen, Konflikten und Widersprüchen und für kritisch, emanzipatorisches Verhalten aufgefasst, wodurch die Überwindung dieser möglich wird. 244 Im Rahmen von sozialen Lebensformen betrachtet, können Gewohnheiten auf die darin enthaltenen normativen Ansprüche sozialer Lebensformen bezogen werden. Der ihnen immanente normative Anspruch besteht in ihrer Funktion, Probleme zu lösen und somit ein freies und gutes Leben zu ermöglichen. Probleme stellen sich als spezifische Widersprüche dar, die in einer sozialen Lebensform angelegt sind und durch sie vereint werden sollen. Soziale Normen sind somit recht verstanden, wenn sie die Einheit verschiedener Teil-
243 Vgl. Axel Honneth: Eine soziale Pathologie der Vernunft. In: Ders.: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der kritischen Theorie. Frankfurt am Main 2007, z. B. S. 49. 244 Vgl. Rahel Jaeggis Unterscheidung von externer, interner und immanenter Kritik. (Vgl. Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Berlin 2014, S. 309.)
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nehmer und Handlungsweisen in einer sozialen Lebensform vereinigen. 245 Sie vereinen somit scheinbar widersprüchliche Aspekte wie individuelle Lebensgestaltung und Verpflichtungen im Familienleben oder Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen im Arbeitsleben. 246 Die Gefahr der Verletzung und der Verfehlung ist in diesem Zusammenhang nun nicht allein darauf zurückzuführen, dass diese Probleme bestehen. Sie liegt vor, wenn diese Probleme nicht mehr gelöst werden können und Widersprüche zu einem Konflikt führen, weil verschiedene Widersprüche nicht mehr vereint werden können. Solche Konflikte geben Anlass zu immanenter Kritik und Entwicklung des Zustandes einer sozialen Lebensform mit Bezug auf deren eigene normative Ansprüche, indem sie neu interpretiert werden. Die drei Punkte zur Macht der Gewohnheit und ein damit einhergehendes Verständnis von Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen können vor dem Hintergrund des Verständnisses sozialer Lebensformen wie folgt gedeutet werden. (1’) In Bezug auf die normativen Ansprüche einer pathologischen sozialen Lebensform erfahren deren Teilnehmerinnen einen Konflikt, da diese falsch aufgefasst werden. Das Bewusstsein für die Gefahr der Verletzung und Verfehlung bildet sich in diesem Fall an den Folgen von deren Realisierung heraus, zum Beispiel wenn der normative Anspruch auf Gerechtigkeit zu unbedingtem Gehorsam verkehrt wird, wodurch neue Widersprüche, etwa zwischen Gehorsam Leistenden und Gehorsam Verlangenden, auftreten. Aktiv kann eine Teilnehmerin diesem durch eine kritische Neuinterpretation des normativen Anspruches entgegenwirken, sodass dadurch Einheit in Gleichheit hergestellt wird. (2’) In Bezug auf äußere Gegebenheiten erfahren Teilnehmer einer pathologischen sozialen Lebensform einen Konflikt, wenn diese mangelhaft oder unter äußeren Einflüssen realisiert wird. Ungenügende Erziehung oder auch zu hohe Komplexität, die Situationen unüberblickbar machen, stellen Gründe für solche Konflikte dar. Zum Beispiel der normative Anspruch auf Gerechtigkeit kann dann angesichts komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge, hoher Kosten oder einer Vielzahl konfligierender Individualansprüche nicht mehr reali245 246
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Ich folge hier Rahel Jaeggis Auffassung sozialer Lebensformen. Vgl. Ibidem. Ibidem, S. 200.
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Das Bewusstsein ethischen Leides als Verhältnis zum Sittlichen
siert werden. Das Bewusstsein für die Gefahr der Verletzung und Verfehlung bildet sich in diesem Fall an dem Kontrast von normativen Ansprüchen und Realität heraus, insofern Erstere nicht eingelöst werden können. Solchen Konflikten kann eine Teilnehmerin etwa durch eine Kritik am Zustand von Institutionen begegnen. (3’) Im Falle des Zerfalls einer sozialen Lebensform wird ein absoluter Konflikt erfahren. Die soziale Lebensform zerfällt, weil eine Person ihre Gewohnheiten nicht mehr im normativen Kontext einer sozialen Lebensform begreifen kann. Zum Beispiel der normative Anspruch auf Gerechtigkeit verliert gegenüber anderen normativen Ansprüchen oder Einzelinteressen seine Bedeutung für die Deutung und Lösung von Problemen unter gegebenen Umständen. Mit Bezug auf die in sozialen Lebensformen enthaltenen normativen Ansprüche bildet eine Person ein Bewusstsein für Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen an der Unmöglichkeit zur immanenten Kritik und Entwicklung heraus, etwa weil andere den Bezug auf die Norm der sozialen Lebensform nicht mehr teilen oder weil sie durch Gewalt daran gehindert werden. Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen können dann aber nicht mehr im Sinne einer sozialen Pathologie verstanden werden, wonach eine Weise der Ausübung einer sozialen Lebensform als Konflikt erfahren wird. Hier besteht das Bewusstsein von Verfehlungen und Verletzungen einer Person im Zerfall oder Verschwinden der sozialen Lebensform, durch deren Normen Kritik und Entwicklung zur Überwindung von Konflikten und möglichen Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen möglich wäre. Es gilt zu zeigen, wie solch ein Bewusstsein von Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen im Bewusstsein ethischen Leides einer Person überhaupt möglich ist.
3.
Die Heimat der Person
Innerhalb der Normen einer sozialen Lebensform, der darin enthaltenen Möglichkeiten zur Deutung und Überwindung von Problemen, Konflikten und Widersprüchen, kann das Leiden der Person nicht verstanden werden. Es ist noch ein weiterer Schritt nötig, um zu begreifen, was es heißt, dass eine Person ein Bewusstsein ethischen Leides herausbildet. In Rahel Jaeggis Ansatz der immanenten Kritik sozialer Lebensformen finden wir wieder einen Hinweis darauf, worin Die Negativität des Sittlichen
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dieser Schritt besteht, wenn sie sagt: »Der Konflikt bricht als konkreter und spezifischer entlang solcher Konfliktlinien [innere Widersprüche einer Lebensform, Anm. E. J.] erst auf, sobald sich Akteure seiner annehmen.« 247 In diesem weiteren Schritt gilt es also zu verstehen, was es für eine Person als Akteur bedeutet, sich eines Konfliktes anzunehmen und ihn somit als konkretes Problem zu verstehen und zu artikulieren. Akteurinnen werden hier als Teilnehmerinnen einer sozialen Lebensform betrachtet. Damit ist der Rahmen, in dem eine Person als Akteur Konflikte auf sich nehmen kann, gesetzt. Geht man jedoch von Personen und nicht bloß von Teilnehmerinnen einer sozialen Lebensform aus, erweitert sich das Verständnis von Konflikten, den davon ausgehenden Gefahren der Verletzung und Verfehlung und somit des Verständnisses davon, was es heißt, einen Konflikt auf sich zu nehmen. Aus der Perspektive der leidenden Person ist das Verständnis von Konflikten, dem Leiden an diesen und der Möglichkeit diesen zu begegnen, weiter zu fassen als der normative Rahmen einer sozialen Lebensform, was durch eine Gegenüberstellung zur Perspektive der Person als Teilnehmer einer sozialen Lebensform verdeutlicht werden kann. In der sozialen Lebensform liegen Ressourcen zum Verständnis von Problemen und folglich zur Kritik bereit. Diese Perspektive ermöglicht eine Analyse der Beschädigungen der sozialen Welt. Aus der Perspektive der Person, die an einer sozialen Lebensform teilnimmt, zeigt sich eine weitere Dimension des Bewusstseins des durch soziale Verhältnisse hervorgerufenen Leides. Demnach sind nicht die normativen Relationen, in denen eine Person als Teilnehmer einer sozialen Lebensform steht, primär für das Verständnis von deren Leid. Den primären Bezugspunkt stellt eine Person in ihrer Singularität dar. Das heißt nicht, dass sie unabhängig vom Kontext einer sozialen Lebensform betrachtet werden kann. Vielmehr ist es so, dass ausgehend von der Person, die in ihrem singulären Gelingen, ihrer Existenz und ihrer Sinn- und Glückserfahrung unverfügbar ist, ein ethisches Verständnis der heilen oder beschädigten Welt der sozialen Lebensform erst möglich wird. Noch vor der Kritik und Entwicklung sozialer Lebensformen ist dann bei Klagen, Empörungen und Bedürfnissen einer einzelnen Person anzusetzen. Erst aus dieser Perspektive kann von Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen im Bewusst-
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Vgl. Ibidem, S. 389.
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Das Bewusstsein ethischen Leides als Verhältnis zum Sittlichen
sein ethischen Leides einer Person und nicht allein von Konflikten der sozialen Lebensformen, an denen sie teilnimmt, gesprochen werden. Diese Unterscheidung von Teilnehmerin und Person zeigt sich erstens darin, dass ausgehend von der Singularität der Person, Leid und Konflikte innerhalb einer sozialen Lebensform in Bezug auf die Existenz und das Gelingen des Lebens der Person als solcher betrachtet wird. Jede Gefahr wird somit als universelle Herausforderung zur Wahrung personalen Lebens und nicht bloß als lokaler Konflikt wahrgenommen. Dieses ist möglich aufgrund des Doppelaspektes, in dem für die freie Person das Verhältnis von Geist und Leben zu fassen ist. 248 Zwischen diesen besteht einerseits Simultanität und andererseits Diskontinuität. 249 Im Kontext dieser Untersuchung heißt das: Einer Person ist es nur als Individuum, das in bestimmte Gewohnheiten eingeübt ist, möglich, die Fähigkeit herauszubilden, ein gutes, gelingendes Leben zu führen. Insofern besteht ein Verständnis allgemeinen und unbedingt verbindlichen ethischen Anspruchs »simultan« mit bestimmten Gewohnheiten. Doch zugleich ist die Einheit der ethischen Lebensform dadurch nicht erschöpfend dargestellt. Als vernunftbegabtes Wesen kann eine Person deshalb in Differenz zu Gewohnheiten und Praktiken stehen. Insofern muss notwendigerweise »Diskontinuität« zwischen Gewohnheiten und dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit bestehen, da ansonsten kein freies Verhältnis einer Person zu einer sozialen Lebensform möglich wäre. 250 Zweitens zeigt sich diese Unterscheidung von Person und Teilnehmerin in der Möglichkeit, soziale Lebensformen selbst mit Bezug 248 Vgl. hierzu auch Christoph Menkes Darstellung des Doppelcharakter der Person – Christoph Menke: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main 2004, S. 41–49. 249 Vgl. Thomas Khurana: Life and Autonomy. Forms of Self-Determination in Kant and Hegel. In: Ders.: (Hrsg.): The Freedom of Life: Hegelian Perspectives. Freiheit und Gesetz III. Berlin 2013, S. 192–193. 250 An dieser Stelle lohnt es sich zur Verdeutlichung aus Thomas Khuranas Diskussion des Hegelschen Begriffs eines autonomen Lebens zu zitieren. Er verdeutlicht darin, warum dieser Doppelaspekt eine notwendige Konsequenz des rechten Verständnisses seiner beiden Seiten darstellt. »A minded creature does not merely fall under its respective form of life; it has a relationship to its form of life and to its membership in that form of life. It is only this relation, this difference between a form of life and its participant members, that prevents second nature from becoming merely mechanical. A second nature only remains ›lively‹ as long as it can be held open in the process of formation and reformation.« Ibidem, S. 192.
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auf die einzelne Person zu beweisen, das heißt, dass sie zumindest nicht durch deren Verdrängung dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit widerspricht. 251 Ihr Bewusstsein für die Gefahr von Verletzungen und Verfehlungen schafft ein Verständnis von dem, was sie bedarf und motiviert somit neue Perspektiven und Gestaltungsräume. Doch das gute und gelingende Leben, das eine Person anstrebt, stellt ein unendliches und somit unerschöpfliches Gut dar. Somit kann auch nicht durch eine Theorie sozialer Lebensformen erschöpfend bestimmt werden, was eine soziale Lebensform zur Heimat der Person macht, es kann lediglich gezeigt werden, unter welchen Umständen die einzelne Person überhaupt Beachtung finden kann. Indem eine soziale Lebensform als die mögliche Heimat einer Person betrachtet wird, wird eine kritische Auffassung der Vorstellungen einer heilen sozialen Welt möglich. Das heißt konkret, in einer sozialen Lebensform und unter der Macht der Gewohnheit lebt eine Person nicht auch notwendig im Guten und führt nicht notwendig ein gelingendes Leben. Vielmehr wird ausgehend von deren singulärer Perspektive, nicht primär durch die in einer sozialen Lebensform enthaltenen normativen Ansprüche, erst begreifbar, wie eine heile soziale Welt aussehen sollte, in der sie ein ethisch gutes Leben führen könnte. Wie Gewohnheiten und soziale Lebensformen aufzufassen und zu gestalten sind, ist also mit Bezug auf die Person zu verstehen, die in ihrer Singularität Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen als Gefahren ihrer Existenz und ihres Lebens begreift. Die beiden aufgeführten Aspekte bringen uns zu dem Punkt, an dem eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation ein Bewusstsein der Gefahr von Verletzungen, von Verfehlungen herausbilden kann und somit offen wird für eine verbindlich überzeugende Antwort auf die Frage »Was soll ich tun?«. Das Bewusstsein des Leides kann in der gleichen Struktur der oben aufgeführten Macht der Gewohnheit (§ 1) und Konflikten sozialer Lebensformen (§ 2) dargestellt werden. Trotz der strukturellen Kontinuität wandelt sich aber jeder Punkt in dieser Struktur fundamental, sodass jede Ebene aus der Perspektive der Person in ihrer Singularität als Gestalt des Bewusstseins ethischen Leides nachvollzogen wird. Aus dieser Perspektive 251 Dieser Zusammenhang findet sich schon in der Thomistischen Sozialphilosophie, wie Bernhard Welty zeigt – Gemeinschaft und Einzelmensch. Eine sozialmetaphysische Untersuchung. 2. Aufl. Leipzig 1935, S. 133–137.
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verliert die Idee einer heilen sozialen Welt nicht ihre Bedeutung, sondern sie gewinnt erst Bedeutung im Lebensvollzug einer Person. (1’’) Ein Bewusstsein ethischen Leides bildet eine Person in Bezug auf die Unfähigkeit heraus, die Herausforderungen, die unter den Umständen einer Situation gegeben sind, richtig zu fassen. Anders als bei einem Konflikt, der aus der Verkehrung der Norm einer sozialen Lebensform folgt, besteht hier das Problem im Scheitern einer Person, zu einer guten Erklärung einer Situation zu kommen. Die Beschädigung der sozialen Welt zeigt sich im Extremfall im Fehlen der sprachlichen und begrifflichen Mittel zur Fassung und Lösung von Problemen und Konflikten. Für die Person in ihrer Singularität besteht zugleich eine Offenheit für andere oder neue Erklärungsweisen, die nicht nur zur Problemlösung herausfordern, sondern die Möglichkeiten personalen Lebens erweitern. Aufforderung durch Fremde und der Dialog mit ihnen wird somit zur Chance, soziale Lebensformen als Heimat von Personen zu gestalten, da nicht mehr die Bindung an einen bestimmten Rahmen, sondern das im allgemein, unbedingt verbindlichen Guten enthaltene Gemeinsame den primären Bezugspunkt darstellt. (2’’) Ein Bewusstsein ethischen Leides kann eine Person zudem in Bezug auf die Unfähigkeit, Erklärungs- und Handlungsweisen wirksam auszuüben, herausbilden. Eine Person nimmt dann die mangelhafte Realisierung der normativen Ansprüche einer Lebensform als hinderlich für ein gelingendes Leben wahr. Doch hängt das Gelingen ihres Lebens somit zugleich nicht einzig vom Zustand einer sozialen Lebensform ab. Sie ist zudem offen für andere Möglichkeiten zum gelingenden und glückenden Lebensvollzug. Das heißt, eine Person ist offen für andere Umstände und Lebensweisen, in denen sie unabhängig vom Bestehen konkreter Lebensformen ein Leben führen kann. Im extremsten Fall äußert sich dieses im Gedanken an die Migration, welche hier aber nicht zwangsläufig den Verlust von Heimat als Person bedeutet, sondern im Gegenteil, dadurch motiviert sein kann, diese in einem neuen sozialen Kontext zu finden. (3’’) Eine Person kann zudem ein Bewusstsein ethischen Leides in einer scheinbar heilen sozialen Welt herausbilden, wenn diese soziale Welt einer Person nicht die Möglichkeit für gelingendes Leben bietet. Anders als wenn ein Konflikt einer sozialer Lebensform betrachtet Die Negativität des Sittlichen
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wird, liegt die Verhinderung eines guten Lebens nicht in deren Zerfall oder Verschwinden. Das Problem besteht, wenn eine soziale Lebensform als gut funktionierend und unbeschädigt erscheint, jedoch ohne, dass darin ein ethisch gutes Leben, sondern allein ein Leben durch die Normen der sozialen Lebensform möglich ist. Dann können bestimmte Probleme, Konflikte und Widersprüche, die im Lebensvollzug einer Person auftreten können, nicht in den in sozialen Lebensformen enthaltenen Ansprüche artikuliert und durch immanente Kritik und Entwicklung umgesetzt werden. In der Möglichkeit, ein Bewusstsein von den Gefahren der Verletzung und Verfehlung herauszubilden, denen eine Person in diesem Fall ausgesetzt ist, tritt der Unterschied der Perspektive auf soziale Lebensformen ausgehend von der Person in ihrer Singularität und ausgehend von der Person als deren Teilnehmer am deutlichsten hervor. Von der Person in ihrer Singularität aus betrachtet, ist ein aktives Verhalten zu diesen Gefahren immer noch möglich, wenn sie ein Bewusstsein ethischen Leides als Mangel an ethisch Gutem herausbildet. Ein Teilnehmer einer sozialen Lebensform kann Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen nicht verstehen, da sie nicht mit Bezug auf die Norm der sozialen Lebensform selbst gedeutet werden kann (vgl. 3’ in § 2). Diese Art des ethischen Leides wird in Bezug auf eine Person erst fassbar und verweist auf den Punkt, an dem der normative Rahmen einer sozialen Lebensform zu eng ist, um ein Bewusstsein des eigenen Lebensvollzuges mit Bezug auf das ethisch Gute zu begreifen. Die Darstellung des Bewusstseins ethischen Leides im Verhältnis zu Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen verlangt eine Erläuterung davon, wie jenes mit diesen zusammenhängt: Auf der einen Seite ist die Person Individuum, das durch die Macht der Gewohnheit und durch die normativen Ansprüche sozialer Lebensformen bestimmt ist. In deren Kontext sind einer Person Möglichkeiten und Fähigkeiten gegeben, die den Vollzug ihres Lebens bedingen und ermöglichen. Auf der anderen Seite ist das Leben der Person durch Gewohnheiten und soziale Lebensform nicht erschöpfend bestimmt, was die unverfügbare einzelne Person zum Bezugspunkt macht. Dadurch wird die Frage nach dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten möglich, das seine Negativität gegenüber den Bestimmungen von Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen behält. Von dieser doppelten Struktur ausgehend ist der Punkt zu finden, in dem sich das Verhältnis beider Seiten darstellt, bei Anerkennung der Un208
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abschließbarkeit dieses Verhältnisses. Um zu diesem Punkt zu gelangen, bedarf es somit keines weiteren Schrittes, sondern er zeigt sich in den konkreten Inhalten des Bewusstseins des ethischen Leides. Darin stehen beide Seiten, Person in ihrer Singularität und als eingeübter Teilnehmer, in einem Verhältnis ohne abschließend ineinander aufzugehen. Das Bewusstsein des Leidenden ist nicht eines der Selbstbestimmung oder Selbstkonstitution im Guten, das die verschiedenen Gegebenheiten, durch die eine Person bestimmt wird – die Macht der Gewohnheit und der Rahmen einer sozialen Lebensform – im allgemein, unbedingt verbindlich Guten gestaltet. Hingegen stehen im Bewusstsein ethischen Leides beide Seiten im Lebensvollzug einer Person zusammen, werden aber als Widerspruch erfahren. Somit ist die Negativität und Unbestimmtheit des ethischen Anspruchs auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit im Lebensvollzug der Person verortet. Das heißt, sie ist im Bewusstsein der Gefahren zu Verfehlungen und verletzt zu werden, denen eine Person im Kontext von Gewohnheiten und sozialen Lebensformen ausgesetzt ist, verortet.
4.
Die Freiheit des Bewusstseins ethischen Leides
Das Bewusstsein von ethischem Leiden hat einerseits die Gefahr der Verletzung und Verfehlung zum Gegenstand, denen eine Person ausgesetzt ist. Auf der anderen Seite wird die freie Aktivität einer Person vorausgesetzt, durch die ethisches Leid für sie Bedeutung erlangt. Es scheint, als bestünde hier ein Paradox: Die Gefahr einer Verletzung oder Verfehlung stellt eine Einschränkung für eine Person dar, ein Bewusstsein davon setzt die freie Person in ihrer Singularität aber zugleich voraus. Doch ein Paradox besteht hier nur, wenn die freie Aktivität einer Person als gelingendes Leben und das misslingende Leben als Mangel an freiem aktiven Verhalten, somit Passivität, verstanden wird. Doch das ist, wie oben gezeigt wurde, nicht der Fall. Ein Individuum ist nicht erst, wenn es die Fähigkeit zum Gelingen eines guten Lebens herausgebildet hat, als freie Person zu betrachten. Vielmehr geht aus der Darstellung des Bewusstseins des Leides eine umgekehrte Betrachtungsweise hervor. Eine Person kann sich zu einer sozial und historisch bestimmten Situation verhalten, indem sie ein Bewusstsein von der darin auftretenden Gefahr von Verletzungen und Verfehlungen herausbildet. Sie verhält sich einerseits negativ zu dem gegebenen sozialen Zusammenhang einer sozialen Lebensform. Die Negativität des Sittlichen
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Im Bewusstsein des Leides von Gefahren verletzt zu werden oder eine Verfehlung zu begehen, wird sie aber andererseits im Kontext ihrer sozial und historisch bestimmten Situation wiederum als einzelne, das heißt als Subjekt, ansprechbar. Die eben genannte Spannung von erfahrenem Leid und freier Aktivität stellt somit kein Paradox im Begriff des Bewusstseins des Leides dar. Sondern in deren Zusammenhang besteht die Form einer spezifischen Weise von vernünftiger Aktivität, in welcher eine Person das konkret erfahrene Leid in der Einheit ihres Lebens begreift. Im Bewusstsein von Leid zeigt sich also zugleich die Singularität der Person, da sie einen Mangel als Leid, als Teil ihrer Lebensvollzüge begreift. Dieser Bezug gibt dem Bewusstsein des Leidenden die Form des Selbstbewusstseins, insofern der Inhalt des Bewusstseins von Leid oder Gefahren der Verletzung und Verfehlung nur in Bezug auf den Gebrauch der ersten Person besteht, ohne aber diese Form des Selbstbewusstseins als Selbstkonstitution oder Selbstbestimmung fassen zu müssen. Die einzelne Person wird darin zunächst Bezugspunkt; sie tritt als diejenige, die ein Bewusstsein ethischen Leides von konkreten Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen auf unvertretbare Weise herausbildet, hervor. Nur aus ihrer Perspektive, nicht von einen externen Standpunkt oder von der Seite aus, kann der Inhalt dieses Bewusstseins gefasst werden. Das Bewusstsein ethischen Leides ist somit nicht allein aus der Passivität einer Person zu verstehen, die im Gegensatz zu deren Aktivität, wie sie sie etwa beim Fassen von Beschlüssen oder der Realisierung von Plänen zu Schau stellt, steht. Im Bewusstsein ethischen Leides besteht vielmehr ein Zusammenhang von Passivem und Aktivem. 252 Das Verständnis der Verletzung und Verfehlung kann somit nur ausgehend von der einzelnen Person entwickelt werden. Der Verständnis eines Mangels oder Defektes, gefasst von außen, ist für die selbstbewusste Ausübung von Fähigkeiten leer und irrelevant. Durch diese Aktivität artikuliert sie Verletzungen und Verfehlungen so, dass sie als ethisches Problem, Konflikt oder Widerspruch erst aufgefasst 252 Vgl. hierzu auch Richard Morans Diskussion von Harry Frankfurts Gegenüberstellung von Aktivität und Passivität in: Frankfurt on Identification: Ambiguities of Activity in Mental Life. In: Sarah Buss / Lec Overton (Hrsgg.): Contours of Agency. Essays on Themes from Harry Frankfurt. Cambridge Mass./London 2002, S. 189– 217. Passivität stellt nach Moran nicht einen Gegenpol zur Aktivität dar. Vielmehr wird Passivität innerhalb eines aktiven Verhältnisses zu einer Erfahrung, der man passiv ausgesetzt ist, verstanden.
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werden können. Diese Aktivität besteht zunächst nicht in einem positiven Gegenentwurf eines Lebens ohne Leid, sondern darin, als Person in ein Verhältnis zu den Bestimmungen von Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen zu treten. Dadurch wird eine Perspektive auf ihren Lebensvollzug als ihr Lebensvollzug und nicht bloß als in Gewohnheiten und sozialen Lebensformen bestimmter Lebensvollzug möglich. Durch die Entwicklung dieser Perspektive besteht überhaupt erst die Anlage zur Verneinung und Überwindung ethischen Leides. Doch bevor diese untersucht werden könne gilt es zunächst, ein Verständnis dieser Form der Aktivität im Bewusstsein ethischen Leides zu entwickeln, durch die es als Bewusstsein vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten verstanden wird, das gegenüber den Bestimmungen von Gewohnheiten und Normen sozialer Praktiken Negativität behält.
III. Die Klage über ethisches Leid als Ausdruck von Freiheit Dieser Abschnitt stellt die Form des Bewusstseins ethischen Leides, durch die es als Bewusstsein vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten verstanden wird, dar. Das Bewusstsein ethischen Leides ist der Ort der Negativität, insofern eine Person es herausbildet, indem sie sich auf ethische Widersprüche besinnt (§ 1). Bei der Besinnung auf ethische Widersprüche begreift eine Person sich als ethisches Subjekt, das fähig ist, ethisches Leid zu beklagen (§ 2). Der Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit im Bewusstsein ethischen Leides geht mit der spezifischen Form, ethisches Leid zu beklagen, einher (§ 3). Diese spezifische Form, ethisches Leid zu beklagen, besteht darin, dass andere Personen beim Hören einer Klage die darin geäußerte Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit fassen können (§ 4).
1.
Subjektwerdung durch Selbstbesinnung
Im Bewusstsein ethischen Leides ist eine Person aktiv, insofern sie sich zu ihrer sozial und historisch bestimmten Situation verhält. Zugleich ist eine Person im Bewusstsein ethischen Leides passiv, insofern sie nicht als Gestalter ihrer Situation auftritt, sondern sich ledigDie Negativität des Sittlichen
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lich zu Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen verhält. Zur Konkretisierung des Verständnisses des Zusammenhanges von Aktivität und Passivität der Person im Bewusstsein ethischen Leides, erweist sich Theodor W. Adornos Begriff »geistiger Erfahrung« in seiner Vorlesung Probleme der Moralphilosophie 253 als hilfreich. Einer geistigen Erfahrung liegt eine selbstbewusste, geistige Aktivität zugrunde, die den Zusammenhang der verschiedenen Momente, die auf deren Subjekt einwirken, schafft. Doch Adorno geht hier nicht schon von einer Auffassung des Geistes aus, der sich in einer vernünftigen Welt verwirklicht und fähig ist, alle Widersprüche aus sich zu überwinden. Stattdessen begreift er in geistigen Erfahrungen zunächst eine Ebene, auf der das Geistige ohne Darstellung solcher Fähigkeiten erfasst wird. Geistige Erfahrungen stellen für ihn die singulären Erfahrungen des Widerspruchs von Geist und materiellen Gegebenheiten dar. Um diese Art der Erfahrung zu fassen, ist die Begrifflichkeit der »Selbstbesinnung« 254, die Adorno im Zusammenhang mit geistigen Erfahrungen einbringt, heranzuziehen. Diese macht die Weise des Tätigseins in der geistigen Erfahrung verständlich, in der eine Allgemeinheit nicht in der Welt ausgebreitet und mit dem Partikularen versöhnt wird, sondern als Widerspruch erfahren wird. Er charakterisiert »Selbstbesinnung« wie folgt: »Und das was sich dem entzieht, was man in einem sehr empathischen Sinn Subjekt nennen könnte, das ist nichts anderes als jene Selbstbesinnung, jene Besinnung auf das Ich, in der das Ich merkt: Ich bin ja selber ein Stück Natur – und gerade dadurch wird es der blinden Verfolgung der Naturzwecke ledig und zu etwas anderem.« 255 Was Adorno hier SelbstTheodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie. Vorlesungen. Nachgelassene Schriften Band 10. Frankfurt am Main 2010, S. 153. In Negative Dialektik redet Adorno hingegen von »metaphysischer Erfahrung«. Ob und inwiefern hier ein Unterschied zwischen beiden Formulierungen besteht, kann hier nicht geklärt werden. Hier stellen die Vorlesungen Probleme der Moralphilosophie die geeignete Referenz dar, da sie denselben Gegenstand wie diese Untersuchung thematisieren. (Vgl. Ders.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Band 6. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1990, S. 364–365.) 254 Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie (1963). Vorlesungen. Nachgelassene Schriften Band 10. Frankfurt am Main 2010, S. 154. In der Negativen Dialektik wird »Selbstbesinnung« in folgenden Passagen thematisiert: Ders.: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften Band 6. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1990, S. 384– 385. 255 Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie (1963). Vorlesungen. Nachgelassene Schriften Band 10. Frankfurt am Main 2010, S. 154. 253
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besinnung nennt, stellt eine Form von Aktivität in der Erfahrung einer Person dar. Sie besteht hier im denkenden Verhalten zu den Bedingungen des Handelns und der Möglichkeit von dessen Erklärung in einer Situation. Wenn eine Person eine »geistige Erfahrung« macht, verhält sie sich also aktiv zu den Bedingungen ihrer Situation und begreift, dass sie mehr ist als das, was ihre Handlungsmöglichkeiten in einer Situation bestimmt. Wenn Adorno nun in der eben zitierten Passage sagt, das Ich merke durch Selbstbesinnung, es sei selber ein Stück Natur, kann das also so verstanden werden, dass eine Person sich zunächst nur ihrer materiellen Bestimmungen, also der Macht der Gewohnheit und der Normen sozialer Lebensformen, bewusst wird. Doch damit betrachtet sie ihre Situation und darin bestehende Gegebenheiten zugleich aus einer herausragenden Position, die durch ihre materiellen Gegebenheiten nicht erschöpfend bestimmt wird. Das Bewusstsein des Leidenden stellt nichts anderes als die so verstandene denkende Aktivität der Selbstbesinnung dar. Da dieses Bewusstsein aus den materiellen Gegebenheiten herausragt, ist es zugleich offen für andere Möglichkeiten oder zumindest für ein anderes Handeln unter den gegebenen Möglichkeiten. Das Bewusstsein ethischen Leides stellt folglich eine denkende Aktivität dar, da eine Person sie darin in ethischen Ansprüchen begreift, aber ohne die Möglichkeit und Weise zu begreifen, auf die sie diese selbstbestimmt oder selbstkonstituierend realisieren kann. Durch die Betrachtung von Adornos Auffassung von »Selbstbesinnung« und »geistiger Erfahrung« kommen wir dem Ansatzpunkt des Bewusstseins des Leides näher. Eine weitere Präzisierung dieses Ansatzpunktes ist jedoch nötig, insofern noch nicht klar ist, unter welchen Voraussetzungen eine Person zur Selbstbesinnung fähig ist. Es liegt nahe anzunehmen, Selbstbesinnung als kritisches Verhältnis zu Gewohnheiten und sozialen Lebensformen sei als Prozess sozialer Kritik und Selbstverständigung zu verstehen, der die Zuschreibung von bestimmten personalen Kompetenzen voraussetzt. Zum Beispiel könnte angenommen werden, eine Person müsse die Kompetenz zur »kritischen Rekonstruktion« ihrer sozialen und historischen Situation besitzen, um die Situation verstehen und kritisieren zu können. 256 Diese Kompetenz soll einer Person ermöglichen, die sozialen Praktiken, in denen sie sich befindet, durch normative Vgl. Robin Celikates: Kritik als soziale Praxis: Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt am Main/New York 2009, S. 187 ff.
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Maßstäbe zu begreifen. 257 Doch wie wäre eine solche Kompetenz genau zu definieren? Eine Möglichkeit zur Definition einer solchen Kompetenz besteht darin, deren Ausübung an formelle oder prozedurale normative Bedingungen zu binden. Erst dann handelte es sich nicht bloß um eine Rekonstruktion, sondern um eine kritische Rekonstruktion. Eine kritische Rekonstruktion normativer sozialer Strukturen würde dann mit dem Ziel ausgeübt, deren vernünftigen Gehalt oder normative Tiefenstruktur so zu verdeutlichen, dass Konflikte und Verletzungen in den bestehenden Praktiken verständlich werden. Die normativen Bedingungen, an die die Kompetenz zur kritischen Rekonstruktion gebunden ist, wird somit zugleich als konstitutiv für das Selbstverständnis einer Person betrachtet, die am sozialen Prozess der Kritik sozialer Praktiken teilnimmt, insofern sie dadurch begreift, wie sie durch diese bestimmt wird und was anders sein sollte. Doch Robin Celikates zeigt uns, dass der Versuch, eine zugrunde gelegte Kompetenz und die normative Bedingung von deren Ausübung zu definieren, problembehaftet ist, da sie »mehr zu sein beansprucht als eine mögliche Interpretation des Selbstverständnisses der Akteure, die umstritten ist und in Konkurrenz zu anderen Rekonstruktionen steht, zwischen denen allein in der gesellschaftlichen Praxis der Selbstverständigung entschieden oder abgewogen werden kann«. 258 Diese Einsicht besagt nicht, dass das Selbstverständnis von Akteuren nicht intrinsisch normativ sein kann. Es wird lediglich gesagt, dass der Ansatzpunkt für ein intrinsisch normatives Selbstverständnis nicht in der situationsunabhängigen Definition einer bestimmten Kompetenz, wie der zur kritischen Rekonstruktion, liegt. Die im Selbstverständnis erlangte Rekonstruktion der sozialen historischen Situation ist zunächst allein aus der Perspektive einer einzelnen Person und nicht von einem übergeordneten Standpunkt aus zu verstehen, da sie sonst voreingenommen betrachtet würde. Ein Selbstverständnis, verstanden im Sinne von Adornos Auffassung der »Selbstbesinnung«, verlangt einen Ansatzpunkt, der Ausgang von der jeweiligen Situation einer Person nimmt. Aus dieser kann ein normatives Verständnis dessen, was eine Person bedarf, erst weiterführend herausgebildet werden, anstatt den Ansatzpunkt durch
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normative Bedingungen zu erklären, die eine Person als Träger von Kompetenzen bestimmen. 259 Denn Vermutungen über die Kompetenzen, diese auszuüben, liefern uns hier kein Verständnis des Ansatzpunktes der Selbstverständigung gemäß der Selbstbesinnung, durch die eine Person sich erst als Subjekt in einer Situation verortet und diese nicht von einem vorgegebenen Standpunkt aus betrachtet. 260 Kann nun überhaupt etwas über den gesuchten Ansatzpunkt der Selbstbesinnung gesagt werden? Diese Frage stellt sich, da dieser zugleich normativ wie auch ohne Voraussetzungen zu verstehen ist. Diese Frage muss mit »Nein« beantwortet werden, wenn dieser Ansatzpunkt unabhängig von einer Person in einer bestimmten Situation gefasst werden soll. Was uns, ohne jegliches konkretes Verständnis von Normen eines Prozesses oder einer Theorie über das Gute bleibt, ist der Ausdruck bestimmter Personen in bestimmten Situationen von ihrem Leid. Er bezieht sich auf einen unausweichlichen Widerspruch gegen das Leben von Personen. Jedoch ist ein Ausdruck von Leid nicht als eine bloße Reaktion auf die Erfahrung eines solchen Widerspruches zu verstehen. Auf diese kann auch mit zwanghaftem Fortführen von Handlungsweisen und bloßem Aushalten reagiert werden. Ein Bewusstsein ethischen Leides stellt eine besondere Auffassung dieses Widerspruchs als Gefahr zur Verfehlung und Verletzung dar, die erst durch die Aktivität der Selbstbesinnung möglich wird. Ob diese Frage mit »Ja« beantwortet werden kann, hängt dann davon ab, ob ausgehend vom Ausdruck des Leides einer Person ein Verständnis dessen, was gut zu tun ist, entwickelt werden kann. Dieser mögliche Ansatzpunkt, der im Ausdruck einer Person in einer bestimmten Situation besteht, wäre wie folgt zu verstehen. Der basale Ausdruck liegt in der Klage, in der noch kein Verstehen, aber ein Verhalten zur Situation besteht, welches nach Verstehen und Artikulation verlangt. Wir können hier also festhalten, dass die Aktivität im Bewusstsein des Leides im Ausdruck einer Klage besteht. Selbstver-
259 Vgl. hierzu auch Alice Crarys Kritik des »Moral Individualism« in: Minding What Already Matters. A Critique of Moral Individualism. In: Philosophical Topics. 38/1 (2010), S. 17–49. 260 Soziologische Ansätze, die allein im Selbstverständnis von Akteuren Kritik begründen, treffen auf ähnliche Probleme: Vgl. Luc Boltanski: Soziologie und Sozialkritik – Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008. Übersetzt durch Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main 2010.
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stehen und Selbstbesinnung sind also ausgehend von der Klage über konkrete Verletzungen und Verfehlungen, oder die Gefahr zu diesen, zu verstehen.
2.
Klagen als Ansatzpunkt
Es gilt nun darzustellen, worin der Ausdruck einer Klage über ethisches Leid besteht. In dieser, so haben wir im vorherigen Abschnitt gesehen, liegt der Ansatzpunkt des Bewusstseins vom ethischen Leid. Durch das Beklagen von Leid macht sich eine Person zunächst zum möglichen Bezugspunkt für weitere Überlegungen, das was gut oder schlecht ist betreffend, ohne dass sie ein abschließendes Urteil schon gefällt oder eine gute Handlung schon vollzogen haben muss. Der Ausdruck einer Klage stellt eine Form der Subjektivität dar, die noch nicht abschließend in einem allgemeinen Prinzip bestimmt ist, und somit durch keine Art von eingeübten Fähigkeiten und Handlungsweisen erfasst werden kann. Hier geht es etwa nicht um eine Unterscheidung zwischen einem Leben nach vorbestimmten Möglichkeiten und einem, in dem sich eine Person Handlungsweisen und Werte als die ihrigen aneignet. 261 Die Aktivität in der Klage besteht nicht in der Aneignung bestimmter Handlungsweisen oder Werte, sondern es bildet sich zunächst lediglich ein Bewusstsein für die Gefahr der Verletzung und Verfehlung heraus. Die Subjektivität des Ausdrucks der Klage einer Person ist ebenso von Heideggers »ureigenster Möglichkeit« endlicher Existenz in Sein und Zeit zu unterscheiden. 262 Die Subjektivität einer Person besteht nicht in Bezug auf die uneinholbare Erfahrung des Todes als »ureigener Möglichkeit« ihres Lebens. Die Subjektivität der Person besteht im Ausdruck ihrer Klage hingegen im aktiven Verhalten zu den konkreten Umständen der Situation, in der sie sich befindet. In diesem Verhältnis besinnt sie sich auf sich und positioniert sich zu den Umständen einer sozial und historisch bestimmten Situation. 263 Das heißt, eine Person durchläuft nicht bloß die verschiedenen gegebenen Handlungsmöglichkeiten 261 Vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Frankfurt am Main 2003, S. 410–411, und Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems. Frankfurt am Main/New York 2005, S. 192–193 und S. 195. 262 Martin Heidegger. Sein und Zeit. 19. Aufl. Tübingen 2006, § 46 ff. 263 Vgl. zu diesem Verständnis von »Position« Emmanuel Lévinas: De l’existence à l’existant. Paris 2013, S. 99 ff., besonders S. 103.
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und Erklärungsweisen, ohne sich dabei zu und in diesen zu verhalten, sondern ist in diesen als Person aktiv und bildet ein Bewusstsein heraus, dass die Hyposthasierung der Macht der Gewohnheit und der Normen sozialer Lebensformen nicht zulässt. 264 Dabei werden auch Ambivalenzen und Unwissenheit 265 ausgehalten, doch stellt dessen Un- und Unterbestimmtheit eine Möglichkeit zur Erkenntnis dar und eben keine bloße uneinholbare Erfahrung des Todes wie bei Heidegger. Im Zustand der Unwissenheit und Ambivalenz ist eine Person offen für Herausforderungen und neue Handlungs- oder Lebensweisen. Die Form der Subjektivität im Bewusstsein ethischen Leides ist also aus der Auseinandersetzung mit einer gegebenen Situation und darin involvierten Personen zu verstehen. Statt in Anbetracht einer »ureigensten Möglichkeit« bildet sie sich in Anbetracht von konkreten Gefahren einer bestimmten Person, in einer bestimmten Situation verletzt zu werden und Verfehlungen zu begehen, heraus. Im Ausdruck des Leides einer Person in der Klage besteht somit zugleich deren Anlage zur kritisch, praktischen Urteilskraft und zur Befreiung von ethischem Leid, da darin erst die Subjektivität der Person herausgebildet wird, die kritische Urteilskraft sowie einen Wunsch nach Befreiung herausbilden kann. 266
3.
Der Ausdruck der Klage
Bis zu diesem Punkt habe ich den Ausdruck der Klage über Gefahren der Verletzung und Verfehlung als Ansatz der Aktivität des Bewusstseins des Leides dargestellt. Durch den Ausdruck des Leides bildet eine Person ihre Subjektivität heraus. Die Aktivität, die im Ausdruck einer Klage besteht, kann nun genauer charakterisiert werden. Wir können uns dazu am Verständnis von Klage orientieren, dass sich im Kontext bürgerlichen Rechts etabliert hat. In diesem Kontext wird Ibidem. S. 121 ff. Vgl. zum Ausleben von Ambivalenzen Logi Gunnarsson: In Defense of Ambivalence and Alienation. In: Ethical Theory and Moral Practice. 17 (2014), S. 13–26. 266 Vgl. zum Verhältnis von Leid, Geist und möglicher Erkenntnis Raymond Geuss: Suffering and Knowledge in Adorno. In: Ders.: Outside Ethics. New Jersey 2005, S. 126. Erst an diesem Punkt würde somit erst verständlich, wie Rahel Jaeggis Auffassung von immanenter Kritik von Lebensformen als ein »Emanzipationsprozess« verstanden werden kann, (vgl. Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Berlin 2014, S. 60). 264 265
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Ethisches Leid
durch das Einreichen eines Klageschreibens, unter den formalen Bedingungen eines gerichtlichen Prozesses, ein Konflikt innerhalb des geltenden Rechtes zur Verhandlung gestellt. In einem Rechtsstreit wird dann über die Lösung des Konfliktes entschieden. In der Diskussion des Ausdrucks einer Klage setze ich hier nicht den Kontext geschriebenen Rechts und die formalen Bedingungen eines gerichtlichen Prozesses voraus. Die Einreichung einer Klageschrift bei Gericht mag eine institutionalisierte Art der Klage über ethisches Leid darstellen. Doch um diesen Zusammenhang einsehen zu können, würden noch weitere Schritte benötigt, die über den Rahmen dieser Arbeit hinausreichen. Im Ausdruck einer Klage besteht zunächst das Verhältnis einer Person zur Macht der Gewohnheit und den Normen sozialer Lebensformen. Das, worüber geklagt wird, könnte dann auf weiteren Ebenen, wie zum Beispiel der Institution des geschriebenen Rechtes, behandelt werden. Zur Darstellung der Form des Bewusstseins ethischen Leides ist die Aktivität des Ausdrucks einer Klage zunächst in den folgenden drei Punkten zu verstehen: (1) Im Ausdruck einer Klage verhält sich eine Person zu einer ethisch relevanten Gegebenheit und bringt sie als eine Sache, die das Nachdenken und Handeln herausfordert, zu Bewusstsein. Man könnte auch sagen, durch das Beklagen wird ein ethisch relevanter Sachverhalt erst geschaffen. Der Sachverhalt besteht zwar unabhängig, wird aber erst durch dessen Beklagen mit dem Anspruch allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit betrachtet. Solche beklagten Gegebenheiten stellen etwa falsche Interpretationen von ethischen Gütern, unbekannte oder widersprüchliche Handlungsweisen oder der Zerfall einer Ordnung dar (vgl. Abschnitt II.3). Als Beispiel kann hier das Verständnis davon, was grausam ist, genommen werden. Durch ein allgemein akzeptiertes und eingeübtes Verständnis wird eine bestimmte Handlung als grausam verstanden, was wiederum bestimmte Reaktionen darauf einschließt. Im Rahmen der gegebenen Auffassung von Grausamkeit gibt es zunächst keinen Anlass, einer Klage Ausdruck zu verleihen. Dieser tritt auf, wenn eine Person bestimmte Handlungen grausam wahrnimmt, die nicht durch eine gegebene Auffassung eingeholt werden. Sie weiß nicht, was zu tun oder was zu sagen ist, aber kann darüber klagen. Dieser Ausdruck kann sich in einem Ausruf, wie »Das ist schrecklich!« oder in einer Verweigerung der Teilnahme an Praktiken manifestieren.
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(2) Im Ausdruck einer Klage wird zweitens eine ethisch relevante Gegebenheit zur Thematisierung vorgelegt. Das Beklagen einer ethisch relevanten Gegebenheit verbleibt also nicht dabei, dass sie einfach nur von einer Person bemerkt wird. Indem sie sich zu dieser verhält, wird eine Gegebenheit zugleich als Problem betrachtet, das Aufmerksamkeit einfordert. Jeder Ausdruck einer Klage stellt eine Aufforderung an andere und sich selbst dar, ein Problem oder einen Konflikt ernst zu nehmen. Auch wenn sie zunächst nur durch eine Person in einer bestimmten Situation zum Ausdruck gebracht wird, reicht jede Klage über deren Perspektive hinaus. Im Falle der Grausamkeit ist ein Ausruf wie »Das ist schrecklich!« deswegen auch immer im Sinne von »Sieh hin!« oder »Was machst Du da?« zu verstehen. Im Ausdruck einer Klage ist die zweite Person als Angeklagter oder als Mitkläger folglich schon enthalten. Sprechakttheoretisch ist sie somit nicht nur als lokutionärer Akt, sondern auch als Ausdruck mit illukutionärer Kraft zu betrachten. Das heißt in diesem Punkt nur, dass im Ausdruck einer Klage die Absicht besteht, etwas mitzuteilen. (3) Drittens stellt der Ausdruck einer Klage ein Verhalten einer ethisch relevanten Gegebenheit dar, das zu einem Umgang mit dieser auffordert. Im Vokabular der Sprechakttheorie kann dieser Aspekt als perlokutionärer Akt verstanden werden. Das heißt, eine Klage zielt letztendlich darauf ab, etwas zu schaffen – das kann einfach nur ein neues Verständnis eines Sachverhaltes, aber auch eine revolutionäre Umwälzung sein. Mit einer ethisch relevanten Gegebenheit umzugehen, heißt, ein Verständnis von dieser zu finden und darin auftretendes Leid zu überwinden. Den Vollzug der Überwindung beinhaltet das Bewusstsein ethischen Leides noch nicht. Im Ausdruck der Klage darüber wird nur zugleich das Bedürfnis danach zum Ausdruck gebracht. Wir können hier wieder auf das Beispiel der Grausamkeit zurückkommen. Der Umgang mit Grausamkeiten zielt darauf ab, diese zu verstehen und vermeiden zu können. Eine Person, die eine Klage zum Ausdruck bringt, stellt somit, wenn auch zunächst nur implizit, die Frage »Was soll ich tun?« Im Beklagen wird somit nach Antworten gesucht. Die klagende Person will also gehört werden und Wirkung entfalten. Dieses passiert nicht automatisch, ist aber im Ausdruck einer Klage angelegt, insofern dadurch eine ethisch relevante Gegebenheit vorgelegt und zugleich zum Umgang mit dieser aufgefordert wird.
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Ethisches Leid
An diesem Punkt wirft sich nun die Frage auf, wie die Klage über Leid mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten verbunden ist, von dem auf dieser Ebene bloß ein Bewusstsein seiner Negativität besteht. Doch wird es an diesem Punkt in der partikularen Position einer Person erfasst, da sie sich darstellt und somit adressierbar macht. Die Form des Bewusstseins ethischen Leides besteht somit nicht alleine in dessen Ausdruck. Der Ausdruck einer Klage über ethisches Leid ist nicht auf die subjektive Position einzelner Personen zu reduzieren. Eine Person weist dabei über ihre konkreten Bestimmungen durch Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen hinaus. Daraus folgt nun nicht, dass sie beim Beklagen ethischen Leides auf eine von ihr unabhängige Ebene verweist. Vielmehr besteht in der Form des Ausdrucks einer Klage ethischen Leides ein Bezug auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute aufgrund der Art der Relation zu ihrem Hörer. Der Ausdruck der Klage über ethisches Leid ist also zugleich intrinsisch auf andere Personen, als deren Hörer, bezogen.
4.
Das Hören der Klage
Im Ausdruck einer Klage verhält sich eine Person zu einer ethisch relevanten Gegebenheit. Durch den Ausdruck der Klage positioniert sie sich in ihrer Singularität zu den Umständen einer Situation, in der sie der Gefahr, Verfehlungen zu begehen und verletzt zu werden, ausgesetzt ist. Die klagende Person steht im Zusammenhang des allgemein, unbedingt verbindlich Guten, weil davon ausgehend ein Verständnis dieser Gefahren entwickelt werden kann, das nicht rein zufällig ist. Dieser Zusammenhang wird durch ein spezifisches Verständnis von »Ausdruck« möglich. Dieses ist von dem Verständnis vom Ausdruck von Wertaussagen im metaethischen Expressivismus 267 zu unterscheiden. Dieser geht von einer individuellen Disposition, Situationen auf eine bestimmte Weise zu evaluieren, aus. Unter der Voraussetzung, dass Wertaussagen, die ein Subjekt aus dieser Disposition heraus macht, einen propositionalen Gehalt haben, können verschiedene andere Subjekte diesen verstehen. Somit sei ein sozialer Austausch, der zu einer Einigung über ein Werteverständnis 267 Vgl. Simon Blackburn: Ruling Passions. A Theory of Practical Reasoning. Oxford 1998, S. 68–76 und S. 200 ff., und Allan Gibbard: Thinking How to Live. Cambridge Mass./London 2003, S. 41–59 und S. 159–178.
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führen kann, möglich. Dem legt der metaethische Expressivismus aber zufällige, individuelle Dispositionen zu unmittelbaren Ausdrücken zugrunde, die erst in einem weiteren Schritt als Wertaussagen und als Urteile kommuniziert werden, deren Wahrheitsbedingungen andere nachvollziehen und sie somit überprüfen können. 268 Anhand der Vorgehensweise zeigt sich schon, dass das hier zugrunde gelegt Verständnis von »Ausdruck« von einer anderen Kategorie ist. Der Ausdruck einer Klage wird durch die Person in ihrer Singularität hervorgebracht. Jedoch wird nicht ein weiterer Schritt benötigt, sie in Urteilen artikulieren und dabei zu kommunizieren. Eine Klage über ethisches Leid ist intern auf andere Personen bezogen, weil sie auf einen Widerspruch verweist, der andere ebenso betrifft. Es stellt sich somit nicht die Frage nach der Nachvollziehbarkeit der zum Ausdruck gebrachten Klage durch Wahrheitsbedingungen. 269 Es stellt sich hier hingegen die Frage, inwiefern dem Ausdruck der Klage über ethisches Leid seiner Form nach der Bezug auf andere Personen, die sie nachvollziehen können, intern ist, weil es sie ebenso betrifft und weil es auf dasselbe Bedürfnis verweist, Probleme, Konflikte und Widersprüche zu überwinden. 270 Dieser Unterschied des Ausdrucks einer Klage von der Auffassung einer Disposition zum evaluativen Ausdruck des metaethischen Expressivismus zeigt sich in den Formeigenschaften des Ausdrucks der Klage. Die Klage verweist nicht auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute als unerreichbares Ideal. Dann könnte die klagende Person allein an dessen Unerreichbarkeit verzweifeln. Im Ausdruck der Klage über ethisches Leid ist hingegen ein Verständnis und eine Artikulation des Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit der Bewertung und des Umgangs mit bestehende Problemen, Konflikten und Widersprüchen, die es zu überwinden gilt, angelegt. 268 Diese Formulierung ist nicht polemisch gemeint. Ich denke, dass Vertreter eines metaethischen Expressivismus dieser Formulierung problemlos zustimmen würden. Gibbard redet z. B. von »straight attitudes«, die noch keine »attitudinal judgments« darstellen. (Allan Gibbard: Thinking How to Live. Cambridge Mass./London 2003, S. 81.) 269 Die Frage, ob der individuelle Ausdruck von Zuständen wie wahrheitsfähige Aussagen behandelt werden kann, verhandelt der metaethische Expressivismus unter dem Titel des »Frege-Geach Problems«. (Zur Übersicht: Mark Schroeder: What is the Frege-Geach Problem? In: Philosophy Compass. 3/4 (2008), S. 703–720.) 270 Hier stellt sich die Frage nach dem Unterschied einer wahrhaftigen und bloß vorgetäuschten Klage. Die Frage nach diesem Unterschied erübrigt sich hier, da am Ende nur wahrhaftige Klagen auch gehört werden können.
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Ethisches Leid
Das zeigt sich darin, dass das, was eine Person über eine Sache beklagt, an der sie in ihrer Singularität leidet, als ethischer Widerspruch gegen das Leben von Personen als solche von anderen gehört und verstanden werden kann. Der Form des Ausdrucks der Klage über ethisches Leid ist also als die Form des intrinsischen Bezugs auf andere Personen darzustellen, die die Klage hören und verstehen können. In diesem Verhältnis von klagender und hörender Person besteht das Bewusstsein ethischen Leides, also der Gefahren der Verletzung und Verfehlung in widersprüchlichen Gegebenheiten und Sachverhalten innerhalb von Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen. Somit wird das allgemein, unbedingt verbindlich Gute auf einer basalen Ebene konkret, wenn verschiedene Personen, in einem Verhältnis von Klagendem und Hörer stehend, dieselbe Sache innerhalb solcher Zusammenhänge betrachten. Die Auffassung des ethisch Guten bleibt aber immer noch unbestimmt, insofern in diesem Verhältnis allein die gewohnheitsgemäßen, normativ strukturierten Weisen des Verhaltens durchbrochen werden. Sie verhalten sich zueinander in der Negativität des ethischen Guten, insofern sie ein Bewusstsein von dessen Widerspruch, dessen Unerfülltsein, herausbilden. Das Gute wird im Verhältnis von klagender und hörender Person in seiner Unbestimmtheit bewusst gemacht. Wenn keine andere Person anwesend ist, die die Klage einer Person hören könnte, kann eine Person immer noch ein Bewusstsein ethischen Leides herausbilden, doch ist es dann als Ausdruck absoluter Negativität, als Verlassenheit zu verstehen, in der kaum Möglichkeiten für eine aktive Positionierung zu konkreten Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen vorhanden sind. In der Klage, die durch eine Person in ihrer Singularität unter den Umständen einer bestimmten Situation zum Ausdruck gebracht wird, ist das Verständnis eines allgemein, unbedingt verbindlichen, also ethischen Guten angelegt, dessen eine Person bedarf, um die Gefahr der Verletzung und Verfehlung abzuwenden. Es ist in der zum Ausdruck gebrachten Klage mit der partikularen Position einer Person verschränkt, weil sie aus ihrer Position heraus auf andere als Hörer bezogen ist. Mit »hören« ist hier nun gerade nicht einfach das Vernehmen davon, dass jemand anderes irgendetwas sagt, gemeint. Vielmehr besteht der Inhalt des Ausdrucks einer Klage im Verhältnis zum Hörer. Er verweist auf etwas, was dessen Hörer genauso betrifft wie den Klagenden. Die Person in ihrer Singularität, die nicht durch andere vertreten werden kann, bleiben im Ausdruck der Klage somit bestehen. Denn im Ausdruck der Klage über ethisches Leid sind ver222
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schiedene Personen aus verschiedenen partikularen Positionen auf das allgemein, unbedingt verbindlich Gute bezogen. Dieser Bezug ist im Verhältnis von Klagender und Hörender immer schon präsent, insofern in dieser Beziehung ein Verständnis, Sachverhalt oder eine Gegebenheit als Problem, Konflikt und ethischer Widerspruch angelegt ist. Dass der Ausdruck einer Klage auf diese Weise ein Verhältnis von Klagendem und Hörendem darstellt, kann, aufbauend auf dem Begriff des Ausdrucks der Klage, der im vorherigen Abschnitt dargelegt wurde, dargestellt werden. (1’) Der Ausdruck einer Klage über ethisches Leid weist Ähnlichkeiten zum Ausdruck von Schmerzen auf. In den Blue and Brown Books zeigt Wittgenstein, dass Schmerz der subjektive Gebrauch 271 der ersten Person zugrunde liegt, weil der Schmerz nur in Bezug auf die Wahrnehmung desjenigen, der ihn empfindet, besteht. Genauso besteht ethisches Leid nur für eine Person, die ein Bewusstsein von diesem herausbildet und es beklagt. Der Arzt, der den an Schmerzen leidenden Patienten behandelt, kann aus der Außenperspektive die Verletzungen ausmachen, die die Schmerzen des Patienten verursachen. Damit kann er jedoch die Schmerzen seines Patienten nicht nachempfinden. Er kann dessen Klagen über Schmerz aber als Symptom nachvollziehen und ihm auf den Grund gehen, da der Umgang mit dem Schmerz im geteilten Gebrauch der Sprache, dem was nach Wittgenstein »Sprachspiel« genannt wird, zum Ausdruck kommt. Die Verletzung oder Verfehlung einer Person in einer bestimmten Position kann ebenso nicht durch eine andere Person wiederholt oder auf sie übertragen werden. Insofern stellt eine Klage einen subjektiven Gebrauch der ersten Person dar. Doch dabei muss es ebenso zumindest möglich sein, diesen auf einer Ebene zu artikulieren, die ihn auch für andere nachvollziehbar machen. Dass in der Klage ein ethisches Thema zum Ausdruck gebracht wird, unterscheidet aber die Bedingungen von deren Nachvollziehbarkeit wesentlich vom Nachvollziehen des Ausdrucks von Schmerzen durch den Arzt. Beim Beklagen ethischen Leides wird Universelles zum Ausdruck gebracht, das alle Personen betrifft. Die Nachvollziehbarkeit der Klage über ethisches Leid ist also nicht, wie beim Schmerz, so zu verstehen, dass eine Person bloß verstehen kann, dass andere vom Schmerz betroffen sind oder von außen die Ursache des Schmerzes diagnostiziert werden 271
Ludwig Wittgenstein: The Blue and Brown Books. Oxford 1958, S. 67.
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kann. Vielmehr wird aufgrund der Nachvollziehbarkeit der Klage über ethisches Leid eine Sache verstanden, die alle Personen betreffen kann, weil es einen Widerspruch darstellt, der in der Welt, in der Personen zusammen leben, auftritt. Das heißt, indem eine Person die Klage über ethische Probleme, Konflikte und Widersprüche einer anderen hört, begreift sie sich selbst als von diesen betroffen. Darin, dass diese Betroffenheit nicht allein durch Erfassen von außen feststellbaren Ursachen, wie beim körperlichen Schmerz, von anderen Personen nachvollzogen werden kann, liegt die spezifische Bedingung dafür, dass eine Klage über ethisches Leid gehört werden kann. Unter dieser Bedingung kann eine Gegebenheit, wie in (1) in § 3, als ethisch relevant vorgelegt werden. (2’) Die Nachvollziehbarkeit der Klage über ethisches Leid stellt nur die allgemeine Bedingung dar, unter der diese gehört werden könnte. Es gilt nun zu zeigen, wie diese konkret gehört wird. Ein Ausdruck einer Klage über ethisches Leid wird gehört, wenn er als Aufforderung verstanden wird. Eine Klage wird also gehört, wenn andere Personen sie als eine Aufforderung vernehmen, ihre Aufmerksamkeit auf die Folgen ihres Tuns in Anbetracht anderer Personen zu lenken. Eine Klage über ethisches Leid kann ihre Bedeutung folglich nur in einer moralischen Gemeinschaft gewinnen, in der Personen sich als verletzliche und fehlbare betrachten, deren Klagen über ethisches Leid zur Aufmerksamkeit auffordern. Eine solche Gemeinschaft ist nicht durch eine konkrete gemeinsame Eigenschaft konstituiert. 272 Sie ist auch nicht auf den durch Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen bestimmten Zusammenhang von Personen zu reduzieren. Vielmehr besteht sie darin, dass Personen sich einander unteilbare Aufmerksamkeit schenken und Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen so thematisieren. 273 In dieser Relation zueinander, in der sich Personen einander ihren Leiden und Bedürfnissen unteilbare Aufmerksamkeit schenken, kann, wie nach (2) in § 3, eine ethisch relevante Gegebenheit zur Thematisierung vorgelegt werden.
272 Barbara Hermann: Pluralism and the Community of Moral Judgment. In: Ders.: Moral Literacy. Cambridge Mass./London 2008, S. 38. 273 Vgl. Martin Seel: Anerkennung und Aufmerksamkeit. Über drei Quellen der Kritik. In: Ders.: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste. Frankfurt am Main 2014, S. 200–201.
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(3’) Wird der Ausdruck der Klage über ethisches Leid gehört, kann ein ethisches Verständnis der Gefahr der Verletzung und Verfehlung sowie dessen, was eine bestimmte Person bedarf, um diese zu überwinden, herausgebildet werden. Im Hören einer Klage wird zunächst der Gefahr, also dem Problem oder dem Konflikt, den eine Person erfährt, Aufmerksamkeit geschenkt. Dass eine Person eine Klage über ethisches Leid hört und versteht, bedeutet nicht, dass sie an die Stelle einer klagenden Person tritt und deren Leid nachempfindet. Vielmehr wird dadurch ein Verständnis von den bestehenden Problemen, Konflikten oder Widersprüchen entwickelt, die eine Person veranlassen, ihrer Klage Ausdruck zu verleihen. Schon mit dem Ausdruck der Klage über ethisches Leid wird somit eine Ebene erreicht, die über die partikulare Perspektive einer Person hinausgeht, da dort artikuliert wird, was verschiedenen Personen gemeinsam ist. Indem sich Personen zueinander als verletzliche und fehlbare verhalten und ihre Weisen zu handeln befragen, kann ein Raum entstehen, innerhalb dessen ein argumentativer Umgang mit Problemen, Konflikten und Widersprüchen möglich wird. An diesem Punkt der Argumentation ist noch nicht gezeigt, dass es notwendig zu einem argumentativen Austausch und zu einem Verständnis dessen kommt, was zur Überwindung von Gefahren der Verletzung und Verfehlung führt und das Gelingen eines ethischen Lebens ermöglicht. An diesem Punkt wird lediglich die Möglichkeit dazu eingesehen, wie ein Verhalten zu ethischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen möglich wird, wie in § 3 (3) insofern gezeigt wurde, da eine Person im Bewusstsein ethischen Leides im logischen Raum des Begriffs des allgemein, unbedingt verbindlich Guten positioniert ist. In diesen Ausführungen zum Ausdruck einer Klage einer Person über ethisches Leid ist nur der Ansatz für die Herausbildung eines Verständnisses von den Gefahren der Verletzung und Verfehlung sowie dem, was sie bedarf, um diese zu vermeiden, gegeben. Weitere Überlegungen sind nun nötig, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen davon auch ein elaboriertes Verständnis herausgebildet werden kann. Auch ist noch nicht einmal dadurch, dass eine Klage über ethisches Leid gehört wird, garantiert, dass ein Verständnis dessen, wodurch ein gutes, ethisches Leben möglich ist, erlangt wird. In Bezug auf die Person, die eine Klage zum Ausdruck bringt und von anderen gehört wird, besteht lediglich die Anlage dazu, Leid argumentativ zu verneinen und zu überwinden. Es wird wiederum auch ersichtlich, das abDie Negativität des Sittlichen
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solutes ethisches Leid besteht, wenn die Klage von einer Person nicht gehört wird und der Prozess ethischer Überlegungen somit nicht in Gang kommen kann. In den folgenden beiden Kapiteln wird gezeigt, wie ethische Überlegungen im Bewusstsein ethischen Leides möglich sind, und dass somit absolutes Leid, die vollständige Verdrängung der Person, abgewendet werden kann.
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Kapitel 5: Praktische Negation
Im ersten Teil dieser Abhandlung haben wir gesehen, dass eine Auffassung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten als Maß für die Lebensvollzüge einer Person nicht erschöpfend begriffen werden kann. Eine positive Bestimmung der korrekten Ausübung der Fähigkeit zu ethischen Überlegungen, die auf ein Verständnis dessen, was gut zu tun sei, abzielen, ist folglich nicht möglich. Diese negative Einsicht ist in der Freiheit der Person verortet, insofern darin Freiheit die Möglichkeit zum Bösen liegt (Kapitel 3). Im vorhergehenden vierten Kapitel wurde, ausgehend von dieser negativen Einsicht, im Bewusstsein ethischen Leides, die Negativität der Subjektivität der Person dargestellt. Diese ist in der Differenz verortet, in die eine Person zu Gewohnheiten und Normen sozialer Lebensformen tritt, worin sich ein Bewusstsein vom Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit einer Vorstellung vom ethisch Guten herausbildet, der gegenüber Bestimmungen in Gewohnheiten und sozialen Lebensformen Negativität behält. Wenn auch keine positive Bestimmung des ethischen Bewusstseins als Bewusstsein davon, was in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten zu tun sei, möglich ist, so ist doch eine Bestimmung des Bewusstseins vom ethisch Guten aus dem Bewusstseins ethischen Leides möglich. Dieses und das folgende Kapitel entwickeln einen Begriff des ethischen Bewusstseins, also der Fähigkeiten mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit zu bestimmen, was zu tun sei, ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides. Der Übergang von diesem zu jenem findet in der Fähigkeit statt, die praktischen Umstände, von denen Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen für eine Person ausgehen, zu verneinen und zu überwinden. Abschnitt I. dieses Kapitels diskutiert den Übergang vom Bewusstsein ethischen Leides zum ethischen Bewusstsein mit Bezug auf die Negation ethischen Leides. Es wird gezeigt werden, dass diese als genuin praktische Negation zu verstehen ist. Abschnitt II. stellt Die Negativität des Sittlichen
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dar, unter welchen Bedingungen eine praktische Negation argumentativ gerechtfertigt werden kann. Mit dem Begriff der praktischen Negation geht, so wird sich zeigen, eine Auffassung der argumentativen Interaktion von Personen einher. Abschnitt III. stellt die interne Verbindung der Fähigkeit der praktischen Negation zur Fähigkeit, eine begründete Vorstellung von ethisch guten Handlungsweisen und Praktiken herauszubilden, dar. Diese Verbindung besteht in solidarischer Interaktion, innerhalb derer Personen sich als verletzliche und fehlbare adressieren.
I.
Die Negation von Leid als Anfang ethischer Überlegungen
Den Gegenstand dieses Abschnitts stellt die Fähigkeit dar, den Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen, aus denen ethisches Leid hervorgeht, aktiv zu begegnen. Durch diese Fähigkeit wird das ethische Bewusstsein als Fähigkeit, mit eben solchen Gefahren umzugehen, dargestellt. Die Darstellung dieser Fähigkeit setzt bei der Negation der Handlungsweisen an, die im Zusammenhang mit ethischem Leid stehen (§ 1). Die Negation ethischen Leides wird falsch verstanden, wenn sie als bloß dualistische Gegenübersetzung des Guten zur Welt betrachtet wird, da sie dann nicht als Intervention in konkrete Praktiken und Handlungsweisen wirksam ist, aus deren Ausübung Verletzungen und Verfehlungen folgen (§ 2). Eine praktische Negation als ethische Intervention in Praktiken zur Verhinderung von Verfehlungen und Verletzungen verstanden, kann nicht durch Bezug auf allgemeine Merkmale von Menschheit und Würde begründet werden (§ 3). Auch ist eine ethische Intervention in die Ausübung von Praktiken nicht verständlich, indem Bezug auf ein überindividuelles, neutrales ethisches Motiv genommen wird (§ 4). Eine ethische Intervention wird hingegen praktisch durch konkretes Leid motiviert und kann somit nur durch praktische Argumente wirksam werden, die Personen überzeugen, die Ausübung von Praktiken zu negieren, indem sie sie stoppen (§ 5).
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1.
Die Negation von Leid
Um die Möglichkeit einer philosophischen Ethik darzustellen, die nicht einen positiv gegebenen Bezugspunkt annimmt, sondern allein die Negativität des ethisch Guten im Bewusstsein ethischen Leides verorten kann, will ich damit beginnen, dieses dem ethischen Bewusstsein in einer Definition gegenüberzustellen: Bewusstsein ethischen Leides: Der Inhalt des Bewusstseins ethischen Leides besteht in den Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen, denen eine Person ausgesetzt ist. In ihm ist das ethisch Gute in Differenz zu Gewohnheiten und Praktiken bewusst, aus deren Ausübung Verfehlungen und Verletzungen hervorgehen. Ethisches Bewusstsein: Der Inhalt des ethischen Bewusstseins besteht, in guten Weisen zu handeln. Darin wird erfasst, was in Übereinstimmung mit dem ethisch Guten zu tun ist. Nun könnte man meinen, man müsse den Inhalt ethischen Bewusstseins nur anwenden, um Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen zu vermeiden. Philosophische Ethik und ethisches Leid verhielten sich dann so zueinander wie Medizin und körperliche Leiden. Erstere kann Letztere nicht komplett ausschließen, aber sie kann einen Umgang mit ihnen finden, damit sie keine Gefahr für das ungehinderte körperliche Überleben darstellen, indem sie Vorsorge betreibt, sowie im Fall einer konkreten Verletzung, Schmerzen lindert und eine Heilung bewirkt. Doch die philosophische Ethik besitzt und erforscht nicht analog zur Medizin die Heilmittel gegen Ungerechtigkeiten, Missachtungen, Entwürdigungen oder andere ethische Verfehlungen und folglich Verletzungen. Die philosophische Ethik kann nicht von einem Allgemeinbegriff des guten Lebens ausgehen, der auf verschiedene Individuen angewendet wird, indem sie diagnostiziert, ob sie diesen Begriff verfehlen und wie sie mit diesem in Übereinstimmung gebracht werden kann. Denn ein solches Vorgehen setzte eine Vorstellung des ethisch Guten voraus, die auf die Leidenden angewandt werden kann. Im Bewusstsein ethischen Leides würde somit der Anwendungsgegenstand des ethischen Bewusstseins analog zum Patienten des Arztes vorgestellt. Im Bewusstsein ethischen Leides wird aber nicht der Anwendungsgegenstand einer Vorstellung vom ethisch Guten vorgestellt, sondern zunächst eine Einsicht in die UnvollkomDie Negativität des Sittlichen
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menheit und Begrenztheit ethischen Denkens gemacht, dessen Ziel ist, zu bestimmen, was gut zu tun sei. Der Rahmen der Darstellung der Fähigkeit zu bestimmen, was gut zu tun sei, ist also durch die Grenzen, die das Bewusstsein ethischen Leides bestimmt, gesetzt. Das ethische Bewusstsein ist also nur ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides zu verstehen, woraus sich eine Antwort auf konkrete Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen entwickeln kann. Das heißt, aus der Negativität des Bewusstseins ethischen Leides einer Person ist eine Bestimmung dessen, was zu vermeiden und was zu tun sei, zu erfassen, und nicht aus einem vorgegebenen Begriff der Einheit ethischen Lebens als Maßstab für die Lebensvollzüge einzelner Personen. Der Inhalt des ethischen Bewusstseins besteht in dem angestrebten, also gewollten Guten. Der Inhalt des Bewusstseins ethischen Leides stellt die Grenzen des ethischen Bewusstseins dar, insofern keine Vorstellung davon, was gut zu tun sein, Geltung beanspruchen kann, wenn Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen einer einzelnen Person übergangen werden. Eine Bestimmung der gewollten, guten Weise zu handeln ist also zunächst allein durch eine Negation möglich. Sie kann lediglich bestimmt werden, insofern sie nicht zusammen mit der Weise zu handeln gewollt werden kann, an der eine Person leidet, die für sie also eine Gefahr der Verfehlung und Verletzung darstellt. Das heißt, was nicht gewollt werden kann, wird im Bewusstsein ethischen Leides vorgestellt und das, was allgemein, unbedingt verbindlich gewollt werden soll, stellt dazu folglich eine Negation dar. Wenn ich sage, X zu tun ist missachtend, kann ich Y nur wollen, wenn es Missachtung vermeidet und stattdessen ein Verständnis von Achtung bietet. Was gewollt werden soll, was in diesem Beispiel Ausdruck von Achtung im Gegensatz zur Missachtung ist, kann in einem historisch gewachsenen ethischen Vokabular schon vorgegeben sein, wenn es ermöglicht, Unterscheidungen von zu Tuendem, Achtung Zeigendem und zu Vermeidendem, Missachtendem zu machen. Allein dadurch, dass diese Unterscheidung in einem historisch gewachsenem ethischen Vokabular beinhaltet ist, gilt sie aber noch nicht als gut. Erst ausgehend von der Negation, die sich auf konkrete Missachtungen im Bewusstsein ethischen Leides bezieht, kann eine schon vorgegebene Auffassung dessen, was zu tun sein, also Achtung zeigt, überhaupt Gegenstand von Begründungen werden und sich als gut beweisen. Halten wir also fest: Im Bewusstsein ethischen Leides begreift eine Person die Gefahr von Verfehlungen und 230
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Die Negation von Leid als Anfang ethischer Überlegungen
Verletzungen, die für sie in den problematischen, konfliktreichen und widersprüchlichen praktischen Gegebenheiten besteht. Das ethische Bewusstsein kann ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides mit dem Anspruch verstanden werden, die Allgemeinheit der Probleme, Konflikte und Widersprüche so zu fassen, dass deren Negation und Überwindung als allgemein, unbedingt verbindlich begriffen wird. Dass die Negation konkreter praktischer Umstände, die das Handeln einer Person so bestimmen, dass sie verletzt wird, möglich ist, kann zu einer dualistischen Auffassung des ethischen Bewusstseins führen. Als dualistische Auffassungen bezeichne ich solche, die das ethische Bewusstsein außerhalb der Welt verorten. Solche Denkweisen finden sich in der Geistes- und Kulturgeschichte zum Beispiel bei den Anhängern der Gnosis oder bei Mitgliedern von Geheimbünden. 274 Diese formulieren eine Lehre von einem absoluten Gut, das jenseits der Welt liegt. Die Einsicht in das wahre Gute liegt danach außerhalb der Welt, während der Mensch aber der Welt nicht entkommen kann. Nicht das, was hier und jetzt gut zu tun ist, wird durch Einsicht in das Gute erfasst, sondern etwas, dass sich negativ zur Welt verhält. Stattdessen besteht die Erlösung vom Leid in der Einsicht, dass diese nur in Ausrichtung aufs Jenseits zu erlangen sei. Somit wird letztendlich die Welt als Ganze als ein schlechter Ort betrachtet, der nicht gewollt werden kann, da der Wille dort keine richtige Bestimmung im Guten finden könnte. Mir ist keine zeitgenössische, philosophische Position bekannt, die das ethisch Gute auf radikale Weise der Welt entgegensetzt, was den systematischen Grund haben mag, dass solche Positionen nicht eine argumentative Darstellung des Guten liefern. Sie einzunehmen verlangt hingegen, sich gegen die Möglichkeit einer philosophischen Darstellung der Fähigkeiten endlicher, vernünftiger Weisen zum guten Handeln zu positionieren. Dennoch dürfen solche Positionen hier aus zwei Gründen nicht unerwähnt bleiben: Erstens sind solche Positionen mit dem Bewusstsein ethischen Leides, in dem das allgemein unbedingt verbindlich Gute negativ bewusst ist, vereinbar. Das Be-
274 In seinem Buch Kritik und Krise stellt Reinhart Koselleck dar, inwiefern Geheimbünde einen absoluten moralischen Standpunkt außerhalb staatlicher und gesellschaftlicher Zusammenhänge einnehmen (Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Frankfurt am Main 1973.). Zur Gnosis vergleiche Johann Evangelist Haffner: Selbstdefinition des Christentums. Ein systemtheoretischer Zugang zur frühchristlichen Ausgrenzung der Gnosis. Freiburg im Brsg. 2003.
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Praktische Negation
wusstsein ethischen Leides ist also nicht zwangsläufig mit dem ethischen Bewusstsein als Fähigkeit, sich zum Guten zu bestimmen, verschränkt. Vielmehr kann dieses ebenso in ein transzendentes Bewusstsein übergehen, das eine Erlösung vom Leid allein im Jenseits erwartet, wo es von allen weltlichen Gegebenheiten gereinigt ist und somit auch nicht in Anbetracht dieser Argumente zu geben braucht, warum jene Weise zu handeln zu vermeiden sei und warum diese gut und somit anzustreben sei. Zweitens besteht das Problem solcher Positionen folglich nicht in deren argumentativem Anspruch, sondern darin, dass sich für sie die Aufgabe einer Darstellung der Fähigkeit, ethisches Leid abzuwenden und das Gute zu bestimmten, gar nicht erst stellt. Sie lässt somit keinen diskursiven Austausch innerhalb der philosophischen Ethik zu. Für eine solche dualistische Auffassung stellt sich diese Aufgabe nicht, da für sie ein Individuum sich in einem rein innerlichen Erkenntnisvorgang zum ethisch Guten und der Möglichkeit der Überwindung von Leid verhält. Wird die Fähigkeit einer Person, praktische Umstände, unter denen sie den Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen ausgesetzt ist, zu negieren, nicht allein als innerlicher Erkenntnisvorgang verstanden, ist sie als vernünftige praktische Fähigkeit zu erläutern. Die Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit besteht erstens darin, eine solche Negation einer Handlungsweise argumentativ so darzulegen, dass auch andere Personen, mit denen sie zusammenlebt, überzeugt werden, dass eine bestimmte Handlungsweise unmöglich gewollt werden kann. Zweitens ist die praktische Wirksamkeit der argumentativen Darlegung einer solchen Negation zu fassen, die im Stoppen bestimmter Handlungsweisen und der Veränderung von Praktiken besteht. In diesen beiden Punkten wird die Einsicht der Negativität des ethisch Guten erst als Teil einer philosophischen Ethik begriffen. Gemäß beider Punkte wird die Verschränkung vom Bewusstsein ethischen Leides mit dem ethischen Bewusstsein in der Fähigkeit, das ethisch Gute argumentativ zu begreifen, erfasst. Dann kommen wir zu weiteren Bestimmungen des ethischen Bewusstseins als der frühe Wittgenstein, der in seinem Tractatus logico-philosophicus das Subjekt und Ethik außerhalb der Welt bestimmt, oder als Heidegger in Sein und Zeit, für den der eigentliche Sinnzusammenhang des Lebens erst im Tod, der wiederum nicht im Verlaufe des Lebens gefasst werden kann, besteht, oder als Adorno in der Negativen Dialektik, der in jeder Bestimmung von Sinn oder vom Guten die Gefahr der Überhebung und Hypostasierung sieht. Für die Ansätze dieser Autoren 232
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ist der Übergang in ein transzendentes Bewusstsein nicht vollständig ausgeschlossen. 275 Hier soll nicht ausgeführt werden, inwiefern dieses bei den genannten Autoren der Fall ist. Es wird jedoch ausgehend von der kritischen negativen Einsicht dieser Autoren gegen positive, verdinglichende, Sinnkriterien missachtende oder abstrakte Auffassungen von Sinn, die Fähigkeit zum Geben von Gründen und Handeln in Übereinstimmung mit dem ethisch Guten betrachtet. Die schon genannten dualistischen Auffassungen des Verhältnisses vom Bewusstsein ethischen Leides und ethischem Bewusstsein können weder argumentativ noch praktisch die Negation des Leides im ethischen Bewusstsein fassen. Es ergeben sich noch drei weitere Alternativen: Ausgangspunkt
Auffassung der Negation
argumentativ praktisch
Dualismus
Ich kann A nicht wollen, da ich daran leide.
Nein
ontologische Merkmale
Ich kann A nicht wollen, da es nicht Nein Respekt vor dem, was Menschsein ausmacht, bezeugt.
Ja
ethische Motive
Ich kann A nicht wollen, da es den Ja Motiven eines vernünftigen Wesens widerspricht.
Nein
Praktische Umstände
Ich kann A nicht wollen, da mein Leiden Gründe dagegen darstellt.
Ja
Ja
Nein
In Anbetracht dieser Tabelle sollte klar sein, dass wir zu einem Verständnis des Verhältnisses des Bewusstseins ethischen Leides und des ethischen Bewusstseins kommen müssen, das praktische Umstände als Ausgangspunkt hat, weil es sowohl argumentativ wie praktisch ist. Darin wird die Bestimmung dessen, was zu vermeiden sei und nicht gewollt werden kann, sowie auch das Gute, das zu erstreben sei, innerhalb der praktischen Umstände, in denen eine Person sich befindet, begriffen. Wie das praktische Verständnis der ethischen Negation möglich ist, ergibt sich jedoch erst aus der Abgrenzung von Verständnissen des Verhältnisses des Bewusstseins ethischen Leides und des
275 Vgl. Thomas Rentsch: Gnosis und philosophische Moderne. Heidegger – Wittgenstein – Adorno. In: Albert Franz / Thomas Rentsch (Hrsgg.): Gnosis oder die Frage nach Herkunft und Ziel des Menschen. Paderborn/München/Wien/Zürich 2002.
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Praktische Negation
ethischen Bewusstseins, die von ontologischen Merkmalen und vernünftigen Motiven ausgehen.
2.
Praktische Interventionen
Die dualistische Auffassung der Negation von ethischem Leid negiert die Welt als ganze, insofern es die Erkenntnis des Guten außerhalb dieser in einem transzendenten Bewusstsein verortet. Die anderen drei Auffassungen in der oben gegebenen Tabelle haben die Möglichkeit einer immanenten Negation zum Gegenstand, da sie beanspruchen, diese in konkreten praktischen Kontexten argumentativ wirksam zu machen. Zunächst gilt es deren gemeinsamen Gegenstand vorzustellen, bevor gezeigt werden kann, wie und ob die genannten drei Auffassungen der Negation ethischen Leides diesen fassen können. Gemeinsam ist den drei Positionen, dass sie ein Verständnis praktischen Überlegens und Gebens von Gründen erklären wollen, durch das Einsprüche und Forderungen mit einem ethischen Geltungsanspruch artikuliert werden können. Es stellt sich an sie jeweils die Frage, ob dadurch auch ein Umgang mit der Verletzlichkeit und Fehlbarkeit von Personen möglich wird. Davon hängt ab, ob eine Wandlung von einem bloß negativen Bewusstsein des ethisch Guten im Bewusstsein ethischen Leides zu einer konkreten Auffassung dessen, was gut zu tun ist, im ethischen Bewusstsein möglich ist. Es gilt nun zu zeigen, wie eine Person in der Ausübung der vernünftigen Fähigkeit zur praktischen Negation zugleich Bezug auf eine konkrete Gegebenheit nehmen kann, unter denen eine Person leidet. Es ist also zu untersuchen, inwiefern Äußerungen wie »Stopp, tue das nicht!« als ethische Aussagen verstanden werden können. Äußerungen wie diese stellen Interventionen dar, die nicht beliebig, sondern notwendig sind, da sie Schlechtes verhindern, um Gutes zu bewirken. Nach John L. Austins Unterscheidung verschiedener Arten, Aussagen zu tätigen, sind solche Aussagen nicht als lokutionäre Sprechakte zu verstehen, die bloß einen Inhalt aussagen. Auch stellen sie nach dessen Unterscheidung keinen illukutionären Sprechakt dar, durch den etwa eine Gefahr oder ein Problem anderen mitgeteilt wird. Äußerungen, die intervenieren, werden hingegen immer mit der Absicht geäußert, bei anderen Personen zu bewirken, dass sie bestimmte Handlungsweisen auch stoppen. Insofern sind solche Äußerungen, nach Austins Unterscheidung, als perlokutionäre Sprechakte 234
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zu verstehen, durch die beim Hörer eine bestimmte Wirkung hervorgerufen werden soll. 276 Im Fall einer praktischen Negation besteht die Wirkung des perlokutionären Sprechaktes darin, in die Ausübung von Handlungsweisen zu intervenieren, indem andere Personen davon überzeugt werden, diese zu stoppen. Wir stehen also vor der Frage, wie eine praktische Negation als intervenierende Äußerung, die eine Person dazu bringt, eine Handlungsweise zu stoppen, im ethischen Bewusstsein zu verstehen ist. Um einen solchen perlokutionären Akt als Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit zu verstehen, ist zu spezifizieren, wie er bei anderen Personen durch Argumente eine praktische Wirkung erzielt. Hier gilt es also gerade eine Alternative zu aggressiven, drohenden Redeweisen, durch die andere zum Stoppen einer Handlungsweise bewegt werden sollen, zu verstehen. Wenn ein Sprecher »Hör auf damit oder ich schieße!« sagt, mag er damit vielleicht Leid verhindern, aber es besteht kein Bezug auf das ethisch Gute, da der Hörer nicht argumentativ überzeugt wurde. Ebenso kann eine erfundene Geschichte, die einer Person einen Gewinn oder Vorteil verspricht, hier nicht als Darstellung eines Argumentes erfasst werden, durch das eine Person zum Stoppen einer Handlungsweise bewegt wird. Eine Aussage wie »Hör auf damit, Du wirst es sonst bereuen, denn … !« nimmt nicht auf das ethische Leid im praktischen Kontext Bezug, sondern auf andere oder irreale Möglichkeiten. Es gilt hingegen zu verstehen, wie eine Person, die solche Äußerungen tätigt, anderen Personen argumentativ darstellen kann, warum ihre Intervention unbedingt, also nicht aufgrund einer zufälligen Entscheidung oder gewohnheitsmäßigen Verhaltensweise, berechtigt ist. Das Stoppen einer Weise zu handeln aufgrund solch einer argumentativ vorgebrachten intervenierenden Äußerung muss also mit Antworten der folgenden Art einhergehen können: »Entschuldige, ich sehe die Gründe«, »Gut, aber warum?« oder »Nein, ich mache weiter, schau doch, das Problem liegt bei dir?«. Das heißt, wo Argumente gegeben werden, dort müssen auch Einverständnisse, Rückfragen oder Einwände möglich sein, was fundamental davon unterschieden ist, auf Gewaltandrohungen oder aus Angst vor immaginierten Verlusten zu reagieren. Erst dann wird das Sein der praktischen Negation und der Argumente, durch die diese wirkt, in der Einheit ethischen Lebens begriffen. 276 Vgl. John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Deutsche Bearbeitung von Eike van Savigny. Ditzingen 2002, S. 112–120.
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Nach dem bisher Gesagten können wir jetzt noch einmal den zu erklärenden Gegenstand vor Augen führen. Dieser besteht darin zu begreifen, wie eine berechtigte, also ethisch begründete, von einer unberechtigten, ethisch unbegründbaren Intervention zu unterscheiden ist. Eine unberechtigte, ethisch unbegründbare Intervention besteht dann, wenn sie bestimmte Moden oder Neigungen als Ursprung von Verletzungen betrachtet, die aber keinen allgemeinen Widerspruch darstellen. Eine bestimmte Kleidungsweise oder lange Haare bei Männern können zwar einen Konventionsbruch darstellen, werden solche Konventionsbrüche jedoch gleich als allgemeiner Widerspruch oder ethischer Konflikt bezeichnet, so wird mit einem überzogenen Anspruch aufgetreten. Das heißt, es kann keine ethischen Gründe geben, die eine Person überzeugen können, die Haare wieder abzuschneiden oder sich anders zu kleiden. In einem solchen Fall verkehrt sich die Verantwortung einer Person angesichts von ethischem Leid in eine anmaßende, moralisierende Autorität. Dieses ist auch dann der Fall, wenn Personen aufgrund ihrer physischen oder biologischen Eigenschaften diese argumentative Autorität zugeschrieben wird. Solche Eigenschaften mögen auf verschiedene Weise ethisch relevant sein, zum Beispiel, wenn jemand aufgrund solcher Eigenschaften diskriminiert wird. Doch sie können nicht dazu berechtigen, jemanden aufgrund bestimmter physischer und biologischer Eigenschaften durch Interventionen zu maßregeln. Aufgrund äußerer physischer und biologischer Eigenschaften ist nicht der eine dem ethisch Guten näher als der andere. Solchen unberechtigten und ethisch unbegründbaren Äußerungen, die eine Anmaßung an Autorität und nicht die Übernahme von Verantwortung darstellen, kann und muss jedoch wiederum durch intervenierende Äußerungen entgegengetreten werden, wenn sie eine Verfehlung darstellen und Personen verletzen. Doch das setzt eine Unterscheidung von berechtigten, ethisch begründeten Interventionen und unberechtigten, ethisch unbegründbaren Aussagen voraus.
3.
Interventionen zum Schutz des Menschlichen
Wie kann nun eine Intervention, die auf eine bestimmte Situation Bezug nimmt, zugleich als Übernahme von Verantwortung für das ethisch Gute, das verschiedenen Personen gemeinsam ist und verschiedene Praktiken gleichermaßen betrifft, verstanden werden? Ver236
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antwortung für den Erhalt bestimmter Traditionen und Konventionen zu übernehmen ist hierfür nicht hinreichend. Eine Intervention aus ethischer Verantwortung ist hingegen, nach einer Formulierung von Hans Jonas, als »Hütung des Menschseins« 277 zu begreifen. Die Intervention und Bemühung um deren positive Gestaltung ist demnach deshalb berechtigt und begründbar, weil sie in Beziehung zu dem steht, worin »Menschsein« besteht. Hans Jonas Formulierung könnte man so deuten, dass eine intervenierende Äußerung, wie »Stopp, handle nicht auf diese, sondern besser auf jene Weise« eine Vorstellung vom »Menschsein« voraussetzt. Die Unterscheidung zwischen unberechtigten, ethisch unbegründbaren und berechtigten, ethisch begründbaren intervenierenden Aussagen hängt demnach vom Bezug auf die »Menschheit in der Person« ab. Der Verweis auf die »Menschheit« legt hier nach der Tabelle in § 1 eine Auffassung von Negation nahe, die von ontologischen Merkmalen ausgeht, die konstitutiv für das Menschsein sind und nicht verletzt werden dürfen. Demnach müsste zunächst ein Begriff der Menschheit als allgemeiner Bezugspunkt erfasst werden, der dann in weiteren Schritten auf Individuen angewandt wird. Diese Denkweise findet sich häufig dann, wenn auf die Würde der Person verwiesen wird, um etwa medizinische Eingriffe oder polizeiliche Untersuchungsmethoden ethisch zu bewerten. 278 Sie findet sich deshalb besonders häufig in der Analyse konkreter Handlungskontexte und Fälle wieder, wie zum Beispiel bei der Behandlung der Frage, ab wann Embryonen als schützenswerte Personen zu betrachten sind. Intervenierende Äußerungen sind im Rahmen dieser Denkweise wie folgt zu formulieren: (1) Tue das nicht, denn es verletzt die Würde einer Person als Mensch. Die Begründung einer intervenierenden Äußerung bezieht sich hier auf den Allgemeinbegriff der Menschheit, durch den einer Person Würde zugeschrieben wird. In Bezug auf den Allgemeinbegriff von Menschheit wird eine bestimmte Art von Relation zu einer Person eingenommen, aufgrund deren Äußerungen, die der Form von (1)
277 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1984, S. 233. 278 Vgl. z. B. Heiner Bielefeldt: Menschenwürde und Folterverbot. Eine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots. Deutsches Institut für Menschenrechte. Essay Nr. 6. Berlin 2007.
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entsprechen, gemacht werden. Diese Art von Relation kann unter dem Titel Respekt gefasst werden. Respekt besteht darin, aufgrund allgemeiner Merkmale einem Individuum mit einer bestimmten Verhaltensweise zu begegnen. Für viele Leute ist es etwa wichtig, sich respektvoll gegenüber älteren Menschen oder Personen in einer hierarchisch höheren Position zu verhalten, indem ihnen Vortritt gegeben wird oder sie nicht kritisiert werden. In diesem Fall ist ein respektvolles Verhalten relativ zur hierarchischen Struktur einer Kultur und Gesellschaft zu verstehen. Nicht das Individuum, sondern dessen soziale Position ist entscheidend. Genauso kann der Verzicht auf das Autofahren durch Respekt vor der Natur motiviert werden. Respekt vor der Natur setzt ebenso eine Zuschreibung bestimmter Merkmale, wie »lebendig«, »Schöpfung« oder »organisch« voraus. Institutionalisiert wird Respekt vor der Natur bei der Einrichtung von Naturschutzgebieten. Der Hinweis auf ein Naturschutzgebiet verlangt oder verbietet bestimmte Verhaltensweisen innerhalb dieses Gebietes. Eine ethische, somit respektvolle Verhaltensweise setzt also voraus, dass eine Person als solche markiert ist. In Relation zu dieser Markierung verhalten sich Personen zueinander mit Respekt vor ihrer Würde, die sie als Teil der Menschheit und Zweck an sich, in sich tragen. Dieses Verhalten verlangt von einer Person, sich bereits bewusst zu sein, dass sie sich in einem Menschenschutzgebiet befindet, indem sie eine Vorstellung von den allgemeinen Merkmalen des Menschseins erlangt, genauso, wie sie die Merkmale von Respektspersonen relativ zu gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen respektvollen Verhaltens erlernen muss. Solche Markierungen werden etwa in Leitlinien für Mediziner zum würdevollen Umgang mit Patienten formuliert. Sie beinhalten etwa die Anweisung, dass und wie die Privatsphäre eines Patienten zu respektieren sei. Die Bioethik behandelt dann unter anderem komplexe Fragen bezüglich medizinischer Eingriffe, wie zum Beispiel, ob auch Embryonen eine Würde haben und somit deren Verwendung zu Forschungszwecken falsch sei. 279 Ob Respekt gezeigt wird, hängt also von der Anwendung allgemeiner Merkmale auf Individuen ab. Ausgehend von dieser Betrachtungsweise wird die »Würde der 279 Vgl. z. B. Frank Dietrich: Menschenwürde und »Lebenswert« in akutmedizinischen Entscheidungen. In: Jan C. Joerden / Eric Hilgendorf / Natalia Petrillo / Felix Thiele (Hrsgg.): Menschenwürde in der Medizin. Quo Vadis? Überlingen/Bielefeld 1994, S. 61–76.
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Person« gewahrt, indem eine Vorstellung davon, was die »Menschheit in der Person« ausmacht, als Maß dafür angelegt wird, um die Unterscheidung von rechtmäßigen, ethisch gerechtfertigten und unrechtmäßigen, ethisch nicht rechtfertigbaren intervenierenden Äußerungen zu machen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung wird deutlich, warum ontologische Merkmale nicht den Bezugspunkt für die ethische Rechtfertigung intervenierender Aussagen darstellen können. Für sie bleibt diese Unterscheidung unbestimmt, weil davon ausgegangen wird, dass eine Person unabhängig von den Umständen einer Situation zu identifizierende Merkmale, die etwa in Form von Leitlinien kodifiziert oder konventionalisiert sind, schon kennt. Die allgemeinen, kodifizierten oder konventionalisierten Merkmale werden in verschiedenen Situationen identifiziert, und somit können mehr und mehr Lebensbereiche in Bezug darauf betrachtet werden, ob darin die »Würde des Menschen« geachtet wird. Der praktische Bezug einer Intervention ist hier also gegeben, weil Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen beobachtet werden können. Für Personen, die Kenntnis und Anwendungskompetenz dieser kodifizierten oder konventionalisierten Merkmale haben, besteht der praktische Bezug in der konkreten Person, die vor Gefahren, verletzt zu werden, beschützt wird. Das Beschützen der Person verlangt bestimmte Interventionen im Kontext konkreter praktischer Gegebenheiten. Als ein Warnschild, das zu einer Intervention auffordert, ist ein solcher Begriff der »Menschheit« und »Würde« sinnvoll. Doch diese Warnung beruht zunächst nur auf der Beobachtung und Identifizierung von Verletzungen und Verfehlungen, was für das ethische Bewusstsein nicht ausreichend ist. Dieses verlangt nach Argumenten dafür, was zu tun und zu unterlassen sei. Die Warnung, dass etwas passieren könnte oder dass eine Person in dieser oder jeder Hinsicht verletzt wird, ist innerhalb ethischen Bewusstseins unvollständig, da Verletzungen hier als solche allein mit Bezug auf kodifizierte und konventionalisierte Merkmale charakterisiert werden. Innerhalb des ethischen Bewusstseins ist eine intervenierende Äußerung hingegen nicht mit Bezug auf kodifizierte und konventionalisierte Merkmale ausreichend begründbar. Die Rechtfertigung einer intervenierenden Äußerung kann nicht als schon gegeben verstanden werden, sondern gilt es noch zu verstehen. Es besteht der Anspruch, dass eine Person mit Bezug auf die Umstände einer Situation argumentativ überzeugt wird, eine Handlungsweise zu stoppen. Die Unterscheidung von ethisch gerechtfertigten und unrechtDie Negativität des Sittlichen
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mäßigen, ethisch nicht rechtfertigbaren intervenierenden Äußerungen bleibt also unbestimmt, weil im Rahmen dieses Ansatzes allein der praktische Bezug der Negation, aber nicht die Möglichkeit von deren argumentativ dargelegten Begründung begriffen werden kann, ohne dass situationsunabhängig kodifizierte oder konventionalisierte Merkmale des Menschseins vorausgesetzt werden. Dass diese selbst gerechtfertigt sind, muss sich erst noch zeigen. Das heißt, der erste Teil von (1), der intervenierenden Äußerung »Tue das nicht …« bezieht sich auf den zweiten, »… denn es verletzt die Würde einer Person als Mensch«, in dem die Begründung gegeben wird, als äußerliche, vorgegebene Tatsache. Somit sind die Argumente für die ethische Intervention aus der Situation heraus nicht verständlich. Um intervenierende Äußerungen innerhalb des ethischen Bewusstseins zu begründen, müssen sie auf andere Weise gegeben werden, als in einer allgemeinen Charakterisierung von Menschheit und dem damit einhergehenden Verständnis von Menschenwürde. Aus den Umständen einer Situation, in der Gefahren zur Verfehlung und Verletzung bestehen, müssen die Gründe erfasst werden können, durch die eine Person argumentativ überzeugt werden kann, eine Handlungsweise zu stoppen. Jonas’ Begriff praktischer Verantwortung als »Hütung des Menschseins« würde mit Bezug auf ontologische Merkmale somit nicht vollständig verstanden. Jonas versucht gerade zu zeigen, dass die jeweiligen Umstände, wie die einer technologischen Zivilisation, immer wieder herausfordern zu begreifen, was »Menschsein« bedeutet.
4.
Widersprüche zum ethischen Motiv
Zu einer praktischen Negation, realisiert in einer intervenierenden Äußerung, wird eine Person durch Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen in praktischen Umständen einer Situationen motiviert. Wird diese im ethischen Bewusstsein durch Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit verstanden, besteht der Anspruch, dass sie durch das Geben von Argumenten wirkt. Doch zugleich sahen wir im vorherigen Abschnitt, dass ein perlokutionärer Sprechakt als intervenierende Äußerung und deren überindividuelle Begründung nicht im internen Zusammenhang stehen, wenn diese mit Bezug auf kodifizierte oder konventionalisierte Merkmale gegeben wird. Die praktische Motivation für eine Intervention, die in der Vermeidung und Überwindung 240
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von Leid liegt, das in einem bestimmten praktischen Kontext auftritt, kann eingesehen werden. Jedoch wird nicht verständlich, wie eine solche Motivation durch das Geben von Argumenten wirksam werden kann, da die Gründe, die gegeben werden, nicht situativ zugänglich sind. Die Perspektive, aus der praktische Bedeutung gewonnen werden kann und die Perspektive eines Bezugs auf überindividuelle Begründungen, die durch Abstraktion von der Situation der einzelnen Person gewonnen wird, bestehen auf verschiedenen Ebenen. Doch in intervenierenden Äußerungen soll nun im ethischen Bewusstsein eine konkrete Einheit beider Ebenen bestehen. Dazu bedarf es eines Verständnisses intervenierender Äußerungen, in denen deren situative Motivierung auf einer Ebene mit deren möglicher Begründung steht. Motivation und Begründung intervenierender Äußerung auf einer Ebene zu fassen entspricht, gemäß der Tabelle in § 1, Auffassungen von Negation, die bei ethischen Motiven als den Bedingungen einer Person für deren Motivierung zu einer intervenierenden Äußerung ansetzen. Demnach ist die Möglichkeit der Begründung intervenierender Äußerungen in der Motivationsstruktur einer Person zu fassen, die in einer Situation sich ethischem Leid bewusst ist und deshalb bestimmte Handlungsweisen negiert. In seinem Buch The Possibility of Altruism argumentiert Thomas Nagel für einen solchen Ansatz. Den Gegenstand von Nagels Untersuchung stellt die Möglichkeit dar, unter der verschiedene Personen in objektiven Gründen zusammenstehen können. Eine allgemeine und objektive Begründung ethischen Handelns ist Nagel zufolge aufgrund des Gehalts eines überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunktes möglich. 280 Dass eine Person ethisch handeln kann, verlangt, dass ihre Handlungsmotive einem so charakterisierten Standpunkt entsprechen. In einer solchen Auffassung von motivationalem Gehalt, das eine Person zu bestimmten ethischen Weisen zu handeln bewegt, werden der zeitlose überindividuelle Gehalt des moralischen Standpunktes und die zeitliche Bedingtheit einer Person zusammen gedacht. 281 Eine Person, die durch den Gehalt des überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunktes motiviert ist, kann folglich zeitliche Motive durch diesen bewerten und zusammen denken. Genauso wird ihr dadurch erst ermöglicht, objektive Gründe zu denken, durch die sie mit anderen in einer Relation steht, die ebenso aus dem moti280 281
Vgl. Thomas Nagel: The Possibility of Altruism. Princeton 1970, S. 71. Ibidem., S. 74.
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vationalen Gehalt des überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunktes urteilen und handeln. Hier sehen wir die Möglichkeit der Begründung einer intervenierenden Äußerung. Diese Möglichkeit ist durch das Motiv einer Person gegeben, dessen Gehalt durch den überindividuellen zeitlosen, neutralen Standpunkt bestimmt ist. 282 Nur wenn sie ein Motiv besitzt, dessen Gehalt durch einen überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunkt bestimmt ist, kann sie überhaupt zur Einsicht von »objektiven Gründen« kommen, durch die sie in Relation zu anderen stehen kann. Dennoch bleibt nach dieser Argumentationsweise das Verständnis objektiver Gründe primär monologisch. 283 Das heißt, die Bedingung der Möglichkeit, das Gemeinsame mit anderen und das Gleiche in verschiedenen Situationen zu fassen, ist monologisch, in der Motivationsstruktur einer Person, gegeben. In Ansätzen, die wie bei Nagel, ein ethisches Motiv voraussetzen, wird die praktische Intervention in den Prozess des Überlegens und der Reflexion einer einzelnen Person verlagert. Die Intervention wird erst nötig, wenn ein Fehler in den praktischen Überlegungen bemerkt wird. Ein Fehler besteht nun wiederum in einem Widerspruch zum motivationalen Gehalt des überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunktes. Unter Voraussetzung eines solchen Standpunktes bedarf eine Negation somit gar nicht des Bezuges auf konkrete Situationen, in denen die Gefahr zur Verletzung oder Verfehlung besteht. Somit wäre sie auch nicht als praktische Negation zu begreifen. Sie wird mit Bezug auf mögliche Handlungen und Situationen gefasst, indem auf darin auftretende Widersprüche zu den Motiven, die dem überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunkt entsprechen, verwiesen wird: (2) Wenn du das tätest, träten Widersprüche zu deinem durch ethische Motive bestimmten Handeln auf. Eine praktisch-ethische Intervention ist somit nicht als eine konkrete Äußerung einer perlokutionären Sprechhandlung zu verstehen, son282 Nagel führt verschiedene Überlegungen dazu an, wie der zeitlose Standpunkt mit dem zeitlichen im praktischen Urteil verbunden ist. Diese Überlegungen sind hier im Detail nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass er ein praktisches Urteil zweistufig begreift, insofern es zuerst den zeitlosen Standpunkt als Prinzip begreift und dann in einem weiteren Schritt auf zeitlich bedingte Handlungen anwendet. 283 Diese Charakterisierung dieser Arten von Positionen verdanke ich Matthias Haase: Am I You? In: Philosophical Explorations. 17/3 (2014), S. 358–371.
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dern besteht alleine in der Feststellung eines Fehlers in Form eines Widerspruchs in ethischen Überlegungen, das durch Motive eines überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunktes bestimmt wird. Dass etwa Gewalt in der Erziehung nicht angewendet werden sollte, zeigte sich dann dadurch, dass der Widerspruch einer Person zu ihren ethischen Motiven dargelegt wird. Es ist erst die Folge eines solchen Widerspruches, dass Argumente für eine Begründung andere, ethisch motivierte Personen nicht überzeugen können und, mit Bezug auf den ethischen Standpunkt, gültige Argumente hingegen überzeugen können müssen. Wir sehen, ein solcher Ansatz kann die Bedingung der Möglichkeit einer intervenierenden Äußerung allein aus der Voraussetzung der Motivationsstruktur, die einem überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunkt entspricht, erklären. Aufgrund der Art der Voraussetzung muss dieser Ansatz in einem zusätzlichen Schritt erklären, wie eine konkrete Interaktion in einer konkreten praktischen Situation zu verstehen ist, in der eine intervenierende Äußerung getätigt wird. Denn allein mit Bezug auf mögliche, irreale Situationen, ohne die Verbindung zur konkreten praktischen Situation zu erklären, bleibt dieser Ansatz leer. Es gilt also nicht nur ausgehend vom Gehalt des ethischen Motivs einer Person, Widersprüche zu erklären, sondern zudem konkrete, praktische Widersprüche in der situativ bedingten Interaktion zu begreifen. Wenn Widersprüche in Interaktion gefasst werden können, erweist sich aber wiederum die vorausgesetzte Übereinstimmung von Motiven mit einem überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunkt, sowie die darin ersichtlichen möglichen Widersprüche als sekundär zur Erklärung von praktischen Widersprüchen. Entweder können also nur als möglich vorgestellte Widersprüche von einem überindividuellen, zeitlosen, neutralen Standpunkt erfasst werden oder ein konkreter Widerspruch wird im praktischen Kontext einer gegebenen Situation gegenüber anderen Personen dargestellt, womit der Nachweis der Übereinstimmung mit den vorgegebenen überindividuellen, zeitlosen, neutralen ethischen Motiven überflüssig würde. Es gilt also zur Vermeidung dieses Dilemmas, in das Nagels Ansatz führt, zu zeigen, wie das begründete Verständnis von Widersprüchen, von vornherein, nicht erst in einem weiteren Schritt, in die Interaktion im konkreten praktischen Kontext einer Situation eingebettet ist und somit als praktische Negation Wirksamkeit erlangen kann. Der Ansatz Stephen Darwalls liefert ein Verständnis allgemeiner, objektiver Motive, indem er, anders als Nagel, davon ausgeht, Die Negativität des Sittlichen
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dass ein Motiv praktischer Vernunft nur mit Bezug auf die zweite Person, die Adressat von Forderungen und Verpflichtungen ist, begriffen werden kann. Nach Darwall haben moralische Forderungen und Verpflichtungen deshalb im Standpunkt der zweiten Person Realität. 284 Es gilt nun zu zeigen, inwiefern mit Verweis auf den Standpunkt der zweiten Person eine begründete Intervention oder Aufforderung praktische Wirksamkeit erlangen kann. Eine Charakterisierung des Standpunktes der zweiten Person findet sich in folgender Passage in Darwalls The Second Person Standpoint: Authority of the kind I claim in asking (or implicitly demanding) that you move your foot is fundamentally second-personal. I presume upon your and my (presupposed) equal standing as free and rational persons, and if you recognize my demand, you and I both presuppose that you can move your foot simply by recognizing and acting on the second-personal reason I address to you (or that we both understand the moral community to have been addressing to you before I even opened my mouth). 285
In der zitierten Passage wird der Unterschied zwischen Beschreibungen von Sachverhalten und praktischen Forderungen erklärt, was wie folgt erläutert werden kann: Die Aussage »Dein Fuß steht auf meinem Fuß« wird als praktische Forderung verstanden, wenn sie durch eine Äußerung wie »bitte nimm ihn runter« ergänzt werden könnte. Als Beschreibung eines Sachverhaltes wird sie verstanden, wenn sie lediglich durch eine Äußerung wie »komisch, dass ich das nicht eher bemerkt habe«, ergänzt werden könnte. Entscheidend ist hier nun für Darwall, dass die Adressierung einer praktischen Forderung an eine andere Person mit einer bestimmten Voraussetzung, das Verhältnis zwischen Adressanten und Adressaten betreffend, einhergeht. Diese Voraussetzung besteht darin, dass beide als gleiche, freie, rationale Akteure aufeinander bezogen sein müssen. Diese Voraussetzung ist dadurch erfüllt, dass »[…] we both understand the moral community to have been addressing to you before I even opened my mouth […]«. Die Empfänglichkeit für praktische Forderungen von anderen Personen, dieses oder jenes zu tun bzw. zu lassen, ist also durch ein Verständnis einer moralischen Gemeinschaft bedingt, das auch unaus284 Vgl. Stephen Darwall: The Second Person Standpoint. Morality, Respect, and Accountabilty. Cambridge Mass./London 2009, S. 59. Er sagt: »There can be no such thing as moral obligation and wrongdoing without the normative standing to demand and hold agents accountable for compliance.« (Ibidem, S. 99.) 285 Ibidem, S. 290.
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gesprochen vor der Tätigung einzelner Aussagen gegeben sein muss. Dieser Ansatz kann somit die Bedingungen der Begründung einer Aufforderung oder ethischen Intervention fassen, insofern die Bedingungen für das Bestehen einer moralischen Gemeinschaft angegeben werden können. Doch auch wenn die Bedingung für die Begründbarkeit von Interventionen, Einsprüchen oder Aufforderungen innerhalb dieses Ansatzes formuliert werden kann, bleibt der situative Bezug einer praktischen Intervention unter konkreten praktischen Umständen ungeklärt. Denn die Bedingung der Adressierung einer Person mit Interventionen, Einsprüchen oder Aufforderungen liegt in einer idealen moralischen Gemeinschaft, die aber nur irreal gegeben ist. Es handelt sich um die Vorstellung einer idealen moralischen Gemeinschaft, die Adressat und Adressant von Äußerungen verstanden haben müssen. Doch es ist nicht gegeben, dass diese Bedingungen unter den konkreten Umständen argumentativer Interaktion auch bestehen. 286 Eine Person kann sich dann lediglich vorstellen, dass sie in einer idealen moralischen Gemeinschaft gegen Verletzungen Einspruch erheben und intervenieren könne. Unter den konkreten praktischen Gegebenheiten, in denen sie sich befindet, kann sie aber nicht ethisches Leid zum Anlass nehmen, in das Handeln einer anderen Person zu intervenieren und sie auffordern, ihr Handeln zu stoppen. Die Bedingungen einer Begründung werden in diesem Ansatz zwar klar dargelegt, jedoch bleibt deren Bezug auf eine gegebene Situation unverständlich, in der diese Bedingungen nicht erfüllt sind. Eine praktische Negation als Intervention zur Verhinderung von Leid unter praktischen Umständen, in denen diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ist dann nicht möglich. Um hier die Motivation und die Begründung einer praktisch wirksamen Äußerung, also einer Intervention, auf einer Ebene zu begreifen, kann also nicht von einem vorausgesetzten Standpunkt, von dem aus der Gehalt von ethischen Motiven bestimmt wird, ausgegangen werden; auch nicht, wenn er als eine ideale Art des Bezuges auf die zweite Person gefasst wird. Um Motive und Begründungen einer intervenierenden Äußerung auf einer Ebene zu fassen, kann also nur andersherum vorgegangen werden. Da eine intervenierende Äußerung durch die praktischen Umstände einer Situation, in der eine Person Verletzungen erleidet oder Verfeh286 Vgl. Stephen Darwall: Reply to Korsgaard, Wallace, Watson. In: Ethics. 118 (2007), S. 64–65.
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lungen begeht, motiviert wird, sind auch Argumente für deren Begründung innerhalb der praktischen Gegebenheiten einer Situation zu suchen.
5.
Argumente in praktischen Umständen
Eine praktische Negation, als perlukotiver Sprechakt einer intervenierenden Äußerung verstanden, wird immanent des ethischen Bewusstseins begriffen, wenn diese durch Argumente bei anderen Personen bewirkt, ihre Weisen zu handeln, zu stoppen. Nun zeigt sich erstens in § 3, dass solche Argumente nicht gegeben werden können, wenn dabei auf vermeintlich ontologisch, allgemeine Merkmale Bezug genommen wird, aufgrund derer eine Person unter den Schutz der Menschenwürde fällt. Solche Eigenschaften sind aus der konkreten argumentativen Situation nicht zugänglich, da sie nur in Abstraktion von dieser gefasst werden können. Zweitens zeigt sich in § 4, dass solche Argumente nicht mit Bezug auf ein genuin ethisches Motiv möglich sind, das einem ethischen Standpunkt entspricht, wie wir ihm anhand von Nagels und Darwalls Ansätzen begegnet sind. Denn von einem solchen Standpunkt aus können nicht die Umstände einer Situation, in der Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen bestehen, erfasst werden, sondern nur mögliche oder irreale Umstände von Situationen, in denen die Bedingungen, um aus einem solchen Motiv Widersprüche und Negationen praktisch wirksam kommunizieren zu können, erfüllt sind. In beiden Fällen kann der Zusammenhang von Motivation und Begründung einer ethischen Intervention nicht gefasst werden. Um nun Motivation und Begründung einer praktischen Negation als perlukotiven Sprechakt einer intervenierenden Äußerung auf einer Ebene zu fassen, sind beide praktisch zu begreifen. Das heißt, die praktischen Gegebenheiten, in denen eine Person leidet, und die deshalb eine ethische Intervention motivieren, sind zugleich als die Quelle für die argumentativ zu gebende Begründung zu verstehen, die Personen dazu bringen, Handlungsweisen, die Leid hervorrufen, zu stoppen. Es ist somit die Auffassung von Negation in der untersten Zeile der oben in § 1 aufgeführten Tabelle zu verstehen. Nach dieser Auffassung ist die Struktur einer praktischen Negation als perlukotiver Sprechakt einer intervenierenden Aussage wie folgt aufzufassen:
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(3) Tue das nicht, du verletzt mich dadurch, denn was du tust, hindert mich daran, X zu tun / zerstört mein Vertrauen zu dir / stellt mich bloß / zerstört mein Leben / ist mir gegenüber missachtend etc. In dieser Aussage haben beide Teile eine praktische Bedeutung, weil konkrete Personen in einer Situation in Beziehung zueinander stehen und aus ihrer jeweiligen Perspektive unter konkreten praktischen Umständen Gründe geben. Doch dieser praktische Ausgangspunkt führt nicht notwendig zu einem Verständnis rechtmäßiger und ethisch begründbarer intervenierender Äußerungen im Rahmen einer negativen Ethik, nach der das Bewusstsein ethischen Leides dem ethischen Bewusstsein zugrunde liegt. Bisher habe ich nur gezeigt, dass Motivation und Begründung für eine praktische Negation als perlokutiver Sprechakt einer intervenierenden Äußerung nur innerhalb der praktischen Gegebenheiten einer Situation auf einer Ebene gefasst werden können. Um diese jedoch immanent des ethischen Bewusstseins in Form von Argumenten zu begreifen, ist auch zu zeigen, wie das Verhältnis einer Person zu den praktischen Umständen einer Situation immanent des ethischen Bewusstseins zu verstehen ist, das vom Bewusstsein ethischen Leides ausgeht. Dann verstehen wir den Raum der Gründe, in dem praktisch eine rechtmäßige, ethisch begründbare von einer unrechtmäßigen, ethisch nicht begründbaren praktischen Negation, die etwa bloß durch individuelle Interessen oder den Verweis auf Konventionen begründet ist, unterschieden werden kann.
II.
Ethische Argumente als Interventionen
Dieser Abschnitt behandelt die Frage, wie sich durch eine praktische Negation ethischen Leides, als perlukotiver Sprechakt einer intervenierenden Äußerung aufgefasst, ein ethisches Bewusstsein herausbilden kann. Es wird somit nach den Voraussetzungen dafür gefragt, wie verschiedene Personen, die unter zufälligen praktischen Umständen einer Situation, in denen sie Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen ausgesetzt sind, zu einem gemeinsamen Verständnis von praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen kommen können. Hier gilt es also, die Fähigkeit durch Argumente praktisch zu intervenieren und zu überzeugen, mit dem Bewusstsein ethischen Leides zu verbinden, das auf die Gefahren von Verfehlungen und VerDie Negativität des Sittlichen
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letzungen der Umstände von Situationen Bezug nimmt. Zunächst wird die Problemstellung herausgearbeitet, die darin besteht, zu zeigen, wie unter zufälligen praktischen Umständen Argumente gegeben werden können, die mit einem ethischen Anspruch auf allgemein unbedingte Verbindlichkeit gelten (§ 1). Im darauf folgenden Abschnitt wird die Fähigkeit, normative Ansprüche und Versprechungen geltend zu machen, dargestellt, wodurch die Frage nach der allgemein unbedingten Verbindlichkeit konkretisiert wird (§ 2). Es wird gezeigt, dass individualistische und konventionalistische Weisen normative Ansprüche und Versprechungen gegenüber anderen Personen geltend zu machen, mit ethischen Geltungsansprüchen unvereinbar sind (§ 3). Stattdessen gilt es zu verstehen, wie normative Ansprüche und Versprechungen mit einem ethischen Anspruch anderen Personen gegenüber geltend gemacht werden, wenn sie als fehlbare und verletzliche Personen adressiert werden (§ 4).
1.
Argumente geben
Der vorherige Abschnitt hat uns gezeigt, wie das ethische Bewusstsein dargestellt werden kann, ohne wiederum ontologische Merkmale oder genuin ethische Motive als Bezugspunkt vorauszusetzen. Stattdessen sind die Argumente für praktische Negationen aus den praktischen Umständen zu begreifen, die bestimmen, aus welcher Lage Personen miteinander interagieren. In Anbetracht dieser Ausgangslage stellt sich das Verhältnis von Bewusstsein ethischen Leides und ethischem Bewusstsein wie folgt dar: Ein ethisches Bewusstsein kann nur ausgehend von der Ausübung der vernünftigen Fähigkeit zur praktischen Negation herausgebildet werden, die durch ethisches Leid in einer konkreten Situation motiviert ist. Diese Fähigkeit ist vernünftig, insofern deren Ausübung darin besteht, argumentativ in Handlungsweisen zu intervenieren, die ethisches Leid hervorrufen. Um von diesem Ausgangspunkt aus das ethische Bewusstsein darzustellen, müssen wir nun verstehen, wie überhaupt allgemein verbindliche Begründungen argumentativ gegeben werden können, wenn außerhalb der praktischen Umstände einer Situation kein weiterer Bezugspunkt gegeben ist. Das ethisch Gute, das allgemein, unbedingt verbindlich ist, kann ja zunächst lediglich negativ, in Differenz zu Gewohnheiten und Praktiken von sozialen Lebensformen mit Bezug auf die Person in ihrer Singularität gefasst werden. 248
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Anscombe liefert in ihrer Diskussion von »stopping modals« 287 einen Ansatz zur Darstellung der vernünftigen Fähigkeit zur praktischen Negation. Die notwendige Verbindlichkeit einer Regel oder sozialen Norm, wie Versprechen zu halten, sei intrinsisch mit einem entsprechenden Akt verbunden, in dem jemand einer anderen Person ein Versprechen gibt. Das Problem dabei, solche Akte zu verstehen, liegt nach Anscombe darin, die damit einhergehende notwendige Verbindlichkeit begreiflich zu machen. Denn diese kann nicht unabhängig vom Akt des Versprechens oder des Einforderns eines Rechtes selber verstanden werden. Das heißt, die notwendige Verbindlichkeit eines Versprechens besteht gegenüber den Personen, denen ein Versprechen gegeben wurde und kann nicht unabhängig vom Verhältnis zu diesen in allgemeinen Kriterien dargelegt werden. Die Verbindlichkeit eines Versprechens lässt sich nach Anscombe dann zunächst nur in »stopping modals«, wie »Du darfst X nicht an P weitersagen« erklären, die auf den möglichen Bruch eines Versprechens hinweisen. Sie ermöglichen zu erlernen, was es heißt, in Übereinstimmung mit der Norm eines Versprechens zu handeln, indem bewusst gemacht wird, wann gegen sie verstoßen wird. Was Anscombe am Beispiel des Versprechens darstellt, kann auf Äußerungen, die mit ethischen normativen Ansprüchen und Versprechungen gemacht werden, übertragen werden. Dass eine Person an diese gebunden ist, ist nicht unabhängig von deren Artikulation und Geltendmachen in einer Situation zu verstehen. Ein Einspruch wie »Du kannst das nicht machen, das ist unrecht?« oder »Stopp, das ist gewalttätig« kann sich demnach nicht auf bereits definierte, überindividuell und situationsinvariant verständliche Kriterien dafür, was rechtens ist bzw. davon, was Gewalt ist, berufen. Ein Verständnis ist davon nur im Akt möglich, in dem ein Recht gegenüber anderen Personen geltend gemacht oder Gewalt verhindert wird. Das ethische Bewusstsein wird somit dargestellt in der Fähigkeit zu Akten des Geltendmachens von normativen Ansprüchen und Versprechungen in bestimmten Situationen. Das heißt, es besteht in ethischen Praktiken des Einforderns von Rechten, der Verhinderung von Gewalt oder eben des Haltens von Versprechen, deren Gehalt durch ethische Interventionen erlernt wird. Die Frage, wie die Rationalität bzw. der logos solcher Akte all287 Vgl. G. E. M. Anscombe: Rules, Rights and Promises. In: Ders.: Ethics, Religion, and Politics. Oxford 1981.
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gemein zu bestimmen sei, führte also in die falsche Richtung. Denn dieser liegt, folgen wir Anscombe, in den normativen Ansprüchen und Versprechungen, die durch solche Akte realisiert werden. Sie schreibt: »These musts and can’ts are understood by those of normal intelligence as they are trained in the practice of reason.« 288 Jemand der geübt ist, an einer »practice of reason« teilzunehmen, macht eine Äußerung immer im Zusammenhang mit einem Verständnis von Gründen für diese Äußerung. Dieser Zusammenhang besteht, wenn eine Person in einer Situation normative Ansprüche und Versprechungen einlöst und geltend macht, die sie zugleich zu intervenierenden Aussagen, wie »Stopp!« oder »Tue dieses und nicht jenes« motiviert. Dann besteht ein interner Zusammenhang zwischen der Relation einer Person zu einer Situation, in der bestimmte Gefahren zur Verletzung und Verfehlung bestehen, und den Argumenten, die sie geben kann, um andere Personen zu überzeugen, eine Handlungsweise zu stoppen oder anders zu handeln. Das heißt, ihre Motive dafür, bestimmte Interventionen zu artikulieren, sind nicht von ihrer Auffassung eines normativen Anspruches, dem es zu genügen, und Versprechungen, die es zu erfüllen gilt, getrennt. In einer intervenierenden Äußerung besteht dieser Zusammenhang immer schon, da darin deren beiden Teile vermittelt werden: (3.I) Tue das nicht, du verletzt mich, (3.II) denn was du tust verhindert mich zu Xen/zerstört mein Vertrauen zu dir/stellt mich bloß/zerstört mein Leben/ist mir gegenüber missachtend etc. (3.I) und (3.II) müssen nicht kompositional zusammengefügt werden, sondern diejenige, die eine intervenierende Äußerung ausspricht, indem sie normative Ansprüche und Versprechungen artikuliert und geltend macht, sagt zugleich auch (3.II) aus, wenn sie (3.I) äußert. Das heißt, (3) ist als Ganzes als Geltendmachung normativer Ansprüche und Versprechungen zu verstehen. Wenn also in einer »practice of reason« eine intervenierende Äußerung gemacht wird, dann sind die möglichen Gründe für Argumente, in denen sie dargelegt wird, damit schon verbunden. Damit wird nicht verlangt, dass diese
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Ibidem, S. 103.
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Argumente schon vollständig verfügbar sind. Es mag einige Zeit dauern, bis sie soweit entfaltet sind, dass sie überzeugen. (3.II) kann somit einen hohen Grad an Komplexität erlangen oder niemals vollständig dargestellt werden. Wird eine intervenierende Äußerung hingegen in einer Praxis der Gewalt gemacht, steht an der Stelle von (3.II) schlicht eine Drohung oder etwa Folter. Im Begriff einer »practice of reason« kann die Frage nach notwendiger Verbindlichkeit im Sinne eines ethischen Anspruches auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit der in Argumenten artikulierten normativen Ansprüche und Versprechungen erst aufkommen. Dieser Zusammenhang erweist sich hier nicht als selbstverständlich. Es lassen sich nämlich verschiedene Prinzipien für die Artikulation und das Geltendmachen normativer Ansprüche und Versprechungen unterscheiden, die mit einer jeweils anderen Gestalt einer »practice of reason« einhergehen. Es können einmal individuelle Interessen deren Prinzip darstellen oder auch die Konventionen einer lokalen, sozialen Praxis. In beiden Fällen stellen zufällig praktische Gegebenheiten deren Prinzip dar. Wir müssen also weitere Differenzierungen machen, um die Art einer »practice of reason« zu bestimmen, deren Akte das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck bringen, wo also das Sein praktischer Negation und deren Argumente dem Sein ethischen Lebens entspricht. Anscombe liefert hier keine weiteren Differenzierungen, hat uns jedoch zu dem Punkt geführt, an dem diese zu machen sind.
2.
Normative Ansprüche und Versprechungen
Die Differenzierung von Arten von »practices of reason«, die entweder in individuellen Interessen, in Konventionen oder im allgemein, unbedingt verbindlich Guten ihr Prinzip haben, wird durch Differenzierungen der normativen Ansprüche und Versprechungen gewonnen, die praktische Gegebenheiten von Situationen strukturieren. Zunächst ist die allgemeine Struktur von deren Verhältnis zu den praktischen Umständen einer Situation, in denen eine Person sich befindet, vor Augen zu führen. Dann kann gezeigt werden, was die spezifisch ethische Vorstellung von normativen Ansprüchen und Versprechungen ausmacht. Eine Person kann sich nur über ihre eingeübten Handlungs-, Bewertungs- und Reaktionsweisen, das Schema ihres Leibes, wie es in Die Negativität des Sittlichen
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der Phänomenologie genannt wird, 289 zu Situationen verhalten. An diese Handlungs-, Bewertungs- und Reaktionsweisen einer Person bestehen verschiedene normative Ansprüche und Versprechungen, je nach Kontext einer Rolle, Konvention oder Institution. So lange eine Person bloß auf die Teilnahme von Rolle, Konvention oder Institution festgelegt ist, erschöpfen normative Ansprüche und Versprechungen sich in dem durch sie gesetzten Rahmen. Es besteht eine Lücke zum Gegenstand des ethischen Wissens – auf der einen Seite haben wir die normativen Ansprüche und Versprechungen, die einer Person je nach Rolle, Konvention oder Institution gestellt und gegeben werden, und auf der anderen Seite besteht der Anspruch, in Übereinstimmung mit dem Maßstab des ethisch Guten zu urteilen und zu handeln. Das Auftreten dieser Lücke wird vermieden, wenn die spezifische Form von normativen Ansprüchen und Versprechungen dargestellt werden kann, die mit einem ethischen, allgemeinen und unbedingt verbindlichen Geltungsanspruch eingelöst und geltend gemacht werden. Normative Ansprüche und Versprechungen werden dann immer noch im Rahmen eines gegebenen zufälligen Verständnisses von Praktiken eingelöst und geltend gemacht, nehmen aber zugleich die Einheit ethischen Lebens, das im allgemein und unbedingt verbindlich Guten bestimmt ist, zu ihrem Maßstab. Das zu verstehende Verhältnis zwischen Handlungs-, Bewertungsund Reaktionsweisen, normativen Ansprüchen und Versprechungen, sowie ethisch Gutem, lässt sich wie folgt darstellen: 3. Einheit ethischen Lebens
Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit
2. Genügen und Erfüllen von normativen Ansprüchen und Versprechungen
normative Ansprüche und Versprechungen von Praktiken
1. situative Umstände
Handlungs-, Bewertungs- und Reaktionsweisen
Dieses Phänomen der Verleiblichung als eine Form des immer schon auf die Umwelt bezogenen Bewusstseins wird in zeitgenössischen Arbeiten diskutiert, die von Husserls und Merleau-Pontys Phänomenologie des Leibes ausgehen. Vgl. hierzu etwa Alva Noë: Out of our Heads. Why You are not Your Brain and Other Lessons from the Biology of Consciousness. New York 2010. Leider weisen diese Ansätze keinen Weg zur Beantwortung der normativen Frage des ethischen Wissens, sondern fokussieren in Abgrenzung von dualistischen Rationalitätsmodellen allein auf den Leib. Ethisches Wissen muss diesen wiederum in einem weiteren normativen Kontext begreifen. 289
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Das Verhältnis der Ebenen 1., 2. und 3. ist wie folgt zu verstehen: Ebene 1. stellt das eingeübte Verhalten in gegebenen Situationen dar. Oftmals von der philosophischen Phänomenologie beeinflusste Ansätze konzentrieren sich allein auf diese Ebene und stellen sie vernünftigen Fähigkeiten entgegen. 290 Auf Ebene 2. befindet man sich jedoch im Bereich von endlichen Lebewesen, die praktische Überlegungen anstellen können. Hier wird eingeübtes Verhalten mit vernünftigen Fähigkeiten verbunden, indem verschiedene Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf normative Ansprüche und Versprechungen verglichen werden können. Sie betrachten die Realität ihrer Handlungen und Situationen im Rahmen der Normen der Rollen, Konventionen und Institutionen, an denen sie teilnehmen. Mit Ebene 2. wird also nicht eine weitere Stufe eingeführt, die parallel oder entgegen zu Ebene 1. verläuft, sondern es werden die Handlungs-, Bewertungs- und Reaktionsweisen auf Ebene 1. als Realität begriffen, in der normative Ansprüche und Versprechungen eingelöst werden oder nicht. Eine Person kann bestimmte Handlungsvollzüge als misslungen begreifen, insofern sie normativen Ansprüchen und Versprechungen nicht genügen oder sie nicht einlösen. Im Übergang zu Ebene 3. werden normative Ansprüche und Versprechungen mit dem Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit artikuliert und geltend gemacht. Eine Person verantwortet sich auf dieser Ebene vor dem, was in bestimmten Auffassungen von normativen Ansprüchen und Versprechungen gefordert wird. Sie kann geforderte Handlungsweisen als ethisch problematisch, konfligierend und widersprüchlich begreifen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass aus der Artikulierung und der Geltendmachung normativer Ansprüche und Versprechungen nicht normative Homogenität folgt, wonach alle Personen das Gleiche tun müssten. Hier wird hingegen von einer Pluralität verschiedener Rollen, Konventionen und Institutionen ausgegangen, die den Kontext der Handlungs- Bewertungs- und Reaktionsweisen einer Person bestimmen. Das heißt, sie bestimmen zufällig die Lebensvollzüge einer Person und können zueinander in Konkurrenz stehen. Wird aus der Perspektive einer Person, nach der abschließenden Ord290 Vgl. exemplarisch Hubert L. Dreyfus: What Computer still Can’t Do. A Critique of Artificial Reason. Cambridge Mass. 1992. Dreyfus nimmt eine Abgrenzung von an der Automatentheorie orientierten Rationalitätsmodellen aus, artikuliert aber keinen Begriff vernünftiger Fähigkeiten.
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nung eines ethisch guten Lebens auf Ebene 3. gefragt, bedeutet das nun nicht, dass alle Unterschiede damit aufgelöst werden. Ebene 3. besteht hingegen in der spezifisch ethischen Art des Befragens und der argumentativen Auslegung der eigenen Handlungs-, Bewertungs- und Reaktionsweisen. Die spezifisch ethische Art, diese argumentativ durch die Artikulierung und Geltendmachung normativer Ansprüche und Versprechungen zu befragen, stellt die Aktivität dar, durch die verschiedene Personen argumentativ auf den ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit und nicht auf besondere Interessen oder die Normen lokaler, sozialer Praktiken Bezug nehmen. 291 Wir haben bisher gesehen, eine intervenierende Äußerung, die durch Argumente wirkt, ist untrennbar mit der Fähigkeit zur Artikulierung und zum Geltendmachen normativer Ansprüche und Versprechungen verbunden. Das ethische Bewusstsein besteht in der spezifischen Weise, diese Fähigkeit auszuüben. Damit einher geht eine spezifische Weise, sich auf die praktischen Umstände einer Situation zu beziehen, die im Bewusstsein ethischen Leides besteht. Eine solche Weise, normative Ansprüche und Versprechungen gegenüber anderen Personen geltend zu machen, stellt den Ansatz ethischen Bewusstseins dar, der sich allein aus den praktischen Gegebenheiten einer Situation erklärt, ohne dass ein abstrakter Bezugspunkt für Begründungen oder Motive von Personen formuliert wird.
3.
Individuelle und konventionelle Argumente
Ein ethisches Verständnis von (3) (vgl. § 2 und Abschnitt I.5) ist ausgehend von der Art der Relation einer Person zu der Situation, in der sie sich befindet und sich darin stellender Anforderungen, zu analysieren. Die Art von Relation, die für ein Bewusstsein von gegebenen Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen spezifisch ist, stellt zugleich die Relation dar, in der normative Ansprüche und Versprechungen mit einem ethischen, also allgemein und unbedingt verbindlichen Anspruch, artikuliert und geltend gemacht werden können. Nun können Personen sich auch auf andere Weise zu Situa291 Dieser Unterschied kann auch nicht durch »dichte Begriffe« erklärt werden. Im Schritt zu Ebene 3. geht es vielmehr um eine Unterscheidung von verschiedenen Arten »dichter Begriffe«. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.I.
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tionen verhalten und somit auch normative Ansprüche und Versprechungen mit einem Anspruch artikulieren und geltend machen, der nicht ethisch ist. Hier bieten sich zwei Optionen von denen eine Abgrenzung nötig ist. 1. Eine Person nimmt ihre individuellen Wünsche, Bedürfnisse und Interessen zum Maßstab. 2. Eine Person nimmt zum Maßstab, was Rollen, Konventionen und Institutionen verlangen.
1.
Individuum und Umwelt
Einer Weise, Situationen und die sich darin stellenden Herausforderungen zu begreifen, liegt das Verhältnis vom Individuum zu seiner Umwelt zugrunde. Die Perspektive einer Person ist dann auf deren Umwelt beschränkt, da sie nur so weit reicht, wie die Möglichkeiten, die in einer konkreten Situation gegeben sind. Die Herausforderung der Situation liegt somit darin, auf deren Angebot und Umstände zu reagieren. Die durch die Gegebenheiten der Situation bestimmte Relation einer Person zu dieser ist hier maßgebend für ihre Handlungs-, Bewertungs- und Reaktionsweisen. Die Relation von Person zur Situation wird durch deren Wunsch, Bedürfnis oder Interesse zu einer bestimmten Zeit bestimmt. Die Situation stellt nicht nur die Mittel zur Befriedigung von Wünschen oder Bedürfnissen dar, sondern konkretisiert diese. Das heißt, die Möglichkeiten einer Situation geben dem Wunsch oder Bedürfnis einer Person erst einen Gegenstand. Während einer Wanderung durch die Wüste konkretisiert sich der Wunsch, nach meiner Wasserflasche zu greifen und während ich mit dem Schlitten den Südpol überquere, der, einen Schluck Branntwein zu trinken. Die Fähigkeit einer Person sich zur Situation zu verhalten besteht dann darin, ihre Wünsche und Bedürfnisse angemessen zu realisieren. Im Rahmen dieser Art von Relation einer Person zu einer Situation kann eine intervenierende Äußerung wie folgt verstanden werden: (4) Tue das nicht, denn es behindert mich bei der Realisierung meiner oder deiner Wünsche und Bedürfnisse. Die normativen Ansprüche und Versprechungen, durch die eine intervenierende Äußerung begründet wird, basieren hier auf den individuellen Wünschen, Bedürfnissen oder Interessen einer Person. Die Negativität des Sittlichen
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Deren Artikulation wird durch eine Situation herausgefordert, insofern sie die Realisierung eines Wunsches oder Bedürfnisses ermöglicht oder nicht. Sie nehmen somit nicht Bezug auf ein Gut, das verschiedene Personen gemeinsam anstreben. Einer anderen Person kann es jedoch möglich sein, Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen einer anderen Person nachzuvollziehen und dementsprechend zu reagieren. Wenn zwei zusammen durch die Wüste laufen und einer zur Flasche greift, kann sein Begleiter in Bezug auf seinen eigenen Wunsch, seine Bedürfnis oder sein Interesse auf folgende Weise intervenieren: (4’) Tue das nicht, du hattest schon genug, lass mir etwas über. Nun können Personen aus dieser Perspektive in der Realisierung ihrer jeweiligen Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen Kompromisse schließen oder strategisch kooperieren, je nachdem wie sie die Handlungsspielräume einer Situation bewerten. Das zeigt sich in der folgenden möglichen Antwort auf (4’): (4’’) Einverstanden, ich werde sparsam sein, der Weg ist ja noch lang, und ohne dich würde ich ihn nicht schaffen. Hier handelt es sich sich um einen Zusammenhang von Wünschen und Bedürfnissen verschiedener Personen, der nicht in einem gemeinsamen Ziel gründet. Vielmehr besteht deren Zusammenhang allein in einem strategischen, kooperativen oder willkürlichen Entschluss, etwas gemeinsam zu tun. Denn das Verhältnis zur anderen Person und zur Situation wird mit Bezug auf Behinderungen und Beförderung zur Realisierung der eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen betrachtet. Am Ende hat jeder nur seine eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen realisiert. Das Prinzip eines argumentativen Austausches oder Zusammenschlusses von Personen liegt folglich auch allein in dem Bestreben, in einer Situation individuelle Wünsche, Bedürfnisse oder Interessen zu realisieren. 292 Ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides ist die partikulare Perspektive einer Person jedoch auf ein gemeinsames Gut ausgerichtet, auch wenn es nur negativ, als nicht erfüllt bewusst ist. 292 Ich denke hier etwa an Michael Bratmans Darstellung von gemeinsamen Handeln auf Grundlage einer Theorie von »joint intentions« (Michael Bratman. Shared Intention. In: Ethics. 104 (1993), S. 97–113.)
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2.
Praktiken und deren Teilnehmer
Ein anderes Verständnis des Verhältnisses einer Person zu einer Situation und sich ihr darin darstellender Herausforderungen beruht auf der Teilnahme an Praktiken. Die normativen Ansprüche und Versprechungen lokaler, sozialer Praktiken, an denen eine Person teilnimmt, bestimmen dann deren Verhältnis zu den Umständen einer Situation. Im Rahmen einer lokalen, sozialen Praxis ist die Relation einer Person zu einer Situation also dadurch bestimmt, dass sie in ihrem Handeln darauf abzielt, dieser zu entsprechen, indem sie deren normative Ansprüche und Versprechungen einlöst. Die Anerkennung dieser Standards ist gegenüber den Umständen einer Situation vorgänglich. Damit wird die Relation von Person zur Situation durch deren Aktivität begriffen, welche darin besteht, dass sie macht, was durch die Teilnahme an einer lokalen, sozialen Praxis wie einer Rolle, Konvention oder Institution erfordert wird. Im Rahmen dieser Art der Relation von Person zur Situation werden intervenierende Äußerungen innerhalb einer lokalen, sozialen Praxis getätigt, die für verschiedene Personen den gemeinsamen Bezugspunkt darstellt. (5) Tue das nicht, das ist gegen die Regel (, die die Rolle, Konvention oder Institution ausmacht). Die Begründung der intervenierenden Äußerung bezieht sich auf den normativen Anspruch und die Versprechung einer lokalen, sozialen Praxis. Die Person, die eine intervenierende Äußerung vollzieht, weist andere darauf hin oder bemerkt für sich selbst, dass der Anspruch verfehlt und die Versprechung nicht eingelöst wird. In diesem Fall wird die gemeinsame soziale Praxis als Bezugspunkt vorausgesetzt. Die Intervention geht mit einer Belehrung einher und kann somit auch wie folgt konkretisiert werden, wenn diejenige, an die sie gerichtet ist, weitere Begründungen verlangt: (5’) Tue das nicht, mache es so wie X, der macht es richtig und gut. Hier wird mit X auf den erfolgreichen Teilnehmer einer Praxis verwiesen, dem es gleichzutun gilt. Unter diesen Voraussetzungen stellt nicht das Bewusstsein ethischen Leides den motivierenden Ausgangspunkt des ethischen Bewusstseins dar, sondern die bestehenden AusDie Negativität des Sittlichen
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legungen normativer Ansprüche und Versprechungen einer gegebenen lokalen, sozialen Praxis. Nicht die Gefahr der Verletzung und Verfehlung konkreter Personen in gegebenen Situationen wird gesehen, sondern die Gefahr der Verfehlung der Realisierung eines Anspruches oder die Verletzung gegebener Regeln. Somit kann eine intervenierende Aussage auch wie folgt begründet werden, wenn diejenige, die sie betrifft, nicht einsichtig ist: (5’’) Tue das nicht, ansonsten hast du Sanktionen zu erwarten. Bleibt ein normatives Verständnis auf die Teilnahme an Praktiken beschränkt, ist ein genuin ethisches Bewusstsein also nicht möglich, da eine konkrete Auffassung davon, was recht und gut ist, durch die lokale, soziale Praxis vorbestimmt ist. 293 Die konkreten Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen einzelner Personen, im Bewusstsein ethischen Leides, können aus dieser Perspektive nicht als Motivation für und als Ausgangspunkt eines argumentativen Austausches betrachtet werden. Dieses, wie das vorherige Verständnis normativer Ansprüche und Versprechungen, sind nicht unsinnig. Sie stellen jedoch Arten der argumentativen Interaktion dar, durch die selbst nicht auf das ethisch Gute Bezug genommen werden kann, womit auch immer die Gefahr besteht, dass deren Ausübung ethische Verfehlungen oder Verletzungen zur Folge haben.
4.
Ethische Argumente
Weder aus dem Verhältnis von Individuum und Umwelt noch aus dem von lokalen sozialen Praktiken und Teilnehmern können normative Ansprüche und Versprechungen mit der allgemeinen und unbedingten Verbindlichkeit des ethischen Guten artikuliert und geltend gemacht werden. Wir stehen somit vor der Aufgabe, ein Verständnis einer dritten Art des Verhältnisses von Person zu einer Situation und sich darin stellenden Herausforderungen zu begreifen. Darin wird Bezug auf ein ethisches Gut genommen, das allen Personen mit par293 Wir würden auf die in Kapitel 2, Abschnitt II. angesprochenen Probleme zurückfallen, die auftreten, wenn eine moralische Tradition den alleinigen Bezugspunkt darstellt.
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tikularen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen gemeinsam ist und in verschiedenen lokalen, sozialen Praktiken gleichermaßen gilt. Zugleich, so will ich hier nochmal erinnern, wird das ethisch Gute zunächst aber nur negativ, im Bewusstsein ethischen Leides, bewusst. Zunächst kann dann nichts anderes als die Person, als verletzliche und fehlbare, den Bezugspunkt für den argumentativen Austausch darstellen. Die Herausforderungen einer Situation, in der eine Person sich auf andere verletzliche und fehlbare Personen bezieht, besteht also darin, ausgehend von der Pluralität von verschieden partikularen Perspektiven, im argumentativen Austausch überhaupt erst zu einem Verständnis eines gemeinsamen Gutes zu kommen. Ein Verständnis einer dritten Art der Relation von Person und Situation scheint in ein Dilemma zu führen: Entweder wird eine intervenierende Äußerung durch die jeweiligen normativen Ansprüche und Versprechungen einzelner Personen begründet, welche aber nicht das ethisch Gute realisieren, oder eine intervenierende Äußerung orientiert sich am Maßstab des ethisch Guten, kann dann aber nicht auf die jeweiligen normativen Ansprüche oder Versprechungen einer Person Bezug nehmen. Dieses Dilemma besteht aber nur, wenn der Gehalt der normativen Ansprüche und Versprechungen als gegeben vorausgesetzt werden muss. Hier soll vielmehr gezeigt werden, dass dieser nicht vorausgesetzt werden muss, sondern die Art, in Relation zu einer Situation zu stehen, und die Form der Artikulierung und Geltendmachung normativer Ansprüche und Versprechungen zusammenhängen. In den ersten beiden Arten der Relation hängen beide zusammen, insofern die Relation zur Situation durch einen gegebenen normativen Gehalt geprägt ist; dem individueller Wünsche, Bedürfnisse und Interessen oder dem von lokalen, sozialen Praktiken. Mit Bezug auf das ethisch Gute ist das Verhältnis von Relation einer Person zur Situation und normativem Gehalt anders zu verstehen. Der normative Gehalt, der eine Vorstellung des ethisch Guten darstellt, wird erst in Relation zur Situation begriffen. Das heißt, die Realisierung des Gehaltes und dessen Begreifen fallen zusammen, während in den im vorherigen Abschnitt diskutierten Alternativen der Gehalt gegeben war. Sie fallen zusammen, da erst mit dem Bezug auf Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen das ethisch Gute argumentierend thematisiert wird. Die Form der Begründung intervenierender Äußerungen ist dann wie folgt darzustellen: (6) Tue das nicht, ich leide daran. Die Negativität des Sittlichen
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Hier besteht die Relation einer Person zu einer Situation in ihrer Relation zu anderen Personen. Diese Relation stellt jedoch nicht einfach nur eine Relation zwischen zwei verschiedenen Wünschen, Bedürfnissen oder Interessen dar, wie in (4), und ist auch nicht durch den beide gleichmachenden Standard einer lokalen sozialen Praxis vermittelt, wie in (5). Vielmehr stehen sie in diesem Fall als verschiedene in einer Allgemeinheit zusammen. Das macht die Relation zwischen Personen zu einer spezifisch ethischen Relation. Dieser Relation ist das ethisch Gute intern, insofern darin normative Ansprüche und Versprechungen erst durch eine Person artikuliert und geltend gemacht werden unter Berücksichtigung der Herausforderungen der Umstände einer Situation, in der sie ein Bewusstsein für die Gefahr der Verletzung und Verfehlung von sich und anderen hat. Indem die Position verletzlicher und fehlbarer Personen in die Artikulation von normativen Ansprüchen und Versprechungen eingeschrieben wird, wird sie auf die Ebene des ethisch Guten und einer daraus motivierten Übernahme von Verantwortung gehoben. Der Bezug von (6) auf das ethische Gute stellt sich anhand folgender möglicher Reaktion darauf dar: (6’) Ich sehe, aber wo liegt das Problem? Diese Rückfrage drückt die Aufmerksamkeit für ein Problem, einen Konflikt oder einen Widerspruch aus, ohne dass dieses schon verstanden ist. Es besteht aber schon der Raum, in dem deren argumentative Darstellung möglich wird. Diejenige, die (6) geäußert hat, antwortet auf (6’) wiederum wie folgt, wenn sie ein Bewusstsein von Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen in der Situation herausbildet: (6’’) Was du tust, gibt mir zwar keine Chance zu tun, was mir wichtig ist, aber ich will Dir kein Leid zufügen. Diejenige, die (6) äußert und diejenige, die in (6’) darauf antwortet, stehen in einem Verhältnis der Anerkennung, wenn sie die Verletzlichkeit des anderen und ihre eigene Fehlbarkeit beachten. Der eine beachtet, was sein Handeln mit dem anderen macht. Der andere beachtet, dass er nicht einfach seine Ansprüche auf seine Chancen dagegen setzen kann. Hier besteht kein »Kampf um Anerkennung« verschiedener Standpunkte, wodurch jeder seinen Teil abbekommen soll. Sondern die Anerkennung besteht dabei, in der Art des Vollzuges ar260
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gumentativen Austausches, in dem sie sich als verletzliche und fehlbare Personen adressieren. Dadurch verlieren die jeweils eigenen Interessen an Bedeutung. Wo diese Art der Anerkennung besteht, führt ein argumentativer Austausch, indem Bezug auf Gefahren der Verfehlungen und Verletzungen genommen wird, hingegen zur Äußerung der folgenden Einsicht: (6’’’) Unsere Weise zu handeln muss sich ändern, damit keinem Leid zugefügt wird und wir beide unsere Chancen wahrnehmen können. Das »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« verweist auf eine noch zu bestimmende Auffassung dessen, was gut zu tun ist, wodurch weder dem einen noch dem anderen Recht gegeben wird. Wir könnten mit anderen Worten sagen, die vormaligen Opfer von Verletzungen werden gegenüber den Tätern nicht einfach ins Recht gesetzt. Beide sehen vielmehr ein, dass eine Vorstellung vom Guten herauszubilden ist, unter der keiner der beiden mehr zum Opfer oder Täter werden kann. Bestimmte Gefahren von Verletzungen oder Verfehlungen werden zur Vergangenheit, derer etwa gemeinsam gedacht werden könnte. Könnte ihrer nur einzeln gedacht werden, etwa einmal als Sieg und einmal als Niederlage, wäre ethisches Leid nicht überwunden worden. Wir sehen hier, dass die argumentative, begründende Darlegung intervenierender Äußerungen erst dann möglich ist, wenn verschiedene Personen sich darüber verständigen können, dass sich ihre Weise zu handeln ändern muss und sich somit dafür engagieren, eine andere Handlungsweise zu begreifen und zu realisieren. Der Gedanke »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« kann in den oben in § 3 genannten Beispielen (4) und (5) so nicht auftreten, da dort schon, als Partikularinteresse oder Standard einer bestehenden Praxis, vorgegeben ist, was getan werden sollte. Es gilt also zunächst zu verstehen, wie Personen aufeinander bezogen sein können, sodass sie zu der in (6’’’) artikulierten Einsicht kommen können. Dann können sie zu einer neuen Auffassung normativer Ansprüche und Versprechungen kommen, die eine konkrete Vorstellung des ethisch guten Lebens liefert, die ethisches Leid überwindet, indem das verschiedenen Personen gemeinsame und in der Ausübung verschiedener Praktiken gleichermaßen geltende Gut realisiert wird. Anhand der Äußerungen (6)–(6’’’) wird die Bedingung des Prozesses der argumentativen Begründung einer intervenierenden Die Negativität des Sittlichen
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Äußerung dargestellt. Die verschiedenen Personen, die an diesem Begründungsprozess beteiligt sind, stehen in der formalen Allgemeinheit des ethisch Guten zusammen, ohne diese schon materiell bestimmt zu haben. Aufgrund dieser Darstellung der Möglichkeit einer Negation ethischen Leides verschiebt sich das Verständnis des Problems, ein ethisches Bewusstsein ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides zu begreifen, erneut. In Abschnitt I. dieses Kapitels wurde das Verständnis dieses Problems von einem Allgemeinbegriff von Menschheit und einem allgemeinen ethischen Motiv auf die einzelne Person unter praktischen Umständen einer konkreten Situation verschoben. In diesem, dem II. Abschnitt, wird es auf die Frage nach der spezifisch ethischen Form der Ausübung der Fähigkeit, einen normativen Anspruch oder eine Versprechen zu erfüllen und geltend zu machen, verschoben, damit wird die Rechtmäßigkeit und ethische Begründbarkeit einer intervenierenden Äußerung nicht schon durch einen konkreten Gehalt gegeben. Vielmehr stehen verschiedene Personen in einer Einheit, deren Gehalt sie noch nicht begriffen haben. Sie sind sich diesem lediglich dadurch bewusst, das bestimmte Weisen zu handeln und an Praktiken teilzunehmen zu negieren sind, weil daraus Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen hervorgehen. Im Bewusstsein ethischen Leides kann man sich noch zynisch oder fatalistisch verhalten und das Gute als in diesem Leben unerreichbar betrachten. Durch intervenierende Äußerungen wird jedoch bereits eine Konkretisierung des Guten vorgenommen, da in die Ausübung von Praktiken eingegriffen wird und Gründe fürs Weitermachen, fürs Stoppen und somit für Veränderungen verlangt werden. Damit ist noch kein Verständnis davon gegeben, was in Übereinstimmung mit dem ethisch Guten zu tun sei. Es besteht aber die Allgemeinheit innerhalb derer Personen in Relation zueinander stehen, in der sie argumentativ interagieren. Dieser Relation ist die Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit des ethisch Guten als Form des praktischen Überlegens intern, aber noch nicht komplett erfasst oder realisiert. Dieser Zusammenhang von Personen im allgemein, unbedingt verbindlich Guten, ohne das es schon vorgestellt oder realisiert ist, stellt jedoch die Form praktischer Überlegungen dar, die ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides für argumentativen Austausch konstitutiv ist. Im folgenden Abschnitt wird die Form eines solchen Zusammenhanges von Personen, der im Bewusstsein ethischen Leides fußt, dargestellt. Erst im folgenden Kapitel werden wir dann sehen, was es heißt darin Überlegungen und argumen262
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tativen Austausch zu Ende zu bringen und damit ein Verständnis des ethisch Guten zu erwerben, durch das ethisches Leid überwunden wird.
III. Solidarität als Form ethischer Überlegungen In Abschnitt I. wurde gezeigt, dass ethische Überlegungen, somit was ethisches Leben ausmacht, ausgehend von intervenierenden Äußerungen zu verstehen sind, die durch praktische Argumente begründet werden. In Abschnitt II. wurde gezeigt, wie die Art argumentativer Interaktion, die vom Bewusstsein ethischen Leides ausgeht, möglich ist. Dieser Abschnitt zeigt, dass diese Art argumentativer Interaktion durch ein solidarische Verhältnis von Personen möglich ist. Für Solidarität ist spezifisch, dass darin Personen in einem Zusammenhang im ethisch Guten stehen, ohne dass dieses schon inhaltlich bestimmt ist (§ 1). Personen interagieren solidarisch, indem sie sich als verletzliche und fehlbare Wesen adressieren und für die Überwindung ethischen Leides engagieren (§ 2). Dieser Begriff von Solidarität ist zu unterscheiden von formalen Bedingungen guter Institutionen, wie sie die Philosophie des politischen Liberalismus formuliert (§ 3). Auch notwendige Präsuppositionen des Diskurses, wie sie Jürgen Habermas in seiner Diskursethik formuliert, können solidarische Interaktion nicht fassen (§ 4). Stattdessen besteht solidarische Interaktion in einer konkreten Relation partikularer Personen, die in einer konkreten Situation ethisches Leid thematisieren und darauf abzielen, ihre Vorstellungen vom Guten zu reformulieren sowie ihre Weisen zu handeln zu reformieren (§ 5).
1.
Der Zusammenhang von Personen
Im Vollzuge ethischer Überlegungen gestalten Personen ihr Leben zur Vermeidung von ethischen Verletzungen und Verfehlungen durch Realisierung des ethisch Guten. Intervenierende Äußerungen stellen den Anfangspunkt dieser gestaltenden Tätigkeit von Personen dar, weil sie zunächst die bisherige Weise zu handeln stoppen – sie stellen deshalb eine praktische Negation dar. Die Konkretisierung des ethisch Guten in intervenierenden Äußerungen besteht also zunächst nur darin, Vorstellungen des Guten und damit verbundene Die Negativität des Sittlichen
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Weisen zu handeln, praktisch zu negieren. Deren Ausübung wird gestoppt und somit die Notwendigkeit einer Reformulierung der Vorstellung vom Guten und einer Reformierung der Weise zu handeln eingesehen. Dass es sich um eine Reformulierung und Reformierung handelt, die dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit genügen, zeigt sich darin, dass diese aufgrund von Argumenten vollzogen werden, die alle Personen überzeugen können. Das Resultat, auf das beim Reformulieren und Reformieren abgezielt wird, besteht in einer bestimmten neuen Weise, normative Ansprüche und Versprechungen einzulösen und geltend zu machen. Ein Resultat der Reformulierung von Vorstellungen des Guten und Reformierung von Weisen zu handeln kann also dort in den Blick kommen, wo durch den Austausch von Argumenten eine Weise zu handeln gestoppt werden kann. Die Vorstellung eines konkreten Resultats von Reformulierung und Reformierung kann nun nicht herangezogen werden, um die Rechtmäßigkeit und Begründung der Argumente, durch die sie erreicht werden, zu bestimmen. Um diese Funktion einer praktischen Negation zu erfüllen, dürfen Äußerungen wie »Stopp!« oder »Tue das nicht, schau was du mir damit antust.«, aber auch nicht bloß als zufällige Ketten von Wörtern oder Laute betrachtet werden, sondern müssen notwendig praktisch wirksam sein, um die Hörer dieser Äußerungen verbindlich davon zu überzeugen, die Ausübung von Praktiken zu stoppen, von denen die Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen ausgehen. Dafür, dass intervenierende Äußerungen als rechtmäßig und ethisch begründbar aufgefasst werden können, ist also die Bedingung dafür anzugeben, dass deren Begründung artikuliert und geltend gemacht werden kann. Diese Bedingung zu fassen, stellt uns vor folgendes Problem. Es ist ein Zusammenhang verschiedener partikularer Personen und deren Praktiken zu fassen, ohne sie in einer schon verbindlichen Vorstellung vom Guten oder einer schon als gut begründeten Weise zu handeln zu vereinen. Personen stehen in einem Zusammenhang der Einheit ethischen Lebens, der durch Nicht-Sichtbares bestimmt wird. Ein solcher Zusammenhang stellt keinen konkreten Inhalt dar, sondern die Voraussetzung dafür, die bestehenden praktischen Inhalte, also die normativen Ansprüche und Versprechungen, in Vorstellungen vom Guten und von Weisen zu handeln, ethisch zu befragen und argumentativ darzulegen. Dieser Zusammenhang ist als die Form der Interaktion des Überlegens, Befragens und Argumentierens zu fassen,
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die sich das ethisch Gute zum Maßstab nimmt, das dem Anspruch auf allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit der Vernunft entspricht. Dieses Problem kann mit Bezug auf Diskussionen der Multikulturalität illustriert werden. Diskussionen zur Multikulturalität kreisen um die Frage, wie Personen mit verschiedenen Wertvorstellungen, die aus deren unterschiedlichen kulturellen Identitäten hervorgehen, über ethisch relevante Angelegenheiten kommunizieren können. 294 Die Diskussion der Multikulturalität ist hier besonders relevant, da es auch gerade darum geht, zu verstehen, wie sich Personen adressieren können, die nicht schon Teil einer Gruppe mit geteilten Wertvorstellungen und Handlungsweisen sind. Wenn zwei Personen X und Y aus verschiedenen Kulturen kommen und somit normative Ansprüche und Versprechungen verschieden artikulieren, sie aber in einen ethischen Konflikt geraten, der beide betrifft, wirft sich die Frage auf, wie sie darüber kommunizieren können. Diese Frage stellt sich schon an dem Punkt, an dem es einen Konflikt zu identifizieren gilt. Wenn X die Erziehungsmethoden von Y für falsch hält und in diese interveniert, indem sie sagt »Tue das nicht, ich sehe, wie deine Kinder leiden.«, muss Y einsehen können, dass seine Erziehungsmethoden einen Konflikt erzeugen, dem er sich stellen sollte. Hier sehen wir also das Problem, einen Zusammenhang zu denken, der nicht inhaltlich vorbestimmt ist. Denn nach den inhaltlichen Bestimmungen der Werte, die für Y gelten, wäre gegen seine Erziehungsmethoden nichts einzuwenden. Somit stellt sich die Frage, in was für einem allgemeinen Zusammenhang X und Y stehen müssen, damit X Y durch Argumente dazu bringen kann, die Anwendung seiner Erziehungsmethoden zu stoppen. Die Fähigkeit, normative Ansprüche und Versprechungen mit ethischem Anspruch gegenüber Personen zu artikulieren und geltend zu machen, deren Perspektiven durch andere materielle, historische und biographische Umstände bestimmt sind, ist also nur in einer allgemeinen Form der argumentativen Interaktion möglich.
294 Diese Formulierung des Problems des Multikulturalismus findet sich in Amy Gutmans Einleitung in Amy Gutman (Hrsg.): Charles Taylor / K. Anthony Appiah / Jürgen Habermas / Steven C. Rockefeller/ Michael Walzer / Susan Wolf. Multiculturalism. Princeton 1994, S. 14.
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2.
Solidarität als Vermittlung
Die hier zu bestimmende Art des Zusammenhanges verschiedener Personen stellt eine Vermittlung von verschiedenen Personen dar, die in einer bestimmten Situation bestimmten Gefahren der Verfehlung und Verletzung ausgesetzt sind. Diese Vermittlung besteht nun nicht in einer bestimmten Auffassung von guten Institutionen mit ihrer intrinsischen Norm und einem dazugehörigen Bildungsprogramm. 295 Dann wären die zu erreichende Vorstellung vom Guten und die zu realisierende Handlungsweise schon in den Bedingungen der guten Teilnahme an diesen Institutionen festgelegt. Die hier zu bestimmende Art des Zusammenhanges verschiedener Personen macht keine solcher Voraussetzungen, wie die einer bestimmten Auffassung von guten Institutionen, da sie vom Bewusstsein ethischen Leides und somit vom negativen Bewusstsein vom ethisch Guten ausgeht. Im deutschen Sprachgebrauch findet sich für diese Art des Zusammenhangs, den es hier zu erläutern gilt, das Wort Solidarität. Der Begriff »Solidarität« findet sich zum Beispiel in der Solidargemeinschaft der Beitragszahler der gesetzlichen Krankenkassen. Dort besteht eine Solidargemeinschaft, da sich die Höhe des Beitrages an der Höhe des Einkommens bemisst. In einer Solidargemeinschaft besteht keine Voreingenommenheit vor Personen aufgrund der Höhe ihres Mitgliedsbeitrags, ihrer körperliche Disponiertheit zu bestimmten Krankheiten oder ihres Lebenswandels. Unabhängig davon stehen jeder Beitragszahlerin die gleichen Leistungen zu. Die Beitragszahler einer Krankenkasse stehen hier in einem Verbund, aus dem sie nicht aufgrund ihres sozialen Status oder von außen angelegter Maßstäbe an ein gesundes Leben ausgeschlossen werden können. Doch hier geht es nicht um einen Verbund von Beitragszahlerinnen, sondern um die argumentative Interaktion von Personen mit verschieden soziale geprägten Sichtweisen und Artikulationen von normativen Ansprüchen und Versprechungen. Auf einer ethischen Ebene ist Solidarität als Zusammenhang von Personen im ethisch Guten zu fassen, in dem, ohne Voreingenommenheit über den Inhalt der jeweiligen normativen Ansprüche und Versprechungen von Personen, die Gefahren 295 So müsste man vorgehen, wenn man die Frage »Was ist eine gute Institution?« wie Rahel Jaeggi stellt und beantwortet. Vgl. Rahel Jaeggi: Was ist eine (gute) Institution? In: Rainer Forst / Martin Hartmann / Rahel Jaeggi / Martin Saar (Hrsgg.): Sozialphilosophie und Kritik. Frankfurt am Main 2009.
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von Verletzungen und Verfehlungen, denen sie ausgesetzt sind, thematisiert werden. Eine philosophische Bestimmung des Begriffs der Solidarität besteht in zwei Punkten: Erstens, Solidarität steht im internen Zusammenhang mit Inhalten, die für alle einbezogenen Personen verbindlich sind. In der Ethik besteht dieser Inhalt im ethischen Leben, worin allgemein, unbedingt verbindlich Gutes zum Ausdruck gebracht wird. David Wiggins zeigt, dass Solidarität eine Weise, das ethisch Gute zu thematisieren, darstellt, die weder von einem formalistisch, das heißt bei ihm konsequentialistisch, zu bestimmenden Begriff dessen, was für alle Menschen gut ist, ausgeht noch auf lokal, sozial geltende Normen beschränkt ist. 296 Vielmehr wird, was gut ist, situativ inhaltlich bestimmt, indem Personen in konkreten Situationen solidarisch interagieren. Der Gehalt des ethisch Guten wird somit situativ im solidarischen Verhalten von Personen zueinander gefasst. Zweitens ist Solidarität nach Wiggins als »way of being« 297 zu verstehen, in dem andere Personen als Menschen adressiert werden. Solidarität stellt somit nicht bloß eine Weise des Tätigseins einer bestimmten Gruppe von Personen dar und ist auch nicht als ein in Imperativen ausgesprochenes Prinzip für konkrete Handelungsvollzüge zu verstehen, wie jemandem durch Spenden zu helfen, jemanden durch Rat zu unterstützen oder Güter mit anderen zu teilen. Solidarität stellt vielmehr die Form der kommunikativen Interaktion dar, in der ethisch relevante Fragen und Aspekte in Situationen überhaupt erst Gegenstand von Überlegungen, Befragungen, argumentativem Austausch werden. Das heißt, Solidarität ist die Weise, als Einzelner in einer bestimmten Situation Bezug auf das zu nehmen, was ethisches Leben ausmacht. Thomas Rentsch versteht deshalb »kommunikative Solidarität« als die transzendentale Bedingung des Verhaltens in einer »menschlichen Welt« 298. Diese Form der solidarischen Interaktion ist aber nicht als vorhergehendes Kriterium, sondern als wesentliche Form des Bezuges auf andere als Personen, nicht bloß Teilnehmern oder Subjekten von Wünschen, zu beziehen. 299 296 David Wiggins: Solidarity and the Root of the Ethical. The Lindley Lecture. The University of Kansas 2008. 297 Ibidem, S. 18. 298 Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt am Main 1999, S. 233 und S. 246 ff. 299 Vgl. hierzu auch Friedrich Kambartel: Universalität als Lebensform: Zu den (un-
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Intervenierende Äußerungen, deren Rechtmäßigkeit nachgewiesen werden kann und die ethisch begründbar sind, sind also als solche zu verstehen, die in einer solidarischen Interaktion von Personen getätigt werden. Da Solidarität hier als Zusammenhang von Personen im ethisch Guten zu verstehen ist, ist sie also als Relation verschiedener Personen aufeinander zu verstehen, der der Bezug auf ethisch Gutes intern ist. Die Form dieser Relation von Personen aufeinander in Solidarität kann somit nicht alleine von der Seite des Partikularen oder des Allgemeinen erfasst werden. Im Vollzug solidarischer Interaktion stehen hingegen partikulare Akte, wie intervenierende Äußerungen, in interner Verbindung mit der Allgemeinheit und unbedingten Verbindlichkeit des ethisch Guten. Sie stehen in dieser internen Verbindung, da die Allgemeinheit der Form solidarischer Interaktion untrennbar mit der Thematisierung ethischer Inhalte verbunden ist. Folgendes Verständnis von Form und Inhalt liegt zugrunde: Inhalt: In argumentativer Interaktion wird das Verhalten von Personen durch Gründe bestimmt, die alle überzeugen können. Sie stehen also in einem Anerkennungsverhältnis, das nicht erst erreicht werden muss, sondern schon besteht, weil in dieser Interaktion ein Inhalt konkret wird, der für alle Bedeutung hat. Form:
Ein Zusammenhang von Personen und Praktiken in der argumentativen Interaktion besteht, weil Personen darin in einem gemeinsamen Maßstab geeint sind. Es ist ihr gemeinsames Ziel, diesem Maßstab zu entsprechen.
Diese beiden Darstellungen von Form und Inhalt von Solidarität sind noch unzureichend, da sie deren Verbindung zum Bewusstsein ethischen Leides nicht miteinbeziehen. Die beiden eben gegebenen Charakteristika der Ebenen von Form und Inhalt könnten für alle möglichen Aussagen gelten, durch die ein Adressant einen Adressaten auf etwas hinweist, wie etwa: »Ich merke es regnet, du solltest den Schirm aufspannen, damit du nicht nass wirst und keinen Schnupfen lösbaren) Schwierigkeiten, das gute und vernünftige Leben über vernünftige Kriterien zu bestimmen. In: Willi Oelmüller (Hrsg.): Normenbegründung und Normendurchsetzung. Paderborn 1978.
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bekommst.« Nun bedarf es für diese Art der Äußerung keines Zusammenhanges im ethisch Guten. Das in dieser Aussage bestehende Verhältnis von Adressant und Adressat stellt die Einheit im Wissen über beobachtbare, empirisch zugängliche Tatsachen dar. Dazu bedarf es eigentlich auch keiner Solidarität, sondern bloß des für alle ungehinderten Zugangs zu diesen Tatsachen. Solidarität stellt hingegen die Form solcher Aussagen dar, die nicht durch empirisch zugängliche Tatsachen begründet werden können, sondern von Negativität im Bewusstsein ethischen Leides ausgehen. Ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides kann erst ein solidarisches Verhältnis von Adressant und Adressat im materiellen Kontext ethischer Probleme, Konflikte und Widersprüche begriffen werden. Inhalt – ethisch: Adressant und Adressat intervenierender Äußerungen erkennen sich als Personen an, die der Gefahr von Verletzungen und Verfehlungen ausgesetzt sind. Diese Gefahr motiviert intervenierende Äußerungen. Aus dieser Motivation sind Reformulierungen von Vorstellungen des Guten und Reformierungen von Weisen zu handeln möglich. Form – ethisch: Die Motive für intervenierende Äußerungen fallen unter die Einheit des Ziels, das darin besteht zu fassen, was anders sein sollte und könnte, damit die Gefahr der Verletzung und Verfehlung abgewendet wird. In der Einheit solidarischer Interaktion werden die Motive für das Engagement zur Herausbildung eines Verständnisses dessen, was getan werden soll, herausgebildet. Diese Auffassung von solidarischer Interaktion ermöglicht erst, den Zusammenhang zu fassen, innerhalb dessen Personen intervenierende Äußerungen machen können, die, gemäß der Beispiele (6) – (6’’’) aus Abschnitt II.4, durch Argumente mit ethischem Geltungsanspruch überzeugen und zu der Einsicht »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« führen.
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3.
Politische und rechtliche Organisation
Solidarität stellt den allgemeinen Zusammenhang von Personen dar, die sich im Bewusstsein ethischen Leides zu anderen Personen so verhalten, dass ein Engagement für einen Wandel zu anderen Handlungsweisen möglich wird. An diesem Punkt ist eine Bestimmung des Verhältnisses des Begriffs der Solidarität zum Begriff einer politischen oder rechtlichen Auffassung von Gemeinschaften von Personen nötig. Dabei wird nicht ausgeschlossen, dass politische oder rechtliche Fragen einen Aspekt solidarischer Interaktion darstellen können. Es handelt sich dann aber eben nur um einen Aspekt von solidarischer Interaktion. Eine generelle Positionierung ist hingegen von solchen Auffassungen nötig, nach denen das Verhältnis von verschieden Personen durch eine rechtliche und politische Organisationsstruktur geregelt wird, die sich zu den verschiedenen moralischen Perspektiven und kulturellen Identitäten von Personen extern verhält. Dass eine politische, rechtliche Organisationsstruktur sich zu den verschiedenen, partikularen moralischen Perspektiven und kulturellen Identitäten extern verhält, wird als Voraussetzung dafür angenommen, dass ein allgemeiner Zusammenhang von Personen überhaupt gedacht werden kann. Ob diese Denkweise mit einer Auffassung des Begriffs der Solidarität vereinbar ist, hängt davon ab, ob durch sie ein aus dem Bewusstsein ethischen Leides motiviertes Engagement zur Erfassung des Guten begriffen werden kann. Nehmen wir wieder das Beispiel des Multikulturalismus aus § 1, um diese Denkweise darzustellen. X Kritik an den Erziehungsmethoden von Y müsste demnach in der Instanz der politischen und rechtlichen Organisationsstruktur begründet werden, die deren Zusammenleben regelt. Kritik von X an Y ist dann mit Bezug auf diese externe Organisationsstruktur möglich. Die Auffassung eines gemeinsamen Gutes kann einmal mit einer externen, politisch, rechtlichen Organisationsstruktur verbunden werden, indem diese als eine konkrete Wertegemeinschaft aufgefasst wird. Politische Verfahren und das Recht, im Sinne von Gesetzgebung, haben dann die Funktion, ein homogenes Wertverständnis durchzusetzen. Solche Arten von politischer und gesetzlicher Ordnung werden auch als totalitär bezeichnet. Bei ihnen gibt es keinen Unterschied zwischen einer ethischen Ordnung und einer politisch rechtlichen Ordnung. Dabei handelt es sich um eine moralische Perspektive und eine Auffassung von kultureller Identität, die auf die ganze Gesetzgebung ausgedehnt 270
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wird. Es besteht, aus dieser Perspektive, also keine Allgemeinheit, die verschiedene Personen verbindet, sondern bloß noch Individuen, die in dieser Allgemeinheit gleich sind. X könnte Y demnach nur bei den institutionellen Autoritäten anzeigen. X kann Y nicht aus der Situation heraus überzeugen, sondern höchstens auf das hinweisen, was an ihren Erziehungsmethoden dem herrschenden Werteverständnis der durch politische, rechtliche Organisationsstrukturen erzeugten Gemeinschaft widerspricht. Diese grobe Skizze totalitärer politischer Herrschaft stellt den Gegenpol zur solidarischen Interaktion dar, wo die Verschiedenheit von Personen nicht unterdrückt wird, sondern den Ausgangspunkt darstellt. Die Philosophie des politischen Liberalismus nimmt nun eben die Verschiedenheit von Personen als Ausgangspunkt an, wenn sie eine politische und rechtliche Ordnung, in der Personen mit verschiedenen moralischen Perspektiven und kulturellen Identitäten in einem Zusammenhang stehen, diskutiert. Die Auffassung einer politischen und rechtlichen Ordnung ist hier jeglicher moralischer Perspektive und kultureller Identität extern, da sie darüber keine Aussagen macht. Die Anforderung, dass sie extern ist, kann zunächst rein negativ verstanden werden, insofern sie nicht in die individuelle Perspektive eines Individuums eingreifen kann. Diese negative Variante einer liberalen Auffassung von Politik und Recht wurde wohl am radikalsten von Isaiah Berlin durch seine Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit formuliert. 300 Positive Freiheit verwirklicht sich in der Realisierung allgemeiner Normen oder einer Vorstellung vom Wesen des Guten für den Menschen. Sie tendiert nach Berlin generell dazu, die Verschiedenheit von Individuen der allgemeinen Vorstellung vom Wesen des Guten für den Menschen unterzuordnen und diese somit durch totalitäre politische Herrschaft zu unterdrücken. 301 Negative Freiheit wird hingegen nur im Kontrast zu möglichen Einschränkungen durch Andere, Gesetze, Institutionen oder Gewalt von Autoritäten begriffen. Streng genommen stellt, auf der Grundlage des Begriffes negativer Freiheit, jede politische oder rechtliche Organisationsstruktur eine Einschränkung von Individuen dar 300 Vgl. Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty. In: Ders.: Four Essays on Freedom. Oxford 1969/2002. In John Stuart Mills On Liberty findet sich eine Variante dieser Auffassung in der Formulierung des so genannten Prinzips der »non-interferrence«. Vgl. John S. Mill: On Liberty and other Wiritings. 7. Aufl. Cambridge 2010, S. 12. 301 Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty. In: Four Essays on Freedom. Oxford 1969/ 2002, S. 133.
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und ist somit nicht begründbar. 302 Im Begriff der Solidarität wird nun ein Bewusstsein von Einschränkungen und damit einhergehenden Gefahren der Verletzung und Verfehlung in einen positiven Bezug auf andere Personen dargestellt. Das heißt, es soll der allgemeine Zusammenhang von verschiedenen Personen und Praktiken begriffen werden, der nicht als Einschränkung oder Unterdrückung gefasst wird, sondern eine Interaktionsweise darstellt, die es ermöglicht zu erfassen, was Gut zu tun ist und dadurch Verletzungen und Verfehlungen vermeidet. Im Begriff der Solidarität soll also mehr erfasst werden, als ein Begriff negativer Freiheit zulässt, während aber Übereinstimmung mit der Abgrenzung von Auffassungen positiver Freiheit besteht, sofern sie zu totalitärer Herrschaft führt, weil nicht ein Verständnis davon vorausgesetzt wird, was hier und jetzt getan werden soll. Doch auch die Philosophie des politischen Liberalismus erkennt die Notwendigkeit der prinzipiellen Begründung von Institutionen, die das Zusammenleben verschiedener Personen organisieren. Es gilt also auch zu überprüfen, inwiefern deren Begriff von guten und gerechten Institutionen vom Begriff der Solidarität unterschieden ist. Um der Verschiedenheit von Personen gerecht zu werden, muss eine Philosophie des politischen Liberalismus eine Form von Recht und Institutionen denken können, in denen verschiedene Personen zusammen leben können, dabei aber zugleich nach ihrer je eigenen Wertauffassung urteilen und ihre kulturelle Identität realisieren können. Die politischen und rechtlichen Institutionen sind so zu fassen, dass sie nicht beanspruchen, die Vorstellung des guten Lebens, die eine Person aus der Perspektive ihrer biographischen Prägung und kulturellen Identität herausbildet, zu bestimmen. Sie werden diesen gegenüber prinzipiell extern aufgefasst. John Rawls, neben Isaiah Berlin der andere wichtige Denker des politischen Liberalismus des 20ten Jahrhunderts, bemüht sich um eine prinzipielle Begründung von Institutionen. Eine gerechte Institution ist nach Rawls eine solche, der eine Person unter einem »veil of ignorance« und von einer »original position« 303 zustimmen kann, wo sie frei ist von ihrer jeweiligen kulturellen Prägung, ihrem partikularen Interesse oder ihrer Vorstellung vom guten Leben. Ihre Zustimmung gibt eine Person
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Ibidem, S. 158–159. John Rawls: A Theory of Justice. Revised Edition. Cambridge Mass. 1999, S. 11.
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einer Institution dann allein, weil sie die Realisierung ihres »rational long-term plan of life« 304 ermöglicht. Aber auch im Rahmen von formal begründeten Institutionen bedarf es noch des Austausches über ethische Geltungsansprüche, insofern nur diejenigen Lebenspläne, moralischen Perspektiven und kulturellen Identitäten realisiert werden können, die die Institutionen, in denen verschiedene Personen zusammenleben, nicht zerstören oder für eigene Zwecke gebrauchen. Dabei mag es politische und rechtliche Prinzipien geben, um den Fortbestand von Institutionen zu sichern, wie zum Beispiel die Einrichtung eines Rechtssystems und einer Polizei. Im Begriff der Solidarität soll hier jedoch erfasst werden, wie in die moralischen Perspektiven und kulturellen Identitäten von Personen argumentativ interveniert werden kann und wie Überlegungen darüber möglich sind, was an diesen gut und schlecht ist, was folglich von diesen beibehalten werden kann und was aufzugeben ist. Unter der Bedingung der Externität politischer und rechtlicher Organisationsstrukturen kann die Form solidarischer Interaktion, in der ethisch relevante Fragen thematisiert werden können, also nicht vollständig erfasst werden. Für eine auf liberalen Prinzipien beruhende rechtliche und politische Ordnung mag diese Bedingung unabweislich sein. Die Interaktion von X und Y ist in diesem Rahmen jedoch allein insofern möglich, als X Y davon überzeugen kann, dass ihre Erziehungsmethoden ein Zusammenleben unmöglich machen und somit den Institutionen, die dieses sichern, widersprechen. Es bleibt bei einem negativen Hinweis. Der Prozess des Gründegebens endet bei der Ermöglichung der Realisierung der jeweiligen moralischen Perspektiven und kulturellen Identitäten. Er endet also an dem Punkt, an dem jeder durch die Institutionen eingeschränkt wird, denen er selbst zugestimmt hat. Somit bleibt aber ein blinder Fleck für die einzelne Person 305, die Leid innerhalb einer kulturellen Praxis erfahren kann oder Gründe äußern will, um Anerkennung für ihre moralische Perspektive und kulturelle Identität zu erlangen. 306 Dass Ibidem, S. 79. Reflexionen auf das Gesundheitswesen haben in letzter Zeit eine Diskussion um den Begriff der Solidarität im Verhältnis zur Verteilungsgerechtigkeit angeregt, wo ein ähnlicher Punkt gemacht wird. Vgl. z. B. Ruud ter Meulen: Solidarity and Justice in Health Care. A Critical Analysis of Their Relationship. In: Diametros 43 (2015), S. 1–20. 306 Dieser Punkt wird durch die kommunitaristische und feministische Kritik gegen304 305
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hierfür ein blinder Fleck bleibt, zeigt, dass ein Prozess des Gebens von Gründen in solidarischer Interaktion, die auf ein Verständnis eines für alle verbindlichen Gutes abzielt, nicht aufgenommen werden kann, sondern es werden allein die Bedingungen für ein institutionell gesichertes Leben, unter der Voraussetzung verschiedener gegebener Vorstellungen vom guten Leben, vereinbart. Dieser blinde Fleck wird erst durch einen Begriff solidarischer Interaktion ausgefüllt. Der Zusammenhang von Personen, der im Begriff der solidarischen Interaktion gefasst wird, kann diesen blinden Fleck ausfüllen, weil ihm der ethisch Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit in der Interaktion verschiedener verletzlicher Personen intern ist. Dabei findet gerade kein Rückfall in eine verallgemeinernde Vorstellung eines Wirs statt, die zu Ethnozentrismus, Konventionalismus oder gar Totalitarismus führt. 307 Denn erstens ist in der solidarischen Interaktion eine konkretes Verständnis vom Guten noch nicht gegeben, sondern es ist durch Engagement noch zu realisieren. Zweitens stellt solidarische Interaktion eine Relation zwischen konkreten Personen dar und nicht einen situationsübergreifenden Zusammenhang, der durch politische oder rechtliche Organisationsstrukturen vermittelt wird. 308
4.
Solidarität und Konsens
Bezüglich des Begriffs der Solidarität als Form argumentativer Interaktion ist eine Abgrenzung von der Diskursethik nötig, wie sie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel entwickelt wurde. Diese beiden Autoren betrachten einen Diskurs, der in kommunikativer Solidarität über Auffassungen des politischen Liberalismus als Einwand hervorgebracht. Vgl. z. B. Seyla Benhabib: Dignity in Adversity. Human Rights in Troubled Times. London 2001, Kapitel 4. und 5. Auch durch einen politischen Liberalismus, der von personaler Autonomie und biographischer Prägung einer Person ausgeht, kann dieser Einwand nicht abgewendet werden, wenn letztere prinzipiell auf einer anderen Ebene als politisch, rechtliche Strukturen gedacht werden. Vgl. John Christman: The Politics of Persons. Individual Autonomy and Socio-historic Selves. Cambridge Mass. 2011. 307 Richard Rorty weist auf diese Tendenz hin. Vgl. Richard Rorty: Irony, Contingency, and Solidarity. Cambridge 1989, S. 194–196. 308 Die Frage, ob es ein Abhängigkeitsverhältnis von solidarischer Interaktion und rechtlicher, politischer Organisationsstruktur gibt, wird hier offengelassen. Es geht zunächst allein darum, die Form der Interaktion zu begreifen, der das ethisch Gute intern ist.
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vollzogen wird, als einen Mittelweg zwischen dogmatistischen Auffassungen ethischer Begründungen, die bestimmte Interessen oder kulturelle Identitäten durchsetzen wollen, und individualistischen Ethiken, die keinen Raum für allgemeingültige ethische Begründungen lassen. 309 Für diesen Mittelweg wird durch die Formulierungen von Präsuppositionen und Regeln eines Diskurses argumentiert, in dem Personen mit verschiedenen Interessen oder kulturellen Identitäten praktische Probleme, Konflikte und Widersprüche im argumentativen Austausch thematisieren. Diese Präsuppositionen des Diskurses stellen in der Diskursethik eine Bedingung des argumentativen Austausches dar, insofern eine Person diese notwendig annimmt, wenn sie an einem solchen teilnimmt. Unter der Annahme solcher Präsuppositionen ist das Beispiel des Multikulturalismus wie folgt zu betrachten. Der argumentative Austausch von Person X und Y über Erziehungsmethoden ist möglich aufgrund von Präsuppositionen, die beide notwendig annehmen, sobald sie in einen argumentativen Austausch treten. Unter diesen Präsuppositionen stellt ein argumentativer Austausch ein Verfahren dar, das zu einem argumentativen Konsens darüber führt, welche Aspekte ihrer Erziehungsmethoden eine Person aufrechterhalten kann, ohne argumentative Einsprüche entgegengesetzt zu bekommen. An diesem Punkt zeigt sich eine interne Verbindung von argumentativer Interaktion zu allgemein, unbedingt verbindlichen, also für alle verbindliche Normen und Verpflichtungen im argumentativen Konsens. Aufgrund der internen Verbindung von argumentativer Interaktion mit einem Konsens sind die Präsuppositionen der Kommunikation nicht, wie die im vorherigen Abschnitt diskutierten Auffassungen einer rechtlich, politischen Ordnung, als extern zu der Pluralität von Auffassungen des guten Lebens zu verstehen. Mit Bezug auf einen Konsens muss nach Habermas auch jede Person hinterfragen, welche kulturell vermittelten Werte und Lebensweisen sie beibehalten und welche sie aufgeben muss, wenn sie mit anderen Personen in einem demokratischen Staat zusammen lebt. 310 Auch wenn 309 Vgl. Karl-Otto Apel: Die Konflikte unserer Zeit und das Erfordernis einer ethischpolitischen Grundorientierung. In: Ders.: Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt am Main 1988, S. 16. 310 Jürgen Habermas: Struggles for Recognition in the Democratic Constitutional State. In: Amy Gutman (Hrsg.): Charles Taylor / K. Anthony Appiah / Jürgen Habermas / Steven C. Rockefeller / Michael Walzer / Susan Wolf. Multiculturalism. Princeton 1994, S. 147–148 und S. 155.
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Praktische Negation
Habermas vom demokratischen Staat spricht, impliziert das also nicht, dass sein Ansatz mit der Art der Philosophie des politischen Liberalismus, die im vorherigen Abschnitt diskutiert wurde, zusammengefasst werden kann. Die konstitutionelle Ordnung des demokratischen Staates ist für ihn hingegen mit einem diskursiven Austausch von Argumenten verbunden, der zu einem argumentativen Konsens über Normen und Pflichten führt. Durch die Formulierung der Präsuppositionen des Diskurses wird also nach Habermas’ Ansatz gezeigt, wie eine gemeinsame Auffassung von Normen und Pflichten im argumentativen Konsens möglich ist. Allgemein verbindlich ist dieser Konsens nur, wenn er mit einer solidarischen Gemeinschaft einhergeht, durch die sichergestellt wird, dass die Stimmen aller verletzlichen Einzelnen in den argumentativen Konsens miteinfließen. In einem argumentativen Konsens sind die »Unantastbarkeit des Individuums« und Solidarität zum »Wohl der Gemeinschaft« verschränkt. 311 Dadurch wird gesichert, dass in einen argumentativen Konsens auch An- und Einsprüche des verletzlichen Einzelnen miteinfließen. Es wird also nicht bloß die Auffassung von X und Y unter rechtlichen Schutz gestellt, sondern im argumentativen Austausch wird eine Form des Zusammenlebens begründet und gestaltet, die ein Drittes darstellt, das aus einem argumentativen Konsens zwischen X und Y hervorgeht. Die Präsuppositionen des Diskurses, in dem zu einer solchen Übereinkunft gelangt werden kann, sollen hier nicht bezüglich aller Details diskutiert werden. Auch kann hier nicht dem komplexen Argumentationsgang der Diskursethik entsprochen werden. Ebenso wird hier nicht die innere Konsistenz der Diskursethik thematisiert. 312 Es soll lediglich deren hoher Begründungsanspruch auf allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit im argumentativen Austausch in Betracht gezogen werden, um dann zu untersuchen, ob dieser Anspruch in einem Begriff solidarischer Interaktion von verletzlichen und fehlbaren Personen eingelöst werden kann, ohne PräBeide Zitate in: Ders.: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In: Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main 1995, S. 18. 312 In seinem Buch Making Moral Sense weist Logi Gunnarsson nach, dass Habermas dabei scheitert, nachzuweisen, dass die Präsuppositionen der Kommunikation den Status notwendiger moralischer Prinzipien haben, die auch den Moralskeptiker überzeugen. Vgl. Logi Gunnarsson: Making Moral Sense. Beyond Habermas and Gauthier. Cambridge 2000, Kapitel 8 und 9. 311
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suppositionen des Diskurses für einen Konsens anzunehmen. Es sind die folgenden vier Punkte zu betrachten: (1) Allgemeine Prinzipien der Moral werden als Präsuppositionen der Kommunikation dargestellt, in der die moralischen An- und Einsprüche von Personen argumentativ dargelegt werden. 313 (2) Präsuppositionen der Kommunikation sind für jede Person, die in einen argumentativen Austausch eintritt, verbindlich, selbst die für die Skeptikerin. Durch die Präsuppositionen der Kommunikation wird bestimmt, welche Aussagen in einem ethischen Diskurs als begründet gelten können. 314 (3) Im ethischen Diskurs, dem die Präsuppositionen der Kommunikation unterliegen, versteht eine Person, welche An- und Einsprüche als begründet gelten. Es gelten Normen und Verpflichtungen als begründet, die mit begründeten An- und Einsprüchen vereinbar sind. Über die Normen und Pflichten, die im ethischen Diskurs als allgemein begründet gelten, besteht ein argumentativer Konsens. 315 (4) Im argumentativen Konsens, unter den Präsuppositionen der Kommunikation, bildet sich eine solidarische Gemeinschaft heraus. Diese sichert den Schutz des verletzlichen Einzelnen, indem alle Einzelfälle, in denen einzelne Personen Ein- und Ansprüche äußern, in den argumentativen Konsens einbezogen werden. Dadurch wird sichergestellt, dass die Normen und Pflichten, über die argumentativer Konsens besteht, dem Wohle aller dienen, das heißt alle mit einbeziehen. 316 313 Vgl. Jürgen Habermas: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983, S. 74–75. 314 Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main 1991, S. 132, und Ders.: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm: In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983, S. 99–100. 315 Vgl. Erläuterungen zur Diskursethik. In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main 1991, S. 135. Ob der argumentative Konsens auch die ultimative Gültigkeit oder nur Evidenz für Gültigkeit darstellt, sei hier dahingestellt. Das Problem bleibt dasselbe (Vgl. Logi Gunnarsson: Diskurs ohne Konsens. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. 42/2 (1994), S. 313–326.). 316 Ders.: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu? In:
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Diese vier Punkte sind mit einem Begriff von solidarischer Interaktion, die im Bewusstsein ethischen Leides motiviert ist, unvereinbar. Diese Unvereinbarkeit zeigt sich nicht erst in der jeweiligen inhaltlichen Formulierung der vier Punkte. Sie zeigt sich schon im Prinzip von deren Formulierung. Das Prinzip von deren Formulierung besteht in einer Bedingungsanalyse, innerhalb derer die vier Punkte sich als voneinander abhängig erweisen. Eine solidarische Gemeinschaft in (4) ist demnach nur für Personen möglich, die sich im argumentativen Konsens an Normen und Verpflichtungen binden (3), weil sie Präsuppositionen der Kommunikation unterstellen (2), die wiederum als allgemeine Prinzipien der Moral aufzufassen sind (1). Wir wollen hier hingegen solidarische Interaktion nicht aus einer solchen Bedingungsanalyse auf formale, universelle Prinzipien verstehen, sondern als Form der Interaktion von Personen, die sich als fehlbare und verletzliche Wesen adressieren. Dabei bestimmt nicht der Bezug auf einen argumentativen Konsens, der auf formalen, universellen Prinzipien beruht, die Interaktion von Personen. Vielmehr wird diese durch Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen, die unter den Umständen einer Situation bestehen, bestimmt. Es gilt hier folglich der Primat der einzelnen Person als verletzliche und fehlbare und nicht der von Präsupposition der Kommunikation, unter denen jene überhaupt erst mit anderen in Interaktion zum Austausch von Argumenten treten kann. Eine durch argumentativen Konsens hergestellte Geltung moralischer Normen und Pflichten ist mit diesem Ansatz also unvereinbar. Stattdessen wird die Form des Bewusstseins dargestellt, in dem eine Auffassung des ethisch Guten aus der internen Verbindung zum Bewusstseins ethischen Leides herausgebildet werden kann. Im Unterschied zum argumentativen Austausch unter Präsuppositionen der Kommunikation ist Solidarität also als Interaktionsform zu verstehen, in der Personen, aus dem Kontext einer Situation heraus, durch Argumente in Handlungsweisen, die ethisches Leid hervorrufen, intervenieren und sich für eine andere Weise zu handeln engagieren. Solidarität ist somit in Abgrenzung zur Diskursethik wiederum in vier Punkten darzustellen:
Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt am Main 1995, S. 18, und Jürgen Habermas: Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Diskussion über ›Stufe 6‹. In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main 1991, S. 70.
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(1) Nicht allgemeine Prinzipien der Moral, sondern ein negatives Bewusstsein des ethisch Guten ist als Ausgangspunkt des argumentativen Austausches von An- und Einsprüchen anzunehmen. Dessen Inhalt besteht im Bewusstsein ethischen Leides, also konkreten Gefahren der Verletzung und Verfehlung, denen einzelne Personen ausgesetzt sind. (2) Nicht Präsuppositionen des Diskurses, die für diejenige, die in eine argumentative Interaktion eintritt, bindend sind, liegen einem ethischen Diskurs zugrunde. Dieser besteht hingegen dann, wenn Personen im Bewusstsein konkreter Gefahren und Verfehlungen argumentativ interagieren, um Handlungsweisen zu stoppen und um andere Weisen zu handeln herauszubilden. (3) Nicht Normen und Verpflichtungen, über die ein argumentativer Konsens besteht, sind für eine Person praktisch primär bindend. Vielmehr stellen die Gefahren der Verfehlung und Verletzung, die unter den Umständen einer Situation bestehen, den primären Inhalt des argumentativen Austausches dar. (4) Nicht durch Inhalte von Normen und Pflichten, über die argumentativer Konsens besteht, bildet sich eine solidarische Gemeinschaft heraus. Diese besteht hingegen in dem Akt, in dem eine praktische Intervention, zur Abwendung von Gefahren der Verfehlung und Verletzung, durch Argumente wirksam wird. Dann wird durch den Gedanken »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« solidarisches Engagement zur Überwindung von Leid möglich. Solidarische Interaktion ist also nicht als Form der Gemeinschaft zu verstehen, die sich in der Herstellung eines argumentativen Konsens über Normen und Pflichten herausbildet. Solidarische Interaktion stellt hingegen die Form des Bezugs auf die Umstände einer Situation dar, in der Handlungsweisen, in Anbetracht von Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen, argumentativ thematisiert werden. Diese Auffassung argumentativer Interaktion hat einen geringeren Begründungsanspruch als die Diskursethik, insofern sie nicht in Anspruch nimmt, ein Argument gegen den Moralskeptiker vorzubringen. 317 317 Vgl. Ders.: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main 1983, S. 67–68.
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Sie zeigt lediglich, wie überhaupt ein allgemein, unbedingt verbindlich Gutes zum Maßstab praktischer Überlegungen genommen werden und somit Sinn im Lebensvollzug einer Person haben kann. Aber es ist nicht gesagt, dass jede Person, die in einen argumentativen Austausch tritt, auf die Ebene des ethischen Bewusstseins gelangt. Sie kann auch auf der Ebene eines individualistisch, strategischen Bewusstseins oder Gruppen- bzw. Traditionsbewusstseins verbleiben (vgl. Abschnitt II.3. dieses Kapitels). Mit einem Begriff solidarischer Interaktion wird hingegen gezeigt, wie ein ethisches Bewusstsein gedacht werden kann, in dem sich verschiedene Personen auf die Verwirklichung ethischen Lebens als gemeinsames Gut beziehen können. In solidarischer Interaktion wird das allgemein und unbedingt verbindlich Gute mit Umständen einer Situation, in denen sich ein Bewusstsein ethischen Leides herausbildet, vermittelt. Von diesem Ausgangspunkt aus ist Multikulturalismus mit dem Gedanken der Einheit einer Vielfalt an Personen vereinbar, ohne dass Präsuppositionen der Kommunikation und argumentativen Konsens als Vermittler angenommen werden müssen. X und Y können dann erst Ys Erziehungsmethode als Problem begreifen, das dazu herausfordert zu begreifen, wie sie anders leben sollten und könnten, ohne dass die gegebenen Wertvorstellungen von X oder Y oder eine dritte, über die ein argumentativer Konsens erlangt wurde, allgemein gilt. Vielmehr ist dann das, was anders sein sollte, mit Bezug auf die jeweilige Person zu begreifen. Jede Person, die, zusammen mit anderen die Einsicht »Unsere Weise zu handeln sollte sich ändern« macht, kann sich dann nur auf ihre Weise verstehen, was gut zu tun wäre. In einem Konsens kann das nicht generalisiert werden.
5.
Solidarisches Engagement
Solidarität stellt den Übergang vom Bewusstsein ethischen Leides zum Verständnis dessen dar, das in Übereinstimmung mit dem allgemein, unbedingt verbindlich Guten zu tun sei. Im Vollzug der solidarischen Interaktion wird somit ein ethisches Bewusstsein, ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides, herausgebildet. Unmittelbar positiv ist das Gute in der Relation, die philosophisch und theologisch häufig als Liebe bezeichnet wird, anwesend. 318 Die Weise, auf die das 318
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Hiermit ist nicht die Liebesbeziehung eines Liebespaares gemeint. Diese stellt nur
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Gute in der Liebe anwesend ist, ist mit dem Ansatz, für den ich hier argumentiere, nicht inkompatibel. Doch die Aufgabe der Darstellung dieses Begriffs von Liebe ist von der Aufgabe der Darstellung der Fähigkeiten zu unterscheiden, durch die das ethisch Gute argumentativ und praktisch erfasst werden kann. Beide Aufgaben zu verbinden, setzt voraus, wie Spinoza in seiner Ethik, die Liebe zu Gott, die höchste Form der Liebe, als vernünftige Erkenntnis zu begreifen. 319 Spinozas Auffassung von Liebe setzt jedoch voraus, dass die Welt vernünftig ist, weil Gott bei ihm selbst die Substanz der Welt darstellt. Im Bewusstsein ethischen Leides wird jedoch die Möglichkeit des Unvernünftigen in der Welt begriffen. Die philosophische Ethik muss deshalb in Anbetracht der Möglichkeit des Unvernünftigen in der Welt erst verstehen, wie der ethische Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit der Vernunft überhaupt in der Welt für Personen praktisch möglich werden kann. Solidarische Interaktion wird hier deshalb als Weise der Ausübung einer vernünftigen Fähigkeit verstanden, durch die eine vernünftige Welt von Personen, in Anbetracht der Möglichkeit des Unvernünftigen, möglich werden kann (vgl. hierzu auch die Erläuterungen zu Möglichkeit des Bösen in Kapitel 3, Abschnitt II.5). In der Liebe zeigt sich, stimmt man mit Spinozas Ineinssetzung nicht überein, die Möglichkeit einer vernünftigen Welt von Personen hingegen gerade auch an den Grenzen des durch Ausübung vernünftiger Fähigkeiten Erreichbaren, wie etwa in einem Akt göttlicher Gnade. Solidarität besteht in der argumentativen Interaktion verschiedener verletzlicher und fehlbarer partikularer Personen immer schon. Wenn solidarische Interaktion nicht möglich ist, sind intervenierende Äußerungen allein mit Bezug auf bestehende Praktiken oder individuelle Interessen überzeugend. In solidarischer Interaktion kann also erst die Form der Aktivität verstanden werden, in der die Verschiedenheit partikularer Personen in der Einheit des ethisch Guten bestehen kann. In jedem Akt der solidarischen Interaktion besteht somit eine Art der Liebe dar. Diese Form der Liebe taucht als Tugend des Glaubens der Nächstenliebe (vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae. II-II, q. 27, a 1.) oder als Form eines Verhältnisse zwischen Gott und Mensch auf, Schelling stellt diesen Gedanken zum ersten Mal in der Freiheitsschrift dar. (Vgl. F. W. J. Schelling: Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Hamburg 1997, S. 77.) 319 Vgl. Baruch Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Übersetzt durch Wolfgang Bartuschat. Hamburg 2007, Lehrsatz 20. Die Negativität des Sittlichen
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die Wirklichkeit des allgemein ethisch Guten, ohne dass damit jedoch schon gegeben sein muss, in welchen Werten und Handlungsweisen Personen übereinstimmen. Letzteres zu realisieren, wird als gemeinsam verbindliches Ziel angenommen. Es ist aber durch solidarische Interaktion nicht garantiert, dass die verschiedenen Personen jemals dieses Ziel erreichen und zur Einsicht dessen kommen können, was gut zu tun ist. Fassen wir abschließend zusammen: Das ethische Bewusstsein besteht in der solidarischen Interaktion, in der Personen sich so zueinander verhalten, dass sie sich in ihrer partikularen Verletzlichkeit und Fehlbarkeit anerkennen. Die Form der solidarischen Interaktion wird realisiert, wenn Personen auf die spezifischen Bedürfnisse und Probleme anderer Personen, angesichts der konkreten Gefahren der Verfehlung und Verletzungen, eingehen. Dabei wird das ethisch Gute thematisiert, wie zum Beispiel, wenn X Y darauf hinweist, dass seine Erziehungsmethoden verletzend sind und Y seine Verfehlungen einsieht. Das ist möglich, weil X und Y zugleich in dem Ziel geeint sind, eine Handlungsweise zu entwickeln, in der die Gefahr der Verletzung oder Verfehlung nicht weiter besteht. In der solidarischen Interaktion entsteht so ein Engagement zur Veränderung und Entwicklung. Durch die Darstellung der solidarischen Interaktion wurde bisher nur gezeigt, wie das, was allgemein, unbedingt verbindlich gut ist, im Vollzug von praktischen Interventionen und in argumentativer Befragung von Gewohnheiten und Praktiken thematisiert werden kann. In der solidarischen Interaktion besteht somit ein ethisches Bewusstsein für praktische Probleme, Konflikte und Widersprüche, die einzelne Personen als Leid erfahren. Zugleich beziehen Personen sich aufeinander und begreifen die Überwindung von Leid als Ziel, für das sie sich gemeinsam engagieren. Solidarität stellt somit zunächst nur die Form des Verhaltens im Widerspruch dar, zeigt aber noch nicht, wie dieses Ziel auch erlangt wird. Da solidarische Interaktion also nicht mit einer materiellen Realisierung des Guten gleichzusetzen ist, bleibt noch zu erklären, wie der Gedanke »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« in den Gedanken »So zu handeln ist gut bzw. besser« übergehen kann. Das verlangt zu erklären, wie die Reformulierung von Vorstellungen des Guten und die Reformierung von Weisen zu handeln, zu einem Ende kommen kann. Es wird die Frage nach ethischem Fortschritt als Überwindung ethischen Leides aufgeworfen. Diese Frage wird in Kapitel 6 behandelt.
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Kapitel 6: Ethischer Fortschritt
Bisher wurde gezeigt, dass die philosophische Reflexion auf das ethisch Gute nicht durch einen Begriff tugendhafter Praktiken oder durch die Darstellung eines formalen Prinzips der Selbstbestimmung zu einem Ende kommen kann (Kapitel 2). Durch sie kann hingegen allein die Negativität des ethisch Guten als allgemein und unbedingt verbindlichen eingesehen werden (Kapitel 3). Im Bewusstsein ethischen Leides, das aus den Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen hervorgeht, denen eine Person in praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen ausgesetzt ist, liegt die praktische Verortung der Negativität ethischer Ansprüche auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit (Kapitel 4). Im vorherigen fünften Kapitel wurde gezeigt, dass im Bewusstsein ethischen Leides ein ethisches Bewusstsein angelegt ist, in dem ein aktiver Umgang mit praktischen Problemen, Konflikten und Widersprüchen möglich ist. Dabei wurde solidarische Interaktion als die Form des aktiven Umgangs mit ethischem Leid dargestellt, worin ein Engagement zu dessen Überwindung entsteht. In diesem letzten Kapitel wird nun gezeigt, wie aus solidarischem Engagement eine Entwicklung neuer, besserer Weisen zu handeln hervorgehen kann, in denen ethische Überlegungen abgeschlossen werden, somit ethisches Leben gelingt, insofern darin das allgemein, unbedingt verbindlich Gute zum Ausdruck kommt. Das Thema dieses Kapitels stellt somit der ethische Fortschritt dar. Abschnitt I. dieses Kapitels diskutiert ethischen Fortschritt in Abgrenzung von einer Auffassung historischen Fortschritts der Menschheit. Dabei wird gezeigt, dass ethischer Fortschritt, ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides, als praktische Entwicklung einer Person zu verstehen ist. Abschnitt II. stellt dar, wie die praktische Entwicklung einer Person als Realisierung von Handlungsweisen, durch die ethisches Leid überwunden wird, begriffen werden kann. Dies wird gezeigt, indem die praktische Entwicklung einer Person in Die Negativität des Sittlichen
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Ethischer Fortschritt
Verbindung mit dem Vollzug eines ethischen Dialoges und dessen gesellschaftlichen Bedingungen gedacht wird.
I.
Ethischer Fortschritt als praktische Entwicklung
In diesem Abschnitt wird ethischer Fortschritt als Überwindung ethischen Leides diskutiert. Den Ausgangspunkt ethischen Fortschritts stellt der Wunsch einer Person nach Befreiung vom ethischen Leid dar (§ 1). Ausgehend vom Wunsch nach Befreiung einer einzelnen Person gilt es, ethischen Fortschritt als praktische Entwicklung einzelner Personen zu begreifen (§ 2). Dabei wird eine Abgrenzung von Auffassungen historischer Entwicklung vorgenommen, die nicht die Überwindung des Leides einzelner Personen, sondern den Fortgang der Menschheit als ganzer zum Gegenstand hat (§ 3). Diese Abgrenzung führt in ein Paradox, wonach ethischer Fortschritt nicht positiv bestimmbar sei, sondern allein falsche Vorstellungen von diesem kritisiert werden können (§ 4). Eine Lösung dieses Paradoxes wird möglich, wenn die Form praktischer Entwicklung einzelner Personen verstanden wird, die aus dem Bewusstsein für die Verletzlichkeit und Fehlbarkeit anderer Personen motiviert wird (§ 5).
1.
Befreiung vom Leid
Das Bewusstsein ethischen Leides, dessen Inhalt in konkrete Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen einer Person besteht, beinhaltet auch den Gedanken von dessen Überwindung. Die Überwindung ethischen Leides im ethischen Bewusstsein besteht im Übergang von dem Gedanken »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« in den Gedanken »So zu handeln ist gut bzw. besser«. Solidarische Interaktion (vgl. Kapitel 5) stellt die Ebene ethischen Bewusstseins dar, auf der ethisches Leid als ein allgemeiner Widerspruch begriffen wird, der nicht alleine die einzelne verletzte und die verfehlende Person betrifft – es wird der Gedanke »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« gefasst. Die Überwindung ethischen Leides wird also auf einer weiteren Ebene ethischen Bewusstseins thematisiert, auf der es ein Verständnis der Weise zu handeln, in der die widersprechenden Seiten vereint sind, zum Inhalt hat – es wird der Gedanke »So zu handeln ist gut bzw. besser« gefasst. 284
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Ethischer Fortschritt als praktische Entwicklung
Wie die Überwindung ethischen Leides in diesem Zusammenhang zu verstehen ist, kann wie folgt konkretisiert werden. In einer Situation, in der ein Bewusstsein ethischen Leides besteht, tritt zwischen Opfern von Verletzungen und diejenigen, die Verfehlungen begehen oder vom schlechten Zustand einer Praxis profitieren, den Tätern, eine Differenz auf. In dieser Differenz werden Probleme, Konflikte und Widersprüche von konkreten Personen unter den Umständen einer Situation erfasst. Damit diese Differenz zwischen Personen zutage tritt, muss nicht schon etwas passiert sein, wie etwa zwischen Opfern und Tätern im Falle einer Gewalttat. Die Differenz zwischen Opfer und Täter kann auch durch latent bestehende Gefahren im Sinne von möglichen Verfehlungen und Verletzungen vorgestellt werden. Solidarische Interaktion und argumentativer Austausch über die Widersprüche, die ethisches Leid hervorrufen, ermöglichen einen Wandel der Perspektive von Opfer und Täter. Beide richten sich durch solidarische Interaktion auf das sie Verbindende aus. Die Überwindung dieser Differenz wird durch die Entwicklung eines Zustandes erreicht, der negativ also dadurch charakterisiert ist, dass Personen sich nicht mehr so zueinander verhalten, dass einer fortwährend zum Opfer, Verlierer oder Beschädigten und der andere zum Täter, Profitierendem oder Schuldigem gemacht wird. Positiv ist dieser Zustand allgemein dadurch charakterisiert, dass er eine Auffassung des Guten darstellt, das allen Personen gemeinsam ist und in verschiedenen praktischen Kontexten und Umständen geltend gemacht werden kann. Mit dem Wandel der Relation von Opfer und Täter wird eine Veränderung der praktischen Umstände, also der Gewohnheiten, Institutionen und Konventionen vollzogen. Wenn zum Beispiel jemand ein Verräter genannt wird, wird er des Verrates an einem gemeinsamen Gut beschuldigt. Der als Verräter beschuldigte kann dieses wiederum damit begründen, dass dieses Gut verraten werden muss, weil es verkehrt ist und Böses befördert. Noch in den 1950er Jahren gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine Diskussion darüber, ob deutsche Widerständler, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben, als Volksverräter beschimpft werden sollten oder dürfen. Beide Seiten können sich hier als Opfer sehen. Diejenigen, die Widerständler als Verräter betiteln, können sich als Opfer eines Verrates betrachten, wenn sie auf eine bestimmte Vorstellung von Volk als Maßstab einer guten Ordnung des Lebens Bezug nehmen. Diejenigen, die als Volksverräter betitelt werden, können sich als Opfer einer schlechten gesellschaftlichen Ordnung Die Negativität des Sittlichen
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betrachten, der sie eine andere Vorstellung des gelungenen guten Lebens entgegenstellen. Eine Überwindung solcher Widersprüche ist erst vollzogen, wenn sich nicht bloß der eine oder der andere Standpunkt durchsetzt, wie im Fall von so genannter Siegerjustiz. Überwunden werden solche Widersprüche, wenn eine neue Auffassung davon, was es heißt, Teil eines Staates oder Volkes zu sein und diesem zu dienen, entwickelt wird, in der eine Differenz nicht mehr, von der einen oder der anderen Seite aus gesehen, auftritt. Daraus folgt nicht, dass der Täter entschuldigt wird. Es geht vielmehr um die Frage, unter welcher Voraussetzung dessen Unrecht und Verfehlung als solche argumentativ erfasst und die Voraussetzung von dessen Tun, etwa eine Vorstellung von Volk, widerlegt und überwunden werden können. Erst wenn nicht ein Standpunkt absolut gegen den anderen gesetzt wird, somit von Standpunkten, wie dem der Siegerjustiz oder dem einer gegebenen Vorstellungen von Volk oder einer guten Ordnung des Lebens, losgelassen wird, besteht dafür Raum. 320 Die Überwindung ethischen Leides stellt nicht zwangsläufig einen Gegenstand philosophischer Ethik dar. Eine leidende Person hat zunächst nur den Wunsch nach Befreiung von ihrem Leid. Diese Befreiung kann auf verschiedene Weise vorgestellt werden. Eine Person kann diesem Wunsch zum Beispiel Ausdruck verleihen, indem sie die Apokalypse herbeiwünscht und sich so von der Welt und darin herrschenden praktischen Verhältnissen, an denen sie leidet, abwendet, anstatt sie zu gestalten. Das hieße, ihre wahre Bestimmung fände eine Person erst außerhalb der Welt, an der sie leidet. 321 Ebenso könnte sie diesen Wunsch durch die Einweihung in eine Geheimlehre fassen. Etwa Gnostiker oder die Mitglieder eines Geheimbundes, wie sie etwa in Abschnitt I.1 von Kapitel 5 schon erwähnt wurden, beanspruchen, im Besitz einer solchen Geheimlehre zu sein und sich dadurch über andere Menschen zu erheben. In solchen Fällen vollzieht eine 320 Man denke hier an Fritz Bauer, der, bevor er als Frankfurter Generalstaatsanwalt in den 1950er und 60er Jahren Anklage gegen die Auschwitz-Täter erhob, durchsetzte, dass die Bezeichnung der Männer des 20. Juni als Volksverräter den Bestand einer Straftat darstellt. Dieses Urteil wäre nach meinen Ausführungen nicht etwa vom Standpunkt einer anderen als absolut betrachteten Auffassung von Volk vollzogen, sondern aus einem Rechtsverständnis, das erst den Raum möglich macht, in dem Opfer überhaupt zu Tätern in ein ethisches Verhältnis treten können. 321 Diese Form der Abwendung von der Welt ist anders akzentuiert als die in Kapitel 5, Abschnitt I.1 dargestellte Negation der Welt, insofern es hier um ein Verständnis des Geschehens in der Welt geht, in dem Leid überwunden wird.
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Ethischer Fortschritt als praktische Entwicklung
Person die Befreiung vom Leid rein innerlich, wägt sich dabei aber in der Gewissheit, dass sie den richtigen Weg kennt und vom Zustand der praktischen Umstände, unter denen sie leidet, unabhängig ist. Eine verletzte Person betrachtet sich dann nicht länger als Opfer, sondern überhebt sich über den Täter. Wird dem Wunsch nach Befreiung vom ethischen Leid auf solche Weisen Ausdruck verliehen, kommt es nicht zu einer Überwindung ethischen Leides immanent des praktisch-ethischen Erklärungs- und Begründungszusammenhanges, in dem eine Person sich unter den Umständen einer Situation wiederfindet. Der Sinnzusammenhang ihres Lebens wird von praktischen Zusammenhängen getrennt. Um die Überwindung immanent dieses Zusammenhanges einer Person zu verstehen, muss deren Wunsch nach der Befreiung von Leid kultiviert und rationalisiert werden. Zunächst heißt das nur, dass der Zustand, in dem eine Überwindung von Leid vollzogen ist, durch Personen herbeigeführt werden kann, indem sie ihre Umstände gestalten; in diesem Sinne handelt es sich um eine Kultivierung. Um auch von einer Rationalisierung dieses Wunsches zu sprechen, muss dieser Zustand so begründbar sein, dass er von allen Personen als gut akzeptiert werden kann. Eine andere Frage ist dabei, ob auch faktisch alle Personen überzeugt werden. Insofern handelt es sich um einen Zustand, in dem das ethisch Gute dargestellt wird. Erst in einem solchen Zustand ist das Verhältnis zwischen Opfer und Täter auch in den äußeren praktischen Umständen und Weisen des Zusammenlebens überwunden worden. Die Überwindung ethischen Leides stellt also einen Gegenstand philosophischer Ethik dar, insofern sie auf die Bedingungen und Möglichkeiten der Kultivierung und Rationalisierung des Wunsches der leidenden Person nach Befreiung reflektiert.
2.
Praktische Entwicklung
Indem wir die Überwindung ethischen Leides insofern betrachten, als diese kultiviert und rationalisiert werden kann, ist der Gedanke eines Zustandes, in dem ethisches Leid überwunden ist, in zwei Annahmen darzustellen. Erstens geht er aus einer praktischen Entwicklung von Personen hervor, die ihre partikularen Gewohnheiten, also Reaktionsweisen, Konventionen und Institutionen gestalten – es wird kultiviert. Zweitens stellt das Hervorbringen eines solchen Zustandes einen ethischen Fortschritt dar, da dadurch ethische Ansprüche auf Die Negativität des Sittlichen
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Ethischer Fortschritt
Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit eingelöst werden, wodurch die Widersprüche zwischen verschiedenen Personen überwunden werden – es wird auch rationalisiert. Um die Überwindung ethischen Leides immanent des ethischen Bewusstseins zu fassen, ist somit zu verstehen, wie eine praktische Entwicklung einer Person möglich ist, die zugleich einen ethischen Fortschritt darstellt. In Bezug auf diese beiden Annahmen ist jeweils eine Abgrenzung von Vorstellungen der Überwindung und Befreiung von ethischen Leiden zu vollziehen, die entweder praktische Entwicklung ohne ethischen Fortschritt oder diesen ohne jene betrachtet. Erstens, für die Abwendung ethischen Leides allein durch praktische Entwicklung genügt es, die Gefahren eine Verfehlung zu begehen oder verletzt zu werden, abzuwenden, indem ihnen ihre Wirksamkeit genommen wird. Die bloße Abwendung von bestimmten Gefahren stellt noch keinen ethischen Fortschritt, der Leid überwindet, sondern bloß pragmatischen Fortschritt dar. Dieser besteht zum Beispiel in vertraglichen Einigungen zwischen Personen darauf, sich in Frieden zu lassen und zur Realisierung von Wertvorstellungen keine Gewalt anzuwenden. In seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden« 322 erklärt Kant die Entstehung einer rechtlichen, politischen Ordnung aus pragmatischem Fortschritt, da sie zunächst nur durch den partikularen, instrumentellen Zweck eines Subjekts zur Wahrung der eigenen interessengeleiteten Existenz motiviert ist. 323 Diese Auffassung eines pragmatischen Fortschritts ist durch die Etablierung der Westfälischen Ordnung im Westfälischen Frieden inspiriert. Durch diese sollte eine Wiederkehr der religiös motivierten Konflikte des 30jährigen Krieges vermieden werden, indem die Souveränität verschiedener Staaten in Wert- und Glaubensfragen gesichert wird. Durch die so motivierte Etablierung einer rechtlich, politischen Ordnung findet eine Kultivierung, aber noch keine Rationalisierung des Wunsches nach Befreiung statt, denn die Gründe, die eine Person zur Anpassung an eine rechtliche und politische Ordnung bewegen, sind allein pragmatisch, durch den Zweck der Sicherung ihrer Existenz motiviert, überzeugen aber nicht um ihrer selbst willen. Auch wenn die Existenz von Personen dadurch gesichert wird, wird der Wunsch nach Befreiung eher verdrängt als realisiert, was zum Beispiel im lai322 Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Werkausgabe Band XI, Frankfurt am Main 1977. 323 Ibidem, B 65.
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zistischen Staat, in dem Religion zur Privatsache erklärt wird und somit in manchen Fällen die offene Auseinandersetzung mit interreligiösen Konflikten verhindert, passieren kann. Dass pragmatischer Fortschritt eine Bedeutung hat, soll hier nicht bestritten werden. 324 Es soll lediglich gezeigt werden, dass dieser nicht die einzige gewaltund leidvermeidende Auffassung von Fortschritt darstellt. Wie die Frage nach ethischem Fortschritt erörtert werden kann, der die Handlungsweisen und Wertauffassungen von Personen betrifft, durch die praktische Probleme, Konflikte und Widersprüchen überwunden und nicht bloß politisch im Zaum gehalten werden, gilt es jedoch noch zu zeigen. Zweitens, während pragmatischer Fortschritt bloß die Existenz der leidenden Person sichert, führt ethischer Fortschritt zur Befreiung vom Leid. Durch ethischen Fortschritt werden die Widersprüche zwischen verschiedenen Personen und deren Überzeugungen überwunden, da ein Zustand, also eine Auffassung von ethischen Praktiken, entwickelt wird, in dem diese nicht mehr bestehen. Eine Auffassung ethischen Fortschritts scheint aber wiederum der Annahme der praktischen Entwicklung, aus der die Befreiung vom Leid hervorgeht, entgegen zu stehen. Diese stehen sich entgegen, wenn angenommen wird, dass ethischer Fortschritt darin besteht, eine Ganzheit zu realisieren, in der alle verschiedenen Personen zusammengefasst werden. Eine solche Ganzheit kann zum Beispiel als eine Form von Gesellschaft vorgestellt werden, durch die die wesentlichen Merkmale dessen, worin Menschsein besteht, realisiert werden. Mit einer solchen Vorstellung einer Ganzheit ist etwa die von einem Endzweck der Geschichte verbunden, der zur Realisierung dessen, was Menschsein heißt, führt. Ethischer Fortschritt besteht, in Bezug auf eine solche Vorstellung einer Ganzheit, in der Beherrschung der Lebensbedingungen zur Realisierung dessen, was Menschsein heißt. Hier findet sowohl eine Kultivierung als auch eine Rationalisierung statt. Die Kultivierung besteht in der Beherrschung der materiellen Bedingungen und praktischen Umstände. Das heißt, es werden bestimmte Institutionen und Konventionen geschaffen. Eine Rationalisierung findet statt, insofern ein Erklärungs- und Begründungszusammenhang für die kultivierende Gestaltung von Handlungsweisen besteht. Ein solcher Erklärungs- und Begründungszusammenhang kann dann 324 Für Kant stellt pragmatischer Fortschritt die Voraussetzung von Moral dar. Ibidem, B 97.
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etwa durch eine Vorstellung von der Ganzheit der Menschheit oder dem Endzweck der Geschichte bestimmt werden. Doch diese eben skizzierte Auffassung der Verschränkung von Kultivierung und Rationalisierung in ethischen Fortschritt ist verkehrt. Das sehen wir daran, dass die Kultivierung und Rationalisierung im ethischen Fortschritt hier nicht vom konkreten Wunsch nach Befreiung einer leidenden Person ausgeht, der sich unter konkreten praktischen Umständen herausbildet. Stattdessen geht diese Auffassung ethischen Fortschritts von der Vorstellung eines abstrakten Wunsches nach Befreiung aus, der der ganzen Menschheit, unabhängig von den praktischen Umständen einzelner Personen, zugeschrieben wird. Das hat zur Folge, dass ein bestimmter Verlauf praktischer Entwicklung gegenüber der einzelnen Person von außen durchgesetzt wird, etwa indem sie gezwungen wird, an bestimmten Institutionen teilzunehmen. Um ethischen Fortschritt als eine Art praktischer Entwicklung eines Zustandes, in dem ethisches Leid einer einzelnen Person überwunden ist, zu fassen, ist hingegen der Wunsch einer einzelnen Person nach Befreiung als grundlegend anzunehmen. Dieser steht im Sinnzusammenhang des Vollzuges ihres Lebens. Es besteht also zunächst das Problem, ausgehend vom Wunsch einer Person nach Befreiung, den Gedanken der Realisierung eines allgemein, unbedingt verbindlich Guten zu fassen, der nicht in der Vorstellung einer Ganzheit aller Menschen aufgeht.
3.
Ethischer Fortschritt
Wir stehen nun vor der Herausforderung, ausgehend vom Wunsch nach Befreiung einer konkreten Person, die sich in bestimmten praktischen Umständen befindet, ethischen Fortschritt zu begreifen. Das heißt, ethischer Fortschritt ist zugleich als eine Art praktischer Entwicklung dieser konkreten Person zu begreifen. Diese Begrenzung ethischen Fortschritts auf die konkrete Person, die sich in bestimmten praktischen Umständen befindet, kann dadurch verdeutlicht werden, dass jede gelungene oder versuchte Befreiung von ethischem Leid ein zeitlich begrenztes Ereignis darstellt. 325 Sie findet im Rahmen der Ge325 Alain Badiou scheint für einen ähnlichen Punkt zu argumentieren. Er redet von einem »Ereignis, das ›etwas anderes‹ als die Situation, als die Meinungen, als die institutionalisierten Kenntnisse herankommen lässt […].« (Alain Badiou: Ethik. Ver-
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wohnheiten und Praktiken einer bestimmten Kultur, unter bestimmten historischen Bedingungen, motiviert durch die dort bestehenden Gefahren der Verletzung und Verfehlung, statt. Die zeitliche Begrenzung des ethischen Fortschritts, der von der einzelnen Person ausgeht, steht zugleich in einer Spannung mit dessen ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit, also das verschiedenen Personen gemeinsame und in verschiedenen Praktiken gleiche Gute, zu realisieren. Diese Spannung ist vom Gegensatz zwischen der Realisierung eines Partikularinteresses und der Realisierung eines universellen Zweckes zu unterscheiden. Karl Marx und Friedrich Engels stellen diese Spannung zum Beispiel dar, indem sie die Bourgeoisie als die Klasse, die partikulare Eigentumsinteressen verfolgt, dem Proletariat gegenüberstellen, das kein Eigentum hat und deshalb historisch dazu disponiert ist, sich als Gattungswesen zu begreifen und das für den Menschen allgemein Gute der Vernunft zu realisieren. 326 Wie diese Spannung von zeitlicher Begrenztheit ethischen Fortschritts, der von der einzelnen Person ausgeht, und dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit aufzufassen ist, zeigt sich hingegen in dem Problem, die Realisierung des allgemein Guten in einem Subjekt zu begreifen, das wie Marx’ Proletariat zum allgemein Guten disponiert ist. Diese Disponiertheit konkreter Personen, die sich zu einer bestimmten Zeit in bestimmten praktischen Umständen befinden, hat zwei Seiten: Zum einen wird ethischer Fortschritt durch die Vermeidung der Gefahren der Verfehlung und Verletzung einer bestimmten Gruppe von Personen, die sich in einer bestimmten Zeit in bestimmten praktischen Umständen befinden, motiviert. Zum anderen besteht aber zugleich der Anspruch, dass ethischer Fortschritt verschiedene Personen in einer Allgemeinheit zusammenführen soll, die als Menschheit, was ich im Folgenden verwende, oder aber je nach Perspektive als Freiheit, Vernunft oder Glück betitelt wird. Es gilt somit zu verstehen, wie es Personen, denen zu einer bestimmten Zeit in bestimmten praktischen Umständen an einem Verständnis des Guten mangelt, mit dem Anspruch auftreten können, eine allgemein, unbe-
such über das Bewusstsein des Bösen. Übersetzt durch Jürgen Brankel. Wien 2003, S. 91.) An diesem Punkt der Untersuchung frage ich, wie ›etwas anderes‹ praktisch, ausgehend von der Person erfasst werden kann. 326 In seiner einfachsten Darstellung findet sich diese Unterscheidung im Manifest der kommunistischen Partei. MEW, Band 4. 6. Aufl. Berlin 1972. Die Negativität des Sittlichen
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dingt verbindliche Auffassung dessen, was gut zu tun sei, zu entwickeln. Wir sehen, ethischer Fortschritt geht von der Perspektive einer Person aus, die einen Wunsch nach Befreiung hat, und muss zugleich dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit entsprechen. Da der Wunsch nach Befreiung einer Person partikular ist, widerspricht ein von außen durchgesetzter ethischer Fortschritt der Perspektive praktischer Entwicklung, in der eine Person, aus dem Umstand der Situation, in der sie sich befindet, eben diesen Fortschritt vollzieht. Eine Weise, einen Begriff ethischen Fortschritts zu begreifen, könnte nun darin bestehen, die praktische Entwicklung einer einzelnen Person in eine Auffassung des kollektiven, geschichtlichen Fortschritts der Menschheit einzubetten. So vorzugehen erscheint plausibel, wenn man annimmt, dass eine Person alleine nicht viel ausrichten kann und ihre Befreiung nur durch den Fortschritt der Menschheit gelingen kann. Der geschichtliche Fortschritt der Menschheit und die praktische Entwicklung der Person sind dann auf folgende Weise verschränkt zu denken: Auf der einen Seite besteht der Anspruch, dass der historisch erlangte, kollektive Fortschritt auch für die einzelne Person eine Verbesserung darstellt. Auf der anderen Seite ist kein Maßstab für eine allgemein, unbedingt verbindliche Rechtfertigung aus der Perspektive des Handelns einer Person zu denken, wenn dieses nicht als Beitrag zum Fortschritt der Menschheit gerechtfertigt werden kann. Unter welcher Voraussetzung diese Verschränkung von praktischer Entwicklung einer Person und dem Fortschritt der Menschheit gedacht werden kann, formuliert Walter Benjamin in seiner Analyse des Begriffs der Geschichte. Er sagt: »Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen.« 327 Das Zitat aus These XIII aus Benjamins Über den Begriff der Geschichte zeigt uns, dass mit einer Vorstellung ethischen Fortschritts, nach der eine Person als Teil der ganzen Menschheit betrachtet wird, auch eine abstrakte Vorstellung von der Zeit einhergeht, in der die verschiedenen Aktivitäten von bestimmten Personen, die sich zu einer bestimmten Zeit in bestimmten praktischen Umständen befinden, aufgereiht werden können. Damit wird jeder zu einer bestimmten Zeit unter bestimmten 327 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt am Main 1977, These XIII, S. 701.
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Umständen einer Situation für gelungen gehaltene ethische Fortschritt als Moment des Fortgangs der Menschheit betrachtet. Das Handeln der einzelnen Person wird als Teil der Entfaltung der Menschheit als Beitrag zu deren Vervollkommnung aufgefasst. Mit Bezug auf Benjamins Freilegung der Voraussetzung einer Auffassung eines kollektiven, geschichtlichen Fortgangs der Menschheit zeigt sich, dass dadurch echter ethischer Fortschritt, durch den der konkrete Wunsch einer Person nach Befreiung vom Leid realisiert wird, nicht verständlich werden kann. Statt als Befreiung kann praktische Entwicklung einer Person hier hingegen allein als Integration in den laufenden Prozess des Fortschritts verstanden werden. Eine Auffassung von Fortschritt als Integration ist jedoch mit einer Befreiung vom Leid nicht vereinbar, was sich zeigt, wenn wir uns die mit Integration verbundene Vorstellung von Fortschritt vor Augen halten. Integration ist im deutschen Sprachgebrauch ein positiv besetztes Wort, weil es mit der Vorstellung eines gelingenden Zusammenlebens verschiedener Kulturen verbunden wird. Durch Integration werden die Konflikte und Widersprüche zwischen Personen mit verschiedenen Wertverständnissen geschlichtet, sodass ein Zusammenleben gelingen kann. In jeder gelungen Integration findet somit, zumindest dem Ideal nach, ethischer Fortschritt statt, insofern verschiedene Personen oder auch Personengruppen den Prozess der Entfaltung universeller, der ganzen Menschheit eigenen Werte, zusammen vollziehen, anstatt vereinzelt im Konflikt zu stehen. Doch in der Integration stellen zunächst nicht die Gefahren der Verletzungen und Verfehlungen einer einzelnen Person zu einer bestimmten Zeit in bestimmten Umständen den Ausgangspunkt dar, sondern das Gelingen oder Misslingen des Fortgangs eines Kollektives, wie einer sozialen Gruppe, Kultur, Gesellschaft, Nation oder der Menschheit. Wie auch immer solch ein Kollektiv repräsentiert wird, besteht Integration darin, dass eine gegebene Vorstellung einer Ordnung herrscht. Die Vorstellung einer Ordnung und des laufenden Fortschrittsprozesses gehen in der Integration der einzelnen Person, die sich zu einer bestimmten Zeit in bestimmten praktischen Umständen befindet, voraus, was mit dem Wunsch nach Befreiung von ethischem Leid unvereinbar bleibt, auch wenn eine solche Ordnung mit der Integration sich ständig neu interpretiert oder sich darauf ausrichtet, individuelle Selbstentfaltung zu ermöglichen. Demnach fände lediglich Fortschritt statt, ohne dass er sein Ziel, die Befreiung der einzelnen Person vom ethischen Leid, wirklich erreicht, was Theodor W. Adorno Die Negativität des Sittlichen
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paradoxal formuliert: »Alles schreitet fort in dem Ganzen, nur bis heute das Ganze nicht.« 328
4.
Das Paradox des Fortschritts
Durch die Auffassung ethischen Fortschritts, wonach dieser darin besteht, verschiedene Personen in einen laufenden, ganzheitlichen Fortschrittsprozess zu integrieren, kommen wir zu keinem Verständnis davon, wie eine Person zu einer bestimmten Zeit in bestimmten praktischen Umständen zu einem allgemein, unbedingt verbindlichen Verständnis dessen, was gut zu tun sei, kommen kann. Daraus folgt zunächst, wenn ethischer Fortschritt ausgehend vom Wunsch einer Person nach Befreiung vom ethischen Leid verstanden wird, kann nicht zugleich eine Vorstellung vom geschichtlichen Fortgang der Menschheit das Maß für ethischen Fortschritt darstellen. Die Unauflösbarkeit der Spannung zwischen einzelner Person und geschichtlichem Fortgang formuliert Adorno in dem am Ende des vorherigen Abschnittes § 3 zitierten Paradox, wonach im Ganzen Fortschritt stattfinde, ohne dass das Ganze fortschreite. Aufgrund der Unauflösbarkeit dieser Spannung erwägt er nur eine negative Auffassung von Fortschritt. Wir wollen in Betracht ziehen, ob diese uns zu einem Verständnis von ethischem Fortschritt, der vom Wunsch einer Person nach Befreiung vom Leid ausgeht, führen kann. Adorno sagt: »Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet.« 329 Die Rede von »Naturwüchsigkeit« ist hier so zu verstehen, dass Menschen praktische Bedingungen, wie Handlungsstrukturen und Autoritäten schaffen, die der Befreiung der Person entgegenstehen, anstatt sie zu befördern, weil sie wie unveränderliche Naturgesetze Personen in ihrem Lebensvollzug bestimmen. Vermeintlicher Fortschritt kann also neues Leid zur Folge haben, insofern diese Handlungsstrukturen und Autoritäten das Leben einer Person be328 Vgl. Theodor W. Adorno: Fortschritt. In: Ders.: Stichworte. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1970, S. 35. 329 Ibidem, S. 37.
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herrschen, und nicht sie ihre eigenen Lebensbedingungen. Die Möglichkeit dieses Widerspruches sowie die Gefahr der Verletzung und Verfehlung, der eine Person ausgesetzt ist, wird von Adornos negativer Auffassung von Fortschritt hier freigelegt. Doch ethischer Fortschritt, im Sinne einer Befreiung, als praktisch bewirkter Überwindung von ethischem Leid, scheint nicht möglich. Adorno vollzieht lediglich eine Reflexion auf die Negativität des Fortschritts, indem er die Uneinlösbarkeit des Versprechens des Fortschritts und die Möglichkeit zu dessen Verkehrung aufzeigt. Der einzig mögliche Fortschritt besteht folglich dann darin, dessen Verkehrung Einhalt zu gebieten. Doch die Möglichkeit der konkreten, praktischen Befreiung durch Gestaltung von Gewohnheiten und Praktiken wird so noch nicht fassbar. Aus der Reflexion auf die Negativität des Fortschritts, folgt eine Begrenzung der philosophischen Ethik, insofern sie die Realisierung des Guten nicht fassen kann, indem sie die partikularen Vollzüge in einen vorausgesetzten Allgemeinbegriff des ethisch guten Lebens einordnet. Doch besagt diese Begrenzung nicht, dass wir aufhören müssen über ethischen Fortschritt nachzudenken. Stattdessen gilt es einen Weg finden, diesen ausgehend von den Grenzen, die in der Reflexion auf die Negativität des Fortschritts eingesehen werden, zu begreifen. Das heißt, es gilt ethischen Fortschritt zu begreifen, der nicht durch eine positiv aufgefasste Instanz, wie zum Beispiel den Fortgang der Menschheit – oder eines anderen Gattungsbegriffes – bestimmt wird. Stattdessen ist ethischer Fortschritt im Ausgang vom negativen Bewusstsein des allgemein, unbedingt verbindlich Guten zu begreifen. Aber kann dann ethischer Fortschritt mehr bewirken, als bloß dem schlechten, vermeintlichen oder verkehrten Prozessen des Fortschritts Einhalt zu gebieten? Wir sehen eine mögliche Antwort auf diese Frage, wenn wir uns klar machen, worin eine Realisierung des Wunsches einer Person nach Befreiung von ethischem Leid besteht. Der ethische Fortschritt besteht darin, dass im partikularen Lebensvollzuges einer Person Neues entsteht, das deren Verletzungen und Verfehlungen vermeidet. Dass Neues entsteht, ist fundamental verschieden von der Auffassung praktischer Entwicklung, die ich im vorherigen Abschnitt als Integration beschreibe. 330 Die Gefahr von Ver330 Alexander García Düttmann stellt diese Unterscheidung anhand des Anerkennungsbegriffes dar. Vgl. Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung. Frankfurt am Main 1997, S. 70 ff.
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letzungen und Verfehlungen und ebenso der ethische Fortschritt betreffen somit nicht die ganze Menschheit, sondern zunächst nur einzelne Personen, die sich in einem bestimmten praktischen Kontext, in bestimmten praktischen Umständen befinden. Als Befreiung vom ethischen Leid ist ethischer Fortschritt also nur im Zusammenhang des Lebensvollzuges der einzelnen Personen zu verstehen, er muss aus dem darin möglichen Sinn verstanden werden. Es kann also kein Begriff des ethisch Guten und somit ethischen Fortschritts Sinn ergeben, der nicht von der Unverfügbarkeit und Unvertretbarkeit der Person in ihrer Singularität ausgeht. Man könnte nun denken, die praktische Entwicklung eines Zustandes, in dem Verletzungen und Verfehlungen einer Person überwunden sind, würden nun vor dem Hintergrund von Adornos Reflexion auf die Negativität des Fortschritts diesem entgegengesetzt. Doch dieser Gegensatz tritt nur dann auf, wenn die individuelle praktische Entwicklung einer Person von der Rationalisierung ganz ausgenommen und somit beliebig wird. Bisher haben wir nur gesehen, dass sie nicht durch die Integration einer Person in einen Prozess der Realisierung eines gegebenen Ganzen vollzogen werden kann. Damit sehen wir, dass ethischer Fortschritt nur als praktische Entwicklung einzelner Personen verstanden werden kann. Wie eine rationale, gerechtfertigte praktische Entwicklung einer Person dann möglich ist, gilt es im Folgenden zuerst noch zu verstehen.
5.
Ethische Entwicklung der Person
Nun gilt es, die neue Herausforderung zu verstehen, die sich mit der Verschiebung von einer Auffassung ethischen Fortschritts, die vom Fortgang der Menschheit ausgeht, auf eine Auffassung ethischen Fortschritts, die von der praktische Entwicklung der einzelnen Person ausgeht, ergibt. Diese Verschiebung stellt sich als reales Problem dar, wenn eine Person gegen einen Integrationsprozess interveniert und stattdessen auf die Gefahr von Verletzungen und Verfehlungen hinweist. Jede Befreiung von Leid kann nur durch die Realisierung des Guten im Lebensverlauf einer Person verstanden werden, die durch bestimmte Gefahren der Verletzung und Verfehlung dazu motiviert wird. Diese Verschiebung wird begrifflich vollzogen, indem die Funktion, die eine Vorstellung eines Ganzen der Menschheit in deren geschichtlichen Fortgang einnimmt, in der Form solidarischer Inter296
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aktion erfasst wird, die ich in Abschnitt III von Kapitel 5 darstelle. Deren Funktion besteht darin, praktische Entwicklung allgemein, unbedingt verbindlich zu rechtfertigen. Doch Solidarität ersetzt nicht einfach eine solche Vorstellung eines Ganzen der Menschheit. Sie besteht vielmehr überhaupt nicht in einer Vorstellung vom Ganzen und einer Ordnung, in der dieses sich realisiert, sondern im Zusammenhang von Personen, die durch das Bewusstsein von ethischem Leid, also Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen, motiviert sind, sich für die Befreiung von diesem zu engagieren. Wenn Personen in einem Verhältnis solidarischer Interaktion in Relation zueinander stehen, können Widersprüche und Widerstreitigkeiten in Kontroversen durch das Geben und Erfragen von Gründen ausgetragen werden. Die Verschiebung des ethischen Fortschritts vom Fortgang der Menschheit auf die Befreiung der einzelnen Person fordert also dazu heraus, deren praktische Entwicklung aus dieser Kontroverse heraus zu betrachten, in der sie in Einheit mit anderen in solidarischer Interaktion steht und die zur argumentativ herausgebildeten Einsicht »Unsere Weise zu handeln muss sich ändern« führt. Diese Betrachtungsweise ist durch eine negative Ethik, die im Bewusstsein ethischen Leides ansetzt (vgl. Kapitel 4), motiviert und kann somit nicht davon ausgehen, dass die praktische Entwicklung einer Person notwendig und immer schon mit der Entwicklung eines Kollektivs und dem Gesamtprozess der Geschichte der Menschheit im Einklang steht. Die Frage, wie eine Person sich auf eine Weise entwickeln kann, sodass sie dadurch einen ethischen Fortschritt herbeiführt, ist also durch die Frage zu erklären, wie sie sich in solidarischer Interaktion praktisch entwickeln kann. Da solidarische Interaktion von der Unbestimmtheit des ethisch Guten ausgeht, ist die praktische Entwicklung also innerhalb einer argumentativen Kontroverse darüber zu begreifen, was zu negieren sei, weil es verletzend ist, und was zu tun sei, weil dadurch Leid überwunden wird. Um die praktische Entwicklung in Verbindung mit dieser Art von Kontroverse zu begreifen, will ich von Iris Murdochs Aufsatz »The Idea of Perfection« ausgehen, da sie in diesem Aufsatz moralische Begrifflichkeiten als »concrete universals« 331 innerhalb des Lebensvollzuges einer Person betrachtet. Ihre Position kann in drei Punkten zusammengefasst werden. Erstens sind 331 Iris Murdoch: The Idea of Perfection. In: Ders.: The Sovereignity of Good. London/ New York 2014, S. 37.
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moralische Begrifflichkeiten nicht durch ein Ideal eines perfekten, neutralen Akteurs zu verstehen, das den Umständen des Lebensvollzuges einer Person äußerlich ist. 332 Zweitens sind sie stattdessen mit fortwährender Entwicklung und Wandel im Lebensvollzug einer Person verbunden. 333 Drittens ist fortwährende Entwicklung und Wandel im Zusammenhang mit den vielfältigen Erfahrungen, die eine Person im Vollzuge ihres Lebens macht, zu verstehen. 334 Nach Murdoch entwickelt und wandelt eine Person die Auffassung von Werten und moralischen Begrifflichkeiten fortwährend, weil sie ihre Weise zu denken und zu handeln in vielfältigen kontroversen Erfahrungen, die sie in verschiedenen Lebenssituationen und in Relation zu verschiedenen anderen Personen macht, befragt. Die praktische Entwicklung einer Person besteht demnach darin, mit jeder kontroversen Erfahrung ein verfeinertes Verständnis von moralischen Begrifflichkeiten zu entwickeln. Eine Krise in der Beziehung zu einer anderen Person kann zum Beispiel zu einem verfeinerten Verständnis von Treue führen. Doch die Verfeinerung und Vertiefung des Verständnisses moralischer Begrifflichkeiten an Erfahrungen, die eine Person im Vollzuge ihres Lebens macht, kann allein noch kein Verständnis ethischen Fortschritts liefern. Dazu bedarf es zudem noch einer Rechtfertigung, die zeigt, dass durch fortwährende Entwicklung und Wandel ethisches Leid überwunden wird. Erst eine Rechtfertigung, die vom Bewusstsein ethischen Leides ausgeht, führt aus einer Kontroverse über Verletzungen und Verfehlungen zu einer Befreiung vom Leid. Eine Befreiung von ethischem Leid besteht in der Bindung einer Person an eine neue Auffassung des Guten in normativen Ansprüchen und Versprechungen (vgl. Kapitel 5, Abschnitt II, § 2). Diese Bindung gilt als gerechtfertigt, wenn durch eine neue Auffassung von Werten und Handlungsweisen die Gefahr von Verfehlungen und Verletzungen überwunden wird. Im Lebensvollzug der einzelnen Person, die sich immer wieder befragt, ist eine Befreiung vom Leid und somit ethischer Fortschritt also möglich. Es stellt sich nun die Frage, wie in diesem partikularen kontroversen Prozess die Rechtfertigung, dass dadurch Gefahren von Verfehlungen und Verletzungen abgewendet werden, möglich ist. Murdoch beschreibt zwar in Beispielen, wie eine Person sich mit ihrer 332 333 334
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Ibidem, S. 37 und S. 39. Ibidem, S. 35–36. Ibidem, S. 37.
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Haltung zu einer anderen Person auseinandersetzt, doch bleibt ihr Ansatz monologisch, da sie nicht auf die Interaktion zwischen Personen im Entwicklungsprozess selbst eingeht. 335 In der monologischen Kontroverse mit diesen Widersprüchen kann sie aber nur mögliche Verfehlungen ihrerseits und Verletzungen anderer Personen erwägen. Die monologische Kontroverse bleibt bezüglich der Rechtfertigung somit unvollständig, da sie nicht von konkreten Verletzungen einer anderen Person ausgeht und somit auch ihre Verfehlungen nicht vollständig begreifen kann. Es bleibt bei Erwägungen darüber in der Reflexion. 336 Somit kann auch zugleich die Rechtfertigung, die zur Befreiung von diesen Gefahren einer Verletzung und Verfehlung führt, nicht ohne Interaktion mit konkreten anderen Personen abschließend erlangt werden. Eine Person kann zum Beispiel erwägen, dass eine bestimmte Weise Kinder zu erziehen grausam ist, indem sie die Reaktionen von verschiedenen Kindern versucht zu beobachten und zu interpretieren. Doch dass eine Erziehungsweise grausam ist, somit Kinder davon zu befreien sind, kann erst im Dialog mit denjenigen, die eine solche Erziehung erfahren oder erfahren haben, gerechtfertigt werden. 337 Die praktische Entwicklung der Person kann somit erst als ethischer Fortschritt aufgefasst werden, wenn Bezug auf konkrete Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen in konkreten Kontroversen mit anderen Personen besteht, da sie erst dann durch einen realen und nicht bloß erwogenen Widerspruch motiviert wird. Die praktische Entwicklung der Person kann also erst als Befreiung von ethischem Leid gerechtfertigt werden, wenn sie aus einer dialogischen Kontroverse in Form solidarischer Interaktion vollzogen wird. In der Befreiung von ethischem Leid ist der Dialog unabdinglich, auch wenn dieser erst in der praktischen Entwicklung der Person auf ihre je eigene Weise wirksam wird. Durch eine dialogische Kontroverse, die von konkreten Gefahren von Verfehlungen und VerletVgl. Murdochs Beispiel in Ibidem, S. 16–17. Erklärungen dieser Art liefern zum Beispiel Christine Korsgaard in The Sources of Normativity, wenn sie vom »reflective Standpoint« spricht (Christine Korsgaard: The Sources of Normativity. Cambridge 1996, S. 161.). 337 Dieses Beispiel birgt viele Schwierigkeiten in sich, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass Kinder sich über ihre Situation klar artikulieren können. Man kann unabhängig von auftretenden praktischen Problemen dieses Beispiel auch auf anderer Ebene interpretieren. Zum Beispiel kann ein solcher Dialog zu einer Änderung der Erziehungsweisen führen, wenn sich eine Generation von der militärisch-autoritären Erziehungsweise ihrer Eltern löst und stattdessen im Dialog Kontroversen über eine bessere Erziehungsmethode für ihre Kinder ausführt. 335 336
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zungen in Umständen einer Situation ausgeht, kann dann erst die allgemeine und unbedingte Verbindlichkeit praktischer Entwicklung konkret gefasst werden, die in der Vorstellung vom Fortgang der Menschheit bloß abstrakt vorausgesetzt wird.
II.
Ethischer Dialog als Überwindung ethischen Leides
In diesem Abschnitt wird die Art der praktischen Entwicklung einer Person dargestellt, in der ethischer Fortschritt stattfindet. Diese Art praktischer Entwicklung einer Person ist als ethische Bildung zu fassen (§ 1). Ethische Bildung unterscheidet sich von anderen Bildungsformen dadurch, dass sie im ethischen Dialog, in dem fehlbare und verletzliche Personen interagieren, vollzogen wird (§ 2). Ein ethischer Dialog endet mit der Akzeptanz einer neuen Vorstellung vom Guten (§ 3), was eine Person in einen Zustand führt, in dem ethisches Leid überwunden ist (§ 4). Diese Auffassung eines ethischen Dialoges wirft die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen auf, unter denen er gelingen kann (§ 5).
1.
Ethische Bildung
Ethischer Fortschritt, der eine Befreiung von ethischem Leid darstellt, ist als praktische Entwicklung der Person zu verstehen, die die Form ethischen Lebens, also allgemein, unbedingt verbindlich Gutes auf unaustauschbare Weise im Vollzuge ihres Lebens zum Ausdruck bringt. Doch eine Befreiung von ethischem Leid stellt die praktische Entwicklung einer Person nur dann dar, wenn sie aus einer Kontoverse, die im Dialog ausgetragen wird, hervorgeht. Die Rechtfertigung der Einlösung normativer Ansprüche und Versprechungen, in denen die Kontroverse aufgelöst wird, bliebe ansonsten unvollständig. Die monologische Ausübung ethischer Überlegungen führen nur zu einer scheinbaren Rechtfertigung, die sich nicht an den konkreten Gefahren von Verletzungen und Verfehlungen bewiesen hat, sondern eine Erwägung bleibt. Es gilt nun zu zeigen, wie die dialogisch erlangte persönliche Entwicklung zu verstehen ist, sodass sie wiederum als ethischer Fortschritt, somit als Befreiung von ethischem Leid, somit als gerechtfertigt gilt. Lutz Wingert versucht in seinem Buch Gemeinsinn und 300
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Moral eine Erklärung für die Verschränkung der Ebenen der einzelnen Person und allgemein, unbedingt verbindlichen Geltungsansprüchen zu liefern. Letztere bestehen nach Wingert in intersubjektiven Bezügen, die im »doppelten Respekt« 338 mit der Perspektive der einzelnen Person verschränkt sind. Zum einen wird gegenüber dem, was für eine einzelne Person gut ist, Respekt gezeigt. Zum anderen wird gegenüber der intersubjektiv gestellten moralischen Forderung auf Rechtfertigung Respekt gezeigt. Beide Seiten des doppelten Respekts sind aufeinander bezogen, insofern in jeder intersubjektiven Rechtfertigung von einer Person gefordert wird, das, was sie als für sich gut betrachtet, daraufhin zu befragen, ob es vor anderen Personen gerechtfertigt werden kann. 339 Dennoch sind nach Wingerts Auffassung beide Ebenen prinzipiell unterschieden, da das, was mich betrifft und was intersubjektive Rechtfertigungsanforderungen betrifft, zwei verschiedene Fragen zum Gegenstand haben. Die Frage, was mich betrifft, beschäftigt sich zunächst nur mit dem für mich Guten, das für das Gelingen meines guten Lebens wichtig ist. Die Frage nach dem allgemein Richtigen stellt sich erst intersubjektiv in Bezug auf andere Personen. 340 In diesem Punkt ist der Ansatz einer negativen Ethik, für den ich hier argumentiere, von Wingerts an der Diskursethik orientiertem Ansatz fundamental verschieden. In der negativen Ethik werden die Ebene des für die jeweilige Person Guten und die des allgemein, unbedingt verbindlich Gerechtferigtem nicht prinzipiell unterschieden. Im Bewusstsein ethischen Leides besteht der Bezug darauf für die Person in ihrer Singularität immer schon. Intersubjektivität ist somit nicht konstitutiv für den Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit. Die Frage nach dem Bezug auf andere Personen stellt sich hingegen erst an dem Punkt, an dem nach der Ausdrückbarkeit ethischen Leides (Kapitel 4), an dem nach der Möglichkeit der argumentativen Interaktion über ethische Fragen (Kapitel 5) und letztendlich an dem nach der Möglichkeit ethischen Fortschritts gefragt wird. Es gilt nun die Art der praktischen Entwicklung einer Person zu bestimmen, die ihrer Form nach auf die Realisierung
338 Lutz Wingert: Gemeinsinn und Moral: Grundzüge einer intersubjektivistischen Moralkonzeption. Frankfurt am Main 1993, S. 179 ff. 339 Ibidem, S. 143 ff. und S. 153. 340 Vgl. Ibidem, S. 72 und S. 88 ff. Diese Abgrenzung von ontologischen Voraussetzungen der Diskursethik betrifft einen anderen Punkt als die in Kapitel 5, Abschnitt III.4 vollzogene Abgrenzung, die Unterschiede in der Erklärungsordnung betrifft
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des ethischen Anspruchs auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit ausgerichtet ist. Diese Art der praktischen Entwicklung der Person will ich im Folgenden ethische Bildung nennen. Ethische Bildung ist hier nicht allein als Lernprozess von Heranwachsenden zu betrachten. Ethische Bildung ist vielmehr als Art des Lebensvollzuges zu verstehen, der sich im Bewusstsein ethischen Leides fortwährend mit dem Ziel auf Übereinstimmung mit dem ethisch Guten entwickelt. Ein Bildungsprozess ist allgemein als eine Form der Interaktion zu verstehen, in der eine Person im Verhältnis zu einer anderen bestimmte Fähigkeiten herausbildet. 341 Es gilt hier also zunächst zu bestimmen, wie das Verhältnis zwischen Personen in einem ethischen Bildungsprozess beschaffen ist. An diesem Punkt ist eine Positionierung zu einer Debatte über die Möglichkeit der Weitergabe von Wissen nötig. In dieser Debatte findet eine Auseinandersetzung mit der Frage statt, ob es möglich ist, Wissen durch die Mitteilung einer anderen Person zu erwerben. Im Englischen wird das dem Altgriechischen entlehnte Wort testimony dafür verwendet. Mit testimony wird auf die Zeugenschaft desjenigen verwiesen, der einer anderen Person etwas mitteilt. Die Zeugenschaft einer Person wird in dieser Debatte etwa als Merkmal betrachtet, das diese zu einem Experten macht, der einer anderen Person Wissen vermitteln kann. Es wird also nicht bloß die Zeugenschaft bezüglich konkreter Ereignisse diskutiert. Jemand, der Expertise im Herstellen von Schuhen hat, weiß was als Schuhmacher zu tun ist und kann es Lehrlingen beibringen. Derjenige, der mit dem Brauchtum einer Gemeinschaft vertraut ist und somit gegenüber denjenigen, die nicht Teil dieser Gemeinschaft sind, Expertise besitzt, kann an bestimmten Hochzeitsfeiern teilnehmen. Um einen ethischen Bildungsprozess zu vollziehen bedürfe es also, so könnte man annehmen, ethischer Experten, die andere Personen darin unterrichten können, was gut zu tun ist. Durch solche Experten wäre dann moral testimony möglich. Ausgegangen wird in der Debatte um die Möglichkeit von moral testimony von der Annahme, ein Experte in ethischen Fragen zeichne sich dadurch aus, dass er sich, etwa aufgrund besserer Informationen und Erfahrung, in einer herausgestellten Position befinde, um eine 341 An diesem Punkt begreifen wir also erst, wie die Herausbildung von Fähigkeiten zur Ausübung guter ethischer Praktiken möglich wird, die in Kapitel 2, Abschnitt II diskutiert wird.
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richtige Beurteilung ethisch relevanter Probleme vorzunehmen. 342 Aufgrund der herausgestellten Position, die den Experten auszeichnet, ist der Unwissende, der nicht Experte ist, von ihm abhängig, um sich zu einem ethisch relevanten Problem verhalten zu können. Doch diese unterstellte Abhängigkeit des Unwissenden vom Wissenden, des Laien vom Experten, setzt voraus, dass derjenige, der vom Rat des Experten abhängt und diesem seine Entscheidung überträgt, sich selbst keine Autorität in ethischen Fragen zuschreibt und sie dem Experten überschreibt. Erst mit dem Erlangen der eigenen Expertise wird diese Autorität gewonnen. Doch es ist fraglich, ob die Überschreibung der Autorität im Urteilen auf jemand anderen, eben einen Experten, überhaupt möglich ist. Eine entgegengesetzte Argumentationslinie zeigt deshalb, dass ethisches Wissen nicht schlicht von einem Subjekt aufs andere übertragbar ist, da es nicht festgeschrieben ist, sondern im Verständnis eines Wertes einer Person in einer bestimmten Situation liegt, 343 was uns ja schon Platon in seiner Schriftkritik zeigt. 344 Demnach kann der Experte nicht so viel leisten, wie zunächst angenommen, da jede Person eigenständig ein Verständnis bestimmter Werte und Normen entwickeln muss, um sie situativ anwenden zu können. Sie muss zum Beispiel diejenige, die der Hilfe bedarf, als solche erkennen können. Aus dieser Perspektive kann ein Experte dem Unwissenden lediglich einen Hinweis oder Ratschlag geben. Aber der Verweis auf einen Experten ist nicht möglich, um ein Verständnis von moralischen Fragen zu erwerben. Der Verweis auf den Experten kann also auch nicht als primärer Bezugspunkt für ethische Bildung angenommen werden. 345 In einem weiteren Argumentationsstrang der Debatte um die Möglichkeit von moral testimony wird die Möglichkeit eines Bildungs- oder Lernprozesses auf der Grundlage einer Unterscheidung 342 Vgl. David Enoch: A Defense of Moral Deference. In: Journal of Philosophy. 111/5 (2014), S. 229–258, und Sarah MacGrath: Skepticism about Moral Expertise as a Puzzle of Moral Deference. In: Journal of Philosophy 108/3 (2011), S. 111–137. In der Diskussion um die Möglichkeit von »moral testimony« wird ein Experte als jemand, der in einer epistemisch besseren Position ist, charakterisiert. 343 Vgl. für diesen Punkt insbesondere Alison Hills: Moral Testimony and Moral Epistemology. In: Ethics. 120 (2009), S. 94–127. 344 Vgl. Platon: Phaidros. Übersetzt durch F. D. E. Schleiermacher. Sämtliche Werke Band 2. Reinbeck bei Hamburg 2006, 276 a. 345 Vgl. Paulina Sliwa: In Defense of Moral Testimony. In: Philosophical Studies. 158/2 (2012), S. 175–195.
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von Experten und Laien noch weiter hinterfragt, indem gezeigt wird, dass der Experte als solcher durch Laien anerkannt werden muss, um Wissen vermitteln zu können. Diese Anerkennung beruht nicht auf der Kompetenz eines Laien, einen Experten durch Merkmale zu erkennen. 346 Denn selbst wenn es solche Merkmale gibt, müssen Personen schon in einer Relation stehen, um sich als Laien und Experten oder Schüler und Lehrer erkennen zu können. Aus diesem Argumentationsstrang folgt, dass der Status des Experten auf einer tieferen Ebene von der Relation zur anderen Person, als zweiter Person, abhängt. 347 Nur wo solch ein Verhältnis zwischen Personen besteht, kann eine Person einer anderen zum Ratgeber oder Lehrer werden. Wenn dieses Verhältnis, in dem Personen sich als Schüler und Lehrer, Laie und Experte oder Vertreter von Anspruch X und Anspruch Y anerkennen, dem Bildungsprozess zugrunde liegt, kann nicht der Experte als dessen primäre Voraussetzung angenommen werden. Vielmehr kann die Unterscheidung des Status von Dialogteilnehmern sich erst innerhalb einer Relation zwischen Personen situativ herausstellen. Das zeigt sich schon darin, dass jede Person, je nach ihren Prägungen und Wissenshintergründen, auf eine andere Weise sich zu ihrem Lehrer bzw. Schüler verhält. Ein ethischer Bildungsprozess kann also nur ausgehend von einem Verhältnis von Personen, das sich aus einer Situation, in der ethisches Leid thematisiert wird, herausstellen. Dieses Verhältnis ist als solidarische Interaktion zu verstehen, wie in Abschnitt III. von Kapitel 5 gezeigt wurde. Hier gilt es nun zu zeigen, wie sich innerhalb dieser Form der Interaktion ein Bildungsverhältnis herausstellt.
2.
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Ein Bildungsprozess kann nicht auf der Grundlage der Unterscheidung von Experten und Laien verstanden werden, sondern unter der Voraussetzung eines Anerkennungsverhältnisses in solidarischer In346 Vgl. Julia Driver: Autonomy and the Asymetry Problem for Moral Expertise. In: Philosophical Studies 128/3 (2006), S. 619–644, und Philip Nickel: Authority of Moral Testimony. In: Ethical Theory and Moral Practice. 4/3 (2001), S. 253–266. 347 Hier spiegeln sich verschiedene metaethische Positionen wider. Moralische Realisten argumentieren zumeist für moralische Experten, die normative Tatsachen kennen. Diejenigen, die gegen die Annahme moralischer Experten sind, nehmen zumeist subjektivistische Positionen ein (wie z. B. Expressivismus oder Konstruktivismus).
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teraktion als dessen Möglichkeitsbedingung. Dass ein Anerkennungsverhältnis in solidarischer Interaktion als Möglichkeitsbedingung eines Bildungsprozesses vorausgesetzt wird, ist unterschieden von Bestimmungen der Möglichkeitsbedingungen der Interaktion von Personen durch »Diskursregeln« (Habermas) oder »Strukturbedingungen zeitgenössischer Gesellschaften« 348 (Honneth). Solche Auffassungen der Möglichkeitsbedingungen von Interaktion berufen sich auf eine höherstufige Strukturebene, durch die die Interaktion von Personen, unter den Umständen der Situationen, in denen sie sich befinden, erst ermöglicht werden soll. Doch diese Auffassungen von Möglichkeitsbedingung der Interaktion abstrahieren von der Situation, in der in Bezug auf gegebene Umstände Personen tatsächlich interagieren. Die Darstellung der Form der Interaktion, in der ein Bildungsprozess möglich wird, ist also nicht mit der Voraussetzung höherstufiger Bedingungen eines »Diskurses« oder »Strukturbedingungen zeitgenössischer Gesellschaften«, die ein ethisches Verhältnis von Personen zueinander erst ermöglichen sollen, zu vergleichen. Deshalb wird hier auch nicht vom Diskurs, sondern vom Dialog geredet. Ein Dialog stellt ein lokales Interaktionsverhältnis von Personen dar, für das, im ethischen Bewusstsein, Leid als Gefahr von Verletzungen und Verfehlungen unter den Umständen einer Situation bestimmend ist. Dass es im Bildungsprozess zum Verhältnis von Laie und Experte oder Lehrer und Schüler kommen kann, ist ausgehend vom Dialog als lokaler Interaktion nicht ausgeschlossen. Doch diese Verhältnisse stellen bloß Varianten der Relation zwischen Personen dar, die sich lokal, je nach Beschaffenheit der Umstände und Prägungen der beteiligten Personen, herausstellen können. Im Fall des Verhältnisses von Lehrer und Schüler stellt sich der Status beider zum Beispiel schon durch die Bildungsinstitution heraus, die die Umstände einer Situation mit bestimmt. In verschiedenen Arten von Bildungs- und Lernprozessen gestaltet sich dieses Anerkennungsverhältnis im Dialog als lokaler Interaktion zwischen Personen unterschiedlich. Ein spezifisch ethischer Bildungsprozess hat die Überwindung von ethischem Leid, also die Abwendung von Gefahren der Verletzung und Verfehlung, denen einen Person ausgesetzt ist, zum Ziel. Im ethischen Dialog gestaltet sich das Anerkennungsverhältnis zwischen Personen als eines von 348 Axel Honneth: Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin 2011, S. 25.
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verletzbaren und fehlbaren Personen. Ethische Bildung kann also nur dort gelingen, wo sich eine Relation zwischen Verletztem und Schuldigem bzw. Täter und Opfer herausstellt, indem Beschuldigungen aufgeworfen und Gründe eingefordert werden. In der Form dieser Relation, in der sich Personen als Verletzte und Schuldige oder Täter und Opfer adressieren, kann die Frage nach der guten ethischen Praxis, in der ethisches Leid überwunden wird, gestellt werden. Diese Relation besteht nun nicht in einer ethischen Überpraxis, sondern tritt situativ in verschiedenen Gestalten auf. Nach Michael Thompson muss diese Relation folglich in verschiedenen Gängen (»gears«) eingestellt werden, um praktisch vollzogen zu werden. 349 Das heißt, sie nimmt eine schematisierte Gestalt an, nach der Personen sich adressieren – verschiedene Institutionen des Rechtssystems oder Erziehungsweisen stellen Beispiele solcher schematisierter Gestalten, sich zu adressieren, dar. 350 Zugleich tritt hier das Problem auf, dass institutionalisierte, eingeübte schematisierte Weisen, sich als Opfer und Täter zu adressieren, zu statischen Konventionen werden. Das hat zur Folge, dass nur die Sachverhalte als ethisches Leid oder Unrecht erfasst werden können, die konventionalisiert und eingeübt wurden. Die Weise sich zu adressieren bliebe dann rein affirmativ. Daraus folgte, dass die Relation von Opfer und Täter dann nicht mit dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingter Verbindlichkeit gefasst werden könnte, das ja in keiner schematisierten Form des Verhaltens erschöpfend dargestellt werden kann. Um darauf Bezug zu nehmen, muss in diese Relation zwischen Personen ein kritisches Verhältnis zu schematisierten Weisen, sich zu adressieren, einbegriffen werden. Begreifen wir das ethische Bewusstsein, das in einer Form der Interaktion dargestellt wird, ausgehend vom Bewusstsein ethischen Leides, können wir also nicht wie Thompson von einer schematisierten Weise, die zweite Person zu adressieren, ausgehen, an die Teilnehmer einer Institution oder Konvention gebunden sind. Ein ethischer Dialog beginnt hingegen mit deren Infragestellung aufgrund von ethischem Leid. Deshalb ist ethischer Dialog kontrovers und kritisch, aber nicht affirmativ. Eine Gestalt nimmt er an in einem prak349 Vgl. Michael Thompson: What Is It to Wrong Someone? A Puzzle about Justice. In: R. Jay Wallace / Philip Pettit / Samuel Scheffler / Michael Smith (Hrsgg.): Reason and Value. Oxford 2004, S. 334–384. 350 Vgl. Ibidem, S. 342–347.
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tischen Problem, Konflikt oder Widerspruch innerhalb eingeübter ethischer Praktiken. Die Gestalt, die er annimmt, ist nicht durch die eingeübte Teilnahme an Praktiken vorgeprägt. Im Kontext von einem praktischen Problem, Konflikt oder Widerspruch nehmen Personen den Status des fehlbaren oder verletzbaren bzw. des Täters oder Opfers ein. Sobald die Gestalt des ethischen Dialoges institutionalisiert oder konventionalisiert wird, wie im Erziehungs- oder Rechtswesen, ist er durch den zufälligen Umstand von deren Zustandekommen und Bestehen bedingt. Dann büßt das Verhältnis der Dialogpartner seinen ethisch normativen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit ein. Durch ihn wird somit auch die Infragestellung seiner eigenen Institutionalisierung und Konventionalisierung möglich, da im ethischen Dialog die Relation zwischen Personen auf einer basalen Ebene besteht, die die Bindung an eine konkrete Auffassung von Praktiken selbst zum Gegenstand hat; deshalb ist ethischer Dialog kritisch. In einem solchen Dialog entsteht durch die Entwicklung einer Auffassung einer guten ethischen Praxis Neues. Wo Neues in Form einer Auffassung einer guten ethischen Praxis, die bindend ist, entsteht, findet auch ein ethischer Bildungsprozess statt, der nicht in eine schematisierte, etablierte Weise, eine Praxis auszuüben, einführt, sondern eine Auffassung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten realisiert. Wir sehen also, ethischer Dialog schließt an den im vorherigen Kapitel 5 entwickelten Begriff der solidarischen Interaktion an. Der Begriff des ethischen Dialoges führt den Begriff der Solidarität mit den Leidenden weiter aus, insofern darin ethische Bildung, also eine Weise der Realisierung guter ethischer Praktiken möglich wird. Bezüglich der Realisierung des ethisch Guten könnte man sich auch solidarisch interagierend zurückhalten und gemeinsam auf bessere Zeiten warten. In dem Ziel der Realisierung des Guten stehen verschiedene Personen immer schon in einem normativen Zusammenhang, wenn sie als Opfer und Täter Beschuldigungen darlegen oder Gründe einfordern. Dieses Ziel bindet diejenigen normativ, die an einem Dialog teilnehmen. Dort wo ein solcher Dialog zu einem Ende kommt, wenn dieses Ziel also realisiert wird, findet ethische Bildung und somit ethischer Fortschritt statt.
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3.
Das Ende des ethischen Dialoges
Wenn ein ethischer Dialog zu einem Ende kommt, findet ethische Bildung, dadurch die Überwindung ethischen Leides und folglich ethischer Fortschritt statt. Das Ziel, das diejenigen Personen, die einen ethischen Dialog zu Ende gebracht haben, realisieren, stellt der Zustand dar, in dem ethisches Leid überwunden ist. Am Ende des ethischen Dialoges haben zwei oder mehrere Personen ihre Weise zu handeln und ihre evaluativen Haltungen entwickelt, sodass vorherige Verfehlungen und Verletzungen nicht mehr bestehen. Das heißt, es besteht praktisch nicht länger die Differenz von Opfer und Täter, in der Personen ethisches Leben verfehlen und einander verletzen. Doch bisher wurde das noch zu erreichende Ziel, das die normative Verbindung zwischen Dialogpartnern darstellt, bloß negativ als Zustand, in dem ethisches Leid überwunden ist, charakterisiert. Es stellt sich jedoch die Frage, wie dieser Zustand als Zustand einer Person zu verstehen ist, die ihn durch praktische Entwicklung erlangt hat. Richard Morans Darstellung einer abgeschlossenen Handlung des Mitteilens und Erzählens ist hilfreich, um diesen Zustand zu verstehen. Er sagt: When an act of telling completes itself, speaker and audience are aligned in this way through their mutual recognition of the speaker’s role in determining the kind of reason for belief that is up for acceptance, so that when the speaker is believed there is a non-accidental relation between the reason presented and the reason accepted. 351
Eine Mitteilung kann nach Moran gelingen, wenn zwischen Personen in ihren Rollen als Sprecher und Zuhörer als solche, die, bestimmt durch ihre jeweilige Lage, Gründe und Argumente geben, gegenseitige Anerkennung besteht (»mutual recognition«). Das Gelingen einer Mitteilung kann folglich nicht allein aufgrund apriorischer Bedingungen der Überzeugungskraft oder Glaubwürdigkeit von Aussagen, unabhängig von der Lage dessen, der sie tätigt, verstanden werden. 352 Zum gelungenen Ende kommt die Handlung des Mitteilens (»telling«), wenn die daran teilnehmenden Personen vorgebrachte Gründe akzeptieren (»acceptance«). Dann besteht Übereinstimmung zwi351 Richard Moran: Getting Told and Being Believed. In: Philosophers’ Imprint. 5/5 (2005), S. 25. Hervorhebungen von mir, E. J. 352 Ibidem, S. 2. Gegenstand der Kritik ist bei grundsätzlicher Übereinstimmung darin, dass eine Mitteilung keinen Verweis auf Evidenz bedarf um gültig zu sein, C. A. J. Coady: Testimony. A Philosophical Study. Oxford 1992.
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schen Sprechern und Zuhörern in den jeweils akzeptierten Gründen. Im Akzeptieren der Gründe entwickelt eine Person einen neuen Zustand, da sie neues Wissen erwirbt. Daraus folgt nicht, dass alle verschiedenen am Dialog beteiligten Personen in den gleichen Zustand treten. Da der Ausgangszustand, zum Beispiel je nach Wissenshintergrund, verschieden ist, ist auch der Weg in einen neuen Zustand bei jeder Person verschieden. Erzählen und Mitteilen sind Handlungen, die als Dialog im Verhältnis zur zweiten Person vollzogen werden. Sie sind zu einem Ende gekommen, wenn Sprecher und Zuhörer, Adressant und Adressat Gründe vorgebracht und akzeptiert haben. Durch den Akt der Akzeptanz tritt eine Person in einen neuen Zustand, was sich in ihrer Sichtund Argumentationsweise über bestimmte Sachverhalte zeigen kann. Bei Moran wird solch ein Akt der Akzeptanz vor dem Hintergrund der schon oben in § 1 dieses Abschnitts (II.) erwähnten Debatte um testimony dargestellt, in der es um die Möglichkeit der Weitergabe von Wissen geht. Er führt den Gegenstand dieser Debatte dabei auf das Verhältnis zur zweiten Person zurück, in dem die Handlung des Mitteilens und Erzählens vollzogen wird, anstatt allein die allgemeinen Eigenschaften von Aussagen oder Sprechern zu diskutieren. Den Gegenstand der Akzeptanz stellen im Rahmen dieser Diskussion zunächst Gründe für Überzeugungen über verschiedene Tatsachen dar. Eine Person kann in einem Dialog zum Beispiel überzeugt werden, die Gründe für die Aussage zu akzeptieren, dass ein Zusammenhang zwischen dem CO2-Gehalt in der Erdatmosphäre und der Entwicklung des Klimas besteht. Mache ich diese Aussage, stellt sich an mich zunächst nur der normative Anspruch, zu zeigen, dass diese Aussage begründet ist. Das heißt, ich kann sie rechtfertigen, indem ich auf Evidenz verweise. In diesem Fall muss ich mich verantworten können, indem ich Gründe für meine Überzeugung gebe. Mache ich diese Aussage jedoch mit der Absicht, durch sie etwas mitzuteilen, besteht zudem der Anspruch an sie, dass sie von der adressierten Person verstanden wird. Das heißt, zum normativen Anspruch ihrer Richtigkeit kommt der kritische Anspruch, sie gegenüber Fragen, Einwänden und vor den verschiedenen Wissenshintergründen verschiedener Personen argumentativ darzustellen. Ich kann sie nicht einfach aussprechen und denjenigen als beschränkt oder uneinsichtig bezeichnen, der mir nicht glauben will, dass ein Zusammenhang zwischen CO2-Gehalt in der Erdatmosphäre und der Entwicklung des Klimas besteht. Im erklärenden Bezug auf andere Personen zeigt sich somit eine weiDie Negativität des Sittlichen
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tere Dimension der Verantwortung des Sprechers. Eine Person verantwortet sich gegenüber einer anderen Person, indem sie mit ihr zusammen zu einem Verständnis des Inhalts kommt, 353 was in unserem Beispiel verlangt, Bezug auf deren Auffassung zur Klimaentwicklung zu nehmen und die darin enthaltenen Annahmen zu widerlegen. Es handelt sich um »Denken für zwei« 354, das im gemeinsamen Verständnis einer Sache übereinstimmt, wenn beide Personen Gründe annehmen, durch die sie sich als verschiedene in einer Welt begreifen. Nach dieser Diskussion des Vollzugs von Erzählen und Mitteilen können wir ein Verständnis des Vollzuges und Abschlusses eines ethischen Dialoges gewinnen. Es gilt also zu verstehen, wie Personen im ethischen Dialog in einen neuen Zustand treten, indem sie Gründe akzeptieren. Dazu bedarf es einer weiteren Differenzierung, da der Inhalt, der darin mitgeteilt wird, von anderer Art ist. Der ethische Dialog, durch den ein ethischer Fortschritt, somit die Befreiung der Person erklärt werden soll, wird nicht in der Akzeptanz von Gründen für eine Aussage über eine beliebige, unabhängig vom Betrachter, in der Welt bestehenden Tatsache abgeschlossen, indem über sie ein gemeinsames Verständnis erlangt und akzeptiert werden muss. Der im ethischen Dialog behandelte und akzeptierte Inhalt besteht nicht unabhängig vom Vollzug eines solchen Dialoges in der Welt. Das heißt, durch die Akzeptanz von Gründen wird dessen Inhalt, die Vorstellung eines gemeinsamen Gutes einer Welt für Personen, erst realisiert. Zum Beispiel wird durch die Akzeptanz einer Vorstellung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten eine neue Bindung an eine neue Auffassung einer guten ethischen Praxis etabliert. Ein ethischer Dialog über den Zusammenhang von CO2-Gehalt in der Erdatmosphäre und Veränderung des Klimas betrifft nicht zuerst oder allein die Gründe dafür, dass dieser Zusammenhang besteht, sondern die Norm für eine Handlungsweise zur Vermeidung der Klimaerwärmung, womit ich die dadurch verursachten Schäden als Problem und Ibidem. Vgl. Sebastian Rödl: Self-Consciousness. Cambridge Mass. 2007, S. 190 und 197 (in der deutschsprachigen Ausgabe: Selbstbewusstsein. Übersetzt durch David Horst. Berlin 2011, S. 251.), Rödl erklärt die Einheit als Bedingung für ein praktisches Selbstverhältnis wie auch als Bedingung der zweiten Person. Er beachtet aber nicht, dass Verschiedenheit im Vollzug des »Denkens für zwei« elementar ist. Deswegen diskutiert er nur Einheit und Akt in Bezug auf die zweite Person, aber nicht den zeitlichen Prozess des Gebens und Erfragens von Gründen, in dem das Gemeinsame konkret verstanden wird. 353 354
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die Mittel zu deren Realisierung als relevant akzeptiere. Ein ethischer Dialog über diese Norm wird immer ausgehend von möglichen oder schon geschehenen Verletzungen und Verfehlungen geführt. In einem solchen Dialog wird deshalb zum Beispiel jemandem, der durch Klimaverschmutzung kurzfristig profitiert, der Wert des Erhaltens der Umwelt mit Verweis auf Dürren oder Überschwemmungen verdeutlicht. Die Akzeptanz einer Norm für eine Handlungsweise zur Vermeidung der Klimaerwärmung stellte einen ethischen Fortschritt dar, durch den eben nicht mehr Profiteure und Verlierer von Klimaveränderungen interagierten. Verschiedene Personen interagieren hingegen mit Bezug auf diese Norm, wobei immer noch Diskussionsbedarf bestehen mag, dann aber über die Frage nach deren besserer oder schlechterer Umsetzung. Die Verantwortung, die ich und du für einander haben, um in einem ethischen Dialog zu einer Auffassung einer guten ethischen Praxis zu gelangen, ist also als Ausdruck praktischer Verantwortung 355 zu verstehen. Praktisch ist die Übernahme von Verantwortung, wenn die Gründe, die nach argumentativem Austausch akzeptiert wurden, auch in einer guten ethischen Praxis wirksam werden. Die Realität einer guten ethischen Praxis besteht also nur durch ethischen Dialog – das ist anders, wenn Gründe für ein Verständnis über die äußerlich gegebene Realität akzeptiert werden, die etwa mit Verweis auf sinnliche Evidenz gegeben werden können. Eine ethische Praxis ist somit nicht unabhängig von deren Akzeptanz durch eine Person wirksam. 356 Der Akt der Akzeptanz einer Auffassung einer guten ethischen Praxis im ethischen Dialog ist, ausgehend vom ethischen Leid, folglich als dessen Überwindung zu denken. Die Praxis, Schwachen oder Armen zu helfen, wird zum Beispiel realisiert, wenn die Beseitigung von Benachteiligung oder Unrecht als Grund akzeptiert wurde, sich an sie zu binden. Im Begriff praktischer Verantwortung zeigt sich noch eine weitere Ebene des Unterschiedes zwischen dem Abschluss eines ethischen Dialoges und der gelungenen Mitteilung von bloßen Tatsachen. 355 Vgl. hierzu Jürgen Habermas Kritik an Robert Brandom in Jürgen Habermas: Von Kant zu Hegel. Zu Robert Brandoms Sprachpragmatik. In: Ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Erweiterte Auflage. Frankfurt am Main 2004, S. 177–178. 356 Das heißt nicht, dass praktische Verantwortung zu übernehmen verlangt, sich eine konstruktive Leistung zuzumuten, wie etwa Habermas sie von epistemischer Verantwortung abgrenzt. Eine gute ethische Praxis stellt kein Konstrukt dar, sondern ein Verständnis dessen, was ethisches Leid überwindet. Ibidem, S. 185.
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Praktische Verantwortung sucht notwendig den Bezug auf die zweite Person, während eine Aussage über etwa eine physikalische Tatsache auch monologisch formuliert bewiesen werden kann. 357 In dieser Relation zur zweiten Person können Fehler gemacht und Verbesserungen im Handeln vorgenommen werden. Monologische, ethische Überlegungen, die kein konkretes Du ansprechen, bleiben grundsätzlich mangelhaft und unabschließbar, weil sie dann die Formeigenschaften einer gemeinsamen ethischen Welt verfehlen. Daraus folgt jedoch wiederum nicht, dass ein Bewusstsein vom ethisch Guten auf eine bestimmte Form der intersubjektiven Interaktion, eine bestimmte Struktur der Kommunikation reduziert werden kann. Ein Bewusstsein vom allgemein, unbedingt verbindlich Guten ist insofern unabhängig vom Zustand der sozialen Welt. Ansonsten müsste angenommen werden, dass in einer ungerechten, schlechten Welt, in der Personen leiden und in der kein Dialog möglich ist, das Bewusstsein vom ethisch Guten einfach verschwinden würde. Jedoch kann nur im Vollzug bestimmter Formen des ethischen Bewusstseins, die wesentlich Formen der Interaktion und des Dialoges darstellen, eine praktisch-ethische Entwicklung von Personen gelingen, durch die Leid überwunden wird.
4.
Der neue Zustand
Vor dem Hintergrund dieser Erläuterungen zur Möglichkeit der Mitteilung und des Erzählens innerhalb eines ethischen Dialoges sehen wir nun, wie der Zustand zu begreifen ist, in dem eine Person von ethischem Leid befreit worden ist. Darin kann zunächst das Verständnis von ethischen Verfehlungen und Verletzungen und somit ein Bewusstsein von den Widersprüchen des eigenen Handelns entwickelt werden. Zugleich wird eine praktische Entwicklung einer Person vollzogen, wobei Normen und Weisen des Handelns entwickelt werden, die sie erstens von Gefahren der Verletzungen und Verfehlung befreien und zweitens anderen in einem Prozess des Gebens und Erfragens von Gründen mitgeteilt und vor diesen gerechtfertigt
357 Martin Buber wird eine solche Ansicht zugeschrieben. Jedoch anders als bei ihm folgt hier aus dem Verhältnis von Ich und Du nicht dessen notwendige Ausweitung auf Transzendentes. Vgl. Martin Buber: Ich und Du. 11. Aufl. Heidelberg 1983.
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werden. 358 Ein genuin ethisches Motiv wird nur zwischen verschiedenen, partikularen Personen wirksam, indem sie dazu kommen, es zu akzeptieren und dadurch die Differenz zwischen sich als Schuldigem und Verletztem, also als Täter und Opfer, also als Kläger und Angeklagtem etc. überwinden. Aus ihrer jeweiligen Lage innerhalb dieser Differenzen ist jede Person unvertretbar beim Akzeptieren der Gründe für eine neue Vorstellung vom Guten, also dessen, was ethisches Leben ausmacht. Somit ist auch eine Person im Vollzug der praktischen Entwicklung ihres Handelns und evaluativen Verhaltens unvertretbar. Der neue Zustand ist also nicht als kollektiver Zustand zu verstehen. Im Zusammenhang mit anderen vollzieht sich die praktische Entwicklung jeder Person partikular innerhalb ihres unverfügbaren und unvertretbaren Lebensvollzuges. So entwickelt sich zum Beispiel derjenige, der Schuld bekennt, anders als derjenige, der vergibt. Der neue Zustand, in dem ethischer Fortschritt als praktische Entwicklung vollzogen wurde, kann deshalb nur aus der Perspektive der ersten Person verstanden werden. Der Akt der Akzeptanz einer neuen Vorstellung des Guten ist somit wie folgt in vier Punkten darzustellen: (1) Ich begreife mein Tun durch neue Auffassungen normativer Ansprüche und Versprechungen. (2) Ich begreife, was ich vorher falsch gemacht habe und bekenne meine Schuld für das, was ich getan habe. (3) Ich sehe neue Sachverhalte als ethisch relevant an. (4) Ich sehe die möglichen Verletzungen, die mit diesen Sachverhalten einhergehen können oder einhergegangen sind, als ich sie noch nicht als relevant betrachtet habe. Einmal stehen (1) und (2) sowie (3) und (4) zusammen, weil sie nur in Bezug aufeinander verständlich sind. Ebenso stehen (1) und (3) zusammen, weil sie ein neues normatives Verständnis darstellen. (2) und (4) stehen zusammen, weil sie den Bezug auf das überwundene ethische Leid herstellen. Wir können das Beispiel zur Praxis der Erziehung aus Abschnitt I.5 dieses Kapitels nun genauer betrachten. 358 Somit geht vom Bezug auf eine andere Person auch nicht eine bestimmte Art individueller, abschließender Handlungsmotive wie romantische Liebe aus, die mit besonderer Intensität motivieren. Vgl. Harry Frankfurt: The Reasons of Love. Princeton/Oxford 2006, S. 56.
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Im Dialog von Verletztem und Schuldigem kann die Einsicht entstehen, dass die Anwendung von Gewalt in der Erziehung falsch ist. Als Erzieher interpretiere ich meine Handlungsmöglichkeiten gegenüber den Schülern somit neu (1). Diese Einsicht ist zudem untrennbar damit verbunden, dass ich mich selbst als Täter begreife, der durch Anwendung von Gewalt eine Verfehlung begeht, also einen anderen verletzt und zum Opfer macht (2). Stattdessen betrachte ich Geduld oder Unterstützung bei Schwierigkeiten als gutes Verhalten in der Erziehung (3). Somit sehe ich, inwiefern ein Mangel bestünde, wendete ich Gewalt in der Erziehung an (4). Meistens werden in der philosophischen Ethik nur Versionen von (1) und (3) beachtet. Durch (2) und (4) wird aber der Bezug des ethischen Bewusstseins auf das Bewusstsein ethischen Leides dargestellt, wodurch (1) und (3) erst mit dem ethischen Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit begriffen werden können. Was durch Bezug auf (2) und (4) erklärt wird, versuchen andere Ansätze in der philosophischen Ethik zumeist durch formale oder substantielle Bedingungen ethischer Überlegungen zu formulieren, was hier hinfällig wird. Der in dieser Abhandlung dargestellte Ansatz macht hingegen ethische Begründungsansprüche durch Erläuterung folgender Verschränkung verständlich: So wie im Bewusstsein des Leides der ethische Anspruch auf Allgemeinheit und unbedingte Verbindlichkeit immer schon anwesend ist, sind im ethischen Bewusstsein die Verletzungen und Verfehlungen, die überwunden werden, präsent, da nur in Bezug auf diese verstanden und artikuliert werden kann, was gut zu tun sei.
5.
Gesellschaftliche Bedingungen zum Erreichen des Endes ethischen Dialoges
Im bisherigen Argumentationsgang dieses Kapitels wurden die folgenden beiden Argumentationsschritte vollzogen. Erstens wurde gezeigt, dass ethischer Fortschritt nicht als ein übergeordneter historischer oder kollektiver, gesellschaftlicher Prozess verstanden werden kann, da er dann nicht als Befreiung einer Person von ethischem Leid begriffen werden kann (Abschnitt I.). Zweitens kann ethischer Fortschritt nur als praktische Entwicklung einer Person gefasst werden. Das heißt im ethischen Bildungsprozess wird eine Auffassung des allgemein, unbedingt verbindlich Guten entwickelt, wenn er im Dialog zwischen fehlbaren und verletzlichen Personen vollzogen wird (die314
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ser Abschnitt (II.)). Nun könnte an diesem Punkt ein dritter Argumentationsschritt als nötig erachtet werden. Dieser dritte Schritt würde nötig, wenn man aus den beiden genannten Argumentationsschritten folgert, dass die dargestellte Form ethischen Bewusstseins und ethischen Fortschritts eine bestimmte Form von Gesellschaftsordnung impliziert. In diesem dritten Schritt müsste dann dargestellt werden, inwiefern ethischer Fortschritt als praktische Entwicklung einer Person sich in einer bestimmten Struktur von gesellschaftlichen Institutionen voll entfaltet. Ein dritter Schritt im Argumentationsgang ist hier nicht nötig, da die ersten beiden nicht davon abhängen, dass sie erst in einer bestimmten Form von Gesellschaft und deren Institutionen aufgehen können. Sie führen aber dennoch unumgänglich zu der Frage nach gesellschaftlichen Bedingungen. Welche Rolle gesellschaftliche Bedingungen in Bezug auf den in diesem Kapitel dargelegten Begriff ethischen Fortschritts und die vorangegangenen Erörterungen des Bewusstseins ethischen Leides und solidarischer Interaktion spielen, wird anhand von Max Horkheimers Bestimmung des Begriffs der »kritischen Theorie« verständlich. Er zeigt, dass das Betreiben von Theorie in »konkreten historischen Zusammenhängen« und in einer »gesellschaftlichen Praxis« 359 steht. Historische und praktische Bedingungen müssen also in die Reflexion auf die Möglichkeit einer guten Praxis, so auch einer guten ethischen Praxis, einbezogen werden. 360 Der Kern von Horkheimers Begriffs »kritischer Theorie« besteht nun nicht darin, dass »historische Zusammenhänge« und »gesellschaftliche Praxis« als neue Begriffe oder Erklärungskategorien hinzukommen. Auch stellen diese nicht Codes einer Epoche oder Kultur als »historisches Apriori« 361 dar, worauf die Reflexion auf die gute ethische Praxis relativiert wird. Historische und gesellschaftliche Bedingungen werden im Rahmen einer »kritischen Theorie« auch nicht theoretisch als Verwirklichung des ethisch Guten oder als Beitrag zum Fortschritt der Menschheit entworfen. Vielmehr sind »gesellschaftliche Praxis« und »historische Zusammenhänge« als gegebener 359 Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. In: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. 6. Aufl. Frankfurt am Main 2005, S. 212. 360 Vgl. auch Christoph Menkes Darstellung dieses Zusammenhanges in Tugend und Reflexion. Die Antinomien der Moralphilosophie. In: Ders.: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main 2004. 361 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt durch Ulrich Köppen. Frankfurt am Main 1974, S. 24.
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Ethischer Fortschritt
Kontext jeder Reflexion kritisch zu betrachten und darin enthaltene Affirmationen freizulegen. Für die Ethik folgt aus einer Thematisierung des »historischen Kontextes« und der »gesellschaftlichen Praxis« im Rahmen einer kritischen Theorie zunächst nur, dass sie die praktischen Umstände darstellen, in denen eine Person ein Bewusstsein vom ethisch Guten herausbilden kann. Von diesen Umständen kann sie nicht abstrahieren. Es hängt auch von gegebenen gesellschaftlichen und historischen Umständen ab, in denen eine Person sich befindet, wie sie ein ethisches Bewusstsein herausbildet, also ob sie eine gute moralische Bildung erfährt und in einer Kultur lebt, in der ein ethischer Dialog möglich ist. Davon hängt auch ab, ob Zusammenhänge und Konsequenzen verschiedener Handlungsweisen und Praktiken erfasst werden können. Die vollkommenen gesellschaftlichen, sozialen und historischen Bedingungen können nun nicht durch einen Begriff der Form ethischen Bewusstseins, der vom Bewusstsein ethischen Leides ausgeht, entworfen werden. Durch die Form des ethischen Bewusstseins können gesellschaftliche, soziale und historische Bedingungen jedoch kritisch betrachtet werden. Diese sind daraufhin zu betrachten, inwiefern sie ethische Verfehlungen und Verletzungen begünstigen, solidarische Interaktion und persönliche, praktische Entwicklung durch ethischen Dialog zulassen. Auf dieser Grundlage könnten dann womöglich sozialtheoretische Überlegungen erst einen Begriff guter gesellschaftlicher Institutionen entwickeln. Eine kritische Betrachtung gesellschaftlicher, sozialer und historischer Bedingungen ist erst möglich, wenn das Bewusstsein vom ethisch Guten nicht darin aufgeht. Dass nach dem in dieser Abhandlung dargestellten Verständnis ethischen Bewusstseins diese Möglichkeit gegeben ist, zeigt sich daran, dass selbst wenn sich einer Person unter gegebenen gesellschaftlichen, sozialen und historischen Bedingungen kein Gestaltungsraum zeigt, sie eine Situation noch im Bewusstsein vom ethisch Guten, wenn auch nur negativ, betrachten kann. Es kann zum Beispiel der Fall sein, dass einer Person, aufgrund gegebener praktischer Umstände, nicht die Möglichkeit gegeben ist, Gutes zu tun, weil etwa nicht genügend Zeit und Mittel vorhanden sind, um alle Aspekte und Zusammenhänge zu kontrollieren, die zu einem Verständnis davon, was gut zu tun ist, nötig wären. Solch ein Fall, in dem Kontrolle über Handlungsmöglichkeiten- und folgen nicht möglich ist, kann unter verschiedensten Umständen eintreten, was sich an einem viel diskutierten Beispiel verdeutlichen lässt. In 316
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Ethischer Dialog als Überwindung ethischen Leides
diesem Beispiel kann eine Ration eines Medikamentes entweder fünf Personen, die ein Fünftel der Ration benötigen, oder eine Person, die die ganze Ration benötigt, retten. 362 Eine solche Situation im ethischen Bewusstsein zu betrachten, bedeutet nicht eine Handlungsweise als die richtige herauszustellen, was etwa utilitaristische Positionen beanspruchen. Nicht alle Konflikte können auf diese Weise aufgelöst werden. In diesem Sinne ist in dieser Situation richtiges Handeln nicht möglich, da es in jedem Fall Verletzte und Leidende geben wird. Eine solche Situation kann dennoch im Bewusstsein vom ethisch Guten betrachtet werden, insofern ein Bewusstsein für das, vermutlich unvermeidliche, entstehende Leid herausgebildet werden kann. An solchen unlösbaren Konfliktfällen zeigt sich die Begrenztheit sowie auch der umfassende Anspruch des hier entwickelten Begriffs der Form ethischen Bewusstseins. Dass ethische Überlegungen als ethischer Fortschritt abgeschlossen werden können, hängt auch vom Glück ab. Zum einen heißt das, ethischer Fortschritt ist auch davon abhängig, dass entsprechende gesellschaftliche, soziale und historische Zusammenhänge sowie genug Zeit gegeben sind, sodass solidarische Interaktion und ethische Bildung überhaupt möglich werden. Zum anderen heißt das, das Bewusstsein vom ethisch Guten kann durch äußere, gesellschaftliche, soziale oder historische Bedingungen und durch situative Umstände, in denen eine Person sich befindet, nicht erschöpfend erfasst werden. Selbst in einer Situation mit unlösbaren Konflikten kann eine Person noch Solidarität zeigen, auch ohne dass das Gelingen eines ethisch guten Lebens möglich ist. So ist also zumindest vorstellbar, dass ein Individuum eine Person mit einem Bewusstsein vom ethisch Guten bleibt, obwohl konkret keine Aussicht auf eine gelingendes, glückliches Leben besteht. Dieses Bewusstsein vom ethisch Guten könnte dann darin bestehen, das Leid anderer Personen zu beachten oder eigenes Leid zum Ausdruck zu bringen. Hier bleibt eine Person beim bloß negativen Bewusstsein ethischen Leides, ohne dass sie es jemals überwinden kann. Zugleich liegt in diesem der Ansatzpunkt für eine kritische Betrachtung gegebener gesellschaftlicher, sozialer und historischer Bedingungen, wodurch die Möglichkeit zur Überwindung ethischen Leides ermöglicht werden kann. 362 Vgl. für dieses Beispiel: Philippa Foot: The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect. In: Oxford Review. 5 (1967), S. 5–15, und in dieser Variante John M. Taurek: Should the Numbers Count? In: Philosophy and Public Affairs. 6/4 (1977), S. 294–295.
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PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
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Danksagung
Die Abfassung dieser Abhandlung wurde mir durch ein Stipendium des Graduiertenkollegs Lebensformen + Lebenswissen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Sie wurde als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam im April 2017 verteidigt. Zu danken habe ich zuerst meinem Betreuer und Erstgutachter Logi Gunnarsson, ohne dessen Offenheit und vielfältigen, konstruktiven Kommentare und Anregungen diese Abhandlung nicht in dieser Form vorliegen würde. Auch den Besuchern des Kolloquiums von Logi Gunnarsson sei an dieser Stelle für hilfreiche Kommentare zu Entwürfen einzelner Kapitel gedankt. Zudem gilt mein besonderer Dank Thomas Rentsch für die Übernahme des Zweitgutachtens und für motivierende und hilfreiche Kommentare zu Entwürfen einzelner Textabschnitte. Auch zu danken habe ich John McDowell, der mich an der University of Pittsburgh als Visiting Scholar aufgenommen und mir zum Beginn der Arbeit an dieser Abhandlung detailliertes Feedback gegeben hat. Ebenso sei Barbara Hermann von der University of California Los Angeles gedankt, die mir als Visiting Scholar ihre Zeit für hilfreiche Rückmeldungen zu meinem Projekt zur Verfügung stellte. Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber danke ich für die zuvorkommende Betreuung während des Prozesses der Publikation dieses Buches. Rabea Scheitz danke ich für das sorgfältige Lektorat.
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Sachregister
Affirmation 174, 193, 194, 195, 306, 316 Allgemeinheit 9–15, 17, 18, 19–22, 25, 56, 57, 64, 74, 77–80, 94, 126, 129, 138, 151, 154, 157, 158, 171, 176, 181, 183, 187, 188, 190, 191, 193, 195, 196, 205, 206, 209, 211, 212, 221, 227, 231, 251, 252–254, 260, 262, 264, 268, 271, 274, 281, 283, 288, 291, 292, 301, 302, 306, 307, 314 allgemein und unbedingt verbindlich Gute 16, 19, 30, 61, 68, 72, 82, 84, 107, 134, 140, 182, 197, 248, 254, 283 Anerkennung 16, 55, 108, 111, 208, 224, 257, 260, 261, 268, 273, 295, 304, 305, 308, 321, 323, 328 Anlage 87, 89, 98, 106, 153–156, 196, 199, 208, 211, 217, 225 Antinomie 25, 26, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 56, 57, 70, 74, 76, 118, 119, 153, 315 Auschwitz 144, 145, 286, 319 Ausdruck 12, 20, 31, 34, 38, 49, 60, 64–66, 68, 70, 71, 73, 86, 88, 95, 97– 99, 101, 105–107, 115, 118, 124, 133, 138, 142, 165, 191, 211, 215– 225, 230, 251, 267, 283, 286, 287, 300, 311, 317 Äußerung 177, 244, 245, 264, 269 Banalität des Bösen 160, 162, 163, 168, 319 Bedeutung 10, 16, 20, 25–27, 31, 32, 34, 41, 43, 48, 59, 65, 81, 139, 163,
172–174, 182, 183, 185, 207, 209, 224, 261, 268, 289 praktische Bedeutung 159, 172, 175, 176, 177, 181, 184, 185, 187, 191, 193, 194, 203, 241, 247 Befreiung 35, 37, 38, 41, 217, 284, 286–290, 292–300, 310, 314, 325 Bewusstsein 100, 125, 127–131, 135, 136, 140, 142, 143, 145, 148, 151, 158, 160, 161, 163, 164, 165, 169, 170, 171, 172, 173, 176, 177, 181– 188, 191–200, 202–206, 208, 213, 220, 227, 233, 252, 278, 295, 320 Bewusstsein, ethisches 172, 228, 229, 231, 234, 235, 239, 240, 246– 249, 254, 258, 262, 263, 280, 282– 284, 288, 305, 306, 314, 315, 316, 317 Bewusstsein ethischen Leides 197, 211, 229–234, 256, 257, 262, 266, 268, 269, 270, 272, 278, 279, 280– 285, 297, 298, 301, 302, 306, 314, 315, 316 Bildung 116–118, 266, 300, 306, 308, 316, 317 Bildungsprozess 302–305, 307, 314 Böse, das 120, 133–136, 140, 148– 164, 171, 181, 184–194, 196, 227, 281, 285, 291, 323, 326 Dialog 21, 207, 284, 299, 300, 304– 312, 314, 316 dichte Begriffe 254 Diskurs 13, 14, 21, 42, 47, 67, 68, 69, 124, 177, 184, 199, 263, 274–279, 301, 305, 319, 322, 324
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Sachregister Diskursethik 177, 184, 263, 274–279, 301, 322, 324 empiristisches Sinnkriterium 12, 18 Endzweck 11, 12, 15, 16, 17, 57, 65– 78, 80, 82, 83, 88, 89, 96–98, 102, 182, 289, 290, Ethik 16–21, 25, 26, 30–35, 38–50, 53, 61, 64, 67, 68, 69, 71, 72, 81, 110, 116, 119, 121, 122, 123, 126, 139, 143, 144, 145, 152, 156, 159, 160, 161, 163, 164, 166–168, 170– 174, 181, 182, 195, 196, 198, 229, 232, 247, 267, 275, 281, 286, 287, 295, 297, 301, 314, 316, 319, 320, 324, 326, 328, 329 ethisches Leben 71, 100, 153, 313 ethisches Leid 20, 21, 169, 181–198, 203–213, 215–226, 227–236, 241, 245–248, 254, 256–259, 261–263, 268–270, 278, 280, 281–288, 290, 293–302, 304–308, 311–317 eudaimonia (vgl. Glückseligkeit) 190 Fähigkeit 13, 14, 18, 19, 20, 21, 25, 26, 27, 31, 37, 42–46, 48–68, 70, 71, 73, 75, 76, 79, 83–90, 91–110, 116, 118, 121, 123, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 140, 143, 146, 148–162, 166, 167, 171, 182, 183, 197, 198, 199, 205, 208–210, 212, 216, 227, 228, 230, 231–235, 240, 247, 248, 249, 253, 254, 255, 262, 265, 281, 302, Fehlbarkeit 21, 119, 145, 158, 177, 234, 260, 282, 284, 327 Form 11, 15, 16, 18, 20- 22, 26, 27, 30, 33, 35, 44, 46–48, 49, 50, 57, 58, 63, 69, 73, 77, 78, 79, 81, 84, 89, 91, 94, 97, 99, 103, 106, 118, 126–128, 140, 144, 154, 165, 177, 181–184, 187, 188, 192, 193, 195, 210–213, 216, 217, 218, 220, 221, 222, 237, 239, 243, 247, 252, 259, 262–265, 267– 269, 272, 273, 274, 276, 278, 279,
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281–284, 286, 289, 292, 296, 299, 300, 301, 302, 304–307, 312, 315– 317, 321–324, 327 Form des Lebens 44–49, 51–52, 54– 56 Formanalyse 24, 26, 43, 44, 46–49, 52–57, 60, 61, 65, 66 Fortschritt 21, 283–299, 307–308, 313, 315, 317 Freiheit 13, 71, 79, 83, 102, 109, 120, 121, 133, 134, 139–158, 160– 169, 172, 181, 197, 198, 209, 211, 227, 271, 272, 291, 320, 322, 323, 324 Freiheit der Person 120, 121, 139, 140, 143–148, 150–153, 155–162, 165, 168, 169, 181, 198, 227 Gefahr der Verfehlung und Verletzung 120, 142, 159, 169–173, 175– 177, 181–184, 186, 189, 192–200, 202–206, 208–210, 215–217, 220, 222, 224, 225, 227–230, 232, 239, 240, 246, 247, 250, 254, 258–262, 266, 269, 279, 282, 283, 288, 291, 293, 295–300, 305, 312 Geltung (vgl. Geltungsanspruch) 20, 25, 26, 33, 41, 47, 53, 57, 60– 68, 123, 124, 127, 140, 157, 166, 184, 230, 248, 252, 269, 273, 278, 301 genealogische Betrachtung der Moral 121, 135–139, 141 Genese 56, 57, 60–65, 68 Gerechtigkeit 47, 198, 199, 202, 203, 273 Glück 181, 182, 189–192, 194, 196, 204, 291, 317, 323, 328 glückliche Leben, das 182, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 317 gute Leben, das 35, 43, 45, 67, 109, 173, 193 hexis (vgl. habitus und Gewohnheit) 87, 88, 89, 90, 91, 94, 95, 99 höchstes Gut 74, 76, 81
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Sachregister immanente Analyse der Moral 71, 72, 76–78, 81, 82, 84, 90, 96–99, 102– 104, 115, 119 Institution 61, 87, 89, 90, 111, 113, 132, 134, 175, 201, 203, 218, 238, 252, 253, 255, 257, 263, 266, 271– 274, 285, 287, 290, 305–307, 315– 316 intervenierende Äußerung 234, 235, 236, 237, 239, 240, 241, 242, 246, 247, 249, 250, 251, 254, 257, 259, 261, 262, 263, 268, 281 Klage 182, 204, 211, 215–225 Konsens 13, 274–280, 322 Konversion, ethische 80–83, 88–89, 96–101, 103–111 Kritik 11, 12, 14–16, 18, 19, 37, 53, 62, 64, 73, 76, 77, 81, 102, 110, 122, 123, 133, 137, 141–143, 184, 202, 203, 208, 213–215, 217, 270, 273, 308, 320, 321, 323 kritischer Anspruch 18, 19, 26, 35, 38–49, 52–54, 67, 68, 70, 72, 117, 118, 135 Lebensform 51–53, 55, 57, 71, 109– 114, 197, 201–211, 212, 217, 218, 222, 224, 227, 248, 267 Leib 198, 251, 252 Liebe 280, 281, 313 Lissabon 144–145, 319 malum physicum (vgl. physisches Leid) 187 Menschheit 155, 228, 237–240, 262, 283, 284, 290, 291–297, 300, 315 metaethischer Expressivismus 37, 42, 67, 221, 304 Metaphysik 11, 12, 14–19 Moral 13, 14, 18, 44, 46, 47, 48, 50, 52, 72–78, 81–84, 90, 96–99, 153– 156, 189–190, 231, 270, 271, 273, 277–279, 297, 298, 301 moral testimony 302–304, 323, 326, 328
moralische Tradition 96–98, 100, 101, 121–123, 258 Motiv 13, 34, 36, 37, 39, 47, 80, 103, 104, 108, 114, 141, 156, 157, 167, 168, 170, 184, 186, 228, 233, 234, 240, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 248, 250, 254, 257, 262, 269, 313 Natur 14–16, 18, 31, 32, 34, 50–52, 104–106, 144–146, 212, 213, 238, 294 nachmetaphysisches Denken 16, 108, 322, 323 Negativität 19, 21, 122, 144–147, 150, 152–154, 157–160, 168–169, 177, 181, 191–195, 208–211, 220, 222, 227–230, 269, 283, 295, 296, 327 Negation, praktische (vgl. Verneinung) 21, 227–237, 240–248, 251, 263, 264, 286 normative Ansprüche und Versprechungen 248–255, 257–260, 264– 266, 298, 300, 313 ontologische Merkmale 233, 234, 237–240, 246, 248, Opfer 18, 137, 163, 261, 285, 286, 309–308, 313, 314 Platonismus 27, 31, 34 praktische Vernunft 70, 73–75, 78, 80, 82, 84, 88, 102–107, 113, 118, 134, 151, 158, 159, 244 Praxis (vgl. praxis) 20, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 37, 38, 40, 43, 48, 56, 60, 67, 68, 70, 71, 83, 84, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 105, 106, 107, 109, 110, 111, 114, 115, 118, 121, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 143, 146, 153, 182, 306, 307, 310, 311, 315, 320 praktisches Problem 10, 11, 14–22, 159, 181, 186, 275, 282–285, 289, 299, 306, 307 Praxis, soziale 201, 213, 251, 257, 258, 260 Psychologie 48
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Sachregister Radikalität des Bösen 157, 162 Relevanz 100, 160, 163, 172–177, 181–187, 193, 194 Religion 71, 75–77, 98, 147, 151–153, 156, 158, 159, 160, 173, 177, 289
Überlegungen 26, 27, 30, 34, 37, 39, 41, 53, 55, 60, 61, 65, 125, 126, 151, 157, 173, 177, 195, 216, 225, 226, 242, 243, 262, 263, 267, 300, 312, 316, 317
Scheitern 46, 67, 114, 121, 127–134, 138, 139, 149, 151, 157, 162–164, 207 Selbstbesinnung 211–216 Selbstbewusstsein 46, 56, 81, 210, 310 Selbstgesetzgebung 72, 73, 102, 111– 114 Selbstkonstitution 209, 210 Selbstliebe 154–157 Sinnzusammenhang 16, 17, 25, 27, 31–34, 42, 53, 54, 65, 66, 117, 161, 174–176, 185, 187, 194, 232, 287, 290 Sittlichkeit 20, 70, 71, 77–83, 95, 98, 99, 101, 102, 106, 108–110, 113– 119, 120–122, 125–128, 138, 139, 142–144, 146–148, 150, 159 Solidarität 263, 266–274, 276, 278– 282, 297, 307, 317 Sprechakte 219, 234, 235, 240, 246, 247, 319
Verantwortung 37, 149, 163, 236, 237, 240, 260, 310–312 Verdrängung 120, 121, 124–137, 139–150, 151–153, 157–162, 174, 175, 177, 181, 206, 226 Verletzlichkeit 21, 159, 166, 176, 177, 224, 225, 234, 248, 259–261, 276– 278, 281, 284, 300, 314 Vermögen 78, 79, 83–89, 91, 98, 113, 137, 138, 148, 151, 156 Vernunft 134, 138, 142, 143, 147, 154, 155, 157, 205, 265, 281, 291,
Täter 137, 163, 261, 285–287, 306– 308, 313, 314 Teilnehmer 98, 201–205, 208, 209, 257, 258, 267 Theodizee 144, 145, 152 Transzendenz 70, 160, 170–172, 232– 234, 312
336
Wahlfreiheit 140, 149, 150, Wille, der 50, 51, 59, 71, 75, 76, 78– 80, 82, 83, 90, 95, 97, 98, 102, 113, 134, 143, 148, 156, 157, 162, 231 Willensfreiheit 13, 54 Praktischer Widerspruch 42, 119, 141, 175, 243 Wissen, ethisches 43–56 zweite Person 21, 219, 244, 245, 304, 306, 309, 310, 312 zweite Natur 104, 106, 145, 146, 198
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Emanuel John
https://doi.org/10.5771/9783495820698 .
Personenregister
Ackrill, J. 29, 319 Adorno, T. W. 16, 18, 145, 198, 205, 212–217, 232, 233, 293, 294–296, 319 Ammicht Quinn, R. 145, 319 Anscombe, G. E. M. 14, 44, 45, 48, 133, 134, 249, 250, 251, 319 Apel, K.-O. 274, 275, 319 Arendt, H. 21, 159, 161–164, 319, 323 Aristoteles 27, 28, 29, 31, 34, 68, 84, 86, 87, 92, 94, 95, 121, 190, 191, 319, 320, Arpaly, N. 36, 319 Austin, J. L. 234, 235, 319 Ayer, A. J. 12, 319 Baberowski, J. 172, 320 Badiou, A. 158, 290, 320 Bauer, F. 286 Benhabib, S. 121–124, 126, 127, 274, 320 Benjamin, W. 292, 293, 320 Bernstein, J. M. 19, 320 Bernstein, R. J. 163, 320 Bielefeldt, H. 237, 320 Bieri, P. 216, 320 Blackburn, S. 37, 42, 220, 320 Boltanski, L. 215, 320 Boyle, M. 103, 320 Buber, M. 312, 320 Burnyeat, M. 89, 91, 320 Butler, J. 137, 200, 320 Carnap, R. 12, 37, 320 Christman, J. 274, 320 Celikates, R. 213, 214, 320
Churchland, P. S. 50, 320 Cobben, P. 110, 321 Coady, C. A. J. 308, 321 Crary, A. 215, 321 Dancy, J. 63, 321 Darwall, S. 243, 244, 245, 246, 321 De Waal, F. 12, 321 Diamond, C. 38, 321 Dietrich, F. 238, 321 Dreyfus, H. L. 235, 321 Driver, J. 304, 321 Eichmann, A. 161, 162, 163, 319 Engels, F. 291, 325 Engstrom, S. 58, 95, 321, 325 Enoch, D. 60, 303, 321, Foot, P. 14, 50–53, 58, 189, 190, 317, 321, 322, 327 Forst, R. 47, 141, 142, 266, 321, 324 Foucault, M. 141, 315, 321 Frankfurt, H. 313, 321, 326 García Düttmann, A. 295, 321 Gilligan, C. 126, 321 Gibbard, A. 37, 42, 220, 221, 322 Geuss, R. 142, 217, 322 Gunnarsson, L. 184, 217, 276, 277, 322, 331 Gutman, A. 265, 275, 322 Haase, M. 57, 103, 242, 322 Habermas, J. 13, 16, 17, 47, 108, 184, 263, 265, 274–278, 305, 311, 322
Die Negativität des Sittlichen
A
https://doi.org/10.5771/9783495820698 .
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Personenregister Haffner, J. E. 231, 322 Hampe, M. 192, 323 Hegel, G. W. F. 19, 20, 46, 70, 71, 77, 78, 79, 80, 82–83, 87, 103, 106, 110– 112, 115, 118, 120, 121, 161, 177, 197, 198, 205, 276–278, 311, 320, 322–327 Heidegger, M. 17, 59, 216, 217, 232, 233, 323, 327 Hermann, B. 73, 199, 224, 323, 331 Heuer, W. 163, 323 Hills, A. 303, 323 Hindrichs, G. 19, 323 Hirschberger, J. 115, 323 Hoffmann, T. 55, 58, 99, 322, 323, 327 Höhn, H.-J. 81, 323 Honneth, A. 16, 108, 110, 141, 201, 305, 321, 323 Horkheimer, M. 315, 323 Hume, D. 11, 35, 36, 37, 38, 44, 53, 323, 328
MacGrath, S. 303, 325 MacIntyre, A. 15, 96–98, 199, 325 Mackie, J. L. 36, 325 Marx, K. 291, 325 McDowell, J. H. 14, 37, 62, 80, 93, 95, 103–107, 325, 327, 331 Maquard, O. 187, 325 Menke, C. 19, 111, 137, 138, 198, 205, 315, 324, 325 Mill, J. S. 189, 190, 271, 326 Moran, R. 93, 210, 308, 309, 326 Müller, A. W. 29, 30, 55, 326 Murdoch, I. 150, 297, 298, 299, 326
Jaeggi, R. 201, 202, 203, 216, 217, 266, 323, 324 Joas, H. 19, 324 Jonas, H. 237, 240, 324
Pinkard, T. 82, 111, 326 Pippin, R. 105, 106, 107, 110–113, 326, 327 Platon 303, 327 Pröpper, T. 173, 326, 327
Kambartel, K. 177, 267, 324 Kant, I. 13, 19, 21, 59, 70–78, 82, 84, 95, 98, 110, 118, 119, 140, 147, 148, 151–163, 205, 276, 277, 288, 289, 311, 320, 322–327 Keil, G. 50, 51, 146, 324 Kern, A. 50, 128, 133, 324 Kertész, I. 196, 324 Khurana, T. 103, 111, 205, 322, 324 Kierkegaard, S. 170, 171, 324 Korsgaard, C. M. 14, 58, 59, 63, 111, 153, 245, 299, 321, 324, 325 Kornblith, H. 50, 325 Koselleck, R. 231, 325 Kreis, G. 19, 325 Larmore, C. 72, 325 Lévinas, E. 216, 325 Lovibond, S. 138, 325
338
Nagel, T. 241, 242, 243, 246, 326 Noë, A. 252, 326 Neiman, S. 141, 145, 326 Neuhouser, N. 111, 326 Nietzsche, F. 18, 19, 121, 135, 136, 141, 326 Nickel, P. 304, 326 O‹Neill, O. 13, 326
Quante, M. 82, 111, 327 Quine, W. v. O. 12, 327 Rahner, K. 80, 327 Railton, P. 13, 327 Rawls, J. 59, 272, 327 Rentsch, T. 119, 233, 267, 327, 331 Reinhold, C. L. 148, 150, 327 Ricoeur, P. 119, 152, 158, 327 Rödl, S. 29, 57, 94, 310, 327 Rorty, R. 89, 274, 327 Rosa, H. 109, 327 Schelling, F. W. J. 157, 158, 281, 327 Schroeder, M. 221, 328 Schroeder, T. 36, 319 Seel, M. 192, 224, 328 Setton, D. 139, 328
PRAKTISCHE PHILOSOPHIE
Emanuel John
https://doi.org/10.5771/9783495820698 .
Personenregister Scanlon, T. 60, 328 Setiya, S. 36, 328 Siep, L. 82, 111, 326, 328 Sliwa, P. 303, 328 Smith, M. 36, 37, 105, 306, 328 Spaemann, R. 191, 328 Spinoza, B. 281, 328 Stekeler-Weithofer, P. 46, 79, 328 Taurek, J. M. 317, 328 ter Meulen, R. 273, 328 Thompson, M. 14, 51, 52, 92, 93, 96, 306, 328 Tugendhat, E. 16, 81, 166–169, 328
Vogler, C. 41, 43, 152, 328 von Aquin, T. 80, 90, 281, 328 Weber, M. 149, 328 Welty, B. 206, 328 Wiggins, D. 267, 328 Williams, B. 36, 37, 39, 329 Wingert, L. 47, 300, 301, 329 Wittgenstein, L. 17, 38, 82, 177, 223, 232, 233, 326, 327, 329 Zilsel, E. 12, 329
Die Negativität des Sittlichen
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