Besonnenheit: Zur ethischen Relevanz des Fühlens 9783495823859, 9783495491515


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Inhalt
0. Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist
I. Die politische Herausforderung der Besonnenheit
1. Politik und Lüge
2. Die Provinzialität der menschlichen Natur
3. Gebrechlichkeit der Vernunft
4. Hannah Arendt: Denken der Pluralität
5. Von Hannah Arendt zu Martha Nussbaum: Politische Bedeutung der Emotionalität
6. Für ein neues Ethos der Besonnenheit
II. Besonnenheit – eine kritische Annäherung
1. Ein Blick zu den Anfängen
2. Die ethische Ausrichtung der Besonnenheit
3. Der Asket des Lebens
4. Erinnerung an die »schöne Seele«
5. Hochkonjunktur des Fühlens oder modischer Dualismus?
6. Das sich besinnende Denken – Heideggers Gelassenheit
III. Emotionale Hürden
1. Die Bedeutung der Gefühle
2. Die besondere Herausforderung der Gegenwart
3. Prekäre Anlagen und zivilisatorische Herausforderungen
4. Selbsterkenntnis als Grundlage der Besonnenheit
IV. Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend
1. Denkfähige Gefühlswesen
2. Der Mensch: ein Gemeinschaftswesen – Irreduzible Sozialität
3. Mitfühlen – eine bloße Gefühlssache?
4. Eine Skala der Mitgefühle
A. Resonanz und Nachahmung
B. Empathie
C. Mitgefühl
5. Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung Folgen und Perspektiven
A. Wie werden wir dem anderen gerecht?
B. Grenzen des Verstehens – Vom Wert des Trostes
C. Problematische Gefühlsansteckung
D. Selbstwirksamkeit auf allen Ebenen
E. Takt – Gespür – Höflichkeit
V. Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung
1. Irritierende Einsamkeit
2. Die frühe Schule der Besonnenheit durch pädagogische Empathie
3. Mitgefühl als Boden der Besonnenheit – Bestandsaufnahme
4. Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg
VI. Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis
1. Hinführung
2. Angemessenheitsprüfung – vier Schritte
A. Gefühlswissen
Erläuterung zu (a)
Erläuterung zu (b)
B. Realitätscheck
C. Werteüberprüfung
D. Was tun mit einer berechtigten Emotion?
3. Fazit
4. Philosophisch-wissenschaftliche Einbettung
VII. Schlusswort: Signatur der Besonnenheit
Dank
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Besonnenheit: Zur ethischen Relevanz des Fühlens
 9783495823859, 9783495491515

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Heidemarie Bennent-Vahle

Besonnenheit – eine politische Tugend

Zur ethischen Relevanz des Fühlens VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823859

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Heidemarie Bennent-Vahle Besonnenheit – eine politische Tugend

VERLAG KARL ALBER

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Heidemarie Bennent-Vahle

Besonnenheit – eine politische Tugend Zur ethischen Relevanz des Fühlens

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Heidemarie Bennent-Vahle Temperance – a political virtue The ethical relevance of feeling

Temperate thinking and acting is proving more urgent than ever today. Heidemarie Bennent-Vahle accentuates and develops this thesis, not least in view of current tendencies of political radicalization and social brutalization. It is explained how important perspectives of temperate personal development are for the success of democratic processes. Above all, it is important to do justice to human emotionality and to stimulate the cultivation of compassion. Here the philosophical tradition offers valuable points of contact which need to be balanced out in a contemporary way on the basis of in-depth scientific knowledge of human emotional life and explored in a practice-oriented way.

The Author: Dr. Heidemarie Bennent-Vahle is a philosopher and logotherapist. She runs a philosophical practice in Henri-Chapelle (Belgium) and is a member of the board of the International Society for Philosophical Practice. Most recently with Alber: Thinking with feeling. Insights into the philosophy of emotions (2013, 3rd edition 2014).

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Heidemarie Bennent-Vahle Besonnenheit – eine politische Tugend Zur ethischen Relevanz des Fühlens

Besonnenes Denken und Handeln erweisen sich heute als dringlicher denn je. Heidemarie Bennent-Vahle akzentuiert und entfaltet diese These nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle Tendenzen politischer Radikalisierung und gesellschaftlicher Verrohung. Erläutert wird, wie bedeutsam Perspektiven umsichtiger Persönlichkeitsbildung für das Gelingen demokratischer Prozesse sind. Vor allem kommt es darauf an, der menschlichen Emotionalität gerecht zu werden und eine Kultivierung der Mitgefühle anzuregen. Hier bietet die philosophische Tradition wertvolle Anknüpfungspunkte, die es auf der Basis vertiefter wissenschaftlicher Kenntnisse zum menschlichen Gefühlsleben zeitgemäß auszutarieren und praxisbezogen zu erkunden gilt.

Die Autorin: Dr. Heidemarie Bennent-Vahle ist Philosophin und Logotherapeutin. Sie führt eine Philosophische Praxis in HenriChapelle (Belgien) und ist Mitglied im Vorstand der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis. Zuletzt bei Alber: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen (2013, 3. Aufl. 2014).

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Paul Klee, Blume im tal, Tempera, 1938. Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49151-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-2385-9

https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Inhalt

0. Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

Die politische Herausforderung der Besonnenheit Politik und Lüge . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Provinzialität der menschlichen Natur . . . Gebrechlichkeit der Vernunft . . . . . . . . . . Hannah Arendt: Denken der Pluralität . . . . . Von Hannah Arendt zu Martha Nussbaum: Politische Bedeutung der Emotionalität . . . . 6. Für ein neues Ethos der Besonnenheit . . . . .

1. 2. 3. 4. 5.

II. Besonnenheit – eine kritische Annäherung . . . 1. Ein Blick zu den Anfängen . . . . . . . . . . 2. Die ethische Ausrichtung der Besonnenheit . 3. Der Asket des Lebens . . . . . . . . . . . . . 4. Erinnerung an die »schöne Seele« . . . . . . 5. Hochkonjunktur des Fühlens oder modischer Dualismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das sich besinnende Denken – Heideggers Gelassenheit . . . . . . . . . . . .

13 35 35 44 48 61 69 79

. 90 . 93 . 103 . 107 . 110 . 113 . 122

III. Emotionale Hürden . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Die Bedeutung der Gefühle . . . . . . . . . . . 140 2. Die besondere Herausforderung der Gegenwart 144

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Inhalt

3. Prekäre Anlagen und zivilisatorische Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4. Selbsterkenntnis als Grundlage der Besonnenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

IV. Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Denkfähige Gefühlswesen . . . . . . . . . . . . 2. Der Mensch: ein Gemeinschaftswesen – Irreduzible Sozialität . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitfühlen – eine bloße Gefühlsache? . . . . . . 4. Eine Skala der Mitgefühle . . . . . . . . . . . . A. Resonanz und Nachahmung . . . . . . . . B. Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Mitgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung – Folgen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . A. Wie werden wir dem anderen gerecht? . . . B. Grenzen des Verstehens – Vom Wert des Trostes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Problematische Gefühlsansteckung . . . . . D. Selbstwirksamkeit auf allen Ebenen . . . . E. Takt – Gespür – Höflichkeit . . . . . . . . . V.

Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung . . . . . 1. Irritierende Einsamkeit . . . . . . . . . . 2. Die frühe Schule der Besonnenheit durch pädagogische Empathie . . . . . . . . . . 3. Mitgefühl als Boden der Besonnenheit – Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . 4. Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg .

170 170 177 182 190 195 203 209 217 217 229 245 250 254

. . . 262 . . . 262 . . . 271 . . . 279 . . . 286

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Inhalt

VI. Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis . . . . . . 1. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Angemessenheitsprüfung – vier Schritte . . . A. Gefühlswissen . . . . . . . . . . . . . . . B. Realitätscheck . . . . . . . . . . . . . . . C. Werteüberprüfung . . . . . . . . . . . . . D. Was tun mit einer berechtigten Emotion? 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Philosophisch-wissenschaftliche Einbettung .

. . . . . . . . .

302 302 306 306 312 314 316 318 320

VII. Schlusswort: Signatur der Besonnenheit . . . . . 329 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Literaturliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Bertolt Brecht

Kinderhymne (1950)

Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land Daß die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin, sondern ihre Hände reichen uns wie andern Völkern hin. Und nicht über und nicht unter andern Völkern wolln wir sein, von der See bis zu den Alpen, von der Oder bis zum Rhein. Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s. Und das liebste mag’s uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.

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0. Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur anderen Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. (William James)

Der Titel dieses Buches bemüht eine sehr alte Tugend, die Besonnenheit, welche bereits in weit zurückliegenden Zeiten zum unverzichtbaren Element eines gelingenden Lebens erhoben wurde. Neben Mut und Gerechtigkeit stellte sie schon für Aristoteles eine wesentliche Ingredienz der Lebensklugheit dar. Auch heute vernimmt man hier und da noch Stimmen, die – in Reden oder Einzelstatements – besonnene Verhaltensweisen anmahnen. Doch was verbirgt sich tatsächlich hinter solchen Appellen oder Einladungen? Ist der Ruf nach Besonnenheit überhaupt noch zeitgemäß oder eher eine wohlklingende Zutat für realitätsferne Sonntagsreden? Anliegen dieses Buches ist es, angesichts spezifischer Herausforderungen der modernen Lebenswelt die enorme Relevanz der Besonnenheit für die Gegenwart zu akzentuieren und möglichst differenziert zu entfalten. Ausschlaggebend ist dabei vor allem die Beobachtung, dass ein vielschichtiger Wandel in Wissenschaft und Gesellschaft markante Auswirkungen auf den menschlichen Umgang mit Affekten und Emotionen nach sich zieht. So führen uns zahlreiche Experimente der letzten Jahrzehnte eindrücklich die emotionale Durchlässigkeit und Empfänglichkeit der menschlichen Natur vor Augen – ein Faktum, welches sich der aufrechten und wachsamen Selbstbeobachtung vermutlich immer schon mehr oder weniger deutlich erschloss. Mittlerweile aber wur13 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

de – im Zuge umfangreicher Forschungen zur frühen Kindheitsphase – insbesondere die Tatsache einer fundamentalen Bezogenheit des Menschen auf seinesgleichen so unabweislich, dass eine nach wie vor (nicht zuletzt in weiten Teilen der Philosophie) propagierte Definition des Menschen als autarkes und selbstbestimmtes Wesen erhebliche Risse bekam. Zudem wird an der frühkindlichen Entwicklung eine weitere Gegebenheit augenfällig, die im Prinzip zeitlebens Gültigkeit bewahrt: die affektive Verwobenheit des Menschen in konkrete Situationen und folglich der unaufhebbar leiblich-emotional geprägte Charakter auch abstrakter Denkoperationen. Daraus ergibt sich zum einen der Rückschluss, dass wir niemals vollständig wertfrei und rein objektiv nachdenken bzw. urteilen können, zum anderen aber drängt sich die Einsicht auf, dass wir nur bedingt in der Lage sind, uns bewusst zu steuern und selbstbestimmt zu regulieren. Das heißt: Auch diejenige Instanz in uns, die gezielt prüfend abwägt, die Erfahrungen bewusst abruft, die verschiedene Optionen planvoll einbezieht und längerfristige Konsequenzen mit Bedacht ins Auge fasst, ist ihrerseits durchsetzt von (oftmals unbewussten) Erinnerungsspuren und damit eng verknüpften – unwillkürlich wertenden – Gewohnheiten des Denkens und Urteilens. Unser Intellekt gewinnt seine Erkenntnisse also niemals gänzlich neutral und unvoreingenommen, gleichsam frei über den Dingen stehend oder schwebend. Möglich sind ihm allenfalls unterschiedliche Grade von Freiheit und sachbezogener Selbstbestimmung, realisierbar allein durch ein konsequent und systematisch verfolgtes Bemühen, auch verborgene Zusammenhänge und Einflussfaktoren aufzudecken und zu bedenken. 1 Je bereitwilliger wir dabei unsere unwiderAus neuropsychologischer Sicht konstatiert Joachim Bauer, der selbst im Übrigen ein Fürsprecher gradueller Willensfreiheit ist: »Jede äußere Situation, während sie für uns intellektuell wahrnehmbar wird, wird simultan emotional bewertet, auch wenn wir dies manchmal gar nicht mehr bemerken (für das Gehirn gibt es keine ›rein sachlichen‹ Situationen).« – (Bauer 2008, S. 161).

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

ruflich perspektivische Verankerung in der Welt einräumen, umso sorgfältiger und gewissenhafter werden wir uns mit den jeweiligen Umständen unserer situativen Befangenheit befassen. Wir werden den Radius unserer Kenntnisse gezielt zu erweitern suchen und auch solche wissenschaftlich erwiesenen Tatsachen ernst nehmen, die dem Idealbild eines souveränen menschlichen Intellekts entgegenstehen. Dies eröffnet, wie zu zeigen sein wird, mögliche neue und veränderte Dimensionen von Freiheit und Selbstlenkung. Noch einmal anders gesagt: Mehr und mehr findet auf der Basis einer Vielzahl neurologischer und psychologischer Studien eine Neujustierung des Menschenbildes empirische Bestätigung, welche im Zeichen einer leibphänomenologischen Wende bereits seit geraumer Zeit von einigen Philosophen und Philosophinnen 2 des 20. Jahrhunderts vorgenommen wurde. Von dieser Seite wurde mit Nachdruck unterstrichen, dass die tradierte Spaltung und Entgegensetzung von Vernunft und Gefühl bzw. von Kognition und Emotion der subtilen Komplexität menschlicher Bewusstseinsprozesse nicht gerecht wird. In Frage gestellt wurde die Annahme einer neutralen, verallgemeinerbaren, frei wirkenden – und somit der Weltverwicklung enthobenen – Vernunftinstanz im Inneren des Menschen. Das Ideal vollkommener Kontrollierbarkeit erwies sich als unhaltbar. Und ebenso brüchig wurde das damit einhergehende Alltagswunschbild einer selbstbestimmten Persönlichkeit, die weitgehend autonom und unangewiesen auf andere ihr Leben zu gestalten und zu optimieren vermag. Maßgeblich war in diesem Zusammenhang auch der Einfluss psychoanalytischer Erkenntnisse, die das untergründige Um die Lesbarkeit des Textes nicht zu beeinträchtigen, werden im Folgenden nicht durchgängig beide Geschlechter grammatisch ausgewiesen. Vielmehr verwende ich wechselweise die männliche oder die weibliche Form, wobei jeweils beide Geschlechter sowie auch Menschen mit diverser und transsexueller Geschlechtlichkeit angesprochen sind.

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

Wirken affektiver Einflussfaktoren vor Augen führten und damit ein Bewusstsein für die Grenzen willkürlicher Bearbeitung und Regulierung des menschlichen Geistes schafften. Seitdem wird in weiten Teilen der Philosophie dem Gedanken Rechnung getragen, dass umfassende Souveränität ein Trugbild ist. Zahlreiche Denkerinnen entfalten die Auffassung, dass Subjektwerdung sich einem komplexen, nuancenreichen Beziehungsgeschehen verdankt. Näher betrachtet bedeutet dies, dass jeder und jede sich unweigerlich gesellschaftlich und kulturell verortet entwickelt und von anderen – in einem je spezifischen emotionalen Milieu der Koexistenz – über Blicke, Gesten und Sprache einem Rahmen vorgegebener Normen und Verhaltensweisen eingewöhnt bzw. eingepasst wird. Weil Lebensformen derart vor aller bewussten Reflexion verinnerlicht werden, stehen sie auch fortan nur bedingt zur freien Verfügung. Um den Zwangscharakter dieser Normierungsabläufe klarzumachen, sprechen einige Theoretiker sogar von vorbewusster »Abrichtung« 3 . In diesen Selbstwerdungsprozessen ist es höchst relevant, von zentralen Bezugspersonen Anerkennung zu erfahren. Deshalb agieren wir letztlich – fraglos in der Kindheit, im Grunde aber lebenslang – in unentwirrbarer Verschränkung auf andere bezogen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts avancierte diese Idee des Mitseins als vorbewusstes, ursprüngliches Aufeinanderbezogensein zum viel diskutierten Gegenstand zahlreicher Debatten. Natürlich wurde in allen Epochen intensiv über das Verhältnis der Menschen untereinander nachgedacht – die Sozialität der menschlichen Natur ist seit der Antike ein leitendes Motiv –, doch erst in der Moderne radikalisierte und vertiefte sich dieser Gedanke. Nunmehr erachtete man die Verbundenheit mit anderen als eine Kraft, die den Menschen Michael Hampe verwendet den Begriff der »Abrichtung« bezüglich der Anpassung des Geistes an mathematische Rationalität: »Heute jedoch ist Mathematik das erste und grundlegende Abrichtungsinstrument des kindlichen Geistes.« – (Hampe 2014, S. 115).

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

bis in seine innerste Selbsterfahrung hinein maßgeblich bestimmt und lenkt. Infolgedessen wurde die Grenze zwischen dem Selbst und den Anderen zunehmend als porös und durchlässig vorgestellt. Anders gesagt: die Vorherrschaft des Ich im eigenen Haus wurde immer fraglicher. Was aber bedeutet dies für das Thema einer besonnenen Lebensführung? Als unbesonnen galt dereinst, und gilt für viele immer noch, wer blind aus Affekten heraus handelt, wer sich nicht hinreichend um nüchterne Klärung von Sachverhalten bemüht und somit einen Mangel an sorgfältiger Abwägung erkennen lässt. Was aber soll man tun, wenn in grundlegender Weise offenkundig wird, dass bestimmte Sachverhalte – wie unsere gefühlsmäßige Verstrickung mit anderen – in letzter Instanz undurchschaubar bleiben müssen? Was, wenn auch die sorgfältigste Überlegung angesichts der Komplexität und Unwägbarkeit bestimmter Problemlagen kein eindeutiges Ergebnis erbringen kann? Hier sehen sich moderne Menschen im Zuge gesellschaftlicher Individualisierung und Diversifizierung mit grundlegend veränderten Herausforderungen konfrontiert, für die wir neue Antworten finden müssen. Gleichwohl nur wenige als ausgewiesene Experten der menschlichen Seele gelten können, haben die bahnbrechenden Erkenntnisse der psychologischen und neurologischen Anthropologie dennoch längst Einzug in das Alltagsbewusstsein der meisten Menschen gehalten. Weit verbreitet ist ein diffuses Wissen um die durchschlagende Macht emotionaler Antriebe, die unsere Lebensführung steuern, angeblich sogar unsere Entscheidungen determinieren. »Ich fühle, also bin ich« 4 lautet der Titel einer wirkmächtigen neurologischen Studie, die sich der cartesianischen Vorstellung eines robusten Ichs entgegensetzt und jenes althergebrachte Ideal in Frage stellt, demzufolge Personen sich über rationales Denken 4

(Damásio 1999).

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

nach außen hin klar abzugrenzen und ihrer selbst zu vergewissern vermögen. Der Neurowissenschaftler António Damásio legt dar, inwiefern Gefühle grundlegende Voraussetzungen für die Entwicklung von Bewusstsein und Kognitionsfähigkeit sind. In vergleichbarer Weise kritisierte der Psychiater und Verhaltensforscher Stanley Greenspan schon vor über zwanzig Jahren einen die Bildungskonzepte beherrschenden »Irrglaube(n), der Intellekt entwickle sich unabhängig vom Affekt« 5 . Infolge dieser Fehleinschätzung erlange – so Greenspan – die Wichtigkeit der emotionalen Interaktion keine hinreichende Beachtung. Piaget widerlegend will Greenspan zeigen, dass das Emotionale der hauptsächliche Architekt des Geistes ist, dass mithin sowohl die kognitive Entwicklung des Kindes sowie auch sein Selbstgefühl und seine sozialen bzw. moralischen Qualitäten aus emotionalen Prozessen der Nähe und Zugehörigkeit hervorgehen. 6 Angesichts dieser veränderten Gemengelage scheint es mir von drängender Notwendigkeit zu sein, das Wesen der Besonnenheit gewissermaßen zeitgemäß neu auszutarieren. Zu diesem Zweck wird die Besonnenheit im Folgenden aus dem Spektrum der Charaktertugenden herausgelöst und stärker als üblicherweise in den Vordergrund gerückt, jedoch nicht in dem Sinne, dass es nun womöglich nicht mehr auf Klugheit, Gerechtigkeit und wohl verstandene Couragiert(Greenspan 2001, S. 392). // Auch der Neurobiologe Martin Korte stellt die Bedeutung von Gefühlen bei der Ausbildung des autobiografischen Gedächtnisses heraus (Korte 2017, z. B. S. 33 ff.). Später heißt es: »Wir speichern keine wertfreien Schnappschüsse unserer Erlebnisse, sondern vor allem Gefühle, Empfindungen und Bedeutungen, die mit den Episoden einhergingen. Und diese Erinnerungen können sich beim Hervorkramen und erneuten Abspeichern verändern.« (Ebd., S. 53 f.). 6 Dieser Umschwung wurde auch für die Pädagogik richtungweisend: Der Erziehungswissenschaftler Walter Herzog reklamierte für die pädagogische Theorie »eine metatheoretische Anstrengung, die den Cartesianismus überwinden läßt.« – (Herzog 1991, S. 42). 5

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

heit ankäme. Die Akzentuierung der Besonnenheit liegt vielmehr darin begründet, dass das prekäre Zusammenspiel mentaler Kräfte anhand dieser Tugend in besonders aufschlussreicher Weise expliziert und problematisiert werden kann. Überlieferte Besonnenheitsdiskurse thematisieren im Wesentlichen den Umgang des Menschen mit sinnlichen und emotionalen Aufwallungen bzw. Anwandlungen, mit jenen irritierenden Einflüssen also, die die individuelle Lebensgestaltung, insbesondere aber das Zusammenleben mit anderen, erheblich durcheinanderwirbeln können. Eine Person, die besonnen ist, vermag es, wie man dachte, derartigen Beunruhigungen des Lebens standzuhalten bzw. ihnen so entgegenzutreten, dass ihr das Ruder niemals unwiderruflich aus der Hand gerissen wird. Dieses hohe Ideal, das im Einzelnen noch genauer auszubuchstabieren wäre, wurde – wie gesagt – auch in der Gegenwart nicht vollends auf Eis gelegt, dennoch ist es in vielfacher Hinsicht zweifelhaft geworden. Beispielsweise beäugen viele die reklamierte Beherrschung des Emotionalen mit höchster Skepsis. Sie wittern darin bevormundende Freiheitsbeschränkungen durch moralinsaure Lustfeindlichkeit sowie eine gravierende Verkennung tatsächlicher Antriebe der menschlichen Natur. In diesem Sinne erscheint es nicht wenigen hoffnungslos überholt, mit Konzepten besonnener Eigenlenkung an Einzelpersonen herantreten zu wollen, denn weder könne man sich selbst hinreichend klar erfassen, noch seien jene Triebkräfte vollends beherrschbar, die aus unserem Innersten hervorquellen und den Ton angeben. Im Extremfall geht dies so weit, die menschliche Selbststeuerungsfähigkeit prinzipiell in Abrede zu stellen. 7 Die hier tangierte Frage der Willensfreiheit wurde in den letzten Jahrzehnten im Anschluss an das Libet-Experiment kontrovers diskutiert. Diese Debatte findet sich gut resümiert bei (Bauer 2015, S. 194–204). – Ohne explizit in diese Diskussion einzusteigen, sollte ersichtlich wer-

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

Doch ungeachtet dieser Skepsis wird das vertiefte Wissen über psychische Vorgänge und die Funktionsmechanismen des Emotionalen heute zugleich auch sehr gezielt genutzt, um – z. B. in Wirtschaft oder Politik – die Gestaltungs- und Durchsetzungsmacht einzelner Akteure expertengeleitet zu steigern und profitabel auszubauen. Die hier lancierte zweckorientierte, instrumentelle Steuerung zwischenmenschlicher Prozesse firmiert dann nicht selten sogar unter dem Label ›Besonnenheit‹. Parallel dazu ist eine Entwicklung zu beobachten, wonach Menschen der geheimnisvollen Macht der Gefühle eine besondere Weisheit zusprechen und das authentische Ausleben emotionaler Impulse gegen entfremdende rationale Ansprüche ausspielen. Dabei wird allerdings häufig die (sozial) destruktive Wirkmacht ungefilterter emotionaler Impulse unterschätzt oder übergangen, wenn nicht manchmal sogar pauschal abgewiesen. Doch gerade die Schattenseiten einer solchen – mancherorts nahezu kultisch betriebenen – Emotionalisierung werden mittlerweile unübersehbar: Ohne jede Hemmung agieren Menschen im politischen Bereich Wut und Hass aus, nicht wenige betreiben wichtigtuerisch und selbstverliebt dubiose Geschäfte auf Kosten vieler anderer. Gleichermaßen hat ein zunehmend rüder Umgangston Einzug in den öffentlichen Raum gehalten. Hier taucht sogleich ein weiterer Problempunkt auf: Wer glaubt, im ungefilterten Ausleben emotionaler Impulse und Präferenzen seinem authentischen Selbst zu entsprechen, läuft Gefahr, auf Schritt und Tritt zum willfährigen Opfer von Manipulationen durch social engineering und suggestive den, dass die Ausführungen des vorliegenden Bandes philosophischen Auffassungen korrespondieren, die betonen, dass Willensfreiheit – zu verstehen als Fähigkeit der Affektregulierung und bewussten Selbststeuerung – ontogenetische Voraussetzungen hat, d. h. sich erst durch geeignete pädagogische Einflüsse aus den menschlichen Anlagen heraus entwickeln kann. (Dies gilt insbesondere im Blick auf moralische Rücksichtnahme auf andere.) Überdies bleibt sie eine lebenslange Aufgabe. – Siehe u. a.: (Hubert 2006, Kap. 6) // (Bauer 2015).

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

Werbetechniken zu werden. Während man sich als autonom und einzigartig definiert, wachsen die Risiken, bis in die innerste Selbstwahrnehmung hinein zum Produkt ›industrieller Fertigung‹ zu werden. Das nach wie vor propagierte Ideal souveräner Selbststeuerung wird zusehends fraglich, insofern es in der modernen Massengesellschaft unablässig von einer Ideologie durchkreuzt und unterminiert wird, die den menschlichen Geist primär als Ressource für kommerzielle Interessen nutzbar zu machen sucht. Somit wird das Idealbild eines überlegenen Selbstbesitzes in zweifacher Hinsicht angreifbar: Einerseits wird offenbar, was im Grunde immer schon galt, nämlich, dass wir in eine Welt eingebettet sind, die wir nicht selbst gestaltet haben und in der wir demnach auch nur begrenzt über unser eigenes Leben verfügen können; andererseits aber pervertiert dieses Ideal zusehends zum hohlen Autonomiegerede, welches ein Leben im Modus konsumorientierter Präferenzbefriedigung schönredet und salonfähig macht. So verkommt das hochfliegende Selbstbestimmungspostulat der Aufklärung zusehends zu einer »Einladung zum Narzissmus«. Der amerikanische Philosoph Matthew Crawford beschreibt diese Situation mit treffenden Worten: »In der vorherrschenden Vorstellung ist Freiheit gleichbedeutend mit der Möglichkeit, die eigenen Präferenzen zu befriedigen. Die Präferenzen selbst entziehen sich einer rationalen Beurteilung: Sie entsprechen dem authentischen Kern des Selbst, das frei ist, wenn es seine Präferenzen ungehindert befriedigen kann. Die Vernunft steht im Dienste dieser Freiheit und ist vollkommen instrumentell: Sie ist die Fähigkeit des Menschen, die besten Mittel zur Erreichung seiner Ziele zu wählen. Zu den Zielen selbst haben wir aus Respekt gegenüber der Autonomie des Individuums zu schweigen. Andernfalls würden wir riskieren in Paternalismus zu verfallen. So kommt der freiheitliche Agnostizismus in Bezug auf das menschlich Gute mit dem Marktideal der ›Wahlfreiheit‹ zur Deckung. Wir berufen uns auf die freie Wahl als inhaltsloses Meta-Gut, das 21 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

jede tatsächliche Wahl im sanften, egalitären, schmeichelhaften Licht der Autonomie erscheinen lässt.« 8 Die Gleichsetzung von Freiheit mit Wahlmöglichkeit nährt das Wunschbild eines uneingeschränkten Selbst, das nun auch seinen emotionalen Impulsen bedenkenlos folgen darf, jedenfalls solange es sich dabei als weitgehend ›normal‹ einstufen kann. Etikettiert als authentischer Selbstausdruck wird ein unkritischer Umgang mit emotionalen Antrieben befördert, wodurch auf neuartige Weise problematische Vorstellungen von Eigenständigkeit und Unverbundenheit genährt werden. Insofern tatsächlich wirkende Einflussfaktoren einer kritischen Überprüfung entzogen bleiben, ist der Preis eines eklatanten Wirklichkeitsverlustes zu zahlen. Die sich frei Wähnenden ignorieren nicht nur ihre soziale Eingebundenheit und Angewiesenheit auf andere, überdies entgeht ihnen die Tatsache, dass ihre vermeintlich hochindividuellen Vorlieben durch diverse Baumeister des Affektkapitalismus arrangiert und gesteuert werden. 9 Das sich autonom wähnende Gefühls-Selbst setzt alles daran, sich die Welt gefügig zu machen. Erst wenn es unsanft mit ihr kollidiert, wird es sich seiner Beschränkungen bewusst, mit oftmals gravierenden emotionalen Folgewirkungen. Der Gedanke, dass Besonnenheit ein wünschenswertes Gut darstellt, wird vermutlich von all denen Zuspruch erfahren, die angesichts derartiger Phänomene einen anwachsenden Verlust von Menschlichkeit beklagen. Nimmt man nämlich das Wissen um jenen – uns von jeher umschließenden – Horizont des Mitseins tatsächlich ernst, so wirkt das zunehmende Aufkommen subtil manipulativer Werbetech(Crawford 2016, S. 47 u. S. 35). Ein wesentlicher Einflussfaktor ist hier auch der Gebrauch moderner Medien, welche die Illusion des schnellen Verfügenkönnens nähren, nicht jedoch das Einhalten und Nachdenken über Wahlmöglichkeiten befördern.

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niken ebenso verstörend und alarmierend wie die Verbreitung negativer, das soziale Miteinander zersetzender Formen emotionalen Selbstausdrucks. Doch wie können wir uns heute noch besinnen? Wie kann es gelingen, ein in Besonnenheit wurzelndes Vermögen ›vernünftiger‹ Selbstlenkung zu reanimieren, ohne sich abermals in alten Mustern rationaler Selbstüberschätzung zu verfangen? Wie vor allem können wir so mächtigen Affekten wie Hass oder Gier Einhalt gebieten, wie Menschen dazu befähigen, ihre Wut zu mäßigen bzw. den Anfängen derart ungestümer Aufwallungen zu wehren, sprich deren Vorboten zu erkennen und früh genug Gegenmaßnahmen einzuleiten? Wollen wir einen zeitgemäßen Weg suchen und uns um ein möglichst realistisches Selbstverhältnis bemühen, so gilt es unsere existenzielle Verwicklung in die wirkliche Welt möglichst genau zu ergründen. Im Zeichen eines zu erweiternden Tatsachenwissens ist dazu heute mehr denn je eine gesteigerte Schulung der Aufmerksamkeit auf emotional-leibliche Erfahrungsweisen notwendig. Wir brauchen eine regelrechte Schule der Besonnenheit, die exakt diesen Fokus hat. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen, vor allem aber in den Bildungseinrichtungen wäre über Besonnenheit sowohl intensiv nachzudenken als auch ein kontinuierliches Einüben dieser Tugend zu pflegen. Nach meinem Ermessen sind diese Anstrengungen insbesondere dann unerlässlich, wenn wir unser freiheitliches politisches System erhalten wollen. Demokratiefähigkeit, die überall dort gefordert ist, wo Menschen interagieren und dementsprechend ihre Interessen aufeinander abstimmen müssen, bedarf unabdingbar der Besonnenheit. Diese ist für sämtliche Lebensbereiche von Relevanz – nicht allein für die politische Bühne im engeren Sinne –, sondern gleichermaßen auch für die Mehrzahl der übrigen sozialen Kontexte. Besonnenheit bezeichnet, wie noch zu vertiefen wäre, eine innere Einstellung, eigene Präferenzen im Blick auf das Gemeinschaftliche zu überdenken und – nach kritischer Abwägung 23 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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– gegebenenfalls auch zu relativieren. Daraus ergibt sich nicht nur, dass die private Sphäre einen höchst politischen Charakter erhält, sondern ebenso, dass demokratisch-politische Strukturen nicht losgelöst von personal-psychischen Voraussetzungen realisiert werden können. Der Slogan »Das Private ist politisch« begleitet uns, seitdem er – angestoßen durch Kate Milletts Buch Sexus und Herrschaft 10 – Anfang der 1970er Jahre in Umlauf gebracht wurde. Er weckte das Bewusstsein dafür, dass Kindererziehung, Sexualität und private Geschlechterbeziehungen nicht länger als politikferne und rechtsfreie Räume betrachtet werden durften. Um den hier entwickelten Kerngedanken weiter zuzuspitzen, wäre aus meiner Sicht – im Interesse einer politischen Teilhabe aller Bürgerinnen an demokratischen Prozessen – unbedingt Folgendes hinzuzufügen, und zwar als eine zentrale These, die ich in diesem Buch ausführlich entwickeln werde: »Das Politische ist eine Angelegenheit höchstpersönlicher Charakterbildung.« Vornehmlich muss diesbezüglich heute – aus schon erwähnten Gründen – die Besonnenheit als eminent politische Tugend in den Fokus gerückt werden. Genau diesen Zusammenhang gilt es detailliert zu entfalten. Dies bedeutet: Wissenschaftlich instruiert über uns selbst als denkfähige Gefühlswesen, müssen wir auf neue Weise ergründen, was es überhaupt noch heißen kann, besonnen zu agieren. Zu diesem Zweck gilt es vor allem, die sozialen Anlagen des Menschen detailliert in ihrer Komplexität und Ambiguität in den Blick zu nehmen. Primärer Bezugspunkt der Überlegungen soll deshalb zunächst weniger ein allgemeingültiges Ideal der Humanität sein als vielmehr genauere (phänomenologisch inspirierte) Betrachtungen des menschlichen Mitseins und des dazugehörigen Gefühlsspektrums. Ziel der Ausführungen ist es, die zentrale Bedeutung einer Kultivierung des Mitfühlens im Aufbau einer besonnenen Haltung herauszuarbeiten. 10

(Millett 1974).

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Vor diesem Hintergrund wäre das Augenmerk insbesondere auf die Phase der Kindheit zu richten, in der im Wesentlichen über Erfahrungen anerkennender Liebe ein Grundstein für zwischenmenschliche Aufgeschlossenheit und Zugewandtheit gelegt wird. Unterbleibt nämlich in den ersten Lebensjahren jede angemessene Aufmerksamkeit, so kann eine Person in einer Weise Schaden nehmen, die ihr im Extremfall unwiderruflich anhaftet. Das Kind hat einen prekären Status: Wenn vertraute Menschen willkürlich oder unaufrichtig agieren, kann es von grundlegender skeptischer Distanzierung erfasst werden. Werden Liebesbekundungen mit Unmut oder Beschämung verknüpft, kann sich ein fragliches Verständnis von Liebe und Verbundenheit in der kindlichen Seele einnisten. Des Weiteren belehrt uns ein vertieftes Nachdenken über die kindliche Situation darüber, dass manche reflexartig auftretende Emotion eine traurige Vorgeschichte hat. Zwar sind emotionale Reaktionen durchaus authentischer Ausdruck der Person – insofern sich zeigt, was der Fall ist –, dennoch sind sie oftmals Symptome von Beeinträchtigungen und Fehlentwicklungen. Weil unliebsame Erfahrungen in unserer Emotionalität gleichsam gespeichert und damit zugleich leiblich eingeschrieben werden, beeinflussen und prägen sie fortan unsere Sicht der Dinge – meistens ganz unmerklich. Schlimmstenfalls dominieren Selbsthass oder egoistische Selbstverliebtheit das emotionale Erleben. Im zwanghaften Kreisen um das eigene Selbst wird dann der Sinn von Fürsorge verfehlt, oftmals kann sich nicht einmal ein grundlegender Respekt anderen gegenüber aufbauen. Dass die Wiege eines besonnenen Umgangs in der Kindheit liegt, ist nach meinem Ermessen ein inzwischen klar explizierter Tatbestand. Im Grunde wussten Philosophen schon immer um die Relevanz möglichst früh ansetzender Persönlichkeitsbildung. Nicht von ungefähr sprach Sokrates vorzugsweise mit Jünglingen. Und auch Kant konstatierte mit

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Nachdruck, dass es »der Stein der Weisen« 11 sei, beizeiten eine moralische Triebfeder in eine kindliche Seele hineinzulegen. Allerdings führte der Gedanke einer biografischen Genese auch des Vernunftvermögens selbst erst in den letzten Jahrzehnten dazu, diese besondere Begabung des Menschen stärker vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensgeschichte zu relativieren. Und erst neuerdings finden sich vermehrt differenzierte pädagogische Konzepte, die eine in Mitgefühl gegründete »moralische Sehkraft« anvisieren und in diesem Kontext das ›Gesehenwerden‹ bzw. ›Anerkanntwerden‹ der Lernenden durch die Erziehungspersonen tief greifenden Analysen unterziehen. 12 Wie gut die frühe Hinlenkung zu moralischer Aufgeschlossenheit im Einzelnen auch gelingen mag, klar ist, dass Besonnenheit ein lebenslanges Projekt bleibt, insofern das Leben uns jederzeit mit unerwarteten Herausforderungen konfrontieren kann. Auch mag es sein, dass der Wert dieser Tugend erst im Erwachsenenalter tatsächlich verstanden wird. Wenn jemand dann beispielsweise realisiert, mit herzlich wenig Gespür für andere unterwegs gewesen zu sein, kann dies einiges an Zerknirschtheit wachrufen. Solche krisenhaften Situationen sind dazu angetan – unterstützt durch wohlmeinende Begleiter –, tiefergehend zu realisieren, welche unerkannten emotionalen Grunderfahrungen unser Selbstverhältnis nachhaltig durchtönen und auch unser Denken nicht unberührt lassen. Wir leben gewissermaßen ein (Kant 1990, S. 54). – An anderer Stelle formuliert Kant: »Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (Kant 1991b, S. 699). // Schon ein Jahrhundert vor Kant findet sich insbesondere der Gedanke einer affektiven Verankerung des Moralischen sehr pointiert bei Spinoza formuliert. Dieser verweist auf die wichtige Rolle der Erziehung, die uns zu vermitteln hat, dem Schlechten mit Traurigkeit und dem Rechten mit Freude zu begegnen. Siehe: (Spinoza 1966, S. 181). 12 Siehe u. a.: (Plüss 2010); (Staudigl 2009); (Herzog 1991 u. 2014); (Bauer 2007 u. 2015); (Bloom 2014). 11

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Vermächtnis, wodurch es uns schwerfällt, zu Identität stiftenden Wertmaßstäben und Normierungen auf Distanz zu gehen, ja sie überhaupt zu erfassen. Denn diese sind gleichsam in unser inneres Erleben eingeschmolzen, so dass es nicht leichthin gelingen kann, mögliche Beeinträchtigungen, Einseitigkeiten oder auch Erstarrung an uns selbst wahrzunehmen. Im Alleingang ist das jedenfalls nicht zu bewältigen, weil man sich selbst gewissermaßen zu ›selbst-verständlich‹ ist. Wir brauchen hier den wohlmeinenden, anerkennenden und anregenden Anderen, der uns empathisch begegnet, um uns klarer sehen und mitfühlender werden zu lassen. Gleichfalls benötigen wir theoretische Impulse, um festgefahrene Begrifflichkeiten zu verflüssigen. Was im Einzelnen auch erreichbar sein mag, zu vermuten ist, dass wir uns – trotz aller Mühen – immer nur bedingt selbst transparent werden können. Gewiss scheint: Solange wir frei von jeder gedanklichen Begleitinstanz alleiniges Subjekt der Selbstbetrachtung bleiben wollen, ist Selbsterkenntnis ein aussichtsloses Unterfangen. Es kommt deshalb auf Orte an, an denen wechselseitige kommunikative Aufgeschlossenheit möglich wird. Dies kann nur dort der Fall sein, wo unsere persönliche Begrenztheit Akzeptanz, ja Anerkennung findet, dort, wo übersteigerte Autonomieideale verabschiedet werden, wo Einsicht in die Verletzlichkeit und Angewiesenheit auf andere ermöglicht wird. Dies sind einige zentrale Aspekte eines zeitgemäßen anthropologischen Konzeptes der Besonnenheit, dessen Komponenten im Folgenden mit mehr Präzision entfaltet werden sollen. Indem nämlich – nicht zuletzt angesichts neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse – der gefühlsmäßigen Weltverflochtenheit in adäquater Form Rechnung getragen wird, können heilsame Relativierungen des Selbst in Gang gesetzt werden, worin das Potential für Zugewinne an menschlicher Empathie- und Dialogfähigkeit liegt. Einzig eine interaktive lebendige Teilhabe, die in der Annahme eigener Begrenztheit 27 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

und Verletzlichkeit wurzelt, vermag auf Dauer ein solides Fundament des gesellschaftlichen und interkulturellen Zusammenhalts zu stiften. 13 Hierzu bedarf es einer bewussten und nachdrücklichen Kultivierung unserer sozialen Anlagen. Den begrifflichen Analysen zu dieser auf Mitgefühl basierenden Besonnenheitshaltung ist ein Kapitel vorangestellt, das auf den herausragenden politischen Wert der Besonnenheit hinweisen soll. Oder besser gesagt: Zunächst soll – anknüpfend an das Problem der politischen Lüge – der im Kern politische Charakter dieser Tugend akzentuiert werden. Nach Hannah Arendt lassen sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bedenkliche Verschiebungen im Umgang der Politiker mit Wahrheit und Lüge ausmachen, bis hin zu Tendenzen einer umfassenden Fiktionalisierung des Wirklichen. Diese Trends haben sich inzwischen – nicht zuletzt durch das Aufkommen neuer Medien und Kommunikationsmittel – erheblich verstärkt. Neben weiteren Faktoren haben diese Entwicklungen dazu beigetragen, dass auch innerhalb der Bevölkerung bzw. unter politisch aktiven Bürgern und Bürgerinnen neue Ausprägungen ›politischer‹ Unbesonnenheit augenfällig werden, wobei auch hier das Leitideal gefühlsechten Selbstausdrucks die Szenerie beherrscht. Bezüglich der Grundausrichtung dieses Buches möchte ich noch Folgendes betonen: Wenngleich die vorliegende Arbeit auch gravierende emotionale Verwerfungen nicht übergeht, gilt das Hauptinteresse dennoch nicht dem Umgang mit pathologischen Extremfällen. Vielmehr richtet sich dieser Band an den weiten Kreis derjenigen, die zweifelsohne dazu befähigt sind, sich selbst und ihre Einstellungen anderen gegenüber kritisch zu durchdenken, um sich gegebenenfalls an (Selbst)Veränderungen heranzuwagen. Sofern ich als PhiZu diesem Thema, siehe insbesondere: (Heil 2015). // Die Annahme der leidvollen Seite des Daseins als Quelle einer grundlegenden Selbstveränderung hin zu Liebe und Mitgefühl bildet ein Grundmotiv vor allem des Zen-Buddhismus. – Siehe hierzu u. a.: (Ostaseski 2017).

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losophische Praktikerin mit derartigen Themen an die Öffentlichkeit trete, werde ich in Diskussionsrunden regelmäßig mit Beispielen gravierender sozialer Beeinträchtigung konfrontiert, Beispiele, durch die mir die Unbedarftheit meines Unterfangens klargemacht werden soll. Häufig kommen solche Einwände von psychotherapeutischer Seite. Ich deute dies – ohne polemisieren zu wollen – als ›berufliche Deformation‹, denn man hat es ja in dieser Sparte häufiger mit schwer beeinträchtigten oder gestörten Persönlichkeiten zu tun. Bei letzteren mag die philosophische Reflexion in der Tat geringere Aussicht auf Erfolg haben. Aber – so möchte ich fragen – was ist mit der immer noch deutlich größeren Gruppe der halbwegs ›Normalen‹, denen es durchaus gegeben ist, Gedankenlosigkeit zu überwinden und in ein kritisches Verhältnis zu sich selbst zu treten? Was ist mit Kindern und Jugendlichen, die hier noch ganz aufmerksam und empfänglich sind? Diese sind meines Erachtens genau die richtigen Adressaten für philosophisch fundierte Klärungen der menschlichen Existenz. 14 Hinweise auf psychische Pathologien sind deshalb oft wenig hilfreich. Im Gegenteil, sie schieben sich nur allzu leicht zwischen die betreffenden Personen und ihre (moralische) Ansprechbarkeit. So ist es eine alltägliche Denkfigur geworden, sich hinter Negationen der Willensfreiheit oder hinter Krankheitsbildern zu verschanzen, um nicht aktiv werden zu müssen. Jedenfalls ist es in gewissen Kontexten so, während man andernorts beeindruckende Beispiele eines gegenläufigen Engagements beobachten kann. Kurzum: Dieses Buch, das für Selbstformung und Kultivierung von Besonnenheit plädiert, wobei das Mitgefühl als zentraler Einflussfaktor ausgewiesen werden soll, richtet sich in erster Linie an einzelne Menschen. Vielleicht erweist es sich darüber hinaus als hilfreich für Vertreterinnen einiger Berufsgruppen – wie z. B. Erzieherinnen, Lehrerinnen und

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Zum Philosophieren mit Kindern, siehe: Kap. V, 4.

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

Sozialarbeiterinnen –, die bildend tätig sind und in ihrer Arbeit nicht selten durch emotionale Verhärtungen herausgefordert werden. Auch wenn das Analysieren und Argumentieren in einigen Fällen auf den ersten Blick wenig erfolgversprechend erscheint, so wäre es doch ungemein erhellend, besser zu verstehen, warum dies so ist, um möglicherweise andere Lösungswege zu finden. In einer weitaus größeren Anzahl von Fällen allerdings ist das Philosophieren gerade bei jungen Menschen ein wichtiger Faktor für eine Herz und Geist umfassende Selbstbildung (und Selbstveränderung). Gerade dies benötigt sehr viel Zeit und Muße. Neues Denken kann nicht ›mal eben schnell‹ verabreicht werden, denn es muss – wenn es auch von außen angestoßen wird – unbedingt aus Eigeninitiative hervorgehen. So könnte man frei nach Wilhelm Busch formulieren: ›Das Denken tut dem Menschen gut; Wenn man es nämlich selber tut‹ 15 . Damit sei auf humorvolle Weise ausgedrückt, wie wichtig und heilsam eine selbstbestimmte Ausrichtung des Nachdenkens ist. Je beständiger ein solches Denken das Alltagsleben begleitet, umso wirksamer ist es nach meinem Ermessen. Unter gewissen Voraussetzungen würde ich sogar so weit gehen zu behaupten, dass Philosophie bzw. mitfühlendes Philosophieren das beste Antidepressivum ist. Das ist natürlich erklärungsbedürftig. Warum also Mitgefühl? Die Welt quillt über von Leidensgeschichten. Gewiss können auch Philosophinnen den Ursprung schrecklicher Taten und Widerfahrnisse nicht befriedigend erklären. Am Problem des Bösen erleidet die Vernunft regelmäßig Schiffbruch. Sie vermag allerdings einen Unterschied zwischen natürlichen und moralischen Übeln zu mar15 Bei Wilhelm Busch heißt es allerdings im Maler Klecksel: Das Reden tut dem Menschen gut; Wenn man es nämlich selber tut. Von Angstprodukten abgesehn, Denn so etwas bekommt nicht schön.« – (Busch 1943, S. 427).

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kieren. 16 Auch kann sie zeigen, wie ungemein wichtig diese Unterscheidung ist, um das von Menschen gemachte Elend anzuprangern, an welches, wie Voltaire vormals angesichts des Erdbebens von Lissabon bilanzierte, Naturkatastrophen schwerlich heranreichen: »(…) die Menschen fügen auf ihrem kleinen Maulwurfshügel einander mehr Schaden zu, als die Natur ihnen zufügt. In unseren Kriegen werden mehr Menschen abgeschlachtet als bei Erdbeben umkommen. Bräuchten wir in dieser Welt nur Ereignisse wie Lissabon zu fürchten, befänden wir uns noch leidlich wohl.« 17 Nun ja, mittlerweile hat die Menschheit es dahin gebracht, zum maßgeblichen Mitverursacher von Naturkatastrophen ›aufzusteigen‹, so dass die stets etwas unscharfe Unterscheidungslinie zwischen den differenten Übeln nun gänzlich zu verschwimmen beginnt. Immer schon war es eine beliebte Denkfigur, Krankheiten und Schicksalsschläge, die den natürlichen Übeln zuzuschlagen wären, durch Sünden oder Fehlverhalten der Betroffenen kausallogisch zu erklären. Auch heute ist man schnell dabei, wenn es darum geht, Krebs oder Herzinfarkt als hausgemachte Leiden abzustempeln. Suggeriert wird, dass derartige Katastrophen durch eine angemessene Lebensführung vermeidbar gewesen wären. Vermutlich hofft man auf diese Weise, die verstörende Kontingenz des Lebens von sich fernzuhalten. Angstvoll sucht man griffige Erklärungen und Sinndeutungen in das Unbeherrschbare hinein zu legen, wenngleich dies in vielen Situationen den Schmerz der Leidtragenden wohl eher noch erhöht. Angesichts ökologischer Probleme trägt die Emotion der Angst allerdings ebenso gut dazu bei, tatsächlich bestehende Kausalitäten aus unserem Bewusstsein zu verbannen. Solange man persönlich nicht direkt betroffen ist, werden die Dinge zurechtgelegt, um sich auch weiterhin möglichst wenig betreffen zu lassen. In beiden Fällen regiert ein Mangel an Mit16 17

Siehe hierzu insbes.: (Neiman 2006, S. 73 ff.). Voltaire in einem Brief, zit. nach: (Neiman 2006, S. 220).

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gefühl: Wir machen andere verantwortlich für ihre Gebrechen, anstatt an ihrem schweren Los einfach nur behutsam Anteil zu nehmen. Und wir haben kaum Empathie für diejenigen, die zu den vordersten Opfern des globalen Klimawandels gehören, ja vielfach verweigern wir es sogar, die Leiden dieser Menschen in einen klaren Zusammenhang mit unseren eigenen Verhaltensweisen zu bringen. Man könnte versucht sein, hier ein Defizit der Herzensbildung zu konstatieren, ohne die unser Verstand keinen Pfifferling wert zu sein scheint. Maßgeblich in allen Lebenslagen ist – wie zu zeigen sein wird – ein beizeiten eingeübter kluger Umgang mit Emotionen. Dieser lehrt uns, dass spontane Affekte, die unerkannt und unreflektiert bleiben, alles andere als gute Lehrmeister sind. Viel zu oft haben uns destruktiver Zorn oder diffuse Ängste fest im Griff. Im Verborgenen wirkend versklaven sie den Verstand, sofern keine anderen Kräfte dagegen halten. Gezeigt werden soll, dass im Mitfühlen solche Kräfte zu finden sind. Doch echtes Mitgefühl oder reife Empathie 18 erwächst erst aus einer überlegten Kultivierung unserer empathischen Anlagen. Es handelt sich, wenn man so will, um eine Emotion, die vorsätzlich mit Zusatzwissen angereichert wird. Das heißt auch: Im echten Mitgefühl erweitert sich der Radius unmittelbarer empathischer Impulse in die Dimension einer universellen Orientierung an Gleichwertigkeit. Dementsprechend konfiguriert sich echtes Mitgefühl in einem ausbalancierten Dialog von nachdenkender Wissenserweiterung und explizit-fühlender Teilhabe am Erleben anderer. 19 Daraus ergeben sich ganz eigene Schwierigkeiten, die nicht ausgespart bleiben dürfen, z. B. müssen Ein Begriff, den der Moralphilosoph John Deigh verwendet. Siehe hierzu: (Plüss 2010, S. 76). 19 Schon Blaise Pascal befasste sich in seiner Logik des Herzens mit der besonderen Erkenntnisfähigkeit des Gefühls. (Pascal 1974). – Laut Irene Kummer ist für ihn der dialogische Charakter einer von Gefühl getragenen Urteilskraft zentral: »(…) die Erkenntnis des Herzens ist immer eine dialogische, die aus dem Frage- und Antwortspiel von behutsamer 18

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

wir uns mit den Grenzen von Empathie beschäftigen. Ungeachtet dessen lässt sich behaupten, dass über das ausgereifte Mitgefühl eine Besonnenheitshaltung zur Entfaltung gelangt, in welcher der Antagonismus von Vernunft und Gefühl wenigstens der Tendenz nach überwunden ist, nicht minder der von Individuum und Gemeinschaft. Auch zeigen sich neue Wege zwischenmenschlicher Begegnung jenseits der Illusion vollkommener empathischer Übereinstimmung. Schließlich lässt sich konstatieren, dass bestimmte Formen persönlichen Glücks, die gemäß neurologischer Studien die tiefsten und nachhaltigsten sein sollen, 20 viel damit zu tun haben, auf welche Weise jemand mit anderen in Verbindung tritt. Hierauf spielt der 14. Dalai Lama an, wenn er sagt: »Die ersten Nutznießer unseres Mitgefühls sind immer wir selbst.« 21 Natürlich weiß jeder, dass es sich durchaus vergnüglich in Saus und Braus leben lässt, ohne jemals mit dieser Dimension des Glücks in Berührung zu kommen. Allerdings kann sich ein solcher auch kein letztes Urteil in Glücksfragen erlauben. Ob wir es wollen oder nicht, wir kommen als Gefühlsbündel zur Welt mit einem überstarken Verlangen nach sozialer Zuwendung. Die damit verknüpfte Schutz- und Wehrlosigkeit des Menschen tritt in der frühen Kindheit noch ganz unverhüllt in Erscheinung. Deshalb sind sowohl die Chancen als auch die Gefährdungen unserer Gefühlsherkunft zu erwägen. Hierfür ergeben sich eine Reihe von Leitfragen: Welches frühkindliche ›Setting‹, welche erzieherische Situation – welche Art von Bildung – ist günstig für die Entfaltung authentischer Mitgefühle? Um welche Kulturtechniken müssen wir uns neben der reinen Wissensvermittlung bemühen? Unter welchen Bedingungen hingegen entstehen Gefühlskälte, Einfühlung und aufmerksamer Empfangsbereitschaft resultiert.« – (Kummer 1978, S. 110). 20 Siehe u. a.: (Singer 2015) // (Spitzer 2007). 21 (Dalai Lama 2011, S. 63).

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Einleitung: Warum neu über Besonnenheit nachzudenken ist

Hass und Gewaltbereitschaft? Durch welche Bildungsangebote und Maßnahmen können die Lebensbedingungen der heutigen Leistungsgesellschaft auf verbesserte Sozialformen hin überschritten werden, so dass Menschen ihr humanes Profil aufrechterhalten bzw. zurückgewinnen können?

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I.

Die politische Herausforderung der Besonnenheit Tatsachen muss man kennen, bevor man sie verdrehen kann. (Mark Twain) Seien Sie bescheiden, was das Ausmaß ihres eigenen Wissens betrifft. Bleiben Sie neugierig auf neue Informationen aus anderen Gebieten. Und anstatt mit Menschen zu sprechen, die mit Ihnen übereinstimmen, oder nach Beispielen zu suchen, die Ihre Ideen bestätigen, setzen sie sich mit Menschen auseinander, die andere Ansichten haben, und betrachten Sie abweichende Ideen als wichtige Ressource, um die Welt zu verstehen. (Hans Rosling)

1. Politik und Lüge Über Wahrheit und Lüge in der Politik wurde bereits viel gesprochen und geschrieben. Befragt man Bürger und Bürgerinnen, so offenbart sich schnell, dass die meisten Menschen Politik primär als schmutziges Geschäft betrachten, in dem Lügen und Betrügen an der Tagesordnung sind. Falsche Wahlversprechen, Geheimhaltung wichtiger Informationen, gezielte Falschaussagen, unehrliche Absichtserklärungen und bewusste Fehldeutungen der Faktenlage provozieren bei vielen Menschen moralische Empörung und Vertrauensverlust, damit verbunden oft Resignation und Ohnmachtserleben. Übersehen wird dabei gelegentlich, wie oft man selbst bereitwillig fadenscheinigen Parteiversprechen – im Wahlkampf z. B. – Glauben schenkte, ohne das in Aussicht Gestellte auf seinen realistischen Gehalt hin zu überprüfen. Und was die kleineren und größeren politischen Skandale angeht, die gefälschten Doktorarbeiten, die unlauteren Geldgeschenke von 35 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Die politische Herausforderung der Besonnenheit

vermeintlichen Freunden oder anonymen Gönnern, so wäre doch immerhin zu konzedieren, dass unsere Demokratie über die geeigneten Kontrollmechanismen verfügt, durch die solche Vorkommnisse früher oder später ans Licht der Öffentlichkeit befördert werden. Können wir auch bei einzelnen Politikern nicht mit rückhaltloser Offenheit rechnen, so erleben wir doch fraglos ein nach wie vor funktionsfähiges System wechselseitiger Kontrolle, das allzu machthungrige Skrupellosigkeit einzelner eindämmt. Diese Errungenschaften der Moderne gilt es in jedem Fall hochzuhalten, gleichwohl niemand wissen kann, was bis dato noch erfolgreich im Verborgenen gehalten wurde bzw. möglicherweise mittlerweile dem Vergessen überantwortet ist. Eine freie Presse, die sich über den Deutschen Presserat der Selbstkontrolle unterzieht, eine unabhängige Gerichtsbarkeit sowie parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind als fortschrittliche Instrumente unserer Demokratie anzusehen, die, wenn sie auch nicht immer greifen mögen, dennoch der Verlogenheit im Bereich des Politischen Einhalt gebieten. Wir haben es mit einem ausgefeilten System gegenseitiger Überprüfungen zu tun, welches, gerade indem es betrügerische Aktionen aufdeckt, der Wahrheit Tribut zollt. Niemand kann in der Politik mit rückhaltloser Offenheit rechnen. Gerade das politische Geschäft lässt eine Grundtatsache der menschlichen Existenz offenbar werden, die Tatsache nämlich, dass weder Einzelne noch Interessenverbände den Besitz objektiver Wahrheitserkenntnis für sich beanspruchen können. Auch wer die besten Absichten hegt und rechtschaffen agiert, bleibt – involviert in die sich unablässig wandelnden lebensweltlichen Angelegenheiten – stets interessegelenkt, von persönlichen Wertpräferenzen beeinflusst oder wenigstens doch einer eingeschränkten Perspektive verhaftet. Dieser Hang zur Parteilichkeit kann niemals ganz überwunden werden, auch dann nicht, wenn der einzelne Politiker sich ausdrücklich einer unparteiischen Haltung verschriebe und nur seinem Gewissen entsprechen wollte. 36 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Politik und Lüge

In der Regel aber folgt Politik ohnehin ihren eigenen Gesetzen: Hier geht es um konkurrierende Parteiprogramme, Fraktionszwänge und das Gewinnen von Wählerschaften durch kommode Wirklichkeitsdeutungen, wobei selten auf absichtliche Verzerrungen und Verbiegungen verzichtet wird. Man mag erwarten können, dass Politiker sich stets hinreichend über ein Sachgebiet informieren, bevor sie hochfliegende Ziele formulieren, und man mag sich vor allem wünschen, dass sie keine Versprechen wider besseres Wissen in die Welt setzen und ihre Anhänger damit ungeniert belügen. Es wäre aber unrealistisch davon auszugehen, dass es auf der Ebene der öffentlichen Angelegenheiten je ein Agieren ohne Vorbehalte, ohne Taktieren und ohne Zurückhalten der ganzen Wahrheit geben könnte, ja, man mag sogar einsehen, dass es in vielen Fällen eine solche Vorbehaltlosigkeit nicht einmal geben dürfte. Ähnliches konzediert auch Hannah Arendt, wenn sie schreibt: »Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand.« 1 In diesem Zusammenhang verdanken wir Arendt eine ungemein wichtige Feststellung. Sie macht nämlich darauf aufmerksam, dass die Beanspruchung von Wahrheit im politischen Raum als ein eindeutiges Signal von Herrschsucht zu verstehen ist. Wer die eigene Auffassung nicht als eine verhandelbare Sichtweise oder Meinung unter anderen präsentiert, sondern sie als fraglose Wahrheit bzw. als unhinterfragbare, objektive Deutung lebensweltlicher Tatsachen auftischt, der legt, wie Arendt sagt, die Axt an die Wurzeln aller Politik. Er missachtet, dass wir es auf dem Feld der Politik nicht mit dem Menschen im Allgemeinen, sondern mit Menschen in ihrer Diversität zu tun haben. Demzufolge sei es ein unverkennbares Merkmal echten politischen Denkens, »anderer Leute Meinung (…) in Betracht« zu ziehen, »und in allen 1

(Arendt 2013, S. 44).

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Die politische Herausforderung der Besonnenheit

Überlegungen das, was andere denken und meinen, mit zu berücksichtigen«. 2 Es komme hier, wie sie sagt, auf die Ausbildung des Gemeinsinns an. Dieser ist als eine Art und Weise des Nachdenkens zu verstehen, die prinzipiell bereit ist, sich aus der Verstrickung in Privat- und Gruppeninteressen zu lösen, um sich an die Stelle anderer zu begeben – stets ernsthaft darum bemüht, deren Anliegen anzuhören und nachzuvollziehen. Dazu gehöre die Bereitschaft, Instrumente der Gewaltenkontrolle anzuerkennen, um sich auch selbst überprüft zu wissen. Es lohnt sich, auf diese Gedanken Arendts noch etwas nuancierter einzugehen: Gemeinsinn ist gewissermaßen diejenige Haltung, die ein vernunftorientierter Mensch einzunehmen suche, wenn er die grundlegende Gebrechlichkeit der menschlichen Vernunft eingesehen und auch für sich selbst eingeräumt habe. Dies sei eine mit der Herausbildung demokratischer Abstimmungsverfahren eng verquickte Grundeinsicht der Moderne. Demgegenüber seien die staatsphilosophischen Entwürfe bis in die frühe Neuzeit hinein unter Bezugnahme auf übergeordnete Vernunftwahrheiten legitimiert worden – entweder im Verweis auf eine göttliche Ordnung, die die menschlichen Angelegenheiten trägt und stabilisiert, oder durch Zugrundelegung unfehlbarer Vernunftprinzipien, die das Staatsgebilde über ein solides Räsonnement absichern. Diese beiden Denkfiguren, deren Varianten hier nicht im Einzelnen thematisiert werden können, haben – so Arendt – folgende gemeinsame Merkmale: 1. Was im Staate vernünftig und damit geboten ist, wird monologisch (von Spezialisten des Geistes) festgelegt, insofern es sich aus der adäquaten Erkenntnis ewiger Wahrheiten ergibt. 2. Vor dem Hintergrund dieses ungetrübten Wahrheitsglaubens kommt der Lüge bzw. der Verleugnung von Tatsachen eine zweitrangige Bedeutung zu, während die (Ebd., S. 61). – Siehe hierzu auch Arendts Ausführungen zum Gemeinsinn, u. a. in: (Arendt 2006b, S. 140 ff.).

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menschliche Irrtumsanfälligkeit sowie die Bereitschaft, sich Illusionen hinzugeben, demgegenüber sehr viel nachdrücklicher gebrandmarkt werden. So werden z. B. in Platons Staat vorsätzliche Lügner, die gezielt Tatsachen verdrehen, als weniger problematisch eingestuft als diejenigen, die »sich mit schweinischem Behagen im Schmutze der Unwissenheit herumwälzen«. 3 Dieser antiken Sicht korrespondiert eine Auffassung, die klare Abgrenzungen vornimmt zwischen einer dialogisch agierenden Ergründung und Vermittlung philosophischer Wahrheit und bloß rhetorischen scheindialogischen Überredungskünsten, die der Meinungsmache dienen und dementsprechend nicht an das Vernunftvermögen appellieren, sondern auf Leidenschaften und Interessen abzielen. Diese Auszeichnung und Bevorzugung tragfähiger Vernunftwahrheiten gegenüber bloßer Meinung und Propaganda bleibt noch bis ins 18. Jahrhundert hinein virulent. Erst mit Kant, Madison und einigen anderen Aufklärern, die beginnen, den richtigen politischen Vernunftgebrauch explizit an den freien Gedankenaustausch mit gleichwertigen anderen zu koppeln, verändert sich die Lage grundlegend. Gedanken- und Redefreiheit werden propagiert. Wir haben es nun, wie Arendt schreibt, nicht mehr mit dem Menschen überhaupt zu tun, »sondern mit den Menschen in ihrer unendlichen Pluralität (…).« 4 Deshalb müsse das, was Überzeugungskraft beanspruchen könne, in Zukunft von der Anzahl derjenigen abhängen, die die gleichen Auffassungen teilen. Mit diesem Prozess, in dem sich eine zunehmende ›Demokratisierung‹ der Wahrheitsidee ausmachen lässt, geht eine bis heute relevante Verschiebung innerhalb des stets spannungsreichen Verhältnisses zwischen Politik und Wahrheit einher. Während man die eine Vernunft immerzu als durch Irrglauben und irrationale Einflüsse gefährdet ansah, hat die adäquate, d. h. offen-diskursive und realitätsgerechte Mei3 4

(Arendt 2013, S. 50). (Ebd., S. 53).

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nungsbildung mit einem anderen Feind zu rechnen: nämlich mit der Leugnung oder Verhehlung von Tatsachen im Dienste persönlicher bzw. gruppenspezifischer Gewinn- und Machtinteressen. Das heißt: Vorsätzliches Lügen wird von dem Moment an zweckdienlich, in dem die Überprüfung und Verteidigung politischer Standpunkte vorwiegend auf die genaue Kenntnis von Fakten bzw. adäquate Dokumentation von Ereignissen angewiesen ist. So kann man sagen: Zwar ist, was begrüßenswert ist, der Glaube an absolute Wahrheiten zugunsten von Gedanken- und Meinungsfreiheit sowie zugunsten von gesteigerter Toleranz in den Hintergrund getreten, als Kehrseite dieses historischen Voranschreitens lässt sich indes – wie Arendt feststellt – eine verstärkte Bekämpfung von Tatsachenwahrheiten beobachten. Insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts wird ihrer Einschätzung nach ein wachsender Mangel an Wahrhaftigkeit innerhalb der Politik, nicht zuletzt in Fragen der geschichtlichen Aufarbeitung, augenfällig. Hiefür bietet Arendt schon Anfang der 1970er Jahre eine Vielzahl historischer Beispiele. Ich denke, wir müssen Arendt zustimmen, wenn sie in der zunehmenden ›Nachlässigkeit‹ gegenüber Tatsachen ein alarmierendes Phänomen der Gegenwart erblickt. Gleichwohl viele Tugenden politisch höchst relevant sind, so kommt dem Wahrheitsbezug bzw. dem Bemühen um Wahrhaftigkeit dennoch ein besonders hoher Stellenwert zu. Schwinden diese Anliegen, so ist höchste Gefahr im Verzug. Man könne der Staatsräson, wie Arendt schreibt, jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern als nun gerade Wahrhaftigkeit. So könne man sich ohne Weiteres eine Welt vorstellen, die weder Gerechtigkeit noch Freiheit kennt, auch wenn das Leben in solch einer Welt vielleicht nicht mehr der Mühe wert wäre. Der Verlust von Wahrheit jedoch drohe die Welt insgesamt aus den Angeln zu heben: »Mit der so viel unpolitischeren Idee der Wahrheit« geht es »ja um den Bestand der Welt, und keine von Menschen erstellte Welt, die dazu bestimmt ist, 40 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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die kurze Lebensphase der Sterblichen in ihr zu überdauern, wird diese Aufgabe je erfüllen können, wenn Menschen nicht gewillt sind, (…) das zu sagen, was ist. Keine Dauer, wie immer man sie sich vorstellen mag, kann auch nur gedacht werden ohne Menschen, die Zeugnis ablegen für das, was ist und für sie in Erscheinung tritt, weil es ist.« 5 Dieser Aussage Arendts ist heute, über 30 Jahre nach der Veröffentlichung ihrer Essays, dringend auf neue Weise nachzugehen. Nicht nur dass Lüge und Wahrheitsverbiegungen in der politischen Argumentation gang und gäbe sind, nicht nur dass angriffslustige Diffamierungen politischer Gegner inzwischen weit übers Ziel hinausschießen, in der gegenwärtigen Situation macht sich offenkundig ein Politikstil breit, der selbst wissenschaftlich erwiesene Tatsachen mit einem Handstreich vom Tisch fegt und erfundene Wirklichkeiten oder Phantasiegebilde an ihre Stelle setzt, solange es den unmittelbaren politischen Machtinteressen bestimmter Politiker zuträglich ist. Anders gesagt: Mögen Lügenstrategien oder wenigstens doch geschickte Manöver der Verheimlichung auch unumgängliche Bestandteile einer jeden Erfolgstaktik sein, so erstaunt doch die Unverfrorenheit, mit der aktuell falsche Tatsachenaussagen getroffen und daraufhin erfolgende kritische Nachfragen schlichtweg ignoriert werden bzw. mit der man sich in abenteuerlicher Weise auf ›alternative Fakten‹ beruft. Donald Trump brachte es in einem einzigen Wahlkampfauftritt auf 71 Faktenfehler, was seine Anhänger trotz eines unmittelbar nachfolgenden Faktenchecks nicht ernsthaft irritieren konnte. 6 Im Blick auf die Verbreitung derartiger Falschaussagen und Lügen sind wir überdies durch die Möglichkeiten digitaler Medien in eine neue Ära eingetreten: Mark Twain schrieb einst: »Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde ge-

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(Ebd., S. 46). Siehe: (Pörksen 2018, S. 34).

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laufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht«. 7 Doch heute – im Zeitalter der Netzwirklichkeit – müssen Lügen, wie es scheint, nicht einmal mehr ein zeitraubendes Laufpensum absolvieren. Sie dringen vielmehr in Echtzeit bis in die fernsten Winkel dieser Welt vor, um blitzschnell Millionen Gemüter zu okkupieren und zu erregen. 8 Allerdings, ob #pizzagate oder die Tricksereien von Brexit-Befürwortern, Fake-News haben oftmals sehr gravierende reale Folgen. Wir wissen dies inzwischen zu Genüge. Manche sind deshalb dazu übergegangen, angesichts derartiger Befunde das postfaktische Zeitalter, eine neue Ära der Leichtgläubigkeit, einzuläuten. Ohne allzu optimistisch werden zu wollen, möchte ich dennoch anmerken, dass möglicherweise gerade solche Pauschaldiagnosen dazu beitragen, den realistischen Blick auf die Wirklichkeit und auf das, was wir tun können, zu verstellen. Gewiss ist: Dass es relativ problemlos möglich geworden ist, frei erfundene Wirklichkeiten in ein Reich der Wahrheit umzucodieren, sollte uns in höchstem Maße nachdenklich stimmen. Die Zunahme politischer Akteure mit einem notorischen Hang zu Phantasterei und Vorspiegelung falscher Tatsachen ist beunruhigend. Einigen geht es ganz unverhohlen um Alleinherrschaft, insofern ihnen die Systeme parlamentarischer Kontrolle, die Existenz unabhängiger Medien sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung ein Dorn im Auge sind. Selbst die Gewaltenteilung wird als störend und

https://zitatezumnachdenken.com/mark-twain Siehe hierzu z. B. die Geschichte um die vorgetäuschte Vergewaltigung einer 13-jährigen Schülerin aus Berlin Marzahn im Jahr 2016, eine Fehlinformation, die sich rasant schnell im Netz verbreitete und erhebliche Realfolgen nach sich zog: (Pörksen 2018, S. 9). – Im Blick auf Wahrheitsverfälschung und Hetze im Netz ist auch das Beispiel der Bloggerin Justine Sacco aufschlussreich, die infolge eines vermeintlich rassistischen Tweets 2015 Opfer eines diffamierenden ›shitstorms‹ wurde – (Welzer 2016, S. 19 ff.).

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hinderlich empfunden, was Diffamierung und Beleidigung in alle Richtungen augenfällig machen. Sehen wir von Wahlbetrug und anderen manipulativen Maßnahmen ab, so lässt sich nicht abstreiten, dass die derzeitige Hochkonjunktur besonders unbesonnener Akteure ihr Pendant in der Zunahme einer nicht minder unbesonnenen Wählerschaft hat. Denn der am meisten schockierende Tatbestand in all dem ist das ungeheure Maß an Aufmerksamkeit und Zustimmung, das dem Typus des politischen Haudegens seitens der Wählerschaft entgegengebracht wird. Schneidiges Auftreten und Dreistigkeit, mit der diese Führungspersönlichkeiten jeden berechtigten Einwand, jede Entlarvung von Unwahrheiten in den Wind schlagen, scheinen die Begeisterung ihrer Anhänger nur noch weiter zu entfachen. Man könnte auf den Gedanken kommen, hier gleichsam eine neue Lust am Betrogen- und Hintergangenwerden zu konstatieren, sofern ein Politiker es nur hinreichend gut versteht, Ängste zu stimulieren und entsprechende Feindbilder wachzurufen, um dann Abhilfe mittels abenteuerlicher Anordnungen in Aussicht zu stellen. Martialische Schlagwörter, haltlose Vorhersagen, vor allem aber das Ankurbeln von Verfeindungsstrukturen verführen eine erstaunlich hohe Anzahl von Menschen dazu, an neuartige Heilsbringer zu glauben, die es den korrupten politischen Eliten zeigen werden und die imstande sind, mit wenigen energischen Federstrichen alle sozialen Probleme im Sinne ihrer Anhängerinnen und zu ihren Gunsten zu lösen. In zunehmendem Maße werden Menschen empfänglich für infame Lügen, deren Aufdeckung ohne allzu großen Aufwand möglich wäre. Sie werden zu willkommenen Opfern politischer Strategien, die auf Emotionalisierung setzen, wobei es insbesondere um das Schüren von Angst, Wut, Ekel und Ressentiment geht. 9

Zur politischen Bedeutung von Emotionen, siehe insbes.: (Nussbaum 2014).

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Der gegen etablierte Politikvertreter gerichtete Pauschalvorwurf der Verlogenheit und ebenso die herabsetzende Etikettierung sämtlicher Medien als ›Lügenpresse‹ signalisieren ihrerseits eine gravierende Form der Unaufrichtigkeit. Sie kaschieren den Selbstbetrug derjenigen, die sich zu Wutbürgern stilisieren und alle faire Umsicht fahren lassen, entweder um eigene Interessen durchzusetzen und/oder um diffuse unreflektierte Ängste zu bewältigen. Hier zielt der Lügenbegriff z. B. keinesfalls auf eine berechtigte und fundierte Medienkritik, die immer geboten ist, sondern er attackiert die für jede funktionierende Demokratie unerlässliche Pressefreiheit. Simone Dietz konstatiert eine »inflationäre Verwendung des Lügenvorwurfs« – oftmals »die wohlfeile Haltung derer, die es sich selbst in der Schiedsrichterposition im Fernsehsessel bequem gemacht haben«. 10 Selbst will man eigentlich keine Verantwortung übernehmen, man ereifert sich lieber über die vermeintlichen Fehltritte und manchmal auch echten Skandale der politischen Szenerie, deren ›Schauspiel‹ man als allabendliches Feierabendamüsement goutiert.

2. Die Provinzialität der menschlichen Natur Die Zunahme von Hassparolen und Gewaltbereitschaft innerhalb westlicher Gesellschaften ist mittlerweile wieder unabweisbar geworden. Hierfür gibt es ein ganzes Bündel von ursächlichen Faktoren, gegen deren kausale Macht die Seelen vieler Menschen wehrlos geworden sind. Sie sind durchlässig geworden für Lügen und empfänglich für sozial-destruktive Emotionen, während sie zugleich vermeinen, im Zeichen hochgesteckter Ideale aktiv zu sein. Sie halten abendländische Werte hoch, skandieren im Modus des demokratischen Rechts auf freie Meinungsäußerung und haben dennoch in einem entscheidenden Punkt die Verbindung zum Erbe der 10

(Dietz 2003, S. 166).

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Aufklärung und Menschenrechte verloren. Sie übersehen den universalistischen Anspruch, der hier formuliert ist und seitdem aus politisch-rechtlichen Auseinandersetzungen nicht mehr fortzudenken ist. Es ist der Anspruch der Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von sozialer Stellung, ethnischer Zughörigkeit, Geschlecht und vielen anderen Faktoren. Auch in westlichen Ländern mussten viele Etappen durchlaufen werden, z. B. in Bezug auf die Gleichstellung der Geschlechter, bis die soziale Realität dem hochfliegenden Gleichheitsideal wenigstens einigermaßen nachkommen konnte. Immer noch gibt es Unterschiede zwischen Menschen, die rechtlich relevant sind und sich zum Nachteil bestimmter Gruppierungen auswirken. Mit anderen Worten: Betrachten wir die Geschichte der Menschenrechte, so erblicken wir mühsame Prozesse der Einlösung eines hohen Versprechens, das von Anfang an zwar ernst gesprochen, aber kaum je mit vollem Ernst umgesetzt wurde, insofern auch bei den eifrigsten Aufklärern stets exkludierende psychische Mechanismen wirksam waren. Das Gleichheitsversprechen wurde fortwährend – ob bewusst oder unbewusst – an bestimmte Vorbedingungen der Zugehörigkeit bzw. der Normalität von Lebensgewohnheiten geknüpft. Kontinuierlich zeigten sich enorme Schwierigkeiten, über den Horizont der eigenen Bezugsgruppe hinaus eine konsequente Durchsetzung dieses Versprechens in Angriff zu nehmen. Man denke nur an die Widerstände, die auch heute noch spürbar werden, wenn gleiche Adoptionsrechte für Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen eingeklagt werden. Hierin, vor allem aber auch in der aktuellen Zunahme rassistischer und religionsbezogener Verunglimpfungen, zeigt sich m. E. ein bedenklicher Grundzug der menschlichen Natur, ihre Provinzialität nämlich. »Die Seele wählt sich ihre eigene Gesellschaft, dann schließt sie die Tür« 11 , schrieb einst 11

Zit. nach: (Bloom 2014, S. 125).

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die Dichterin Emily Dickinson, um das Engstirnige und Provinzielle unserer landläufigen Weltsicht zum Ausdruck zu bringen. Ein starkes Verlangen nach sozialer Rückbindung lässt uns auch in moralischen und politischen Fragen weitgehend blind nach Gruppenvorgaben agieren. Nicht zu vergessen ist: Die Anpassung an die hier jeweils gängigen Verhaltensmuster und Denkklischees erspart Kraft und Zeit, während die Beschäftigung mit fremdartigen Lebensweisen uns einiges abverlangt. Auf diesen Punkt werde ich später noch detaillierter eingehen. Vorab sei gesagt: Dass wir diesen Impuls zur spontanen Identifikation und Höherbewertung der eigenen Referenzgruppe haben, ist inzwischen hinreichend durch die psychologische Forschung untermauert worden. 12 Doch die politischen und wirtschaftlichen Prozesse der letzten Jahrzehnte, über deren Ursachen und Hintergründe hier nicht systematisch reflektiert werden kann, durchkreuzen in zunehmendem Maße dieses menschliche Verlangen nach Uniformität, Zugehörigkeit und Vertrautheit. In allen vergangenen Epochen lassen sich mit Leichtigkeit zahllose Beispiele dafür finden, dass Menschen gruppenbezogenen Verfeindungs- und Ausschlussmechanismen folgen, wobei Religionszugehörigkeit immer schon eine zentrale Rolle spielte. Seit einiger Zeit nun, nicht zuletzt durch die Flüchtlingsströme der letzten Jahre, erleben wir einen sich beschleunigenden Prozess der Konfrontation traditioneller Lebenswelten mit unbekannten und prima facie fremdartig erscheinenden Menschen. Es ist anzunehmen, dass die Schnelligkeit dieser Abläufe sowie – in manchen Regionen – die große Anzahl der Geflüchteten für Menschen, die bis dato in relativ homogenen Kontexten lebten, schlichtweg eine Überforderung darstellen. So kommt es zu einer hochexplosiven Gemengelage, in der sich jener grundlegend provinzielle Wesenszug des Menschen mit massiven Ängsten um den 12

(Ebd., Kap. IV).

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eigenen sozialen Status verbindet. Dann genügen nur wenige konkrete Vorfälle, z. B. kriminelle Akte einzelner Geflüchteter oder auch nur entsprechende Gerüchte, um ein extrem emotionalisiertes, vermeintlich politisches ›Gehabe‹ auszulösen. Man mag dies zu Recht anprangern und die vollkommen unangemessenen Pauschalisierungen kritisieren, vor denen auch gebildete Vertreter der Rechten nicht zurückschrecken, Tatsache ist, dass immer wieder solche rückwärtsgewandten Bewegungen erkennbar werden, die auf eine grundlegende Schwierigkeit hinweisen: die Schwierigkeit des Menschen seine provinziellen Voreingenommenheiten im Sinne universeller Menschenrechte zu überwinden. Auch viele Kritiker der rechten Szene haben diese Schwierigkeit, insofern sie – zwar mit guten Gründen die Engstirnigkeit auf der anderen Seite anprangernd – nicht hinreichend darüber nachdenken, wie derartigen Phänomenen anders als durch Diffamierung der Symptomträger zu begegnen ist. Es ist ein Kennzeichen des ›Spießers‹, sich über ungeprüfte Vorannahmen gegen andere abzukapseln und Feindseligkeit zu schüren. Allerdings, so meine ich beobachten zu können, erhält sich dieser Zug der Intoleranz nur allzu oft in den Reihen vermeintlich progressiver Kämpfer wie auch in den Zirkeln einer künstlerischen Avantgarde, die müde lächelnd auf alles Philiströse herabblickt. Fazit: Die multikulturelle Gesellschaft führt Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur auf engem Raum zusammen. Von Einmütigkeit kann schwerlich die Rede sein. Im Gegenteil, die Gesellschaft und auch die politische Szene spaltet sich zunehmend in zwei Lager und driftet auseinander. Diese beunruhigende Tatsache macht unübersehbar, dass wir unsere provinzielle Begrenztheit hinter uns lassen müssen. Wir sind menschheitsgeschichtlich an einen Punkt gekommen, an dem besonders jene Haltung zur Notwendigkeit wird, die eigentlich immer schon den Kern des Ethischen ausmacht: nämlich ein lebendiges Interesse am Wohlergehen des menschlichen Gegenübers, das anders ist als ich selbst 47 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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und mir deshalb oft sehr fern ist. Wie aber kommen wir dazu? Wie machen wir Menschen universalismusfähig, und zwar, wie ich hinzufügen möchte, sozusagen wider ihre Natur oder wenigstens doch gegen ihre seit langem eingefahrenen Gewohnheiten? Welchen Beitrag vermag hier die Philosophie zu leisten, welchen insbesondere die Philosophische Praxis?

3. Gebrechlichkeit der Vernunft Wie der Philosophische Praktiker Thomas Polednitschek deutlich macht, verkommt der einst revolutionäre Ruf »Wir sind das Volk« im Rahmen der Pegida-Bewegung zu einem sektiererischen Hassslogan. Während auf den Leipziger Montagsdemonstrationen mit diesen Worten eine demokratische Wende für ein undemokratisches Land gefordert wurde – jeder einzelne Bürger möge zum mitbestimmenden Teil der politischen Macht werden! – meint der Ruf heute etwas völlig anderes: Nun erhebt eine Minderheit den Anspruch, für sich allein die Mehrheit zu repräsentieren, während sie zugleich »ressentimentgeladen alle Menschen ablehnt und ausschließen will, welche nicht der Minderheit angehören (…).« 13 Dieser fragliche Nationalismus und mit ihm verknüpft problematische Formen von Partikularismus und individueller Selbstherrlichkeit pervertieren, wie Polednitschek zu Recht anmahnt, das politische Erbe einer an Menschenrechten und demokratischen Strukturen orientierten Aufklärung. Er erblickt hierin einen Prozess, der mehr und mehr jenes tradierte Subjektverständnis verabschiedet, über das jede(r) einzelne sich als Teil eines gemeinsamen Ganzen sieht, sich mithin als Vertreter oder Vertreterin einer über den Gemeinsinn im Sinne Arendts geprägten Identität begreift. An die 13

(Polednitschek 2018, S. 116).

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Stelle dieses Subjektes, das, wenn es auch vereinzelt lebt, sich dennoch stets mit allen anderen verbunden weiß, seien mittlerweile – in vielen Spielarten – moderne Krieger getreten, die dem »Gefängnis ihrer eigenen Egoität« 14 nicht mehr zu entkommen wissen, wenngleich gerade diese Gegebenheit in vielen Fällen ungemeines persönliches Leid nach sich ziehe. In diesem Zusammenhang erinnert Thomas Polednitschek nun an die »dritte Erkenntnisgattung« Spinozas, welche die Menschen zu verstehen lehre, dass »hinter der chaotischen oder mannigfaltigen phänomenalen Wirklichkeit immer wieder eine überindividuell gültige Ordnung oder Gesetzmäßigkeit eben dieser Wirklichkeit« 15 stehe. Wenngleich eine neuerliche Zusammenführung aller Menschen im Blick auf eine übergeordnete geistige Sphäre in mancherlei Hinsicht wünschenswert sein mag, so müssen wir uns doch zugleich – in Anlehnung an schon Gesagtes – vor allem der gefährlichen Fallstricke bewusst werden, die gerade auf diesen Wegen ausgelegt sind. Zunächst einmal wäre wohl schlicht und ergreifend festzustellen, dass ein solches Ziel utopisch erscheinen muss – in Anbetracht der atomisierten und zerstückelten Wirklichkeit sozialer Einzelkämpfer sowie auch angesichts einer mittlerweile systematisch betriebenen Versteifung auf Parteiinteressen und damit einhergehender Verfeindungsstrukturen. Ich erinnere nochmals an die schon umrissene Tendenz vieler Streiter, sich mit ihresgleichen zu verbünden, um eigene Ansprüche absolut zu setzen und entsprechend rigoros zu agieren. Diese Problemlage kann m. E. heute nicht mehr gebannt oder auch nur gemildert werden, indem in Anlehnung an eine alte (überholte) Denkfigur ein rein intellektuelles Prinzip heraufbeschworen wird, welches sich gleichsam von oben auf uns herablässt, um Einheitlichkeit zu stiften. Wie schon Arendt darlegt, ist es fraglich geworden, die Gültigkeit eige14 15

(Ebd., S. 124). (Ebd.).

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ner Ansprüche im Rückgriff auf eine alles umwölbende Vernunftdimension zementieren zu wollen. Nicht allein, dass Appelle an die große Vernunft da wenig Aussicht auf Erfolg haben, wo seit langem anderen Antrieben freie Bahn gewährt wurde. Wir hören es immer wieder: Mit den neuen Protestlern von rechts lässt sich nicht mehr argumentieren. (Wirklich nicht?) 16 Hinzu kommt ein weiterer, viel grundsätzlicherer Aspekt, der uns – ganz unabhängig von der konkreten Symptomatik undialogischer Schreihälse – nachhaltig skeptisch stimmen sollte: Sobald jemand für politische Zwecke auf immerwährende, überindividuelle Ordnungen Bezug nimmt, wird oft unbesehen die Möglichkeit einer objektiven, gleichsam vom Beobachter unabhängigen Weltbetrachtung unterstellt. Gleichwohl beweist die Geschichte zu Genüge, dass jedes ›Einheitsdenken‹ dieser Art entweder von Anfang an dazu diente, eine Anhängerschaft für die intuitiven Vorlieben fragwürdiger Führergestalten zusammenzuschweißen. Oder: Das erklärte Objektivitätsideal wurde rasant schnell (möglicherweise sogar unbemerkt von den Akteuren) von gruppenspezifischen Standpunkten, die man bereitwillig mit der Wahrheit verwechselte, besetzt und unterwandert. Seit Platon kennen wir diese Denkfigur: Einige Auserwähle – z. B. die Philosophen – verfügen über einen privilegierten Zugang zur übergeordneten Vernunftsphäre, sie wissen genau, was das »rationalistische Block-Universum« 17 den Menschen abverlangt und nötigen in diesem Sinne die Vielheit zur Einheit. Selbst da noch, wo durchaus ein pluralistisches Verständnis politischer Meinungsbildung verfolgt und für eine dialogische Ausrichtung geworben wird, bleibt das hintergründige Andocken an ein überindividuelles, absolutes Bewusstsein riskant. Qua Überbewertung des Rationalen gewährt diese Haltung oftmals dem Drang nach Uniformierung zu viel Raum und verkennt die unaufhebbar partikulare, 16 17

Siehe hierzu: (Leo u. a. 2017). (James 1994, S. 212).

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emotional basierte Involviertheit des Menschen in seine je spezifische individuelle Erfahrungswelt. Der Name des Absoluten steht, wie der Pragmatiker William James formuliert, »für das beharrliche Verlangen der menschlichen Natur (…), daß die Wirklichkeit nicht widersinnig genannt werden soll«. 18 Was man als unvernünftig erachtet und nicht wünscht, duldet man allenfalls vorerst und drängt doch mit endlicher Geduld danach, es zu überwinden oder irgendwie kleinzukriegen. Aus dem Wissen um eine begrenzte und gebrechliche Menschenvernunft heraus kam es – wie in Anlehnung an Arendt dargelegt – im Zuge der Aufklärung zu einer allmählichen Ablösung des politischen Denkens von der Welt philosophisch fundierter Wahrheitslehren. Wenn es so etwas wie Wahrheit überhaupt noch geben könne, so bleibt sie nach Arendt auf den Einzelnen limitiert, der z. B. verhindern müsse, mit sich selbst in einen untragbaren Widerstreit oder Gewissenskonflikt zu geraten. Das Feld des Politischen hingegen sei von Anbeginn an durch Meinungsstreit und Antagonismen gekennzeichnet. Wer hier mit der Wahrheit aufwarte, trage aller Voraussicht nach zur Vertiefung bestehender Gräben bei. Zwar solle der Begriff der Wahrheit Orientierung und Sicherheit bringen, faktisch jedoch münde er in problematische Verfestigungen des Denkens und generiere heimliche Anpassungszwänge. Mit Heinz von Foerster könnte man ergänzend sagen, dass jeder Wahrheitsanspruch sich »auf eine entsetzliche Weise auswirkt. Er erzeugt die Lüge, er trennt die Menschen in jene, die recht haben, und jene, die – so heißt es – im Unrecht sind. Wahrheit ist, so habe ich einmal gesagt, die Erfindung eines Lügners.« 19 Der Rückgriff auf Dogmen, Prinzipien und die Evidenz untrüglicher Tatbestände ist laut von Foerster nicht selten ein geschickter Schachzug desjenigen, der sich durchsetzen 18 19

(Ebd., S. 192). (Pörksen und von Foerster 2016, S. 29).

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will. Wer dezidiert von Wahrheit spricht, bezichtigt den Andersdenkenden bestenfalls der Unkenntnis oder Unwissenheit, oft macht er ihn direkt oder indirekt zum Lügner. Wahrheitsfundamentalisten neigen zur ›Verjenseitigung‹ des eigenen Denkens, während sie ihren Kontrahenten persönlichkeitsbedingte Einsichtshandikaps ganz irdischer Provenienz anhängen. Wer hingegen jedwedes Bild der Welt vornehmlich als Hervorbringung endlicher Menschen begreift, übernimmt Verantwortung für die eigenen Thesen. Das heißt: Er sieht die immer mögliche Begrenztheit der eigenen Wahrnehmungen und Urteile und lässt davon ab, seine Wahrheitsidee mit Macht gegen andere durchboxen zu wollen. Die Welt der Tatsachen befindet sich in ständigem Fluss. Naturwissenschaftliche Fakten, insbesondere aber alle Tatsachen, die Ergebnisse des menschlichen Zusammenlebens sind, müssen unablässig bezeugt und dokumentiert werden. Hier gibt es immer die Möglichkeit, unliebsame Gegebenheiten zu leugnen, und sogar Versuche, historische Tatsachen zum Verschwinden zu bringen. Deshalb sind Tatsachenwahrheiten von besonderer Fragilität. Anders als Vernunftwahrheiten – z. B. ein mathematischer Lehrsatz oder ein logisches Gesetz – kann eine einmal vergessene Tatsachenwahrheit kaum je wiederbelebt werden. Doch selbst dann, wenn das bloße Dasein eines Sachverhalts unstrittig ist, gelangen Menschen oftmals zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen dessen, was offen zutage liegt. Im Blick auf das Faktische kommt es stets auf den Beobachter an, weshalb objektive bzw. neutrale Beschreibungen gerade hier ein Wunschziel bleiben müssen. Dies gilt natürlich insbesondere für unsere Erfahrungen innerhalb einer von Menschen geschaffenen Lebenswelt, in die wir gestaltend und wünschend involviert sind. Da einzusehen ist, dass jedwedes Bild der Tatsachenwelt unweigerlich subjektiv kontaminiert ist, konnte ein verhängnisvoller Prozess in Gang gesetzt werden: Die Trennungslinie zwischen Tatsachen und 52 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Meinungen begann zu verwischen. Nachdrücklicher gesagt: Einige sehen sich nun der Mühe entledigt, überhaupt noch langwierige und beschwerliche Verständigungen mit anderen über das Faktische anzustrengen. Schwierigkeiten, die stets mit der Bewahrheitung von Tatsachen verbunden sind, münden für sie in eine Haltung, die alles dem bloßen Gutdünken und damit dem freien Kräftespiel persönlicher Meinungen überantwortet. Gleichwohl für uns Menschen jedes Wirklichkeitswissen immer unter Vorbehalt stehen muss, ergibt sich daraus keineswegs zwangsläufig ein Freibrief für beliebige Realitätsfiktionen und subjektive Handlungswillkür. Die Infragestellung des Wahrheitsgedankens ist also hochgradig ambivalent: Während sich auf der einen Seite Vorteile gesteigerter Offenheit und Diskursbereitschaft auftun, lauern auf der anderen Seite enorme Risiken: Geheimniskrämerei, gezielte Realitätsverfälschungen, Lüge sowie die Bekämpfung auch wissenschaftlich erwiesener Tatbestände bzw. solcher, über die in der wissenschaftlichen Welt weitgehender Konsens besteht. Damit aber stehen wir vor jener Gefährdung der faktischen Wirklichkeit, auf die Arendt vor Jahrzehnten aufmerksam machen wollte, als sie schrieb: »Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, daß die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern daß der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.« 20 Niemand würde ernsthaft abstreiten wollen, dass es einen merklichen Unterschied macht, ob ich mir nur einbilde, einen Autounfall zu erleben oder ob ich tatsächlich mit irgendeinem Objekt kollidiere. Da wo ich konkret in die Welt eingebunden bin, wo ich leiblich präsent agiere, können wirklich 20

(Arendt 2013, S. 83).

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gegebene Dinge mich betreffen, irritieren, wenn nicht gar massiv und anhaltend verletzen. Spürbare Widerfahrnisse erteilen mir Denkzettel, bewirken, dass ich mein Verhalten revidiere und angleiche, Fehleinschätzungen korrigiere, Illusionen überwinde und den Eigensinn anderer Menschen zur Kenntnis nehme. Ich begreife, dass es die Welt tatsächlich gibt, dass sie fraglos weitaus mehr ist als bloße Fiktion meiner subjektiven Hirnaktivitäten. Wenngleich also neuro-konstruktivistische Positionen die Zuverlässigkeit unserer Sinnesorgane in Frage stellen, bleibt der Zusammenstoß mit unliebsamen Tatsachen dennoch ein erprobtes Mittel, um dem vermeintlich unausweichlichen »Ego-Tunnel« 21 unserer Projektionen zu entrinnen. Besondere Bedeutung fällt hier anderen Menschen zu, die sich gerade im ›leibhaftigen‹ Umgang nicht restlos vereinnahmen lassen, die vielmehr unser Nachdenken und Empathievermögen durch Widersetzlichkeit, Unverständlichkeit und unvermutete Rückmeldungen herausfordern. Heute verstärken sich Tendenzen, derartigen ›Zumutungen‹ zu entrinnen, indem man in virtuelle Welten abtaucht. Über visuelle Medien und digitale Kommunikation konstruieren viele nun tatsächlich ihren höchst eigenen Kosmos und entziehen sich per Knopfdruck den Ansprüchen einer widerständigen Außenwelt. Längst ist also eine weitere Schwelle in Richtung Wirklichkeitsverleugnung überschritten, hinter der sich »das hartnäckige Da« 22 von Tatbeständen, die Heteronomie der Dinge, zu verflüchtigen scheint. So sind die Möglichkeiten, mit Hilfe digitaler Techniken täuschend echte Bilder zu erzeugen und derartige Fälschungen in Umlauf zu bringen, enorm angestiegen. 23 Anhand von Algorithmen, die (Metzinger 2009). (Arendt 2013, S. 84). 23 Vgl. hierzu: (Pörksen 2018, Kap. 1). – Eindrücklich führt der Spielfilm Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt die manipulative Macht der Medien im Dienste politischer Interessen vor Augen: https://de. 21 22

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auf der Basis vergangener Verhaltensweisen zukünftige Wünsche ›berechnen‹, soll die Welt möglichst reibungslos unseren Bedürfnissen angepasst werden. Neurophilosophische Strömungen, die eine klare Unterscheidbarkeit zwischen Realität und Fiktion in Frage stellen, stehen bei solchen Strategien der Wirklichkeitsflucht gleichsam Pate. 24 Zur Wiedergewinnung des Wirklichen gälte es dringend innezuhalten und über neue Orientierungsmöglichkeiten nachzudenken. Zunächst wäre einzuräumen, dass Tatsachenwahrheiten, gerade weil sie intersubjektive Verständigung voraussetzen und vielfältig bedingt sind, keineswegs zu völlig beliebigen Meinungskonstrukten werden, sondern im Gegenteil einem strengen und präzisen Reglement wechselseitiger Abstimmung und Überprüfung auszusetzen sind. Die Infragestellung absoluter Wahrheitsansprüche mündet konsequenterweise genau nicht in Beliebigkeitsfatalismus und Meinungsdespotismus. Vielmehr trägt sie uns auf eine Metaebene, auf der das Vernünftige eine veränderte Gestalt annimmt und in der Anerkennung der Nichtwahrheit der Wahrheit gleichsam atmosphärische Folgen zeitigt. Vernünftig wäre es, im wechselseitigen Eingeständnis unserer jeweiligen Limitiertheit neugieriger und gesprächsbereiter zu werden, um ein Klima wachzurufen, das dem Auffinden gemeinsamer Orientierungen zuträglich ist. Dazu gehört es, nicht primär von eigenen Vorüberzeugungen her den Vorstellungen anderer zu widersprechen, sondern uns und ihnen dabei zu helfen, die Beobachtungsgabe zu schärfen, eine möglichst genaue Sprache zu entwickeln, Augen und Ohren offen zu halten, Reibung mit der Welt zuzulassen. Man sieht an dieser Stelle: Wie wir uns selbst verstehen, das bestimmt unser Weltverhältnis, vor allem unser Interagieren mit anderen. So betrachtet bleibt auch Ethik im Wesentlichen implizit – eine Orientierungswikipedia.org/wiki/Wag_the_Dog_%E2 %80 %93_Wenn_der_ Schwanz_mit_dem_Hund_wedelt. 24 Siehe hierzu auch: (Fuchs 2013).

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form, der das unermüdliche Hinüberwandern zu anderen eigentümlich ist. Ein in diesem Sinne eher pragmatischer Modus des Vernünftigen und Moralischen ist in mehrfacher Hinsicht wirklichkeitsnäher. Der Handlungswille formiert sich nicht über abstrakte primär monologische Reflektionen und erliegt mithin nicht der Illusion intellektueller Autonomie. Gerade um sich möglichst präzise auf situative Gegebenheiten – auf Tatsachenvoraussetzungen und die Belange anderer – einzustellen, darf die eigene mitgeschleppte Weltverflechtung nicht geleugnet werden. Mit William James wäre anzuerkennen, dass unser volles Selbst von »Ausstrahlungen des Unterbewusstseins« mitbestimmt ist, die wir »nicht begrifflich erfassen noch analysieren können«. 25 Die Kraft des Intellekts ist deshalb immer schon gebrochen, seine akkurate Logik unanwendbar auf die Komplexität unseres inneren Lebens. Zur Individualität gehört das Nichtberechenbare, das Überraschende und Unerwartete, das Nichterkennbare und Nichtrepräsentierbare: Die Besonderheit subjektiver Empfindungen – auch Qualia genannt – ist mit naturwissenschaftlichem Vokabular nicht beschreibbar, denn dieser Art der Versprachlichung fehlt die besondere qualitative Tönung der einmaligen inneren Erfahrungswelt. Es findet sich also schlechthin keine befriedigende Möglichkeit, die Erste-Person-Perspektive in ein Meta-Vokabular neutraler Betrachtung zu übersetzen. Doch nicht nur hinsichtlich unserer inneren Vorgänge erklärt James den Bankrott jedes nach Einheit strebenden Intellektualismus, auch der äußeren Wirklichkeit werden wir mit unseren Worten und Begriffen niemals vollends gerecht. Wir dürfen die Macht unserer selbstgemachten Zeichen nicht überschätzen, denn »man kann mit ihnen ebensowenig die Substanz der Wirklichkeit heraufholen, wie man Wasser heraufholen kann mit einem, wenn auch noch so

25

(James 1994, S. 187).

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feinmaschigen Netze« 26 , schreibt er. Wahrheitsansprüche bleiben schon allein deswegen unerfüllbar, weil die Sprache unabänderlich in Differenz zu den vielfältigen Phänomenen dieser Welt steht. Im Gebrauch der Worte folgen wir der Illusion, dass es anders sein könnte, dass wir Wirklichkeiten ›naturgetreu‹ abbilden können. Wir konstruieren vermeintlich wahre Sätze und vergessen darüber den fiktionalen Charakter der Allgemeinbegriffe, welche uns vorgaukeln, es könne jemals eine vorgefundene Sache genauso wie eine andere sein. Schon Nietzsche hatte in seinem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne intensiv über die überlebensnotwendige Lust des Menschen an sprachlichen Fiktionen reflektiert: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das ›Blatt‹ wäre, (…).« 27 Wir sind indes auf diese vergröbernden und verfälschenden Sprachkonventionen angewiesen, um miteinander auszukommen und das soziale Leben einigermaßen reibungslos zu koordinieren. Wer sich wie Nietzsche und James oder viele andere moderne Denker 28 radikal auf empirische Prozesse einlässt, gelangt zur kritischen Sichtung philosophischer Ansätze, die (Ebd., S. 161). (Nietzsche 1988d, S. 880). 28 James selbst nimmt hier insbesondere an Bergson Maß. – Siehe: (James 1994, S. 142–176). // Eine aktuelle Stimme der Kritik an wirklichkeitsfernen Autonomieidealen äußert sich insbesondere im Werk Matthew Crawfords (siehe meine Einleitung). Crawford diagnostiziert eine durch die Aufklärung bewirkte Abkopplung des Willens von der Wirklichkeit, eine zunehmende Entkörperlichung des Intellekts, wodurch die Ausbildung kohärenter Persönlichkeiten behindert werde. Die Gegenwart sieht Crawford von einer allumfassenden Aufmerksamkeitskrise mit gravierenden Folgen beherrscht. – (Crawford 2016). 26 27

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das Vernunftmäßige überschätzen und ihm eine alles durchdringende Macht zusprechen. Vielfältige multikausale Verknüpfungen, mithin die unablässige Wandlungsfähigkeit aller wirklichen Phänomene umreißend, konstatieren und konzedieren viele moderne Denkerinnen die Begrenztheit unseres begrifflichen Vermögens, jedoch ohne deshalb das Bemühen um Verständigung aufzukündigen. Vielmehr weist man der menschlichen Vernunft vornehmlich pragmatische Relevanz zu, wodurch eine vernünftige Person, wie ich in meinen folgenden Ausführungen noch genauer zu zeigen suche, zum einen bescheidener und zurückhaltender agiert, sich zum anderen aber auf das eminent anspruchsvolle Ziel intersubjektiver Verständigung zu bewegt. Noch einmal anders gesagt: Wenn wir akzeptieren, dass das wirkliche Leben eine Vielheit darstellt, die niemals ganz in Einheit zusammengefasst werden kann, so kann diese Einsicht nicht authentisch ausgesprochen werden, ohne dass eine entsprechende innere Haltung der Selbstrelativierung erfolgt. In diesem Sinne wäre James’ folgende Äußerung zu verstehen: »Die Rückkehr zum Leben erfolgt nicht durch Reden. Sie ist eine Tat; und um Sie zum Leben zurückzuführen, muß ich ein Beispiel geben, das Sie nachahmen können (…), indem ich Ihnen zeige (…), daß die Begriffe, mittels derer wir reden, für die Zwecke der P r a x i s , aber nicht für die der tieferen Einsicht geschaffen sind.« 29 Das Bestreben nach begrifflicher Abstimmung bleibt also durchaus bestehen und lenkt die Praxis, aber es agiert in dem Bewusstsein, dass Deckungsgleichheit immer nur partiell erreichbar sein kann und wir uns deshalb – so eilfertig wir auch hier und da zu Resultaten gelangen mögen – mit dem Unvollendeten und Kompromisshaften arrangieren müssen. In den Worten James’ lautet dieser Gedanke folgendermaßen: »Die Dinge sind ›mit‹einander in vielen Weisen verknüpft, aber es gibt keines, das alles umschlösse oder alle anderen vollkommen 29

(James 1994, S. 187).

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beherrschte. Das Wort ›und‹ schleppt hinter jedem Satz her. Etwas bleibt immer draußen. ›Immer noch nicht ganz‹ hat man von den besten Versuchen gesagt, im Universum zu einer allumfassenden Einheit zu gelangen. Die pluralistische Welt gleicht so mehr einer föderativen Republik als einem Universum oder einem Königreich.« 30 Gleichwohl uns absolute Seinserkenntnis verwehrt bleibt, gleichwohl wir also nicht damit rechnen dürfen, jemals ein unfehlbares, vollständiges Wissen zu erreichen, erlaubt diese Einsicht im Umkehrschluss nicht, die Existenz einer unabhängigen Realität zu leugnen und damit die Erfassbarkeit von Tatsachen generell auszuschließen. Es ist ein vermessener Schritt, ausgehend von Schwierigkeiten des Erkennens, die in uns selbst liegen, das Bestehen einer wirklichen Welt in Abrede zu stellen. Naturwissenschaftliches Voranschreiten in der Erforschung der Wirklichkeit ist unbestreitbar. Sein Merkmal liegt darin, über interaktive Prozesse offener Forschergemeinschaften die subjektiven Anteile der Erkenntnis kontinuierlich zurückzuschrauben und so ihren objektiven Gehalt zu erweitern. 31 Vielleicht ist gerade dieser Mentalitätswechsel, dieser Übergang vom Königreich subjektiver Selbsterhöhung zu einer föderativen Republik intersubjektiver Abstimmung, ein Schritt, der bis dato noch nicht so recht gelingen will. Dies gilt bezogen auf Fragen der politisch-ethischen Lebensgestaltung wohl noch weitaus mehr als in naturwissenschaftlichen Kontexten, deren Gegenstände üblicherweise weniger mit den subjektiven lebensweltlichen Interessen und Wertüberzeugungen einzelner Forscher verquickt sind. Doch generell bleibt festzustellen: Nichts scheint anspruchsvoller als Anspruchslosigkeit, nichts ambitionierter (Ebd., S. 208). In diesem Zusammenhang wäre über James hinaus insbesondere auf Charles S. Peirce zu verweisen: (Peirce 1985). – Zu der hier nur gestreiften erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Problematik eines überzogenen, radikalen Konstruktivismus, siehe insbes.: (Neuhäuser 2014).

30 31

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als heruntergeschraubte Erwartungen, nichts schwieriger als Zuhören und Hindenken auf andere. Doch nichts ist wesentlicher, denn nur auf diese Weise werden Transformationen ermöglicht, die zur Verbesserung zukünftiger Lebensverhältnisse beitragen. Fazit: Gerade ein Philosophierender, der um weitgehende Objektivität in moralisch-politischen Fragen bemüht ist, kann seine moralische Wahrheit nicht auf eine immergültige Seinsordnung zurückführen, die sich nur wenigen Auserlesenen erschließt. Vielmehr wird er – mit James gesprochen – zugestehen, dass real vorhandene Ideale und Wertorientierungen als »de facto-Konstitutionen eines existierenden Bewusstseins« zu lesen sind, »hinter das als eine der Gegebenheiten des Universums er als Moralphilosoph nicht dringen kann«. 32 Moralische Zuschreibungen wie ›gut‹, ›schlecht‹ oder ›Verpflichtung‹ können keinen absoluten Wert haben, sondern sind getragen durch das Persönliche. »Sie sind Objekte des Gefühls und des Wünschens, die keinen Halt und keine Verankerung im Sein haben, abgesehen vom Dasein wirklich lebendiger geistiger Wesen.« 33 In diesem Sinne muss Ethik – um es noch mal zu sagen – implizit bleiben: Wir bilden »eine ethische Republik« miteinander, in der das ehrgeizige Kräftespiel seine Grenze allein in der »Stärke des gegenseitigen Interesses« finden kann, »das dem Helden, und der Heldin zu eigen wäre«. 34 Um dieses lebendige Interesse an anderen muss es gehen, um diese tief verwurzelte Empfänglichkeit für die Anliegen und Notlagen anderer Menschen. Hier liegt eine Antriebskraft, die zu bewahren ist, weil kein mühsam errungenes Gleichgewicht der Ideale innerhalb eines Moralsystems endgültigen Bestand haben kann. Stets

(James 1948, S. 187). (Ebd., S. 190). – Allerdings sieht James durchaus, dass erst der Glaube moralische Vorsätze wirklich energisch werden lässt. (Ebd., S. 202 ff.). 34 (Ebd., S. 191). 32 33

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Hannah Arendt: Denken der Pluralität

ist damit zu rechnen, dass neue Klagen laut werden, die einen abermaligen Aufbruch notwendig machen.

4. Hannah Arendt: Denken der Pluralität Es gibt unter den Denkern und Denkerinnen einige wenige, die einen solchen radikalen Haltungswandel vollzogen haben. Auch hier nimmt Hannah Arendt eine herausragende Stellung ein. Und genau vor diesem Hintergrund wollte sie nicht als Philosophin, sondern als politische Denkerin gesehen werden. Schließlich verkündete sie: »(…), ich bin eindeutig denen beigetreten, die jetzt schon einige Zeit versuchen, die Metaphysik und die Philosophie mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu demontieren. Eine Demontage ist nur möglich, wenn man davon ausgeht, daß der Faden der Tradition gerissen sei und wir ihn nicht erneuern können.« 35 Arendt ordnet die platonische Zwei-Welten-Theorie den »metaphysischen Irrtümern« 36 zu und betrachtet den Menschen als ein Wesen, das in Gänze der Erscheinungswelt angehört. Fällt die tradierte Vorstellung einer metaphysischen Wahrheitswelt, so wird auch die von alters her bestehende Auszeichnung einer Gruppe von Privilegierten hinfällig, der Philosophen nämlich, deren Überlegenheit man auf ihre Beheimatung im Reich der Ideen zurückführte. Doch letztlich kann laut Arendt niemand für sich in Anspruch nehmen, über ein esoterisches Wissen zu verfügen, um daraus in der Sphäre des sittlichen und politischen Handelns legitime Herrschaftsansprüche über andere abzuleiten, wie Platon es für seine Philosophenkönige vorsieht. In Fragen von Recht und Unrecht sowie von Wahrheit und Lüge kann man laut Arendt das Denken eben nicht den Spezialisten überlassen, so »als 35 36

(Arendt 1998, S. 207). (Ebd., S. 32).

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wäre das Denken, wie die höhere Mathematik, das Monopol einer Spezialdisziplin«. 37 Ganz im Gegensatz zu allen Tendenzen, Denker von Profession gegenüber ihren Mitmenschen auszuzeichnen, erachtet Arendt das Denken als einen natürlichen Vorgang der menschlichen Existenz, der letztlich nicht mit Intelligenz oder einer besonderen Expertise gleichzusetzen ist: »Gedankenlosigkeit ist nicht Dummheit; sie findet sich bei hochintelligenten Menschen (…).« 38 Deshalb ist das Denken »kein Vorrecht der wenigen, sondern eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen, entsprechend ist die Denkunfähigkeit nicht ein Mangel an Hirn bei den vielen, sondern eine stets bereitliegende Möglichkeit bei jedem – auch bei Wissenschaftlern, Gelehrten und anderen geistigen Spezialisten.« Und weiter heißt es: »Bei jedem kann es dazu kommen, daß er jenem Verkehr mit sich selbst ausweicht, dessen Möglichkeit und Wichtigkeit Sokrates als erster entdeckt hat. Das Denken begleitet das Leben und ist selbst die entmaterialisierte Quintessenz des Lebendigseins; und da das Leben ein Vorgang ist, kann seine Quintessenz nur im aktuellen Denkvorgang bestehen und nicht in irgendwelchen Ergebnissen und speziellen Gedanken. Ein Leben ohne Denken ist durchaus möglich; es entwickelt dann sein eigenes Wesen nicht – es ist nicht nur sinnlos, es ist gar nicht lebendig. Menschen, die nicht denken, sind wie Schlafwandler.« 39 – Welches nun sind im Einzelnen die Merkmale einer das Leben begleitenden Denkpraxis? Was bewahrt uns davor, das Leben zu verdämmern? Wie können wir verhindern, in geistiger Erstarrung und ausweglosen Wiederholungszwängen stecken zu bleiben? Wie vor allem verhindern wir es, zu Insassen eines Gefängnisses unwillkürlicher Konstruktionen und Projektionen zu werden?

37 38 39

(Ebd., S. 190). (Ebd.). (Ebd.).

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Das Wesen des Nachdenkens liegt darin, sich vorübergehend zu distanzieren, sich aus den Dingen herauszunehmen, um gewissermaßen ›kontemplativ‹ zu werden. Auch wenn man dauerhaft dem Miteinander der Menschen verbunden und verpflichtet bleibt, tritt man nachdenkend den »Rückzug vom unmittelbaren Engagement auf einen Standpunkt außerhalb des Spiels« an. 40 Nur so wird man befähigt, als Zuschauer der eigenen Angelegenheiten den Schlüssel für einen möglichen Sinn zu finden. Das heißt: Jemand entzieht sich für eine Weile den Blicken der anderen, sucht einen Zustand des Alleinseins auf, um sich temporär von allen Verrichtungszwängen und spontanen Reaktionsimpulsen freizumachen. In dieser Phase des Nachdenkens reduziert sich die Vielheit der Handlungskontexte auf die Zweiheit eines inneren Dialoges, den das Selbst mit sich selbst führt. Nachdenken ist für Arendt ein stummes innerliches Zwiegespräch, in dem eine ursprünglich im menschlichen Bewusstsein angelegte Dualität aufbricht. Das Selbst spaltet sich und tritt zu sich selbst in ein kritisches Verhältnis. Im Denken ist es so, als wäre man zu zweit: Man beginnt, verschiedene Ansichten abzuwägen und miteinander zu vergleichen, um darüber letztlich auch die Anliegen anderer Menschen besser zu verstehen. Wer sich der Partnerin im eigenen Inneren stellt, verhindert es, so Arendt, seine eigene Gegnerin zu werden, sich zu verlieren. Sie nennt dies das »Zwei-in-einem« 41 des Menschen. Durch das Nachdenken hindurchzugehen, sagt sie, sei irritierend, denn es bedeute, sich in Dingen verunsichern zu lassen, »die über jeden Zweifel erhaben schienen, als man noch gedankenlos tätig war«. 42 Gemeint ist ein Akt der prüfenden Selbstdistanzierung, durch den eine Art von neutraler Beobachterin in uns aktiviert wird. Wir betrachten eine Angelegenheit auf neue Weise, indem wir – vielfach erst nach40 41 42

(Ebd., S. 99). (Ebd., S. 184). (Ebd., S. 175).

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träglich – ein kritisch-abwägendes Verhältnis zu unseren Antrieben und Interessen einnehmen. In sehr differenzierter Weise geht Arendt am Beispiel des Sokrates dieser Form des Denkens nach. Hier geht es letztlich nicht um Wissen und Erkenntnis, sondern um eine Weisheit des Nichtwissens. Jetzt können nur einige wichtige Punkte knapp umrissen werden: Im Wirken des antiken Lehrers beschreibt Arendt eine Haltung, die sich im permanenten Wechsel zwischen nachdenklichem Innehalten und aktiver Teilnahme an der Welt vollzieht. Durch das Denken erfolgt zunächst eine Art Lähmung, welche die alltäglichen Lebensvollzüge unterbricht und überschreitet. Dabei mag es so scheinen – und hier liegt eine Gefahr –, als trete man in einen Raum allgemeingültiger Wahrheiten ein. Das heißt: Insofern sich das Denken in Abkehr von der komplexen Handlungswirklichkeit realisiert, wird die Vorstellung genährt, man könne durch geistige Schau in eine Sphäre endgültiger Einsichten gelangen. Doch dies ist, wie Arendt immer wieder betont, ein Trugschluss, da sich auch der vermeintlich ruhende Geist weiterhin in einem Zustand latenter Aktivität befindet. Immer wieder neu wird er zur Aufbereitung gelebter Erfahrungen angestachelt und aufgerüttelt. Auch hier gilt: Keine Systematisierung vermag das Lebendige vollends auszuschöpfen. Indem das Beobachtete nämlich notwendigerweise vom Ganzen abgetrennt wird, gelangt man immer nur zu vorläufigen Ergebnissen. Allgemeine Rückschlüsse, die sich durchaus ergeben können, sind demnach stets nur von flüchtiger Dauer. Kein fest gefügtes Wissen kann, wie Arendt sagt, letztlich »dem Wind des Denkens« 43 standhalten. Sobald sich Strukturen verfestigen und Wahrheiten fraglos werden, wirkt die denkerische Aktivität erneut wie ein Plagegeist und unterbricht jede vermeintliche Ruhe, so dass als letztgültige Einsicht schließlich nur die be-

43

(Ebd., S. 192).

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rühmte Einsicht des Sokrates übrig bleibt: »Ich weiß, dass ich nicht weiß.« 44 Indem jemand sich in dieser Weise zu einem nach-denkenden Wesen entwickelt, erwirbt er Zug um Zug die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Entscheidungen abzuwägen und Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Er tritt in James’ föderative Republik ein und widersteht gleichermaßen der Gefahr, Herrscher wie auch Untertan eines Königreichs der Gewissheit sein zu wollen. Auch die Denker, die Ideale schaffen, »kommen von wer weiß wo her; ihre Sensibilität wird wer weiß wie entwickelt«. 45 Deshalb konnte es geschehen, dass auch Vertreter der geistigen Elite sich alles Mögliche zu Hitler einfallen ließen, 46 dass sie wie Heidegger ein Unrechtssystem unterstützten und sich – wie viele Vertreter des Geistes – von der unwissenden Menge des Volkes absonderten und abgrenzten. Dem wäre mit James entgegenzuhalten, dass »die Frage, welches von zwei widerstreitenden Idealen jetzt und hier das beste Universum ergibt, (…) nur mit Hilfe der Erfahrung anderer Menschen« 47 zu beantworten ist. Erkennen wir die grundlegende Bedeutung der Erfahrung bei all unseren Entscheidungen an, so kann der Philosoph qua Philosoph keine Überlegenheit anderen gegenüber beanspruchen. Ein guter Diese Phrase ist zum geflügelten Wort des Sokrates geworden. Sie findet sich im Kontext seiner Verteidigungsrede, in welcher er zum Ausdruck bringt, dass es nur eine einzige Form geistiger Überlegenheit geben kann. Diese liegt darin, die Grenzen des eigenen Wissens (bzw. das eigene Nichtwissen) genau zu erkennen: »Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser meint etwas zu wissen, obwohl er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine doch um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.« – (Platon 2002b, S. 18). 45 (James 1948, S. 200). 46 Arendt äußert sich hierzu 1964 im Interview mit Günter Gaus. Siehe: (Arendt 1964). 47 (James 1948, S. 200). 44

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Philosoph wird seine Anstrengungen darauf verwenden, angesichts aller vorliegenden Erfahrungswerte einen Weg auszudenken und auszuhandeln, dessen Verwirklichung »die geringstmögliche Zahl anderer Ideale zerstört«. 48 Dabei wird er sich stets dessen bewusst bleiben, »dass die Schreie der Verletzten ihn schnell davon in Kenntnis setzen werden, wenn er einen schlimmen Fehler begeht«. 49 In jedem Fall ist eine solche Denkhaltung, die in Respekt vor der Verletzlichkeit fremder Lebens- und Erfahrungswelten wurzelt, immun gegenüber jener Form totalen moralischen Selbstverlustes, auf die sich Arendts Diktum von der »Banalität des Bösen« 50 richtet. Damit verbindet sich, wie sie in Eichmann in Jerusalem schreibt, eine »nahezu totale Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen«. Eichmann sprach – getrieben von Großmannssucht – in Klischees und leeren Worthülsen, die wie ein Schutzwall »gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst« 51 wirkten. Mit Arendt lässt sich der Begriff einer lebensnahen denkerischen Praxis gewinnen, einer Praxis, in der Selbstwerdung und Selbstentfaltung des Individuums dezidiert mit sozialer und politischer Verantwortung verschränkt sind. Erst das nachdenkliche Alleinsein erschließt den Raum des Zwischen, der für Arendt der eigentliche Ort der Freiheit ist. Mit Nachdruck vertritt sie: Freiheit ist nicht Machterweiterung eines Einzelnen, sondern Realisierung des Gemeinsamen im Sprechen und Handeln. Sollte es zur Verständigung kommen, wäre dies als Ereignis der Freiheit zu werten. Wir sehen also, dass Nachdenken für Arendt eminent politischen Charakter hat, insofern es unkündbar auf das Zusammenwirken mit anderen Menschen bezogen ist. Trotz vorübergehender Ab48 49 50 51

(Ebd., S. 197). (Ebd., S. 201). Siehe: (Arendt 1997). (Ebd., S. 124).

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sonderung während des Denkprozesses geht es letztlich um eine radikale Hinwendung zur geteilten menschlichen Erfahrungswirklichkeit, in der vielfältige Perspektiven aufeinander treffen und miteinander vermittelt werden müssen. Alles zielt auf einen vorbehaltlosen Austausch, welcher den Tatsachen menschlicher Verschiedenartigkeit Rechnung trägt. Es kommt also entschieden auf die Bereitschaft an, diese pluralistische Ausrichtung der menschlichen Existenz tatsächlich anzunehmen, was bedeutet, vom Grund der eigenen Seele aus anzuerkennen, dass die Anwesenheit anderer Menschen mir Grenzen auferlegt, dass sie mich immer wieder von meinen Zielen und Überzeugungen wegträgt, ja diese Überzeugungen sogar oftmals grundlegend in Frage stellt. Verstörende und leidvolle Kontingenzerfahrungen werden damit unumgänglich. Zwar ist Nachdenken eine Art Vorbereitungs- und Begleitinstanz für dialogisches Sprechen und Handeln, doch liegt die eigentliche Bewährungsprobe des Menschlichen im Handeln, da dieses niemals – wie etwa das Arbeiten oder Herstellen – in der Einsamkeit vollziehbar ist. Nur im Beisammensein, im praktischen Gelingen von Pluralität, ereignet sich Freiheit, niemals durch Übertrumpfung und Unterdrückung anderer Individualitätsformen. Handeln ist für Arendt eine Kunst des Vollzugs, in der sich das Individuum im Beisammensein mit anderen zeigt. Im Handeln und Sprechen offenbart sich das Selbst auf unverstellte Art und Weise. Hier, nicht zurückgelehnt im Schreibtischsessel, zeigt sich, für welche ethische Praxis sich jemand entschieden hat. Was letztlich zählt, ist nicht die Haltung des unbeteiligten Moraltheoretikers, sondern gelebtes Verbundensein mit der Welt. Hier liegt der Grund der Ethik, alle Begründung ist sekundär. Zum Kern des Menschlichen gelangt eine Person, wenn sie sich – sprechend und handelnd – in Kontexte einfügt, ohne sich darin zu verlieren, wenn sie sich mithin ergebnisoffen an kooperativer Entscheidungsfindung beteiligt und dabei Konflikte nicht scheut, wenn sie ihrer Mitwelt versprechend und verzeihend begegnet, wenn sie in allen her67 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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stellenden und schöpferischen Aktivitäten stets auch Handelnde bleibt. 52 Doch – so wäre nun zu fragen – gibt Arendt eine abschließende Antwort auf die Frage, wie es geschehen konnte, dass so ungeheuer viele Menschen zur Zeit des Hitlerregimes ihr Gewissen problemlos auszuschalten vermochten? Woher kommt die blinde Anpassungsbereitschaft an fragliche Gruppennormen – jene Gefolgstreue, mit der selbst extreme Verletzungen der Menschlichkeit in Kauf genommen werden? Auch gegenwärtig erleben wir wieder unzählige Beispiele dafür, dass Menschen zu gehorsamen und gefügigen Mitläufern werden. Im Zeichen vermeintlich ›höherer Ideale‹ wachsen abermals Kompromisslosigkeit, Mitleidslosigkeit und Gewaltbereitschaft, vor allem innerhalb homogener Gruppen, die wenig Raum für selbständiges Denken und individuellen Eigensinn lassen. Will man besser verstehen, warum Menschen so anfällig dafür sind, rudelförmig in dieselbe Richtung zu laufen bzw. zu nicken, so können inzwischen unzählige psychologische Untersuchungen herangezogen werden. Hierin werden die Bedingungen erfasst und analysiert, unter denen überdimensionierte Wir-Gefühle, Freund-Feind-Denken, Gewaltverherrlichung und Zynismus entstehen können. 53 Wer tiefer in diesen Problemkreis eindringen will, kommt nicht umhin, insbesondere emotionale Prozesse in die Betrachtung einzubeziehen. Denn Nachdenken, verstanden als die Bereitschaft, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen und sorgsam gegeneinander abzuwägen, setzt ja voraus, dass jemand die Interessen und Lebensrechte anderer Menschen überhaupt hinreichend mit Wert besetzen kann/will, dass es ihn Siehe hierzu: (Arendt 2006a, S. 213 ff.); zum Verzeihen und Versprechen siehe: (Ebd., S. 231 ff.). 53 Siehe hierzu z. B.: (Welzer 2007, S. 105–132) // (Terestchenko 2012, S. 79–128) // (Ricard 2016, Teil V, S. 288–449). 52

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irgendwie tiefer berührt, was mit diesen anderen geschieht, dass er sich von ihrem Ergehen also wirklich betroffen fühlt. Sich betreffen lassen, kann indes nur diejenige, die ihr (fragiles) Selbst nicht unablässig – aus welchen Gründen auch immer – gegen alles Fremde und Ungewisse abschotten muss.

5. Von Hannah Arendt zu Martha Nussbaum: Politische Bedeutung der Emotionalität Der Erziehungswissenschaftler Tobias Krettenauer konstatiert auf der Basis von Interviews mit Jugendlichen »eine tiefe Kluft zwischen dem individuell zurechenbaren moralischen Reflexionsvermögen und dem – in der Regel in Gruppenkontexten – konstituierten Gewalthandeln«. Fehlverhalten und Gewaltanwendung sind demnach nicht primär durch den grundlegenden Mangel an Wissen um moralische Regeln verursacht, sondern durch eine ungenügende motivationale Verankerung fraglos bekannter normativer Vorgaben in der jeweiligen Person. Hochproblematisch wird es vor allem dann, wenn derart unmodellierte Persönlichkeiten in die Fänge derjenigen geraten, die ihnen auf der Basis simpler Denkmuster und bequemer Feindbilder eine zackige Marschroute vorgeben. Sofern es um die Bewältigung derartiger Phänomene und um die Heranbildung innerlich gefestigter Charaktere gehen soll, sieht sich der Bildungssektor gegenwärtig – im Zuge eines rasanten gesellschaftlichen Wandels – mit deutlich erschwerten Herausforderungen konfrontiert. Um Stabilität gewinnen zu können, muss Affektregulierung in tieferer (Selbst)Einsicht verankert werden. Dies verlangt aber – stärker also zuvor – eine explizite und weitreichende Einbindung dieses Themas in alle Bildungskontexte. Vor allem hier muss Raum dafür geschaffen werden, am Beispiel konkreter Situationen friedfertige und kooperative Konfliktlösungen nicht 69 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Die politische Herausforderung der Besonnenheit

nur zu durchdenken, sondern auch praktisch einzuüben. 54 Allerdings muss es dabei um mehr als ein rein ›handwerkliches Können‹ im Beilegen von Uneinigkeiten und Konflikten gehen. Erst über das Zulassen von emotionaler Berührbarkeit, erst über den Abbau von Maskeraden – erst über ein innerliches ›Abrüsten‹, wenn man so will –, können neue Vorgehensweisen und Handlungsorientierungen charakterlich verankert werden. Und erst im Entstehen einer solchen Disposition können wir dann, wie noch genauer zu zeigen ist, überhaupt von Besonnenheit sprechen. Anders formuliert könnte man sagen, dass der Besonnene dem Ernst des Lebens nicht auszuweichen sucht, sondern Kooperativität und ethische Entscheidungen gewissermaßen zu einem persönlichen Anliegen werden lässt. 55 In einer hervorragenden Essaysammlung zum schwindenden Weltvertrauen der Moderne problematisiert der Psychologe Rudolf Gaßenhuber das intellektuelle Abstandnehmen vieler prominenter Denkerpersönlichkeiten von den extremen Schrecken und Grausamkeiten des Nationalsozialismus. Sogar noch in Arendts These von der »Banalität des Bösen« erblickt er die Tendenz, sich im Zuge distanzierenden Verstehens der emotionalen Bewertung desaströser Abläufe zu entziehen. 56 Eine historische Aufarbeitung, die sich allzu rasch von den Gräueln abwendet, um Zuflucht an einem Standort theoretischer Versachlichung zu finden, verschenkt möglicherweise tatsächlich ein wesentliches Mittel der Sensibilisierung und Immunisierung gegenüber Hasspredigern (Krettenauer 2001, S. 104). // Zu diesem Befund, siehe auch: (Villeneuve-Cremer u. Eckensberger 1986) – Wie wesentlich es ist, dass kooperative Fähigkeiten eingeübt werden, betont auch Thomas Lickona. Siehe: (Lickona 1993). 55 Dem Nachdenken über den Ernst des Lebens und die in diesem Zusammenhang relevante Emotion der Angst bietet das Werk Kierkegaards unzählige Aufschlüsse. (Kierkegaard 1992). – Siehe hierzu: (Theunissen 1982). 56 Vgl.: (Gaßenhuber 2018, S. 100 f.). 54

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und diktatorischen Herrenmenschen jedweder Couleur. Auch wenn es vermessen wäre, distanziert verfahrenden Intellektuellen wie Arendt ihre tiefe Ergriffenheit von Ekel und Abscheu angesichts der Naziverbrechen abzusprechen, so trägt Gaßenhubers Argument dennoch. Es ist tatsächlich wichtig, über genauere und konkretere Wahrnehmung dessen, was geschah und geschieht, emotionale Irritation und auch Gefühle des Widerwillens wachzurufen. Allerdings lauert hier gleichfalls die Gefahr der Überforderung gerade junger Menschen, eine Überforderung, die ich selbst deutlich verspürt habe, als uns Ende der 60er der Film Nacht und Nebel 57 im Geschichtsunterricht gezeigt wurde. Die Provokation von Abscheu und Widerwillen ist in jedem Fall eine prekäre Angelegenheit. 58 Sie darf nicht ohne eine wohl überlegte emotionale Vor- und Nachbereitung in Gang gesetzt werden, wenn dadurch tatsächlich, wie Gaßenhuber es wünscht, die Augen für die Schattenseiten des Menschlichen geöffnet werden sollen. Ich werde an passender Stelle auf diesen Punkt zurückkommen. Gewiss ist: Lange bevor Denken und Sprechen im Sinne Arendts Raum gewinnen können, wirkt eine komplexe Gefühlsdynamik innerhalb der menschlichen Seele. Oder anders gesagt: Das, was Arendt Denkfähigkeit bzw. Denkbereitschaft nennt, ist zu großen Anteilen eine emotional motivierte Angelegenheit. Sozialpsychologische Studien zur Hitlerzeit zeigen: Wenn Menschen sich den inhumanen Konventionen und Anordnungen widersetzten, griffen sie entweder auf eine tief verwurzelte universalistische Moral zurück – eine Moral, die das Töten grundsätzlich verbietet – oder es lenkte sie ein früh angeeignetes vitales Mitgefühl Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Nacht_und_Nebel_. Zur sozial destruktiven Macht der Ekel-Emotion, siehe u. a.: (Bloom 2014, S. 159 ff.). – Hier lesen wir: »Die Ergebnisse aus der Alltagserfahrung und dem Labor stimmen eindeutig überein: Ekel macht uns böser.« (Ebd., S. 170). // Zum Problem projektiver Abscheu, siehe auch: (Nussbaum 2014, S. 276 ff.).

57 58

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allen anderen Menschen gegenüber – »eine antizipierte Empathie den Opfern gegenüber« –, so verschieden, fremd und stigmatisiert das Gegenüber auch sein mochte. 59 Eine wesentliche Voraussetzung für moralische Stabilität und einen dementsprechenden Besonnenheitskompass liegt deshalb in der Kultivierung des Mitfühlens auf der Basis psychischer Eigenständigkeit. Frühe Erfahrungen von Bindung und Anerkennung spielen hierbei eine maßgebliche Rolle. Inzwischen sind Wissensbestände gewachsen, die uns genauer über das menschliche Mitgefühl unterrichten. Wie gezeigt wird, können sich unter gewissen Umständen unsere angeborenen empathischen Anlagen nicht hinreichend entfalten, so dass schließlich ein verlässliches Fundament für vitale zwischenmenschliche Anteilnahme fehlt, ein Manko, welches erhebliche Auswirkungen für den sozialen und politischen Bereich nach sich zieht. Arendt erhebt Fragen der Emotionalität nur wenig und auf eher beiläufige bzw. indirekte Weise zum Gegenstand ihrer philosophischen Betrachtungen. Wo sie sich punktuell auf dieses Thema einlässt, bleibt ihre Einschätzung menschlicher Gefühlsäußerungen relativ undifferenziert und teilweise althergebrachten Mustern verhaftet. Zwar ist ihr unbedingt zuzustimmen, wenn sie z. B. betont, dass die Empfindungssphäre allein durch das Dazwischentreten der Reflexion eine jeweils »hochindividualisierte Form« 60 gewinnen kann. Fraglich erscheint indes ihre These, dass jeder unmittelbare menschliche Gefühlsausdruck durch »Blick, Geste, unartikulierten Laut« der Art entspricht, »wie die höheren Tiere ganz ähnliche Empfindungen einander (…) mitteilen«. 61 Obwohl, wie sie zu Recht feststellt, jede Emotion (auch) eine körperliche Erfahrung ist, bedeutet dies nicht, dass spontan aufVgl.: (Welzer 2007, S. 117). (Arendt 1998, S. 41). // Zu Arendt und Nussbaum, siehe auch (Bennent-Vahle 2018). 61 (Arendt 1998, S. 41). 59 60

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tretende Emotionen nichts weiter als rein biologisch-physische Phänomene sind. Vielmehr sind, wie mittlerweile vielfach herausgestellt wird, bereits auf der Ebene unwillkürlicher Gefühlsreaktionen kulturell und biografisch gewachsene Wertvorstellungen und Beurteilungsformen wirksam, welche im Zuge des Spracherwerbs unbewusst gelernt und verinnerlicht (inkorporiert) wurden. 62 Arendts insgesamt recht knappe Ausführungen zum emotionalen Bereich tendieren m. E. noch stark in die Richtung eines problematischen Dualismus von Denken und Fühlen, der für unsere Tradition typisch ist. Vor diesem Hintergrund plädiert sie für ein Heraushalten des Emotionalen aus allen öffentlichen und politischen Zusammenhängen. Aus ihrer Sicht gehören Liebe und Mitgefühl in die Privatsphäre und sind keine geeigneten Kandidaten für eine Arbeit am Gemeinwesen. Genau hier nun wäre einzuhaken und auf einige problematische Implikationen einer solchen Überrationalisierung des Politischen hinzuweisen. Menschliches Denken wird, wie schon dargelegt, unhintergehbar von Kognition und Emotion konstituiert. Dies betrifft auch die Prozesse politischer Meinungsbildung. Arendt nimmt ja selbst, wie wir gesehen haben, im Wissen um die Gebrechlichkeit der menschlichen Vernunft eine Wendung vor – weg von der ewigen Wahrheitswelt hin zu Sphäre irdisch-vergänglichen Seins. In dieser ganz realen diesseitigen Welt wäre es nun aber anzuraten, unablässig die emotional bedingte Perspektivität und Irrtumsanfälligkeit unserer Vernunft im Bewusstsein wachzuhalten. Da Gefühle durchgängig in allen Lebensbereichen virulent sind, darf die Domäne der Politik nicht ausgespart bleiben. Verbannt man das Emotionale hingegen in die private Kammer, so ist mit negativen Effekten zu rechnen. Diese sollen vorerst nur summarisch Erwähnung finden: Im Zeichen zu hoch angesetzter Rationalitätsstandards läuft 62

Siehe insbes. Kap. IV, 4. A.

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es konzeptuell erneut auf die krude Forderung nach Beherrschung und Bezwingung der menschlichen Gefühlsnatur hinaus. Damit einher gehen nun allerdings regelmäßig vermessene Rationalisierungen, die mit Blindheit gegenüber tatsächlichen Antrieben geschlagen sind. Hinzu kommt: Erheben wir die Einübung von Distanzierungs- und Kritikfähigkeit in Bezug auf unsere spontanen Emotionen nicht zu einer gängigen Praxis, so erwächst daraus – wie bereits erwähnt – gesteigerte Anfälligkeit für Fremdsteuerung und Manipulation. Gleichfalls werden diejenigen Gefühlsanlagen vernachlässigt, die zum zentralen Movens gelingender Zwischenmenschlichkeit avancieren können. Dennoch ist in Arendts Verständnis von Denken, wie ich meine, ein mitfühlendes, alteritätsempfängliches Ethos gleichsam unausgesprochen enthalten bzw. stillschweigend vorausgesetzt, auch wenn sie diese tieferen emotionalen Wurzeln nicht bzw. nur eher randläufig thematisiert. 63 Natürlich weiß Arendt zudem sehr genau um die Rückwirkung politischer und sozialer Umstände auf die innere Haltung des Menschen, führt hierzu aber keine minutiösen Untersuchungen durch. Um präziser zu erklären, wie Mitläufertum, Inhumanität und Gewaltbereitschaft entstehen, müssen wir deshalb ein noch feinmaschigeres Netz auswerfen. Das heißt: Will man den Weg einer besonnenen Lebensgestaltung vorzeichnen, dann muss das Zusammenspiel von Denken und Emotionalität in nuancierter Weise berücksichtigt werden. Ein frei schwebendes Räsonnieren, das die eigenen Antriebe

Im Gespräch mit Gaus nimmt Arendt z. B. auf ein für sie tragendes, grundlegendes »Vertrauen in das Menschliche aller Menschen« Bezug. Siehe: (Arendt 1964). – Äußerungen zur Liebe und Freundschaft finden sich z. B. auch in den Denktagebüchern, bleiben hier aber weitgehend auf den persönlichen Bereich begrenzt. Siehe z. B.: (Arendt 2002, S. 49– 51). // Aufschlussreich ist auch ihre Erziehungsschrift, siehe: (Arendt 1994). – Zur Frage von Politik und Gefühl bei Arendt, siehe auch: (Neumayr 2009).

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nicht ernsthaft zu ergründen sucht, ist nicht nur Risiken der Selbsttäuschung ausgesetzt, sondern es bleibt – ungeachtet immer möglicher Schnellerfolge – auf lange Sicht ›wirkungslos‹, insofern es an Teilen der Wirklichkeit vorbeiagiert. In diesem Punkt liefert die Philosophin Martha Nussbaum weiterführende Analysen, insofern sie – Bezug nehmend auf psychologische Studien – die frühkindliche Entwicklung einbezieht. Auf dieser Grundlage vermag sie genauer als Arendt zu erklären, unter welchen sozialen und biografischen Bedingungen Menschen Gefahr laufen, ihre Menschlichkeit zu verlieren. Nussbaum zeigt uns, in welchem Maße es von Einflussfaktoren der frühen Kindheit sowie von sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen abhängt, wie das menschliche Denken ›gepolt‹ wird. Anders gesagt: Sie macht augenfällig, dass ein (frühes) emotionales Erleben tief in jede Welterschließung eingeschmolzen ist. Wesentlich ist insbesondere, wie der in uns angelegte Drang zu den anderen hin in den ersten Lebensjahren beantwortet wird. Mit Nussbaum lässt sich also besser verstehen, wie und weshalb es geschehen kann, dass manche Menschen jene innere Zwiesprache mit sich selbst aufgegeben haben (bzw. nicht hinreichend erlernen konnten), auf die es gemäß Arendt ankommt, wenn wir uns besonnen im politischen Raum bewegen wollen. In echtem Mitgefühl wurzelnde Haltungen, über die noch genauer zu sprechen sein wird, entfalten sich vornehmlich dann, wenn jemand im Schoße von Geborgenheit lernen kann, mit der Begrenztheit, Kontingenz und Hinfälligkeit aller menschlichen Dinge zu leben, wenn ihm ermöglicht wird, sich selbst unter diesen Bedingungen anzunehmen und den Verführungen betrügerischer Selbstbilder zu widerstehen. Nussbaum schreibt: »Die engen Beziehungen von Liebe und Dankbarkeit zwischen einem Kind und seinen Eltern, die sich in der frühen Kindheit herausgebildet haben, scheinen der unverzichtbare Ausgangspunkt für die Fähigkeit eines erwachsenen Menschen zu sein, sich für soziale Belange 75 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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einzusetzen.« 64 Nochmals anders gesagt: Erst ein Mensch, dem es ermöglicht wird, auch mit leidvollen und schmerzlichen Widerfahrnissen umzugehen und sie konstruktiv in sein Selbstbild zu integrieren, öffnet sich der Verwundbarkeit anderer Menschen und ist zu echtem Mitgefühl befähigt. Lässt man ihn hingegen in prekären Krisenmomenten allein, fängt ihn nicht auf oder behandelt ihn gar verächtlich, so wird er seinen Schmerz abzuwehren suchen. In der Folge wird er Angst und Schwäche brandmarken und psychisch dagegen aufrüsten. Er verjagt die gefürchteten Schatten eigener Wehr- und Wertlosigkeit, indem er mit drakonischer Härte nach innen und außen unablässig alles Angsteinflößende zu beherrschen und zu vernichten sucht. Nichts aber verstellt so nachhaltig eine realitätsgerechte Einschätzung von Tatsachen wie der Instinkt der Angst. 65 Aggressive Verhaltensweisen entstehen aus Schmerzerleben, welches primär durch fehlende soziale Akzeptanz bzw. durch sozialen Ausschluss ausgelöst wird. 66 In Kindheit und Jugend werden mithin die Weichen gestellt, ob jemand Anteilnahme und Mitgefühl entwickelt oder ob er sich innerlich absondert und primär nach egoistischer Perfektionierung strebt, die andere zu ignorieren, zu übertrumpfen, auszustechen und schlimmstenfalls zu vernichten sucht. 67 Wenn auch von einer unwiderruflichen ›Determination‹ zu Gewissenlosigkeit und Kälte nur selten gesprochen werden (Nussbaum 1999, S. 158). Hans Rosling stellt – datenbasiert – u. a. im Blick auf Naturkatastrophen, Kriege, Konflikte, Kontamination und Terrorismus eine enorme Irrtumsanfälligkeit heraus, die zu großen Teilen aus Ängsten entspringe. (Rosling u. a. 2018, S. 127–153). 66 Siehe hierzu u. a.: (MacDonald u. Leary 2005) // (Twenge u. a. 2001) // (Gruen 2013). – Der Psychoneurologe Bauer schreibt: »Aggression steht – ob direkt oder indirekt – immer in funktionalem Zusammenhang mit dem Grundbedürfnis des Menschen nach Beziehung und ist diesem Bedürfnis unter- oder nachgeordnet.« (Bauer 2008, S. 89). 67 (Gruen u. Weber 2001). 64 65

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kann, 68 so weisen Untersuchungen zur Entstehung von Gewaltbereitschaft und Extremismus dennoch auf die enorme Bedeutung der familiären Situationen hin. Eine Studie der Forschungsstelle Terrorismus/Extremismus des Bundeskriminalamtes gelangt hier zu folgendem Ergebnis: »In allen Fällen standen deutliche familiäre Belastungen im Hintergrund, die sich in Suchterkrankungen der Eltern, Verlusterlebnissen und schwerster häuslicher Gewalt ausdrückten. In keinem Fall kann von einem intakten Elternhaus gesprochen werden.« 69 Es ist eine besondere philosophische Leistung Nussbaums, in vielen ihrer Texte das Ineinanderwirken der Mikro- und Makrosphäre vorgeführt zu haben. Sie zeigt uns nachdrücklich, dass die Bewältigung der ökonomischen und politischen Probleme der heutigen Welt ein besonderes Augenmerk für das Intime, Persönliche, Gefühlsmäßige und Psychische benötigt. »Der politische Kampf um Freiheit und Gleichheit« ist, wie sie schreibt, »ein Kampf (…), der im Inneren eines Menschen ausgefochten wird, (…)«. 70 Wie Arendt trifft sie die Feststellung, dass Kontrolle über andere, Schwarz-WeißDenken, Perfektionismus und Skrupellosigkeit »unter gewissen Umständen (…) eine Verhaltensalternative für scheinbar anständige Menschen« 71 werden können. Deshalb müssen Analysen ein besonderes Augenmerk auf die emotionalen Wirkzusammenhänge legen, die in solchen Fällen zum Tragen kommen.

Siehe: (Keysers 2013, S. 258 ff.) // auch (Ricard 2016, S. 358 ff.) // (Bloom 2014, S. 47–57). 69 (Lützinger 2010, S. 28). – Auch nach Bauer liegen die Ursachen von Aggressivität hauptsächlich in biografischen Erfahrungen von Beziehungsverlusten sowie in selbsterlebter Gewalt. Nachweislich wirken sich derartige Einflüsse weitaus mehr auf die Persönlichkeit aus als genetische Faktoren. Siehe hierzu: (Bauer 2008, S. 80 ff.). 70 (Nussbaum 2012, S. 45). 71 (Ebd., S. 59). 68

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Empathie, zwischenmenschlicher Respekt, Toleranz, demokratisches Bewusstsein und Zivilcourage sind Werte, die wohl ein Großteil aller Denker unterschreiben würde. Während der argumentative Ausbau dieser Wertewelt seit Jahrhunderten die Denkerköpfe rauchen lässt, gehört Martha Nussbaum zu den wenigen, die in differenzierter Weise nach den psychisch-emotionalen Wurzeln dieser ethischen Grundhaltungen fragen. Eine Verankerung ethischer Werte hat in ihren Augen nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die menschliche Emotionalität angemessen einbezogen wird. Nur wenn ethische Orientierung in einem unablässigen Prozess ganzheitlicher Persönlichkeitsbildung vermittelt wird, kann sich allmählich die politische Tugend der Besonnenheit formieren. Anders gesagt: Fehlgeleitete oder fehlende Emotionen sind das größte Hindernis auf dem Weg zu einer humanen und gerechten Gesellschaft, in der auch das friedliche Miteinander verschiedener Kulturen und Religionen gelingen kann. Vor allem gilt es, den Entstehungskontext der Empathie als ethische Basisemotion präziser zu beleuchten, denn es kommt letztlich auf eine Kultivierung des menschlichen Mitfühlens an, wenn der Fortbestand einer demokratischen Gesellschaft gesichert werden soll. In diesem Zusammenhang muss zudem auf jene emotionalen Antriebe des Menschen verwiesen werden, die unstreitig die Ausbildung von Mitgefühl behindern: Angst, Ekel, Neid und Scham sind die wichtigsten hier zu nennenden Hemmnisse. 72 Zu fragen wäre: Welche familiären und gesellschaftlichen Bedingungen fördern diese antisozialen Affekte, welche hingegen dämmen sie ein und tragen zur Ausbildung echten Mitgefühls und einer respektvollen Haltung bei? Welches Selbstverhältnis korrespondiert der Fähigkeit des Mitfühlens? Warum ist Mitgefühl so wichtig für soziale Gerechtigkeit? Alle diese Fragen, die auf die Verzahnung von innerpsychischen Pro72

Hierzu ausführlich insbesondere: (Nussbaum 2014, Kap. 10).

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zessen und politisch-sozialer Aufgeschlossenheit gerichtet sind, umkreisen die Problemstellung einer umsichtigen und besonnenen Lebensweise. Zu diesen thematischen Aspekten finden sich in Nussbaums Werk vielfältige bereichernde Ausführungen, an die sich gedanklich anknüpfen lässt, um der Tugend der Besonnenheit – präzise und zeitgemäß – Kontur zu verleihen. Inspiriert durch Nussbaums Akzentuierung des Emotionalen kommt es mir im Folgenden insbesondere auf eine Ausdifferenzierung der Mitgefühle an. Erst wenn in diesem Kontext die Möglichkeiten und Grenzen zwischenmenschlicher Verständigung grundlegender exploriert werden, kann ein auf moderne Lebensverhältnisse abgestimmtes Besonnenheitskonzept umrissen werden. Blicken wir insbesondere auf die zunehmenden kommunikativen Verwerfungen, welche sich derzeit durch globale Verschiebungen und Prozesse gesellschaftlicher Diversifizierung offenbaren, so erscheint es mir wesentlich, einen notwendigen Bewusstseinswandel zu markieren – vielleicht noch nachdrücklicher, als Nussbaum dies tut. Ein solcher Wandel ergibt sich m. E. gleichsam ›notwendigerweise‹, wenn wir uns den (für viele unliebsamen) Tatsachen unserer emotionalen ›Herkunft‹ stellen.

6. Für ein neues Ethos der Besonnenheit Eine meiner Ausgangsthesen lautet: Um den brennenden derzeitigen Problemen begegnen zu können, müssen wir – in den Worten James’ – Abstand nehmen von jenem »rationalistischen Blockuniversum«, in welchem die Überzeugungsmacht der Vernunft stets zu hoch und gleichzeitig doch zu niedrig angesetzt wurde. Sich den Tatsachen intellektueller Begrenztheit zu stellen, bedeutet eine gewisse Demut, Demütigung jedoch nicht. Im Gegenteil, während Demütigung nach kompensatorischer Selbstvergewisserung schreit und schlimmstenfalls im Größenwahn endet, birgt Demut ein 79 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Potential zu wirklicher Größe in sich, z. B. in Form von Aufgeschlossenheit gegenüber den Anliegen Andersdenkender. Gleichzeitig veranlasst sie im Wissen um geteilte existenzielle Unsicherheit und Verwundbarkeit dazu, Haltungen zwischenmenschlicher Teilnahme und Nachsicht einzunehmen. So könnte man mit James sagen: Wirkliche Vernunft, die sich im Eingeständnis unerreichbarer Perfektion formiert, sucht sich unermüdlich im praktischen Vollzug zu erweisen. Soll dies möglich werden, so gilt es einen trügerischen Dualismus von Denken und Fühlen zu überwinden, der tief in die abendländische Tradition eingeschrieben ist. Diesem korrespondiert ein Menschenbild, das im Zuge der Überbetonung rationaler Souveränität die leiblich-emotionale Dimension menschlichen Seins übergeht oder verkennt, so dass tatsächliche Chancen für eine Einübung vernunftgemäßer Selbstlenkung ungenutzt bleiben. Mittlerweile treibt eine Überbeanspruchung kognitiver Kräfte Menschen an den Rand der Erschöpfung: Von außen auferlegte Zwänge – beruflicher Stress, Multitasking im Alltag, die enorme Steigerung des Lebenstempos durch Digitalisierung und einiges mehr – verlangen ein extrem hohes Maß rational-strategischer Selbststeuerung, ohne dass dabei die Innerlichkeit der Person eine maßgebliche Rolle spielen darf bzw. angemessene Berücksichtigung findet. Man lernt es, sich selbst kurzerhand im Dienste vorgegebener Erfolgsleitlinien zu reglementieren und zu disziplinieren, während tiefgründige Sinnfragen ebenso ausgespart bleiben wie moralische Reflexionen jenseits bestehender Konvention. Eine feinsinnige Hörfähigkeit nach innen und außen wird blockiert bzw. gar nicht erst angeregt und ausgebildet, so dass schließlich Prozesse der Selbstentfremdung zur Normalität werden bzw. zunehmend Akzeptanz finden. Im Gegenzug lassen viele, sobald der Druck nachlässt, alle Rücksichten fahren und folgen reflexartig dem Wunsch nach Entlastung vom Überdruck, indem sie in seichtes Entertainment, hemmungslosen Konsum und sinnliche Exzesse eintauchen. 80 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Hin- und hergeworfen zwischen den Daumenschrauben der Karriere und den substanzlosen Plattitüden einer Spaßgesellschaft ist es aktuell enorm schwer geworden, überhaupt noch eine angemessene Vorstellung besonnener Lebensführung zu gewinnen. Dieses Manko ist Ausdruck einer Kultur, die im Dienste ökonomischer Effizienz das Mess- und Kalkulierbare verabsolutiert, die den Menschen infolge der Digitalisierung – wie Byung-Chul Han schreibt – »zu einem kleinen Fingerwesen verkümmern lässt«, in dessen Leben »das Additive, das Zählen und das Zählbare« 73 überhandnimmt. Auf diese Weise wird zusehends das Vermögen ruiniert, sich in realen Kontexten mit gebotener Umsicht und Sensibilität zu bewegen. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen wir vorzugsweise die emotionale Bildung in den Blick nehmen. Allerdings sollte deutlich geworden sein, dass es hier einer Analyse bedarf, die nicht allein »für den Profit« 74 betrieben wird, sondern die vor allem auf den Erhalt demokratischer Ideale, sprich den Aufbau einer pluralistischen Einstellung gerichtet ist. Ein wohl verstandenes Eingehen auf das Gefühlsgeschehen sollte also nicht mit der heute gängigen Ausbeutung der Emotionalität im Dienste wirtschaftlicher Prosperität und/ oder politischer Kalküle verwechselt werden. Intendiert werden sollen keine geschickten Psychokniffs, kein wiederholt abrufbares Know-how, mit dessen Hilfe widerspruchslos adaptierte Karriereziele möglichst geradlinig erreichbar werden. Intendiert wird stattdessen ein eher langsamer Prozess tiefgreifender charakterlicher Formung, bei dem die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und das Gelingen zwischenmenschlicher Abstimmung gleichermaßen wichtig sind. Diese Art des Lernens, welche die Denk- und Kommunikationsfähigkeit ins Visier nimmt, kann folglich nicht primär auf das Erreichen ökonomischer Zwecke bzw. auf sozialen 73 74

(Han 2018, S. 64). Siehe: (Nussbaum 2012, S. 15–26).

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Aufstieg durch berufsorientierte Spezialisierung gerichtet sein. Vielmehr wird damit dem Auf- und Ausbau einer plural verfassten, kooperativen Gesellschaft gedient, die dem Einzelnen größtmögliche Entfaltungsspielräume zubilligt. Es sind demokratische Tugenden, die hier angestrebt werden: Gemeinsinn in Form eigenständiger Urteilskraft, welche gleichermaßen gute Selbstkenntnis und wache Empfänglichkeit für andere umfasst. Auch ein verfeinerter Kunst- und Natursinn dürfen nicht ausgespart bleiben. Nochmals anders gesagt: An die Stelle von Konzepten, die emotionale Intelligenz ökonomisch bzw. sozialstrategisch verzwecken, wäre ein Bildungsauftrag zu setzen, der den leiblich-emotionalen Gegebenheiten der menschlichen Natur in angemessener Weise Rechnung trägt. Dementsprechend rücken im Zuge einer Praxis affektiver Selbstvergewisserung wieder alte Tugenden in den Fokus unserer Bildungsbemühungen. Am wichtigsten scheint mir – ich wiederhole es nochmals – derzeit die Tugend der Besonnenheit, deren Bedeutungsspektrum im Anschluss näher zu beleuchten wäre. Platon und vor allem Aristoteles können uns hier immer noch als wichtige Wegweiser dienen, insbesondere, wenn wir der heute gängigen, bedenklichen Reduktion der Besonnenheit auf strategische Raffinesse entgegentreten wollen. Machen wir uns hinlänglich klar, was Besonnenheit im Wesentlichen ausmacht, dann wird augenfällig, dass sie für unser gesamtes soziales Leben von höchster Relevanz ist. Sie gehört, wie ich behaupten möchte, zum Kernbestand eines gelingenden, d. h. als sinnvoll empfundenen Lebens. Gemeint ist die Kultivierung einer klugen und umsichtigen Lebenshaltung, welcher nicht zuletzt im politischen Bereich enorme Bedeutung zufällt. Besonnenheit steht im Zentrum unserer Verantwortung als Staatsbürgerinnen, weil sie sich einerseits den Werten der Gerechtigkeit und Zivilcourage verbindet und weil sie andererseits die Widerstandskraft gegenüber wohl niemals ganz ausbleibenden Vorstößen machthungriger Politikerinnen stärkt, die uns mit unwahren Aussagen und 82 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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emotionalisierenden Schachzügen vor ihren Karren zu spannen suchen. Ein besonnener Umgang mit uns selbst, d. h. eine möglichst helle Wachheit unseren inneren Regungen gegenüber, ist, wie zu vertiefen wäre, die wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben, in welchem wir bestrebt sind, uns aus dem Gängelband unbedachter emotionaler Antriebe zu lösen. Folglich wären wir weniger leicht manipulierbar und würden zugleich anerkennen, dass letztlich vor allem das redliche Bemühen um Tatsachenwahrheit weiterhilft, auch wenn wir uns manchmal sehr viel lieber – den Kopf im Sand – unseren Illusionen und Wünschträumen hingeben möchten. Im Zeichen der Besonnenheit wären wir interessiert daran, uns, so gut es geht, über die Welt sowie auch über uns selbst in Kenntnis zu setzen. Denn ist man einmal ehrlich, so wird man sehr schnell einräumen müssen, dass in vielen Fällen nicht allein den Lügnern und Betrügern, sondern auch den Belogenen und Hintergangenen Verantwortung zufällt. Es gibt immer eine Tatsachenwelt, eben »dieses hartnäckige Da« (Arendt) der Fakten, um deren Erkundung man sich gemeinsam mit anderen bemühen kann. Dabei sollte man auf wissenschaftlich erwiesene Wirkzusammenhänge weitaus mehr vertrauen als auf die wilden Behauptungen einzelner Gipfelstürmer. Arendt warnt, wie wir gesehen haben, ausdrücklich vor politischer Macht, die sich »an Vernunftwahrheit vergreift«, weil damit eindeutig Kompetenzen überschritten werden. Aber auch der Rückgriff auf Tatsachenwahrheiten kann im Reich der Politik schnell zum Problem werden, dann nämlich, wenn mit Hilfe festgestellter und verifizierbarer Fakten die eigene Auffassung gleichsam als unbezweifelbar ausgewiesen wird. Eine solche Verknüpfung verkennt, dass auch erwiesene Tatsachen unterschiedliche Interpretationen erlauben bzw. in vielfältiger Weise mit anderen Fakten in Verbindung gebracht werden können. Möglicherweise gibt es weitere, noch unentdeckte Gegebenheiten, die, wenn sie bekannt würden, 83 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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eine völlig veränderte Sicht der Dinge veranlassen würden. In Anbetracht dessen sollten Politiker sich in der Überprüfung von Tatsachenwissen unabhängigen Instanzen verpflichtet sehen bzw. sich auf solche berufen, sofern es ihnen um redliche Untermauerung ihrer Anliegen geht. Sie selbst können sich weder als Kenner absoluter Vernunftwahrheiten aufspielen, noch sollten sie vorgeben, als einzige im Besitz unstrittiger Tatsachenkenntnis zu sein. Es mag individuell berechtigte Gründe geben, sich vom Polit-Theater fernzuhalten. Zum Beispiel mag man die Üblichkeiten des politischen Diskurses – die damit verbundenen Notwendigkeiten des Taktierens bzw. der Verheimlichung sowie die primär interessenbezogene, machtorientierte Auseinandersetzung mit politischen Gegnern – für sich selbst ablehnen. Dennoch wird man auch als Privatperson unweigerlich mit der politischen Welt in Tuchfühlung bleiben müssen. Selbst eine Person, die nicht einmal mehr ihr Wahlrecht wahrnehmen will, trifft vom Lebensmittelkauf bis zur Mobilitätsfrage dennoch unzählige – vermeintlich rein private – Entscheidungen, denen eine hohe politische Relevanz zukommt. Kluge und umsichtige Lebensführung verlangt also in jedem Fall ein Bemühen um Besonnenheit. Zunächst einmal bedeutet dies Innehalten und Selbstbesinnung, woraus mitunter ein Wunsch nach (Selbst)Veränderung hervorgehen mag. Denn wandelt sich der Umgang mit uns selbst, so werden damit ebenso neue Voraussetzungen für unser Verhältnis zu anderen Menschen und zu den uns umgebenden Dingen geschaffen. 75 Es ist anzunehmen, dass nachdenkliche Besonnenheit ausstrahlen wird und insbesondere in erzieherischen Kontexten und Bildungseinrichtungen positive Effekte nach sich ziehen wird.

Zu dem Thema Entschleunigung und zu einer veränderten Zeitkultur, siehe auch: (Heintel 2007).

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Philosophinnen und Pädagoginnen haben vielfach darüber nachgedacht, wie derart hohe Ziele im pädagogischen Bereich anzugehen wären. Ihre Kernideen können an dieser Stelle nur grob skizziert werden: 76 Gewiss ist, dass weder Konformitäts- und Leistungsdruck noch Pauktechniken und Drill des Kurzzeitgedächtnisses als zielführend anzusehen sind. Denn es handelt sich um eine Art von Bildung, die nicht mittels griffiger Verfahren forciert werden kann. Sie beginnt hingegen mit Neugierde, mit einem lebendigen Interesse an der Welt, welches nur allmählich über Muße, über ruhige, ja spielerische Betrachtung und damit letztlich über die Eindämmung von Anpassungszwängen erwachen kann. Ein gewisses Maß an Abschirmung gegenüber einer reizüberfluteten Lebenswelt scheint mir dabei unumgänglich. Das bedeutet z. B. auch, dass ein wacher, reflektierter Umgang mit neuen Medien erlernt werden muss. 77 Anstelle einer Ausrichtung des Lernens auf angestrengte erfolgstaktische Selbstoptimierung wäre hinreichend Raum für zweckfreie geistige und praktische Betätigungen zu schaffen – im Umgang mit der Natur, in der Kontemplation, aber auch in der intensiven Beschäftigung mit Sachinhalten, handwerklichen Dingen und Kunstwerken. Folglich wäre eine verbesserte Anerkennung nichtakademischer Fähigkeiten ebenso begrüßenswert 78 wie die Vermeidung von Bewertungen, die Personen ausschließlich über kognitive Leitungsstandards würdigen. Verschiedene Argumentationsfäden aufgreifend gelange ich zu folgender Zwischenbilanz: Im Sog ihrer Verwissenschaftlichung ist die Philosophie, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Siehe: Kapitel V. Hierzu: (Pörksen 2018, Kap. 6). 78 Hierzu: (Crawford 2016). – Crawford erachtet insbesondere physisch-praktische Tätigkeiten (z. B. im Handwerk) als wesentlich dafür, heute notwendige Prozesse »verkörperter Wahrnehmung« anzustoßen, die »den Geist, nachdem er mehrere Jahrhunderte in unserem Kopf eingesperrt war, wieder in die Welt« zurückbringen. (Ebd., S. 83). 76 77

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Ethik, in eigentümliche Fahrwasser geraten. Sie ringt um unumstößliches Wissen, verallgemeinerbare Argumentationen und die Fixierung von Handlungsnotwendigkeiten. Mindestens seit Descartes sucht sie nach dem archimedischen Punkt der Gewissheit innerhalb einer Welt zunehmender Verunsicherung und Bedrohung. 79 Ohne mich näher auf Ursachen für dieses neuzeitliche Maßnehmen an der Naturwissenschaft einlassen zu wollen, möchte ich vor allem auf einige damit einhergehende Verschiebungen aufmerksam machen: Da, wo es zuvor um die Ausbildung individueller (gottgefälliger) Haltungen ging, entsteht nun ein zunehmend theoriegeleitetes Selbstverhältnis. Im Modus von Autonomie muss das Individuelle sich gleichwohl im Allgemeinen finden, sich den Prinzipien der Vernunft, die als das genuin Eigene anzusehen sind, unterordnen. Der immens große Glaube an die regulierende Macht der Vernunft verhalf dabei im Übrigen vordergründig auch den Gefühlen, insbesondere den Mitgefühlen, zu einem verbesserten Ansehen. 80 Mit neuartiger Zuversicht baute man auf die rationalen Kräfte, unter deren Anleitung es fortan problemlos gelingen sollte, auch ein ungestümes Innenleben in die rechte Spur zu brinZu der Entstehung der Cogito-ergo-sum-Formel des Descartes in einer historischen Situation extremer Verunsicherung in der Welt, siehe: (Gaßenhuber 2018, S. 16–20). 80 Siehe hierzu u a.: (Bailey 2011). – Erwähnung finden sollte, dass hierbei markante geschlechterbezogene Abstufungen vorgenommen wurden. So grenzt z. B. Kant eine der männlichen Großmut zuzuordnende »Empfindsamkeit« gegen läppisch-kindische »Empfindelei« ab, die »tatleere Teilnehmung« eines bloß ›leidend affizierten‹ Gefühls bedeutet. (Kant 1991a, S. 236). – Weiteres hierzu, siehe auch: (Frevert 2011). – Hier wird gezeigt, dass derartige Sichtweisen ihren Weg bis hinein in die Lexika fanden – so 1838 in einen Beitrag des Liberalen Carl Welcker: »Bei dem Manne überwiegt der schaffende Geist, die Vernunft […], bei dem Weibe das empfängliche Gemüth, das für Eindrücke leicht erregbare Gefühl.« (Ebd., S. 37). // Zur von der Mitte des 18. Jahrhunderts an entstehenden differenz- und polaritätsorientierten Geschlechtertheorie in der philosophischen Anthropologie, siehe: (Bennent 1985). 79

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gen. Doch eine Ethik, die über Vernunftoperationen nach unfehlbaren, eindeutigen Handlungsanleitungen strebt, muss letztlich mit Skepsis auf alle sinnlich-empirische Lebensverwicklung blicken. Um zu argumentativ rüttelfesten, d. h. allgemeingültigen Resultaten zu gelangen, darf sie sich nicht allzu eingehend auf verfängliche Gefühlsimpulse und subjektive Wertpräferenzen einlassen. So kommt es in weiten Teilen der Ethik zu einer Überbetonung der verstandesmäßigen Kontrollfunktion. Hier liegt zumindest einer der Gründe, warum viele Menschen tradierten Vorgaben einer ›moralischen‹ Ausrichtung des Lebens heute mit Argwohn begegnen. Sie wittern Freudlosigkeit und Verknöcherung. Moral scheint wenig attraktiv, denn sie bedeutet vor allem Verzicht durch Anpassung an trübe Vorschriften. Dass Selbstregulierung und Selbstbeschränkung Feinde des guten Lebens sind, ist quasi zu einer tragenden Ideologie geworden. Unterstellungen, man wolle die Freude am Leben abschaffen, gehören im Übrigen, wie Joachim Bauer kritisch anmerkt, »zur Marketingstrategie derjenigen, die um Absatz von Produkten fürchten, die tatsächlich nicht dem wirklichen Genuss, sondern der schnellen Abfütterung, der Infantilisierung und Abhängigkeitserzeugung dienen, von Produkten also, welche die persönliche Autonomie beeinträchtigen«. 81 Wie weit dies gehen mag, sei dahingestellt. In jedem Fall ist kaum von der Hand zu weisen, dass die Verwissenschaftlichung des Ethischen problematische Folgen zeitigte: Moralische Reflexionen, die auf unumstößliches Wissen aus sind, müssen primär an akademische Expertinnen und entsprechende Ethikkommissionen delegiert werden. So durchkreuzt der hohe Abstraktionsgrad einer von prinzipiellen Überlegungen geleiteten steifen Gesetzgeberei letztlich die an das Individuum gerichtete zentrale Forderung der Aufklärer, die da lautet: »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu 81

(Bauer 2015, S. 35).

87 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Die politische Herausforderung der Besonnenheit

bedienen.« Obgleich über spezifische Bildungsmaßnahmen – z. B. den Philosophie- und Ethikunterricht – durchaus Versuche unternommen wurden und werden, ein selbsttätiges Nachdenken auf diesem Gebiet anzuregen, so ist gesamtgesellschaftlich dennoch ein enormes Manko zu verbuchen. Hier spielt zudem die rückläufige Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Fächer in den Schulen eine Rolle. Zu wenig wurde in den vergangenen Jahrzehnten bedacht, dass politisch-moralische Mündigkeit in erster Linie eine tief greifende emotionale Bildung der Persönlichkeit verlangt. Reelle Sittlichkeit offenbart sich nicht in pedantischer Regelbefolgung, sondern in einer inneren Haltung, die sich von Fall zu Fall zu bewähren versteht. Trotz des Hypes um das Thema ›emotionale Intelligenz‹ wird nach wie vor die Förderung eines Vermögens vernachlässigt, das dazu befähigt, situationsbezogen vernünftige Einsicht und die Sprache der Gefühle – möglichst eigenständig – einander zu vermitteln. Gemeint ist die Aneignung von Tugenden, zu verstehen als komplexe und flexible innerliche Steuerungssysteme, die dazu verhelfen, im jeweiligen Einzelfall, der immer ein Sonderfall ist, selbsttätig Orientierung zu finden und Handlungen entsprechend auszurichten. Dies will im Rahmen von Freizügigkeit und Verbundenheit geübt sein. Angesichts der Herausforderungen einer vielschichtigen Wissensgesellschaft gehört dazu mittlerweile einiges: Ein Umdenken auf der ganzen Linie, könnte man behaupten, denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, unter den Bedingungen einer globalisierten Welt – ohne Rückgriff auf metaphysische Sicherheiten – zu neuen tragenden Formen der Zusammengehörigkeit hinzufinden, dies vor allem, ohne, geleitet von schädlichen Härteidealen und Abgrenzungszwängen, das Eigene uniformieren und das Fremde abwerten und ausschließen zu wollen. Das Wesen der Wirklichkeit ist Pluralität – ich erinnere an William James’ föderative Republik. Um dorthin zu gelangen, müssen wir über eine Vielzahl von Schritten nach88 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Für ein neues Ethos der Besonnenheit

denken. Zunächst sollten wir vermutlich damit aufhören, kleine Fürsten und Fürstinnen von eigenen Gnaden zu sein, die – vorangetrieben von Leistungs- und Effizienzimperativen – überheblich und selbstverleugnend agieren, indem sie an sich selbst und anderen alles Weiche, Rücksichtsvolle und Zugewandte als Schwäche stigmatisieren. Abzulassen ist gleichermaßen von der philosophischen Fiktion eines weltunabhängigen Subjektes, das sich kraft seines Intellekts den vermeintlich wohlgeordneten, wenn auch verborgenen, Vernunftzusammenhang der Wirklichkeit restlos zu erschließen vermag. Wie James klarmacht, bleiben wir bei unseren Anstrengungen irgendwie immer im Vorläufigen stecken. Eine letztgültige, lichtvolle Wahrheit ist uns nicht gegeben. Kennzeichnend für einen wahren Metaphysiker wäre es, wie Bernhard Groethuysen schreibt, immer wieder den Versuch zu unternehmen, von allen Deutungen der Welt abzusehen. 82 Wer stattdessen sehr genau hinzusehen bereit ist, wird entdecken müssen, wie oft sich das Spektrum des bisher Gesehenen durch neue Betrachtungen verschiebt und erweitert, so dass Täuschungen augenfällig werden und schnell alle Einsicht des Vortages über den Haufen geworfen ist. Zutreffend scheint, was Blumenberg in Bezug auf Husserl sagt, welcher unermüdlich zu den Sachen selbst vordringen wollte: »Was durch Anschauung endgültig beschreibbar geworden und beschrieben sein sollte, gerät immer wieder unter die Revision desselben Zuschauers.« 83

82 83

(Groethuysen 1968). (Blumenberg 2002, S. 35).

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II. Besonnenheit – eine kritische Annäherung Besonnenheit ist die seidene Schnur, die durch die Perlenkette aller Tugenden läuft. (Thomas Fuller) Man muss wissen, wie weit man zu weit gehen kann. (Jean Cocteau)

Innerhalb der philosophischen Tradition wird Besonnenheit seit jeher zu den Charaktertugenden bzw. zu den auf das Selbst bezogenen Tugenden gezählt, welche für einen optimalen Umgang mit eigenen Antrieben einstehen. Darüber hinaus markierte man eine zweite Gruppe von Tugenden, die als fremdbezogene Tugenden gelten und demzufolge die (ethische) Ausrichtung des Umgangs mit anderen betreffen. Neben Gerechtigkeit wurde hier immer wieder auch das Mitgefühl bzw. Mitleid zum Gegenstand eingehender Abhandlungen erhoben. Zunächst ist aus meiner Sicht wichtig zu sehen, dass die beiden Tugendklassen in einem unauflöslichen Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zueinander stehen. Mäßigung des Selbst und soziales Empfinden sind sogar derart zentral miteinander verkoppelt, dass mit Gadamer festzustellen wäre: »Die innere Verfassung des Menschen und seine Gemeinschaftsfähigkeit sind im Grunde eins.« 1 Denn ebenso wenig wie die zur Ausbildung von Charaktertugenden notwendige Praxis kritischer Selbstdistanzierung ohne mitfühlendes Interesse an anderen vorstellbar ist, können umgekehrt unsere ursprünglichen sozialen Regungen zu einem höherem Gerechtigkeitssinn verfeinert werden, wenn

1

(Gadamer 1983, S. 136).

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Besonnenheit – eine kritische Annäherung

wir nicht in der Lage sind, von uns selbst Abstand zu nehmen, um spontane Impulse zu bearbeiten. Anders betrachtet, heißt dies: Zwischenmenschliche Rücksichtnahme und moralisches Handeln setzen eine kontrollierende Haltung gegenüber leidenschaftlichen Affekten voraus. Dies ist weitgehend unbestrittener Konsens der meisten Ethiker. Doch muss da etwas in unserer Natur angelegt sein, das uns überhaupt zu derartigen Akten der Mäßigung und Selbstbezähmung veranlassen kann. Hier bietet die philosophische Überlieferung eine Reihe interessanter Antworten, die zumindest vordergründig recht unterschiedlich ausfallen. (Einige Positionen werde ich an geeigneter Stelle einfließen lassen.) Es besteht also Uneinigkeit darin, was dieses ›Etwas‹ sein könnte. Ist es womöglich, wie einige meinen, nicht mehr als vorausblickendes, egoistisches Interesse, welches die Selbstmodellierung antreibt und sich dabei nicht selten scheinheilig ein altruistisches Gewand umlegt? Oder wirkt hier tatsächlich eine Naturanlage spontanen Mitleids mit unseresgleichen? Gibt es vielleicht sogar die von Kant unterstellte Empfänglichkeit unseres Willens für das Sittengesetz? Übrigens ignorierte Kant in diesem Zusammenhang keinesfalls die Bedeutung des Mitleids. Eine nähere Beschäftigung mit seiner rationalistischen Ethik zeigt, dass er das menschliche Mitfühlen durchaus in sein System zu integrieren wusste. 2 Das Problem philosophischer Vernunftüberschätzung bei Kant liegt nicht etwa darin, dass er Gefühlen generell keine positive moralische Relevanz zuschreiben würde. Es geht ihm im Gegenteil durchaus darum, den hohen lebenspraktischen Stellenwert eines vernunftgewirkten moralischen Gefühls auszuweisen. 3 Problematisch an Kants Ethik ist vielmehr, Siehe: Teil IV, Fußnote 119. – Hierzu insgesamt: (Mayer 2002, S. 141– 147). 3 »Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Ver2

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Besonnenheit – eine kritische Annäherung

dass hier die Möglichkeit einer Ebene vernunftbestimmter Reflexion unterstellt wird, auf der man aller emotionalen Lebensverwicklung enthoben ist, eine Ebene, auf der man offenkundig – nur mehr als bloßes Vernunftwesen – zu rein objektiven Bestimmungen dessen, was geboten ist, gelangen kann/soll – bar jeder subjektiven Einfärbung bzw. bar jeder erfahrungsbedingten Voreingenommenheit und Begrenztheit –, während man im Anschluss dann wieder seine liebe Mühe haben mag, die so gewonnenen Einsichten gegen alle möglichen ›pathologischen Neigungen‹ handelnd umzusetzen. Auch hier steht die von Arendt monierte Zwei-WeltenTheorie Pate, ein Dualismus, der davon ausgeht, dass wir als Denkende zu ungeahnter ›Reinheit‹ gelangen können, dass wir uns also nicht nur redlich und unermüdlich Mühe geben, unseren subjektiv verengten Horizont (durch Abstandnehmen und mit Hilfe anderer) auszuweiten, sondern dass wir kraft unserer Rationalität quasi zu dem Geniestreich befähigt sind, Bürger einer anderen Welt zu werden, einer Welt der Vernunft, in der wir – vorübergehend – alle irdische Bedingtheit hinter uns lassen können. Man könnte auch behaupten, dass das leibhaftige Subjekt auf diesem Wege gewissermaßen aus der Moralphilosophie herausgefallen ist. Dieses leibhaftige Wesen aus Fleisch und Blut mit all seinen Limitierungen und Anfälligkeiten gilt es zu rehabilitieren. Im Dienste dieses Anliegens erfüllt die intensivierte Beschäftigung mit Mitgefühlen ein doppeltes Ziel: Einerseits soll deutlich gemacht werden, dass die Charaktertugend der Besonnenheit – das moralische Gefühl, wenn man so will – sich überhaupt nur im Zuge einer mitfühlenden Verbindung zu anderen Menschen ausbilden kann; andererseits soll über die genauere Auslotung einiger Abstufungen innerhalb der

mögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen (…).« (Kant 1961, S. 107). // Ebenso: (Kant 1982, S. 530–536).

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Ein Blick zu den Anfängen

mitfühlenden Verbindung vorgeführt werden, wie hochgradig diffizil im Grunde genommen jeder zwischenmenschliche Nachvollzug ist. Indem auf diese Weise offenbar wird, wie illusionär und auch risikobehaftet die unterstellte Möglichkeit vernunftgelenkter Einheit gerade in moralischen Fragen ist, sehen wir uns mit neuartigen Besonnenheitsherausforderungen konfrontiert. Was genau diese Tugend uns abverlangt, wenn wir derartiger Schwierigkeiten der Verständigung innewerden, muss deshalb zentrales Thema sein. Im Folgenden soll Besonnenheit zunächst in Anlehnung an den philosophischen Besonnenheitsdiskurs einem tiefergehenden Verständnis zugeführt werden. Liegt das Kernelement dieser Tugend, wie betont, im bewussten und maßvollen Umgang mit Emotionen, so steht noch zu klären aus, wie sich dieser Anspruch darstellt, wenn wir – vom Einheitsideal des Vernünftigen ablassend – Möglichkeiten und Grenzen der Verständigung genauer berücksichtigen. Zu fragen wäre: Welche neuen, hilfreichen Besonnenheitsperspektiven – sowohl im Verhältnis zu uns selbst als auch im Zusammensein mit anderen – könnten bzw. müssten sich vor diesem Hintergrund ergeben?

1. Ein Blick zu den Anfängen Besonnenheit ist von Anfang an ein zentrales Thema der abendländischen Philosophie. Für Platon stellt sie die wichtigste der vier staatstragenden Tugenden dar, sie gilt ihm gleichsam als Basis, auf der die drei anderen Tugenden aufliegen. Damit ein Staatswesen gedeiht, müssen die politischen Geschäfte in die Hände derjenigen gelegt werden, die sich in hervorstechender Weise durch Besonnenheit auszeichnen. Doch auch der niedere Teil der Bevölkerung – die große Zahl der »Minderwertigen« – sollte wenigstens so viel Besonnenheit besitzen, dass sie die Überlegenheit der »weni93 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Besonnenheit – eine kritische Annäherung

gen Anständigeren« 4 anerkennen und sich bereitwillig regieren lassen. Da wo in einem Staat »Herrscher und Beherrschte in der Frage einig sind, wer regieren soll«, wohnt die Besonnenheit ebenso in den Herrschern wie auch in den Beherrschten. Sie findet sich – anders als die anderen Tugenden – »über den ganzen Staat gespannt und vereinigt die an Einsicht, Kraft, oder auch an Zahl, Geld und dergleichen Schwächsten und Stärksten und die in der Mitte (…) zu einem vollen Akkord«. 5 Besonnenheit braucht es mithin durchgängig – ihre Skala erstreckt sich von einem Minimum an Besonnenheit, das sich im Eingeständnis eigener Mängel und Grenzen manifestiert, bis hin zu den hoch entwickelten Fähigkeiten der Selbstbeherrschung und interesselosen Weitsicht. Der wahrhaft Besonnene ist laut Platon sich selbst überlegen. Er überwindet seine ichbezogenen Fixierungen, insofern die besseren, vernunftgemäßen Teile seiner Seele ungestüme, spontane Impulse in Zaum zu halten wissen. Deshalb vermag ein solcher den Überblick über das gesamte Staatswesen zu wahren und dem Gemeinwohl in ausgezeichneter Weise zu dienen. Ein Aufstieg in die Welt der Erkenntnis setzt voraus, dass der Denkende sich von der sinnlichen Welt (den Unsicherheiten sinnlicher Erfahrung) abwendet, die eigene Körperlichkeit und das hier verankerte Gefühlsleben in seiner Wechselhaftigkeit zu beherrschen und zu überwinden versteht. Der vernünftige Seelenteil gewinnt hier Souveränität über den begehrenden Teil. Letztlich ist derjenige besonnen zu nennen, der alle Seelenteile, zu denen neben Vernunft und Begierde auch der Mut gehört, in harmonischen Einklang bringt. Dies ist der Fall, »wenn der herrschende und die beiGenauer heißt es: »Den einfachen und maßvollen Leidenschaften aber, die vom Verstande und der richtigen Vorstellung gelenkt werden, begegnet man nur bei wenigen, und zwar bei den von Natur aus und ihrer Erziehung nach Besten.« – (Platon 2017, S. 167). 5 (Ebd., S. 167 f.). 4

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Ein Blick zu den Anfängen

den beherrschten Teile darin übereinstimmen, dass die Vernunft regieren muss, und wenn sie sich nicht gegen sie auflehnen«. 6 Wer diese Ausgewogenheit erreicht, zählt zur kleinen Gruppe der wahrhaft Besonnenen und ist deshalb befähigt, die Regierungsgeschäfte in die Hand zu nehmen. Vertreter dieser Gruppe dürfen keinen Privatbesitz haben und auch keine Familie. Durch Abspaltung des Privaten von den öffentlichen Angelegenheiten soll die Aufgabe erleichtert werden, sich nur für das Gemeinschaftliche einzusetzen und keine egoistischen Einzelinteressen zu verfolgen. Es gibt aber in Platons Welt einen ausschließlich in die Privatsphäre eingeschlossenen Stand, den Nährstand. Vertreter dieses Standes sind grundsätzlich von politischen Geschäften ausgeschlossen. Ihre Besonnenheit liegt in der Anerkennung der überlegenen Weltklugheit der Weisen, der wahrhaft Besonnenen eben. Wenngleich Platons Hervorhebung der Besonnenheit als zentrale staatstragende Tugend durchaus zuzustimmen ist, wenngleich ebenso zu befürworten wäre, dass vor allem diejenigen die Staatsgeschäfte lenken sollten, die sich durch ein hohes Maß besonnener Selbstbeherrschung auszeichnen, so ist die seinen Entwurf leitende grundsätzliche Aufteilung der Menschen in Herrschende und Beherrschte – also in solche, die in besonderer Weise vernunftfähig sind, und solche, die zwar weniger beherrscht sind, sich aber immerhin bereitwillig in die eigenen Grenzen fügen – aus dem Blickwinkel der Moderne keineswegs unproblematisch. Die Kernidee neuzeitlicher Demokratien ist eine andere. Hier ist der Gedanke leitend, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und im Prinzip auch gleichermaßen befähigt, über eine Schulung ihrer Persönlichkeit politisch wirksam zu werden. Platon, der eine naturbedingte Klassifizierung vornimmt, würde diesem hochgesteckten Ideal ganz offensichtlich nicht beipflichten. 6

(Ebd., S. 185/186).

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Obwohl die Privilegierung einer kleinen Elite gegenüber der breiten Masse aus moderner Sicht mithin zu kritisieren ist, lenkt Platon unser Augenmerk dennoch auf ein Problem, mit dem auch moderne Demokratien unverändert zu kämpfen haben. Auch heute erleben wir zweifelsohne, dass es Bürgerinnen und Bürgern an den notwendigen Bildungsvoraussetzungen für ein umsichtiges politisches Engagement mangelt. Es fehlt ein hinreichendes Maß an politischer Mündigkeit, welche zur Voraussetzung hat, dass jemand rein emotionsgelenkte subjektive Perspektiven überwinden kann, um Gemeinschaftsinteressen zu berücksichtigen, d. h. auch die eigenen Belange weitsichtig im Lichte übergeordneter Zusammenhänge abzuwägen. Vielmehr dominieren immer häufiger irrationale Antriebe, die nicht selten paradoxe Verhaltensweisen nach sich ziehen: Während man auf der einen Seite lautstark die Verlogenheit der Politiker anprangert, werden bei Wahlentscheidungen ausgerechnet diejenigen Kandidaten favorisiert, die sich kaum je um ein adäquates Bild vorliegender Tatbestände bemühen, sondern stattdessen – polarisierend und polemisierend – (fingierte) Schreckszenarien heraufbeschwören. Augenscheinlich nach ›wohltuenden‹ Botschaften verlangend, glaubt man unrealistischen Wahlversprechen und donnernden Absichtserklärungen. Enttäuscht die Realität später diese allzu hochgesteckten Erwartungen, präsentieren viele sich als hintergangene und betrogene Opfer, während sie im Grunde genommen doch wohl eher mitbeteiligte Täter waren. In diesem Moment träfen die Worte des Politikers Wolfgang Gerhardt ins Schwarze, der an die Wählerschaft gerichtet sagt: »Ihr wollt die Wahrheit hören, aber Ihr goutiert sie nicht, wenn man sie Euch sagt.« 7 Platon spricht noch einen weiteren Aspekt an, dessen Bedeutung uns heute deutlicher denn je geworden ist. Er verweist uns nämlich auf die Gefahren, die in einer Vermischung der öffentlichen Angelegenheiten mit ökonomischen Interes7

(https://www.youtube.com/watch?v=yfAIiRwFeoA, ca. Minute 9).

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sen liegen. Um dem entgegenzuwirken, sollen die Regierenden in Platons Staat kein Privateigentum besitzen. Derweil leben wir mit einer unüberschaubaren Menge an Verquickungen von Wirtschaft und Politik, so dass schon oftmals die These laut wurde, Politiker seien inzwischen nur mehr Marionetten ökonomischer Interessengruppen. Von verdeckten Parteispenden und Korruptionsaffären, über den – bedenkenlos vollzogenen – zeitnahen Wechsel ausgedienter Politiker in Managementpositionen, bis hin zum weitgehend unverhohlenen Support bestimmter Wirtschaftsbranchen durch Regierungsparteien erweist sich heute, dass die Gemeinwohlorientierung der Politik auffällige Schwachstellen zeigt. So steht zu befürchten, dass ökologische, arbeitsrechtliche und sozialstaatliche Maßnahmen erst dann ernsthaft verfolgt werden, wenn im Zeichen einer unantastbaren Wachstumsideologie das Zugpferd der Ökonomie bei Laune gehalten wurde. Doch zurück zur Philosophie: Die Beschäftigung mit Platon lenkt das Augenmerk nochmals auf jene schon angesprochene Grundproblematik, die mit der Annahme einer metaphysischen Wahrheitswelt verbunden ist, ein Reich der Ideen, zu dem nur einige wenige – die Philosophen eben – einen privilegierten Zugang haben. Suggeriert wird, dass der Aufstieg in das himmlische Ideenreich dazu berechtigt, die übrigen Teile der Bevölkerung, welche niemals dorthin gelangen werden, zu bevormunden. Aus heutiger Sicht drängen sich da nicht wenige Fragen auf: Warum sollten Philosophen die besseren Menschen sein? Warum ist der Weg tugendhafter Charakterbildung so ungemein vielen per se verwehrt? Inwieweit hängt die im Politischen so wichtige Tugend der Besonnenheit tatsächlich mit dem Denkvermögen des Menschen zusammen? Welche Art von Bildung braucht Besonnenheit? Oder anders gewendet: Dürfen wir erwarten, dass politische Führer vorbildhaft sind, dass sie sich z. B. durch besonders gute Bildung oder einen besonders tugendhaften Lebenswandel auszeichnen? 97 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Hier gilt es vieles zu bedenken: Wie ich schon weiter oben in Anlehnung an Hannah Arendt dargelegt habe, kommt es in politischen Angelegenheiten auf eine spezifische Form der Denkfähigkeit an, die letztlich weniger mit kognitiver Begabung und Intellektualität zu tun hat, sondern eher mit der Bereitschaft, in allen gemeinsamen Angelegenheiten stets sich selbst und anderen gegenüber rücksichtsvoll und gerechtfertigt zu agieren. Hierzu sind, wie Arendt mit Recht anführt, die sogenannten Geistesarbeiter keineswegs automatisch geneigter als andere Menschen. Im Gegenteil, so könnte man hinzufügen, sie sind sogar oft – aufgrund der fraglosen Unterstellung eigener Überlegenheit – sehr viel schwerer dazu zu bewegen, die Möglichkeit einer provinziellen Begrenztheit des eigenen Werthorizontes einzuräumen. Weder erwägen sie die Möglichkeit, dass sie durch biografische Zufälle zu Vertretern einer spezifischen Denkrichtung wurden, noch lassen sie die Frage zu, ob ausgefeilte Argumentationstechniken nicht primär dem Zweck einer Immunisierung gegen Anfechtungen von außen dienen. Folgen wir darüber hinaus Platons Untergliederung der Besonnenheit in zwei Varianten, so drängen sich aus heutiger Sicht vor allem Zweifel an der damit verknüpften Hierarchisierung dieser Besonnenheitstypen auf. Verstehen wir Besonnenheit also einmal als die Fähigkeit, im Abstandnehmen von eigenen Begierden das Gesamtbild einer Sachlage zu erfassen und entsprechend weise zu handeln, verstehen wir sie andererseits als die Bereitschaft, die eigenen Unzulänglichkeiten zu erkennen und von daher seine Ansprüche zu relativieren und zurückzustellen, so drängt sich – bezogen auf die gegenwärtige Situation – folgende Schlussfolgerung auf: Da es niemandem gelingen wird, sich – gänzlich frei von eigenen Interessen – ein vollständig sachgemäßes und umfassendes Bild öffentlicher Angelegenheiten zu verschaffen (und danach zu handeln), ist die ›kleine‹ Besonnenheit, etwa die des ›einfachen Schusters‹, der bei seinen Leisten bleibt, unbedingt zu bevorzugen. Denn letztlich ist diese Spielart einer 98 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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besonnenen Haltung der menschlichen Situation sehr viel adäquater als die hochtrabende Tugend grandioser Selbstlosigkeit, die Platon der politischen Klasse abverlangt. Damit ist gesagt: Die kleine Besonnenheit reicht weitaus mehr an ein menschenmögliches Maß der Vernünftigkeit heran als die große Besonnenheit, die der Illusion nachjagt, es könne je einen Menschen geben, der – ohne einen Rest von Unsicherheit in Sachfragen oder von Blindheit sich selbst gegenüber – vollkommen umsichtig und interesselos agierte. Allerdings, so muss man leider ergänzen, ist die kleine Besonnenheit wiederum psychologisch betrachtet sehr viel anspruchsvoller. Die hier anklingende Bereitschaft zur Selbstbescheidung liegt aktuell bei den meisten eher nicht im Trend. Im Gegenteil, viele Persönlichkeiten, oft genug auch politische Vorreiter, zeigen deutliche Anzeichen gefährlicher Selbstüberschätzung und Selbsterhebung. Während Platons Staatsvision ein hochfliegendes, nahezu utopisches Idealbild des besonnenen Überschauers an der Spitze des Staates zeichnet, erteilt einer seiner frühen Dialoge anders ausgerichtete Aufschlüsse über diese Tugend. In tiefschürfender Weise befasst sich nämlich der Frühdialog Charmides mit dem Wesen der Besonnenheit als vortrefflichste aller Tugenden. Das Thema wird hier in typisch sokratischer Manier fragend ›umkreist‹. Ein junger Mann namens Charmides und Sokrates, der seinem Gegenüber an Alter und Lebenserfahrung deutlich überlegen ist, sprechen miteinander. Später tritt noch Kritias hinzu, der zum Vormund des Charmides bestimmt wurde, nachdem dessen Vater verstarb. Eingangs rühmt Kritias seinen Zögling als besonnenen Charakter, doch einige zutage tretende Verhaltensweisen des Charmides, vor allem seine Hitzigkeit und überhebliche aristokratische Gesinnung, scheinen dieses Urteil bald Lügen zu strafen. Gemeinsam sucht man zu ergründen, was Besonnenheit denn nun eigentlich sei. Man geht miteinander zu Rate, indem eine Reihe von Definitionsvorschlägen durchlaufen und auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft wird. Ist es Bedäch99 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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tigkeit, ist es Schamhaftigkeit oder ist es die Fähigkeit, sich auf das Seine in angemessener Weise zu beschränken? Alle Antworten sind in irgendeiner Weise unbefriedigend. Ohne die gedanklichen Schritte an dieser Stelle im Einzelnen nachvollziehen zu wollen, erscheint mir insbesondere eines hervorhebenswert: Am Ende mündet das Gespräch keineswegs in eine endgültige und rüttelfeste Definition der Besonnenheit. Charmides muss schließlich ausdrücklich bekunden, von sich selbst nicht (mehr) sagen zu können, ob er besonnen sei oder nicht. Zu guter Letzt gelangt man zu der Übereinkunft, dass sich die Besonnenheit des jungen Mannes vor allem in der Bereitschaft erweist, sich auch weiterhin der kritischen Befragung – der »Besprechung« des Sokrates, wie es heißt – zu stellen. 8 Besonnenheit wird hier eher formal als eine kontinuierliche Auslotung des Guten definiert, wobei dieser Erkundungsprozess der Selbsterkenntnis eng verbunden ist. Indem das menschliche Bewusstsein sich der Zwiesprache mit einer erfahrenen und lebensklugen Person öffnet, überwindet es seine verengte, zu einseitige Selbstbezüglichkeit. Wer besonnen agieren will, muss darum ringen, sich Klarheit über eigenes und fremdes Wissen bzw. Nichtwissen zu verschaffen. Dies kann nur im Zuge permanenter kritischer Selbsthinterfragung gelingen. Platon legt hier also die Einsicht nahe, dass Besonnenheit schwerlich im Alleingang zu erlangen ist, sondern unbedingt der Unterstützung durch wohlmeinende andere bedarf. Das ›Wahrsprechen‹ entspringt einer Praxis zu zweit – ein beinahe modern anmutender Gedanke. 9 Oder anders gesagt: Besonnenheit korrespondiert einer dialogischen Praxis und ist keinesfalls ein Gut, von dem sich ein für alle Mal Besitz ergreifen ließe. Wer sich selbst die Tugend der Besonnenheit zuschreiben wollte, liefe Gefahr, anmaßend oder selbstgefällig zu erscheinen. Denn letztlich lässt sich nur über das Urteil eines 8 9

(Platon 2002a, S. 244). Ein Gedanke, den insbesondere Karl Jaspers verfolgt: (Jaspers 1971).

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Außenstehenden, welcher ein möglichst interesseloser und wohlmeinender Betrachter sein sollte, in Erfahrung bringen, ob bzw. wie weit unseren Handlungen ethische Qualität zukommt. Das heißt: Allein im Spiegel anderer können wir unsere Irrtümer und Voreingenommenheiten revidieren; nur so besteht eine realistische Chance, den Risiken der Selbstgerechtigkeit oder gar Selbsttäuschung zu entgehen. Eine gewissenhafte Kontrolle des eigenen Selbst ist demzufolge stets auf die Rückmeldungen anderer – ausgewogen, vorurteilsfrei und fair denkender – Personen angewiesen, insbesondere auf das Votum derjenigen Personen, deren Weltsicht einem Ideal gelingender Sozialität verpflichtet ist. Ohne Orientierung am Ethisch-Guten wird man niemals auskommen können, so sehr auch in der Praxis alle Überlegung stets um die inhaltliche Bestimmung dieses Punktes ringen muss. 10 Genauer gesagt: Gespräche bieten in schwierigen Situationen die Chance, behutsam und umsichtig abzuwägen, was den eigenen Lebenszielen zuträglich ist. Eines ist dabei allerdings überaus wichtig: Es kommt in der Überlegung nicht allein darauf an, den eigenen Vorteil zu wahren und Selbstschädigungen zu vermeiden. Besonnenheit bedeutet von jeher mehr als dies, sie greift tiefer, insofern sie den zusätzlichen Anspruch umfasst, im Zeichen der Selbstachtung von gewissenlosen und verwerflichen Handlungen abzusehen, mithin von Handlungen, die sich destruktiv auf das eigene Umfeld, die Gemeinschaft als ganze, und so indirekt auch auf die eigene Existenz auswirken. Dahinter steckt die EinSiehe hierzu auch: (Beier 2010, S. 133 ff.). – Zum Beispiel erblickt Beier ein zentrales Mittel der Selbsttäuschung darin, »mit Blick auf ethische Selbstbeurteilungen das Privileg der dritten Person zu bestreiten und (…) auf der Autorität der ersten Person Singular zu beharren. Selbsttäuschung äußert sich dann in Form von Selbstgerechtigkeit.« (Ebd., S. 182). Jemand folgt dabei der Intention, Meinungen oder Werte nicht zur Kenntnis zu nehmen, deren Berechtigung er/sie aber grundsätzlich anerkennen müsste bzw. würde, sofern er/sie eine Außenperspektive einnähme, d. h. sofern es nicht um ihn/um sie selbst ginge.

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Besonnenheit – eine kritische Annäherung

sicht, dass Moral, zu verstehen als Rücksichtnahme auf soziale Bindungen, kein Gegenspieler, sondern ein Mitspieler des persönlichen Glücks ist, eine uralte Einsicht, die – nebenbei bemerkt – durch die aktuelle Glücksforschung bestätigt wird. 11 Von Anfang an steht diese Einsicht auch im Zentrum des aristotelischen Klugheitskonzeptes. Hier wird Besonnenheit neben Mut und Gerechtigkeit als Kernelement gelingender Lebenspraxis angesehen. Im Sichbesinnen sollte der Einzelne zur genauen Kenntnis seiner selbst, insbesondere seiner Empfindungen, gelangen, um so nach und nach bejahenswerte Gewohnheiten des Fühlens zu etablieren, so dass er sich schließlich dem schädlichen Einfluss unkontrollierter Erregungen zu entziehen weiß. Wie es die Kardinaltugend der Klugheit verlangt, steht die Selbstkultivierung hier im Dienst einer Ausrichtung des eigenen Lebens auf zwischenmenschlichen Ausgleich. 12 Der mäßigende Umgang mit Gefühlsund Lustimpulsen ist also nicht – wie spätere Klugheitsbestimmungen suggerieren – vorwiegend darauf gerichtet, die eigene Persönlichkeit erfolgstaktisch zu verbessern, um ein Vorankommen in der Welt zu sichern. Es geht nicht um geschickte Psychotechniken, die Mittel an die Hand geben, um fraglos übernommene Erfolgsziele möglichst ungehindert zu erreichen. Angestrebt wird demnach kein wiederholt abrufbares standardisiertes Wissen, sondern ein eher langsamer Prozess tiefgreifender Persönlichkeitsbildung, bei dem das Gelingen zwischenmenschlicher Abstimmung der wesentliche Bezugspunkt ist. 13 Das heißt: Im Durchlaufen je spezifischer Situationen mit je spezifischen Partnern und Ansprüchen, denen man gerecht zu werden bemüht ist, vollzieht (Spitzer 2007). // Aus philosophischer Sicht, siehe insbes.: (Höffe 2009). 12 Zum aristotelischen Klugheitskonzept insgesamt, siehe: (Luckner 2005). // Zur Aktualität der aristotelischen Philosophie, siehe auch: (Höffe 2002). 13 Zum Thema Besonnenheit, siehe: (Bennent-Vahle 2015a u. 2013). 11

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Die ethische Ausrichtung der Besonnenheit

sich besonnene Mäßigung Zug um Zug als Ausbildung eines tugendhaften Charakters – ein Vorgang, der niemals gänzlich zum Abschluss gelangen wird. Im Gegenteil, das Wesen einer solchermaßen klugen Lebensführung liegt darin, sich letztlich von eindeutigen Vorabfixierungen des Guten zu lösen und das Gebotene oder Tunliche angesichts jeder neuen Herausforderung immer wieder neu auszuloten, und zwar für jeden im Rahmen seiner Möglichkeiten. Wir sehen also, dass eine besonnene situationsbezogene Ausrichtung des ethischen Urteils keinesfalls auf die Befürwortung subjektiver Willkür hinausläuft. Vielmehr verlangt Besonnenheit eine vom Gemeinsinn geleitete Urteilskraft, die unbeirrt an übergeordneten Wertmaßstäben festhält. Doch tritt an die Stelle schematischer Anwendungen eines gleichmäßig geltenden Sollenssystems das fallbezogene Abwägen und Abstufen gültiger Wertigkeiten. Der Urteilende hat stets zu verantworten, dass sein Votum ›repräsentativen‹ Charakter hat, wobei mit Arendt gesprochen »mein Urteil um so repräsentativer sein wird, je mehr Standpunkte anderer Leute ich mir in meinem Denken vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtigen kann«. 14 Eine solche Haltung kommt nicht umhin einzuräumen, dass man gelegentlich um der anderen willen von eigenen Auffassungen und Ansprüchen zurücktreten muss.

2. Die ethische Ausrichtung der Besonnenheit Nicht zuletzt wegen dieser schon in den Anfängen erkennbaren ethischen Ausrichtung erscheint die Tugend der Besonnenheit gegenwärtig vielen altertümlich und überholt. Inzwischen spricht man allenfalls noch von Klugheit, wenn (Arendt 2006b, S. 143). – Siehe hier insbesondere zur Thematik moralischer Urteilskraft. – Zur Situationsethik, siehe auch: (Buber 1963) // (Lazari-Pawlowska 1980).

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Besonnenheit – eine kritische Annäherung

es darum geht, vernünftig abzuwägen, was in verzwickter Lage den eigenen Zwecken dient und was nicht. Mag man auch im Recht sein, so ist es z. B. dennoch unklug, einen Lehrer oder Vorgesetzten herbe anzugehen, weil man damit letztlich vor allem sich selbst schadet. »Sei doch vernünftig«, sagen Eltern zu ihrem Kind, das allzu geradeheraus seiner Empörung über Ungerechtigkeiten Ausdruck verleihen will. Sie suchen es zur ›Besinnung‹ zu bringen, indem sie ihm die möglichen Folgen allzu ungestümer Offenheit vor Augen führen. Solche Ratschläge findet man zuhauf, während eine besonnene Haltung, die mehr als kalkulierende Vernünftigkeit umfasst, vielen Zeitgenossen unangebracht erscheint. Völlig abwegig ist für sie die Vorstellung, dass man unter Umständen sogar eine Selbstschädigung in Kauf nehmen könnte, wenn damit dem Erhalt moralischer ›Unversehrtheit‹, d. h. der persönlichen Würde, gedient wäre. Gang und gäbe ist es dagegen, eher herablassend und geringschätzig von ›Gutmenschentum‹ zu sprechen. Dementsprechend verbinden viele mit Besonnenheit eine wenig attraktive Aufforderung zu biederem Maßhalten, sie erblicken darin einen spießigen Hang zu Bedächtigkeit oder einen engstirnigen Moralismus, der quer zu einem freien, leidenschaftlichen, phantasievollen und selbstbestimmten Leben steht. Zur Besonnenheitsfeindlichkeit der modernen Lebensverhältnisse sage ich später noch mehr. Vorab möchte ich aber Folgendes kühn feststellen: Was für die meisten Tugenden zutrifft, gilt insbesondere für die Besonnenheit. Hier zeigt sich überdeutlich: Eine Gesellschaft braucht vornehmlich die Haltungen, auf die sie im Zeichen vermeintlichen Fortschritts glaubt verzichten zu können. Diese Notwendigkeit verschärft sich angesichts der heute grundlegend veränderten Bedingungen medialer Kommunikation, deren Kennzeichen es ist, unkalkulierbare Folgen nach sich zu ziehen. »Noch nie klafften die moderne Medienwelt und das Gespür für die öffentlichen Fernwirkungen eigener Äußerungen und Handlungen 104 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Die ethische Ausrichtung der Besonnenheit

in derart dramatischer Weise auseinander«, konstatiert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, der für dieses Phänomen den Begriff der »Möglichkeitsblindheit« 15 prägt. Demnach ahnen wir nicht im Mindesten, in welchem Ausmaß Nachrichten, die einmal digitalisiert wurden, unser zukünftiges Leben beeinflussen und möglicherweise vollständig demolieren können. Je mehr wir dem medialen Diktat der Aufmerksamkeitserregung folgen, umso größer wird das Risiko, einen Kontrollverlust zu erleiden und zum Opfer einer skandalhungrigen Hetzjagd zu werden. Da es quasi unmöglich ist, einmal veröffentlichte Daten wieder aus dem Netz zu verbannen, bleibt – so Pörksen – auch in dieser Hinsicht »nur die Arbeit am Bewusstsein des Einzelnen, der sich im digitalen Zeitalter in die entscheidende Instanz und einen Gatekeeper eigenen Rechts verwandelt. Dieser Einzelne muss so handeln, als wäre er ein wirklich guter Journalist, den Idealen der Verantwortung und der Aufklärung verpflichtet.« 16 Damit ist ein hochgestecktes Ziel formuliert, welches dem einen oder anderen vermutlich bereits aussichtslos erscheinen mag. Im Grunde verweist auch Pörksen hier auf Besonnenheit. Denn wollen Menschen den derzeit allgegenwärtigen Versuchungen widerstehen, zahllose Follower hinter sich zu bringen, ungeahntes Prestige zu gewinnen und schnelles Geld zu machen, so benötigen sie genau diese innere Haltung, welche dem Tatbestand Rechnung trägt, dass Menschen verletzliche und limitierte Wesen sind, dass sie letztlich nicht darauf reduziert werden dürfen (ja, die meisten sich nicht darauf reduzieren lassen wollen), egoistische Nutzenoptimierer und lustorientierte Konsumenten zu sein. Vielmehr vermittelt Besonnenheit die Einsicht, dass wir – nicht zuletzt zu unserem persönlichen Glück – soziale und altruistische Seelenkräfte in uns entfalten müssen. Sie zielt 15 16

(Pörksen u. Detel 2012, S. 140). (Ebd., S. 141).

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auf die Integrität der Persönlichkeit, so dass schizophrene Verhaltensmuster fraglich werden, wonach jemand z. B. einerseits als knallharter, rabiater Profitmaximierer agiert und sich andererseits eifrig als engagierter Bürger, verlässlicher Freund und treu sorgender Familienvater präsentiert. Am Maßstab der Besonnenheit wird augenfällig, dass der zeitgenössische Kapitalismus, der das Wettbewerbsprinzip verabsolutiert und in alle Lebensbereiche hineinträgt, eine unreife Persönlichkeitsstruktur voraussetzt und fördert. Diese ist blind auf Eigennutz, Konkurrenz und materiellen Gewinn fixiert. Dem entgegen zeigen aktuelle verhaltensökonomische Studien, dass die Mehrheit der erwachsenen Menschen spontan durchaus zu altruistischen Investitionen bereit ist, darin aber sehr häufig durch den ungehinderten Eigennutz einiger weniger entmutigt wird. Langfristig wird durch diese Gegebenheiten auch das Projekt des wirtschaftlichen Erfolges ruiniert, denn ökonomisches Gelingen basiert zu großen Teilen auf kooperativen Strukturen, d. h., die freie Marktwirtschaft bedarf der Einbettung in ein auf Fairness, Respekt und Vertrauen fußendes Regelwerk. 17 Die entfesselte Wettbewerbsökonomie unterminiert schließlich ihre eigenen Handlungsgrundlagen. Sofern etwa Konkurrenzstrategien sich verselbständigen, indem bestehende Systeme der Regulierung umgangen und ausgehebelt werden, ist mit schweren Krisen und ökonomischer Ineffizienz zu rechnen. Beeinträchtigt wird nicht nur das persönliche Lebensglück zahlloser Akteure, auch Umwelt, Politik und Kultur nehmen in gravierender Weise Schaden.

Siehe hierzu u. a.: (Fehr 2015b) // (Nida-Rümelin 2011) // (Etzioni 1996). – Siehe auch: Kap. V.

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Der Asket des Lebens

3. Der Asket des Lebens Ich möchte diesen Zusammenhang im Blick auf die ›Ressource Mensch‹ noch etwas eingehender darlegen, um auf diese Weise augenfällig zu machen, dass wir uns heute mehr denn je an die ›altertümliche‹ Tugend der Besonnenheit erinnern sollten. Vor allem gilt es, zentrale Merkmale der Besonnenheit noch klarer gegenüber moralischer Rigidität, tugendhafter Verlogenheit auf der einen und emotionaler Selbstoptimierung auf der anderen Seite abzugrenzen. Max Scheler war es, der den Menschen als »Asket(en) des Lebens« 18 bezeichnete, weil er – im Gegensatz zum Tier – das besondere Potential besitze, selbst in Bedrängnis ›Nein‹ sagen zu können. Wenn es ihnen notwendig oder sinnvoll erscheint, sind Menschen auch unter erschwerten Bedingungen in der Lage, ihren unmittelbaren Trieb- und Gefühlsimpulsen Einhalt zu gebieten. Doch ist, wie schon angedeutet, dieses Neinsagen nicht zwangsläufig auch von höherem sittlichem Wert. Sehr oft nimmt das Sichbesinnen eine primär selbstzentrierte, zielfixierte, ja egoistische Ausrichtung an. Dominiert das rationale Kalkül, so ist mit dieser Haltung zumeist eine scharfe Trennung zwischen bedrängender Emotionalität auf der einen und kontrollierender Ratio auf der anderen Seite verbunden. Dabei werden Eigenwert und Bedeutung der emotionalen Sphäre ignoriert und übergangen. Was von hierher kommend stört und beeinträchtigt, wird – zumindest vorübergehend – ausgeschaltet und ruhiggestellt. Ein angemessener nachdenkender Umgang mit emotionalen Dispositionen und situationsbezogenen Gefühlsreaktionen wird so in der Regel nicht angeregt. Dies hat erheblich dazu beigetragen, dass wir heute in so viele Abgründe blicken müssen. Folgendes wäre in Betracht zu ziehen: Viele berufliche Trainingsprogramme sind darauf ausgerichtet, innere Selbst18

(Scheler 1928, S. 51).

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kontrolle zu erlangen und emotionale Ungerührtheit zu demonstrieren, um Erfolgsziele oder Projektvorgaben möglichst schnell zu erreichen und damit das eigene Karrierevorhaben voranzutreiben. Genau in diesem Punkt aber ähnelt der unterkühlte rationale Stratege dem Vertreter einer strikten Prinzipienmoral, gleichwohl letzterer natürlich bereit ist, seinen Egoismus der Norm entsprechend einzudämmen. Doch auch im Dienste der Moral führt Gefühlsblindheit zu problematischen Engführungen. So wird z. B. nicht hinreichend bedacht, wie hoch die Bedeutung emotionaler Komponenten für die Entfaltung einer echten, das heißt altruistischen Moraleinstellung ist. 19 Emotionale Haltungen wie Mitgefühl und Fürsorge spielen aber nicht bloß hinsichtlich der moralischen Motivation eine große Rolle, auch die Moralkonzeptionen selbst fallen ganz unterschiedlich aus, je nachdem, ob wir Verstand und Gefühl gegeneinander ausspielen oder ob wir beides als gleichermaßen zum Menschen gehörend anerkennen. Tun wir letzteres, so gelangen wir zu anderen Rückschlüssen. Wir müssen dann z. B. der Tatsache Rechnung tragen, dass Menschen unaufhebbar immer auch von partikularen Interessen und divergierenden Zielen bestimmt sind und dass sie deshalb nur in begrenztem Maße zur Übereinkunft in ihren Werturteilen und zur Einhelligkeit in der Beurteilung von Fakten gebracht werden können. 20 Diese Problemlage ist besonders für multikulturelle Gesellschaften zentral. Zur Besonnenheit gehört deshalb die Bereitschaft, Nichtübereinstimmung mit anderen anzunehmen, Siehe hierzu Teil IV. Normative Übereinkünfte entspringen, so sie zustande kommen, nur vordergründig rein rationaler Argumentation. Denn welches Argument wir letztlich für stichhaltiger und überzeugender erachten, hängt bereits davon ab, welche Dinge wir als wertvoll ansehen bzw. welchen Wert wir gegenüber anderen Werten auszeichnen. Sobald wir aber wertend in der Welt stehen, sind Emotionen im Spiel. Sofern wir unseren Werthorizont erweitern, geschieht dies, wie noch zu zeigen ist, durch nachhaltiges empathisches Hinübergleiten in die Erfahrungswelt anderer.

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Der Asket des Lebens

ohne im selben Atemzug die Gemeinschaft mit ihnen zu verneinen. Nach Arendt offenbart sich genau hier, im Berücksichtigen und Ernstnehmen der Meinung anderer Leute, der Kern politischen Denkens und Handelns. Noch einmal anders gesagt: Indem eine Person sich zunächst einmal allen Facetten des inneren Erlebens öffnet, indem sie gleichsam – ohne sofortige Intervention eines stets eilfertigen inneren Richters oder imaginierten Vorgesetzten – hinzuschauen bereit ist, erweitert sie die Chancen, ihre eigenen Befangenheiten und emotionalen Untiefen, aber auch ihre mitfühlenden Potenziale besser kennen zu lernen. Ein solches Bemühen um distanziert-neutrale (Selbst)Betrachtung erhöht die Einsicht in die jeweils einmalige Komplexität der Dinge, nicht nur in eigener Sache, sondern auch in Bezug auf andere Menschen. Wir realisieren dann eine Gegebenheit, um die wir zwar stets diffus wissen, die wir im Alltagsgeschehen aber selten ganz an uns heranlassen: die Tatsache nämlich, dass jeder andere – wie wir selbst auch – in Endlichkeit und Perspektivität befangen ist, dass eine unüberschaubare Vielzahl von Faktoren sich in jeder einzelnen Person bündelt und jeweils besondere Lebensanforderungen im Schlepptau hat. Wir sehen andere nicht mehr so leicht als Spielart unserer selbst, sondern als »Orientierungszentrum« 21 ihrer je eigenen Welt, mit dem ich von meinem Standort aus behutsam in Kommunikation treten kann. In der wechselseitigen Anerkennung dieses vermeintlich banalen Faktums liegt eine enorme Leistung, denn sie beinhaltet das Zugeständnis eigener Limitiertheit und Einseitigkeit. Doch zugleich liegt hier der Kern unserer Humanität. Es ist ein Akt positiver Toleranz, der sich logisch aus unserer natürlichen Mittelpunktstellung ergibt und psychologisch massiv durch diese blockiert wird, insofern wir aus Angst oder Unsicherheit spontan dazu neigen, unseren Eigensinn zu leugDieser Gedanke wird insbesondere bei Edith Stein entfaltet. – Siehe: (Stein 2008, S. 13).

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nen und den eigenen Standpunkt zu verabsolutieren. Positive Toleranz ist zwar im Grunde etwas ›Selbstverständliches‹ – das heißt: eine Haltung, welche sich dem Nachdenkenden von selbst erschließt, welche zudem für die Bildung und Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung unerlässlich ist. Trotzdem stellt ihre Realisierung eine der größten menschlichen Leistungen dar, zumal positive Toleranz immer wieder neu zu erbringen ist. Denn aufgrund unserer prekären Stellung, auf die ich noch näher eingehen werde, sind Störungen der Ordnungsgefüge der Normalfall. Ebenso wäre zu erläutern, dass tolerante Aufgeschlossenheit keineswegs bedeutet, nunmehr davon abzusehen, die Sichtweisen und Wertpräferenzen anderer kritisch zu hinterfragen.

4. Erinnerung an die »schöne Seele« Ein solches in positiver Toleranz oder besser in nachlebendem Verstehen wurzelndes Verständnis von Besonnenheit stellt auch der Lebensphilosoph Otto Friedrich Bollnow allen rational verengten Sichtweisen entgegen. Nach Bollnow entfaltet sich das Wesen der Besonnenheit nur unter bestimmten Voraussetzungen. Es zeigt sich nämlich dann, wenn ein Nachdenkender nicht bloß auf sich selbst gerichtet reflektiert, sondern wenn er »frei bei seinem Gegenstand verweilt«. 22 Es darf ihm also nicht allein um kluge Überlegtheit zur Absicherung der eigenen Anliegen gehen. Sein Umgang mit der einstürmenden Wirklichkeit darf sich deshalb auch nicht darin erschöpfen, Irritationen wie Emotionen und sinnliche Einflüsse einfach nur niederzuhalten, zurückzudrängen oder planmäßig zu kanalisieren. Das heißt: Für den sich solchermaßen Besinnenden ist die Herausbildung einer bejahenswerten Haltung kein mühsamer Akt der Selbstbezwingung, indem er spontane Impulse einfach ausschaltet, abwehrt oder 22

(Bollnow 2007, S. 29).

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Erinnerung an die »schöne Seele«

umlenkt. Vielmehr wird er den positiven Wert und den versteckten Mitteilungsgehalt des Andrängenden mit Ruhe und Ausdauer erkunden, um genaue Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen. Und er wird das Erkannte schließlich umsichtig und angemessen in seine Handlungsentscheidungen einbeziehen. Schritt um Schritt formiert sich so eine Umgangsweise, die allen Aspekten des Menschseins gerecht wird. Weil der Besonnene sich immer zugleich als gefühlsmäßig eingebunden erlebt und anerkennt, entgeht er der Gefahr, ein einseitiges und illusionäres Selbstbild aufzubauen, ein Selbstbild, in dem er sich als umfassend autark und deshalb unangewiesen auf andere begreift. Seine Selbstbestimmung erfolgt nicht in vermessener Absonderung vom Mitmenschen. Deshalb erlebt er eine sozial gerichtete Aufmerksamkeit im Wesentlichen auch nicht als saure Pflicht, gegen die seine Neigungen aufbegehren. Vielmehr – so Bollnows Vorstellung – entspringen zwischenmenschlicher Respekt und ein waches Interesse an anderen seinen innersten Impulsen, was natürlich nicht ausschließt, dass es auch ihn gelegentlich etwas kosten mag, spontane Emotionen und Einsicht in Einklang zu bringen. Aufs Ganze gesehen aber verliert ein derart Besonnener alle krampfhaften Züge, er kennt, wie es heißt, »nicht die Beherrschung eines Seelenteils durch den anderen, sondern bezeichnet eine durchgehende Gesamtverfassung der Seele in ihrem Gleichgewicht und ihrer ganzen inneren Freiheit: ganz bei sich ungetrübt von jedem störenden Einfluß, im überlegenen Gebrauch aller ihrer Kräfte. Und das macht ihre ganze Größe aus«. 23 Besonnenheit entspringt nach Bollnow also weder einer weltfremden strikten Moral, noch ergeht sich der Besonnene im Vorspielen eines Idealbildes der Perfektion. Er flieht nicht vor den Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des alltäglichen Lebens. Damit räumt er vor allem eigene Begrenztheit ein, baut im Konfliktfall auf

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(Ebd.).

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Einfühlung und Gespräche als Quellen weiterführender Klärungen und Kompromisse. Bollnow knüpft explizit an das Ideal der »schönen Seele« an, mit welchem Schiller der unterkühlten Rationalität und kruden Nützlichkeitsorientierung der bürgerlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts entgegentrat. Bollnows Kritik richtet sich allerdings nicht allein gegen skrupellose Geschäftemacherei. Angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wendet er dieses Ideal vielmehr ebenso nachdrücklich gegen eine zunehmend fiebrig-hysterische Zelebrierung von Leidenschaft und Gefühl. Aktuelle Entwicklungen lassen Bollnows modernitätskritische Skepsis nur allzu berechtigt erscheinen. Bevor ich dies im nächsten Abschnitt noch etwas näher ausführe, sei erwähnt, dass das von Bollnow propagierte Ideal allseitiger Bildung bereits prominente Vorläufer in den Kreisen der Bildungsreformer der Renaissance sowie des Humanismus hatte. So betonte Johann Gottfried Herder, dass ein Besonnener, der wohl überlegt und zurückhaltend handelt, sich stets zugleich von emotionalen Kräften durchdrungen und getragen weiß. Wahre Weisheit konnte für Herder nur eine solche sein, »die den Sinnen durchaus nicht widerspricht, sondern sie vielmehr berichtigt, ordnet und bestätigt«. 24 Dabei erblickte er in der Einübung der schönen Künste – Poesie, Sprachen und vor allem der Redekünste – einen Königsweg, um den Charakter milde zu stimmen und menschlich werden zu lassen. Dieser Gedanke eines Zusammenspiels von sprachlicher Verfeinerung und charakterlicher Bildung, der im neuzeitlichen Humanismus eine prominente Stellung einnimmt, kann sich auf eine lange philosophische Tradition berufen. 25 Stellvertretend für viele, sei hier Philipp (Herder 2018, S. 10). // Über den Zusammenhang von Besonnenheit und Sprachvermögen bei Herder, siehe: (Herder 1964). 25 Siehe: (Stroh 2018). – Der Aufsatz bietet insgesamt interessante Ausführungen zu weit in die antike Literatur zurückreichenden Vorstellun24

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Melanchthon zitiert, der 1523 in seiner Preisrede auf die Beredsamkeit betonte, dass durch rhetorische Übung »nicht nur die Sprache verfeinert, sondern auch geistige Ungeschlachtetheit und Barbarei korrigiert« 26 werde.

5. Hochkonjunktur des Fühlens oder modischer Dualismus? Ein Blick in die Welt genügt, um zu bemerken, dass wir keinesfalls in einer gefühlsfeindlichen Atmosphäre leben, jedenfalls nicht, wenn man dem vordergründigen Augenschein vertraut. Im Gegenteil: Die moderne Lebenswelt ist von einem wahrhaften Gefühlsfieber durchglüht. Wildfremde küssen sich im Partyrausch; Emoticons, Emojis, altertümliche Herzchen und Amorpfeile, lächelnde Schönheiten, treuherzig dreinblickende Haustiere bevölkern Displays, Autobusse und Plakatwände. Angefangen von den Medien, über die persönlichen Lebenskontexte bis hin zur Neugestaltung der Arbeitswelt bilden Emotionen – so scheint es – das Zentrum vibrierender Aufmerksamkeit. Doch dem sorgfältigen Betrachter der aktuellen Gefühlshochkonjunktur kann schwerlich entgehen, dass hier einiges im Argen liegt. Auch wenn es zweifelsohne zutrifft, dass mehr und mehr Energien in den Aus- und Umbau emotionaler Potentiale investiert werden, so drängt sich doch die Frage auf, ob damit unter der Hand nicht längst ein gegenläufiger Prozess eingeläutet wurde, und zwar eine umfassende Abflachung und rational-strategische Zurechtstutzung des Gefühlslebens durch Floskeln und abrufbare Standards. Ist das übernervöse Treiben nicht vor allem als Symptom einer grassierenden Wir-Schwäche anzusehen? Haben heutige Mengen von Humanität, die primär das Mitmenschliche betonen. Exponiert behandelt wird von Stroh insbesondere Cicero. 26 (Melanchthon 1997, S. 73).

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schen es nicht längst perfekt gelernt, sich Andrängendes vom Leib zu halten, und zwar paradoxerweise gerade mittels zahlloser Techniken des emotionalen Überschnappens und Überschwappens? Verfügen sie nicht sogar immer virtuoser über ein griffiges Bündel passgerechter Allüren und Sprechblasen, um Betroffenheit und Anteilnahme in allen Lebenslagen vorgaukeln zu können? Nun ja, unübersehbar ist: Der Kurswert der Gefühle und Leidenschaften ist in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen, doch man kann kaum mit Fug und Recht behaupten, dass diese Entwicklung einer tatsächlichen Aufwertung und Vertiefung des Fühlens gleichkommt. Viel eher setzt sich der Eindruck fest, dass neue Mittel und Wege ersonnen wurden, um den alten, schwer berechenbaren Unruhestifter Gefühl nun endlich in den Griff zu bekommen. Der abendländische Dualismus von Verstand und Gefühl ist nach meinem Ermessen in ein neues Stadium übergegangen, wobei sich markante Veränderungen im Vergleich zu vergangenen Zeiten abzeichnen. Inzwischen ist man nämlich über die unleugbare kreative Macht sowie die diffizilen Funktionsmechanismen des Gefühlsapparates wissenschaftlich präzise unterrichtet. 27 Besser als je zuvor verfügt man über experimentell erprobte Techniken der emotionalen Einflussnahme und raffinierten Manipulation. Verabschiedet sind deshalb alle Varianten einer geradlinigen und eindimensionalen Geringschätzung der emotionalen Kräfte, wie man sie aus früheren Epochen kennt. 28 Es geht heute nicht mehr darum, den Störfaktor Emotion einfach ruhigzustellen oder auszumerzen. Stattdessen zielt man jetzt vielfach darauf, das emotionale Geschehen zum SchrittResümierend hierzu: (Hubert 2006, insbes. Kap. 2 u. 3). Siehe zum Folgenden: (Boltanski u. Chiapello 2006) // (Schrenk 2007) // (Bennent-Vahle 2013, Kap. II) – Weiterführendes zum emotionalen Wandel der letzten Jahrhunderte, siehe insbesondere: (Frevert 2011) // (Stalfort 2013).

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macher des Gelingens werden zu lassen, wobei man kaum noch der allzu ›naiven‹ alten Vorstellung anhängt, Emotionen ließen sich allein durch richtige Vernunfteinsicht problemlos steuern und zähmen. Eine Art Strategieverlagerung hat sich vollzogen: Während der intellektuelle Herrschaftsgestus ehemals auf Unterdrückung und Ausschaltung der Emotionalität zielte, sucht man sich neuerdings die emotionalen Potentiale zielstrebig zunutze zu machen. Im Dienste ihrer zweckgerichteten Steuerung und profitablen Ausbeutung wird eine ganze Garde von Wissenschaftlern und Experten mobilisiert, die uns in der diffizilen Kunst unterweisen, emotional superintelligent zu agieren. Vielfach wirkt psychologisches Wissen unsichtbar im Hintergrund und tritt dabei immer öfter auch in den Dienst skrupelloser ökonomischer Profitgier. 29 Heute ist es für viele Menschen zur Normalität geworden, ihr Ich-Ideal an allgegenwärtigen Erfolgsversprechen auszurichten. Maßgeblich ist es vor allem, der eigenen Individualität einen Unikatsstempel aufzuprägen, sich mithin als außerordentlich kreativ, kommunikativ, selbstsicher usw. hervorzubringen. Aufstiegsrezepte und Leistungsansprüche, die nicht zuletzt in der modernen Arbeitswelt grassieren, greifen auf den innersten Kern der Person zu. Sie suchen diesen im Zeichen der Freiheit gleichsam mit Haut und Haar zu regulieren und in Dienst zu nehmen. So sind Menschen zunehmend dazu angehalten, ihre ganze Subjektivität in berufliche Kontexte einzubringen, d. h. ihre Persönlichkeit umfassend für den Job zu optimieren sowie die Inhalte ihrer Arbeit als Ausdruck ureigenster Selbstverwirklichungsinteressen

Neben dem Bereich der Werbung wäre hier z. B. auf die Glücksspielindustrie hinzuweisen, der es inzwischen gelingt, Automaten so zu programmieren, dass sie präzise auf das menschliche Verlangen nach Entrücktheit und Handlungsmacht abgestimmt sind. Auf diese Weise wird dazu animiert, unablässig weiterzuspielen. Spielsucht wird gewissermaßen systematisch und gezielt erzeugt. – Siehe hierzu: (Schüll 2012). // Dazu auch: (Crawford 2016, Kap. 5).

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anzusehen. 30 Dem entspricht ein Prozess der Aufhebung von Privatheit, z. B. das Schwinden eines Rechts auf Geheim- und Zurückhaltung innerster Regungen. Gemäß den neuen Imperativen des Erfolgs ist es zu einer alltäglichen Praxis geworden, »einander im Modus des Wettbewerbs zu begegnen und andere ebenso als potenzielle Konkurrenten zu betrachten wie sich selbst im Hinblick auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu evaluieren«. 31 Um Wachstumszielen zu genügen, ist unsere Arbeitswelt in weiten Teilen von einem hohen Innovationsdruck beherrscht – auf allen Ebenen findet eine Ankurbelung des Wettbewerbs statt. Um den Konkurrenten keinen Vorsprung zu lassen, darf man auf keinen Fall auf der Stelle treten. Alles gerät in den Sog permanenter kreativer Beschleunigung und Leistungsverdichtung. Die Individuen müssen zwar immer häufiger in Teams zusammenwirken, stehen aber nichtsdestoweniger unter dem Druck, ihre berufliche Position zu sichern und – entgegen der proklamierten Kooperativität – anderen gegenüber durch eine gekonnte ›Performance‹ hervorzustechen. Dies führt zu einer Reihe von Paradoxien und Verwerfungen, die lediglich kurz angesprochen werden können. 32 Kreative und kommunikative Fähigkeiten spielen inzwischen im Beruflichen eine weitaus größere Rolle als noch vor 50 Jahren. Doch Kreativität und vor allem die sozialen Siehe hierzu: (Neckel u. Wagner 2013) // (Boltanski u. Chiapello 2006) // (Bröckling 2007). – Eine aktuelle Studie der TU Berlin zeigt die besonderen Schwierigkeiten der Generation 35plus angesichts des strukturellen Wandels innerhalb der Wirtschaft auf. Die Untersuchung stellt unterschiedliche Reaktionsmuster der jüngeren Generation auf die bestehenden – entfremdenden – Zwänge zu kreativer Selbstverwirklichung in Unternehmen heraus. Hier gibt es sowohl Reaktionen einer wachen Kulturkritik als solche einer gesteigerten Bereitschaft zur Identifizierung mit den Erfolgsvorgaben. – (Funken u. a. 2013). 31 (Neckel u. Wagner 2013, S. 14). 32 Siehe: (Funken u. a. 2011). 30

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Gefühle – die empathischen Anlagen – brauchen Raum, Zeit und Muße. Ist dies nicht gegeben, kann es leicht zur emotionalen Auszehrung der Agierenden kommen, die sich z. B. nicht mehr hinreichend regenerieren können und einen rapiden Kräfteabbau erfahren. Es muss nicht verwundern, wenn Burnout-Erkrankungen, Depression, Angststörungen oder soziale Verhaltensauffälligkeiten eklatant zugenommen haben, denn die langsame Natur, die wir selbst sind, wird ständig missachtet. 33 So kann man trotz Powernapping letztlich nicht schnell schlafen und medikamentös unterdrückte Erkrankungen werden sich längerfristig nachteilig auf die Gesundheit auswirken, ganz zu schweigen von Neuroenhancement und Medikamentenmissbrauch. Sitzt uns der Leistungsdruck im Nacken, werden die guten Einfälle schnell auf der Strecke bleiben. Nach einem alten Gleichnis des Zhuang Zi findet eher der Selbstvergessene und Absichtslose die ›goldene Zauberperle‹, während eine allzu forcierte Vorgehensweise scheitert. Was die kommunikativen Fähigkeiten angeht, die zum Kernbestand unseres Handlungsethos gehören, so wirkt sich die Erfolgsdynamik besonders schädlich aus. Hier ist dann z. B. von Empathie die Rede, doch oft genug verkommt das Eingehen auf andere zum bloßen Instrument einer nutzenorientierten Strategie. Man bleibt ichbezogen, checkt ab und gibt sich mitfühlend. Alles andere wäre zu zeitund kräfteintensiv. Darin liegt die Gefahr, dass immer mehr Menschen einen Habitus in sich aufbauen, der einem rein taktischen, instrumentellen Umgang mit inneren Regungen bei sich selbst und anderen entspricht. Die Wahrnehmungsfähigkeit im Hinblick auf die eigene Innerlichkeit verkümmert, der Umgang mit anderen flacht ab und wird unaufrichtig. Gleichwohl wer(Bröckling 2013) // (Rosa 2005, Kap. VI) // (Rosa 2013, Kap. 4 u. 5). – Laut Forsa-Umfragen ist das Leiden an Zeitnot und das Gefühl des Getriebenseins zu einem Hauptproblem der modernen Gesellschaft geworden. – Siehe: (ZEITWissen – Ratgeber Psychologie 2010).

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den die damit einhergehenden Verluste an Einfühlungsvermögen und sozialem Verantwortungsbewusstsein oftmals zum Freiheitsgewinn umgemünzt bzw. als Siegeszug authentischen Selbstseins gefeiert. Manche geraten regelrecht in den Sog einer Steigerung subjektiver Machtgefühle. Sie koppeln sich gänzlich vom anderen ab und betreiben, ohne mit der Wimper zu zucken, z. B. Finanzgeschäfte, die sich äußerst schädigend auf das Leben vieler Menschen auswirken. Sie sind menschlich entfremdet. Doch an ihnen lässt sich oftmals zugleich erkennen, dass eine Abschottung vom Mitmenschen immer auch Entfremdung und Einseitigkeit im eigenen Selbst bewirkt. Es entstehen moderne Krieger, die im Zeichen ihrer Macht- und Besitzgier alle weichen Anteile in sich selbst verhüllen und unter einigen Gesteinsschichten begraben. Immer häufiger anzutreffen ist heute ein Typus Mensch, der keinen Zugang mehr zu den nichtkriegerischen Anteilen seiner Persönlichkeit hat – Schwäche, Zartheit, Verletzlichkeit sowie Leidempfindlichkeit und Empfänglichkeit für das Anliegen des anderen bleiben ausgespart. 34 Damit aber verschwindet auch die Besonnenheit, die unbedingt der weichen, langsamen Eigenschaften bedarf, von der Bildfläche. Da, wo der Begriff heute noch verwendet wird, sind, wie schon angedeutet, häufig eher karrierestrategische Überlegung und erfolgstaktisches Selbstmanagement gemeint. Die Soziologin Eva Illouz, die diesen Zusammenhängen differenzierte Studien widmet, diagnostiziert den triumphalen Durchbruch einer »therapeutisch kommunikativen Weltanschauung«, 35 die uns unablässig einhämmert, dass Erfolg und Selbsthilfe für jedermann zu haben sind, wenn man es nur richtig anstellt. Sowohl für das Gelingen persönlicher Beziehungen sowie auch zur Demonstration von Führungsstärke komme es nur darauf an, Bedürfnisse und Gefühle angemessen zu verbalisieren und im Medium der Sprache 34 35

Siehe hierzu: (Polednitschek 2013). (Illouz 2009, S. 134 ff.).

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Hochkonjunktur des Fühlens oder modischer Dualismus?

zielsicher auszuhandeln. Um den freien Fluss der Emotionen in gewünschte Bahnen zu lenken, um emotional scharfsichtig zu agieren, wird deshalb ein ganzer Instrumentenkoffer des versierten (Selbst)Managements bereitgestellt. Ein Portfolio adäquater Sprachmuster soll es ermöglichen, Gefühle blitzschnell zu regulieren und für Problemlösungen einzuspannen. Emotionale Intelligenz dieser Art suggeriert zwar ein ganzheitliches Menschsein, bleibt indes einer Struktur verhaftet, die den tieferen Wert der fühlenden Seite des Menschseins abermals verkennt. Noch einmal anders formuliert: Ungeachtet der wichtigen philosophischen Frage, ob uns ein anderer je vollständig durchsichtig werden kann, werden in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft aktiv Mechanismen angekurbelt, die den Aufbau zwischenmenschlicher Begegnungen erschweren und möglicherweise dauerhaft beeinträchtigen. Damit aber wird die verfeinernde Ausformung und Stärkung unseres intuitiven Empathievermögens unterbunden, welches sich vom ersten Atemzug an – gleichsam aus den menschlichen Anlagen heraus – einen Weg zu bahnen sucht. 36 Die soeben dargelegten Erfolgsstrategien zielen primär darauf, den anderen – vom Standort einer kundigen Beobachterin aus – auch in seiner Emotionalität genau zu vermessen, um ihn umso effektiver eigeninteressiert steuern zu können. Weil Eigennutz hier der Antrieb ist, weil die Agierende dem Geschehen also letztlich keineswegs indifferent und absichtslos gegenübersteht, muss sie alles daransetzen, vom emotionalen Ausdruck ihres Visavis in der Tiefe unberührt zu bleiben. Sie sucht über den anderen zu verfügen, indem nur das Zielrelevante an ihm in die Planungen einkalkuliert wird. Zugleich entzieht sie sich durch Techniken des Kaschierens und disziplinierter Reserviertheit dem empathischen Zugriff anHierzu weiterführend die folgenden Abschnitte: »Wie werden wir dem anderen gerecht?« und »Grenzen des Verstehens – Vom Wert des Trostes« (Kap. IV, 5 A. u. B.).

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Besonnenheit – eine kritische Annäherung

derer, macht sich gewissermaßen unerkennbar, indem sie sich z. B. darin trainiert, auch heftige Emotionen hinter einem Ausdruck der Teilnahmslosigkeit zu verbergen. Gleichermaßen Empathie schädigend wirken auch versierte Schachzüge sozialer Distinktion, durch die man andere ausblendet, wie Luft behandelt, um sie zu degradieren oder zu isolieren. 37 Je mehr sich derart strategische Verhaltensweisen gesellschaftlich etablieren und normalisieren, umso unsichtbarer werden wir schließlich füreinander. Paradoxerweise steigert sich im Zuge dessen aber gerade unsere Verletzlichkeit, falls wir dann doch – in einem unbewachten Moment – den Blicken der anderen nicht entgehen und uns von ihren Bewertungen getroffen fühlen. Überwältigende Schamreaktionen können die Folge sein und zu schwerwiegenden sozialen Verwerfungen führen. 38 Wechselseitige Undurchsichtigkeit, die gezielt produziert wird, ist in hohem Maße Symptom einer Gesellschaft, die einen instrumentellen Umgang befördert und damit das wichtige Medium der leiblichen Resonanz, auf das ich noch ausführlicher eingehen werde, auszuschalten sucht. Diese Problematik verstärkt sich durch den massenhaften Gebrauch moderner Kommunikationsmittel, die den unmittelbaren, leiblich fundierten Austausch in konkreten Begegnungssituationen ersetzen. Der mediale Kontakt reduziert nicht nur in gravierender Weise das Mitteilbare, er reißt auch die Erfahrungskontexte derart auseinander, dass klare Sondierungen zwischen Wirklichkeit und Fiktionalität erschwert werden. Vornehmlich in der Kindheit kann durch übermäßigen Mediengebrauch sowohl die Entfaltung des Realitätssinns als auch die Reifung sozialer Anlagen massiv behindert werden, woraus neuartige Störungsbilder und Formen der Weltentfremdung entstehen. Im Schutze medialer Distanz Siehe: (Honneth 2003) // (Hirigoyen 2002), speziell zum Mobbing, siehe auch: (Hirigoyen 2004). 38 Zum Thema Scham, siehe: (Bennent-Vahle 2013, Kap. IV 2). 37

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Hochkonjunktur des Fühlens oder modischer Dualismus?

oder sogar Anonymität werden Akte zwischenmenschlicher Destruktivität heute immer hemmungsloser vollzogen. Denn wenn man den anderen und seine Reaktion nicht sehen kann, wenn man zudem selbst im Verborgenen bleiben kann, werden fragwürdige Verhaltensweisen begünstigt. Auf diese Weise können Selbstzweifel und Ohnmachtserfahrungen relativ ungehindert in Machtgefühle transformiert werden. Wut und Hass ergießen sich hemmungslos über andere, die ohne Zögern zu Feinden und Schmarotzern deklariert werden. Im medialen Raum wächst die Gefahr, dass andere nicht als gleichwertige Partnerinnen anerkannt werden, deren Gefühle, Lebensinteressen und Denkweisen es ernst zu nehmen und entsprechend zu schonen gilt. Im Gegenzug findet man heute ein breites Angebot psychologischer Techniken, mit deren Hilfe voneinander entfremdete Menschen wieder zueinander finden sollen. Auch hier heißt es, die Spreu vom Weizen zu trennen – ich kann das Problem nur andeuten: Oftmals bieten diese Verfahren keine geeigneten Übungsfelder zur Wiederbelebung unserer verschütteten intuitiven Fähigkeiten, sondern sie steigern eher noch einen schädlichen Intellektualismus im Umgang miteinander. Anstatt unser Gespür für das wechselseitige Geschehen in Ich-Du-Verhältnissen durch ruhige Achtsamkeit und sorgsamen Dialog zu reaktivieren und zu verfeinern, geht man theoriegeleitet vor, entwickelt standardisierte Methoden der Evaluation, übt sich als vermeintlich neutraler Betrachter der eigenen und fremden Psyche, die analysiert und in Wissensbestände einsortiert werden. 39 Bei all dem verEva Illouz’ Analysen der modernen Liebe diagnostizieren einen Rückgang intuitiver Bewertungen in der Partnerwahl. Stattdessen lenken hyperkognitive Techniken der Feinjustierung eigener Ansprüche die Entscheidungsfindung: »Die Suche nach einem Lebenspartner dreht sich nicht mehr darum, jemanden zu finden, der ›einem gefällt‹, sondern jemanden zu finden, der immense, hochgradig differenzierte Ansprüche erfüllt, was das Ergebnis einer nuancierten Dynamik gemeinsamer Vorlieben sein soll.« (Illouz 2011, S. 325). – Ein ähnlicher Intellektualismus

39

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sucht man selbst möglichst außen vor zu bleiben, um sich gewissermaßen unschädlich zu halten, während der andere zum Objekt ›fachkundiger‹ Einblicke und Diagnosen wird. Therapieähnliche Umgangsformen, mit denen bloß einseitig an anderen ›herumlaboriert‹ wird, um sie zu ›bessern‹ oder zu ›kurieren‹, sind bedenklich, denn sie verhindern die Entstehung eines Begegnungsraums, in dem sich wechselseitige Verständigung zum Wohle aller entfalten kann. Persönliche Weiterentwicklung gelingt am besten über ein Du, das sich offen und auskunftsfreudig auf lebendige Beziehungen einlässt, das also nicht wie ein (vermeintlich) theoretisch kundiger Psychoexperte auftritt. Will man auf die Mitteilungen anderer mit wacher Aufmerksamkeit antworten, so gehört dazu die Bereitschaft, auch eigenen Gefühlen angemessen Ausdruck zu verleihen, sich also nicht mit undurchlässiger Miene aus der Sichtbarkeit herauszustehlen. In der kommunikativen Abkoppelung von unmittelbaren leiblichen Interaktionen dominiert die Absicht, andere primär abzuchecken, ohne wirklich mit ihnen zu interagieren. Stattdessen folgt man Vorannahmen, Projektionen oder theoretischen Modellen, so dass am Ende nicht mehr als ein Schein des anderen übrig bleibt. Das Potential der Empathie, einen Begegnungsraum des ›Zwischen‹ zu stiften, wird verschenkt.

6. Das sich besinnende Denken – Heideggers Gelassenheit Die im vorangehenden Abschnitt beschriebenen planvollen, psychotechnisch-ausgeklügelten Zugriffsweisen auf das menschliche Gegenüber entsprechen einem kalkulierenden Weltverhältnis, in dem stets systematisch vorausblickend auf bestimmte Absichten und Zwecke hin agiert wird. Schon beherrscht oft auch die Vorgehensweise zur Beilegung von Konflikten in Paarbeziehungen.

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Heidegger, der diese Vorgehensart vor über fünfzig Jahren als »rechnendes Denken« bezeichnete, hob heraus, dass das Kalkül sich in der modernen Gesellschaft auch dann fortsetze, »wenn es nicht mit Zahlen operiert und nicht die Zählmaschine und keine Großrechenanlage in Gang setzt«. 40 Er stellte fest, dass sich – »in allen Bereichen des Daseins« 41 – eine atemlose Praxis etabliert hatte, die keinerlei Stillstehen mehr erlaubte und den Menschen auf diese Weise allen Boden unter den Füßen entzog, so dass sie besinnungslos »von einer Chance zur nächsten« hetzen mussten. Eine sich allgemein ausbreitende Auffassung, dass Nachdenken über tiefere Sinnfragen nichts tauge, wenn es um die Abwicklung laufender Geschäfte gehe, werde ergänzt durch die Behauptung, »die ausdauernde Besinnung sei für den gewöhnlichen Verstand – zu ›hoch‹«. Obschon Heidegger hierin letztlich eine Ausrede erblickte, unterstrich er dennoch, dass das sich besinnende Denken »bisweilen eine höhere Anstrengung« und »eine längere Einübung« 42 benötige als die Ausbildung des technischen Verstandes. Genau in dieser Frage nun, die um die Entstehungsbedingungen einer Besonnenheitshaltung kreist, wird im Denkgefüge Heideggers eine Leer- oder besser eine Schwachstelle erkennbar, über die weiter nachzudenken lohnenswert erscheint. Ich werde später darauf zurückkommen. Zunächst läuft Heideggers Technikkritik auf die Einsicht hinaus, dass der Verfallenheit an die Logik der Apparaturen keinesfalls über einen Masterplan an Gegenmaßnahmen zu entkommen ist: »Kein menschliches Rechnen und Machen kann von sich aus und durch sich allein eine Wende des gegenwärtigen Weltzustandes bringen; schon deshalb nicht, weil die menschliche Machenschaft von diesem Weltzustand

40 41 42

(Heidegger 1959a, S. 12). (Ebd., S. 19). (Ebd., S. 13).

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geprägt und ihm verfallen ist«, 43 heißt es in einem Brief aus dem Jahr 1963. Stattdessen geht es ihm um eine Haltung der Gelassenheit, die ihrerseits nicht als planbar oder herstellbar angesehen werden darf. Jenseits einer Logik, die auf die Dinge zugreift, über sie verfügt und sie nutzbar macht, wird Gelassenheit als Möglichkeit bestimmt, »uns auf ganz andere Weise in der Welt aufzuhalten«. 44 Gemeint ist eine Aufgeschlossenheit den Wirklichkeitsphänomenen gegenüber, die jedes herrschaftliche Gebaren ablegt, um sich einem verborgenen Sinngeschehen zuwenden zu können. Indem sich der Gelassene grundlegend verändert in der Welt bewegt, vermag er in letzter Instanz auch dem Geheimnis der technischen Welt nachzuspüren: »Ich nenne die Haltung, kraft deren wir uns für den in der technischen Welt verborgenen Sinn offen halten: die Offenheit für das Geheimnis.« 45 Heideggers Technikkritik fügte sich innerhalb seiner Zeit in eine ganze Reihe von Publikationen, die auf die Gefahren voranschreitender Verwissenschaftlichung und Technisierung des Lebens aufmerksam machten. 46 Wenngleich Heidegger – ähnlich wie die übrigen Autoren – die Problematik eines vorrangig mathematischen Weltbezuges herausstellt, wenngleich er die damit verbundene Selbstzentriertheit und Anmaßung der menschlichen Spezies anprangert, weist er dennoch wiederholt jede Dämonisierung der Technik zurück. Denn wir erliegen, wie er mehrfach betont, keinem Zwang, die Technik »blindlings zu betreiben oder, was das Selbe bleibt, uns hilflos gegen sie aufzulehnen und sie als Teufelswerk zu verdammen. Im Gegenteil: wenn wir uns dem Wesen der Technik eigens öffnen, finden wir uns unverhofft in einen befreienden Anspruch genommen.« 47 Auch das technische 43 44 45 46 47

(Heidegger u. Kästner 1986, S. 59). (Heidegger 1959a, S. 24). (Ebd.). Siehe hierzu: (Safranski 1994, S. 454–457). (Heidegger 1962, S. 25).

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Vermögen ist für Heidegger Teilbestand einer sich verhüllenden Kraft des Seins, welche in den Auslegungen der Menschen indes stets Missdeutungen ausgesetzt ist. Hieraus resultiert im technischen Zeitalter ein ungeheurer Vereinheitlichungsdruck, der Menschen ihrer Singularität beraubt und so ein Eintreten in ursprüngliche Seinsbezüge verhindert. Mit Hilfe der Gelassenheit könnten neue Umgangsweisen entwickelt und neue Wege beschritten werden, so dass sich allmählich auch der noch geheime Sinn der Technik zu entfalten vermag. 48 Indem Menschen in der Gelassenheit das Verhängnisvolle ihres bisherigen limitierten Weltzugangs realisieren, können sie einen freieren Blick auf die Wirklichkeit sowie auf das eigene Selbst zurückgewinnen. Vorerst indes ist der technische Verstand durch ein krudes Nützlichkeitsdenken gekennzeichnet, dem die Natur »zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle, zur Energiequelle für die moderne Technik und Industrie« 49 geworden ist. So lassen wir im Naturerleben die Dinge nicht mehr frei auf uns einströmen, lassen sie nicht dort stehen, wo sie sind, sondern greifen unermüdlich herrisch auf sie zu. Wir vermessen den blühenden Baum und registrieren die neuronalen Abläufe, die sein Anblick in unserem Kopf aktiviert. Doch – so fragt Heidegger: »Wo bleibt bei den wissenschaftlich registrierbaren Gehirnströmen der blühende Baum? Wo bleibt die Wiese? Wo bleibt der Mensch? Nicht das Gehirn, sondern der Mensch, der uns morgen vielleicht wegstirbt und ehedem auf uns zukam? Wo bleibt das Vorstellen, worin der Baum sich vorstellt und der Mensch sich ins Gegenüber zum Baum stellt?« 50 Im herausfordernden technischen Zupacken vereitelt der Mensch nicht nur ein Angesprochenwerden von Dieser Gedanke wird insbesondere in der Schrift Die Technik und die Kehre (1962) entwickelt. Vgl. hierzu vertiefend: (Grosser 2011, S. 310 f.). 49 (Heidegger 1959a, S. 18). 50 (Heidegger 1954, S. 17). 48

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den Dingen her, er übersieht zudem, dass auch er selbst nicht aus sich heraus bestehen kann, sondern des Zuspruchs von außen her bedarf, um überhaupt lebensfähig zu sein. Noch einmal anders gesagt: Im technischen Zeitalter hat nur eine Weise des In-der-Welt-Seins Absolutheit gewonnen, welche sich unablässig ausbreitet und alles andere zu überdecken und zu nivellieren droht. Bereits etablierte Techniken verlangen zusätzliche Techniken zur Überwachung und Bestandssicherung. Technikfolgen fordern neue technische Verfahren, um gemeistert zu werden. Dabei machen die Rückwirkungen unseres bisherigen Agierens augenfällig, dass wir im vorstellenden Erfassen, Berechnen, Zugreifen und ausbeutenden Verwerten der Natur – Heidegger spricht hier von der Herrschaft des »Ge-stells« 51 – etwas Wesentliches außer Acht gelassen haben: Indem die wissenschaftliche Ratio eine radikale Abtrennung zwischen Subjekt und Objekt vornimmt, findet nicht zuletzt unsere eigene Position im Ganzen der Welt keine angemessene Einschätzung. Damit sind erhebliche Risiken verbunden. Wie richtig Heidegger hier lag, wird mittlerweile unleugbar: Erderwärmung und Klimawandel führen uns die verheerenden Auswirkungen eindimensionalen menschlichen Handelns vor Augen. Auch die Zunahme psychischer Erkrankungen bestätigt viele seiner Einsichten. Der Psychoanalytiker Medard Boss, der vier Jahre lang zusammen mit Heidegger Seminare abhielt und Gespräche durchführte, unterstützt dessen Diagnose, »dass es auch mit dem ganzen menschlichen Subjekt als dem Maß und dem Ausgangspunkt aller Dinge nicht weit her sei«. 52 Wollen wir aus der Sackgasse herauskommen, in die wir infolge dieser Selbstüberschätzung geraten sind, so müssen wir von der illusionären »Versubjektivierung des menschlichen Geistes zu einem absoluten Alles-Macher« ablassen und stattdessen eine andere Art des Denkens und dementspre51 52

(Heidegger 1962, S. 19 ff.). (Boss 1987, S. XVII).

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chend einen anderen Weltzugang kultivieren. Wir müssen – in den Worten Boss’ – hin »zu einem Sichfügen in ein dem Menschenwesen zugedachtes Lieben alles dessen, was sich aus der Offenheit seiner Welt her entbirgt und sich ihm als Seiendes zuspricht«. 53 Dass die hiermit verbundene Kehre zwar eine Umkehr bedeutet, aber dennoch keine wirklichkeitsfremde Abkehr vom technischen Vermögen, vermittelt insbesondere die Kategorie der ›Gelassenheit‹, auf die Heidegger in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder Bezug nimmt, eine Kategorie, die in enger Verbindung zum Thema der Besonnenheit steht. Fassen wir also noch etwas genauer, was mit einer gelassenen Haltung gemeint ist. Heidegger schreibt Folgendes: »Ich möchte diese Haltung des gleichzeitigen Ja und Nein zur technischen Welt mit einem alten Wort nennen: die Gelassenheit zu den Dingen.« 54 Anvisiert wird eine Art Schwebezustand »außerhalb der Unterscheidung von Aktivität und Passivität«. 55 Das besondere Vermögen lässt sich weder resolut ansteuern und herstellen, noch liegt es »bar jeder Tatkraft« 56 in einem Zustand energielosen Phlegmas oder fatalistischer Ergebenheit. Gelassenheit entspricht bei Heidegger vielmehr einem sich besinnenden Nachdenken, das dem Menschen einiges abverlangt, denn es soll darum gehen, technische Gegenstände auf der einen Seite durchaus zu benutzen, während man sich auf der anderen Seite dennoch nicht von ihnen vereinnahmen und unterjochen lässt. Das heißt: Als Nutzerinnen technischer Möglichkeiten folgen wir nicht eingleisig nur einer ›Vorstellungsrichtung‹, sondern lernen es, Maschinen und Instrumente so einzusetzen, dass wir im Innersten davon unberührt bleiben, um dergestalt (Ebd., S. XVIII). (Heidegger 1959a, S. 23). – Siehe zum Folgenden auch: (Strässle 2013, S. 109–125) // (Zaborowski 2014). 55 (Heidegger 1959b, S. 33). 56 (Ebd., S. 58). 53 54

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eine andere Blickweise auf die Dinge entfalten zu können. Das passivische Element der Gelassenheit verweist auf eine Erfahrung der Welt, die den üblichen Horizont vorstellenden (vergegenständlichenden) Denkens überschreitet. Heidegger geht dieser neuen Art des Denkens, diesem »höhere(n) Tun« 57 , das sich überhaupt erst finden und bewähren muss, vielfach mit rätselhaften Redewendungen und Wortneuschöpfungen nach. Unverständlichkeit liegt hier, wie der Text selbst sagt, gleichsam in der Natur der Sache, weil wir uns über Gelassenheit für eine »Gegend« (später »Gegnet«) öffnen, deren ›Inventar‹ wir noch nicht ›verstehen‹ können, insofern nämlich verstehen meint, dass etwas »im Bekannten gleichsam untergestellt und dadurch gesichert« 58 werden kann. Folglich wird sich auch erst erweisen müssen, was genau das Wort Gelassenheit letztlich umfasst und erschließt. Hier wird Unsagbares ins Visier genommen, etwas gänzlich Neuartiges, welches den philosophischen Fürsprecher der Gelassenheit – vor allem in der angefügten Erörterung der Gelassenheit – zu einigen sprachlichen Verstiegenheiten veranlasst. Die Frage nach der Berechtigung der für Heidegger typischen und vielfach beanstandeten Ausbrüche aus der Allgemeinverständlichkeit können wir für unser aktuelles Anliegen beiseiteschieben, zumal die eigentliche Festrede zum Thema Gelassenheit in besonderer Weise darum bemüht ist, die Zuhörerschaft zu erreichen. Hier wird nachvollziehbar, warum nicht vorab glasklar bestimmt werden kann, was Gelassenheit ausmacht. Über den Weg dorthin, der im Grunde schon der Weg der Gelassenheit ist, kann dagegen eingängiger gesprochen werden. Damit überhaupt Gelassenheit in uns erwachen kann, ist es wie dargelegt nötig, »sich auf das einzulassen, was nicht ein Wollen ist«. 59 Wesentlich ist es, jedes planende Denken und methodische Vor57 58 59

(Ebd., S. 33). (Ebd., S. 38). (Ebd., S. 33).

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gehen ruhen zu lassen, um auf das zu blicken, was gegenwärtig ist. Diese Besinnung auf das konkret Gegebene, auf das Hier und Jetzt, ist letztlich das, was Heidegger unter Denken versteht. Denken ist ein Sich-besinnen, das davon ablässt, vorab festzulegen bzw. schon zu wissen, wohin die Reise gehen soll: »Es genügt, wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: auf das, was uns, jeden Einzelnen hier und jetzt, angeht; hier: auf diesem Fleck Heimaterde, jetzt: in der gegenwärtigen Weltstunde.« 60 Verschiedene Aspekte kommen hier zum Tragen: Der Denkende lässt sich ein, indem er dem distanzierten Modus versierter, fachgerechter Expertise entsagt. In der Rückbindung an das unmittelbar Gegebene ist er herausgefordert, darauf zu blicken, was tatsächlich vorliegt und wer er selbst in den aktuellen Bezügen tatsächlich ist. Es wird ihm abverlangt, sich nicht über grandiose Projekte und hochtrabende Selbstbilder von dringend anstehenden Maßnahmen bzw. von Korrekturen des eigenen Selbst abzulenken oder wegzustehlen. Der Begriff ›Heimaterde‹ transportiert in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, sich an die eigenen Wurzeln zu erinnern und damit auch die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten zu erkennen. Erst indem wir dies zulassen, besinnen wir uns auf das richtige Maß und können tatsächlich zu Wirksamkeit gelangen. Und mehr noch: Die Rückbindung an den konkreten Moment öffnet gewissermaßen Augen und Ohren, da jemand im Zurückstellen gängiger Weltdeutungen die erscheinenden Dinge näher an sich heran lässt, sie vielleicht erstmals tatsächlich zu sehen und neu zu befragen beginnt. Indem er eingefahrene Sichtweisen ruhen lässt, gelangt er auf ein offenes Feld, wo sich der unerschöpfliche Eigenwert des Gegebenen zu enthüllen vermag, und zwar jenseits der Ideologie von unbegrenzter Verfügungsgewalt und Verwertbarkeit, die im technischen Zeitalter dominant geworden ist. Im Modus der Gelassenheit gelangen 60

(Heidegger 1959a, S. 14).

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wir wieder zu unmittelbaren Erfahrungen, indem wir den Widerfahrnischarakter des Lebens erkennen, der sich durch all unser technisches Potential nicht aufheben lässt. Dabei wird Gelassenheit als besondere Form der »Entschlossenheit« markiert, die »als das eigens übernommene Sichöffnen des Daseins für das Offene (…)« 61 zu verstehen ist. Damit wird klar: Eine solche Haltung verlangt einen dezidierten Geist, der bereit dazu ist, von eingefahrenen Üblichkeiten des Weltverstehens Abstand zu nehmen und das Wagnis einer fragenden Denkhaltung einzugehen. Erst im Distanznehmen vermag sich die vertrackte Logik einer eingleisigen technischen Weltsicht zu erschließen, deren gebietender Handlungsduktus mittlerweile auch unser Selbstverhältnis und unsere sozialen Umgangsweisen prägt, wenn wir expertengeleitet alle Lebensvollzüge regulieren. »Unversehens sind wir (…) so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, dass wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten.« 62 In der Gelassenheit, die sich niemals qua Rezeptur verabreichen lässt, werden wir zu neuem Aufbruch motiviert, welcher in erster Instanz fundamentale Veränderungen im menschlichen Selbstverständnis benötigt. Die Gelassene bedarf – wie schon angesprochen – der Entschlossenheit, will sagen der unbedingten Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für die eigenen Lebensbelange. Zu fragen ist nun: In welchem Verhältnis steht eine solche Haltung, die es nach Heidegger unablässig neu anzuregen und wachzuhalten gilt, zur Tugend der Besonnenheit, durch welche das je eigene Selbstverständnis in den Vordergrund gerückt wird? Heidegger charakterisiert, wie wir gesehen haben, Gelassenheit grundsätzlich als sich besinnendes Denken. Welche Rolle aber spielt hier das für den Besonnenen als zentral bestimmte Ineinandergreifen von Mitgefühl und Selbstrelativierung? Oder anders gefragt: Wie 61 62

(Heidegger 1959b, S. 59). (Heidegger 1959a, S. 22).

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weit und auf welche Weise nimmt das sich besinnende Denken bei Heidegger erkennbar Bezug auf Themen zwischenmenschlicher und politischer Interaktion? Gehen wir dem nach, so entdecken wir eine ›Schwachstelle‹ im Denken Heideggers oder besser ein Areal im großen Gewebe seiner Schriften, dessen Textur seltsam dünn und unfertig erscheint. Dies gilt es abschließend etwas genauer darzulegen. Mit der Kategorie der ›Entschlossenheit‹ knüpft Heidegger in der Gelassenheitsrede explizit an sein Frühwerk an. Allerdings erfährt der Entschlossenheitsbegriff im Zeichen der inzwischen vollzogenen Kehre eine merkliche Variierung. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass das erkennende Subjekt sich in gesteigertem Maße zu bescheiden sucht. Es sieht sich nicht allein – wie in Sein und Zeit ausgeführt – durch die Vorbedingungen der jeweiligen Zeit- und Lebensumstände gebunden und begrenzt, vielmehr lebt es nun in der Erkenntnis einer unaufhebbaren Entzogenheit allen Wahrheitswissens. Auch wenn dieses Subjekt als nachdenkende und erschließende Instanz unhintergehbar zentral bleibt, fügt es sein eigenes Sinnverstehen nunmehr in den Rahmen eines übergeordneten Wahrheitsgeschehens, dessen Wesen es indes niemals zu durchdringen vermag, insofern ihm prinzipiell verwehrt bleibt, einen Standort außerhalb dieses Geschehens einzunehmen. Was aber bedeutet diese Zurückschraubung der eigenen Mittelpunkstellung für unser soziales Menschsein? Was bedeutet dieses – idealerweise – gelassene Hingeordnetsein auf Höheres und Unbestimmbares für das Verhältnis zum anderen Menschen bzw. für das menschliche Miteinander? Offensichtlich macht das philosophische Bewusstsein, indem es sich gegen den rechnenden Verstand abgrenzt und fortan nur mehr als denkendes definiert, deutliche Abstriche hinsichtlich eines Herrschaftsanspruchs innerhalb der Welt – Medard Boss spricht hier sogar von der ›Zumutung‹ einer »weitere(n) Entthronung«. 63 63

(Boss 1987, S. XVII).

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Relativiert sich nun auch seine Vorreiterfunktion in Bezug auf andere Menschen? Oder anders gefragt: Wie weit befähigt das philosophische Denken nach der Kehre die einzelne Denkerin, entschlossen selbst noch der eigenen Entschlossenheit Einhalt zu gebieten, um der Gefahr der Selbsterhebung in diskursiven und lebenspraktischen Kontexten entgegenzutreten? Schon im Frühwerk unterstreicht Heidegger die soziale Verfasstheit der Welt, die für das menschliche Dasein unausweichlich bestimmend ist, denn »das Mitsein bestimmt existenzial das Dasein auch dann, wenn ein Anderer faktisch nicht vorhanden oder wahrgenommen ist«. 64 Das Mitdasein anderer Menschen ist ein Grundzug unseres In-der-Weltseins, dem wir uns auch in der Einsamkeit keineswegs vollständig entziehen können. So wie es kein Subjekt ohne Welt gibt, »so ist am Ende ebensowenig zunächst ein isoliertes Ich gegeben ohne die Anderen«. 65 In der Schrift Sein und Zeit wird das Verhältnis zum anderen Menschen weiterhin unter verschiedenen Aspekten beleuchtet. Zum einen wird es über Kategorien der Fürsorge bestimmt, zum anderen aber sehr entscheidend über die ›Herrschaft des Man‹, zu verstehen als von außen kommende Beeinflussung und Fremdbestimmung, die das authentische Selbstsein gefährdet. Unterschieden werden zwei positive Formen der Fürsorge: einerseits die ›einspringend-beherrschende Fürsorge‹, die dem Anderen das zu Erledigende abnimmt, andererseits die ›vorspringendbefreiende Fürsorge‹, die im eigentlichen Sinn als Sorge um die gelingende Existenz des Anderen zu verstehen ist, insofern sie dem anderen dazu verhilft, sich selbst durchsichtig zu werden und in ein freies, selbstbestimmtes Agieren zu gelangen. 66 In diesem zweiten Fürsorgebegriff klingt ein tieferes Empathieverständnis an, welches den Anderen in seiner 64 65 66

(Heidegger 1979, S. 120). (Ebd., S. 116). Siehe hierzu: (Gahlings 2014, S. 38–42) // (Bedorf 2011).

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einzigartigen Existenz in den Blick nimmt. Allerdings verliert sich dieses thematische Motiv einer engagierten und zugewandten Sicht auf Alterität recht bald wieder, während Passagen an Gewicht gewinnen, in denen das Mitsein – aller fürsorgenden Bezüge entledigt – als von einem indifferenten Man beherrscht angesehen wird. Wenn Heidegger feststellt: »Zunächst ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so«, 67 dann ist darin ein Hinweis auf die diktatorischen Züge des Man enthalten, dessen Ziel es ist, subtil und unauffällig jedes Selbstsein zu beeinträchtigen und letztlich zu untergraben. Das Man steht für die fraglose Unterwerfung der Mehrheit unter normierende Standards, auf deren Grundlage jeder konkrete Andere nach den Vorgaben normalisierter Durchschnittlichkeit vermessen wird. Wie Florian Grasser herausstellt, kommt Heidegger im Rahmen der Vorlesung Grundbegriffe der Metaphysik nochmals auf die mithafte Struktur der menschlichen Existenz zu sprechen und präsentiert hier eine als »Mitgehen« bzw. »Sichversetzen« bezeichnete Form der Begegnung, in der der andere nicht als Beschränkender, sondern als Bereichernder gesehen wird, insoweit er dem Betreffenden zu vermitteln vermag, »wie es mit ihm steht«. 68 Derartige konstruktive Perspektiven auf das Mitsein bleiben im Werk Heideggers allerdings deutlich unentfaltet. Richtungweisend ist hier vielmehr das ehrgeizige Projekt eines privilegierten Selbstseins, das sich den klebrigen Fängen des anonymen Man zu entziehen vermag und sich in der Abgrenzung von anderen seiner selbst vergewissert. Vor diesem Hintergrund scheint Arendts Diagnose, dass Heidegger von Geniewahn und Verzweiflung ergriffen zu kompletter politischer Verantwortungslosigkeit gelangt sei, nicht vollends aus der Luft gegriffen. Seine Philosophie verleihe dem Menschen, wie sie schreibt, gleichsam gottähnliche Züge, indem das Dasein des Einzelnen allein auf das Selbst zu67 68

(Heidegger 1979, S. 129). (Grosser 2013, S. 307). // Siehe auch: (Grosser 2011).

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rückgeführt werde. Heidegger erhebe »den Menschen unmittelbar zum ›Herrn des Seins‹« 69 und verstehe das In-derWelt-sein und das Mit-anderen-sein immer primär als »Abfall von sich selbst«, 70 d. h. als Selbstverlust und Entfremdung. Arendt setzt dem entgegen, dass »ein Selbst, genommen in seiner absoluten Isolierung« 71 keinerlei Sinn ergebe, denn es fehle diesem atomisierten Etwas die für ein gelingendes Leben wesentliche Verbundenheit mit anderen, die es als seinesgleichen anerkennt und sich selbst an Wert und Würde gleichstellt, ganz im Sinne Kants. 72 Die Crux der Existenzphilosophie Heideggers liegt für Arendt deshalb darin, dass hier das individuelle Selbstsein an die Stelle einer Idee der Menschheit gesetzt wurde, dass die Idee der Selbstverwirklichung an die Stelle der ›vita socialis‹ getreten sei. Damit werde die Anwesenheit des anderen Menschen im eigenen Inneren tendenziell vernichtet. Da es niemanden mehr zu repräsentieren habe, sei das Selbst dazu verdammt, ganz für sich zu stehen, gleichsam unabhängig von der übrigen Menschheit zu existieren. Auch Grosser konstatiert, dass Heidegger »das Thema zwischenmenschlicher Gemeinschaft wenn auch nicht komplett ausklammert, so doch vielfach unterbestimmt lässt«. Jedenfalls biete sein Werk nur wenige Anknüpfungspunkte für »substanziellere, d. h. kommunikatives, konzertiertes Handeln berücksichtigende Formen von Sozialität und Inter(Arendt 1990, S. 31). (Ebd., S. 34). – Arendt soll diese scharfe Kritik an Heidegger später (in einem bisher unveröffentlichten Brief) relativiert haben. Warum und wie genau, muss hier offen bleiben. Siehe: de.wikipedia.org/wiki/Was_ ist_Existenzphilosophie%3F. – Unbestreitbar ist dennoch die markante Differenz zwischen Arendt und Heidegger, die durch Arendts politisches Verständnis von Alterität – wie oben dargelegt – gegeben ist. Die Widersetzlichkeit und Fremdheit des Anderen positioniert diesen bei ihr gleichsam jenseits der Sorge des Daseins um sich selbst. 71 (Ebd., S. 35). 72 Siehe hierzu auch: (Bennent-Vahle 2008, S. 175 ff.). 69 70

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subjektivität«. 73 Während Gemeinschaftskonzepte, die an Pluralität orientiert sind, im Frühwerk Heideggers also ausgespart blieben, werde hier allerdings mit der Idee des ›Volkes‹ ein positives Gemeinschaftsverständnis anderer Couleur verfolgt. Demnach finde sich der Einzelne als geschichtlich verfasstes Wesen eingebettet in die Tradition einer Volksgemeinschaft vor, durch welche sein Selbstsein aber gerade nicht eingetrübt werde. Vielmehr mache die hier mögliche geteilte Entschlossenheit innerhalb einer Generation »erst das volle und eigentliche Geschehen des Daseins« aus. 74 Es ist bekannt, dass dieser völkische Gedanke Heidegger derartig in Bann schlug, dass er während mehrerer Jahre seines Lebens zum engagierten Anhänger der Nationalsozialisten wurde. Dies konnte vor allem deswegen passieren, weil Heidegger – trotz gegenläufiger kritischer Einsichten – Gefallen am Führerprinzip der Nationalsozialisten fand und dieses in Zusammenhang mit dem Ideal eines »vorbildlichen Vorlebens« eines geistigen Lehrers brachte, 75 für den er sich selbst hielt. Er glaubte sich als Philosoph dazu berufen, »im jeweiligen Ganzen des geschichtlichen Miteinanderseins so etwas wie eine Führerschaft zu übernehmen«. 76 Wie einer seiner Doktoranden, Hermann Mörchen, bekundete, verstand Heidegger nicht viel von Politik, so dass »ihn wohl wesentlich sein Abscheu vor aller mittelmäßigen Halbheit von der Partei etwas erhoffen« 77 ließ. Nicht zu verkennen ist eine besonders das Frühwerk Heideggers durchtönende elitäre Hochstilisierung des philosophischen Geistes, der sich über die Verfallenheit an das Man erhebt, der die Verhängniszusammenhänge technischer Weltbeherrschung erfasst und sich als Vorreiter eines ge73 74 75 76 77

(Grosser 2013, S. 305). (Ebd., S. 306). Siehe hierzu u. a.: (Heidegger 1987, S. 5). (Heidegger 1996, S. 7). Hermann Mörchen, zit. nach: (Langwald 2004, S. 76).

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wandelten Weltverhältnisses sieht. Ohne abschließend über die düstere Phase im Leben Heideggers urteilen zu wollen, offenbart sein Beispiel meines Erachtens ein grundlegendes Problem menschlicher Verführbarkeit, gegen welches gerade Philosophen und Philosophinnen (aber nicht nur diese) wenig gefeit sind. Es ist das Problem fehlender Besonnenheit hinsichtlich der eigenen Antriebe, welches man auch als Vergessenheit individuellen Seins in seiner allgegenwärtigen Irrtumsanfälligkeit bezeichnen könnte. Obschon sich der späte Heidegger nach der Kehre – in seiner Technikkritik und in vielen weiteren Ausführungen – dieser spezifischen Problematik des modernen Menschen bewusster geworden ist und darauf mit einem veränderten Subjektverständnis und neuen Vorstellungen gemeinschaftlichen Existierens antwortet, 78 hat er es doch vermieden, am eigenen Beispiel diese Gefährdung des Menschen durch fehlgeleitete Selbsteinschätzung, Selbsterhebung und Selbsttäuschung anzusprechen. Sehr genau benannt findet sich dieses Phänomen in Safranskis großer Heideggerstudie. Hier ist dem Autor zuzustimmen, wenn er schreibt, »dass das Problem des Heideggerschen Schweigens nicht darin liegt, dass er über Auschwitz geschwiegen hat«. Dafür gibt es – so Safranski – nachvollziehbare Gründe. »Philosophisch geschwiegen hat er über etwas anderes: über sich selbst, über die Verführbarkeit des Philosophen durch die Macht. Auch er stellt – wie so häufig in der Geschichte des Denkens – die eine Frage nicht: Wer bin ich eigentlich, wenn ich denke? Der Denkende hat Gedanken, aber manchmal ist es auch umgekehrt: die Gedanken haben ihn. Das ›Wer‹ des Denkens verwandelt sich. Wer die großen Dinge denkt, kann leicht in Versuchung geraten, sich selbst für ein großes Ereignis zu halten; er will dem Sein entsprechen und achtet darauf, wie er in der Geschichte vorkommt, nicht aber, wie er sich selbst vorkommt. Die Kontingenz der eigenen Person verschwindet im denkenden Selbst und seinen großen Ver78

Siehe: (Grosser 2013, S. 307) // (Zaborowski 2014, S. 90 ff.).

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Das sich besinnende Denken – Heideggers Gelassenheit

hältnissen. (…) Da gibt es eine mangelnde Bekanntschaft mit sich selbst, mit den eigenen zeitbedingten Widersprüchen, biographischen Zufallsprägungen und Idiosynkrasien. Wer mit seinem kontingenten Selbst bekannt ist, neigt weniger dazu, sich mit den Helden seines denkenden Selbst zu verwechseln.« 79 Überaus eindringlich führen diese Worte vor Augen, wie durch das Umgehen einer kritischen Analyse ureigenster Motive ein realistisches Verständnis der eigenen Menschlichkeit ausbleibt, so dass der Weg für Selbsttäuschungen gebahnt wird. 80 Angesprochen wird auch, dass sich damit einhergehend defizitäre Umgangsweisen im Zwischenmenschlichen ergeben, in denen Hybris an die Stelle von Dialogen auf Augenhöhe tritt. Safranskis Fazit lautet: »Die Bekanntschaft mit sich selbst schützt vor den Verführungen durch die Macht.« Es weist in seinem Wahrheitsgehalt weit über den Einzelfall Heidegger hinaus, über den wir uns nicht – leichthin verurteilend – erheben sollten. Es sind Worte, die mit Nachdruck die eminente Wichtigkeit eines besonnenen Überdenkens tiefer emotionaler Antriebe unterstreichen. Diese Aufgabe, immer auch eigene Gefühle und Interessen in den Blick zu nehmen und selbstkritisch zu bedenken, erweist sich als zentral für ein aufrichtiges Selbstverhältnis, für individuelle Widerständigkeit sowie für die Ausbildung demokratischer Kompetenzen. Entgegen einer monologischen Verallgemeinerung eigener Erfahrungen und Sichtweisen regiert hier im Respekt vor Vielfalt die Bereitschaft zu sachbe(Safranski 1994, S. 484). Zum Thema Selbsttäuschung, die letztlich als ein Verstoß gegen Standards vernunftorientierten Nachdenkens zu verstehen ist, siehe die differenzierten philosophischen Darlegungen von Löw-Beer und Beier (Löw-Beer 1990) // (Beier 2010). – Beier macht klar, dass Selbsttäuschung – aufgrund der Grundgegebenheiten menschlicher Existenz – eine unablässige Versuchung darstellt, dass sie aber dennoch nur im Zusammenhang einer spezifischen Situation sowie in Abhängigkeit von einer bestimmten Disposition der jeweiligen Person in Gang gesetzt wird.

79 80

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Besonnenheit – eine kritische Annäherung

zogenen Klärungen. An Philosophen und Philosophinnen, die, wie Martha Nussbaum schreibt, »durch und durch Generalisten« 81 sind, ist deshalb ein besonderer Imperativ zu richten: »Erinnere dich, Philosoph, dass deine Erfahrung nur deine ist. Also lerne. Sei neugierig auf andere Menschen. Frage sie, wie sie das Leben erfahren, bevor du ihnen einen Vortrag darüber hältst, wie sie das Leben seinem Wesen nach erfahren müssen.« 82 Nicht zu vergessen ist zudem, dass die anzuratende Innenschau in Anbetracht technischer Weiterentwicklung durch künstliche Intelligenz und digitale Medien eine besondere Dringlichkeit erlangt. Heidegger hatte zwar bereits Atomtechnik und auch die Möglichkeit gentechnischer Manipulationen vor Augen, machte sich aber noch keine Vorstellung von den Herausforderungen rasanter digitaler Innovation, die das berechnende Prinzip bis in die innersten und intimsten Angelegenheiten des menschlichen Daseins hineinträgt. Hier stoßen wir auf eine Potenzierung des anonymen, außenlenkenden Man. Zug um Zug werden uns Entscheidungen ›abgenommen‹, der Modus der Passivität wird eine fraglos hingenommene Normalität in allen Lebensbereichen: Dass wir – in Anknüpfung an unsere Präferenzen – unausweichlich manipulativ gesteuert werden, ungefragt mit Information überschüttet und zum Objekt der Verfügungsgewalt kommerzieller Interessen abgestempelt werden, scheint kaum noch ernsthaft Anstoß zu erregen. Die Ausbildung einer Passivitätskompetenz, wie sie die Heidegger’sche Idee der Gelassenheit vorsieht, verlangt heute folglich intensivierte Anstrengungen. Zudem erweist sich als unumgänglich, dass sich die von Heidegger so emphatisch propagierte offene und fragende Welthaltung auf die ungelüfteten Geheimnisse des eigenen Innenlebens ausdehnt. Nicht zuletzt hier stoßen wir auf einbrechende Ereignisse, 81 82

(Nussbaum 2018, S. 25). (Ebd., S. 31).

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Das sich besinnende Denken – Heideggers Gelassenheit

denen wir uns verstehend zuwenden müssen, weil sie uns verdeutlichen, in welcher Weise wir immer schon in die Welt eingebunden sind. Hier gibt es Aspekte des Selbstseins, die sich uns zu zeigen vermögen und Beachtung verlangen. Und vor allem hier wird augenfällig, wie begrenzt das Subjekt in seiner reflexiven Selbstvergewisserung letztlich bleiben muss, wie wenig das zu anderen hin geöffnete innere Sein in letzter Instanz definierbar ist. Höchst ergiebig ist es, das sich besinnende Denken Heideggers, diese entschlossene Aufgeschlossenheit des menschlichen Geistes auf die Welt, ins Politische zu transferieren. In Heideggers Spätwerk bleibt dieses Thema weitgehend ausgespart. Dennoch ist es wohl nicht abwegig, in der Gelassenheitstheorie so etwas wie die indirekte Verarbeitung eigener politischer Erfahrungen Heideggers zu sehen. Wie wir von Medard Boss erfahren, war der Philosoph in den letzten Jahren seines Lebens – während der Gespräche in Zollikon – bereit, »von der höchsten Form der Mitmenschlichkeit, der selbstlos liebenden, den Anderen für sich freigebenden vorausspringenden Fürsorge nicht nur zu sagen und zu schreiben (…)«, sondern »sie vielmehr auch in exemplarischer Weise zu leben«. 83

83

(Boss 1987, S. XIII).

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III. Emotionale Hürden

Das Denken gilt als der größte Feind der emotionalen Fähigkeiten. Ernest Hemingway sagte denn auch: ›Glück bei intelligenten Menschen ist das Seltenste, das ich kenne.‹ Diese Ansicht mag richtig sein, wenn man uns zwingt, zwischen dem einen oder anderen zu wählen. Aber das Leben zwingt uns nicht einen permanenten Weltkrieg zwischen beiden auf, sondern nur fortwährende Kämpfe, die sich in der Regel durch eine Kombination von beiden lösen lassen. (Aron Ben Ze’ev)

1. Die Bedeutung der Gefühle Vorsicht ist also angebracht. Gegenwärtig wird viel von emotionaler Intelligenz geredet. Dieser Begriff suggeriert zwar ein ganzheitliches Menschenbild, bleibt indes, wie wir gesehen haben, oft einer Struktur verhaftet, die den tieferen Wert der fühlenden Seite des Menschseins abermals verkennt – etwa indem dazu angeraten wird, eigene Gefühle kunstvoll im Dienste eines durchkalkulierten Zugriffs auf das Innenleben anderer zu verschleiern. Weitere nicht unproblematische, ja fragliche Formen ›empathischer‹ Teilnahme haben, wie schon angesprochen wurde, derzeit Hochkonjunktur. Bevor systematisch über Mitgefühle gesprochen werden kann, wäre etwas allgemeiner zu fragen, worin genau die Bedeutung der Gefühle liegt. Ich muss mich allerdings an dieser Stelle auf wenige grundsätzliche Gesichtspunkte beschränken, ohne tiefer in begriffliche Differenzierungen einsteigen zu können: Weder kann hier das komplexe Thema des historischen Wandels im Umgang mit Gefühlen detaillierter angegangen werden, noch können kulturelle Differenzen mehr 140 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Die Bedeutung der Gefühle

als nur exemplarisch markiert werden. 1 Ebenso kann an dieser Stelle nur eine grobe Unterscheidung von Denken und Fühlen vorgenommen werden, so wie detaillierte Abgrenzungen zwischen diversen Bereichen von Fühlphänomenen – z. B. Körperempfindungen, Stimmungen und Emotionen – ausgespart bleiben müssen. Was eine befriedigende Bestimmung einzelner Emotionen angeht, besteht über die im Folgenden angestrengte Kategorisierung der Mitgefühle hinaus gleichermaßen wenig Raum für weiterführend vertiefende Untersuchungen. 2 Gefühle sind Tore oder Fenster zur Welt. Sie sind Öffnungen in den Wänden des Ichs, durch die wir mit allem, was uns umgibt, in Beziehung stehen. Fühlend sind wir vital mit der Natur und anderen Menschen verbunden. Wir erleben uns als intensiv von der Welt betroffen – insofern Dinge, Lebewesen, Kunstwerke sowie Menschen und ihre Verhaltensweisen uns etwas angehen. Sie ziehen nicht gleichgültig an uns vorüber, sind nicht bloße Objekte nüchterner Perzeption, sondern werden mit Wert besetzt – positiv oder negativ –, d. h., sie berühren uns sanft, bezaubern uns, erschüttern uns, lähmen uns, überwältigen uns, stoßen uns ab usw. Wer fühlend reagiert und dies nicht bewusst kaschiert, offenbart sich mithin als betroffen. Er zeigt seinem Umfeld, was für ihn von Bedeutung ist, was ihm etwas wert ist und was es ihm wert ist. Dadurch wird eine Person für andere sichtbar, zumal jemand ja bei heftigeren Emotionen niemals ganz verbergen kann, dass er fühlt, einmal abgesehen von Pokerfacevirtuosen. 3 Sein Körper, seine Mimik, seine Stimme, die Art seiner Zur kulturellen Varianz der Emotionalität, siehe: (Stalfort 2013) // (Lutz 1988) // (Mayer 2002, S. 134 f.); zu Konzepten der Empathie in anderen kulturellen Kontexten, siehe: (Mayer 2013). 2 Siehe hierzu: (Ben Ze’ev 2009) // (Demmerling/Landweer 2007) // (Bennent-Vahle 2013) – Siehe hierzu auch das folgende Kapitel VI. 3 Zur werterschließenden Funktion der Emotionen, siehe insbesondere: (Scheler 1913, S. 261 f.): »Im Fühlen und nur so wird die Welt in Qualitäten erlebt. Denn der Verstand ist für Qualitäten so blind wie Ohr und 1

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Emotionale Hürden

Bewegungen verraten ihn gewissermaßen. Jeder kann es sehen: Die Dinge des Lebens ziehen nicht gleichförmig an ihm vorüber, sondern gehen ihn mit Macht an oder überrollen ihn sogar. Edith Stein drückt dies mit folgenden Worten aus: »(…) so konstituiert sich im Fühlen ein neues Objektreich: die Welt der Werte; in der Freude hat das Subjekt ein Erfreuliches, in der Furcht ein Furchtbares, in der Angst ein Bedrohliches sich gegenüber (…).« 4 Denkt man über Steins Worte tiefer nach, so wird die subjektive Prägung jeder gefühlsmäßigen Welterschließung offenbar. Worüber jemand sich freuen kann, hängt vom jeweiligen Naturell der Person ab, fast immer auch von ihrer akuten seelischen Verfassung, von ihrem Informationsstand bezüglich der Tatsachen sowie fernerhin von ihren grundlegenden Lebensanschauungen. Vieles spielt in den Moment der Freude hinein und macht ihn zu einem höchst perspektivischen, einmaligen und oftmals flüchtigen Erlebnis. – Ein Beispiel: Das Geschenk einer Person erfüllt mich mit großer Freude, weil ich vermute, dass dieses mit Sorgfalt für mich ausgewählt und legal erworben wurde. Erfahre ich dann, dass das Präsent beiläufig gestohlen wurde, so wird dies meine Freude vertreiben, vielleicht sogar Enttäuschung und Empörung in mir erwecken. Schon dieses kleine Beispiel macht deutlich, dass Emotionen stets kognitive Annahmen über die Welt beinhalten, die sich als wahr oder falsch erweisen können. Desgleichen wirken in ihnen häufig auch moralische Wertmaßstäbe, hier z. B. der Anspruch, dass man Geschenke keinesfalls stehlen sollte. Während die kognitiven Inhalte auf ihren Realitätsgehalt hin zu prüfen wären, müssten die in den Emotionen verborgenen Werturteile bewusst gemacht und auf ihre Berechtigung hin befragt werden. Schon hier wird klar erkennbar, dass Emotionen keineswegs als bloße Hören für die Farbe.« – Siehe hierzu auch (Bennent-Vahle, 2013, Kap. 3). 4 (Stein 2008, S. 108).

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Die Bedeutung der Gefühle

Körperregungen einzustufen sind, sondern vielmehr ebenso geistige Komponenten umfassen, welche stets einer gedanklichen Überprüfung offenstehen. Betrachtet man die emotionalen Reaktionsweisen eines Menschen, so lässt sich auf diese Weise folglich einiges über charakterliche Prägung und Weltverstehen der jeweiligen Person in Erfahrung bringen. Wer Gefühle zeigt, wird offenkundiger und berechenbarer, deshalb macht er sich auch leichter angreifbar. Hinzu kommt, dass heftigere Affekte die Souveränität untergraben und den Drang nach Selbstermächtigung irritieren. Aus diesem Grunde werden sie – vornehmlich in traditionell männlich dominierten Gesellschaften oder Kontexten 5 – als schädlich und beeinträchtigend angesehen. Dieses Verdikt betrifft hier in besonderer Weise die pro-sozialen Gefühle, die sogenannten Mitgefühle. Letztere gelten als Schwächen, weil sie die konsequente Durchsetzung von Härtenormen sowie die hemmungslose Vollstreckung subjektiver Macht behindern. 6 Die wenigen Eckpunkte zur Bestimmung von Emotionen machen die Doppelwertigkeit des gefühlsmäßigen Weltzugangs augenfällig. Wir sehen: Emotionen vitalisieren uns und verbinden uns mit den uns umgebenden Menschen und Dingen, doch zugleich liegt hier die Gefahr, in subjektiver Einseitigkeit zu verharren, unbeirrbar an partikularen Perspektiven und Interessen zu kleben, d. h. sich vom eigenen Standpunkt aus gleichsam in die Welt zu verbeißen, ungeklärten Antrieben blindlings zu folgen oder sich im Zeichen höchster Authentizität seinen Mitmenschen zuzumuten. Zum anderen aber besteht die Chance, das emotionale Erleben und die sich darin ausdrückende Verbundenheit mit Zu den geschlechterbezogenen Implikationen des Themas, siehe u. a. (Nussbaum 2012 u. 1999). 6 Spezifische Studien zeigen uns Gesellschaften, deren kulturelles Ideal darin liegt, höchst selbstkontrolliert aufzutreten und mentale Vorgänge konsequent gegen die Beobachtung durch Außenstehende abzuschirmen. Siehe hierzu: (Mayer 2013). 5

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anderen als Brücken zu einem gelingenden Leben zu sehen, anzuerkennen und zu nutzen. Allerdings kann dies nur dann glücken, wenn wir bereit sind, unsere spontanen emotionalen Reaktionen zu überdenken und einer Angemessenheitsprüfung 7 auszusetzen, wenigstens im Nachhinein, vor allem dann, wenn schon viel Geschirr zerbrochen wurde. Dazu braucht man mindestens dreierlei: Momente des Rückzugs, die Bereitschaft zu Selbstdistanzierung bzw. Selbstrelativierung und gegebenenfalls Unterstützung durch einen wohlmeinenden Dritten. Es ist m. E. überhaupt nicht leicht, in diese Richtung aufzubrechen, denn unzählige Hemmnisse stehen dem – heute mehr denn je – entgegen. Ich sehe aber dennoch keine andere Option als diesen Weg einer Kultivierung von Besonnenheit und Mitgefühl – zwei Tugenden, die, wie noch genauer zu zeigen ist, nicht voneinander zu trennen sind. Bevor ich tiefer in dieses Thema einsteige, ist es zunächst wichtig, nochmals Überlegungen aufzugreifen, die uns die zugespitzt prekäre Lage des modernen Menschen verdeutlichen – eine Lage, die nicht primär die anderen betrifft, sondern jede(n) einzelne(n) von uns auf je spezifische Weise angeht.

2. Die besondere Herausforderung der Gegenwart In der abendländischen Tradition wurden Gefühle sowie leibliche Regungen häufig negativ gesehen – als Einfallstore für subjektive Begehrlichkeiten, als Schwächungen der Souveränität und Verursacher einseitiger Sichtweisen. Dies hat zu Verkennungen und Verdrehungen im Menschenbild geführt, zu einer Art von Betriebsblindheit, die bis heute nachwirkt. Viele streben nach Autonomie, Unabhängigkeit, alleiniger Kontrolle und umfassendem Wahrheitsbesitz, doch sie ignorieren, dass sie Teile eines sie beeinflussenden und tragenden 7

Siehe Kapitel VI.

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Die besondere Herausforderung der Gegenwart

lebendigen Gewebes sind, dass sie auf Unterstützung, Beziehung und Fürsorge angewiesen sind, und umgekehrt, dass sie selbst mit ihrem Tun permanent auf das Beziehungsgeflecht um sich herum einwirken. Insbesondere in Bezug auf ethische Orientierung kommt dem Innewerden unserer jeweiligen leiblich-affektiven Situierung in der Welt eine enorm hohe Bedeutung zu. An zwei Aspekte sei hier nochmals erinnert: Zum einen wird über die Bewusstmachung unserer leiblichen Gebundenheit deutlich, dass jedes Individuum in einer jeweils einzigartigen, perspektivisch begrenzten Mittelpunktstellung verhaftet ist, die es auch im Nachdenken niemals vollends hinter sich lassen kann; zum anderen offenbart sich darüber die Eingeschlossenheit in einen Leib, dessen Prozesse und Regungen nur bedingt beeinflussbar sind, so dass unsere Existenz in ihrer radikalen Zeitlichkeit, Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Verwundbarkeit augenfällig wird. 8 Entgegen derartigen Einsichten dominiert heute die Überzeugung, man solle das Leben ganz nach eigenem Gusto einrichten und zu diesem Zweck unablässig Möglichkeiten der Perfektionierung durch freie Selbstmodulierung und effektives Selbstmanagement ergreifen. Die zu mobilisierende strategische Ratio folgt dem überlieferten Idealbild eines uneingeschränkten, frei waltenden Selbst, das seinen eigenen – unausweichlich – im Untergrund wirkenden emotionalen Antrieben nur geringfügige Aufmerksamkeit zumisst. Affektive Einflussfaktoren bleiben der selbstkritischen Analyse entzogen, allenfalls geht man stillschweigend davon aus, dass egoistische Ambitioniertheit, Rivalität und Existenzkampf einem natürlichen – gleichsam unschuldigen – Selbsterhaltungstrieb des Menschen entspringen. Das daraus hervorgehende Leit- und Neidhammeltum scheint zu einem Hauptproblem unserer Zeit geworden zu sein. 9 Zunehmend gewinnen diejenigen Emotionen Ober8 9

Weiterführend hierzu: (Böhme 2008). Zum Thema Neid, siehe: (Decher 2005) // (Haubl 2001).

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wasser, die Menschen gegeneinander aufbringen bzw. dazu veranlassen, sich voneinander abzuschotten und wechselseitig zu übervorteilen. So passiert es immer häufiger, dass Personen einem zwanghaften Individualismus verfallen und vollkommen aus den Augen verlieren, in welchem Ausmaß sie nur als Gemeinschaftswesen existieren können, die aufeinander bezogen, voneinander abhängig und füreinander verantwortlich sind. Nicht selten kommt es dann zu einer Herabsetzung des Resonanzvermögens sowie zur Aufkündigung von Mitgefühl und gesellschaftlichem Engagement. Jemand wird zum skrupellosen Ich-Unternehmer, zur frei fluktuierenden Monade, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Ziele verfolgt. Für einen solchen gibt es nur erfolgstaktische Wirkonstrukte, nur strategischen Teamgeist, nur simulierte Empathie. Da die Selbstbilder vieler Zeitgenossen mehr denn je vom Wunschziel einer autonomen, uneingeschränkten Persönlichkeitsentfaltung dominiert sind, müssen gegenläufige Erfahrungen, die man als irritierend und verunsichernd empfindet, niedergehalten werden. So lässt man das Unergründliche und Zufallsbedingte vieler Erfahrungen ungern an sich heran. Verdrängt wird auch der beunruhigende Gedanke, dass anderen Menschen eine letztlich unkontrollierbare Relevanz für unsere Entwicklung, unseren Selbsterhalt und unser Lebensglück zufällt. Gerade was diesen Punkt zwischenmenschlicher emotionaler Interdependenzen angeht, agieren wir seit geraumer Zeit im Grunde genommen wider besseres Wissen. Denn, wie gesagt, sowohl die Glücksforschung als auch viele neurologische und psychologische Studien zeichnen den Menschen als hochgradig sozial empfängliches und auf andere angewiesenes Gefühlswesen. Folglich ergeben sich gute Gründe, die emotionale Durchlässigkeit der menschlichen Natur mit Nachdruck in den Mittelpunkt unserer (Selbst)Reflexion zu stellen: Nur von hier erschließt sich ein realistisches Bild, in dem auch über die Begrenztheit unserer Möglichkeiten gesprochen werden kann, und zwar nicht 146 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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allein bezogen auf Fragen der Zwischenmenschlichkeit, sondern viel genereller. Man könnte sagen: Betriebsblindheit bezüglich der vermeintlichen Schwächen und Schatten unserer Natur unterminiert, wenn sie nicht mitbedacht werden, alle noblen Vernunftabsichten. Woher rührt die gängige Ignoranz gegenüber dem Widerfahrnischarakter der menschlichen Existenz? Hier müssen wir noch etwas tiefer graben und die Frage zulassen, warum es zu einer gesteigerten psychischen Herausforderung westlicher Gegenwartsmenschen geworden ist, dem ExistenziellBedrohlichen zu begegnen. – Krankheit, individueller Tod sowie die unweigerlich immer wieder aufscheinende Kleinheit, Bedeutungslosigkeit und Flüchtigkeit der eigenen Existenz ängstigen und beunruhigen heutige Menschen mehr denn je, denn es fehlt ihnen – jedenfalls den meisten – der Glaube an eine höhere Sinnordnung, welche vormals Zuversicht und Orientierung stiftete. 10 Entschwunden ist jene Obhut des Seins, die unseren Vorfahren noch ganz selbstverständlich war, entschwunden die Gewissheit, vom liebenden Auge eines unendlichen, alles umschließenden Du erblickt zu werden. Da es keine verlässliche Instanz mehr gibt, die dem Einzelnen Wert zumisst und seine Identität trägt, wird die Verlorenheit im Meer der Dinge immer radikaler und auswegloser empfunden, je komplexer und unüberschaubarer die lebensweltlichen Kontexte werden. Kompensation und Entlastung wird darin gesucht, sich selbst zum Dreh- und Angelpunkt zu stilisieren, um möglichst viel aus der knapp bemessenen Lebensspanne herauszuschlagen. Es gilt etwas daraus zu machen, um jeden Preis. Nur was und wie? Der Theologe und Philosoph Paul Tillich diagnostiziert Angst als das beherrschende Lebensgefühl moderner Menschen, denen der Sinn des Lebens und damit auch der Mut, sie selbst zu sein, abhandengekommen ist. Tillichs Differenzierung verschiedener Angsttypen, die letztlich in ein religiöses Bekenntnis münden, liefern wesentliche Aufschlüsse über die Angewiesenheit des Menschen auf eine Bejahung von außen als Voraussetzung für eine selbstbejahende Haltung: (Tillich 1962).

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Will man beunruhigenden Fragen und unliebsamen Irritationen ausweichen, so scheint es angeraten, eisern und vorbehaltlos dem Mainstream zu folgen. Denn wer zu grübeln beginnt, läuft Gefahr, schon bald auf Dissonanzen und Widersprüche zu stoßen: Was das Leben komfortabel und das Ego stark zu machen verheißt, gereicht oft genug zum Schaden und Nachteil anderer Menschen. – Im Zuge der Karriereplanung checken wir einander als Konkurrenten ab oder benutzen einander einfallsreich als Mittel zum Zweck. Zugleich benötigen wir diese anderen unablässig zur Anerkennung und Bestätigung unserer Erfolge und Glanzleistungen. Gleichfalls ignorieren oder verdrängen wir oftmals Benachteiligung und Leid entfernt lebender Völker, nehmen achselzuckend in Kauf, dass unser Wohlergehen eng mit der Misere anderer verwoben ist. Es zeigt sich: Je mehr im Zeichen des Wohlstandsbegehrens skrupellose Profilierungskonzepte angekurbelt werden, je mehr sich so der Selbstoptimierungszwang zum Massenphänomen auswächst, umso poröser werden vielerorts die zwischenmenschlichen Bande. Ganz zu schweigen von vielen anderen destruktiven Begleiterscheinungen, z. B. im Umgang mit der Natur. Eine Mixtur aus Gefühlen metaphysischer Verlorenheit und existenzieller Angst lässt Menschen zu fraglichen Gegenrezepten und Lösungsstrategien greifen, wodurch schwerwiegende Zersetzungsprozesse vorangetrieben werden. Dies ruft seit geraumer Zeit gravierende Phänomene des Moralisch-Problematischen auf den Plan: Wir erleben aktuell wieder eine Zunahme sozial destruktiver Erscheinungen wie Verrohung, Zerstörungsbereitschaft und Gewaltverherrlichung; wir beobachten den Niedergang einer politischen Kultur in vielerlei Gestalt – von Internethetze und Hassmails über Antisemitismus und generelle religiöse Intoleranz bis hin zu Frauenverachtung und Homophobie. Fernerhin wird die Kluft zwischen den ambitionierten Zwecken technischer Machbarkeit und einer Natur, die diesen Zwecken gegenüber letztlich gleichgültig bleibt, immer unübersehbarer. Ökologi148 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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sche Krisen – alarmierende Wetterphänomene, Artensterben, verschmutze Gewässer, unbewohnbare Landschaften – führen zu neuen Bedrohungen in Form von Gewaltkonflikten um basale Rohstoffe. Infolgedessen muss in wachsendem Maße mit erodierenden Staaten und nicht mehr zu bewältigenden Flüchtlingsströmen gerechnet werden. 11 Zugleich nährt ein unaufhaltsamer Fortschrittsoptimismus nach wie vor die Überzeugung, menschliches Know-how sei den ansteigenden Herausforderungen der Zukunft gewachsen. Mancherorts verstärken sich bodenlose Machbarkeitsphantasien, wenn nicht sogar im Dienste einer auf kurzfristigen ökonomischen Erfolg gerichteten Strategie die Faktenlage geleugnet wird. So muss man bedauerlicherweise feststellen: Weder Naturkatastrophen noch die Anzahl der Krisenherde und Kriegsschauplätze, weder die Zunahme psychischer Erkrankungen noch die Ausweitung sozialer Verwerfungen in jüngster Zeit haben bisher eine grundlegende praktische Umorientierung nach sich gezogen. Nachhaltige Verbesserung ist erst zu erwarten, wenn wir nicht ausschließlich auf technischen Sachverstand setzen, sondern ebenso auf einen Wandel innerer Haltungen hinarbeiten. Menschen müssen damit aufhören, das Fehlen geistiger Orientierung hauptsächlich mit einer Erhöhung ihrer Machtrate bzw. ihres individuellen Prestiges kompensieren zu wollen. Andernfalls werden Egomanie und selbstbetrügerische Mechanismen auch weiterhin bestehen bleiben, ja vermutlich sogar noch zunehmen. Solange Karriere, außenwirksame Selbstinszenierung und entsprechende Optimierungsstrategien in vorderster Reihe stehen, droht kalte Berechnung das Handeln zu usurpieren. Da man nicht wissen kann, ob gute Absichten belohnt werden, lässt man diese am besten gleich fahren und überlässt sich dem kruden Kampf der Interessen, wobei man sich damit beruhigen mag, dass

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Siehe hierzu: (Böcker 2013).

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schließlich doch alles irgendwie dem Vorankommen der Menschheit dienen wird. Blicken wir zurück, so scheint sich die Geschichte hauptsächlich als ein Ort von Rivalitätskämpfen, Verfeindungen und Rechtsbrüchen darzustellen, und zwar in solchem Ausmaß, dass man sich am liebsten gleich aus der Gruppe derjenigen verabschieden möchte, die zuversichtlich auf eine bessere und friedvolle Zukunft hinwirken möchten. Zweifelsohne ist festzustellen, dass die Vernunft unablässigen Schiffbruch erleidet. Doch gleichfalls lässt sich mit guten Gründen von einer fortschreitenden Entfaltung menschlicher Freiheit und Gerechtigkeit sprechen. Als man – einsetzend mit der Renaissance – immer deutlicher zu erkennen begann, dass die Menschheit keine feste Größe ist, sondern dem Einfluss klimatischer, sozialer und kultureller Gegebenheiten unterliegt, erstarkte das Vertrauen in die menschliche Gestaltungskraft: Naturwissenschaft und Technik vermochten – wie zu beobachten war – die Macht des Zufalls einzudämmen. Zudem zeigten ethische und pädagogische Konzepte, dass auch die soziale Wirklichkeit keineswegs in Stein gemeißelt war. Auf wunderbare Weise erschienen den Aufklärern Naturgegebenheiten und menschliches Erkenntnisvermögen aufeinander abgestimmt. In derart beflügelnden Erfahrungen sah man schließlich die Gottesebenbildlichkeit des Menschen bestätigt, was einige dazu veranlasst haben mag, Gott selbst für überflüssig zu erklären. So hatte die rasante Erfolgsbilanz einer aufstrebenden Menschheit, die unermessliche Gewinne verbuchen kann, eine Reihe problematischer Nebenwirkungen, zu denen nicht zuletzt eine verhängnisvolle Fehleinschätzung unserer rationalen Kräfte zu zählen wäre. Dem entgegen lautet meine momentan noch ziemlich allgemeine These: Wer die verschlungenen Wege des menschlichen Herzens verkennt, scheitert an den Rückwirkungen der eigenen Vernunftanstrengungen. Erst wenn wir Menschen als rational befähigte Gefühlswesen ansehen, wenn wir die Vernunft mit William James als nur eine, wenn auch 150 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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zentrale und unverzichtbare, Kraft unter verschiedenen anderen erblicken, besteht Anlass zu verhaltener Zuversicht. Inspirierend mögen diesbezüglich jene Bilder der Erde wirken, die uns seit geraumer Zeit aus der Astronautenperspektive übermittelt werden. Zu hoffen wäre, dass das Abstandnehmen in Weltraumdimension in verstärktem Maße eine holistische Perspektive auf unsere menschliche Situation wachrufen könnte, welche neue Bewusstseinslagen generiert. Mit Wucht – so der Philosoph Peter Vollbrecht – könnten »die Bilder von der aufgehenden Erde über der Einöde des Mondes (…) unsere Wahrnehmung für unser Oikos, für unser planetarisches Haus« sensibilisieren. Zu hoffen sei – so Vollbrecht –, dass dem philosophischen Anthropozentrismus daraus ein neuer Gegenspieler mit ökologischem Bewusstsein erwachse: »Er kultiviert nicht länger das Dogma der Nützlichkeit, sondern er richtet sich aus auf das Wunder und den Wert des Daseins.« Über messerscharfe Fotografien aus 45.000 Kilometern Entfernung drängt sich uns die einsam leuchtende Schönheit und Verletzlichkeit des blauen Planeten Erde auf. Wir sehen ihn als winzigen Teil eines kosmischen Ganzen, auf welches wir, um fortbestehen zu können, unser Handeln abstimmen müssen. Hierzu wären laut Vollbrecht Formen der Aufmerksamkeit zu kultivieren, welche die althergebrachte rationale Selbstüberschätzung sowie eine »starre anthropozentrische Sichtachse« 12 hinter sich lassen. Erreichbar wird dies nur, wenn wir auch uns selbst wieder als Teile übergeordneter Zusammenhänge begreifen, wenn wir uns in unserer Eigenschaft als ›eingebundene‹ und ›erleidende‹ Subjekte annehmen und unser Handeln entsprechend austarieren. Hierzu gehört insbesondere eine angemessene Beschäftigung mit den emotionalen Reaktionsweisen des Menschen. Nur indem wir hier geltende Wechselwirkungen besser zu 12

Siehe: (Vollbrecht 2019).

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verstehen lernen, sind wir dagegen gewappnet, von verzerrenden oder überdramatisierenden Fehleinschätzungen der Wirklichkeit vereinnahmt und weggerissen zu werden. Mittlerweile ist offensichtlich, dass viele Überzeugungen, denen wir ›aus dem Bauch heraus‹ anhängen, sich bei näherer Überprüfung als unhaltbar erweisen. So erliegen viele Menschen z. B. dem Trugschluss, dass es in der Welt kontinuierlich schlechter zugehe, während die Datenlage über weite Strecken das glatte Gegenteil demonstriert. 13 Offensichtlich sind wir so gemacht, dass stets primär das Negative unseren Geist beherrscht, während wir kaum Antennen für positive Errungenschaften und Aufwärtstrends ausbilden. Dieser »Instinkt der Negativität« 14 wird unablässig durch die Medien befeuert, welche mit Schreckensmeldungen um unsere Aufmerksamkeit wetteifern, während fortschrittliche Entwicklungen höchst selten Stoff für Schlagzeilen hergeben. Diese gedanklichen Zusammenhänge sollen durch die folgenden Ausführungen noch weiter begründet und in eine spezifische Richtung hinein entfaltet werden. Verdeutlicht werden soll vor allem, dass die Fähigkeit zu vernünftiger Abwägung kein stets bereitliegendes Werkzeug ist, das eine Person jederzeit zur Hand nehmen und zielsicher einsetzen kann. Vielmehr ist Vernunft eine im Mitfühlen verankerte Fähigkeit zu umsichtiger, abwägender Betrachtung, die von KindesbeiSiehe hierzu (Rosling u. a. 2018). – Hans Rosling und seine KoautorInnen legen in eindringlicher Weise an Hand von Statistiken und Faktenerhebungen dar, dass die meisten Menschen einer verfälschend pessimistischen Einschätzung der Wirklichkeit – »einer Illusion ständiger Verschlechterung« – anhängen. Über eine Rückkehr zu den Fakten streben die Autoren einen grundlegenden Bewusstseinswandel an: »Dieses Buch ist mein Versuch, Einfluss auch die Welt zu nehmen: die Denkweise der Menschen zu verändern, ihre irrationalen Ängste zu lindern und ihre Energien in konstruktives Handeln umzulenken.« – (Ebd., S. 87 u. Bucheinband). 14 (Ebd., S. 89). – Siehe insgesamt. (Ebd., S. Kap. 2). 13

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nen an herausgebildet und gepflegt werden muss – jedoch nicht in dem Sinne, dass man jemals damit fertig würde. Da wir als Fühlende unaufhebbar in diese Welt involviert sind, ist stets mit unvorhergesehenen Ereignissen und Widerfahrnissen zu rechnen, die uns aus der Fassung bringen, unsere klare Sicht trüben und uns mit neuen Herausforderungen konfrontieren. Mancher mag nun einwenden wollen, es sei doch Aufgabe der Psychologie, über Gefühle und das Labyrinth des menschlichen Herzens zu sinnieren. Das ist sicherlich zutreffend, doch zu fragen wäre dann umgehend: Wie ernst nehmen Philosophen diese vergleichsweise junge Disziplin? Sind sie nicht häufig damit beschäftigt, den Experten der menschlichen Seele ein eher verkürztes, einseitiges Menschenbild anzulasten? Man begegnet in etwa folgender Denkweise: Allein Philosophie befasst sich ernsthaft mit den Möglichkeiten eines erwachsenen, ausgereiften und geistig gesunden Menschen. Sie richtet sich dezidiert an sein Vernunftvermögen und appelliert an die darin fußende menschliche Potenzial zu (ethischer) Selbstregulierung, wobei davon auszugehen ist, dass ein Gutwilliger es problemlos schaffen kann, im Dienste höherer Zielsetzungen persönliche Gefühle und leibliche Regungen zurückzustellen, ja gegebenenfalls auszuschalten oder heroisch zu bezwingen. Dagegen mag sich die Psychologie mit denjenigen abplagen, denen eine solche Selbstlenkung auf Grund widriger persönlicher Umstände partout nicht gelingen will. Weite Teile der philosophischen Anthropologie – Ausnahmen bestätigen die Regel – haben auf diese Weise zu einer fatalen Selbstüberschätzung des Menschen als Selbst- und Weltbezwinger beigetragen. Es wurden ein Vermessenheitshabitus und Machbarkeitswahn heraufbeschworen, der heute – vielfach losgelöst von jeder philosophisch-metaphysischen Rahmung – weit reichende Negativfolgen bis hin zu Realitätsverlusten nach sich zieht, sowohl im persönlichen Bereich als auch auf der großen gesellschaftlichen und politischen Bühne. 153 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Innerhalb dieser problematischen Situation fungiert Psychotherapie als eine Art Reparaturwerkstatt. 15 Doch nutzen Psychologen ihre vertieften Kenntnisse über das Gefühlsleben keineswegs konsequent dazu, der rationalen Anmaßung und Selbstüberschätzung Einhalt zu gebieten. Im Gegenteil, nicht wenige Experten der Seele stimmen ein in das hohe Lied freier Selbstmodulierung und uneingeschränkter Präferenzbefriedigung. Derart nähren sie die Illusion subjektiver Selbstmächtigkeit, wodurch Anspruchsdenken, Effekthascherei und Besitzgier zusätzlichen Auftrieb erhalten. Wie schon erwähnt, geht dies mancherorts so weit, mit psychologischer Expertise findige Strategien zu erarbeiten, die es möglich machen, den einstigen Störfaktor Emotion nun zur nützlichen Triebkraft kalter Zweckrationalität werden zu lassen. Deshalb erscheint es mir nun dringend, aus philosophischer Perspektive die menschliche Idee rationaler Steuerung nochmals grundlegend zu hinterfragen. Rücken wir näher an dieses Phänomen heran, so entdecken wir darin jenen schon benannten unhaltbaren Dualismus von Denken und Fühlen. Über schon Gesagtes hinaus muss diese fragliche Zweiteilung Oftmals ist sie, wie Arendt es sagen würde, dazu angetan, Menschen für ein Leben in den selbst geschaffenen Wüstenlandschaften fit zu machen. In einem ihrer nachgelassenen Fragmente für eine »Einführung in die Politik« bezeichnet sie die Moderne als eine Wüste, die durch ein Anwachsen der Weltlosigkeit gekennzeichnet sei. Welt entsteht für Arendt dann, wenn es ein Zwischen gibt, einen Raum des Handelns freier Subjekte, also auch einen Raum des Konfliktes, der Reibung aneinander sowie der Kooperation. Die größte Gefahr des Wüstenlebens liege darin, die Fähigkeiten des Urteilens, des Leidens und des Verdammens zu verlieren. »Insofern die Psychologie versucht, Menschen zu ›helfen‹, hilft sie ihnen, sich den Bedingungen des Wüstenlebens ›anzupassen‹. Dies nimmt uns unsere einzige Hoffnung, und zwar die Hoffnung, daß wir, die wir nicht der Wüste entstammen, aber in ihr leben, in der Lage sind, die Wüste in eine menschliche Welt zu verwandeln.« – (Arendt 2005, S. 181). // Siehe hierzu auch: (Bennent-Vahle 2008).

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nachfolgend Gegenstand weiterer Überlegungen werden, wobei zu verdeutlichen wäre, dass beide Modi des Weltbezuges weder über Gebühr auseinandergerissen noch gegeneinander ausgespielt werden sollten. 16 Vielmehr wäre zu erläutern, dass Denkoperationen zwar mehr oder weniger abgetrennt von konkreten Handlungskontexten vonstattengehen können bzw. dass sie bemüht sein können, die jeweilige Situation aus neutraler Beobachterperspektive zu erfassen, dass sie aber dennoch stets vollgesogen mit gelebten Erfahrungen sind und demzufolge niemals vollständig frei von Emotionen bzw. emotional aufgeladenen Wertsetzungen vorgenommen werden können. Auch der vermeintlich neutrale bzw. nicht involvierte Betrachter, der sich redlich um gedankliche Klärungen bemüht, bleibt eine spezifische Person mit einer je eigenen nicht restlos aufhebbaren Geschichte persönlicher Prägungen. Umgekehrt zeigt uns die Analyse emotionaler Reaktionsweisen, dass derartige Fühlereignisse keineswegs rein biologische Körperregungen sind, sondern stets angereichert mit gedanklichen Einschätzungen und kulturell vermittelten Werturteilen über die Tatsachen dieser Welt. Selbst ein denkerisches Engagement für Physik oder Mathematik speist sich noch aus emotionalen Quellen. So mag jemand z. B. ergriffen sein von der Größe geistiger Zusammenhänge, fasziniert vom Zauber abstrakter Gedankenwelten und scharfsinniger Argumente. Doch ebenso gut könnte hier der Drang regieren, den affektiven Überforderungen durch zwischenmenschliche Interaktion zu entkommen. Abgesehen von möglichen Beweggründen speziell für Mathematikbegeisterung, lassen die Biografien vieler Denker vermuten, dass oftmals intensive emotionale Erfahrungen den Ausschlag für ausdauernde und besonders ergiebige Denkprozesse über existenzielle Einzelfragen gaben. Sensibilisiert durch persönliche Erschütterungen, vermag eine Denkerin mit be16

Siehe hierzu: (Ben Ze’ev 2009, insbes. S. 131 ff.).

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sonderem Gespür und außergewöhnlicher Tiefenschärfe allgemein menschliche Themen auszuloten, ohne dabei jemals vollkommen frei von subjektiven Einfärbungen zu sein.

3. Prekäre Anlagen und zivilisatorische Herausforderungen Die Ausdifferenzierung verschiedener Formen des Mitfühlens erfolgt im Zuge einer gleichzeitigen Thematisierung der subjektiv-biografischen Wurzeln menschlicher Empathieentwicklung. Im Fokus steht hier die elementare Tatsache, dass wir allein über andere wir selbst werden. Dieser Gedanke, der in der Philosophie auf unterschiedliche Weise u. a. von Max Scheler, Martin Buber, Emmanuel Lévinas oder auch Judith Butler entwickelt wurde, findet heute umfassende Bestätigung durch die psychologische und neurologische Empathieforschung. Unabweisbar wird: Bevor Menschen sich nachdenkend als autonome Existenzen begreifen können, unterliegen sie bereits für lange Zeit den emotionalen Einflüssen ihres Umfeldes. Man könnte sogar zugespitzt sagen: Ob ein Mensch darum ringt, sich nachdenkend als autonome Existenz zu begreifen, hängt entschieden von den emotionalen Einflüssen seiner Umgebung ab – vor allem in jungen Jahren. Insbesondere eines erscheint evident: Die spezifische emotionale Prägung, die eine Person erfährt, bestimmt maßgeblich darüber, wie weit sie in späteren Lebensphasen befähigt sein wird, besonnen zu Werke zu gehen, d. h. Abstand von spontanen Impulsen zu nehmen und neben sich zu treten, um – an anderen Anteil nehmend – einer Gesamtlage gerecht zu werden. Da primär die emotionale Atmosphäre der Erziehung ausschlaggebend ist, bleiben intentionale pädagogische Einflüsse wirkungslos, wenn sie im Gegensatz zu dem Beziehungsverhalten und der gelebten Praxis des Pädagogen stehen: »Ein abwertender, zynischer und beschämender Erziehungsstil kann inhaltlich auf Friedfertigkeit ge156 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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richtet sein – die Botschaft ist aber Herabsetzung Anderer (…)«, 17 konstatiert Rainer Dollase und markiert mit Nachdruck das Gewaltsame einer solchen Erziehungspraxis. In den nachfolgenden Ausführungen soll also nicht nur die individuelle Relevanz, sondern auch die ethisch-soziale Tragweite von Gefühlsprägungen unter die Lupe genommen werden. Zu verdeutlichen wäre, dass die Kultivierung unserer empathischen Anlagen – mithin das Einüben von Besonnenheit – für ein friedliches und respektvolles Miteinander weitaus wichtiger ist als die Anerziehung ethischer Normen. Ein reflektierter Umgang mit der emotionalen Empfänglichkeit und Verletzlichkeit junger Menschen ist insbesondere da von zentraler Bedeutung, wo aggressive, gewaltaffine Verhaltensweisen verhindert bzw. abgebaut werden sollen. Findet sich eine moralische Einstellung nämlich nicht hinreichend in Selbstachtung und Mitgefühl verankert, wächst die Gefahr starrer Regelkonformität – zu verstehen als eine unnachgiebige (moralisierende) Haltung rigider Angepasstheit mit oftmals bedenklichen Nebenwirkungen. Ein häufig auftretender problematischer Begleiteffekt ist z. B., dass sich soziale Verpflichtungen und humanitäres Engagement auf Menschen aus dem persönlichen Nahbereich beschränken, während andere außen vor bleiben. Man begegnet Fremden und Unbekannten mit Indifferenz oder Gleichgültigkeit, in schlimmeren Fällen werden diejenigen, die nicht dazu gehören, sogar aus der Kategorie ›Mensch‹ ausgeklammert und dementsprechend verächtlich behandelt. »Der Täter ›erklärt‹ sein Opfer zu einem Ding. Für ihn ist es eine Sache, mit der er zweckmäßig und zielgerichtet umgeht. Die Menschlichkeit ist dem Ding abgesprochen. Das Ding kann den Täter nicht ansprechen und als Menschen erreichen. Er ist unnahbar, sein Blick ist nicht mehr der zwischen Menschen«, 18 schreibt der Psychologe Gaßenhuber. 17 18

(Dollase 2013, S. 22). – Weiterführend hierzu: (Teil V, 2). (Gaßenhuber 2018, S. 105).

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Vorboten solcher verhängnisvollen Verdinglichung anderer meint man heute wieder wahrzunehmen, wenn man in die Gesichter derjenigen schaut, die – das demokratische Demonstrationsrecht pervertierend – bei ihren Umzügen Andersdenkende zu Feinden abstempeln und jeden Einwand hysterisch niederschreien. Kennzeichen dieser »destruktive (n) Souveränität« 19 sind Kommunikationsverweigerung und Imponiergehabe. Mit aufgeblähter Brust und aggressiven Parolen sucht man Eindruck zu schinden und Angst zu verbreiten, während jeder respektvolle Austausch mit anderen konsequent verweigert wird. Für Außenstehende scheint es nur zwei Möglichkeiten zu geben: sich schaudernd abzuwenden und zurückzuziehen oder womöglich von Großsprecherei und demonstrativer Entschlossenheit infiziert und mitgerissen zu werden. Leicht kann es passieren, dass Personen den Eindrücken inszenierter Grandiosität erliegen, dass sie das Hohle und Abscheuliche der zur Schau gestellten Posen nicht registrieren (wollen), weil ein fruchtbarer Gefühlshumus aus Selbstzweifeln und paranoider Angst ihr Inneres für ein derartiges Spektakel empfänglich macht. So steht zu befürchten, dass im Zeichen destruktiver Souveränität die hasserfüllten Deklamationen neuerlicher Herrenmenschen ihr Korrelat in den »übermäßigen Minus-Impulsen« 20 nicht weniger Zuhörer finden, Zuhörer, die mit übersteigerten Größenideen für vermeintlich triumphale Feldzüge gewonnen werden können. Viele Beispiele in Gegenwart und Vergangenheit offenbaren, dass Menschen weitaus weniger zu verantworten befähigt sind, als man gerne erwarten und zugestehen möchte. Die Tendenz, Fremdgruppen anzufeinden, zu entmenschlichen, zu quälen und schlimmstenfalls sogar grausam zu vernichten, scheint erschreckend weit verbreitet. All dies hat viel mit unseren ambivalenten Naturanlagen zu tun. Inzwischen 19 20

Siehe: (Ebd., S. 105–109). (Ebd., S. 106).

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wurde diese unschöne Diagnose, die uns nicht gefallen mag, durch eine Reihe psychologischer Studien untermauert. Gezeigt wird, dass Moral und Wertschätzung anderer unter gewissen Umständen von sehr geringer Durchschlagkraft sind. Nachweislich ist z. B. ein so genannter ›Sleeper-Effekt‹, welcher besagt, dass latent schwelende Gewaltorientierungen in prekären Lagen in weiten Bevölkerungsteilen wachgerufen und aktiviert werden können. 21 Der Roman Ausnahme, geschrieben von dem dänischen Autor Christian Jungersen, 22 konfrontiert uns eindrücklich mit dieser Problematik. Nicht nur, dass dieser Roman, dessen Handlung an einem Forschungsinstitut für Völkermord im friedlichen Dänemark angesiedelt ist, uns eine verstörende Liste nahezu aller Genozide der Vergangenheit liefert, er präsentiert seinem Leser zudem vier Frauengestalten, Angestellte des Instituts, die einander über Anfeindung und Mobbing das Leben zur Hölle machen. Eindrucksvoll wird erzählt, wie viel Hass und Grausamkeit hinter der zivilen Oberfläche schwelen und wie wenig es dazu bedarf, ein zerstörerisches Feuer zum Ausbruch zu bringen. Gezeigt wird eine Gefährdung, die uns alle angeht, die nah ist und nicht irgendwo in einem fernen, ›rückständigen‹ Winkel der Welt lauert. Eher lauert sie in unseren Herzen, wenn diese nicht geübt werden im Widerstehen, d. h. wenn keine Kultur ehrlicher und umsichtiger Selbstreflexion im Zeichen der Besonnenheit gepflegt wird. 23 In scheinbarem Widerspruch zu einer historischen Spur der Kämpfe und Grausamkeiten wissen wir inzwischen aus der Säuglingsforschung um ein dem Menschen angeborenes Talent zu mitfühlenden Reaktionen sowie um schon früh nachweisbare altruistische Verhaltensmuster. Diese scheinSiehe u. a.: (Welzer 2007, S. 105–132). (Jungersen 2004). 23 Zur allgemein menschlichen Anfälligkeit, durch engstirnige Schuldzuweisungen komplexe Wahrheiten zu ignorieren und eigene Mitverantwortung zu leugnen, siehe: (Rosling 2018, Kap. 9). 21 22

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bare Unvereinbarkeit lässt sich auflösen, wenn wir die Ambivalenzen beleuchten, die in der Ressource Empathie angelegt sind – eine Doppelwertigkeit, der wir uns unbedingt stellen müssen, wenn wir darauf hinarbeiten wollen, den Radius moralischer Ansprechbarkeit zu erweitern. Erst eine wohl überlegte Kultivierung unserer empathischen Anlagen, erst eine bewusste Verankerung des Mitfühlens bereitet den Boden der Besonnenheit, welche wir dringend benötigen, um radikale Absonderung von anderen Menschen zu verhindern – selbst dann, wenn diese uns fremd, unverständlich oder ihrerseits abgesondert erscheinen, ja, vielleicht sogar dann, wenn sie uns feindselig begegnen. 24 Für eine Intensivierung und Stabilisierung zwischenmenschlicher Empathie bietet eine pluralistische Gesellschaft, in der sich Kinder unterschiedlicher kultureller Herkunft in Schulklassen zusammenfinden, eigentlich besonders geeignete Rahmenbedingungen. Diese gilt es in überlegter Weise zu nutzen, um – als wesentliche Elemente der Besonnenheit – Respekt, Kooperativität und demokratisches Bewusstsein zu stärken. Wesentlich dabei ist, aus dem Wissen um die Fragilität dieser Werte heraus zu agieren, denn es sind Werte, die, wie dargelegt wurde, von unterschiedlichen Seiten her bedroht erscheinen: zum einen steht ihnen ein übersteigerter Individualismus entgegen, der immer mehr Menschen zu egoistischer Selbstoptimierung animiert, zum Hierzu die Stimme Noberto Bobbios; »Wer an Toleranz glaubt, tut dies nicht allein auf Grund der Erkenntnis, dass Glaube und Meinungen irreduzibel sind und folglich die Vielfalt des menschlichen Geistes nicht durch Verbote eingeschränkt werden darf. Er glaubt vielmehr auch daran, dass Toleranz Früchte tragen kann und die einzige sinnvolle Möglichkeit, die Intoleranz zur Anerkennung der Toleranz zu bewegen, nicht in der Verfolgung, sondern in der Anerkennung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung besteht. (…) Es ist nicht gesagt, dass der Intolerante, der in der Freiheit akzeptiert wird, den ethischen Wert des Respekts für die Ideen anderer begreift, fest steht aber, dass der verfolgte und ausgeschlossene Intolerante niemals ein Liberaler werden wird.« (Bobbio 1998, S. 103 f.). // Siehe auch: (Leo u. a. 2017).

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anderen aber jene neuerdings wieder erstarkende Tendenz, von Heimat, Volksgemeinschaft und Gruppenidentität zu reden, um sich hinter solchen Phrasen gegen Fremde und imaginierte Schmarotzer zu verschanzen. Die Ideologie skrupelloser Selbstverwirklichung und der angriffslustige Korpsgeist konservativer Bewegungen zerstören auf je eigene Weise die Universalität einer humanen Grundeinstellung, die mehr umfassen muss als Lippenbekenntnisse zu freiheitlichen Werten.

4. Selbsterkenntnis als Grundlage der Besonnenheit Schon Rousseau war der Überzeugung, dass einzig Selbsterkenntnis uns zu retten vermag. Zugleich wusste er, dass diese Notwendigkeit permanent durch eine ausgeprägte menschliche Neigung zu Eitelkeit und Selbstbetrug behindert wird. Durchaus noch an die göttliche Vorsehung glaubend machte er sich daran, in differenzierter Weise die menschlichen Anteile an den Übeln dieser Welt herauszuschälen. Auf seiner Suche nach Erklärungen für alle Verderbnis innerhalb der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts erkannte er, dass die menschliche Freiheitsfähigkeit ganz offensichtlich an gewisse Bedingungen gebunden ist. Wer sich mit Erziehung, Geschichte und Politik befasse, müsse erkennen, dass fragwürdige Verhältnisse nicht Ausdruck einer unabänderlich bösen Natur des Menschen seien, sondern Resultat eines zivilisatorischen Deformationsprozesses, der das ursprünglich vorhandene Gleichgewicht zwischen Selbstliebe und Mitgefühl erheblich gestört habe. Auf diese Weise wird das Böse in der Welt für Rousseau zu einer verstehbaren Angelegenheit. Auf den Einzelnen bezogen bedeutet dies, dass er quasi zwangsläufig mehr oder weniger Opfer der jeweiligen Zeitumstände ist, in die er hineingeboren wurde. Wir werden verdorben, ohne es so recht bemerken zu können, doch diese Beschädigung ist nicht unabänderlich, jeden161 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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falls nicht auf der ganzen Linie. Präzise und tiefgreifende Analysen der jeweiligen Einflussfaktoren bieten Erklärungen, weiten den Verstehensradius aus und eröffnen damit potentiell neue Handlungsspielräume. Wenngleich es nach Rousseau zwar nicht möglich ist, in einen paradiesischen Urzustand zurückzukehren, so können wir dennoch darauf hinwirken, die menschlichen Freiheitsgrade wieder zu erhöhen. Zu diesem Zweck entwarf er ein neues Erziehungsmodell, das darauf abzielte, Kinder vor den Negativfolgen der Zivilisation zu schützen, d. h. ihnen eine Art Entwicklungsschonraum zu gewähren. Man mag im Detail von Rousseaus Erziehungsratschlägen halten, was man will, doch lässt sich kaum hinter seinen Gedanken zurücktreten, dass immer auch die Umstände uns prägen – im Guten wie im Bösen. Wer für Tugenden plädiert, muss wie Rousseau notwendigerweise an Freiheitsspielräume und die Effizienz pädagogischer Maßnahmen glauben. Auch alle Formen der Persönlichkeitsbildung – etwa durch Therapie oder philosophische Gespräche – setzen darauf, dass vorhandene Wesenszüge nicht in Beton gegossen, sondern veränderlich sind. Der lange andauernde Streit der Disziplinen um das Entweder-Oder von genetischer Disposition bzw. Determination auf der einen und sozialer Prägung auf der anderen Seite mündet inzwischen vielfach in Positionen, die beides gleichermaßen berücksichtigen und aufeinander beziehen. Zum Beispiel vertritt der Neurowissenschaftler James Fallon, der jahrelang der Auffassung anhing, dass die menschliche Identität von Geburt an festgeschrieben sei, inzwischen mit Verve eine andere Theorie. Sein Spezialgebiet – die Erforschung der Gehirnstrukturen von Psychopathen und Serienmördern – konfrontierte ihn mit überraschenden Beobachtungen, die ihn schließlich zu folgender erstaunlicher Feststellung veranlassten: »Ein gutes Elternhaus kann selbst das mieseste Blatt wenden, das die Natur einem Kind mitgegeben hat. Verhaltensforschung, Genetik, Epigenetik, Psychiatrie und soziale Normen liefern gute Gründe, für ein 162 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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geordnetes Umfeld zu sorgen und empfindlichen Kindern eine Extraportion Liebe zukommen zu lassen.« 25 Lässt man sich auf den Erziehungsgedanken Rousseaus ein, so erscheinen auch die großen gesellschaftlichen und politischen Fragen in neuartigem Licht. Immer offensichtlicher wird auf diese Weise, wir eng das jeweilige Erscheinungsbild sozialer Verwerfungen sich in den zahllosen Einzelheiten der (kindlichen) Sozialisation niederschlägt. Wer unliebsamen Dingen Abhilfe verschaffen will, wird folglich zugestehen müssen, dass es wenig zuträglich ist, psychologisch-pädagogische Maßnahmen gegen rechtlich-politische Reglementierungen auszuspielen (oder umgekehrt). Um den brennenden Problemen der Zeit effektiv entgegentreten zu können, sollte man stattdessen unablässig darum ringen, das Große und das Kleine zusammen zu denken und in Wechselwirkung zueinander auszuleuchten. An dieser Stelle sei nochmals an Martha Nussbaum erinnert, die längst in diese Richtung aufgebrochen ist. Sie steht für ein Philosophieren, welches explizit dazu übergeht, psychologisches Wissen über die menschliche Gefühlssphäre mit gesellschaftsphilosophischen Analysen zu verbinden, um auf diesem Fundament ein tragfähiges Gerüst neuer Tugenden zu errichten. 26 Auf Seiten der Psychologen wäre in dieser Hinsicht vor allem Arno Gruen herauszuheben, der sich wie kaum ein anderer mit der biografischen Entstehung zwischenmenschlicher Gewalt und Grausamkeit befasst. 27 Anhand diverser Lebensgeschichten untersucht und veranschaulicht er in detaillierter Weise die wechselseitige Bedingtheit von Gesellschaft und Psyche. Seine erhellenden Analysen zeigen punkt(Fallon 2015, S. 258). – Siehe auch: 0. Einleitung, Fußnote 7. Verwiesen sei insbesondere auf ihr »Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit und Großzügigkeit«. – (Nussbaum 2017). 27 (Gruen 1993) bzw. (Gruen u. Weber 2001). // Siehe auch: (Maaz 2017). // Zu den fatalen Folgen früher Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt für die Entwicklung des Gehirns, siehe insbes.: (Heim u. a. 2010). 25 26

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genau, inwiefern autoritäre Sozialstrukturen zur Quelle von Hass und Selbstverleugnung werden, wobei er – wie auch Nussbaum – einen wichtigen Gesichtspunkt einbezieht, den viele andere kritische Stimmen ignorieren: die Verquickung von Gewaltbereitschaft mit traditionellen Geschlechterrollenvorgaben. Nussbaum und Gruen zeigen uns, inwiefern rigide Zuschreibungen spezifisch viriler Eigenschaften und Fähigkeiten einerseits zur Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Frauen führen, andererseits aber vor allem die männliche Seele beschädigen. Die Einpassung in maskuline Verhaltensmuster impliziert einen folgenreichen Verrat am Selbst, der sich weitreichend negativ auf das Ganze der Gesellschaft auswirkt: »Grundlegend für das Verhalten des Mannes in unserer Kultur ist die Angst vor Hilflosigkeit, Schwäche und Verwundbarkeit. Er kann sie sich aber nicht eingestehen, da seine Metaphysik des Seins auf Heldentum zielt.« 28 Tragend für die genannten Ansätze ist die schon bei Rousseau entwickelte Vorstellung einer ursprünglichen Veranlagung des Menschen zu selbstloser Hilfsbereitschaft und sozialer Rücksichtnahme. Derartige Überzeugungen finden sich mittlerweile nicht nur durch entwicklungspsychologische Studien gestützt und gestärkt, sondern gleichermaßen auch durch evolutionstheoretische Arbeiten, wie sie etwa der Anthropologe Michael Tomasello vorlegt. Auf der Basis empirischer Untersuchungen zeigt uns dieser Forschungszweig, dass Erfordernisse des Überlebens kooperative Verhaltensweisen generierten, über welche sich allmählich ein besonderer Sinn des ›homo sapiens‹ für Werte und Normen (Gruen 1986, S. 50). – Siehe auch: (Ebd., S. 86 f. u. S. 103 ff.). // Zur problematischen Auswirkung rigider patriarchalischer Strukturen auf die Psyche speziell arabisch-stämmiger junger Männer, siehe z. B.: (Mansour 2015). – Der Islamexperte Ahmad Mansour legt dar, inwiefern ein religiöser Extremismus, der Sexualfeindlichkeit propagiert und eine strikte Geschlechtertrennung verordnet, Denkblockaden errichtet und damit den Boden für Radikalisierungen bereitet.

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herausbildete. Infolge eines zweistufigen Evolutionsprozesses habe sich über eine Moral des Mitgefühls, die sich primär auf Verwandte und Freunde richtete, schließlich eine erweiterte Fairnesshaltung – »eine Art von Kooperativierung des Wettbewerbs« – entwickelt. 29 Während auch hier moralische Verantwortlichkeit noch vorwiegend auf diejenigen bezogen blieb, mit denen man tatsächlich interagierte, dehnte sich der Radius kooperativer Zugewandtheit allmählich auf alle Mitglieder einer Kulturgruppe aus, so dass schließlich im Prinzip alle als gleichermaßen wertvoll angesehen wurden. Eine nochmals weiterführende Ausdehnung moralischer Rücksichtnahme auf alle Menschen, wie sie – zumindest konzeptionell – schon im 18. Jahrhundert anvisiert wurde, wäre nun als zentrale Aufgabe der Gegenwart anzusehen, eine Aufgabe, deren Dringlichkeit mehr als offensichtlich wird – angesichts ökonomischer Globalisierung und weltweiter Vernetzung durch rasant schnelle Informationsflüsse, vor allem aber angesichts gemeinsamer Betroffenheit von Umweltschäden und ihren Folgen. Um dieser Aufgabe nachzukommen, müssen wir einigen unbestreitbaren Fakten ins Auge sehen und zunächst anerkennen, dass es zwischen liebender Verbundenheit, persönlicher Loyalität, Gruppensolidarität und universellen Moralansprüchen unter konkretem Handlungsdruck voraussichtlich immer Reibungspunkte und somit jede Menge Konfliktpotential geben wird. Gerade deswegen müssen wir um Besonnenheit ringen. Bescheidener gesagt: Wir müssen daran arbeiten, die destruktiven Effekte menschlicher Provinzialität wenigstens doch einzudämmen, um den genannten Tatsachen weltweiter Verflechtungen begegnen zu können, aber auch, um ein friedliches Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften mit starker Zuwanderung zu gewährleisten. Betrachtet man die aktuelle Situation, so geschieht vielerorts genau das Gegenteil. Verunsichert durch die Effek29

(Tomasello 2016, S. 13).

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te übernationaler Interdependenz, will man wieder verstärkt unter seinesgleichen bleiben. Man reanimiert Mythen nationaler Identität – außenpolitisch durch scharfe Abgrenzung gegen Fernes und Fremdes und innenpolitisch im wütenden Kampf gegen soziale Durchmischung und kulturelle Vielfalt –, so als könne man das Rad der Geschichte einfach zurückdrehen. In dieser rückwärtsgewandten Denkweise liegt eine große Gefahr für unsere heutige Welt, die ihre schon vorhandenen und noch herannahenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme 30 nur dann wirkungsvoll angehen kann, wenn die menschliche Kooperativität nochmals eine höherstufige Gestalt annimmt. An dieser Schwelle befinden wir uns und es ist erforderlich, vor allem die menschliche Anlage zu Mitgefühl innerhalb der pädagogischen Praxis zu stärken, um besonnene Handlungsweisen heranzubilden. Parallel dazu wäre ein differenziertes Wissen über die weltweite Interdependenz aller menschlichen Angelegenheiten zu vermitteln sowie genaue datenbasierte Kenntnisse zum Entwicklungsstand einzelner Länder. Weiterhin könnten Geschichtslektionen über permanente Migrationsbewegungen innerhalb der deutschen Vergangenheit dazu anregen, sich kritisch mit essentialistischen Konzepten ethnisch-homogener Identitätsbildung zu befassen, welche neuerdings wieder vermehrt in Umlauf geraten. Mitteleuropa war historisch in großem Umfang von Ein- und Auswanderbewegungen betroffen, welche durch Verfolgung, Kriege, Hungersnöte oder auch wirtschaftliche Interessen ausgelöst wurden. Von den Nachfahren französischer Hugenotten, die als Glaubensflüchtlinge nach Deutschland kamen, bis zu den polnischen Einwandern in die Ruhrgebiete, von den Vertriebenen aus ehemals deutschen Gebieten in Schlesien und Ostpreußen bis hin zu den ›Gastarbeitern‹ aus SüdSiehe den aktuellen Weltrisikobericht: (Bündnis Entwicklung hilft 2018). (https://www.welthungerhilfe.de/fileadmin/pictures/publications /de/studies-analysis/2018-WeltRisikoBericht2018_BEH-final.pdf).

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europa wäre hier einiges anzuführen, wenn es darum ginge, Tatsachenbelege für Prozesse permanenter kultureller Durchmischung anzuführen und damit die erneut propagierte Idee einer klar (auch territorial) umrissenen Eigenkultur als hochgradig imaginär und ideologisch auszuweisen. 31 Je nachdem, welchen familiären und kulturellen Erfahrungshintergrund Kinder oder junge Erwachsene mitbringen, wird man sehr flexibel ansetzen müssen, um verfestigte Weltbilder zu lockern und Kooperationsbereitschaft, interkulturelle Kompetenzen bzw. einen gleichberechtigten Umgang miteinander anzuregen. In jedem Fall aber ist es wichtig, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft und kultureller Prägung sich in gemeinsame Kontexte hinein begeben, um sich dort besser kennen lernen zu können. Auf diesem Wege bietet sich die Chance, ganz unmittelbar an der Menschlichkeit des jeweils anderen Anteil zu nehmen und auch Gemeinsamkeiten zu erspüren – eine wesentliche Voraussetzung, um Vorurteile und Feindbilder abzubauen. Die folgenden Ausführungen sind nicht mehr als ein kleiner Beitrag zur Stärkung eines gesellschaftlichen Klimas, welches sich als weniger anfällig für falsche Tatsachenbehauptungen und totalitäre Denkmuster erweisen könnte. Um allumfassende Erklärungen und Haurucklösungen kann es per se nicht gehen, denn beides ließe nach meiner Auffassung erneut die Gefahr vereinnahmenden Denkens aufkommen. Resignativer Verzicht auf Lösungskonzepte wäre allerdings noch weitaus riskanter. Mit derartigen Haltungen haben wir heute des Öfteren zu kämpfen, so dass es nach meinem Ermessen vor allem auf eine menschliche Qualität ankäme: die Fähigkeit, mit dem Unvollkommenen und Kompromisshaften zu leben, ohne von niederschmetternden Vergeblichkeitsgefühlen gelähmt zu werden. Fulbert Steffensky Zur Debatte um kulturinterne Heterogenität, siehe: (Vandenheiden u. Mayer 2014) // (Welsch 2017). – Zur pädagogischen Bedeutung, siehe: (Göhlich u. a. 2006).

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nennt dies »die Süße der gelungenen Halbheit«. 32 Dahin findet leichter, wer sich auch selbst als im Wissen begrenztes, emotional bedürftiges und punktuell sogar verblendetes Gefühlswesen annehmen kann, ohne im selben Atemzug alles Ringen um akzeptable Überzeugungen fahren zu lassen. Nur wenigen ist das geradewegs gegeben. Es sind vielleicht diejenigen, die eine glückliche Kindheit durchlebten, in der ihr Sein durch ein fürsorgliches Umfeld umfassend bejaht und gestützt wurde. 33 Wenngleich die meisten von uns labil in ihrem Hang zum Guten sind, bleiben sie nichtsdestoweniger auf verschiedenen Wegen erreichbar. Dies kann durch liebevollen Umgang, aber auch durch Nachdenken sowie durch kontemplative Übungen zur Wiederbelebung des brachliegenden Empathievermögens bewirkt werden. Vor allem könnten wir uns darum bemühen, schädigende Zumutungen im Kindesalter herunterzufahren bzw. für Fragen der Persönlichkeitsbildung ein geschärftes Bewusstsein innerhalb der Gesellschaft zu wecken, d. h. eine neue pädagogische Debatte auch jenseits der Akademien zu entfachen. Beispielsweise müssen verstärkt Konzepte entwickelt und eingesetzt werden, die den Umgang (Steffensky 2018). Arno Gruen nimmt diesbezüglich eine grobe Unterteilung in drei Bevölkerungsgruppen vor. Neben denjenigen, denen die Gunst des Schicksals ein empathisches, förderndes Elternhaus schenkte – Gruen spricht von ca. einem Drittel der Bevölkerung –, gibt es einen etwa gleich großen Anteil, die durch das autoritäre Gehabe ihrer Bezugspersonen erheblich in ihrem Mitgefühl beeinträchtigt werden und infolgedessen ein hohes Aggressionspotential entwickeln, besonders dann – müsste man mit Fallon hinzufügen –, wenn sie bereits eine nachteilige genetische Prädisposition mitbringen. Zu dieser Einteilung, siehe: (Gruen 2013, Minute 8.50) // (Fallon 2015). – Es bleibt noch ein Bevölkerungsanteil von etwa vierzig Prozent. Hier ist davon auszugehen, dass in den Kindheitstagen beides zugleich erlebt wird: empathische Annahme und herbe Zurückweisung. Dementsprechend zeigen diese fortan – je nachdem – auch selbst Reaktionsweisen, die eine enorme Bandbreite zwischen Härte und Mitgefühl erkennen lassen.

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mit Provokationen und die Beherrschung von Aggressionen vermitteln, denn beides wird nie ganz ausbleiben. 34 Die Mediengesellschaft konfrontiert zudem mit neuen Herausforderungen, so dass vieles gezielt gelernt und angegangen werden muss. Nicht zuletzt ein gemeinsames Nachdenken über Bedeutung und Wirkweise von Emotionen – losgelöst von akuter Betroffenheit – kann viel zu solchen Klärungen beitragen. 35 Bezüglich der Mitgefühle möchte ich im folgenden Kapitel nun einige hierfür wichtige Differenzierungen vornehmen.

http://www.anti-aggressionstherapie.de/das-zentrum/ // Siehe auch: (Mansour 2015, Kap. 3). 35 Siehe hierzu auch: Abschnitt V. 4. 34

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IV. Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend Mag auch unser eigener Bruder auf der Folterbank liegen – solange wir uns selbst wohl befinden, werden uns unsere Sinne niemals sagen, was er leidet. Sie konnten und können uns nie über die Schranken unserer eigenen Person hinaustragen und nur in der Phantasie können wir uns einen Begriff von der Art seiner Empfindungen machen. (Adam Smith) Die ersten Nutznießer unseres Mitgefühls sind immer wir selbst. (Dalai Lama)

1. Denkfähige Gefühlswesen Sollen Selbstkorrekturen Tiefe gewinnen, also nach Maßgabe der Besonnenheit erfolgen, so müssen sie mehr als nur zwanghafte, von außen aufoktroyierte Akte moralischer Selbstbeschneidung sein. In diesem Falle bedarf der Betreffende der Motivationskraft des Mitgefühls, welches allein ihn dazu veranlasst, die Situation und Sichtweise anderer tiefergehend verstehen und nachvollziehen zu wollen. Damit wir am Schicksal anderer Menschen aktiv Anteil nehmen können, muss uns ihre Lage berühren. Wir müssen als Fühlende darum wissen, was es z. B. genau bedeutet, keine Nahrung, kein sauberes Wasser, kein Dach über dem Kopf, keine Zuwendung und keine Anerkennung zu erhalten. Voraussetzung hierfür ist, dass wir gelernt haben, uns selbst als verletzliche Gefühlswesen zu erleben und anzunehmen. Erst dann wagen wir es, bewusst in Betracht zu ziehen, dass wir selbst in eine vergleichbare Lage geraten könnten. Schon 170 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Denkfähige Gefühlswesen

Rousseau wusste, dass jemand nur an denjenigen Leiden anderer Anteil nehmen wird, »vor denen (er) selbst nicht sicher zu sein glaubt«. 1 Deshalb riet er in seiner Erziehungsschrift dazu, Kindern von Anfang an die eigene Verletzlichkeit vor Augen zu führen. Grundsätzlich ist die geteilte Empfindungs- und Leidfähigkeit die Basis aller Mitgefühle mit anderen, auf die wir, wie man inzwischen weiß, durch unsere genetische Ausrüstung von Anfang an – fühlend – bezogen leben. Die neurologische Forschung spricht hier von einer angeborenen Resonanzfähigkeit, aus der heraus sich Empathie (Einfühlung) und echtes Mitgefühl entwickeln können. 2 Im echten Mitgefühl ist die bloße Gefühlsansteckung durch mitschwingende Identifikation indes bereits überwunden, weil wir gelernt haben, zwischen uns selbst und dem anderen (fremden) Menschen zu unterscheiden. Wir sehen und akzeptieren, dass dieser tatsächlich ein anderer ist und sich nicht in derselben Lage und Verfassung befindet wie wir selbst. Damit ist gesagt: Bei der Herausbildung des echten Mitgefühls spielt das distanzierende Nachdenken und Analysieren eine enorm große Rolle. Nur auf diesem Wege, indem ich den Standpunkt anderer – auch Abwesender – ›vorsätzlich‹ vergegenwärtige und auslote, werde ich in die Lage versetzt, deren Welterleben besser zu verstehen und möglicherweise solidarisch zu agieren. Trotz des hohen Reflexionsanteils bedarf eine echte ethische Verhaltenskorrektur dennoch immer der (Rousseau 1971, S. 225). Hier sei angemerkt, dass bereits lange vor den bahnbrechenden neurologischen Entdeckungen von philosophischer Seite die Phänomene der Einfühlung beleuchtet und sorgfältig ausdifferenziert wurden. Siehe u. a.: (Lipps 1907) // (Groethuysen 1904) // (Stein 2008). Durch Scheler wurde insbesondere bereits der Gedanke einer – aller Thematisierung des Verstehens vorangehenden – grundlegenden Vertrautheit emotional involvierter Wesen entfaltet. In nuancierter Weise legt dieser eine unmittelbare Erfahrung des Anderen vor aller theoretischen Reflexion des Fremdpsychischen dar. – (Scheler 1985).

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

fühlenden Anteilnahme am Schicksal anderer, denn sie ist ein Akt des Gebens, der die Eindämmung egoistischer Bestrebungen voraussetzt. Im Mitfühlen bzw. primär im spontanen Mitleid liegt hier – wie vor allem Schopenhauer betonte – die treibende Kraft. 3 Weil echtes und wirksames Mitgefühl jedoch – wie wir noch genauer sehen werden – den Beistand ruhiger Überlegung benötigt, verlangt es Ausdauer und Zeit. Seine Herausbildung steht somit im krassen Gegensatz zum Lebenstempo unserer hoch technisierten modernen Lebenswelt. Sind Personen von Alltagshetze, Stress und Leistungszwängen beherrscht, so unterliegen sie leicht dem Einfluss negativer Stimmungen oder verfallen problematischen Emotionen wie Angst und Wut, wodurch die Mobilisierung empathischer Anlagen erheblich beeinträchtigt wird. 4 Ethik meint hier eigentlich ein Ethos, das heißt, es geht im Kern nicht darum, dass jemand weiß, was ethisch geboten ist, sondern es geht darum, dass er selbst ethisch wird, dass moralisches Empfinden seine Existenz mehr und mehr ergreift und durchtönt, dass moralisches Handeln seiner inneren Disposition entspringt. Nach Kierkegaard wäre eine moralische Erkenntnis, die unser Leben nicht tiefgreifend berührt, streng genommen überhaupt keine Erkenntnis, sie wäre nur eine Art Gedankenspiel, in dem wir zustimmend sagen: »Ja, ja, das wäre richtig zu tun«, aber wir tun es nicht oder vollDie Bedeutung der Emotionen, insbesondere des Mitleids, für unsere moralische Orientierung stand mehrfach im Zentrum prominenter Vertreter der Moraltheorie, auf deren Werke hier hinzuweisen ist – siehe u. a.: (Hume 1978 u. 1984) // (Smith 2010) // (Schopenhauer 2007). Schopenhauers lebensmetaphysische Mitleidstheorie sieht das alltägliche Mitleid als ein »Mysterium der Ethik« an und stellt heraus, das der andere nur über einen Akt der Identifikation, d. h. dadurch, »daß jener gänzliche UNTERSCHIED zwischen mir und jedem Anderem, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens zu einem gewissen Grade aufgehoben sei«. (Schopenhauer 2007, S. 107 bzw. 106). 4 Siehe u. a.: (Blum 1980, S. 31–37). – Vgl. dazu: (Plüss 2010, S. 13–19). 3

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Denkfähige Gefühlswesen

bringen sogar das glatte Gegenteil. Wenn es uns ein bisschen ernster mit unseren Einsichten ist, dann überlegen wir uns immerhin jede Menge Ausreden, warum wir nicht aktiv werden können, in der Regel, weil sich die Welt uns heimtückisch in den Weg gestellt hat: unabänderliche Strukturen, Sachzwänge, die Aggression und Verderbtheit der anderen etc. Es käme aber darauf an, wenigstens aufzubrechen und neue Perspektiven der Selbstformung und Selbstverbesserung in Betracht zu ziehen. Für diesen Prozess sind unablässiges Nachdenken und Nachfühlen wesentlich, ebenso braucht es Übung und Geduld sowie die Fähigkeit, mit Rückschlägen und den Grenzen eigener Wirkmöglichkeiten umzugehen. Philosophen und Wissenschaftler haben immer wieder den Versuch unternommen, ihre Gedankengebäude gleichsam emotionsfrei erscheinen zu lassen. Das heißt, sie präsentierten ihre Theorien so, als seien es objektive Konstrukte, dem Geist purer Rationalität entsprungen, mithin bar jeder subjektiven Wertung und kulturellen Einseitigkeit. Dem entsprach und entspricht nicht selten ein Bemühen, berührenden oder beunruhigenden Eindrücken des wirklichen Lebens auszuweichen und Zuflucht im akademischen Austausch gelehrter Argumente zu suchen. Mit schlagkräftigen Begründungsketten sollen irritierende Gemütserregungen sowie die Angst vor Ungereimtheiten ruhiggestellt werden. Oft geht es gerade nicht darum, die eigene Weltverwicklung ernst- und anzunehmen, um im zähen Ringen gemeinsam mit anderen praktikable Lösungen zu finden. Vielmehr wird in sicherer Distanz zum gewöhnlichen Leben die Lust an gedanklichen Differenzierungen ins Uferlose getrieben. Verschanzt hinter aufgetürmten Begriffsbarrikaden verkommt so manche Debatte zu einem weltfremden und selbstgefälligen intellektuellen Spiel. Darauf wäre mit Kierkegaard zu erwidern: »Alles wesentliche Erkennen betrifft die Existenz, oder: nur das Erkennen, dessen Beziehung zur Existenz wesentlich ist, ist wesentliches Erkennen. Das Erkennen, das nicht nach innen gewandt in der Reflexion der Innerlichkeit die Existenz betrifft, 173 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

ist wesentlich betrachtet zufälliges Erkennen, sein Grad und Umfang wesentlich betrachtet gleichgültig«, wenn nicht sogar nur ein leeres und eitles Begriffsgeklapper. 5 Aus Sicht der Philosophischen Praxis ist es unvermeidlich zu fragen: Wird das übersteigerte Neutralitätsbegehren vieler Denker der menschlichen Lebenswirklichkeit gerecht? Werden unsere tatsächlichen gedanklichen Aktivitäten damit angemessen erfasst? Sind wir in diesem von uns selbst beanspruchten – quasi metaphysischen – Sinne überhaupt wissensfähig? Zweifel sind hier angebracht. Von einigen modernen Philosophen werden solche Zweifel bis hinein in die Welt neutraler wissenschaftlicher Erklärungsmodelle getragen. 6 So charakterisiert Michael Hampe die problematischen Implikationen eines theoriengeleiteten, verallgemeinernden Sprechens als »Verlust der Aufmerksamkeit auf den unwiederholbaren Einzelcharakter von allem, was uns begegnet«. 7 Deshalb komme es für die jeweilige Person auf Befreiung aus einem »Urteilskorsett« an, welches ihm angelegt wurde, wenn sie über den Erwerb der Sprache in bestimmte Normen und Theorien eingefügt wurde. Einzig ein nicht-doktrinäres Philosophieren wie das des Sokrates, das sich der Entlarvung der Illusion vermeintlichen Wissens widmet, vermag den Einzelnen wieder näher an die eigene Erfahrungswirklichkeit heranzuführen. Andere werten das Streben nach metaphysischer Gewissheit in Gestalt allgemeingültiger Erklärungsversuche als eine Art »Verhexung des Verstandes durch die Mittel unserer Sprache«. 8 Diesen Gedanken Wittgensteins aufgreifend, betont Stanley Cavell, dass gerade Philosophen – und zwar (Kierkegaard 1982, S. 188). // Auch für Michael Hampe ist Philosophie mit etwas Persönlichem verbunden und hört auf Philosophie zu sein, wenn sie nicht – wie häufig im akademischen Kontext – mit existenziellem Engagement betrieben wird. Siehe: (Hampe 2014, S. 53). 6 (Ebd., S. 66). 7 (Ebd., S. 100/101). 8 (Wittgenstein 2003, S. 81). 5

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Denkfähige Gefühlswesen

Skeptiker genauso wie Wahrheitsapologeten – dem Impuls unterliegen, die Wörter aus ihren alltäglichen Gebrauchskontexten herauszulösen und sie allgemeinen Bedeutungen zuzuführen, weil sie es nicht wagen, sich den beunruhigenden Unsicherheiten der menschlichen Existenz zu stellen. Im Grunde regiere hier eine fundamentale menschliche Angst davor, nicht gesehen und angenommen zu werden, mithin die Angst vor Getrenntheit und Verlorenheit in der Welt. 9 Leitend sei insbesondere die Angst vor dem Zutagetreten eigener Schwäche, Begrenztheit und Bedürftigkeit. Folglich werde Abhängigkeit von anderen, auf deren Zuwendung und Anerkennung man angewiesen ist, konsequent verleugnet und bekämpft. Derartige Tendenzen wirken laut Cavell an der Wurzel aller erkenntnistheoretischen Anstrengungen der Neuzeit. Hier sei die Angst wie eine »Spur oder Narbe (zu) begreifen, die Gottes Abgang hinterlassen hat«. 10 Nunmehr komme im Grunde dem anderen Menschen höchste Bedeutung zu, er trägt – so Cavell – das Gewicht Gottes. Doch gerade der anhaltende philosophische Wunsch, die komplexen Gegebenheiten des Lebens ein für alle Mal erfassen und festlegen zu wollen, durchkreuzt das Gelingen von zwischenmenschlicher Verständigung, denn derart hochfliegende Wünsche nach Verallgemeinerung und Gewissheit schneiden von der Wirklichkeit ab und verschärfen auf diese Weise die unleugbare Getrenntheit unserer Existenzen nochmals erheblich. In Anlehnung an diese Gedanken erscheint es mir deshalb wichtig mit Cavell zu betonen, dass es letztlich nicht um das Überwinden, sondern um das Meistern von Subjektivität gehen muss. Verfolgt man dieses Ziel, so wäre das Augenmerk vornehmlich auf den Bereich der Empfindungen und Gefühle zu richten. Trotz der von Scheler benannten basalen Ver9 10

Siehe hierzu: (Gern 2015, Kap. IV). (Cavell 2006, S. 745). // Ebenso: (Tillich 1962).

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

trautheit beseelter Wesen tritt bald mit Deutlichkeit hervor, dass unsere jeweiligen Erfahrungen als Fühlende unteilbar sind und damit gewissermaßen auch un(mit)teilbar. Wir begreifen schnell, dass uns eine direkte Wahrnehmung der Gefühle anderer schlichtweg nicht möglich ist. Allenfalls führen wir in Reaktion auf sichtbare Ausdrucksformen und Signale (oder Beschreibungen, die uns übermittelt werden) Abgleiche mit eigenen Erfahrungen durch und vernehmen dann das uns vertraut Erscheinende am anderen. Ob wir dabei je über leere Mutmaßungen, vage Projektionen oder auch nur sehr allgemeine Feststellungen hinausgelangen, ist auf diesem Feld eine Frage beharrlicher Kommunikationsbereitschaft. So lässt sich prognostizieren: Je weniger man von der Objektivität der eigenen Wahrnehmungen und Ansichten überzeugt ist, umso mehr erhöhen sich die Chancen, an die komplexe und vielschichtige Wirklichkeit heranzureichen. Je höher die Bereitschaft ist, die immer auch emotional geprägte Subjektivität der eigenen Welterschließung einzuräumen, umso besser kann es gelingen, dieselbe im Dienste echter Erfahrung des anderen, mithin echter Begegnung, ›aus- und aufzuräumen‹. Noch präziser wäre es zu sagen: Wenn subjektive Sichtweisen zunächst konziliant beiseitegeschoben, eingeklammert, suspendiert oder eingedämmt werden, erhöhen sich die Chancen, temporär mit Behutsamkeit in die Erlebens- und Gedankenwelt anderer hinüberzugleiten, allerdings immer unter dem Vorbehalt, dass dies nur begrenzt möglich ist. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich unangenehmen Gefühlen zu stellen, genau genommen die Bereitschaft, das eigene Leiden und die eigene Bedürftigkeit nicht zu übergehen. Dies ist sehr wichtig, denn im Blick auf das Zwischenmenschliche kommt den Gefühlen eine ambivalente Funktion zu: Sie sind Dienerinnen und Hemmnisse kommunikativer Verständigung zugleich.

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Der Mensch: ein Gemeinschaftswesen – Irreduzible Sozialität

2. Der Mensch: ein Gemeinschaftswesen – Irreduzible Sozialität Der Mensch ist dasjenige »Geschöpf des Weltalls, das das heißeste Verlangen nach Gesellschaft hat«. 11 Dies stellte David Hume bereits im 18. Jahrhundert fest. Er entwickelte ein naturalistisches Menschenbild, das heute durch neurologische und psychologische Experimente mit harten Fakten bestätigt und untermauert wird. 12 Was kennzeichnet dieses Menschenbild? Was macht David Hume so modern? Das ist vor allem die Erkenntnis, dass wir Menschen hypersoziale Wesen sind, die von der Natur gleichsam auf ein Leben in Gemeinschaft geeicht wurden. Der von Hume zur Bezeichnung dieser Naturanlage verwendete Begriff »sympathy« darf indes keinesfalls mit Zuneigung, Sympathie oder gar Liebe gleichgesetzt werden. Vielmehr wird damit auf eine basale Naturähnlichkeit aller Menschen hingewiesen, 13 eine Ähnlichkeit, welche uns unwillkürlich emotional in Beziehung zueinander treten lässt, und zwar derart, dass wir Gefühlsbotschaften anderer in uns aufnehmen können, auch dann, wenn wir uns selbst in einer völlig konträren Verfassung befinden. Selbst unter dieser Voraussetzung sind wir grundsätzlich befähigt, Gefühlslagen anderer zu erkennen und gegebenenfalls auch nachzuvollziehen. Keineswegs ist dazu zwangsläufig eine besondere Nähe oder gar persönliche Zuneigung zu der jeweiligen Person erforderlich. Insbesondere Betrübnis und Kummer anderer Menschen affizieren uns lebhaft und nachhaltig, gleichwohl wir auch an ihrer Freude Anteil zu nehmen (Hume 1978, S. 97). Siehe u. a.: (Bauer 2008) // (Roth 2011). 13 (Hume 1978, S. 48) – Der Gedanke einer sich auch im affektiven Leben zeigenden Wesensverwandtschaft aller Menschen, welche moralische Handlungen veranlassen kann, findet sich bereits vor seiner Intensivierung in der englischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts bei Spinoza, wobei dieser allerdings die Gefahren des Steckenbleibens in affektiven Zuständen herausstellt. 11 12

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

vermögen. 14 Ausgehend von seiner neuartigen Bestimmung sympathetischer Grundanlagen entfaltet Hume in mehreren Schriften die Wirkweise ineinandergreifender Gefühle bezogen auf viele praktische Entscheidungsfragen des Lebens. Ohne seine Lehre menschlicher Affekte und die damit verknüpften moraltheoretischen Rückschlüsse hier detailliert darlegen zu wollen, sei ein Punkt hervorgehoben, der aus meiner Sicht wesentlich ist: Das menschliche Sympathievermögen ist für Hume ein Art Basisemotion, die zugleich als Anlage zu moralischen Handlungsweisen zu verstehen ist. An einigen Stellen verwendet Hume für diese Emotion auch die Bezeichnung »fellow-feeling« (Mitgefühl), worin noch deutlicher ein grundlegendes Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen ausgedrückt ist. Weil Hume – gegen rationalistische Ethiken argumentierend 15 – moralisches Handeln an das menschliche Affektleben bindet, benötigt er eine Instanz, die den moralischen Urteilen ein gewisses Maß an Stabilität verleihen kann. Eine emotional verankerte Gemeinschaftsorientierung wie das »fellow-feeling« erfüllt genau diesen Zweck und verweist darüber hinaus auch auf ein alle Menschen verbindendes Interesse am Erhalt staatlicher Ordnungen. 16 Über den Vorrang des Mitleids vor der Mitfreude, siehe u. a.: (Scheler 1985, S. 142). // Zur Leid- und Schmerzempfindung im Zentrum einer pathozentrischen Ethik, siehe: (Hähnel 2015, S. 55 ff.). 15 »Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.« (Hume 1978, S. 153). – Hume beschränkt sich hier nicht auf die Feststellung, dass die Vernunft ein träges und inaktives Vermögen ist, welches nicht motivational wirken kann, sondern er betont überdies, dass dem Verstand auch niemals eine maßgebliche Rolle zugeschrieben werden sollte. Er warnt damit vor rigiden, unerfüllbaren Verstandespostulaten, welche nicht wirksam werden können, weil sie die menschliche Natur verkennen, welche stattdessen aber oft das Unheil vergrößern. 16 In seiner Tugendlehre misst Hume den Tugenden, die der Aufrechterhaltung konventioneller Institutionen dienen, einen besonders hohen 14

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Der Mensch: ein Gemeinschaftswesen – Irreduzible Sozialität

Die altruistische Anlage des Menschen tritt nach Hume insbesondere dann zu Tage, wenn momentan keine Eigeninteressen des Einzelnen tangiert werden, wenn er also z. B. eine Beobachterrolle einnimmt und mit Distanz auf die Angelegenheiten anderer blickt. Generell ist »das Mitgefühl«, wie Hume sagt, »weit schwächer als unser Eigeninteresse; und das Mitgefühl mit Personen, die uns fernstehen, ist viel schwächer als mit Personen, die nahe sind und uns nahestehen.« 17 Da unsere ichbezogenen Antriebe also eine enorme Durchschlagskraft besitzen und (dementsprechend) auch unsere spontanen Mitgefühle limitiert sind, können wir das moralische Urteilsvermögen am besten als unbeteiligte Zaungäste trainieren. Solchermaßen gelangen wir im Laufe der Zeit allmählich auch in eigenen Angelegenheiten über Parteilichkeiten hinaus und machen »unsere Gefühle allgemeiner und sozialer.« 18 Hume spricht hier von Prozessen der Selbstkultivierung, die er mit Formulierungen wie ›Verbesserung der Gefühle‹, ›Fortschritt der Empfindungen‹ oder ›Zunahme der Humanität‹ umreißt. Erkennbar wird hier ein Menschenbild, das ein Wesen mit flexiblen Ich-Grenzen beschreibt, ein Wesen, das schon in seinen unmittelbar vitalen Interessen untrennbar mit anderen verflochten ist und in permanenter sympathetischer Wechselwirkung mit seinesgleichen steht. Im sozialen Kontakt findet ein dauernder Austausch von Ge-

Stellenwert zu. Gemeint sind hier insbesondere Gerechtigkeitssinn (justice) und Verlässlichkeit (fidelity), die als »künstliche Tugenden« bezeichnet werden. Bezüglich der Etablierung dieser Tugenden rekurriert seine Argumentation allerdings nicht primär auf »sympathy«, sondern stellt als Motivationskraft insbesondere ein auf Eigennutz basierendes Interesse des Menschen an Frieden und Ordnung heraus. Der Mensch sympathisiert also letztlich vornehmlich aus egoistischen Antrieben mit dem öffentlichen Interesse, auch wenn »Mitgefühl die Quelle aller der Wertschätzungen ist, die wir für die künstlichen Tugenden haben«. (Hume 1978, S. 331). – Siehe hierzu: (Lüthe 1991, S. 57–73). 17 (Hume 1984, S. 152). 18 (Ebd.).

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

fühlen statt, ein Agieren und Reagieren auf die Empfindungen und Handlungen anderer – Prozesse der Interaktion, über die wir erst nach und nach einen moralischen Standpunkt entwickeln. Eine Moralphilosophie, die nichts anderes kennt als abstrakte Prinzipien, nach denen klar gegeneinander abgegrenzte Ich-Identitäten ihre Rechtsansprüche verhandeln, verfehlt nach Humes Denken das Ganze der menschlichen Realität. Humes Werk bietet demzufolge zahlreiche Anregungen für meine im Folgenden zu vertiefende These, dass die menschliche Sozialität allein durch positive Beziehungserfahrungen gefestigt, vertieft und ausgeweitet werden kann. Leitend ist dabei auch seine Erkenntnis, dass Menschen unhintergehbar in diese Welt involviert sind und ihnen demzufolge jede quasi-göttliche Vernunfteinsicht verwehrt bleiben muss. Fühlend stehen wir unweigerlich in Verbindung mit unserem Umfeld, sind zur Welt hin geöffnet. Deshalb sind Gefühle in zweifacher Hinsicht eminent wichtig: einerseits, um uns innerlich lebendig zu fühlen, und andererseits, um mit anderen und anderem in Beziehung und Resonanz zu treten. Beides ist unlöslich miteinander verflochten: Ob bewusst oder unbewusst, ein jeder steht unweigerlich in emotionaler Wechselwirkung zu seinem Umfeld, auch wenn sich natürlich zwischen Dickfelligkeit und Dünnhäutigkeit erhebliche Sensibilitätsgrade ausmachen lassen. Hier kommt dem Fühlenwollen ein hoher Stellenwert zu. Man mag es zugeben oder nicht, eine jede ist auf Stimulation von außen angewiesen, braucht Wechsel und Veränderung, um Intensität zu erfahren. Ebenso benötigt sie den regen Austausch mit anderen Menschen, auf deren Widerhall und anerkennenden Zuspruch sie angewiesen ist. Sogar eine Eremitin! Kurzum: Gefühle sind unsere eigentlichen Antriebsquellen. Ohne sie wären wir kaum entscheidungsfähig, wüssten unser Leben schwerlich zu gestalten, wir wären vermutlich nicht einmal sehr lange überlebensfähig – ein Gedanke, der heute ins180 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Der Mensch: ein Gemeinschaftswesen – Irreduzible Sozialität

besondere aus neurowissenschaftlicher Perspektive Bestätigung findet. 19 Eine Kernthese dieses Buches ist, dass Empathie zentraler Motor insbesondere für moralische Sehkraft und moralisches Handeln ist – ein schon mehrfach angesprochener Leitgedanke. Gäbe es nicht diese menschliche Veranlagung, vom Leid anderer emotional ergriffen zu werden, so ließe sich kaum erklären, was Personen dazu bewegt, ihre egozentrische Perspektive zu überwinden und mit selbstloser Hingabe zu wirken, d. h. das Wohlergehen anderer über das Kriterium wechselseitiger Angewiesenheit hinaus zu berücksichtigen und zu fördern. Allerdings ist hierzu – wie schon angesprochen – weitaus mehr nötig als das ursprünglich gegebene resonante Affiziertsein durch andere. Für die Herausbildung einer von echter Fürsorge geprägten Haltung sind aus meiner Sicht zwei ineinander greifende Grundvoraussetzungen zu benennen: Zum einen muss die Lebenssituation eines Menschen, insbesondere in der Kindheit, so beschaffen sein, dass prosoziale Empathiepotentiale nicht durch emotionale Überforderungen beeinträchtigt oder womöglich verspielt werden, zum anderen bzw. darüber hinaus ist es wesentlich, dass dieses Vermögen durch gezielte Aktivierung unablässig verfeinert und erweitert wird, z. B. indem Kinder dazu angeleitet werden, auch als Betroffene von akuten Konflikten, ihr Empathievermögen wachzuhalten und probeweise den Blickwinkel des Kontrahenten einzunehmen. 20

Siehe u. a.: (Damasio 1999) // (Ciompi 1999) // (Wassmann 2002). Wichtige Vertreter der Theorie, dass Empathie die wesentliche Grundlage moralischen und altruistischen Handelns ist, sind aktuell u. a.: (Herzog 1991) // (Blum 1980) // (Batson 1991) // (Bischof-Köhler 1989). – Siehe hierzu auch: (Plüss 2010, S. 5–22 u. S. 37–46). – Plüss stellt zudem im letzten Teil ihrer Abhandlung mehrere auf Empathieförderung gerichtete pädagogische Ansätze vor. – (Ebd., S. 91–133).

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

3. Mitfühlen – eine bloße Gefühlssache? Sprechen wir über die soziale Natur des Menschen, so rücken Emotionen in den Fokus, die unterschiedliche Formen der Bezogenheit zwischen Personen bezeichnen: die Mitgefühle nämlich. Erst indem wir auf diesem Gebiet nun einige Differenzierungen vornehmen, wird noch klarer, dass die sozialen Naturanlagen des Menschen allein in keiner Weise das Gelingen von Gemeinschaft garantieren. Vielmehr sind diese Anlagen in hohem Maße ambivalent. Schlimmstenfalls führt gerade soziale Empfänglichkeit dazu, dass jemand unangenehm, asozial und menschenfeindlich wird. Im neurowissenschaftlichen Jargon konstatiert dies auch der Biologe und Psychologe Christian Keysers, wenn er formuliert: »Spiegelneuronen machen aus uns – im Guten wie im Bösen – zutiefst soziale Wesen.« 21 Damit ist gesagt: Ohne hier eine Entscheidung treffen zu dürfen oder etwas daran ändern zu können, leben wir von Anfang an auf andere Lebewesen bezogen und nehmen deren Empfindungen seismographisch wahr. Über die emotionale Bahn der Mit- und Nachempfindung – anders gesprochen: über den Aufbau gemeinsamer Schaltkreise – wird »kulturelle Übertragung« 22 möglich. Auf diese Weise erlernen wir die Sprache und damit die Fähigkeit, uns in der menschlichen Lebenswirklichkeit zu orientieren. So zeigt die Empathieforschung u. a., dass trockene Theorie eigentlich keine wirksame Lehrmethode darstellt. Doch dies nur am Rande. Wichtiger ist es, im Blick auf unsere sozialen Anlagen zu verstehen, dass auch menschliche Kälte und Unberührbarkeit paradoxerweise als Abkömmlinge ursprünglicher Verbundenheit anzusehen sind, dass Beziehungsunfähigkeit mit(Keysers 2013, S. 14). – Nach Gopnik greift allerdings eine Erklärung, die Empathiefähigkeit auf Spiegelneuronen zurückführt, zu kurz. Sie verweist auf ein weitaus komplexeres Geschehen. Siehe: (Gopnik 2009, S. 239). // Über die verheerende Auswirkung von Gruppennormen, siehe: (Welzer 2007, S. 113 ff.). 22 (Keysers 2013, S. 73). 21

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Mitfühlen – eine bloße Gefühlssache?

hin in der Regel aus einem problematischen Beziehungsgeschehen hervorgeht. 23 Ich habe schon erwähnt, dass dem Mitgefühl traditionell die Funktion eines Korrektivs im Emotionsgeschehen zugeschrieben wird. Es mäßige, so heißt es, starke, zumeist antisozial wirkende Affekte wie Ärger, Zorn, Gier, Neid oder Eifersucht, ebenso wie es mildernd auf eine oftmals egoistische Inbesitznahme durch leidenschaftliche Liebe einwirken könne. Aber auch Mitgefühle sind Emotionen und teilen mit den übrigen Affekten einige zentrale Merkmale, welche nicht ignoriert werden dürfen. Wie alle Emotionen erfolgt auch das Mitfühlen zunächst von der Warte der ersten Person aus. Das heißt, seine Intensität ist abhängig von sozialer Nähe bzw. unmittelbarer Erfahrung eines anderen. Auch im Mitfühlen erweist sich also die Situationsabhängigkeit und damit subjektive Begrenztheit des emotionalen Modus. Auch hier erleben wir uns als betroffen und berührbar. Das heißt, auch hier stellt die leiblich-seelische Ergriffenheit vom Eindruck der anderen Person ein wichtiges Merkmal emotionaler Echtheit dar. Des Weiteren gilt: Im Mitgefühl, welches im alltäglichen Sprachgebrauch als Anteilnahme am Leid anderer verstanden wird, spielt es eine Rolle, ob und inwieweit wir das jeweilige Gegenüber mit Wert besetzen bzw. es in seiner Gleichwertigkeit anerkennen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine Reihe von Faktoren, welche die von Hume unterstellte Universalität des Mitfühlens, der sympathy, relativieren oder beeinträchtigen. Einfluss nehmen insbesondere erlernte Normen der Wertschätzung und moralischen Beurteilung. So ergreift uns beispielsweise leichter Anteilnahme am Leid einer Person, wenn diese nach unserem Ermessen unverdient ins Unglück geraten ist. Hat sie sich aus unserer Sicht hingegen ihre missliche Lage selbst zuzuschreiben, weil sie z. B. alle guten Ratschläge oder Vorwarnungen in den Wind schlug, 23

Siehe Teil I, Fußnote 66.

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

so sinkt unsere spontane Einfühlungsbereitschaft. Noch weitaus weniger rühren uns die Leiden derjenigen, die auf schwerwiegende Weise moralische Normen verletzen bzw. die nach von uns befürworteten Moralmaßstäben Verwerfliches tun. 24 In solchen Fällen wird offenbar, dass wir für den Übeltäter in der Regel kein Quäntchen Mitgefühl mehr aufbringen können, weil wir uns gleichsam mitfühlend an seinem Opfer oder dessen Angehörigen verausgabt haben. Werden grundlegende, fraglos anerkannte moralische Prinzipien in schwerwiegender Form verletzt, schädigt die Tat z. B. besonders Wehr- oder Schutzlose, kann ein Täter mit keinerlei Nachsicht rechnen. Überdies spielt in der Gewichtung nahezu aller moralischen Fehltritte eine Rolle, ob eine Schuldige mir nahesteht, ob ich sie als angenehm und sympathisch erlebe, ob ich möglicherweise Werte, Interessen oder Vorlieben mit ihr teile. Und natürlich hängt der Intensitätsgrad unserer spontanen Empathie zudem erheblich davon ab, ob wir die Leiden eines anderen überhaupt für nennenswert erachten. Reaktionen extremer Härte und Mitleidlosigkeit, die auch vor Grausamkeiten nicht zurückschrecken, treten dann auf, wenn andere als prinzipiell menschlich minderwertig eingestuft werden bzw. wenn ihnen das Menschsein generell abgesprochen wird. Zur Minderung des Mitgefühls durch prävalente Moralnormen, siehe: (Merz 2013). Merz verdeutlicht diesen Tatbestand am Extrembeispiel von Kindesentführung und Kindesmisshandlung. Der Schweregrad dieser Gewalttat lässt vermuten, dass ein Ausbleiben von Empathie mit dem Täter kulturübergreifend nachweisbar ist und dass sich allenfalls auf der Basis einer entwicklungspsychologischen Genese seiner Disposition Anteilnahme am Täter regen könnte. Das Hineinversetzen in die Perspektive einer Täterpersönlichkeit, wozu uns insbesondere auch literarische und filmische Erzählungen einladen, eröffnet in vielen Fällen unerwartete Perspektiven des Mitfühlens, besonders dann, wenn verursachende Kindheitserlebnisse beleuchtet werden. – Die eindrückliche Geschichte einer verletzten Kinderseele bis zum Gewaltausbruch erzählt der Roman Der Außenseiter von Sadie Jones.

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Mitfühlen – eine bloße Gefühlssache?

Die skizzierten Reaktionsmuster zeigen, dass Mitfühlen keineswegs ein wertneutraler, rein biologischer Reflex ist, sondern in hohem Maße von kultur- und sozialbedingten Kriterien abhängt, mit denen wir uns mehr oder weniger explizit identifizieren. 25 Es ist mithin kein ›universeller Trieb‹, der uns gleichsam blind angesichts der Leiden anderer ergreift, sondern es wird durch tradierte Wertungen sowie durch persönliche Meinungen und Vorlieben wachgerufen, gesteigert oder oftmals erheblich limitiert. Welche Durchschlagkraft den einzelnen Empathie mindernden Faktoren jeweils zukommt und wie sie ineinanderspielen, unterliegt einer hohen individuellen, milieuspezifischen und kulturellen Variabilität. Indem wir uns solche Mechanismen vor Augen führen, schaffen wir die Voraussetzung dafür, im Einzelfall von einer übergeordneten Warte aus darüber nachdenken zu können, ob uns leitende Wertungen und Vorlieben einer Berechtigungsprüfung standhalten oder sich – genauer besehen – eher als fragwürdig oder gar unvertretbar erweisen. Dies bedeutet: Sowohl das Ausbleiben einer anteilnehmenden Reaktion als auch ein überschwänglich ausagiertes Mitgefühl können (und sollten) zum Gegenstand klärender ethischer Reflexionen erhoben werden. In der Regel aber ist es so, dass Menschen, sofern sie anderen ihr Mitgefühl versagen oder es höchst ungleich verteilen, ungeprüft (moralische) Konventionen übernehmen. Sich auf Disziplin und Ordnung berufend wähnen viele sich zu rigorosen Sanktionen berechtigt, wobei auch Nahestehende gnadenlos traktiert werden. Starre Angepasstheit an moralische Vorschriften verhindert in vielen Fällen, dass widrige Alle wesentlichen Einflussfaktoren bei der Entstehung von Mitgefühl finden sich bereits in der Rhetorik des Aristoteles formuliert. Hier heißt es, Mitleid »sei definiert als eine Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not, die jemanden, der es nicht verdient, trifft, ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der unsrigen treffen könnte, und das ist besonders der Fall, wenn dieses nahe zu sein scheint.« (Aristoteles 1969, S. 100).

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Umstände oder persönliche Beweggründe mit Bedacht berücksichtigt werden. Für Mitgefühl besteht hier kein Raum. Werden Werte und Normen indes eher als allgemeine Leitlinien verstanden, die situationsbezogen genau gegeneinander abzuwägen und abzustufen sind, um ein adäquates Urteil zu bilden, so wird stets auch Einfühlung in die verschiedenen Akteure unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweils unterschiedlichen Betroffenheiten und Motivlagen benötigt. Auch bei gravierenden Normverletzungen gilt es herauszufinden, ob die ›Missetäterin‹ nicht möglicherweise aus nachvollziehbaren Beweggründen heraus handelte, ob sie sich nicht in einer Notlage befand oder ob sie nicht möglicherweise sogar einem höheren Zweck folgte. Eine mitfühlend-verstehende Herangehensweise zieht demnach die Einmaligkeit einer jeden existenziellen Herausforderung in Erwägung. Während moralische Rigidität eine Homogenisierung der menschlichen Belange verfolgt, eignet dem Mitgefühl – wie noch weiter erläutert werden soll – eine spezifisch flexible Differenzstruktur. Es begibt sich stets – zeitweilig – an den Ort des anderen, wobei sich im Durchlaufen unterschiedlicher Stufen der Einfühlung die Treffsicherheit des Nachvollzugs erhöhen mag. Über moralische Sorgsamkeit und anteilnehmende Sensibilität dieser Art wurde in vergangenen Zeiten oftmals die fragwürdige Enge etablierter, scheinbar selbstverständlicher Normen evident. So war Mitgefühl mit den Leiden derjenigen, die z. B. durch restriktive Geschlechternormen oder eine starre Sexualmoral in der Wahrnehmung ihrer Persönlichkeitsrechte behindert wurden, für das moralische Voranschreiten der Menschheit stets ein wesentlicher Faktor. Umgekehrt lässt sich sagen: Das Ausbleiben mitfühlender Reaktionen ist nicht selten Indiz für moralische Verbohrtheit und charakterliche Entwicklungsunfähigkeit. Der Indifferente ist derart stumpf in tradierten Denkmustern gefangen, dass er reflexartig jedes Aufkommen veränderter Sichtweisen abblockt. Dies wird dann gravierend, wenn die Un186 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Mitfühlen – eine bloße Gefühlssache?

barmherzigkeit seiner Entscheidungen und der Mangel seiner Wertschätzung nicht irgendeine Kleinigkeit betrifft, sondern die grundlegenden Lebensrechte anderer. Gleichwohl das Ausmaß des Mitfühlens davon abhängen mag, wie wir die Widerfahrnisse anderer Menschen im Einzelnen einschätzen und moralisch bewerten, so hängt die Frage, ob wir uns überhaupt mitfühlend mit der Lage anderer befassen, von unserem grundlegenden Willen zur Wertschätzung dieser Menschen ab. Wie gesagt tendiert diese Gewogenheit bei den meisten angesichts von Schwerstverbrechern, Sadisten oder Terroristen automatisch gegen Null, weil solche Täter ihrerseits die Lebensrechte anderer mit Füßen treten. Ein Entzug des Mitgefühls erfolgt hier üblicherweise aus tiefster Überzeugung, d. h. nicht implizit und unreflektiert, sondern in der Regel mit ausdrücklichen Begründungen. 26 Hier muss die Frage offen bleiben, ob es vertretbar ist, dass Extremtäter aus dem Kreis derjenigen verstoßen werden, denen (auch) mit Mitgefühl zu begegnen ist. Man kann also sagen: Konkretes Mitfühlen entfaltet seine jeweilige Amplitude nicht nur auf der Basis spezifischer Moralnormen (und anderer Faktoren), sondern es knüpft stets an das tragende Element aller Moralsysteme an: die Anerkennung (bestimmter) anderer als meinesgleichen bzw. als mir gleichwertig. Aus diesem fundamentalen Anerkennungsakt erwächst die Bereitschaft, mich vom Schicksal eines Gegenübers, das sich in anderer Lage befindet als ich selbst, berühren zu lassen (dies zuzulassen) bzw. mich sogar aktiv in seine Lage hineinzuversetzen. Dass stark divergierende Moralnormen hierbei hinderlich sind, ist ein offensichtlicher TatAnlässlich solcher Fälle wird in vielen Menschen die dunkle Seite der Gerechtigkeit aktiviert, die sich in diversen Facetten zeigt: von reaktiven Rachefeldzügen über Lynchjustiz bis zu einem exponentiellen Anwachsen der Zustimmungsraten für die Wiedereinführung der Todesstrafe. // Zur Psychologie der Vergeltung, siehe auch (Smith 2010, S. 99 f.) // (Nussbaum 2017) – Als literarisches Beispiel kann hier auch der Roman Nichts bleibt von Willi Achten dienen.

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bestand. Nachweislich bringen Menschen den Vertretern ihrer eigenen Gemeinschaft mehr Anteilnahme entgegen als Menschen, deren Wertesystem sie nicht kennen oder ablehnen. 27 Doch wie kann es sein, dass ein moralisch sozialisierter Mensch vollkommen teilnahmslos bleibt angesichts extremer Leiden anderer, die nicht seiner Bezugsgruppe angehören? Hierfür bietet die Geschichte unzählige traurige Beispiele. Wir können nicht umhin zu konstatieren, dass unter bestimmten Bedingungen auch zivilisierte Menschen jegliches Mitgefühl verlieren können. Die Ursachen und Hintergründe solcher Verhaltensweisen können hier nicht im Einzelnen ausgelotet werden. Erkennbar wird, dass hierarchische Strukturen, Obrigkeitsgläubigkeit sowie ein fragloser Konformismus maßgebliche Faktoren hierfür sind. 28 Um solchen Tendenzen, die derzeit wieder Schule machen, entgegenzuwirken, käme es deshalb darauf an, dass Menschen von klein auf Gelegenheit haben, ein mitfühlendes Urteilsvermögen einzuüben. Auf dem Lehrplan einer solchen Schule der Besonnenheit dürften Themen der menschlichen Emotionalität also nicht ausgespart werden, ebenso wäre Fragen zur Endlichkeit und Verletzlichkeit der menschlichen Existenz Raum zu gewähren. Auf diesen Wegen kann ein Bewusstsein für humane Umgangsweisen aufgebaut und kultiviert werden, wobei stets auf ein Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturzugehörigkeit zu achten wäre. Um zur Entfaltung und Ausreifung zu gelangen, benötigt Mitgefühl, wie schon David Hume und Adam Smith betonten, das menschliche Imaginationsvermögen. Das heißt: Der mitfühlende Impuls ist darauf angelegt, sich in das Welterleben eines anderen hineinzubegeben, und zwar getragen von Zu Untersuchungen, die die Bevorzugung der Ingroup und unbewusste Vorurteile gegenüber Fremdgruppen aufzeigen, siehe: (Bloom 2014, S. 145–158). 28 Siehe z. B.: (Nussbaum 2014, S. 290–301). 27

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Mitfühlen – eine bloße Gefühlssache?

dem Gedanken, dass Erfahrungsweisen grundlegend voneinander differieren. Nach diesem Verständnis zielt Mitgefühl darauf, den unmittelbaren Situationsrahmen zu überschreiten und den Radius der Überlegungen auf Nichtgewusstes, Unbekanntes und Fremdes auszudehnen. Es gehört gewissermaßen zu diesem Impuls – geleitet durch jene von Hume erkannte Kraft allgemeinmenschlicher Verbundenheit –, immer auch Unterschiede anzuerkennen und ihre Beschaffenheit genauer erkunden zu wollen. Aus der Differenzstruktur des Mitgefühls erwächst das Anliegen, das stets unbekannte Terrain des mir ähnlichen anderen aufsuchen zu wollen und dabei jedem vorschnellen Aneignungsverlangen zu widerstehen. Nur indem das Mitgefühl gleichsam in jeder konkreten Situation über den Horizont des unmittelbar Vorliegenden hinausgreift, vermag es die ihm nachgesagte ethische Wirkung zu entfalten und destruktive Gefühlsimpulse einzudämmen. Anders gesagt: Echtes Mitgefühl realisiert die Gleichwertigkeit des anderen über die Anerkennung des Fremdpsychischen in seiner jeweiligen Eigenheit. 29 Ich sehe, dass der andere tatsächlich ein anderer ist, getrennt von mir, so dass ich niemals mit Sicherheit wissen kann, was in diesem anderen vorgeht. Meine Imagination dieser Vorgänge darf aber nicht in Phantasterei münden, sondern sie ist auf kontinuierliche Überprüfung im Gespräch und Zusammensein angewiesen. Über Gefühle treten wir in vitale Verbindung zu anderen – doch wir erleben emotionale Einbettung trotz unserer Wesensverwandtschaft auf je einzigartige Weise. So können wir damit konfrontiert werden, dass nichts isolierender und verstörender wirkt als intensive emotionale Erfahrungen, z. B. chronische Schmerzerfahrungen oder tiefe see-

Die von mir suggerierte Zusammengehörigkeit von Mitgefühl und Ethik wird in der Philosophie kontrovers diskutiert. – Zu dieser Debatte, siehe: (Nussbaum 2008, S. 354–400) // (Merz 2013, S. 355).

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lische Trauer. 30 Das heißt: Gerade die spezifische Art unserer fühlenden Weltbezogenheit, die andere zwar sympathetisch wahrnehmen und zuordnen, aber nicht im eigentlichen Sinne teilen können, schneidet uns oftmals mehr als alles andere voneinander ab. Das bewusste Mitfühlen ist nun der Versuch, dieses Trennende auf verschiedenen Wegen zu bewältigen. Ich könnte auch sagen: Hier ist der Impuls, die Getrenntheit vom anderen – die letztendliche Unzugänglichkeit seines Erlebens – anzunehmen, um Isolation überwinden zu können. Offensichtlich wird an diesem Punkt, dass aktives Mitgefühl die denkerischen Anteile, die in allen Emotionen mitspielen, nachdrücklich und bewusst anzugehen hat. Dazu gehört das Bemühen, kulturspezifische Implikationen intuitiver Mitgefühlsregungen an uns selbst zu erkennen, d. h. auch das Eigene – mögliche Einseitigkeiten und blinde Flecken – kritisch zu bedenken. Echtes Mitgefühl ist tendenziell darauf ausgerichtet, die Grenzen moralischer Konventionen zu überschreiten. Um die bislang nur skizzierte Differenzstruktur ›echten‹ Mitgefühls präziser zu erfassen und gegen andere Formen des Mitfühlens abzugrenzen, nehme ich nun nachfolgend weitere begriffliche Unterscheidungen vor. Mitfühlen hat viele Facetten, ist vielfältig in seinen Erscheinungsweisen, wobei es in unterschiedlichem Ausmaß kognitiv fundiert ist. Emotionale Verbundenheit führt erst dann zur Verbesserung des sozialen Miteinanders, wenn ein gewisser Aufwand denkerischer Anstrengung Akzeptanz findet.

4. Eine Skala der Mitgefühle Ich möchte versuchen, wenigstens drei Ebenen emotionaler Bezogenheit etwas genauer zu unterscheiden. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, in welches sprachliche Dickicht 30

(Frede 2009, S. 69–89).

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Eine Skala der Mitgefühle

wir uns hier begeben, sei vorab das ganze zu diesem Bedeutungsfeld gehörende Bündel von Begriffen genannt: Resonanzfähigkeit, Gefühlsansteckung, Gefühlsübertragung, Mimikry, Imitation, Konfluenz, Einsfühlung, MiteinanderFühlen, participation mystique, dyadische Partizipation, altero-zentrierte Partizipation, Einleibung, leibliches Gespür, Takt, Einfühlung, Empathie, selektive Empathie, mutuelle Empathie, Sympathie, soziale Kognition, Mitleid, Mitfreude, Mitgefühl, Umfassung, Anteilnahme, Fürsorge, Echopraxie, Compassion Fatigue usw. – alle diese Begriffe bezeichnen Varianten der fühlenden Verbindung von Mensch zu Mensch. Aber, keine Sorge, ich werde nicht dazu übergehen, all diese verschiedenen Facetten Punkt für Punkt zu entschlüsseln. Das wäre ein äußerst mühsames und zeitraubendes Geschäft, zumal die bezeichneten Phänomene ineinandergreifen, sich teilweise überlappen bzw. verschiedenen philosophischen oder psychotherapeutischen Kontexten entnommen sind. Hinzu kommt: Nicht einmal die Verwendung desselben Begriffs erlaubt den Rückschluss darauf, dass auch dieselben Phänomene angesprochen werden. Diese Schwierigkeit wird sofort augenfällig, wenn man den Gebrauch der Kategorie ›Empathie‹ in verschiedenen Kontexten zu klären sucht. Wer hier Licht ins Dunkel bringen will, steht vor einer immensen Herausforderung, denn schnell zeigt sich, dass mit dieser Kategorie ganz verschiedene Formen sozialen Verstehens bezeichnet werden. Zweifellos ist Andreas Mayer zuzustimmen, der zu dem Fazit gelangt, dass »der Begriff der Empathie definitorisch in etwa so gut zu fassen ist wie Rauch mit Händen«. 31 Dabei sind die so genannten Spiegelneuronen, die heute in aller Munde sind, in meiner Auflistung noch ganz unberücksichtigt geblieben. Hierzu eine knappe Erklärung: Spiegelneuronen sind gewissermaßen der biologische Beweis dafür, (Mayer 2013, S. 110 u. S. 114 ff.). – Hier werden einige Konzepte von Empathie skizziert.

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dass Empathie oder besser Resonanzvermögen tief in der Architektur des menschlichen Gehirns verankert ist. Der Begriff bezeichnet eine Neuronentätigkeit, die der Italiener Giacomo Rizzolatti 1992 erstmals im Tierversuch nachwies. Entdeckt wurde Folgendes: Bestimmte Nervenzellen im Gehirn eines Affen feuerten nicht nur dann, wenn das betreffende Tier selbst nach einer Rosine griff, sondern auch dann, wenn es einen Artgenossen bei derselben Tätigkeit beobachtete. Vergleichbare Vorgänge konnte man bald auch im menschlichen Gehirn nachweisen. 32 Wie schon gesagt: Wir lernen am besten durch einfühlende Beobachtung und Nachahmung. Vor allem die Motorik des Lehrenden und anschauliche Demonstrationen regen alle Sinne des Schülers an, wecken sein Interesse und stimulieren die Lust auf Nachvollzug und Imitation. Bildhaftigkeit und Vorführung aktivieren unsere Spiegelneuronen und öffnen damit die Tür »zwischen dem Gehirn eines Lehrers und dem seiner Schüler«. 33 Zu großen Teilen verlaufen diese zwischenmenschlichen Übertragungsprozesse allerdings unmerklich und unbewusst. Unsere angeborene leiblich-sinnliche Empfänglichkeit spielt dabei eine maßgebliche Rolle. Um die begriffliche Konfusion immerhin ein wenig einzudämmen, werde ich im Folgenden drei Hauptkategorien unterscheiden, 34 wobei es im Blick auf unser Thema ›Besonnenheit‹ m. E. vornehmlich bedeutsam ist, die Kategorie des echten Mitgefühls noch präziser auszubuchstabieren. In diesem Zusammenhang stoßen wir unausweichlich auf die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Einanderverstehens. Diese gilt es zu vertiefen, denn die sich darüber er-

Einen knappen instruktiven Einblick in dieses Thema bieten: (Keysers 2013, Kap. 1–3) // (Plüss 2010, S. 31–37). 33 (Keysers 2013, S. 78). 34 Zu verschiedenen altersbezogenen Abstufungen von Empathie, siehe insbes.: (Hoffmann 2000). 32

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gebenden Einsichten und Klärungen sind wesentlich für ethische und politische Orientierung. Mein Plädoyer für Besonnenheit steht, wie inzwischen klar geworden sein sollte, im Zeichen ethischer Auffassungen, die Emotionen eine Schrittmacherfunktion bei der Ausformung eines moralischen Standpunktes zuweisen. Was eine Person (ein Kind) betroffen macht und innerlich berührt, darüber denkt sie (es) nach. Gegen die Annahme gerichtet, dass moralische Kompetenz einzig aus Denken hervorgehe, betont die Psychologin Helen Weinrich-Haste, »daß das anfängliche Engagement in der Situation affektiver Natur ist und daß das diese Affekte reflektierende Denken die Wahrnehmung der individuellen Verantwortlichkeit und der Legitimität des moralischen Standpunktes bestimmt«. 35 Moralische Argumentationen vollziehen sich nicht losgelöst von affektiven Wertsetzungen, die Menschen ad hoc unablässig vornehmen. Folglich kommt es darauf an, dass die schon früh nachweisbare Wertschätzung anderer Personen (zunächst der Bezugspersonen) nicht nur erhalten bleibt, sondern dass sie darüber hinaus im Klima aufgeschlossener Kommunikation zu einem expliziten Verständnis von Gegenseitigkeit und wechselseitiger Anerkennung ausreifen kann. Seit den 1970er Jahren ist in der entwicklungspsychologischen und pädagogischen Forschung eine Wiederentdeckung der Bedeutung von Affekten und Empathie für moralische Verhaltensweisen zu erkennen. Zahlreiche empirische Studien erbrachten Belege für eine intrinsische moralische Motivation des Kindes, das lange bevor es sein Empfinden begründen kann, moralischen Intuitionen folgt, wobei zudem ersichtlich wird, dass ein Kind schon etwa im Alter von zwei/drei Jahren zwischen Moral und Konvention zu unter(Weinrich-Haste 1986, S. 402). – Weinrich-Haste entfaltet diesen Gedanken in kritischer Abgrenzung gegenüber der kognitivistischen Ausrichtung des Kohlberg-Modells.

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scheiden weiß. So verweist Jerome Kagan neben vielen anderen auf eine ursprünglich gegebene, intuitive Grundlage für moralische Unterscheidungen: »Das Kind braucht nicht zu lernen, daß es böse ist, anderen weh zu tun – diese Einsicht kommt mit seiner moralischen Entwicklung von selbst.« 36 Dabei liege das Kriterium für die Trennung von Gut und Böse in Schmerzerfahrungen, die das Wohlergehen mindern und durch Empathie auch an anderen wahrgenommen werden können. 37 Über die daraus hervorgehenden fürsorglichen Regungen hinaus zeigen Kleinkinder außerdem ein frühes Verständnis von Gerechtigkeit. »Wir sind von Natur aus Verfechter des Egalitarismus«, 38 bilanziert der Entwicklungspsychologe Paul Bloom. Er gibt allerdings auch den Hinweis, dass Gerechtigkeitsimpulse sich dann besonders vehement zeigen, wenn ein Kind sich selbst als anderen gegenüber benachteiligt wahrnimmt. 39 Die nun vorzustellenden, systematisch unterscheidbaren Abstufungen des Mitfühlens korrespondieren bestimmten Stadien in der menschlichen Entwicklung. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass auf höherem, kognitiv differenzierterem Level vorherige Erlebensweisen nicht einfach überwunden sind, sondern auch weiterhin als wichtige Bestandteile der Welterschließung aktiv bleiben. Auch der erwachsene Mensch kennt verschiedene Ausdrucksformen des Mitfühlens. Ob sich die intuitiv-empathischen Anlagen erhalten bzw. zu einer nuancierten moralwertigen Fähigkeit des Mitfühlens weiterentwickeln, hängt, wie zu zeigen ist, insbesondere von der frühkindlichen Situation und weiteren pädagogischen Einflüssen ab. Insofern die erzieherische Situation selbst ein Ort moralischer Erfahrungen ist, kann sie das Kind in beson(Kagan 1987, S. 185). Siehe hierzu: (Herzog 1991). 38 (Bloom 2014, S. 83). – Siehe hierzu insgesamt: (Ebd., S. 77–124) // (Nichols 2002, S. 435). 39 (Bloom 2014, S. 101) // (Gopnik 2009, S. 233–268). 36 37

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derer Weise in der Entfaltung emotional-moralischer Potentiale unterstützen. Das heißt aufs Ganze gesehen: Weder muss Moral der amoralischen Natur des Menschen aufgezwungen werden, noch realisiert sich der menschliche Hang zum Guten gleichsam wie von selbst.

A. Resonanz und Nachahmung Ein dem Menschen angeborenes Resonanzvermögen bildet die elementare naturgegebene Basis allen Mitfühlens. Unzählige Experimente der vergangenen Jahrzehnte belegen, dass Babys von Geburt an das Verhalten anderer nachahmen und sich responsiv zum wahrgenommenen Gefühlsausdruck ihres Gegenübers verhalten. Eigene Fühlereignisse erfährt und bestimmt schon der Säugling gleichsam im Spiegel der anderen, mit denen er mimisch, gestisch und lautsprachlich in unmittelbare Korrespondenzen tritt. 40 Diese leiblichen Spontanverbindungen sind biologisch fundiert, erfahren aber im Zuge konkreter Interaktionen eine jeweils spezifische Ausprägung: Aus dieser frühen individuellen Erfahrungsgeschichte entwickeln sich allmählich habituelle Fähigkeiten, die einen spezifischen »Aufmerksamkeitsstil des Leibes« hervorbringen. 41 Darüber hinaus erhält ein Kind – heranwachsend – Begriffsangebote für das ihm innerlich und äußerlich Studien zum Imitationsverhalten von Säuglingen belegen diese unmittelbaren leiblichen Korrespondenzen. Siehe: (Meltzoff u. Moore 1989) u. (Meltzhoff 2009). – In beeindruckender Weise spürt der amerikanische Babyforscher Daniel N. Stern auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Frühentwicklung der Erlebenswelt des Kleinkindes bis zum 4. Lebensjahr nach. – (Stern 1991). 41 Siehe hierzu vor allem: (Wehrle 2013). – Wehrle legt überzeugend dar, dass auch »das phänomenologische Leibsein im Leben eines erwachsenen Menschen« niemals in reiner Form vorkommt, sondern »immer in Verbindung mit personalem (d. h. explizitem, thematischem und sprachlichem) Sein« steht. (Ebd., S. 230). 40

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Zustoßende und eignet sich im Zuge dessen unbewusst gängige Verhaltensmuster und praktische Normen an. Solchermaßen erwirbt ein Kind über Interaktionen ein soziales Knowhow, welches sein Leben fortan begleitet, sich dabei unablässig verfeinert und durch immer komplexere Strategien des Verstehens ergänzt und erweitert wird. In all dem ist der Widerhall konstanter und vertrauter Bezugspersonen ungemein wichtig. Nur so – über Stetigkeit und Verlässlichkeit – kann das Kind nach und nach einen strukturierten Wirklichkeitsbezug aufbauen, eine Sprache für sich selbst finden und seine Anlagen entfalten. Wie das Schicksal rumänischer Waisenkinder vor einigen Jahrzehnten augenfällig machte, hat ein Mangel an emotionaler Fürsorge gravierende, oft unrevidierbare Folgen. Er lässt Babys verkümmern und gefährdet im Extremfall sogar ihr Leben. 42 Es ist also keineswegs kindisches Getue, wenn wir mit unseren Babys brabbeln, Fratzen schneiden, die Zunge rausstrecken und ähnliches betreiben. Wir folgen damit natürlichen Impulsen, schaffen quasi instinktiv eine Atmosphäre emotionaler Rhythmen, Klangfarben und Wechselspiele, welche ein Kind für sein Gedeihen unbedingt benötigt. Setzt diese Interaktion aus, so reagieren Babys hochgradig gestresst, geraten in Panik oder werden wütend, bis sie schließlich in Apathie verfallen. 43 Durch diesen frühen Austausch, in dem Berührung und Angeblicktwerden die bedeutsamsten Ereignisse sind, erlebt und erlernt ein Säugling die intensive Welt des nahen Kontaktes, woraus letztlich seine Fähigkeit zu vertrauensvollen Hierzu siehe u. a.: (Brinck 2012) // (Bloom 2014, S. 191 ff.) // (Gopnik 2009, S. 206 ff.) // (Keysers 2013, S. 64 ff.) // (de Waal 2011, S. 127– 130). // Der Haptikexperte Martin Grunwald betont, dass das Fehlen insbesondere von Berührungsinteraktion im Säuglingsalter sogar den Tod herbeiführen kann. Siehe: (Grunwald 2018, S. 47). 43 (Schlicht 2013, S. 70–73). // Entscheidende Studien hierzu, die sogenannten »Still-face-Experimente«, führte Colwyn Trevarthen durch. Siehe: (Trevarthen 1979). // Hierzu auch: (Bauer 2007, S. 62). 42

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Beziehungen und Mitgefühl hervorgeht. In einem Raum des Zwischen vollziehen sich gleichsam Stufe um Stufe Einbettungen in intersubjektive und überpersonale Strukturen. Von einer Welt der Atmosphären und Gefühlszyklen, in der erste Eindrücke und Erfahrungen verankert werden, über nuancenreiche Zwiegespräche und die Entdeckung gemeinsamer Bilderwelten bis hinein in das Reich der Wortbedeutungen und erfundenen Geschichten wird die Erfahrungswelt des Kindes zunehmend differenziert und mannigfaltig, wobei keine der vorausgegangenen Stufen jemals vollständig in Vergessenheit gerät. 44 Die in den aufeinander folgenden Phasen der Interaktion angeeigneten Wirklichkeitsformen bilden dabei gewissermaßen ein eigenständiges drittes Element, das fortan bestimmend und regulierend auf das Leben des Kindes zurückwirkt. 45 Gemäß dem mehrfach erwähnten Erziehungswissenschaftler Walter Herzog wird in dieser frühen Phase interaktiver Resonanzen gleichsam auch ein Grundstein für die zukünftige Erziehungsfähigkeit des Kindes gelegt. Insofern die Mutter sich als aktiv gestaltender Part in die Bedürfnisbefriedigung des Säuglings einbringe, konstituiere sich im Wechselspiel der Perspektiven schon bald ein personales Verhältnis der Gegenseitigkeit, in dem sich beide als gleichwertige Partner erkennen und anerkennen. Gelinge diese Beziehung »minimale(r) Egalität«, so könne sich auf diesem (Stern 1991, S. 15–19). – Siehe hierzu auch (Korte 2017). – Hier heißt es z. B. im Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung: »Je mehr Eltern sich mit ihrem Nachwuchs über Erlebnisse austauschen, umso schneller entwickeln Kinder ein autobiografisches Gedächtnis. Das bedeutet aber auch: Einen Teil unserer Identität in Form eines autobiografischen Gedächtnisses erwerben wir erst, wenn wir auch tatsächlich über unsere Lebensereignisse berichten (können).« (Ebd., S. 47). 45 Nach Stern entsprechen die Entwicklungsstufen »einem genetisch vorprogrammierten Ablaufmuster«, wobei die konkrete Entfaltung dieser Potentiale des menschlichen Geistes von den Bedingungen des jeweiligen Umfeldes abhängen. – (Stern 1991, S. 137). 44

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Fundament weiterführend die asymmetrische (ungleiche), dann im eigentlichen Sinne pädagogische Beziehung errichten: »Die Erziehung ist eingebettet in ein personales Verhältnis, das tiefer liegt und bereits funktionieren muß, wenn das erzieherische Handeln einsetzen soll.« 46 Dieser von Anbeginn leitende Gleichwertigkeitsimpuls müsse auch fortan die – vom Wissens- und Erfahrungsvorsprung der Pädagogin regulierten – ungleichen Lernsituationen mitbestimmen. Alles müsse darauf angelegt sein, die Überlegenheit der Erzieherin niemals zu missbrauchen, sondern sukzessive abzubauen, um das Kind schließlich zu einem gleichwertigen und kompetenten Akteur werden zu lassen. 47 Es liegt auf der Hand, dass es hier um nicht mehr und nicht weniger geht als um Einfühlsamkeit, Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der Erziehungsperson. Über diese früh zu erbringende bedingungslose Zugewandtheit hinaus kommt es auch in der Folgezeit darauf an, dass Erwachsene das kindliche Vertrauen stärken, indem gegebene Versprechen und Zusagen eingehalten und keinesfalls leichthin aus Bequemlichkeit oder unter dem Einfluss von Stress aufgekündigt werden. Wie, wenn nicht durch liebevolle Zuwen-

(Herzog 1991, S. 46). – Siehe insges.: (Ebd., S. 46–55). Herzog betont, dass es in den ersten beiden Lebensjahren vorwiegend auf dyadische Beziehungserfahrungen mit verlässlichen und zugewandten Bezugspersonen ankommt, also auf konstante Begegnungen mit primär einem Gegenüber. In dieser Phase werden die psychischen Voraussetzungen für vertrauensvolle Du-Bindungen geschaffen, die für spätere pädagogische Einflussmöglichkeiten (z. B. hinsichtlich der Ausformung von Konzentrationsvermögen und Impulssteuerung) maßgeblich sind. – Siehe hierzu auch: (Nitschke 1962, S. 10–18) sowie (Bauer 2015): Bauer, der in einer nicht hinreichenden Frühbetreuung »die Rückkehr zu einer neuen Art von Schwarzer Pädagogik« erblickt, erläutert dieses Thema auch im Blick auf ein dringend notwendiges Bundesgesetz für Kitas. (Ebd., S. 63 ff.). 47 Siehe hierzu: Abschnitt: V. 3. // Zur Bedeutsamkeit der dyadischen Situation, siehe auch (Bauer 2015, S. 47 ff.). 46

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dung verlässlicher Bezugspersonen, soll ein Kind Bereitschaft und Zuversicht entwickeln, um Pläne zu schmieden und mit langem Atem auch entfernte Ziele anzusteuern? Gefühlsübertragungen durch Resonanz finden allerdings in allen Lebensphasen statt. Menschen jeder Altersstufe werden unwillkürlich von Atmosphären, Stimmungen sowie den Launen und Gefühlslagen anderer Lebewesen angesteckt. Auch sie imitieren – zumeist eher unbewusst und instinktiv – Körperhaltung, Motorik und Mimik ihres Gegenübers, gähnen, lachen und weinen mit ihm, erwidern spontan ein Lächeln oder quittieren Angriffe mit Gegenaggression. 48 Alles dies sind ganz gewöhnliche Reflexe. Häufig ist es sogar so, dass Menschen begierig nach derartigen Zuständen des emotionalen Gleichklangs verlangen. Viele tauchen erwartungsvoll in große Menschenmengen ein, um – mit anderen vereint – von einer positiven Stimmungsglocke umschlossen zu werden – bei Festivals etwa oder bei Gemeinschaftsaktivitäten wie Chorsingen und Tanz, aber auch beim so beliebten Public Viewing oder im Stadion, wenn die Vereinshymne begeistert im Block geschmettert wird. 49 Dann kann es leicht passieren, dass wir plötzlich in den Armen eines Wildfremden das Siegestor unserer Lieblingsmannschaft bejubeln. Je nachdem kann es bei solchen Anlässen zu einem außerordentlichen Erleben von Einsfühlung bis hin zu temporären Gefühlen ›mystischer‹ Verschmelzung mit anderen kommen.

Die unbewusste Nachahmung beobachteter Gesichtsausdrücke ist in Studien nachgewiesen. Siehe z. B.: (Dimberg u. Petterson 2000). – Wie bedeutsam insbesondere das Angeblicktwerden für unser Menschsein ist, zeigt eindrucksvoll die Performance-Künstlerin Marina Abramović. Siehe: (Abramović 2010). – Zum Thema ›Gefühlsansteckung‹, siehe auch: Abschnitt 5, D. 49 Weiterführende begriffliche Differenzierungen der Resonanzphänomene – Gefühlsansteckung, Miteinanderfühlen bis hin zur Einsfühlung – finden sich bei Scheler. Siehe: (Scheler 1985, S. 19–48). 48

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

Kennzeichnend für diese Ebene emotionaler Verbundenheit ist das vorübergehende Vergessen oder wenigstens doch Zurückdrängen aller Unterschiede, die zwischen Menschen üblicherweise bestehen. Dies ist möglich, da es eine Reihe von Grundaffekten gibt, die wir miteinander teilen, ganz unabhängig von sozialer und kultureller Verschiedenheit. 50 Wir haben offensichtlich diesen starken Wunsch nach Gemeinschaftserleben und Aufgehobensein in anderen, und es hat den Anschein, dass gerade diese Dimension des Mitfühlens innerhalb der Gegenwartsgesellschaft besonders wichtig geworden ist. Warum? Darüber sollten wir noch nachdenken. Ebenso zentral ist es, an Hand von Beispielen politischer Emotionalisierung, destruktiver Massenhysterie und aggressiver Kampagnen im Netz über die Schattenseiten dieser Gefühlslagen aufzuklären. Die Aneignung basalen sozialen ›Wissens‹ durch Resonanz ist auf unmittelbare leibliche Präsenz anderer angewiesen. Sie entspringt dem expressiven Ganzen zwischenleiblicher Kommunikation, 51 in der spontane und unwillkürliche Gefühlsübertragungen erfolgen, ohne dass dem Bewusstsein hier eine vermittelnde Aufgabe zufiele. Diese präreflexive Wechselseitigkeit im Ineinanderwirken von Ausdruck und Eindruck bleibt in allen Lebensphasen bestehen. Führt man sich nochmals vor Augen, wie unmerklich und unwillkürlich implizit ›verabreichte‹ Grundstimmungen, Wertakzente und Normierungen Einfluss darauf nehmen, ob und auf welche Weise wir von der Welt und von anderen Lebewesen betroffen werden, so wird man sich von der Vorstellung eines unAllerdings lassen sich gerade im Kulturvergleich deutliche Unterschiede im Hinblick auf das Ausagieren dieser Grundaffekte bemerken. Auch die auslösenden Momente für ein gesteigertes Gemeinschaftserleben über Gefühlsansteckung unterliegen der kulturellen, ebenso auch der milieuspezifischen Varianz. 51 Zum Konzept der Zwischenleiblichkeit als spezielle Form von Intersubjektivität, siehe u. a.: (Merleau-Ponty 1966 u.1994); (Waldenfels 2000). 50

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abhängigen, ›vorurteilsfrei‹ reflektierenden Subjektes verabschieden müssen. Alle Bemühungen um einen distanzierten Blick sind deshalb als nachträgliche Versuche anzusehen, den Betroffenheitsmodus unmittelbarer Reaktionsweisen wenigstens ein Stück weit hinter sich zu lassen. Doch lange bevor wir einen erhabenen Betrachterstandort erklimmen können, haben wir uns bereits unbewusste Strategien angeeignet, mit den Gefühlsbotschaften anderer und dem Erblicktwerden durch sie zurechtzukommen. Wir leben, wie schon gesagt, ein Vermächtnis, sind Träger einer »sedimentierten Geschichte«, d. h., in jeder aktuellen Situation steuern uns »unexplizit gebliebene Erfahrungen« 52 – schon auf der Ebene unmittelbarer leiblich-sinnlicher Welterschließung. Die Habitualität unseres Leibseins bestimmt die Art und Weise, wie wir unseren Körper leben, ihn betrachten und (mit den Augen anderer) beurteilen. 53 Kurzum: Auf keiner Ebene unseres Seins agieren wir als rein biologische Wesen, sozusagen in einem Jenseits historischer und normativer Prägungen. Wie umfassend diese Inkorporationen und unbewussten Schemata thematisiert und damit bewusst gemacht werden können, muss zudem letztlich eine unlösbare Frage bleiben. Dass derartige Klärungen in hohem Maße möglich sind, zeigt insbesondere die in den letzten Jahrzehnten intensivierte Erforschung des Geschlechtskörpers bis hinein in die unmittelbare leibliche Selbstwahrnehmung. 54 Nehmen wir das intersubjektive Geschehen auch in späteren Lebensjahren in den Blick, so ergibt sich: Durch unsere fortbestehende Fähigkeit, emotional mitschwingend auf einen anderen zu reagieren, wird etwas an diesem ›erkennbar‹, dennoch wird er uns auf diese Weise niemals wirklich (Merleau-Ponty 1966, S. 450). // Siehe auch: (Korte 2017, Kap. 2). Eine genaue Differenzierung zwischen Leibsein und Körperhaben muss hier ausgespart bleiben. Vertiefend, siehe hierzu: (Böhme 2003) // (Gahlings 2006 u. 2018) // (Wehrle 2013). 54 Siehe u. a.: (Butler 1997); (Gahlings 2006); (Duden 1991). 52 53

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zugänglich oder gar durchsichtig. So mögen wir aufgrund unserer Naturähnlichkeit zwar noch recht gut mittels Gefühlsansteckung die emotionale Befindlichkeit einer anderen Person erfassen – nur in seltenen Fällen bleibt das innere Erleben anderer komplett gegen unsere Wahrnehmung abgeschirmt –, aber wir können weder die genaue Qualität seines Erlebens ermessen, noch unterrichtet uns emotionale Resonanz über die Hintergründe und Motive seiner Gefühlsverfassung. So hilfreich leiblich fundierte Resonanz auch für das Verstehen anderer sein mag, so sehr müssen sich darauf zurückgreifende Verfahren – z. B. das der gezielten Spiegelung – dennoch der Differenzen bewusst sein, die das emotionale Erleben durchziehen. Wird die Emotion des anderen nicht nach Maßgabe seines – von meinem verschiedenen – Befindens erkundet, so sind Fehleinschätzungen zu erwarten. Direkte Wahrnehmungen des Fremdpsychischen sind nicht möglich, auch wenn Resonanzerfahrungen uns dies suggerieren mögen. Selbst in Momenten höchster Anteilnahme fühlen wir niemals dasselbe wie unser Gegenüber, sondern haben reaktive eigene Emotionen, erinnern uns vielleicht an Vergleichbares in unserem eigenen Leben, aktivieren – etwa durch ein Mitvollziehen seiner Ausdrucksbewegungen – unsere Vorstellung vom Schmerz des anderen. Solche nachahmenden Imaginationen evozieren möglicherweise Co-Empfindungen, aber diese entsprechen keinesfalls dem, was dem akut Leidenden widerfährt. 55 Wir bleiben immer in der Möglichkeitsform: Es könnte lediglich so sein, dass der andere so empfindet, wie wir vermuten. Eine genaue Kenntnis haben wir auch in der intensivierten Imagination immer nur von unseren eigenen Gefühlen. Deshalb erteilt Dass wir darum wissen, im Mitfühlen nicht dasselbe zu fühlen wie ein anderer – insbesondere nicht in Bezug auf physische Schmerzen, veranschaulicht Bernhard Groethuysen mit folgenden Worten: »Wir wüssten auch wirklich nicht, was es heißen sollte, ich habe Zahnschmerzen darüber, dass du Zahnschmerzen hast.« (Groethuysen 1904, S. 263 f.).

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uns Resonanz lediglich wichtige Aufschlüsse über die emotionalen ›Grundmotive‹ eines anderen, sie zeigt uns damit eine Richtung an, in die wir aufbrechen müssen. Wollen wir indes mehr über die Gesamtheit seiner Person in Erfahrung bringen, so müssen wir weitaus kompliziertere Wege beschreiten.

B. Empathie Betrachten wir also weitere Varianten des sozialen Fühlens. Sofern von Empathie oder Mitgefühl die Rede ist, verlassen wir die Ebene bloßer Gefühlsübertragungen. Hier fallen nun stärker diejenigen Elemente ins Gewicht, die Menschen voneinander unterscheiden. 56 Deshalb ist Empathie auch abhängig von der kognitiven Fähigkeit zur Perspektivübernahme, die sich erst etwa im Alter von vier Jahren ausgebildet hat. 57 Zur wissenschaftlichen Debatte um Resonanzphänomene und Empathie, siehe: (Stueber 2017). – Hier werden Resonanzphänomene als elementare Empathie (basic empathy) bezeichnet und gegen den Bereich der nachvollziehbaren Empathie (reenactive empathy), die durch gedankliches Hineinversetzen in andere erfolgt, unterschieden. – (Ebd., S. 27). // Siehe auch: (Stueber 2006). – In Korrelation dazu wurden in jüngster Zeit zwei neuronale Netzwerke entdeckt – das ›Spiegelneuronen-System‹ und das ›Gedankenlese-Netzwerk‹. Siehe hierzu: (Schlicht 2013, S. 52–54). – Jedem gedanklichen Verstehen eines ›Anderen‹ geht Resonanz als fühlendes, wechselseitiges Involviertsein (als Immerschon-etwas-verstanden-haben) voraus. Dieser interaktionistischen Auffassung des Fremdverstehens treten in der sogenannten Theorieof-mind-Debatte zwei weitere Ansätze gegenüber: zum einen die Simulationstheorie und zum anderen die Theorie-Theorie. Diese beiden Ansätze treten zwar als Opponenten auf, weisen aber dennoch die Gemeinsamkeit auf, dass sie von Subjekten als unabhängigen Entitäten ausgehen. Insofern der dem Verstehen vorgängige fühlende Bezug grundlegend verkannt wird, wird beiden Ansätzen von Seiten der Interaktionisten zu Recht ein methodologischer Solipsismus vorgeworfen. – Siehe: (Schlicht 2013). 57 (De Waal 2011, S. 127 ff.). – Andere Forscher behaupten, dass Klein56

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Erst allmählich vermag ein Kind zu begreifen, dass es in Bezug auf eine gemeinsame Situation unterschiedliche Wissensvoraussetzungen geben kann. Sobald ihm dies bewusst und verständlich wird, vermag es sich allmählich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen. Mehr und mehr realisierend, dass dessen Erfahrung eine andere ist, kann es sich – mittels Imagination – versuchsweise an dessen Stelle begeben. Sein sich erweiterndes Vorstellungsvermögen erlaubt es ihm schließlich auch, zusätzliche Kenntnisse über andere Menschen oder spezielles Wissen über diesen einen – z. B. wichtige Vorfälle aus dessen Leben – in den Prozess des Nachfühlens einzubeziehen. Mehr von der Welt zu verstehen, beginnt ein Kind vor allem dann, wenn ihm – über die dyadische Interaktion mit Bezugspersonen hinaus – durch Märchen und Narrationen vielfältige Einblicke in die Gedanken- und Erlebenswelt anderer Lebewesen gewährt werden. Dem Geschichtenerzählen kommt deshalb gerade in der Kindheit eine hohe Bedeutung bei der Herausbildung alltagspsychologischen Wissens und des dazugehörigen Vokabulars zu. 58 Empathie trägt diesem Tatbestand der Verschiedenheit Rechnung. Hiermit wird die Fähigkeit bezeichnet, die besondere Perspektive eines anderen einzunehmen und seine Sicht auf die Dinge nachzuvollziehen bzw. dies anzustrengen. Empathie setzt also voraus, zwischen mir selbst und diesem anderen genau unterscheiden zu können. In der alltäglichen Interaktion erfolgt dieses Hinübergehen zum Standort des kinder schon ab ca. 15 Monaten Ansätze eines solchen Verständnisses zeigen, siehe: (Onishi u. Baillargeon 2005). // Zu Übergangsstufen, siehe auch: (Tomasello 2002). – Hier wird die sogenannte »Neun-MonatsRevolution« thematisiert. Auch Hoffmann setzt in der kindlichen Entwicklung eine Zwischenstufe der »egozentrischen Empathie an«, auf der das Kind sich bereits der intersubjektiven Differenz bewusst ist, aber noch keinen Perspektivwechsel vornehmen kann. – Siehe hierzu: (Breyer 2013, S. 31/32). 58 Siehe: (Schlicht 2013, S. 65).

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anderen in der Regel ganz unwillkürlich, indem wir ohne besonderen Aufwand in den Gesichtern und Gebärden anderer lesen und mit Hilfe von Zusatzkenntnissen zu Annahmen über ihre Gedanken und Absichten gelangen, die sich im Anschluss als mehr oder weniger zutreffend erweisen. In vielen Kontexten gelingt es uns scheinbar ohne große Schwierigkeit, über ein ganz müheloses Hineinversetzen in andere Verständigungen herbeizuführen. Doch trotz dieses vordergründigen Funktionierens gilt für das empathische Geschehen: Ein jeder hat eigene Erfahrungen und Kenntnisse, eine eigene Geschichte; seine Interessen und Wünsche weichen deshalb oft erheblich von denen seiner Mitmenschen ab. So lassen sich zwar innerhalb eines Kulturkreises durchaus viele Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen mit anderen finden, doch die jeweils spezifische Perspektive auf die Wirklichkeit wie auch die genaue Beschaffenheit des emotionalen Erlebens bleiben – wie schon umrissen – dennoch jeweils einzigartig. Auch wenn Personen auf dieselben Gefühlsbegriffe zurückgreifen, ist davon auszugehen, dass sich ein jeweils individuell variierendes Empfinden dahinter verbirgt. Ebenso werden Menschen in Abhängigkeit von ihrer persönlichen Biografie den Stellenwert einer bestimmten Emotion ganz unterschiedlich veranschlagen. Das heißt: Verschiedene Gefühlslagen sind auf je einmalige Weise in die Lebens- und Gedankenwelt einer Person verwoben, sie wandeln, verschieben und überbieten sich zudem unablässig in der Abfolge einzelner Situationen. 59 Begleiten sich Menschen für längere Zeit auf ihrer Lebensbahn, verbringen sie beispielsweise in der Jugend wegweisende Perioden miteinander, so konfigurieren sich Atmosphären der Intimität und Vertrautheit, die auch nach langen TrennungsZur wissenschaftlichen und philosophischen Debatte, siehe u. a.: (Michel 2011) // (James 1994, S. 159 ff.). // Zur interexistenziellen Übertragbarkeit von Schmerz, siehe: (Hähnel 2015, S. 42 ff.). // Aus neurophysiologischer Sicht, siehe (Roth 2007, S. 270 ff.).

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phasen den Eindruck wortlosen Verstehens erlauben. Doch auch diese Sonderfälle menschlicher Verbundenheit ändern nichts daran, dass die inwendigen Landschaften von unermesslicher Vielfalt sind. Gleichwohl wir quasi wie durch vibrierende Drähte unlöslich miteinander verbunden bleiben, gleichwohl wir uns intuitiv aufeinander abstimmen und einstellen können, gleichwohl wir einander unbewusst nachahmen oder uns blindlings in kollektive Irrtümer stürzen, gleichwohl wir einen geteilten ›Lebensgeruch‹ durch die Jahre mitschleppen, die Verschiedenartigkeit lastet unverrückbar auf uns. Deshalb kann man sagen: Es trifft zwar gewiss zu, dass wir von Natur aus dazu begabt sind, die Gefühle und Absichten anderer intuitiv zu erfassen. Das ist gewissermaßen unser evolutionäres Erbe. Doch dieser Befund relativiert sich erheblich, wenn man sich die komplexen, uneinheitlichen Erfahrungsräume innerhalb moderner Gesellschaften vor Augen führt. Nehmen wir dann noch das Spektrum kultureller Differenzen hinzu, so können wir kaum ernsthaft unterstellen, das Innenleben anderer leichthin begreifen zu können. Meistens sind wir deshalb auf Mutmaßungen angewiesen, falls wir nicht sogleich zum bereitwilligen Opfer unserer Phantasien, Projektionen, Vorurteile und Ressentiments werden. Die sozialen Grundlagen der menschlichen Natur sind absolut keine Selbstläufer. Die Forschung zeigt, dass das unmittelbare Hineinfühlen in andere sowie auch spontane Gerechtigkeitsimpulse sich zunächst auf das vertraute Umfeld beschränken und selbst hier von bestimmten Voraussetzungen abhängen. Sollen die altruistischen Potentiale des Menschen sich entfalten und ihren Radius erweitern, bedarf es tatkräftiger pädagogischer Unterstützung. Erst so entwickelt sich allmählich auch das uns evolutionär mitgegebene Potential zu Selbstlenkung und -kontrolle. 60 Besonders gut lassen sich diese Erfahrungsweisen in Gruppen einüben, die zuneh60

Siehe hierzu: (Bloom, 2014) // (Bauer 2015, S. 16 ff. bzw. S. 40 ff.).

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mend miteinander vertraut werden. Durch den freimütigen Austausch über Unterschiede und Gemeinsamkeiten lernt ein junger Mensch zum einen, angstfrei einen Fokus auf sein inneres Erleben zu legen, so dass er sich in seiner Besonderheit klarer zu erkennen vermag. Dabei sind kulturell durchmischte Gruppen besonders geeignet, um auch angesichts markanter Unterschiede einen rücksichts- und respektvollen Umgang einzuüben. Empathie verlangt demnach, gezielt das Augenmerk auf trennende Faktoren zu legen, um Differenzen und Gemeinsamkeiten sorgsamer ausmachen zu können. Das heißt: Ich versuche mich aktiv in das Erleben oder die Wahrnehmung des anderen einzufühlen, geleitet von der Annahme, dass ich momentan weder seine Verfassung teile noch seine Perspektive auf die Wirklichkeit genauer kenne. Zugleich schwingt sein Erleben gewissermaßen in mir nach. Aufgrund eigener Gefühlserfahrungen glaube ich ungefähr erahnen zu können, wie es gerade in meinem Gegenüber aussehen mag. Doch je nachdem kann das, was ich selbst mitbringe, meinen Blick auch erheblich verstellen. Dann schließe ich – mich selbst in die Lage des anderen versetzend – blind von mir auf ihn und werde ihm gerade dadurch nicht gerecht. Abhängig von meinen Vorkenntnissen über ihn wähne ich mich vielleicht begabt, seine Emotionen gut lesen und nachvollziehen zu können. Doch wir alle wissen, wie schädlich sich die Überzeugung, einen anderen Menschen durch und durch zu kennen (z. B. in Paarbeziehungen), auswirken kann. Auch die Reibungslosigkeit empathischer Abläufe im Alltag unterliegt folglich prinzipiell dem Vorbehalt immer möglicher Fehleinschätzungen und Irrtümer. Natürlich bietet Empathie nur dann realistische Verstehenschancen, wenn wir von einer grundsätzlich geteilten bzw. teilbaren Welt emotionaler Erfahrungsweisen ausgehen. Gäbe es nichts Verbindendes, so könnten wir der Perspektive anderer einfühlend niemals auch nur einen Schritt näher kommen. Dennoch ist offensichtlich, dass wir eigentlich nie207 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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mals eins zu eins ermessen können, was im Inneren eines anderen vorgeht. Damit ist gesagt: Wir können innere Vorgänge grundsätzlich nicht zu Vergleichszwecken nebeneinander stellen, so wie man das mit zwei Gegenständen tun kann. 61 Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind hier also nicht problemlos dingfest zu machen, zumal insbesondere die Mitteilung intensiver Gefühle in der Regel unsere sprachlichen Möglichkeiten übersteigt. Noch einmal anders: Wir müssen zugestehen, dass das Rätsel des Fremdpsychischen letztlich unauflöslich ist, denn eine Emotion, die wir beim anderen entdecken und mit unserer Erfahrung abgleichen können, ist schon deshalb niemals genau dieselbe, weil sie auf einen spezifischen, für genau diesen anderen relevanten ›Gegenstand‹ gerichtet ist bzw. weil der gegebene ›Gegenstand‹ erst durch die jeweilige Emotion spezifisch wird. 62 Ein Beispiel: Ein Briefmarkensammler reagiert auf den Erwerb eines besonderen Prachtstücks, meinetwegen der Blauen Mauritius, mit außerordentlicher Freude. Wir können zwar, weil wir Freude und ihre Intensitätsgrade aus eigener Erfahrung kennen, seine Reaktionsweise problemlos dieser Das Problem des Fremdpsychischen wurde vor allem in der Phänomenologie unter Bezugnahme auf Theodor Lipps’ Werk über die Einfühlung ausführlich diskutiert, siehe: (Lipps 2017). Als wichtige Stationen sind dabei Edmund Husserl, Edith Stein und Emmanuel Lévinas anzusehen. Eine differenziertere philosophische Auslotung findet sich in: (Flatscher 2013). // Disziplinenübergreifend, siehe: (Goldmann 2006). 62 Unter dem Eindruck der jeweiligen Emotion kann sich ein und derselbe Gegenstand völlig unterschiedlich darstellen: »Es muss betont werden, dass dieser Aspekt des Einen-Gegenstand-Habens Teil der Identität von Emotionen ist. Was Angst von Hoffnung unterscheidet – und Angst von Trauer und Liebe von Hass –, ist nicht so sehr die Identität des Gegenstandes, der jeweils derselbe sein kann, sondern wie der Gegenstand wahrgenommen wird: bei der Angst als Bedrohung, aber mit einer Chance zu entkommen; bei der Hoffnung als unsicher, aber mit der Chance eines glücklichen Ausgangs; bei der Trauer als verloren und bei der Liebe als in bestimmter Weise leuchtend, strahlend.« – (Nussbaum 2000, S. 147). 61

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Emotion zuordnen, doch in allen Nuancen werden wir sein inneres Erleben vermutlich niemals teilen können, nicht einmal dann, wenn wir uns auch für Briefmarken begeistern würden. Denn die Gefühlsfarbe seines Wartens auf das begehrte ›Objekt‹, seine Anspannung und Enttäuschung während dieser Phase, seine finanziellen Nöte vielleicht, seine besondere leibliche Verfassung und was auch immer da hineinspielen mag, all dies ist einmalig und wird sich uns sicherlich zu keinem Zeitpunkt in Gänze erschließen.

C. Mitgefühl Nachdem ich die Phänomenbereiche der Gefühlsübertragung und Empathie gegeneinander abgegrenzt habe, möchte ich noch eine weitere wichtige Abstufung vornehmen. Hierzu muss man sich Folgendes klarmachen: Empathie ist zunächst wertneutral oder – besser ausgedrückt – sie verfolgt nicht zwangsläufig moralische bzw. wohlmeinende Absichten. Zwar bezeichnet sie das Vermögen, sich in das Erleben anderer hineinzuversetzen, aber damit ist noch längst nicht ausgemacht, ob die Anlage zum empathischen Nachvollzug tatsächlich aktiviert wird, und erst recht nicht, zu welchem Zweck dies geschieht. Ich kann mein Einfühlungsvermögen auch darauf verwenden, jemanden gleichsam ›auszukundschaften‹, um ihn elegant über den Tisch zu ziehen und mit psychologischem Geschick vor meinen Karren zu spannen. 63 Während ich gekonnt simuliere, das Gute für den anderen anzusteuern, bleibe ich im Verborgenen konsequent auf den eigenen Vorteil fixiert. Selbst sadistischer Genuss basiert auf dem menschlichen Einfühlungsvermögen. Aus den Qualen anderer kann vor

So verfügen beispielsweise exzellente Lügner über ein besonders ausgeprägtes Empathievermögen. – Siehe: (Mayer 2007, S. 133/134).

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allem derjenige Lustgewinn ziehen, der um die ›Beschaffenheit‹ der zugefügten Schmerzen weiß. Was hier ausbleibt, ist nicht Empathie, sondern die Wertschätzung des anderen als Person mit gleichen Lebensrechten. 64 Ursachen für solche Verhaltensweisen sind in früher Kindheit und Jugend zu suchen, insofern hier problematische Erziehungsstile – z. B. eine kontinuierliche empathische Überforderung durch das Umfeld – extreme kindliche Leiden auslösen, die aggressive Abschottungsmechanismen nach sich ziehen. Wo sich kein frühes Verhältnis der Gegenseitigkeit aufbauen kann, wo im Gegenteil Abschätzigkeit und Herabsetzung dominieren, wird die Fähigkeit zu moralischen Beurteilungen sich nicht ausbilden können, sondern massiv blockiert. In einer Art Rückzugsgefecht des Selbst wird jeder andere zum potentiellen Feind, der – gleichsam in Stellvertretung ehemaliger Peiniger – mit Hass und Grausamkeit abgewehrt oder verfolgt werden muss. Die pro-soziale Wirkmacht der Empathie kann sich mithin nur dann umfassend entfalten, wenn das Wohlergehen des anderen Menschen in den Mittelpunkt teilnehmender Bemühungen rückt, wenn jemand also ernsthaft zu ergründen sucht, worum es diesem anderen für sich selbst geht und was seinen Lebensinteressen zuträglich ist, erst dann, wenn er sich auf irgendeine Weise in den Dienst dieser ›fremden‹ Interessen stellt. Dies geschieht wie gesagt auf der Basis einer früh entstehenden ethischen Grundausrichtung, insofern die erzieherische Situation dem Kind ermöglicht, andere als gleichwertig anzuerkennen und ihre Belange als wichtig zu erachten. 65

(Hosser u. Beckurts 2005). Die ›ethische Einstimmung‹ macht schon im Blick auf eher flüchtige Alltagsbegegnungen einen Unterschied, sofern man sich nicht gegen Gefühlsbotschaften anderer verschließt, sie vielmehr registriert und sich höflich und respektvoll darauf einstellt.

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Das Mitfühlen ist also einer ethischen Qualitätsprüfung zu unterziehen. Um den hier umrissenen Unterschied sprachlich zu markieren, möchte ich deshalb fortan für moralwertiges Empathiestreben den Begriff des Mitgefühls verwenden. Ich folge hier einer Unterscheidung Schelers, der Mitgefühl, welches er gegen Nachfühlen abgrenzt, zum Fundament fürsorglicher Anteilnahme an anderen erhebt. Nur im Mitgefühl erlangt das fremde Ich im menschlichen Bewusstsein die gleiche Realität und Bedeutung wie das eigene Ich – eine Gegebenheit, die im Nachfühlen noch nicht erfüllt ist. So lässt sich z. B. das Erleben einer fiktiven Person zwar nachfühlen, allerdings wird sie deshalb noch nicht als Mitmensch erfahren. 66 Natürlich ist klar, dass viele mit dem Begriff Empathie genau dasselbe meinen. Die alltagsübliche Verwendung des Wortes impliziert in der Regel den Anspruch, aufmerksam und verständnisvoll auf das einzugehen, was andere uns von sich mitteilen. Empathie als ein den anderen berücksichtigendes Einfühlen wird demnach üblicherweise im Lichte einer wohlwollenden Disposition gesehen. Es geht hier auch nicht um Sprachvorschriften, sondern darum, eine wesentliche Differenzierung herauszuheben. Warum? – Unter anderem deswegen, weil heute leider durch das wohlklingende Etikett ›Empathie‹ immer wieder auch problematische Haltungen salonfähig gemacht werden, und zwar solche, die darauf aus Siehe: (Scheler 1985, S. 105–149). – Weitere inspirierende Ausführungen zu der hier entwickelten Vorstellung von Mitgefühl als einer auch kognitiv anspruchsvollen Tätigkeit mit moralischem Potential finden sich bei Edith Stein als »einfühlendes Erfassen« (Stein 2008, S. 103), bei Simone Weil als »Aufmerksamkeit« (Weil 1987, S. 61 f. u. 1989, S. 158 f.) – hierzu: (Kather 2001), bei Iris Murdoch als »unselfing« (Murdoch 1970), bei John Deigh als »reife Empathie« (Deigh 1996) und auch bei Peter Goldie (Goldie 2000). – Siehe hierzu insgesamt: (Plüss 2010, S. 62–89). – Mitgefühl solchermaßen von Empathie abgegrenzt findet sich ebenso in der buddhistisches Lehre, siehe z. B.: (Dalai Lama 2011, S. 74). // Zur Empathie mit fiktiven Personen, siehe auch: (Arnold 2013).

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sind, andere emotional intelligent als Mittel für die eigenen Zwecke einzuspannen. Ich denke hier an jene rein instrumentelle Handhabung empathischer und kommunikativer Fähigkeiten, die aktuell in vielen Berufssparten angepriesen wird. Demnach scheint es kein Problem zu sein, wenn Einfühlung in andere primär mit egoistischen Absichten verknüpft wird. Oft wird regelrecht angeraten, Anteilnahme vorzugaukeln, um das Gegenüber gefügig zu machen und in die gewünschte Spur zu bringen. 67 Eine Mitfühlende hat anderes im Sinn. Sie verfolgt ein lebendiges Interesse am Wohlergehen des Gegenübers. Bestimmend ist dabei wie gesagt das Ernstnehmen des anderen als gleichberechtigte Existenz. Vor diesem Hintergrund können und dürfen Personen – im Unterschied zu unserem sonstigen Welterkennen – niemals ausschließlich als Erkenntnisobjekte betrachtet werden, sondern immer zugleich auch als Subjekte, mit denen wir in einen Austausch auf Augenhöhe treten. Geht es um ein tiefergreifendes, wirkliches Verstehen, so aktiviert die Mitfühlende bewusst ihre Sensoren für das intersubjektive Geschehen, wobei sie sich der Schwierigkeiten des wechselseitigen Nachvollzugs bewusst bleibt und ihre Vorgehensweise dementsprechend abzustimmen sucht. Entscheidend ist eine intensivierte Aufmerksamkeit, die von fürsorglicher Anteilnahme getragen ist. 68 Will man dem anderen wirklich nahekommen und im Respekt vor seiner Person herausfinden, was der VerbesSiehe hierzu auch: (Bennent-Vahle 2013, Kap. II.) // (Pfeil 2018). Schon vor Jahrzehnten entwickelte sich – unter Einbeziehung der Geschlechterdifferenz – die Richtung der Care-Ethik in kritischer Abgrenzung gegenüber dem einseitig kognitivistisch angelegten Ideal der Moralentwicklung, wie es sich im Kohlberg’schen Stufenmodell findet. Neben Carol Gilligan, die Kohlbergs Modell einer differenzierten Kritik unterzog, wäre hier insbesondere die Philosophin Nel Noddings zu nennen. Siehe: (Gilligan 1984) // (Noddings 1989 u. 1993). // Zu dieser Thematik, siehe auch: (Nagl-Docekal u. Pauer-Studer 1993) // (PauerStuder 1996).

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serung seiner Lage dient, so wird man sich einige Anstrengungen auferlegen und viele Gedanken machen müssen, in besonderer Weise dann, wenn der Betreffende einen anderen kulturellen Hintergrund mitbringt und schon der sprachliche Austausch mit Schwierigkeiten verbunden ist. 69 Es wäre völlig verfehlt, auf der Basis spontaner Resonanzen eine voreilige und ungeprüfte Identifizierung der Gefühlswelten vorzunehmen. Diese Versuchung ist besonders groß, wenn man glaubt, aus eigenem Erleben genau zu wissen, was ein anderer gerade durchmacht. Ich nehme an, die meisten haben schon folgende Erfahrung mit einem ›empathischen‹ Gesprächspartner gemacht: Jemand erzählt etwas, das ihm sehr am Herzen liegt oder gar auf der Seele brennt, und bevor er auch nur ansatzweise zum Kern der Sache vorgedrungen ist, versichert das Gegenüber mit betroffener Miene, das Problem voll und ganz zu verstehen. Dies kann überaus irritierend sein, denn man fühlt sich auf diese Weise gewissermaßen der eigenen Geschichte beraubt, obschon der andere es vermutlich gut meint. Derartige Einfühlungsdefizite erleben wir schnell als eine Art von Zumutung, die irritieren, verstören oder schmerzliches Bedauern auslösen kann. Dabei wird leicht übersehen, wie ähnlich ›grob‹ auch wir selbst in vielen Situationen mit den Selbstzeugnissen anderer verfahren – vielleicht weil wir den Mühen willentlicher Vergegenwärtigung ausweichen, vielleicht schlicht deswegen, weil ZeitÄhnlich ausgerichtet ist auch die von Andrea Plüss entfaltete Unterscheidung zwischen »imitativer Empathie« und »imaginativer Empathie«. Imaginative Empathie ist nach Plüss eine anspruchsvolle Tätigkeit von moralischer Bedeutsamkeit, da sie Menschen dazu befähigt, »ihre egozentrische Perspektive zu überwinden und andere Menschen als eigenständige Wesen wahrzunehmen.« (Plüss 2010, S. 21/22). – Zweifelsohne ist es zutreffend, dass moralisches Handeln solcher Anstrengungen bedarf. Es fragt sich allerdings, ob Anstrengungen dieser Art stets als Hinweis auf eine moralische Motivation zu verstehen sind, ob sie nicht vielmehr in manchen Fällen durchaus im Dienste fraglicher, d. h. sozial destruktiver Absichten stehen können.

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druck uns im Nacken sitzt, vielleicht aber auch, weil ein unbewusstes Verlangen nach Gleichklang uns beherrscht bzw. weil tief sitzende Ängste vor dem Zutagetreten unüberwindlicher Diskrepanzen uns blockieren. Auch überschäumende (vermeintliche) Anteilnahme kann sich äußerst destruktiv auswirken, vor allem dann, wenn sie als Massenphänomen auftritt. Hierfür fand Renald Luzier, ein französischer Zeichner, der dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo entging, erschütternde Worte: »Die Gutherzigkeit der Leute, die wirklich große Unterstützung, die wir bekommen haben und die mich tief berührt hat, hatte eben auch perverse Folgen. Dieses gewaltige Mitgefühl hatte etwas Überwältigendes bis Vernichtendes, es war genauso schlimm wie die Trauer selbst.« 70 In diesen Sätzen kommen zwei Problemaspekte des Mitfühlens zum Tragen: Zum einen geht es auch hier um die besonderen Herausforderungen, vor die echtes Mitgefühl uns stellt, sofern es dem Adressaten annährend gerecht werden soll. Und zum anderen wird hier das Problem menschlichen Schwarmverhaltens durch emotionale Ansteckung angesprochen, ein Problem, das sich in vielen Bereichen zeigt und teilweise sehr schädliche Folgen nach sich zieht. Ich denke z. B. an die Wirkung allgegenwärtiger Hetzreden vermeintlich politisch agierender Personen. Doch die Worte des Zeichners Luzier offenbaren, dass auch ein von pro-sozialen Emotionen getragenes Schwarmverhalten abträgliche Folgen zeitigen kann. Auch überfließende, epidemische Anteilnahme kann ihren Adressaten verfehlen, dann nämlich, wenn dieser sich in seinem spezifischen Leid nicht wahrgenommen und respektiert fühlt, sich vielmehr als bloßes Objekt emotionaler Erregungslust erlebt. Der eigentliche Sinn von Mitgefühl ist damit verfehlt. Vielmehr tritt hier jenes Unnütze und Schädliche des Mitleids zu Tage, auf welches Nietzsche und andere Mitleidsverächter nicht müde (Spiegel-Gespräch mit dem französischen Zeichner Renald Luzier 2015, S. 127).

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Eine Skala der Mitgefühle

wurden hinzuweisen. Dies sind zum einen die oftmals egoistische Motivation des Mitleidsvollen, z. B. sichtliche Selbstgefälligkeit im gutherzigen Überschwang, zum anderen eine Vermehrung des Leids durch Ansteckung, woraus häufig vermeidende Abwehrreaktionen und damit eine Lähmung des konstruktiven Tätigkeitssinns hervorgehen. 71 Vor allem aber verbindet sich mit dieser Emotion – so Nietzsche – eine Verkennung der Vornehmheit wahrhaft Leidender, welche sich »vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu schützen« 72 suchen. Im Blick auf den Fall Luziers wäre zu fragen: Warum streben wir auf Schnellwegen aller Art nach intensiven Gemeinschaftserlebnissen oder verfallen gar in Massenhysterie? Warum lassen sich unsere Gefühle – oftmals unbemerkt von uns selbst – manipulativ abrichten, um sie fraglichen Zwecken dienlich zu machen? – Will man besser verstehen, warum Menschen so anfällig dafür sind, rudelförmig zu agieren, so kann eine Reihe psychologischer Untersuchungen herangezogen werden. Diese erfassen und analysieren – wie schon angesprochen – die Bedingungen, unter denen überdimensionierte Wir-Gefühle sowie die damit oft verknüpfte Disposition zu Freund-Feind-Denken und Gewalttätigkeit entstehen können. 73 Ausgehend von den erwähnten Untersuchungen

Eine Herleitung des Mitleids aus eigennützigen Begierden, welche schon früh bei Bernard Mandeville und Thomas Hobbes anzutreffen ist, findet später ihren Niederschlag, z. B. in vielen, vor allem britischen Nachschlagewerken des 19. Jahrhunderts. Siehe hierzu: (Bailey 2011, S. 213/214). 72 (Nietzsche 1988a, S. 225) – Trotz zutreffender Diagnosen in einzelnen Punkten ist Nietzsches Haltung m. E. nicht unproblematisch, denn sie nimmt 1. eine Gleichsetzung von Mitleid und Mitgefühl vor und betreibt 2. eine metaphysische Erhöhung des Prinzips der Lebensbejahung, woraus vielfach eine verächtliche Haltung allem Schwachen und Gebrechlichen gegenüber hervorgeht. 73 Siehe Teil I, Fußnote 53. 71

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

mit Babys und Kleinkindern, die eine angeborene Fürsorglichkeit und einen rudimentären Gerechtigkeitssinn nachweisen, wäre nach präziseren Aufschlüssen über die problematischen Implikationen des allzumenschlichen Wunsches nach menschenunmöglicher Einheit und Einigkeit zu fragen. Hierzu folgen später noch einige vertiefende Gedanken. Zunächst sei festgehalten: Echtes Mitgefühl verbindet sich der ethischen Perspektive der Besonnenheit, welche konstitutiv für jedes zwischenmenschliche Gelingen ist. Doch dürfen hier die Kräfte des Einzelindividuums weder über- noch unterschätzt werden. Avanciert die Kultivierung des Mitgefühls zu einem zentralen Interesse des Selbst, so relativiert sich damit das gängige rein individualistische Verständnis von Selbstverwirklichung. Es sollte deutlich geworden sein, dass Mitgefühl – trotz des heute viel besungenen »sozialen Gehirns« 74 – nicht automatisch hervortritt, sondern über Fürsorglichkeit und Erziehung gefördert werden muss. Auch später bleibt es eine lebenslange Herausforderung, die kontinuierliche Arbeit am Selbst nach sich zieht. Da es aus der eigenen Innerlichkeit hervorgehen muss, kann es auch nicht von außen auferlegt oder als bloße Methode antrainiert werden. Letztlich kommt es hier dezidiert auf eine wache eigenständige Urteilskraft an, während eine überbordende Beratungsliteratur mit zahllosen Anleitungen zur Selbstoptimierung den Kern der Sache verfehlt. Was gleichwohl eine große Rolle bei der Kultivierung des Mitgefühls in seiner Differenzstruktur spielt, insbesondere in Kindheit und Jugend, sind die positiven Erfahrungen, die wir mit einem mitfühlenden Gegenüber machen. Wesentlich ist mithin vor allem – ich wiederhole es – das Thema Erziehung.

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Siehe: (Bauer 2008, S. 35 ff.).

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Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung – Folgen und Perspektiven

5. Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung – Folgen und Perspektiven A. Wie werden wir dem anderen gerecht? Ich habe schon mehrmals von der Komplexität der modernen Welt gesprochen. Wir leben mittlerweile in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft, in der die Einzelpersönlichkeit ihren Lebenslauf weitgehend frei bestimmen darf/soll. Obschon die Ausgangschancen – der sozialen Situation entsprechend – extrem unterschiedlich sind, werden die individuellen Wahlmöglichkeiten in der beruflichen und privaten Lebensgestaltung heute weitaus weniger als in vergangenen Zeiten durch Vorschriften, sittliche Normen, milieubedingte Vorgaben oder gar Standesregeln und Zunftzwänge eingeengt. 75 Von einheitlichen Wertvorstellungen kann gegenwärtig kaum noch die Rede sein, zumal das Gesellschaftsbild mittlerweile von kultureller Vielfalt geprägt ist. So ist es zu einer weit verbreiteten Selbstverständlichkeit geworden, dass Menschen primär ihre eigenen Interessen verfolgen. Vieles mehr ließe sich anbringen: Ein zunehmend rasanter Fortschritt lässt Junge und Alte auseinanderdriften, wenngleich es an Maßnahmen, die ewige Jugend verheißen, keineswegs mangelt; das Leben der Generationen Y und Z, der sogenannten Digital Natives, ist kaum noch vergleichbar mit dem Leben der Älteren, erst recht, wenn der Unterschied von Stadtund Landleben hinzukommt. Diese gewiss vereinfachenden Typisierungen können hier nicht kritisch abgewogen werden, sie sind nur als Hinweis auf eine gesellschaftliche Diversi-

Die Tatsache, dass Bildungs- und Karrierechancen milieubedingt gänzlich unterschiedlich verteilt sind, führt allerdings zu neuen Formen der Ungleichheit, auf welche hier lediglich hingewiesen werden kann. Weiterführend, siehe dazu: (Brake u. Büchner 2011 u. Büchner u. Brake 2006). https://www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/ bildungsbericht-2018/bildung-in-deutschland-2018.

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fizierung zu lesen, die das wechselseitige Verstehen mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Will man heutzutage wirklich nachempfinden, was einen anderen Menschen umtreibt, so scheinen schnelle Rückschlüsse vom einen auf den anderen kein guter Ratschlag zu sein. Demnach kommt es nicht von ungefähr, dass sich innerhalb der modernen, individualisierten, von kultureller Vielfalt geprägten Gesellschaft aktuell eine intensivierte philosophische Thematisierung des Fremdpsychischen beobachten lässt. Erst im Zerbrechen eines Rahmens geteilter Wertorientierungen muss jede(r) Einzelne zunehmend bewusst Verstehensleistungen erbringen, während vormals allgemeine Regelwerke Verhaltensvorgaben lieferten, denen man unbesehen folgen konnte – eben auch in Lebensbereichen, die heute primär auf zwischenmenschliche Empathieleistungen angewiesen sind. 76 Anders herum betrachtet bedeutet dies, dass jedes Ausbleiben echter empathischer Bezugnahme zur Erhöhung sozialer Isolation und Vereinsamung beiträgt. Derartige Vereinzelungstendenzen führen m. E. aktuell sogar zu einer Verschiebung des zentralen Anliegens, und zwar weg vom Anspruch, gut und genau verstanden zu werden, hin zu dem viel grundsätzlicheren Wunsch, um jeden Preis das Übersehenwerden, die soziale Unsichtbarkeit zu vermeiden. Mediale Außendarstellung, Manipulationen am Körper, Fitnessprogramme und Lifestyleimperative weisen in diese Richtung. 77 Ethnologische Vergleichsstudien zeigen, dass in einigen Kulturen normative Konzepte bestehen, die innerhalb von Gruppen das Fürsorgeverhalten regeln, ohne dass dabei auf empathische Leistungen des Einzelnen zurückgegriffen werden muss. Dem entspricht häufig ein kulturelles Ideal der Selbstkontrolle und Geheimhaltung des affektiven Erlebens. – Siehe: (Mayer 2013). 77 So konstatiert die Soziologin Paula-Irene Villa angesichts heute üblicher Körpertechnologien, in denen sie die Ambivalenz von Selbst-Ermächtigung und Selbst-Unterwerfung erblickt, »dass unser Leben in einem nicht geringen Anteil darin besteht, den hochgradig diffusen 76

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Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung – Folgen und Perspektiven

Auch das eingangs besprochene Thema der Lüge und Vortäuschung wäre an dieser Stelle nochmals in Erinnerung zu rufen. Sehen Menschen sich zunehmend über subtile Mechanismen genötigt, einen artifiziellen Kosmos des »ImageMaking« (Arendt) zu bedienen, sehen sie sich in Politik, Medien und Alltagsleben vermehrt mit Fiktion, Maskierung und Vorspiegelung konfrontiert, so erleben sie dieses omnipräsente Verwirrspiel – zumindest diffus – als permanente Bedrohung ihres persönlichen Wertes. Im Laufe der Zeit etabliert sich über dieses Anwachsen objekthafter, manipulativer Umgangsweisen eine gesellschaftliche Atmosphäre des Misstrauens, in der bei vielen Menschen gesunde Skepsis durch eine quasi unrevidierbare Generalverunsicherung und Dauerkrise abgelöst wird. Grassierende Geheimtipps für eine gekonnte Performance, die uns empfehlen zu kaschieren, zu irritieren und einzuwickeln, untergraben im Laufe der Zeit gleichermaßen Vertrauen und Selbstvertrauen vieler Menschen. Kaum glaubt man noch daran, die wahren Absichten anderer ausmachen zu können, kaum weiß man den eigenen ›Marktwert‹ angesichts einer unwägbaren Meinungsmache im öffentlichen Raum einzuschätzen. Die damit einhergehende fundamentale Destabilisierung befördert ein Klima argwöhnischer emotionaler Angespanntheit und Angriffslust. Was gilt es vor diesem Hintergrund im Interesse gelingender Zwischenmenschlichkeit zu beachten? Worauf kommt es und (deshalb) wirkmächtigen normativen Imperativen automatisch zu folgen, die in den verschiedenen anerkennungswürdigen sozialen Positionen eingelagert sind, die wir einzunehmen haben, wollen wir eine legitime Existenz leben.« – (Villa 2008, S. 11). // Matthew Crawford erkennt hierin ein emotional bedingtes Konformitätsverlangen: Unsere Leistungskultur, in der alle traditionellen Autoritäten außer Kraft gesetzt sind, »scheint zu einem Gefühl der Isolation zu führen, das nur durch die Entdeckung gemildert werden kann, ›normal‹ zu sein.« So ebne »das Ideal der Autonomie«, weil es Angst mache, letztlich der »Massifizierung den Weg«. (Crawford 2016, S. 291 bzw. S. 286).

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

an, wenn wir angesichts dieser Gemengelage einen besonnenen Umgang pflegen wollen? – Wenig zielführend scheint es mittlerweile zu sein, im sozialen Verkehr spontan intuitiven Reaktionsmustern zu folgen. Stattdessen wäre es ungemein wichtig, die Kraft empathischer Aufmerksamkeit – wie oben beschrieben – zu steigern, um in Anbetracht sozialer Vielfalt und kultureller Divergenzen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in neuer Weise zu stärken. Im Interesse von Begegnung müssen wir demnach heute paradoxerweise mehr den je auf Distanz und Abstinenz setzen. Denn wer Abstand nimmt, wer genau hinzusehen und zuzuhören bemüht ist, erhöht die Chance, Masken aufzubrechen, hinter Fassaden zu dringen und sich der vielschichtigen Eigenart anderer peu à peu anzunähern. Echtes Mitgefühl jedenfalls ringt genau um diese Form der Aufgeschlossenheit. Es ist die reifste und sensibelste Frucht aller Spielarten des menschlichen Mitfühlens. Zwar ist der Mitfühlende nach wie vor auf Elemente des Gleichklangs durch emotionale Übertragung angewiesen, er folgt dem Erspürten aber immer nur unter Vorbehalt. Erst nach und nach zeigt sich, ob und wie weit es zu einer Art von Teilübereinstimmung zwischen Personen kommen kann bzw. unter welcher Voraussetzung sich der Eindruck einer solchen Teilübereinstimmung einstellen kann. Gemeinsamkeit hat von Fall zu Fall unterschiedliche Dimensionen, die es herauszuschälen gilt. Manche sprechen hier auch von partieller Verschmelzung der Verstehenshorizonte. Wesentlich bleibt die Anerkennung der Andersartigkeit des anderen. Schließlich vermag ich diesem nur deshalb zu begegnen, weil er mir niemals vollkommen durchsichtig werden kann. Niemals kann ich in die Erste-Person-Perspektive des anderen gelangen, niemals in seinen Bewusstseinsstrom eintauchen. Wäre dies möglich, so würde ich selbst gleichsam im anderen verschwinden bzw. der andere wäre nichts weiter als eine Verdoppelung meiner selbst und damit eigentlich kein anderer mehr. Robert Spaemann drückt dies so aus: »Ich könnte den Anderen nur wirklich verstehen, wenn ich der 220 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung – Folgen und Perspektiven

Andere geworden wäre. Aber dann wäre ich nicht mehr ich und würde folglich auch weder den Anderen noch irgendetwas verstehen.« 78 Der Kern von Liebe und Mitgefühl liegt darin, die letztlich uneinholbare Wirklichkeit des anderen nicht nur hinzunehmen, sondern mit Nachdruck zu wollen und zu bejahen. »›Volo ut sis‹ – ich will, dass Du seiest, was Du bist.« (Augustinus) 79 An dieser Stelle ist es wichtig, nochmals nachdrücklicher auf die Abgrenzung zwischen Mitgefühl und Mitleid einzugehen. Wie schon gesagt, hat das Mitleid bei vielen Philosophen, allen voran Nietzsche, eine ziemlich schlechte Presse, weil es als manipulatives Machtmittel, als Leid vergrößernd bzw. verkennend angesehen wird. Anders als das reife Mitgefühl geht Mitleid oft nicht über emotionale Leidansteckung hinaus. Der Mitleidige projiziert reflexartig eigene Empfindungen auf die Situation seines Gegenübers, er agiert nicht im Respekt vor dessen Andersartigkeit, umgeht somit den Aufwand einer sorgfältigeren Erfassung fremdpsychischer Zustände. Dem Schema des Eigenen folgend unterstellt er anderen entsprechende Gefühle, Motive und Absichten. Im Gegensatz dazu tritt die Mitfühlende nach einem ersten Impuls der Anteilnahme zunächst bewusst zurück. Auf diese Weise kann sich nicht nur der Verstehensradius auf Fremdes und Nichtgewusstes erweitern, sondern es baut sich darüber hinaus eine innere Distanz auf, die problematische Nebeneffekte des Mitleids verhindert. Denn häufig führt Mitleid dazu, dass jemand wie gelähmt ist und sich reaktiv abwendet, weil Gefühlsansteckung bzw. die unwillkürliche Identifikation mit dem Leidenden zu emotionaler Überforderung führt. 80 Kurzum: Da, wo spontan aus Mitleid (Spaemann 1989, S. 240). (Arendt/Heidegger 1998, S. 31). 80 Ein extremes Bespiel für »mitleidende« und dennoch höchst problematische »Anteilnahme« erwähnt Paul Bloom in Anlehnung an Jonathan Glover. Geschildert wird der Fall einer Frau, die während der NS-Zeit in der Nähe eines Konzentrationslagers lebte und Zeugin un78 79

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

gehandelt wird, mangelt es in der Regel an einer angemessenen Realisierung des Fremdpsychischen bzw. an einer respektvollen Akzeptanz grundlegender Verstehensgrenzen. Wie am Beispiel Renald Luziers deutlich wurde, findet sich das ›Objekt‹ mitleidvoller Zuwendung reaktiv oft in einem gesteigerten Erleben von Einsamkeit wieder – eine Empfindung, die durch gesellschaftliche Marginalisierung noch verstärkt werden kann. Echtes Mitgefühl kann niemals ohne gründliches Nachdenken auskommen. Es ist eine Emotion zweiten Grades, mithin eine besondere Haltung intensiver Bezogenheit, die die einmalige Eigenart, ja das Geheimnis des Individuums respektiert, doch immer eingedenk der Tatsache, dass Menschen Beziehungswesen sind und für ihre individuelle Entfaltung unbedingt zwischenmenschlichen Zuspruch und Austausch benötigen. Unverrückbar bleibt: Das Mitsein, eine gemeinsame Sprache und geteilte Lebensformen gehen dem Individuum voraus. Der Individualismus überwindet keineswegs den Vorrang der Beziehungsebene oder »das eingeborene Du« 81 , wie Buber es nennt. Vielmehr stellt der Individualismus uns lediglich vor veränderte Herausforderungen im Hinblick auf die Gestaltung des Gemeinschaftlichen. Er verlangt uns ab, die zunehmenden Abflachungen und Unsicherheiten der menschlichen Kommunikation nicht mit resignativer Skepsis zu beantworten – mit einer Skepsis, die zähliger Gräueltaten wurde. Ein von ihr verfasster Beschwerdebrief an die Obrigkeit war aber primär von dem Wunsch getragen, das üble Geschehen aus ihrem eigenen Blickfeld verbannt zu sehen. – Könnte man hier einen Fall von Empathie ohne wirkliches Mitgefühl erkennen, so finden sich umgekehrt viele Beispiele von Mitgefühl ohne Empathie, etwa dann, wenn Menschen – angesichts emotionaler Verhaltensweisen anderer, die für sie selbst unverständlich sind – dennoch den Respekt vor der fremden Seele aufrechterhalten und entsprechend reagieren. Dies geschieht zum Beispiel schon, wenn man ein Kind tröstet, das angesichts eines bellenden Hundes in Panik verfällt (Bloom 2014, S. 60 f.). 81 (Buber 1997, S. 36).

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den anderen außer Reichweite setzt und die zugleich leugnet, dass auch man selbst Verständnis und Anerkennung benötigt. Ebenso problematisch wäre es allerdings, eine fraglose metaphysische Vernunftverbindung vorauszusetzen, um mittels der Unterstellung einer überindividuellen Wahrheitswelt den unablässig zähen und oft zermürbenden Anstrengungen der Kommunikation zu entgehen. Wie schon gesagt: Wahrheitsfundamentalisten erliegen der Tendenz, ihre eigenen Auffassungen für subjektunabhängig zu deklarieren, während sie die abweichenden Gedanken anderer als höchst persönliche Irrtümer einstufen. Doch, wie nicht zuletzt Cavell herausstellt, ist die Abgeschnittenheit voneinander, das Auseinanderdriften unserer Denkweisen, ein unaufhebbares menschliches Faktum. Dies ist gleichsam unser Schicksal und dennoch liegt es in unserer Hand, etwas daraus zu machen, d. h. unermüdlich Wege zueinander zu bahnen. Cavell drückt dies folgendermaßen aus: »Wir sind aus keinem Grund endlos getrennt. Doch dann sind wir für alles, was zwischen uns tritt, verantwortlich; wenn nicht dafür, es verursacht zu haben, so doch dafür, es fortzusetzen.« 82 Verbindendes wird vor allem in gemeinsam durchlebten Situationen spürbar. Hier kann sich das überaus hilfreiche leibliche Aufeinander-bezugnehmen entfalten – ein Vorgang, welcher, wie schon erwähnt, in der Regel spontan und unbewusst vonstattengeht. Leibliche Präsenz ist folglich eine wesentliche Brücke für zwischenmenschliches Verstehen. 83 Hierbei kommt nicht nur unser angeborenes Resonanzvermögen zum Tragen, auch das Wissen um geteilte existenzielle Bedingungen aller leiblichen Wesen wird augenfälliger und (Cavell 2006, S. 588). (Staemmler 2009, S. 97 ff.) // (Rosa 2016, Teil I). – Der intensivierte Aufenthalt vieler Menschen in virtuellen Welten hat offenbar zur Folge, dass diese leiblichen Erfahrungsweisen nicht mehr hinlänglich aktiviert und eingeübt werden. – Siehe u. a.: (Rosa 2016, S. 151 ff.) // (Welzer 2016, S. 141 ff.).

82 83

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vermag ein starkes Band von Mensch zu Mensch zu stiften. Ob sinnliche Freuden und Genuss, ob Entbehrung, Schmerz, Krankheit und Tod – nichts ist so verallgemeinerbar wie diese leiblich fundierten Grunderfahrungen. Einige Basisemotionen wie Ekel, Angst, Freude und Wut, die als kulturübergreifend gelten, sind tief in unserer leiblichen Substanz verankert. Ihre somatischen Ausdrucksformen werden überall auf der Welt verstanden. Das heißt: Wenn es uns auch sehr wahrscheinlich schwer fallen wird, die Wutanlässe z. B. eines äthiopischen Mursi-Kriegers nachzuvollziehen, könnten wir dennoch – in einer Begegnung – den Widerhall dieser Emotion ganz unmittelbar in unserem Inneren wahrnehmen. Mit anderen Worten: Gleichwohl es nicht gelingen kann, die Gefühle anderer im eigentlichen Sinne zu teilen, so stehen wir doch unablässig in emotionaler Resonanz miteinander. Fremdverstehen erfolgt durch Einordnung konkreter Erfahrungen in umfassendere mentale Zusammenhänge, die wir mehr oder weniger (auf Anhieb) mit anderen teilen können. Fast immer benötigen wir zusätzliche Auskünfte und Informationen, um die Verhaltensweisen und Handlungen unserer Mitmenschen in deren geistige Perspektive einzufügen, um daran anknüpfend gegebenenfalls besser nachzuvollziehen, was sie antreibt und beschäftigt. Und fast immer müssen wir dabei unsere Phantasie derart mobilisieren, dass wir unsere eigene fühlende Seele gleichsam in die Lage des anderen einquartieren, um Gefühle in uns aufsteigen zu lassen, die sich potentiell mit gewissen Erfahrungen verknüpfen. Unter bestimmten Umständen – insbesondere im Konfliktfall und bei gravierenden Meinungsverschiedenheiten – ist anzuraten, vorübergehend ganz aus gemeinsamen Situationen herauszutreten, um in Ruhe, d. h. unbehelligt von emotionalen Eindrücken und spontanen Erwiderungen, nachdenken zu können. In einem solchen Raum des Nachdenkens, für den insbesondere Hannah Arendt plädiert, ist aber nur dann ein Vorankommen zu erwarten, wenn grundlegende Aufgeschlossenheit auch Andersdenkenden oder 224 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Kontrahenten gegenüber gepflegt wird. Der Rückzug dient dann nachgerade dem Zweck, relativ unbehindert von einengenden Emotionsreflexen, die in der konkreten Interaktion unvermeidlich auftreten, den Standort eines fairen und neutraleren Beobachters ansteuern zu können – immerfort in dem Bewusstsein, dass keine abschließend-objektive Antwort zu finden ist. Das heißt: Auch im vermittelnden Arrangement gegenläufiger Kräfte können Dissens und Fremdheit niemals vollends aufgehoben werden. Folglich bleibt jede Annäherung, jeder Nachvollzug unweigerlich ein Gelingen auf Probe, das der unabschließbaren Unterhaltung ›Einsamer‹ entspringt, welche darum wissen, dass sie sich jeweils nur der eigenen Gedanken und Gefühle leidlich sicher sein können. Gerade in der Akzeptanz von Inkonsistenz, im Gewahrwerden von Widersinn und Unbeständigkeit lässt sich schließlich ein gemeinsames Movens finden, eine verbindende (ethische) Kraft, die über die Kluft aller Verstehensschwierigkeiten hinaus zu Wirksamkeit gelangt. Dazu im nächsten Abschnitt mehr. Und nochmals: Da der Radius des spontanen Mitgefühls zunächst klein ist, ist diese Emotion permanent davon bedroht, ihre Differenzstruktur zu verlieren, mithin zusammenzuschrumpfen oder entstellt zu werden. Deshalb sind geteilte Situationen – wie schon gesagt – für ein Einüben und Aktivieren des Mitgefühls besonders fruchtbar. 84 Das heißt: Ungeachtet der anzuratenden temporären Rückzüge ins Nachdenken kommt es in letzter Instanz auf reale Begegnungsstätten an, in denen Personen leiblich gegenwärtig sind, um allmählich ihre jeweiligen Gedanken und Erfahrungshorizonte einzubringen und dialogisch zu erkunden. Denn vorzugsweise hier eröffnet sich die Möglichkeit, in den primären Modus zwischenmenschlichen Umgangs zuZum Folgenden finden sich erhellende Ausführungen in dem Band: (Staemmler 2009, Kap. 3 u. 4). // Bezüglich des pädagogischen Bereichs, siehe: (Plüss 2010, S. 91 ff.).

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rückzufinden, d. h. wechselseitig eine unmittelbar teilnehmende Haltung einzunehmen, sich aufeinander einzuschwingen, vor allem aber abwägend und rückversichernd miteinander zu sprechen und jeden in letzter Instanz selbst entscheiden zu lassen, wann er sich verstanden fühlt und wann nicht. Unerlässlich ist dabei, auch Widerspruch ernst zu nehmen und den Auskünften anderer mit gespitzten Ohren zu lauschen. Es gilt nämlich zu sehen, dass sich das unmittelbar ablaufende empathische Geschehen nur dann weiterführend verändernd auf die zukünftige Lebensgestaltung auswirken kann, wenn Mitfühlen wechselseitig vonstattengeht. Daraus folgt im Übrigen: Sofern Mitgefühl im Kern ein mutuelles Geschehen ist, verlangt es auch im professionellen Bereich einen spezifischen Mut der Aufgeschlossenheit seitens des Helfenden oder Beratenden. 85 Nur indem sich beide Seiten dem Gefühlseindruck des jeweils anderen öffnen, sich einander darüber mitteilen und korrigieren, kommen Begegnungsprozesse in Gang, welche Erneuerung oder Wandel ermöglichen können. Nur über eine solche Öffnung, in der Zusammengehörigkeit und Verschiedenheit kreativ ineinanderspielen, kann jene partielle Verschmelzung der Horizonte gelingen. Und nur dies macht es möglich, zu neuen Betrachtungsweisen über sich selbst und die Dinge des Lebens hinzufinden. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass durch solche Momente der Konfluenz keiner der Beteiligten ganz unverändert bleibt. Dies ist eine wichtige Erkenntnis, die Philosophische Praktiker wie Anders Lindseth 86 und Leon de Haas, aber auch der Psychologe Frank Staemmler für therapeutische und beSchon bei Carl Gustav Jung ist zu lesen: »Man könnte ohne allzu viel Übertreibung sagen, dass jede tiefergreifende Behandlung etwa zur Hälfte in der Selbstprüfung des Arztes besteht (…).« – (Jung 1976, S. 124). 86 (Lindseth 2005). 85

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ratende Tätigkeiten herausheben. Speziell auf diesen Begegnungsfeldern kommt es, wie deutlich gemacht wird, auf Zurückhaltung und damit Besonnenheit an, also darauf, nicht vorab für den anderen wissen zu wollen, wo der Hase im Pfeffer liegt. Aus philosophischer Perspektive muss also der Akzent auf die Differenzstruktur des Mitgefühls gelegt werden. Eine therapeutische Herangehensweise, die bloß einseitig etwas mit dem Patienten ›macht‹, um ihn zu heilen oder gar umzucodieren, verschenkt letztlich die Wirkkraft ausgereifter Empathie. Denn nur über das Du entwickelt sich das Ich in tiefergehender Weise. Dies geschieht jedoch nicht, wenn das Du eine neutrale, theoretisch versierte Behandlungsinstanz darstellt, sondern wenn es in Beziehung tritt, wenn es den Eindruck des anderen lebendig in sich aufnimmt und darauf antwortet. Dieser Auffassung liegt eine von Martin Buber entwickelte dialogische Anthropologie zu Grunde. Tragend ist der Gedanke, dass die Individualität des Einzelnen nicht für sich bestehen kann, sondern erst durch Anerkennung anderer in ihrem Sein bestätigt wird. Hierzu ein kurzes, wenn auch komplexes Wort Martin Bubers: »Die erlebten Beziehungen sind Realisierungen des eingeborenen Du am begegnenden (…).« 87 Noch eine Bemerkung: Ist diese grundlegende Anerkennung des Du gegeben, so schließt dies nicht aus, dass Situationen auftreten können, in denen andere eine Person besser verstehen als diese sich selbst. Wer von einer Angelegenheit momentan nicht akut betroffen ist, kann leichter einen Beobachterstandort einnehmen und sich ein umfassenderes Bild machen als derjenige, der als Involvierter (noch) ganz in sich ›gefangen‹ ist. Oft erschließen sich emotionale Ausnahmezustände einem Außenstehenden auf Anhieb, während Betroffenen selbst schwerwiegende Widerfahrnisse erst allmählich zu Bewusstsein kommen. Daraus erwächst aber keineswegs eine prinzipielle Überlegenheit der Außenper87

(Buber 1997, S. 36). – Siehe auch: (Buber 2006).

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spektive. Von hierher können allenfalls Verstehensangebote erfolgen oder Fragestellungen entspringen, die neue Impulse an ein festgefahrenes Selbst- und Lebenskonzept herantragen, um möglicherweise etwas in Gang zu bringen. Solange einer emotionalisierten Person ihre Beurteilungskompetenz nicht abgesprochen wird, kann die ›objektivierende‹ Außenperspektive vorübergehend überaus hilfreich sein, jedenfalls dann, wenn sie mit Fingerspitzengefühl eingebracht wird. Der reife Nachvollzug anderer verlangt, wie gesagt, Distanznahme von unmittelbaren emotionalen Eindrücken, indem man sich etwa auf verfügbares Hintergrundwissen bezieht bzw. derartige Kenntnisse im Gespräch einholt. Mittels dieser Vorgehensweise wird verhindert, mitgebrachte Urteile oder spontane Gefühle übereilt auf andere zu projizieren. Wird die Distanznahme allerdings zu einer exquisit beobachtenden und diagnostischen Attitüde verstetigt – möglicherweise sogar über die Sphäre beruflicher Aktivitäten als Therapeut oder Berater hinaus –, so immunisiert man sich gegen neue und lebendige Erfahrungen. Im Endeffekt erweist man sich solchermaßen ebenso als untauglich für wirkliches Verstehen, weil letztlich nur das verstehbar werden kann, was am eigenen Leibe ›durchlitten‹ wurde, das, womit man also irgendwie selbst schon einmal Bekanntschaft gemacht hat. Oft wird heute unter Empathie eine Haltung verstanden, in der sich jemand ›generös‹ einer anderen Person zuwendet, wobei er für sich selbst den Anschein erweckt, nicht ernsthaft sensibler Anteilnahme, nachforschender Erkundung und kritischer Rückmeldungen zu bedürfen. Er präsentiert sich als ›stolze‹, für sich bestehende Entität, die ihre Grenzen ›großmütig‹ für den ›bedürftigen‹ anderen öffnet und damit gleichsam erst nachträglich – bzw. auf der Basis unbeirrbarer Selbstgewissheit – in Beziehung tritt. Insgesamt drängt sich folgender Grundgedanke auf: Weder kann eine distanzierte Herangehensweise an andere prinzipiell als Indiz mangelnder Empathie interpretiert werden, 228 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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noch ist das Vorhandensein reger Konversation zwischen Personen bereits hinreichender Beleg für wechselseitig wertschätzende Anteilnahme. Wir verfügen über ganz unterschiedliche, sich ergänzende Wege, um einander zugänglicher und verständlicher zu werden. In jedem Fall aber ist eine dialogische Grundausrichtung unverzichtbar: das rückversichernde Sprechen nämlich. Die hohe Relevanz dieser Haltung wird noch fassbarer, wenn wir weiterführend über die Grenzen des Verstehens nachdenken.

B. Grenzen des Verstehens – Vom Wert des Trostes Abgesehen von Fällen, in denen Empathieversuche beispielsweise aufgrund unüberwindlicher Antipathie scheitern, abgesehen auch von Behinderungen zwischenmenschlicher Einfühlungsakte durch kulturelle Faktoren, welche Mitgefühle stigmatisieren und somit brachliegen lassen, wäre nun nochmals nachdrücklicher das Augenmerk auf eine fundamentale unaufhebbare Grenze des Verstehens zu legen. Diese rückt dann in den Fokus, wenn von der prinzipiellen Unzugänglichkeit des fremden Bewusstseins oder sogar von der Verschlossenheit des Fremdpsychischen die Rede ist. In den vielfältigen philosophisch-wissenschaftlichen Debatten um dieses Thema stößt man diesbezüglich auf Begriffe wie »Okklusionismus« oder auch »Opazität« des anderen. 88 Ohne diesen akademischen Diskurs in alle Einzelheiten hinein verfolgen zu wollen – wesentliche Grundprobleme des Verstehens wurden in den vorherigen Abschnitten bereits angesprochen –, möchte ich im Folgenden in erster Linie auf mögliche pro-soziale Haltungen aufmerksam machen, zu denen wir – gerade in Anbetracht unauflöslicher Schwierig-

Vgl. hierzu insgesamt: (Breyer 2013). – Hierin vor allem: (Mayer 2013).

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keiten und Hemmnisse der Verständigung – erst recht hingeleitet werden. Der Mensch ist ein Wesen, das um sein Nichtwissen wissen kann, ebenso gelangen ihm die Grenzen des EinanderVerstehens zu Bewusstsein, welche beispielsweise in der Nicht-Mitteilbarkeit von Schmerz und Leid besonders prägnant fühlbar werden. Nach Hans Blumenberg sind alle Empfindungsausdrücke, die uns zur Verfügung stehen, letztlich derart subjektiv, dass niemand davon ausgehen könne, anderen einen tatsächlichen Eindruck seines peinvollen Zustandes zu vermitteln. Sofern wir Personen in Ausnahmesituationen sehen, die wir selbst nicht kennen, bedrängt uns über die sichtbaren Ausdrucksgebärden der Geplagten die verstörende Realität einer unerreichbar fremden Innerlichkeit. Betrachten wir z. B. Bilddokumente von Menschen auf der Flucht, so können wir vielleicht noch erahnen, was die Entbehrung alltäglichen Komforts mit sich bringt. Wie aber sollen wir ermessen, was es tatsächlich bedeutet, seine Familie in Not und Bedrängnis hinter sich zu lassen, um vollständig allein mit vagen Zukunftsaussichten über lebensbedrohliche Fluchtwege in unbekannte Länder und oftmals feindselige Kontexte aufzubrechen? Lange bevor derart zugespitzte Erfahrungen der Geschiedenheit voneinander unübersehbar werden, öffnet sich ein weites Feld irritierender Beobachtungen und Fragen, die normalerweise hastig zurückgestellt oder abgeblockt werden. Einige dieser Fragen, die en passant schon gestreift wurden, seien nun expliziter ausgeführt: Wie z. B. steht es um eingefahrene Redeweisen und gängige Sprachbilder, mit deren Hilfe wir unsere Alltagsgeschäfte scheinbar reibungslos erledigen? Ist pragmatisches Gelingen ein hinreichender Beleg dafür, dass wir einander verstanden haben? Kann geduldige Sprachanalyse dazu beitragen, dass nicht nur die Intentionen anderer mir verständlicher werden, sondern möglicherweise auch ich mir selbst? Bleibt nicht bei allem Bemühen um Erklärungen immer ein dumpfes Restempfinden des Nichtver230 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Differenzstruktur einer mitfühlenden Haltung – Folgen und Perspektiven

stehens, welches sich je nach Situation mehr oder weniger deutlich ins Bewusstsein drängt? Und schließlich: Auf welcher Basis lässt sich überhaupt von Gleichheit oder Ähnlichkeit unserer jeweiligen Weltauffassungen sprechen, auf welcher über deren Richtigkeit oder Angemessenheit debattieren? Es empfiehlt sich, über diese und weitere Fragen einmal grundlegend nachzudenken, am besten bevor wir in akuten Situationen zu besonderen Manövern der Verständigung herausgefordert werden bzw. bevor wir Versuche anstrengen müssen, Streitigkeiten, Kränkungen oder Zerwürfnisse beizulegen. Analysen zeigen uns bald – was hier nicht en Detail ausgeführt werden kann –, dass vollständige begriffliche Übereinstimmung ein aussichtloses Unterfangen ist. 89 Denn nehmen wir das selbstverständlich benutzte Raster begrifflicher Distinktionen unter die Lupe, so zeigt sich: Die Übergänge zwischen vermeintlich differenten Phänomenen sind oftmals fließend, aus der Nähe betrachtet werden scharfe Abgrenzungen und zweifelsfreie Zuordnungen extrem diffizil. Überdies wird augenfällig: Je nachdem, welches Wort wir für die Erfassung eines Sachverhaltes verwenden, schwingt ein ganz unterschiedliches Spektrum an (wertenden) Nebenbedeutungen mit. Wollten wir hier nachdenkend und aufklärend für begriffliche Präzisierung sorgen, so gerieten wir unweigerlich in einen unendlichen Regress, denn um fraglich gewordene Bedeutungen einzuhegen, bräuchten wir wiederum andere bedeutungsträchtige Worte, die ihrerseits erläuterungsbedürftig sind, so dass wir zwar immer intensiver und tiefer in sprachliche Klärungen einsteigen könnten, aber dennoch nie an einen absolut sicheren Punkt gelangen würden. Vermutlich könnten wir über geduldige Einbettungen der Worte in gemeinsame Erfahrungskontexte, in denen wir auch nonverbal miteinander umgehen, sowie über den ergänzenden Gebrauch sinnlich-anschaulicher Sprachbilder erneut 89

Vgl. hierzu z. B.: (Stölzel 2015, S. 37–96).

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Gefühle von Verstehen und Verständigung bestärken, allerdings werden wir uns, so wir einmal der Vielfalt kontextueller Wortgebräuche gewahr wurden, niemals mehr in fragloser Sicherheit wiegen. Doch, wie wir bereits gesehen haben, ist dieses Sicherheitsbegehren ganz und gar nicht unverfänglich. Unter Bezugnahme auf William James habe ich in Teil I. umrissen, welche Risiken eine Fixierung auf objektive Wahrheitserkenntnis in sich birgt, insofern sie nämlich jene Art von Erfahrungsoffenheit beeinträchtigt, die sich stets der eigenen blinden Flecken bewusst zu bleiben sucht. Fehlt dieses Bewusstsein, weigert man sich die eigenen Scheuklappen zu registrieren, so stellt sich eine Symptomatik ein, die Siri Hustvedt in Anlehnung an Experimente der Kognitionsforschung als »Unaufmerksamkeitsblindheit« 90 bezeichnet – eine Form der Beeinträchtigung, für die sich m. E. ganz unterschiedliche Äußerungsformen anführen lassen: So kann sich diese Blindheit in der grundsätzlichen Weigerung zeigen, überhaupt jemals über die Begrenzungen unserer phänomenalen Welt nachzudenken, d. h. auch nur spielerisch das eigene spontane Weltverstehen anzutasten, um ein wenig tiefer zu schürfen – »Philosophieren ist nichts für mich«, heißt es dann. Oder sie findet sich im Habitus der hoch geistigen, differenziert denkenden Intellektuellen, die vorschnell den eigenen Standpunkt für fraglos oder gar überlegen erachtet, z. B. indem sie – Bescheid wissend und gebend – zuvor gewonnene Erkenntnisse von einem Fall auf den nächsten überträgt, ohne sich noch hinreichend auf die Komplexität und Einmaligkeit des Wirklichen einzulassen. Eine weitere, wohl besonders vertrackte Variante von Unaufmerksamkeitsblindheit kann sich ergeben, wenn jemand, der gezielt sowohl naive Voreingenommenheit als auch theoretische Eindeutigkeitsanmaßung hinter sich lassen will, auf absolute Erfahrungsoffenheit (Hustvedt 2014, S. 293 f.). – Siehe hierzu auch: (Stölzel 2015, S. 156 ff.).

90

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setzt. Er geht dann zwar den wichtigen Schritt, vorliegende Realitätskonstruktionen und Deutungsmuster kritisch hinterfragen, zurückstellen oder einklammern zu wollen, um das ›Sich-Zeigende‹ neu, rein und intensiv wahrnehmen zu können, tappt dabei aber möglicherweise ebenso in die Falle allzu hochgesteckter Ansprüche. Denn der Zielvorstellung vollkommen vorurteilsfreier, absichtsloser Betrachtung kann niemand restlos entsprechen, weil schlichtweg niemand ohne blinde Flecken ist. Wir bleiben immer hinter unseren Idealen zurück und tun dies oft umso mehr, je höher diese gesteckt sind. Hier lauern überdies gefährliche psychische Fallstricke: Wer die eigene Offenheit bzw. die besonders fein austarierten Wahrnehmungsfühler zelebriert, stilisiert sich schnell zum Vorreiter oder Heilsbringer, der das eigene Maß – bevormundend – zum Fixpunkt für andere erhebt. Damit aber betritt ›Objektivitätsgläubigkeit‹ durch die Hintertür erneut die Szenerie – in besonders fraglicher Gestalt: Verkleidet als Selbstzurücknahme prätendiert der vermeintlich ›rein‹ Wahrnehmende eine privilegierte Vertrautheit mit der Essenz des Wirklichen. Zwar mag es tatsächlich Menschen geben, die in besonderer Weise hören, sehen, fühlen können, die also einen Vorsprung an Weitsicht und Hellhörigkeit, eine besondere hermeneutische Sensibilität, entwickeln. Doch gerade für diese ›Weisheitslehrerinnen‹ existiert kein Endpunkt der Selbstzurücknahme. 91 Die Reduktion mitgebrachter Vorprägungen kann aus ihrer Sicht trotz redlichen Bemühens niemals vollständig und umfassend erfolgen, d. h. ohne einen Rest subjektiver Einfärbung vollzogen werden. Es gibt kein Wahrnehmen und Denken, das all unser Wahrnehmen und Denken Zum Weisheitsphänomen, siehe: (Raabe 2010). // Der von Iris Murdoch verwendete Begriff »unselfing«, der ein Bemühen um Überwindung der Selbstbezogenheit bezeichnet, zielt auf Formen kritischer Selbstüberprüfung, die gewissermaßen einen praktikablen Weg der Weisheit vorzeichnen, ohne dass diese Kategorie hier verwendet würde. – Siehe hierzu: (Plüss 2010, S. 83 ff.).

91

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übersteigen könnte. Der eigentliche Weisheitskern liegt also in der Anerkennung des Nichtwissens trotz allen Wissens, liegt vor allem darin, diese Begrenztheit aushalten zu können, ihr nicht länger über Manöver der Selbsttäuschung auszuweichen. Vornehmlich die für das Verstehen eminent wichtige Frage, wie man sich anderen zuwendet, hängt davon ab, wie viel Fragmentarisches und Desorientiertes jemand bei sich selbst konzediert. Diese besondere Form von ›Realismus‹ würde sich dadurch auszeichnen, das stets innehaltende, zögerliche Erkenntnisbemühen auch dann nicht aufzugeben, wenn von Anfang an (oder ziemlich bald) klar ist, dass wir immer hinter unseren Erwartungen und Sehnsüchten zurückbleiben werden, wenn wir uns also eingestehen müssen, dass wir nie aufhören werden, Suchende und Wartende zu sein. 92 Ein Wollen, über das sich kaum verfügen lässt, treibt uns zwar unablässig an – ein Bestreben, dem An-sich-Sein der Dinge sowie dem Wesen des anderen nahezukommen. Doch wir müssen einsehen: Hinter dem Wahrgenommenen und Erkannten erstreckt sich stets ein unwägbares Mehr, so dass unser Verlangen ungestillt bleiben muss. Wir wünschen uns, in etwas aufzugehen, und müssen doch bald lernen, ziemlich weite Strecken in Ermangelung jeder Seinsfülle zu durchmessen. Wir ›erleiden‹ die Flüchtigkeit des Schönen, die Unmöglichkeit vollkommener Präsenz, die Seltenheit echter Gespräche und Begegnungen. Auch Emmanuel Lévinas betont in seinen Schriften immer wieder, dass wir den anderen weder einnehmen noch beherrschen können, dass er in seiner Ganzheit für uns letztlich unerreichbar bleiben muss: »Hinter jeder Beziehung, die wir mit ihm unterhalten können, taucht er immer wieder als absoluter auf.« 93 So fordern uns andere, besonders die uns Zu den wertvollen Besonderheiten des wartenden und abwartenden Weltbezugs, siehe: (Simon 2015) // (Köhler 2007). 93 (Lévinas 1993, S. 124). 92

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Nahestehenden, unablässig dazu heraus, auf ihre Wünsche und Initiativen einzugehen, doch ich kann – darauf antwortend – niemals ganz sicher sein, wirklich verstanden zu haben. Entscheidend ist nun für Lévinas, dass auch im Scheitern der Kommunikation unsere Verantwortung für andere nicht endet. Er legt dar, dass wir Verantwortung erst dann tatsächlich realisieren können, wenn wir uns von vorneherein mit den Risiken des Missverstehens, der Verfehlung sowie der Kommunikationsverweigerung abfinden. 94 Eine solche Einstellung wäre getragen von grundlegender Akzeptanz unseres Unvermögens in dieser Welt, vom Wissen um die Begrenztheit unserer Gestaltungsmacht – selbst in unseren eigenen Belangen –, vom Zulassen unserer konstitutionellen Schwäche. Unabwendbare Erfahrungen von Vitalitätsverminderung in Alter, Krankheit oder auch nur Müdigkeit führen dies vor Augen. Weichen wir dem nicht aus, so kann eine neue intensive Verbindungsebene mit anderen entstehen, die denselben existenziellen Wechselfällen und Unberechenbarkeiten ausgesetzt sind, die ebenso wie wir mit unvollkommenen Mitteln um Verständigung ringen und in all dem eben nicht ausschließlich ausweichend denken. Wir sind in der Tat Mängelwesen, deren einzige Rettung darin besteht, dieser Tatsache innezuwerden, sie mutig und versöhnlich anzunehmen. Es geht um die »Fähigkeit, Fragment zu sein«, 95 wie Fulbert Steffensky es ausdrückt. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung läge darin, sich auch belastenden Gefühlen nicht zu widersetzen oder – anders gesagt – die besondere emotionale Schwere zuzulassen, mit der wir als denkfähige Wesen geschlagen sind. Durch unsere spezifischen Bewusstseinsanlagen erleben wir uns als ausgeliefert an natürliche Vorgänge und existenzielle Widerfahrnisse, wir erleiden auf zugespitzte Weise sowohl wiederkehrende Zerrissenheiten in uns selbst als auch die Verschlossenheit und 94 95

(Lévinas, 1998, S. 266). (Steffensky, 2018).

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Undurchsichtigkeit anderer – eine Gesamtlage, die uns in hohem Maße trostbedürftig macht. Überaus irritierend ist es, sich darüber klar zu werden, dass die Struktur unseres Bewusstseins – wie phänomenologische Untersuchungen zeigen – eine uneingeschränkte Deckungsgleichheit auch mit uns selbst prinzipiell ausschließt: Weil Bewusstsein nur als Bewusstsein von etwas gegeben ist, verweilt es »nie nur bei sich und erreicht auch niemals eine in sich ruhende Abgeschlossenheit; stets ist es in seinem Außer-sich-sein mit einer Entfremdung geschlagen, die jede bruchlose Selbstkoinzidenz usurpiert.« 96 Auch wenn die Frage offen bleiben muss, ob sich nicht z. B. in der Meditation andere Bewusstseinserlebnisse eröffnen, so scheint es dennoch nicht unberechtigt, von einer besonderen ›Wehrlosigkeit‹ und ›Trostbedürftigkeit‹ des Menschen zu sprechen. Was aber meint hier Trost? Georg Simmel schreibt: »Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen. Trost ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen läßt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele.« 97 Damit ist gesagt: Von zahllosen Leiden an der Welt können andere letztlich keine Abhilfe schaffen. Dies gilt in vielen Fällen persönlicher Bedrängnis, insbesondere aber im Blick auf die elementare Gebrochenheit und Fragilität der menschlichen Situation. »Dem Menschen ist«, wie Simmel schreibt, »im großen und ganzen nicht zu helfen.« 98 Falls für diese Untröstlichkeit überhaupt Entlastung oder Abmilderung bestehen kann, dann einzig durch die Gegenwart anderer, an die wir unseren Schmerz herantragen dürfen, vielleicht weil sie uns liebevoll zuhören und ausdauernde Teilnahme bezeugen – eben auch an dem, was unabänderlich 96 97 98

(Flatscher 2013, S. 185). (Simmel 1923, S. 17). (Ebd.).

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ist. Darin wird eine Art temporärer Erleichterung durch Delegation des Leidens an diese anderen möglich, welche darum wissen, grundsätzlich unter denselben existenziellen Bedingungen zu stehen. Wenngleich akuter Schmerz in seiner Spezifik kaum mitteilbar ist, so findet sich dennoch ein schmaler Steg, der in den Begegnungsraum des Zwischen führt. Begehbar wird er, wenn wir es wagen – gegen den Strom einer optimierungsfixierten Zeit schwimmend –, unsere Begrenztheit und konstitutionelle Schwäche einzuräumen, wenn wir hinreichend viel Mut aufbringen, Angst und Verunsicherung zuzulassen, welche sich aus unserer unabwendbaren Betroffenheit von Vergänglichkeit 99 , Leiden, Krankheit und Tod ergeben, wenn wir vielleicht sogar jene Untröstlichkeit beim Namen nennen, die das Erleben unstillbarer Sehnsüchte mit sich bringt. »Die Schwäche macht den Menschen gesellig«, 100 schrieb einst Rousseau. Auch er glaubte, dass das Leben den Menschen früher oder später lehren werde, dass alle gleich sind, d. h. in gleicher Weise von Schmerz, Gebrechlichkeit und Tod betroffen sind. Hieran lässt sich anknüpfen mit einem zusätzlichen Hinweis auf das Verbindende, das aus der tiefen Erkenntnis unserer Wahrheitsunfähigkeit hervorgehen kann. An die Stelle eines alles umgreifenden, potentiell gewaltsamen Vernunftanspruchs träte gleichsam ein kooperatives Zusammenwirken sich bescheidender Einzelner, die darum wissen, dass das Vernünftige nur als eine jeweils im Dialog errungene gemeinsame Orientierung verstanden werden kann. 101

Zum Thema »Vergänglichkeit«, siehe: (Schmidt 2019). (Rousseau 1971, S. 222). 101 An dieser Stelle ist es aufschlussreich, sich den Wortursprung des Substantivs ›Vernunft‹ in Erinnerung zu rufen: das althochdeutsche »vernumft« bzw. »firnumft« wurde gemäß alten Wortbildungsregeln auf Basis einer früheren Form und Bedeutung des Verbs »vernehmen« (mhd. »vernehmen«; ahd. »firneman« – »erfassen« bzw. »ergreifen«) 99

100

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Dieses Ideal des Miteinandersprechens im Dienste pragmatischer Lösungen, von dem niemand per se ausgeschlossen bleiben darf, benötigt Besonnenheit in allen ihren Facetten: Der bewusste Umgang mit spontan aufkommenden Affekten ist hier ein wichtiger Schritt, insofern erst im abwartenden Zurücktreten eine Ausweitung verengter Perspektiven möglich wird. Ein weiterer damit eng verknüpfter Schritt ist das aktive Sicheinlassen auf andere, denen in allen Verstehensprozessen ein Vetorecht einzuräumen wäre. Knapp und klar erfasst Lévinas diese Haltung in den Worten: »Eine Person verstehen, heißt schon mit ihr sprechen.« 102 Hier ist Einsicht in die Grenzen des Verstehens zwar stets präsent, doch sie strandet nicht in Posen solipsistischer Unergründlichkeit und existenzieller Verdüsterung. Vielmehr bleibt sie unermüdlich bemüht, neues Licht ins Dunkel zu bringen. Darüber hinaus verweist die fundamentale Anerkennung anderer – gerade in lebenspraktischen Angelegenheiten – auf jene schon in Platons Staatsphilosophie skizzierte Spielart der Besonnenheit, die dazu befähigt, auch Überlegenheit anderer, z. B. im geistigen oder handwerklichen Expertentum, anzuerkennen. Generell verlangt ein pragmatisches Vernunftverständnis – insbesondere im Blick auf das Funktionieren öffentlicher Angelegenheiten –, Abstriche hinzunehmen oder, anders gesagt, auch eigene Ansprüche auf der Basis von Gerechtigkeitsgesichtspunkten einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Greifen wir noch einmal die soeben zitierten Worte Rousseaus auf, so beinhaltet diese Feststellung leider ebenso die Vermutung, dass jemand sich wohl lange ungerührt verhalten wird, sofern soziale Privilegien ihn nachhaltig gegen die Niederungen des Alltags und die Wechselfälle des Lebens abschotten, sofern materielle Not und schmerzliche Erfahrungebildet. Deshalb wurde es zunächst auch nur im Sinne von »Erfassung, Wahrnehmung« verwendet. 102 (Lévinas 1995, S. 17).

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gen ihm weitgehend erspart bleiben oder nicht wirklich fühlbar werden, weil z. B. auf diversen Schnellwegen – durch Ablenkung, Waren- oder Drogenkonsum – für Abhilfe und kurzzeitige Entlastung gesorgt ist. Bei vielen Menschen regiert heute die Angst davor, ehrlich über ihre Schwächen, Unsicherheiten und Selbstzweifel zu sprechen – nicht nur auf der öffentlichen Bühne, sondern auch im privaten Umfeld. Wer Unzulänglichkeiten enthüllt, riskiert, sich noch angreifbarer zu machen, nicht zuletzt »verwundbar gegenüber dem möglichen Versuch der anderen, seinem Ausdruck zu mißtrauen«. 103 Zu befürchten ist, dass das jeweilige Umfeld die Suche nach Verständnis und Trost als Dramatisierung, Anstellerei, Verweichlichung oder unmännliches Einknicken belächelt. »Die Hölle, das sind die anderen«, legte einst Sartre in beklemmenden Analysen und Schilderungen dar. 104 Blumenberg bemerkt überdies, dass durch ein psychologisierendes Herangehen, das andere objektiviert, die Not oft noch gesteigert wird: »Jede Form von Psychologismus erhöht die Verwundbarkeit dessen, der das Schutzbedürfnis der Subjektivität des Schmerzausdrucks in Anspruch nimmt. (…) Der Trostbedürftige ist angewiesen auf die anderen, die ihn trösten, aber diese anderen sind auch die, die ihn trostbedürftig machen können (…).« 105 Folglich muss alles darangesetzt werden, sich keine Blöße zu geben – eine Tendenz, die gegenwärtig zuzunehmen scheint: Wir kennen das vehemente Vorgaukeln von (Selbst)Gewissheit, hinter der die Leere aufscheint; ebenso wissen wir um den Aufbau illusionsgeladener Selbstbeziehungen und die Abschirmung gegenüber Vorstößen sachgemäßer Realitätsorientierung. Wie zuvor dargelegt, üben wir uns im Anlegen von Masken, wobei schließlich auch empathische Zugewandtheit inszeniert wird bzw. problematische Erscheinungsformen annimmt. 103 104 105

(Blumenberg 2014, S. 629). (Sartre 1991, S. 42). (Blumenberg 2014, S. 629 u. S. 633).

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Es können kaum Zweifel bestehen, dass Besonnenheit hierfür ein Gegenmittel bereitstellt, aber es ist ebenso wahr, dass sie ein überaus hochfliegendes Ideal bemüht, gerade weil sie uns auferlegt, den Versuchungen der Selbsttäuschung entgegenzutreten, weil sie menschliche Souveränität in ungewohnter Weise an das extrem schwierige Eingeständnis eigener Begrenztheit koppelt. Überdies verlangt sie Geduld und Langmut, denn eine besonnene Haltung kann nicht qua Knopfdruck oder Entscheid herbeigeführt werden, vielmehr benötigt sie diverse Wege gedanklicher und praktischer Einübung, über die wir allmählich lernen, uns den Faktizitäten des Daseins zu stellen. In diesen Prozessen fällt dem Philosophieren immense Bedeutung zu: Es verhilft dazu, angesichts der Komplexität moderner Lebenswirklichkeiten, die vielfach entfremdend wirken, das In-der-Welt-sein grundlegend zu überdenken. Nur so gelangen wir dazu, uns kontinuierlich die eigene Lebenswirklichkeit anzueignen und zugleich jene Grenzen anzunehmen, die sich aus der leiblich-emotionalen Einbindung der menschlichen Existenz ergeben. Konsequentes Philosophieren lenkt zu der Einsicht, dass sowohl die Möglichkeiten des Fremdverstehens als auch die Chancen, uns selbst durchsichtig zu werden, limitiert sind. Von hier aus gelangen wir zu neuen Perspektiven auf familiäre, freundschaftliche und berufliche Kontexte. Im Gewahrwerden und Annehmen grundlegender Schwierigkeiten der Verständigung kann, wie ich zeigen wollte, eine besondere dialogische Aufgeschlossenheit wachgerufen werden, ja gewissermaßen wird sie sogar gefordert. Vorzugsweise im Eingeständnis des Trennenden und Unerreichbaren bahnen sich neue Wege der Beziehung, weil nun insbesondere das Wie der Zuwendung bedacht werden muss. Voraussetzung für wechselseitige Empathie ist zunächst das Zulassen unkalkulierbarer Fremdheitsgefühle. Nur so erhält sich Bezogenheit über stets spürbare Grenzen hinaus. Man könnte von Milde, Sanftmut und Nachsicht sprechen, die sich 240 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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einstellen mögen, wenn eigene Begrenztheit Akzeptanz findet. Dies macht es uns leichter, andere nicht nur so zu lieben und zu akzeptieren, wie wir geliebt und akzeptiert worden sind, sondern eher so, wie wir geliebt und respektiert zu werden wünschen, immer ein wenig über den Saum des Verstehbaren hinaus. Verantwortung entspringt letztlich nicht aus freier Wahl, sondern sie ist uns gleichsam existenziell mitgegeben. Wir sind zu ihr gerufen, weil sich der andere sowohl einer empirischen Fixierung als auch einer metaphysischen Verpflichtung durch unser Bewusstsein entzieht, weil unsere Auslegungen der Wirklichkeit durch seine Gegenwart unablässig in Frage gestellt werden. Dabei müssen wir in der Regel nicht nur einem anderen gerecht werden, sondern sehen uns durch eine Vielzahl von Ansprüchen herausgefordert. Folglich sind wir von Grund auf politische Wesen, die in ein Gewebe komplexer Beziehungen eingewoben werden und versuchen müssen, innerhalb sich stets wandelnder Situationen zwischen oft sehr heterogenen Ansprüchen abzuwägen. Um dies zu bewerkstelligen, d. h. um zu fairen, akzeptablen und praktikablen Lösungen zu gelangen, müssen wir in Gesprächen unermüdlich Perspektivwechsel vornehmen. An die Stelle einer Utopie allumfassenden Verstehens tritt ein Pragmatismus, der sich stets des ›Mehrwerts‹ anderer bewusst bleibt. Bezug nehmend auf Lévinas sieht Burkhard Liebsch die hier gemeinte Haltung in der Einsicht fundiert, dass politisches Handeln nur dann vor der Versuchung des Totalitären bewahrt werden kann, »wenn es die Menschen nicht ausnahmslos bzw. restlos erfasst, wenn es vielmehr einer ethischen Verpflichtung angesichts jedes anderen eingedenk bleibt, die in keiner politischen Ordnung je aufzuheben sein wird«. 106 Diese Sicht steht quer, um es nochmals zu betonen, zu der tradierten (philosophischen) Vorstellung einer frei agierenden Subjektivität, welche von einem erhabenen Be106

(Liebsch 2010, S. 108 f.).

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trachterstandort aus sachlich-neutrale Analysen des Gegebenen durchführt, zu tragfähigen Lösungen gelangt und zuletzt selbstbestimmten Entscheidungskonzepten folgt. Wir wissen, wie tief diese Vorstellungen auch in unser Alltagsdenken eingelassen sind. Philosophieren in der hier dargelegten Form ist also ganz und gar kein Luxus, wenn wir den politischen Herausforderungen in einer pluralen Gesellschaft nachkommen wollen. Dabei liegt auf der Hand, dass das philosophische Bemühen um mehr Klarsicht nicht risikofrei ist. Schließlich werden eingefleischte Denk- und Handlungsmuster zur Disposition gestellt, gewohnheitsmäßige Selbstideale geraten ins Wanken. Schon Platon versuchte vergebens, die Tyrannen von Syrakus philosophisch zu läutern. Entsprechend wird sich aller Voraussicht nach auch gegenwärtig in Fällen verhärteter Persönlichkeitsstrukturen eher wenig mittels philosophischer Reflexion ausrichten lassen. Sehr viel aussichtsreicher erscheint es mir deshalb, den Auf- und Ausbau von Erziehungs- und Bildungsformen anzuregen, die die Sozialisation mitfühlend-besonnener Persönlichkeiten unterstützen und sich längerfristig positiv auf das Gesellschaftsganze auswirken, nicht zuletzt auch im politischen Bereich. Auch dies mag naiv erscheinen, aber ich sehe derzeit keinen anderen erfolgversprechenden Weg, um der um sich greifenden sozialen Kälte und Verrohung sowie einem herzlosen politischen Irrationalismus entgegenzutreten. Es kam mir darauf an, die prekäre Lage des Menschen innerhalb der komplexen, hochindividualisierten Leistungsgesellschaft zu thematisieren, um die Angeschlagenheit und Trostbedürftigkeit anzusprechen, die sich nicht selten hinter nach außen getragenen Muskelspielen und Machtposen verbergen. Gleichwohl man sich nicht dazu bekennen mag, so zeitigen die Verlorenheitsgefühle in der Welt dennoch durchschlagende Wirkungen. Angesichts dieser schwierigen Gesamtlage käme es vor allem in sozialen Nähebeziehungen darauf an, dem massiv um sich greifenden Erleben von Un242 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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sicherheit entgegenzuwirken – eine Aufgabe, die aus meiner Sicht von gesellschaftlicher Priorität ist, denn es geht hier um das Wohl unserer Kinder und damit um die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Wesentlich ist aktuell, der heranwachsenden Generation die Aufmerksamkeit und Anerkennung angedeihen zu lassen, die ihr Weltvertrauen stärkt und sie zuversichtlich auf das Morgen blicken lässt. Laut Blumenberg obliegt den Nächstverantwortlichen die Aufgabe, den Menschen mit der Kontingenz seines Daseins auszusöhnen. Im Anschluss an diese Feststellung thematisiert er sogar »ein Menschenrecht darauf, nicht ungewollt zu existieren«. 107 Klar ist: Auch als derart Geborgene bleiben wir trostbedürftige Wesen, wenn auch vielleicht solche, die aus der eigenen Angewiesenheit auf andere keinen Hehl mehr machen, und demnach solche, die ihrerseits Zuwendung und Trost zu spenden wissen. In echter Zugewandtheit und Offenheit mag jedes vermeintlich gewisse Bild der Welt schwinden. Doch eher noch trifft zu: Man lässt es los, um (sich) gleichsam in ein Netz aus Beziehungen einzuweben und eingewoben zu werden, ein Netz, welches Trost gewährt und Unsicherheit mindert. Die tröstende Kraft des Zuhörens kann dabei nicht überschätzt werden: »Da hört ein Ohr, als ob es mir gehörte, und es ist doch nicht mein eigenes. Es ist mir, indem es mir zuhört, zugehörig und doch nicht eins mit mir – denn andernfalls wäre es, als führte ich Selbstgespräche. Oder: Der mir zuhört, ist mir nah und ›bei mir‹ und ist doch zugleich ein anderer, hat mir nur sein Hören geliehen.« 108 Und dennoch: Wenn auch zugehört und nachempfunden wird, wenn unverkürzte Zwischenmenschlichkeit auch Milderung und Geborgenheit zu stiften vermag, ein Rest von Untröstlichkeit bleibt vermutlich immer bestehen. Denn sowohl ein differenziertes – gedehntes – Hinsehen im persönlichen Kreis als auch ein Pragmatismus des mühseligen Aus107 108

(Blumenberg 2014, S. 649). (Achenbach 2017, S. 272).

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handelns und Abstimmens kontroverser Standpunkte im politischen Leben stellen fraglos ihrerseits Belastungen dar, von denen wir uns zeitweilig befreien müssen. Um die Vielfalt der Sichtweisen, um den schier endlosen Diskurs, für dessen Gelingen unausweichlich Abstriche am Eigenen hinzunehmen sind, um all diese Bedingtheiten aushalten zu können, muss es erlaubt, ja gewissermaßen sogar angeraten sein, zeitweilig alle ›vernünftigen‹ Wirklichkeitsbezüge hinter sich zu lassen. Es muss gestattet sein, hin und wieder »aus dem Ernst der Selbsterhaltungsanforderungen« herauszutreten, 109 abzudriften, zu regredieren, zu lachen, 110 sich Illusionen hinzugeben. Denn schließlich läge die größte Illusion vermutlich darin, ganz ohne Illusionen leben zu wollen. Dass unsere Lebensfähigkeit immer auch darauf beruht, den nüchternen Realitätssinn ausschalten zu können, wurde oftmals angemerkt, selbst von Philosophen, die wie der Aufklärer Julien Offray de la Mettrie scharfzüngig gegen selbstbetrügerische Weltbilder ins Feld zogen. 111 Luftschlösser des Wünschens, Vorspiegelungen des Traums, ja selbst die Phantasiegebilde des Wahns seien keineswegs grundsätzlich zu verwerfen. Denn hier lägen – so La Mettrie – genuine Möglichkeiten der Glücksempfindung, während die gelehrten Verächter der Phantasie und des leichten Spiels oftmals von Düsternis, Apathie und Schwermut umhüllt seien. Vor allem bedürfe die außerordentliche produktive Kraft der Imagination solcher Täuschungen und Suggestionen durch unsere (Blumenberg 2014, S. 638). Auf die Bedeutung des Humors angesichts dieser Gesamtlage kann hier nur kurz verwiesen werden – dies wäre ein eigenes wichtiges Thema. Die besondere Kraft des Humors liegt darin, spielerisch auch das Unerwartete, Widersprüchliche, Vernunftwidrige und Unlenkbare anklingen zu lassen, ja das Lächerliche regelrecht zu suchen, um das Gravitätisch-Anmaßende und Exkludierende ausgefeilter (metaphysischer) Systembauten zu konterkarieren. – Siehe hierzu: (Hügli 2016) // (Lüthe 2017). 111 Siehe: (Bennent-Vahle 2005). 109 110

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»ein bisschen trunkenen Augen«, denn ohnehin gebe es keine Sicherheit. Warum also sollten wir nicht gelegentlich Vorspiegelungen freien Lauf lassen, die der hervorragend bestellte, fruchtbare Boden des Gehirns zu unserer Freude hervorbringe? 112

C. Problematische Gefühlsansteckung Zu diesen Vorspiegelungen gehört nicht zuletzt auch das rauschhafte Schwelgen in Einsfühlung mit anderen, welches Menschenmassen auf Festen, Konzerten oder bei Sportereignissen jubilierend dahinschmelzen lässt. So erfüllend und unentbehrlich derartige Begegnungen auch sind, so ist es dennoch wichtig, auch die dunkle Seite des menschlichen Schwarm- und Schwärmverhaltens zu beachten, welche die politische Szene neuerdings wieder verstärkt beherrscht. Fraglos ist, dass die menschliche Neigung, rudelförmig zu agieren, erneut beliebter Anknüpfungspunkt für politische Kampagnen aller Art geworden ist. Mit Vorliebe wird dieser Mechanismus dort bedient, wo gezielt Emotionen wie Angst, Ekel und Wut geschürt werden, während realitätsgerechte Argumente weitgehend unter den Tisch fallen. Man kann sich ausmalen, wie vernichtend sich medial aufgeheizte Kampagnen auf die jeweiligen ›Opfer‹ auswirken, erst recht dann, wenn das vermeintlich gesunde ›Volksempfinden‹ lautstark Anschuldigungen und Vorwürfe in die Welt posaunt, die weitgehend jeder sachlichen Grundlage entbehren. Verweist zum Beispiel ein ultrarechter Redner darauf, dass Flüchtlinge (La Mettrie 1985a, S. 47) u. (La Mettrie 1985b u. 1987). – Siehe hierzu insbes.: (Jauch 1998, S. 547 ff.). – Jauch erblickt im Werk La Mettries eine zunehmende Skepsis gegenüber der experimentellen Naturwissenschaft, die »das Geheimnis eliminiert und an seine Stelle Ziffer, Funktion und Zahl installiert.« (Ebd., S. 564). – Gegen diesen Strom der Moderne richte La Mettrie eine Kraft der »Wiederverzauberung« durch Täuschung und Traum, die er als natürliche Phänomene erachte.

112

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Ethische Relevanz des Fühlens – Gefühl und Tugend

Krankheiten und Ungeziefer einschleppen, Frauen vergewaltigen und Arbeitsplätze stehlen, so geht es ihm kaum um realistische Einschätzungen, z. B. im Dienste angemessener Gesundheitspflege oder einer effektiven Arbeitsplatzpolitik. Es geht ihm vielmehr darum, genau die Emotionen anzukurbeln, die die Differenzstruktur des menschlichen Mitgefühls ruinieren. Genauer gesagt wird gezielt ein Gegensatz zwischen der Wirgruppe und den anderen aufgebaut, um Ängste zu schüren und ein destruktives Freund-Feind-Denken in Gang zu setzen. Das heißt: Über die Verbreitung gefühlter Gewissheiten wird emotionale Einsfühlung geschickt inszeniert. Wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen darlegt, bietet insbesondere die Netzöffentlichkeit gesteigerte Möglichkeiten der aggressiven Polarisierung über eine Etablierung von Echokammern, in denen diverse Verstärkermechanismen wirksam werden. 113 So verkommt das Resonanzvermögen in Ritualen der Verschworenheit unter Gleichgesinnten, die hitzig und eifernd Hass und Feindbilder zelebrieren. Im Übrigen weiß die rechte Szene das menschliche Verlangen nach Zugehörigkeit mit Ferienlagern, mit heimatverbundenen Festen und Gemeinschaftskulten bestens zu bedienen. Gefühle der Verschworenheit und entsprechende Verhaltensmuster lassen sich relativ leicht ankurbeln, weil unsere spontanen empathischen Reflexe erwiesenermaßen von geringer Reichweite sind. Wie dargelegt, beschränken sie sich weitgehend auf das uns vertraute Umfeld 114 , d. h., Hineinfühlen in andere und spontane Empathie erfolgen wie alle Emotionen zunächst vom limitierten Standort der jeweiligen PerSiehe: (Pörksen 2018, S. 76 ff.). (Bloom 2014, S. 62 ff.). – Vor diesem Hintergrund formuliert Pörksen angesichts der besonderen Herausforderungen der Netzöffentlichkeit einen Bildungsauftrag, der – auf Entwicklungsfähigkeit vertrauend – die »allgemein menschliche Neigung zur Selbstbestätigung, die erste Natur des Menschen, seine gedankliche Bequemlichkeit« zu bewältigen anstrebt. (Pörksen 2018, S. 22/23).

113 114

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son aus. Sie entspringen also auf Anhieb keineswegs dem Blickwinkel eines unbeteiligten Beobachters. Vielmehr regiert auch hier ein Grundprinzip aller Emotionalität, welches besagt: Was in uns emotionale Reaktionen auslöst, sind die Dinge, die für uns selbst bzw. für unser persönliches und direktes Umfeld wichtig sind bzw. wichtig werden, wenn (unerwartete) neue Einflüsse auftreten bzw. Veränderungen erfolgen, auf die wir uns einstellen müssen. Inzwischen weiß man: Starke Gefühle des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit entstehen besonders leicht in homogenen Gruppen, die wenig Raum für individuellen Eigensinn gewähren, Gruppen, die einem Ethos überpersonaler Korrektheit folgen und eine ausgeprägte hierarchische Struktur aufweisen. 115 Maßgeblich ist, dass solche Gruppen in der Regel einen strengen Kodex moralischer Normen anbieten. Die fraglose Identifikation mit strikten Regeln und Vorschriften vermittelt Orientierung und Sicherheit und veranlasst zugleich dazu, Andersdenkenden und Außenstehenden zu Recht (wie man glaubt) mit Härte und Unerbittlichkeit zu begegnen. Wer allzu strikte Moralnormen vertritt, neigt zur Stigmatisierung vermeintlicher Sünder, nicht selten trifft dies sogar die Allernächsten. Ich erinnere nur an die Erziehungsmittel einer schwarzen Pädagogik, die gnadenlos züchtigt und beschämt. So greifen überzeugte Moralisten ohne Skrupel zu äußerst fragwürdigen Erziehungsmitteln. Unerbittlich züchtigen und beschämen sie die ihnen Anvertrauten im Dienste vermeintlich hoch stehender Sittlichkeitsnormen. 116 Wie etwa der Film Das weiße Band 117 eindrücklich vorführt, neigen solchermaßen traktierte Kinder schließlich dazu, ebenso grausam und gnadenlos gegen andere, meist (Welzer 2007, S. 34 ff.). Lebendiges Beispiel einer Kindheit in »Menschen zerstörenden« pädagogischen Einrichtungen bietet z. B. der autobiografische Bericht von George Orwell. – Siehe: (Orwell 1989). 117 Siehe hierzu auch: (Zander 2009). 115 116

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noch Schwächere, vorzugehen. Zu beobachten sind hier Prozesse der Zerstörung des Mitgefühls durch Übernormierung und Härte. Erkennbar wird zugleich, dass sich kindliche Ängste und Racheimpulse oftmals in Gewaltanwendung oder auch in Tierquälerei ein Ventil suchen. Grausamkeit offenbart hier ihren innersten Kern als eine Form von Kontrollzwang, der reflexartig zu beherrschen sucht, was Furcht und Panik einflößt: die eigene Schwäche, die nun stellvertretend am anderen gegeißelt wird. Härteideale und eine rigide Normativität treten oftmals begleitet von erstarrten fremdenfeindlichen oder auch sexistischen Denkmustern auf. Denn schließlich ist Abgrenzung gegenüber dem Fremdartigen ein probates Mittel, um ohne besonderen gedanklichen Aufwand ein elitäres Wirgefühl zu stiften. 118 Geschichtliche Tatsachen und sozialpsychologische Experimente belegen gleichermaßen: Es ist ein Leichtes, Menschen zu Abgrenzungen gegenüber Fremdgruppen zu animieren. Wir alle sind, wenn wir einmal ehrlich sind und genau hinschauen, willige Opfer einer Verfeindungsstruktur im Kleinen. Sind wir nicht wachsam, so widerfährt uns Vergleichbares auch im Großen, dann nämlich, wenn wir anfangen, Teilen der Bevölkerung unbemerkt oder bedenkenlos das Menschsein abzusprechen und sie zu diffamieren. All dies geschieht im Zeichen einer Gesellschaft, die meint, auf eine intensivierte, psychologisch und philosophisch angeleitete Kultivierung des Emotionalen verzichten zu können. Zwar wird in vielen beruflichen Bereichen ein strategischer Umgang mit Emotionen antrainiert, doch entspricht dies im Grunde nur einer Steigerung problematischer Kontrollmechanismen. Nun wird der ganze Mensch – und nicht bloß seine kognitiven oder handwerklichen Fähigkeiten Zur Thematisierung von Wir-Erleben, Massengefühl, Kollektivmenschentum, Senkung der Kritikfähigkeit etc. innerhalb der europäischen Entwicklung, siehe: (Bailey 2011, S. 224 ff.). // Zur aktuellen Situation, siehe auch: (Gaßenhuber 2018) // (Mansour 2015) // (Lützinger 2010).

118

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– zweckdienlich ›verwertet‹, d. h. erfolgstaktisch normiert, reguliert und ausgebeutet. Die Kehrseite der Medaille ist eine enthemmte Gefühlsbarbarei, wie sie sich uns in den Medien alltäglich präsentiert. Ihre Kennzeichen sind das Verschwinden von Scham, enthemmte Aggressivität, eine artifizielle, oft hysterische Betroffenheitsattitüde ohne Substanz und vieles mehr. Resümee: Da die Reichweite unseres ursprünglichen Mitgefühls gering ist, ist diese emotionale Haltung permanent davon bedroht, ihre Differenzstruktur einzubüßen. Folglich bedarf es gezielter Maßnahmen, um mehr Menschlichkeit zu ermöglichen. »Der in uns von der Natur gelegte Antrieb« des Mitfühlens, den selbst Kant als eine wichtige Ergänzung der Pflichtvorstellungen ansah, dieser Trieb kann seinerseits ohne das Hinzutreten moralwertiger Reflexionen nichts ausrichten. 119 Dies gilt verstärkt angesichts der multikulturellen Herausforderungen innerhalb einer globalisierten Welt. Emotionale Weiterbildung ist m. E. eines der vordringlichsten Gebote der Stunde. 120 Unleugbar ist, Gemeinschaft ist ein tief in der menschlichen Natur verankertes Grundbedürfnis. Wir sind emotional gewissermaßen darauf gepolt. Allerdings birgt unser Gemeinschaftstrieb, wie ich dargelegt habe, große Gefahren in sich. Deshalb müssen wir heute alles daIn der Metaphysik der Sitten spricht Kant von einer bedingten Mitleidspflicht gegenüber anderen, einer indirekten Pflicht der »tätige(n) Teilnehmung an ihrem Schicksale und zu dem Ende (…), die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu kultivieren, und sie, als so viele Mittel zur Teilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen.« Weiter heißt es: »So ist es Pflicht, nicht die Stellen, wo sich Arme befinden, denen das Notwendigste abgeht, umzugehen, sondern sie aufzusuchen, die Krankenstuben, oder die Gefängnisse der Schuldener u. dergl. zu fliehen, um dem schmerzhaften Mitgefühl, dessen man sich nicht erwehren könne, auszuweichen; weil dieses doch einer der in uns von Natur gelegten Antriebe ist, dasjenige zu tun, was die Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausrichten würde.« – (Kant 1982, S. 595). 120 Siehe hierzu auch: (Nussbaum 2012). 119

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ransetzen, neue Interaktionsformen und Gruppenmodelle zu entwickeln und diese in alle gesellschaftlichen Kontexte, vorrangig aber in den Bildungsbereich, einzubringen. Es geht darum, über soziale Näheerfahrungen zu vermitteln, dass Gemeinschaften erst dann wirklich gut kooperieren, wenn sie innere Vielfalt erlauben und die individuellen Qualitäten einzelner Gruppenmitglieder zu stärken suchen. Es geht darum, unserem Gemeinschaftsverlangen auf neue Weise zu entsprechen, das heißt Formen des Wir zu gestalten, die ohne aggressive Ausgrenzung nach außen und ohne stereotype Denkzwänge nach innen auskommen. Diesbezüglich gibt es einen weiteren wesentlichen Punkt herauszustellen.

D. Selbstwirksamkeit auf allen Ebenen Auf allen Ebenen des empathischen Geschehens ist vor allem eines zentral: Ohne Gespür für die Wirkmöglichkeiten der eigenen Person sind keine nachhaltigen und bereichernden Erfahrungen des Zwischenmenschlichen zu erlangen. Dies kommt schon auf der Stufe der Gefühlsansteckung zum Tragen. Häufig wirkt hier die intensive Sehnsucht, ganz und gar im Einklang mit uns selbst und der Welt zu sein. Es regiert der tiefe menschliche Wunsch nach Aufhebung aller Vereinzelung oder gar nach mystischer Verschmelzung mit anderen. Mitunter wird dieser Wunsch überstark und veranlasst dazu, mit Hilfe von Stimulanzmitteln leichthin in den Resonanzmodus gelangen zu wollen – z. B. mittels Alkohol, Drogen, Musik, Wellness und vielem mehr. Auf Schnellwegen soll ein hochfliegendes Fühlen zielsicher geplant und anstrengungslos hergestellt werden. Viele Menschen streben gegenwärtig danach, quasi unablässig ein außergewöhnliches Auskosten von Höhenflügen zu forcieren, d. h., sie suchen rastlos nach »thrills« in Konsum und Abenteuern aller Art, sie tauchen in reale oder mediale Parallelwelten ein oder sie versetzen sich durch Drogen und Medikamente in Aus250 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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nahmezustände, um ein ›unvergleichliches‹ Entzücken herbeizuzwingen. Zuweilen hoffen sie, auf diese Weise vorübergehend zu vergessen, dass nicht alles zum Besten bestellt ist in ihrem gewöhnlichen Leben. Beruflicher Anpassungs- und Leistungsdruck führt zu chronischer Überstrapazierung der Selbstkontrolle. Reaktiv erwächst ein Verlangen nach temporärer Erlösung von der Realität, nicht selten mit gravierenden Folgen wie Süchten aller Art, abusiven Verhaltensmustern, affektiven Einbrüchen. Für kurze Zeitspannen mag die Flucht aus der Wirklichkeit Entlastung bieten, doch auf Dauer gestellt bergen solche Regressionstendenzen bedenkliche Fallstricke in sich: Nicht nur, dass sich rauschhafte Kicks und erzwungene Hochgenüsse rasant schnell abnutzen, nicht nur, dass sich das Wandeln auf Abenteuerpfaden zudem – bei Lichte betrachtet – oft genug als moralisch zweifelhaft erweist, problematisch ist vor allem in ganz grundlegender Weise jedes Abzwingenwollen von Glücksmomenten. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht diesbezüglich von Resonanzverdinglichung im Modus ständiger Effektsteigerung, 121 welche innerhalb der modernen Lebenswelt bestimmend geworden sei. Ganze Industrien leben davon. Hier geht es nicht um wirklichen Genuss, sondern um ablenkende Belustigung und seichten Zeitvertreib bzw. um den Absatz von Produkten, die allenfalls kurzfristig abfüllen, vollstopfen oder betäuben. Es scheint quasi gewollt, dass Menschen zeitweise ihre Kontrollsysteme ausschalten, um sich ungehemmt dem Verzehr schädlicher Konsumartikel hinzugeben. Rückenwind bietet hierbei eine seit langem aufgebaute Ideologie, die uns Glauben machen will, Selbstbeschränkung und abwägendes Zurückstecken seien per se Feinde des guten Lebens. Doch nachweislich ist genau dies unzutreffend. Untersuchungen zeigen im Gegenteil: »Menschen mit funktionierender Selbststeuerung erleben signifi-

121

(Rosa 2016, Kap. XII.).

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kant mehr Glück und weniger Leid, Angst und Depressivität als jene, denen diese fehlt.« 122 Insbesondere Resonanz als zwischenmenschliches Antwortgeschehen ist letztlich unverfügbar, lässt sich in keiner Form erzwingen. Sie kann unter jeweils einmaligen Umständen einer Situation erfolgen, indem mehrere Faktoren zusammenfließen und in Wechselwirkung treten. Wesentlich ist dabei vor allem eine innerliche Bedingung, nämlich die wache Empfänglichkeit des Gemüts für von außen Kommendes. Hetze, Stress und Erfolgszwänge verhindern genau dies und verführen dazu, bei Bedarf nach starken Reizmitteln zu greifen. Doch in diesem Fall kann sich die sensitive Bereitschaft der menschlichen Seele nicht langsam aufbauen, stattdessen soll sie quasi unverzüglich produziert werden. Die gerade für das Resonanzerleben so wichtige Komponente der Selbstwirksamkeit wird umgangen. Wer sich nicht bewusst – in einer Mischung aus Tun (Aktivität) und Lassen (Passivität) – auf den inaktiven Vorgang einer allmählichen Öffnung aller Sensoren einschwingt, dem wird das wunderbare Erleben schnell zu einer schillernden Seifenblase, die nach Sekunden zerplatzt. Deshalb kann nach rauschhaften Momenten des Schwelgens im Wirgefühl das Erwachen in Vereinzelung, Isolation und Fremdheit äußerst rabiat und schmerzlich sein. Anders gesagt: Auch das Genießen will gelernt werden. Künstlich erzeugte Verbundenheitsgefühle stellen somit auf Dauer nur einen schalen Ersatz für zwischenmenschliche Begegnung dar. Weiß jemand nicht ebenso um die höheren, komplexeren Ebenen zwischenmenschlicher Bezogenheit, so erhält das Eintauchen in Konfluenz und Gleichklang schnell einen faden Nachgeschmack. Demnach kann man sagen, dass Gemeinschaftserlebnisse und Gefühlsansteckung vor allem dann ihren Zauber bewahren, wenn sie nicht Ersatz, sondern Ergänzung und Erweiterung gelingender Zwischenmenschlichkeit sind. Unter dieser 122

(Bauer 2015, S. 35).

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Voraussetzung wären sie gleichsam unmittelbarer Ausdruck einer tieferen Verbundenheit, die sich ebenso in echter Zuwendung, reifem Mitgefühl und kommunikativer Aufgeschlossenheit niederschlägt. Natürlich gilt umgekehrt auch Folgendes: Das Erleben großartiger Stunden beschwingten Gleichklangs macht geneigter, uns mitfühlend auf die Lebensinteressen anderer einzulassen. Alle Resonanzerfahrung ist, wie Hartmut Rosa deutlich macht, eng mit Selbstwirksamkeitserwartungen verkoppelt. Hierzu benötigen Personen Gespür für die Besonderheiten der je eigenen Stimme, eine Stimme, die sich in Nachdenklichkeit formiert und gleichermaßen bewusst auch den Aufbau sensitiver Fähigkeiten angeht, um sich dem Antwortgeschehen öffnen zu können. 123 Zurückzuweisen sind damit alle Techniken und Tricks schneller Machbarkeit. Resonanz impliziert »ein Moment konstitutiver Unverfügbarkeit«, 124 was keineswegs bedeutet, dass hier alles dem Zufall überlassen wäre. Noch ein weiterer Punkt ist wichtig: Da, wo zwischenmenschliche Abläufe ausschließlich über abrufbare kommunikative oder regulative Standards abgewickelt werden, bleibt das Verlangen nach Begegnung und wirklichen Antworten unerfüllt. So unentbehrlich manche Routine für eine reibungslose Abwicklung der Alltagsgeschäfte auch sein mag, die in vielfacher Hinsicht so bedeutsame Differenzstruktur Die Notwendigkeit, diese subjektiven Voraussetzungen für das Erleben von Resonanz zu schaffen, stellt Rosa nicht zuletzt auch in Bezug auf den Bildungsbereich heraus. Siehe: (Rosa u. Endres 2016, S. 56 ff.). – Zur Bedeutung von Selbstwirksamkeit, d. h. der Entwicklung einer eigenen Stimme für ein gelingendes Leben, siehe insbes. auch: (Bieri 2011). // Zur pädagogischen Bedeutung der Selbstwirksamkeit, siehe (Zeitschrift für Pädagogik 2002). // Konkrete pädagogische Anregungen zur Förderung der Selbstwirksamkeit des Kindes finden sich unter: https:// www.elternleben.de/content/grundschulkind-entwicklung-erziehungbildung-1464695631/selbstwirksamkeit-das-kind-staerken-1464856231/ 124 (Rosa 2016, S. 298). 123

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des Mitgefühls ist hier stets potentiell gefährdet, denn diese verlangt Zeit, gesteigerte Aufmerksamkeit und wirkliches Interesse am Gegenüber.

E. Takt – Gespür – Höflichkeit Mit durchtrainierter Weltläufigkeit lässt sich geschmeidig durch die Wirklichkeit surfen. Dies verspricht enorme Beschleunigung des Lebenstempos, derweil die jeweils voneinander abweichenden Einzelheiten der Ereignisse unerheblich werden. Wer Zeit zu Geld machen will, darf nicht grüblerisch und skrupulös in tausend Richtungen sinnieren. Vielmehr muss er, um gezielt und schnell Entscheidungen treffen zu können, auf erprobte Abläufe und Lösungsroutinen zurückgreifen. Daraus erwachsende Geschäftsbeziehungen sind üblicherweise durch Distanziertheit, klar definierte Sprachspiele und kontrollierte Gebärden gekennzeichnet. Klar ist: Zweckorientierte Verhaltensreduktionen ermöglichen nur wenig menschliche Nähe. Fokussiert auf das ›Wesentliche‹, blenden sie vieles aus und münden auf Dauer in einen Habitus berechnender Selbstbezogenheit, gleichwohl man dann immer noch – die Fakten beschönigend – von ›Geschäftsfreunden‹ sprechen und miteinander dick tun mag. Neben diesen pragmatischen, oftmals unterkühlten Umgangsformen, die kein tiefergehendes Interesse am jeweiligen Gegenüber erkennen lassen, gibt es indes eine andere Gruppe zwischenmenschlicher Haltungen, die den soeben beschriebenen Phänomenen zwar auf den ersten Blick ähneln mögen, die aber dennoch vollkommen anders motiviert sind: Gewisse Formen der Höflichkeit, vor allem aber Takt und Gespür bringen eine milde Note in den zwischenmenschlichen Verkehr, eine Tonalität, deren hoher Wert heute immer weniger Beachtung und Wertschätzung erfährt. So könnte man beinahe behaupten: Wir pendeln gewissermaßen hin und her zwischen cooler Nichtbeachtung, wenn nicht gar kruder 254 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Missachtung auf der einen Seite und einem übersteigerten, nahezu investigativen Intimitätsverlangen auf der anderen. In persönlichen Dingen glauben wir alles bis ins letzte Detail hinein ausloten und aushandeln zu müssen. Geraten wir in Konflikte oder nehmen Anstoß an anderen, so wähnen wir uns selbstverständlich berechtigt dazu, Verhalten und Charakter unserer Mitmenschen kritisch sezieren und entschleiern zu dürfen. In unseren Liebesbeziehungen streben wir beispielsweise nach der perfekten Feinabstimmung zweier Individualitäten und durchlaufen – dieses Ideal unbeirrt vor Augen – eine scheinbar unendliche Reihe von Enttäuschungen und Bruchlandungen, welche uns stets unsanft auf dem Boden der Realität zurückholen und daran erinnern, dass der andere tatsächlich ein anderer ist, der sich unseren Wunschträumen und Erwartungen entzieht. Wie oft hört man die fassungslose Feststellung, erst in der Trennung oder vor dem Scheidungsrichter erkannt zu haben, wer der andere ›eigentlich‹ ist, nämlich eine unpassende und zudem noch gänzlich unwürdige Person. Dieses Phänomen kommentiert der Sozialwissenschaftler Karl Otto Hondrich mit folgenden Worten: »Die Desillusionierung ist vollkommen – und zugleich: eine vollkommen neue Art der Illusion. Denn das Bild des Bösen, das sich vom jeweils anderen im Prozeß der Scheidung abzeichnet, ist nicht wahrer und wirklicher als das Bild der Güte, das ihn in der Phase des Verliebtseins so anziehend gemacht hat. Oder andersherum: beides sind wahre Bilder ein und desselben Ich. Nicht so sehr die Individuen wandeln sich, sondern ihre Beziehung verwandelt sich (…). Daß der Partner gut ›wird‹ oder böse ›wird‹, ist ein komplexes Gemeinschaftswerk von beiden.« 125 Ich möchte bei aller Zustimmung offen lassen, ob diese Feststellung in jedem Fall den Tatsachen einer Trennung gerecht wird. Stattdessen möchte ich das Augenmerk auf einen anderen, darin anklingenden Aspekt richten: Das allzu hochfliegende 125

(Hondrich 2004, S. 12–56).

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Verlangen nach individueller Passgerechtheit provoziert eine innere Einstellung zum Liebespartner, oft auch zu Freunden, in die gleichsam das Verfallsdatum schon einprogrammiert ist. Zweisamkeit ganz nach eigenem Gusto scheint einen enormen Freiheitsgewinn zu verheißen, ja oft eine wundersame Erlösung von allen Zwängen der Vergangenheit, insbesondere der Herkunftsfamilie. Dabei wird leicht übersehen, wie viel Dialog- und Abstimmungsbereitschaft notwendig ist, wenn sich zwei hochindividualisierte Persönlichkeiten im Ehealltag aufeinander einstellen müssen. Bekanntermaßen stoßen nicht wenige hier sehr schnell an ihre Grenzen, versinken in zähen Querelen, verhandeln endlos, driften schließlich auseinander und verbuchen Uneinigkeiten wechselseitig als Charakterdefizit des jeweils anderen. Ohne diesen Punkt hier weiter vertiefen zu wollen, möchte ich auf ein probates Gegenmittel hinweisen: Das Gemeinsame kommt stets auf leisen Sohlen. Wort um Wort, Geste um Geste bauen zwei Menschen ihre Paargemeinschaft auf. Hier entstehen Gewohnheiten und Erwartungshaltungen, durch die eine Beziehung sowohl geschwächt und ausgehöhlt als eben auch gestärkt und belebt werden kann. Um eine Balance zwischen den individualisierenden Bedürfnislagen auf der einen und den kollektivierenden Notwendigkeiten auf der anderen Seite herzustellen, sind auch in der Liebe gewisse Ausgleichsgewichte unabkömmlich: Taktvolle Zurückhaltung, Gespür für den richtigen Moment und kommunikative Leichtigkeit sind in ihrer verbindenden Kraft kaum zu überschätzen. Oftmals reichen sie weiter, als das aussichtslose Streben nach Konsensbildung unter Beibehaltung hochgradig individualisierter Lebensträume. Blumenberg schreibt: »Menschen sind nicht so, daß es ihrem Verhältnis zueinander guttut, sich genau zu kennen. Daher liebt es sich so gut im Abstrakten.« 126 Wollen wir indes die Liebe nicht ad acta legen und auch den sozialen Verkehr 126

(Blumenberg 1997, S. 143 f.).

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mit Freunden und Bekannten aufrechterhalten, so müssen wir uns darin üben, manche (vermeintliche) Fehler anderer generös zu übersehen, zu übergehen oder sie wenigstens doch nicht um jeden Preis geradeheraus zu benennen. Verschwiegenheit mag im einen Fall angeraten sein, Einfühlsamkeit und Fingerspitzengefühl im anderen, nicht minder indes Humor und das sanfte Aussparen von Verurteilung. 127 Helmuth Plessner erblickt im taktvollen Umgang den Schlüssel sozialen Gelingens, denn hier zeige sich das Vermögen, unwägbare Verschiedenheiten wahr- und anzunehmen, das Unübersetzbare und letztlich Unergründliche gelten zu lassen sowie schonungslos ausforschendes Eindringen in die Gefühle anderer zu vermeiden. »Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab zu messen. Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens.« 128 Es liegt auf der Hand, dass Takt ein Abkömmling des reifen Mitgefühls ist. Wichtigstes Symptom des Taktes ist eine Zartheit, die das allzu AusdrückZum Thema »Humor als Charaktertugend«, welche mehr als den Sinn für Komik umfasst, siehe u. a. die differenzierte, erhellende Studie von Thorsten Sindermann. Hier ist es zentrales Anliegen, in Abgrenzung zu Formen eines verbissenen, selbstzentrierten Überernst eine veränderte Haltung von Ernsthaftigkeit zu entfalten, die sich einer humorvollen Praxis unermüdlicher Selbstrelativierung verdankt. Humor erweist sich, wie betont wird, gerade nicht in einem alles verspottenden Unernst oder etwa im notorischen Zwang, Witze zu reißen. Humor steht vielmehr für die Fähigkeit, die Begrenztheit des menschlichen Vermögens in der Welt – insbesondere bei sich selbst – mit Lachen oder wenigstens doch einem innerem Lächeln zu quittieren, weil man erkannt hat, nur so den Tatsachen des Lebens – ernsthaft – gerecht werden zu können. Siehe: (Sindermann 2009). // Zur Verankerung eines solchen »tugendhaften« Humors in stets auch schmerzlicher Lebensverwicklung, siehe meinen Aufsatz: (Bennent-Vahle 2020). 128 (Plessner 2002, S. 107). 127

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liche vermeidet und sich so leicht keine verletzenden affektiven Eruptionen erlaubt. So schafft ein schonungsvoller Umgang nach Plessner eine Atmosphäre der Verbundenheit, weil Fremd- und Selbstachtung aufeinander abgestimmt werden. »Unwahrheit, die schont, ist immer noch besser als Wahrheit, die verletzt, Verbindlichkeit, die nicht bindet, aber das Beste.« 129 Dies mag manchen ethisch nicht unproblematisch erscheinen. Sie werden geneigt sein, hier Unehrlichkeit und Kriecherei zu beanstanden. Doch Takt ist weder Lüge noch Schmeichelei, sondern Respekt vor der Eigenart anderer Menschen, über die man sich kein übereiltes Urteil erlauben sollte. Ist man zu einer angemessenen und fairen Einschätzung gelangt und will diese zur Sprache zu bringen, werden erst recht Takt und Gespür benötigt, um sich behutsam heranzutasten und zu erspüren, wo und wie sich ohne Aufdringlichkeit oder Hochmut etwas sagen lässt. Wer stattdessen mit schwerem Geschütz auf die Fehler anderer losgeht, übersieht schnell eine Reihe von Dingen: die Unüberschaubarkeit individueller Motivationslagen, vor allem aus der Außenperspektive, unwägbare Verletzlichkeiten der menschlichen Seele, unzählige blinde Flecken, vor allem aber die limitierte (moralische) Verlässlichkeit der meisten, auch der eigenen Person. Nicht minder verkennt er die von einigen Denkern herausgestellte heilsame Wirkung rücksichtsvoller Umgangsformen, sowohl im Blick auf Einzelbeziehungen als auch auf das Ganze der menschlichen Gesellschaft. Hier ist es schlichtweg nur auszuhalten, wenn Höflichkeit, Takt und Rücksichtnahme den herben Aufeinanderprall hochindividualisierter ›Ichlinge‹ mäßigen. Andernfalls lässt sich, wie oft zu beobachten ist, Eiseskälte zwischen ihnen nieder. Kaum nötig festzustellen, dass angesichts einer derzeit erschreckenden Verrohung der Umgangsweisen im öffentlichen Raum ein dringender Handlungsbedarf besteht. 129

(Ebd.).

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Man kann also sagen: Ehrlichkeitsfanatismus und geschäftsmäßiges Desinteresse mögen vordergründig einander entgegengesetzt erscheinen, sie ähneln sich aber darin, dass sie die sozialen Räume ungemütlich werden lassen. Verstärkt wird dieser Temperaturabfall heute durch anonyme Beleidigungen, Anfeindungen und Mobbing in den neuen Medien, welche gleichermaßen Mitverursacher wie Symptomträger eines unablässigen sozialen Niedergangs sind. So verstetigt der Rückzug ins abgedunkelte Computerverlies das traurige Phänomen sozialer Isolation und steigert es zuletzt zu maßloser Einsamkeit. Plessners Worte – vor der digitalen Revolution verfasst – zeigen uns in berührender Weise das wahre Unglück abgekapselter Außenseiter: »Besser allerdings als mit taktlosen Leuten zu verkehren ist dann die Einsamkeit, obwohl sie vom Menschen viel verlangt. Langes Schweigen macht die Stimme rau, die Zunge schwer. Wer aus Verzweiflung an seiner Umwelt immer mehr sich in sich selbst zurückzieht, verstärkt die Hemmungen, mit denen er sich nach außen verbarrikadiert. Aber das Psychische kennt nicht Außen und Innen, und so errichtet der Einsame Barrikaden gegen sich selbst. Verhärtung, Verknöcherung, allerhand Seltsamkeiten prägen den Einsiedler, den Hagestolz, der, gegen die Welt zugeschlossen, schließlich nicht mehr den Weg zu sich selber findet.« 130 Die Möglichkeiten, sich selbst zu verlieren, sind exponentiell gewachsen. Verstörend ist der Verlust von Höflichkeit, die – so Schopenhauer – ein hilfreiches Luftkissen bildet, das zwar inhaltslos ist, aber dennoch die Stöße des Lebens mildert. 131 Nimmt man den Rückgang von Räumen unmittelbarer Begegnung hinzu sowie eine fehlgeleitete Ideologie individueller Freizügigkeit, die das Kränkungsrisiko in die Höhe schnellen lässt, so erkennt man eine Gemengelage, die uns auf eine dringend anstehende Bildungsreform hinweisen muss. 130 131

(Ebd., S. 108 f.). Siehe: (Schopenhauer 1976, S. 191).

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Nach Maßgabe des Taktes müssten wir wieder lernen, auch Wege des Indirekten und Umweghaften zu beschreiten. Wir müssten uns darin üben innezuhalten, nachzudenken, hinzuspüren – auch in der Uneinigkeit den anderen und anderes in seinem Eigenwert bestehen zu lassen. Vor allem müssten wir die destruktiven, lebensfeindlichen Effekte des unablässigen Zeitdrucks begreifen, uns dem widersetzen und der Entschlossenheit des Handelns ein neues kontemplatives Fundament geben. Um der unglückseligen Fusion von Zeit und Geld zu entgehen, müssten wir lernen, gegenwärtig zu sein sowie uns selbst wieder als zeitlich-vergängliche Wesen zu sehen, deren Dasein dem Bann der Kontingenz niemals entrinnen kann. Stellen wir uns den Tatsachen unserer Existenz, so fällt das Augenmerk unweigerlich auf das Faktum emotional-leiblicher Eingebundenheit. Auf Grund dessen sind wir herausgefordert, jene Schule der Emotionen anzusteuern, in der wir das Zusammenspiel unterschiedlicher Empfindungen, Gefühle und Geisteshaltungen erkunden und erproben können. Wenngleich wir bei dieser Vorgehensweise die Begrenztheit unserer Möglichkeiten nicht länger ignorieren können, vermag daraus sehr wohl eine neue Größe zu erwachsen, insofern wir lernen könnten, mehr Mitgefühl mit anderen zu mobilisieren, um gemeinsam mit ihnen Projekte anzugehen und Lösungen zu finden. Mitgefühlsdenken bedeutet, wie nun schon mehrfach dargelegt, sich von Definitionen des Einzigwahren zu verabschieden bzw. einzuräumen, dass es letztlich kein beobachterunabhängiges Wissen über die Welt geben kann. In Anlehnung an den Physiker und Konstruktivisten Heinz von Foerster wurde schon gesagt, dass die Beanspruchung von Wahrheit oftmals ein geschicktes Manöver desjenigen ist, der im Dienste eigener Ziele verfügen, verführen oder betrügen will. 132 Wer hingegen grundlegend um die immer 132

(Pörksen u. von Foerster 2016, S. 29).

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mögliche Begrenztheit eigener Wahrnehmungen und Urteile weiß, lässt davon ab, anderen seine Wahrheitsideen aufzwingen zu wollen bzw. sich im Dissens reflexartig zu verfeinden. Natürlich gehört zu einer solchen Haltung auch die Akzeptanz von oftmals langwierigen und mühseligen Prozeduren der Tatsachenklärung sowie Respekt vor den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Welterschließung, die das Diskursfeld stets für ein weiteres Voranschreiten genau regulierter intersubjektiver Überprüfungen offen hält.

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V. Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung Das freundschaftliche Verhalten zu Menschen, die uns nahestehen, und die bekannten Wesensmerkmale der Freundschaft stammen, wie man annimmt, aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst. (Aristoteles) Mit der Konstituierung des Menschen im Lächeln sind beide zueinandergehörige Weisen des Seins gegeben: Angst und Vertrauen. Sie sind gewissermaßen ein Stück; die Erfahrung der einen Seinsweise kann nur im Umschlag zur anderen zu einer wirklich existenten werden. (Alfred Nitschke)

1. Irritierende Einsamkeit Das Bewusstwerden der Einsamkeit ist eine existenzielle Grunderfahrung, die nicht selten zu frühen Erschütterungen führt. Diese Erfahrung ist schmerzlich und irritierend, weil wir ursprünglich unausweichlich emotional auf andere bezogen leben. Doch es bleibt uns nicht erspart, uns unserer selbst innezuwerden, d. h. ein Individuum zu werden. Um in der graduellen Abtrennung von anderen allmählich unsere jeweilige Identität herausbilden zu können, sind wir genötigt, unentrinnbar schmerzliche Loslösungsprozesse zu durchlaufen. 1 Nur wer es lernt, die schockierende unumgängliche EinDiese Erfahrung findet z. B. anschauliche Schilderung in der Denkbiografie von Thomas Gutknecht. Siehe: (Gutknecht 2015). – Zur weiteren philosophisch-psychologischen Erfassung dieses fundamentalen kindlichen Innewerdens von Einsamkeit, siehe: (Buber 2005, S. 40 f.) // (Nitschke 1962, z. B. S. 154 ff.) // (Klinger, 2002). – Siehe hierzu auch: (Bennent-Vahle 2011a, Kap. 6). – Die kindlichen Ablösungsprozesse

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samkeitserfahrung – die grundlegende Getrenntheit von anderen – auszuhalten und konstruktiv zu integrieren, wird dazu befähigt, andere wirklich anzuerkennen, zu sehen und das Gemeinsame, das ›Wir‹, kooperativ und ertragreich zu gestalten bzw. tatsächlich ein Wir zu gestalten. Die Bedeutung der Einsamkeit zeigt sich in doppelter Weise: Wir müssen einsamkeitsfähig werden, um unsere individuelle Eigenart, unsere Besonderheit, ausprägen zu können, um uns aus der Umklammerung durch andere, das heißt aus übertriebener Fürsorge, Vereinnahmung, Fremdbestimmung und Außenlenkung zum Uns-Gemäßen hin entwickeln zu können. Erst indem wir lernen, das damit verknüpfte Auf-uns-selbst-Gestelltsein zu bejahen und gutzuheißen, erlangen wir jene innere Souveränität, die wir benötigen, um echte Nähe und Begegnung mit anderen Menschen leben zu können, um besonnen und verhandlungsbereit zu agieren, also unsererseits auch nicht danach zu streben, andere zu vereinnahmen oder zu übervorteilen. Einsamkeitsfähigkeit bedeutet deshalb gerade nicht, ohne die anderen auskommen zu können. Sie bedeutet vielmehr Folgendes: im Zusammensein mit anderen so viel Rückhalt in sich selbst zu besitzen, dass man diese in ihrer jeweiligen Eigenheit bestehen lassen kann, ohne sich sogleich in Frage gestellt oder bedroht zu sehen. Das heißt auch, davon abzusehen, andere mit unseren Ansichten überrollen und vereinnahmen zu wollen, ja sogar von der Hoffnung abzusehen, dass eine Gleichschaltung des anderen nur eine Frage der Zeit sein wird. Die These lautet also: Echte Beziehungen kommen erst dann zustande, wenn Abstand davon genommen wird, immer schon (für alle) Bescheid zu wissen, sowie davon, andere zu kategorisieren und auf bestimmte Eigenschaften festwerden in beeindruckender Weise von Stern veranschaulicht, der die Welterfahrung eines Kleinkindes aus dessen Perspektive nachempfindet und über die verschiedenen Stadien in einer Art Ich-Erzählung vermittelt: (Stern 1991).

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zunageln. »Eine Person verstehen heißt schon mit ihr sprechen«. 2 Mit diesen schon einmal zitierten Worten betont Lévinas, dass das Sprechen ein Akt ist, in dem man den anderen sein lässt. Man erfasst und erdrückt ihn nicht mit den vorfixierten Inhalten des eigenen Bewusstseins, sondern man ruft ihn an, man benutzt die Sprache als Bedingung dafür, sich den Nächsten und seine Belange im Laufe des Gesprächs schrittweise vergegenwärtigen zu können. Mit anderen Worten: Um ein Ich zu werden, sind schmerzliche Erfahrungen unausweichlich. Hier ist von Vorgängen die Rede, die sich zunächst primär auf der emotionalen Ebene abspielen. Es ist eine erschreckende Erfahrung, ein Individuum zu werden. Es ist erschreckend, sich nach und nach der Tatsache der Absonderung vom anderen bewusst zu werden. Warum ist das so? Wir haben gesehen: Ursprünglich ist der Mensch fühlend auf andere bezogen. Empathie in rudimentärer Form, Resonanzvermögen also, ist keine erworbene Fähigkeit, sondern von Geburt an im Wesen des Menschen angelegt. Bevor wir irgendetwas frei entscheiden, werden wir unbewusst in eine je spezifische Dynamik des Zwischen eingewoben und eingewöhnt. Da wir gleichsam ursprünglich auf den anderen Menschen eingestimmt sind, geht es hier zunächst um Vorgänge, die unwillkürlich ablaufen und keinesfalls als bewusste Perspektivübernahme zu verstehen sind. 3 In all seinen Regungen ist das Kind, das für lange Zeit existenziell vom anderen abhängig ist, gleichsam blind auf sein soziales Umfeld bezogen. Das heißt: Es verlangt unausweichlich nach den anderen, aber es ist ihnen damit auch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Hier tritt die prekäre Ambivalenz unserer emotionalen Struktur hervor. Empathie oder – anders gesagt – ein eingeborener Drang, uns im anderen zu spiegeln und zu finden, macht uns zu Menschen, jedoch – so muss man nun hinzu2 3

(Lévinas 1995, S. 17). Hierzu: (Keysers 2013, S. 77).

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fügen – leider manchmal eben auch zu ›Unmenschen‹. Dann nämlich, wenn unsere Bezugspersonen uns nicht behutsam an unsere Einzelstellung heranführen, sondern uns mehr oder weniger brutal zurück- oder zurechtweisen und damit in ein radikal negativ besetztes Einsamkeitserleben hineinstoßen. Dies kann durch Vernachlässigung, Ignoranz, Missachtung geschehen, aber auch durch Überstrenge, durch gezielte Beschämung und andere Formen emotionaler Verletzung. Mit Nachdruck ist herauszustellen: Es sind die Bezugspersonen, die jungen Menschen dazu verhelfen müssen, schrittweise in ihre singuläre Eigenart hineinzuwachsen und diese anzunehmen. Zwar sind, wenn jemand ein Individuum werden soll, Schmerz und Konflikt vorprogrammiert, doch es bedarf gleichsam mildernder Umstände. Nur durch echte Begegnung seitens der Erzieher werden die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass das ursprüngliche, noch vormoralische und labile Mitschwingen mit anderen Menschen zu einem positiven wertschätzenden Interesse an ihnen heranreifen kann. Ein Kind erfährt dann, dass es seine Besonderheit herausbilden kann, ohne Gefahr zu laufen, radikal aus der anerkennenden Beziehung verstoßen zu werden. Im Zuge einer gelingenden Sozialisation lernt es sukzessive, die unumgängliche – teils erstrebte, teils angstbesetzte – Abtrennung vom anderen zu verwinden und konstruktiv für seinen Individualisierungsprozess zu nutzen. Nur so wird es befähigt, seine sozialen Kompetenzen zu entfalten und zunehmend besonnen im Sinne Bollnows zu agieren. Erfährt ein Kind hingegen primär Härte und Zurückweisung, dann wird es die Ablösungsprozesse als so schmerzhaft und vernichtend erleben, dass es sich – notgedrungen – in sich selbst verschanzen oder verkrallen muss bzw. andere Auswege finden muss. Hier gibt es, wie wir gesehen haben, eine ganze Bandbreite an Reaktionsmustern, die einen Menschen mehr oder weniger beschädigt in seiner Empathiefähigkeit zurücklassen. Der Betreffende nimmt gezwunge265 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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nermaßen eine Vermeidungshaltung an. Beklemmende Einsamkeitsgefühle müssen abgewehrt, übertüncht, kompensiert oder auch – im demonstrativen Rückzug von einer verachtungswürdigen Welt – emphatisch inszeniert werden. Auch in diesem Fall bleibt er auf die anderen bezogen, ja man müsste sogar sagen: fixiert, das heißt unfrei oder emotional verstrickt bezogen. Anders formuliert: In Anbetracht übermäßigen Schmerzes etablieren und verfestigen sich Haltungen, die oftmals unbewusst bleiben: Jemand ist permanent auf der Hut, schottet sich ab, hält notorisch dagegen, schlägt zurück, beantwortet das Erleiden von Qualen mit Zufügung von Qualen, zelebriert zwanghaft seine Grandiosität usw. Wie Keysers darlegt, können Menschen es vollends verlernen, Anteil nehmend mitzufühlen, auch wenn die meisten dann immer noch erkennen können, was in anderen vorgeht. 4 Oben wurde schon angesprochen, wie destruktiv sich moralische Rigorosität und Überstrenge auf das kindliche Selbst und damit die Entwicklung der Persönlichkeit auswirken. Das Resultat ist eine mehrdimensionale Beschädigung: auf der Ebene des Selbstvertrauens und damit der realistischen Selbsteinschätzung sowie auch auf der Ebene des Weltvertrauens und damit des humanen Umgangs mit anderen. Wird der stets schwierige Aufbruch in ein eigenes Leben nicht hinreichend von liebender Wertschätzung begleitet, so entstehen leicht rigide Strukturen destruktiver Abgrenzung gegenüber anderen. Minderwertigkeitsgefühle sowie auch die Trauer um verlorene Gemeinsamkeit werden durch dünkelhafte Selbsterhebung, geringschätzige Abgrenzung nach außen, womöglich durch hasserfüllte Projektionen kompensiert. Wesentlich erscheint vor allem, dass das kindliche Erleben von Angewiesenheit und Abhängigkeit positiv beantwortet wird. Nur in der Ausgewogenheit von Gehalten- und Gelassenwerden vermag sich der Drang nach Selbstbestimmung 4

(Ebd., S. 252 ff.).

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ohne radikale Verleugnung der passivischen Anteile des Selbst aufzubauen. Auch Hilflosigkeit und Bedürftigkeit, vor allem aber das nie ruhende Verlangen nach Zugehörigkeit müssen wahrgenommen und akzeptiert werden, um Versuchungen narzisstischer Selbstüberschätzung – wenn irgend möglich – von der kindlichen Seele fernzuhalten. Die Geschichte zeigt uns Formen destruktiver Selbsterhebung, die sich aktuell erneut wie ein Flächenbrand ausbreiten. In Anlehnung an Heinz Kohut umreißt Gaßenhuber das Muster »narzisstischer Wut«, mit der ein ungeliebtes, nicht hinreichend wahrgenommenes und gestärktes Selbst Gefühle innerer Leere und Unsicherheit auszumerzen sucht. 5 Die Sehnsucht nach Selbsterhöhung, die aus dieser narzisstischen Angeschlagenheit hervorgeht, wird von bestimmten Banden und politischen Gruppierungen bestens bedient. Wie umrissen, können durch Abwertung anderer und Feindbilddenken Gefühle der Zugehörigkeit, des Zusammenhalts und der moralischen Überlegenheit erzeugt werden – Gefühle, welche ein eigentlich fragiles Selbst künstlich aufblasen und ihm die Illusion von Großartigkeit verschaffen. Wer hierfür anfällig ist, weil das Empathievermögen schon frühzeitig stillgelegt wurde – und wem später keine Möglichkeiten rettender Selbstreflexion offenstehen –, wird bereitwillig alle Schattenseiten eines solchen Stärkeangebots ignorieren. Die menschliche Bereitschaft, der eigenen Gruppe den Vorzug zu geben, sitzt tief. Es ist ein Leichtes, diesen Mechanismus in vielen, ganz ›normalen‹ Menschen in Gang zu setzen, denn in den meisten von uns wirkt ein ausgeprägter Hang zur Gefügigkeit. Jede(r) kann es problemlos an sich selbst beobachten, wenn er sich als Teil einer Gemeinschaft mit Anwürfen von außen oder internen Querelen herumschlagen muss. Wie Michel Terestchenko ausführt, muss man noch längst kein bösartiger Mensch sein, um böse zu

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Siehe hierzu: (Gaßenhuber 2018).

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handeln. 6 Oft reichen Gruppendruck oder ein autoritärer Führungsstil bereits aus, um Folgsamkeit und erwartungskonforme Verhaltensweisen zu erzeugen. Diese menschliche Tendenz zu Fügsamkeit und Unterwürfigkeit bis hin zu mörderischem Gehorsam hängt eng mit der Verwundbarkeit der menschlichen Natur zusammen. Deshalb muss die emotional-empfängliche Seite des Menschen sehr viel mehr, als es bisher geschieht, in den Fokus unserer Erziehungs- und Bildungsbemühungen gerückt werden. Anzustreben wäre ein gesellschaftliches Klimas, welches die Beeindruckbarkeit durch totalitäre Denkmuster sinken lässt. Von zwei Seiten müssen wir uns diesem Zustand annähern: Zum einen sollte die im Menschen angelegte Empathiefähigkeit von klein auf mit Bedacht kultiviert werden, damit sie erhalten bleibt und ihren Radius über die unmittelbaren Bezugsgruppen hinaus peu à peu erweitern kann. Zum anderen wäre die Fähigkeit zu eigenständigen Urteilen und zu konsequenter Selbstüberprüfung zu fördern, damit an die Stelle fragwürdiger Anpassungsimpulse echte Kooperativität und demokratisches Bewusstsein rücken. Obgleich der Einzelne auf diesen Wegen stärker werden kann, so darf doch seine letztlich unauflösliche Begrenztheit niemals ganz in Vergessenheit geraten. Seine kognitiven Möglichkeiten dürfen nicht überschätzt 7 , seine moralische Widerstandskraft nicht übermäßig strapaziert werden. Dementsprechend gilt es institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen zu festigen und weiter auszubauen, welche hinreichend positive

Siehe: (Terestchenko 2012, S. 7–128). Das Thema kognitiver Fehlleistungen bleibt hier weitgehend ausgespart. Aufschlussreich sind diesbezüglich Arbeiten des Kognitionspsychologen Daniel Kahneman, welche dokumentieren, dass Denkfehler gewöhnlicher Menschen häufig »auf die Konstruktion des Kognitionsmechanismus« zurückzuführen sind »und nicht auf die Verfälschung des Denkens durch Emotion«. – (Kahneman 2011, S. 19).

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Orientierung, materielle Sicherheit 8 und juristischen Schutz gewähren. Längst wissen wir um die destruktive Macht von Missachtung und Vernachlässigung, Beschämung und Herabwürdigung wie auch von pädagogischer Willkür und erzieherischem Drill. Verquickt mit Heldenmythen und Erfolgsverheißungen, mündet diese unwürdige Melange in bedingungslosen Gehorsam und Unterwürfigkeit sowie Abschottung gegenüber Fremden und vermeintlichen Aggressoren. Weiche Eigenschaften werden zunehmend abgewertet, zwischenmenschliche Rücksicht und Anteilnahme verächtlich gemacht, als Gefühlsduselei und Schwäche gebrandmarkt. Da das Image des Heißsporns keine Unzulänglichkeiten gestattet, wird alles ›Negative‹ nach außen projiziert und dort unerbittlich bekämpft. So kann man sagen: Am Anfang einer Entwicklung zu Ressentiment und Hass steht fast immer tiefe Selbstverleugnung. Hier – bei dem genaueren Selbsterkennen – müssen wir ansetzen, wenn irgendetwas nachhaltig besser werden soll. Einige pädagogische Ansätze, wie z. B. Mary Gordons Projekt Roots of Empathy, zielen darauf, Kinder in der Eigenwahrnehmung zu fördern, d. h. ihnen auch im schulischen Kontext zu ermöglichen, die eigene Gefühlswelt im Spiegel anderer genau zu erkunden. 9 Es finden sich weitere pädagogischer Konzepte und Schulprojekte, deren zentrales Anliegen es ist, die empathischen Fähigkeiten junger Menschen gezielt zu fördern. Auch wenn es zu weit gehen würde, hier Derzeit führt der Verein Mein Grundeinkommen einen sozialen Feldversuch zu den Effekten durch, die ein bedingungsloses Grundeinkommen auf das Wohlbefinden der jeweiligen Empfänger hat. Erkennbar wird nach Aussage Michael Bohmeyers, dass die Bedingungslosigkeit eines monatlichen Einkommens von 1000 Euro mit enorm positiven mentalen und physischen Auswirkungen verbunden ist. – Siehe: (Bohmeyer 2019). 9 (Gordon 2005). // Hierzu: (Plüss 2010, S. 114 f.) // https://www.basebabywatching.de/. 8

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Einzelheiten vorzustellen, darf dennoch nicht unerwähnt bleiben, dass in diesen Kontexten seit einigen Jahrzehnten die Bedeutung des Emotionalen für die Persönlichkeitsbildung mit Nachdruck akzentuiert wird, insbesondere im Hinblick auf moralische und politische Verantwortlichkeit. Neben Nel Noddings Konzept einer fürsorglichen Schulgemeinschaft, wären u. a. die von Lothar Kuld und Stefan Gönnheimer angeregten Compassion-Projekte 10 sowie die Verbreitung schulischer Schlichterprogramme zu nennen. 11 Ebenso sollten diverse Natur-Schulen-Projekte Erwähnung finden, die das kindliche Empathievermögen im direkten Umgang mit der Natur fördern. 12 Von philosophischer Seite vertritt in jüngster Zeit insbesondere Martha Nussbaum den Standpunkt einer neuen Pädagogik, die die Ausformung von Kritikfähigkeit und politischer Verantwortungsbereitschaft eng mit einer Kultivierung der emotionalen Anlagen des Menschen verkoppelt. 13 Vergleichbare Vorstöße unternimmt das Konzept der Resonanzpädagogik von Hartmut Rosa und Wolfgang Endres. Beide Ansätze definieren ihr Anliegen in Abgrenzung zu Bildungsprogrammen, die auf Konkurrenz- und Wettbewerbsfähigkeit und damit auf kurzfristige Optimierung und erfolgsorientierte Selbstdarstellung festgelegt sind. Über Kunst, Literatur und kreative Projekte sollen Schüler nicht nur umfassender gebildet werden, sondern vor allem ein verändertes In-der-Welt-sein für sich erlangen. Sie sollen darin unterstützt werden, »Weltausschnitte zum Sprechen zu bringen« – gemäß dem Leitsatz: »Ich mache mir eine Sache so zu eigen, dass sie mich verwandelt. Ich bin danach ein (Kuld u. Gönnheimer 2004). // Siehe auch: https://www.sozialesler nen.org/was-ist-soziales-lernen/. 11 Vgl.: (Plüss 2010, S. 108 f.). 12 Z. B.: https://www.naturschule-am-brosepark.de/de/welcome – Zur naturnahen Erziehung, siehe insbesondere: (Weber 2011) // (Gebhard 2013). 13 (Nussbaum 2012). 10

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anderer.« 14 Gerade dieses Vermitteln von Resonanzerfahrungen, die von intensiven leiblichen Erlebniskomponenten in den Lernsituationen selbst begleitet sind, verlangt nun aber dezidiert jene Beziehungsformen, die wir bisher als echtes Mitfühlen gekennzeichnet haben. 15 Das heißt: Da echtes Mitgefühl niemals einseitig erfolgen kann, ist an diesem Punkt die bedeutsame Rolle der Pädagogin nochmals mit Sorgfalt zu bedenken, denn gerade von ihr hängt es in hohem Maße ab, ob das Klassenzimmer eher eine Kampfzone oder ein Ort wechselseitiger Aufmerksamkeit und (Be)Achtung ist, ein Ort, an dem jedes Kind – auch ein Kind aus bildungsfernen Schichten – möglichst früh Selbstwirksamkeitserfahrungen machen kann. Nur so tragen wir zum Abbau einer nach wie vor durchschlagenden sozialen Selektivität im Bildungssystem bei. 16

2. Die frühe Schule der Besonnenheit durch pädagogische Empathie Absolut zentral für die Förderung von Mitgefühl und Besonnenheit im pädagogischen Kontext sind die empathischen Fähigkeiten, die Pädagoginnen und Lehrpersonen mitbringen. Martin Buber mahnt mit Nachdruck an, dass eine Erzieherin vor allem sehen muss, was das jeweilige vor ihr stehende Kind mitbringt, was speziell seinem Wesen zuträglich ist. (Rosa u. Endres 2016, S. 16 u. 17). Der von Rosa verwendete Resonanzbegriff unterscheidet sich von dem hier verwendeten, welcher nur auf primäre Empathie bezogen ist. Rosa bezeichnet mit Resonanz ein komplexes Antwortgeschehen (die Gleichzeitigkeit von aufeinander Antworten – Hörfähigkeit – und mit eigener Stimme sprechen – Eigenständigkeit/Eigenschwingung), das verschiedene Abstufungen und Dimensionen umfasst. – Siehe: (Rosa 2016). 16 Zum Thema Bildungserfolg und soziale Herkunft, siehe insbesondere: (Brake u. Büchner 2011). 14 15

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Obwohl ein jedes lernen muss, seine Egozentrik zu überwinden und Grenzen einzuhalten, dürfen starre Regelbefolgung und Anpassung nicht an oberster Stelle stehen. Es geht Buber vielmehr um eine in der Pädagogik äußerst ertragreiche desinteressierte Liebe, d. h. eine Liebe, die den anderen nicht beherrschen und auch nicht genießen will. In der Atmosphäre einer solchermaßen liebenden Anerkennung lernt ein Kind, die Schwere seiner Einzelstellung anzunehmen. Fühlt es sich in seinem spezifischen Sosein angenommen und gestützt, so wird es nach Wegen suchen, sich in Bezug auf andere zu positionieren und gegebenenfalls auch einzuschränken. Auf diese Weise stimmt es sich – idealerweise nahezu unwillkürlich – in das ihm vorgelebte Beziehungsmuster einer von Mitgefühl getragenen Besonnenheit ein. 17 Wer das Erwachsenwerden eines Kindes begleitet, wird, je besser er erzieht, immer weniger Wert auf aktives Eingreifen legen und am Ende mag er den missverständlichen Erziehungsbegriff sogar ablehnen. Buber sagt: Gelingende Erziehung bleibt weitgehend unsichtbar, »ein Fingerheben vielleicht, ein fragender Blick«. 18 Sie besteht in einer unablässigen Folge von Reaktionen auf ein Kind, die dieses im Klima bedingungsloser Zuwendung darin begleiten, seinen Freiheitsraum zu erkunden und abzustecken. Sie richtet es nicht ab, dringt nicht auf ›Normalität‹, sondern schützt die Intimsphäre des Kindes, so dass seine freie Entfaltung hin zu sozialer Verantwortung möglich wird. Paradox mag erscheinen, dass Freiheit manchmal auch gegen das Kind selbst zu verteidigen ist, und zwar dann, wenn es die Interessen anderer Menschen kontinuierlich ignoriert oder verletzt. Ist das Erzieherische erst einmal aus dem Ruder gelaufen, wird die Abgrenzung der Freiheitssphären, die sich günstigstenfalls ›organisch‹ aus dem Zusammenspiel der Generationen ergibt, zu einer expliziten pädagogischen Auf17 18

Siehe zum Folgenden auch: (Bennent-Vahle 2011a, Kap. 4). (Buber 2005, S. 23).

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gabe. Für viele hat selbst hier der Begriff Abgrenzung einen negativen Beigeschmack, denn er suggeriert Härte und Unempfindlichkeit gegen andere und passt nicht zum Element der Liebe, in dem allein das Erzieherische gedeihen kann. Ohne Liebe und lebendiges Interesse am anderen Menschen als Du (als ansprechbares Gegenüber und nicht als zu bearbeitendes ›Objekt‹) kann der erzieherische Einfluss letztlich nicht positiv wirken. Deshalb wäre es fatal, wollte man dem sogenannten ›Erziehungsnotstand‹ der Gegenwart nun ausschließlich mit einem ganzen Arsenal von starren Regeln und Strengemaßnahmen zu Leibe rücken. »Zwang in der Erziehung, das ist Nichtverbundensein, das ist Geducktheit und Aufgelehntheit«, 19 schreibt Buber. Dies wäre nur eine Form, das Erzieherische endgültig zum Verschwinden zu bringen, weil rigide Maßregelungen die ausgelieferte kindliche Seele in »einen gehorchenden und einen sich empörenden Teil« 20 aufspalten. Was aber ist das Wesentliche? »Erst die Mächtigkeit, die umfasst, ist Führung«, 21 bemerkt Buber. Mit der Kategorie der Umfassung bezeichnet er eine besondere Form empathischer Bezugnahme, genau genommen einen zwischenmenschlichen Vorgang, der überhaupt erst Verbundenheit ermöglicht und von vordringlicher Relevanz für den pädagogischen Bereich ist. 22 Zur Umfassung gelangen wir, wenn wir unsere Lebensvollzüge unterbrechen und, sei es als Wütender oder sei es als Liebkosender, für einen Moment die gemeinsame Situation aus der Erfahrungsperspektive des Visavis zu durchleben versuchen, d. h. indem wir schon während der Interaktion bemüht sind, uns selbst vom anderen her wahrzunehmen. Begrenzter als Empathie und Mitgefühl, die auch ein Hineindenken und -fühlen in Fernes und Abwesendes mit einschließen, zielt der Akt 19 20 21 22

(Ebd., S. 26 f.). (Ebd., S. 25). (Ebd., S. 37). (Ebd., S. 37 ff.).

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der Umfassung darauf ab, uns als gegenwärtige Teilhaberin einer gemeinsamen Situation bewusst auf den anderen hin zu erweitern. Das kritische Augenmerk liegt hier primär auf den eigenen Wirkmöglichkeiten zum Wohle des anderen, obgleich das Interesse an wechselseitiger Einfühlung leitend ist. Aufgrund dieser Struktur ist die Umfassung eine speziell auch für asymmetrische Verhältnisse geeignete Form der Bezugnahme, wie sie in der Erziehung gegeben sind. Wer Akte der Umfassung durchläuft, baut allmählich eine innere Fähigkeit auf, sich den anderen stets aufmerksam zu vergegenwärtigen, getragen von dem Bewusstsein, durch jede einzelne Tat oder Regung unweigerlich Wechselwirkungen in Gang zu setzen. Eine ungeprüfte, ungehemmte Entfaltung subjektiver Belange wird demzufolge schwerfallen. Verfährt eine Erziehungsperson nach Maßgabe der Umfassungsbeziehung, so wird sie alles daransetzen, stets von der Wirklichkeit ihrer Anvertrauten auszugehen. Schaut sie genau hin und hört sie aufmerksam zu, so wird sie persönliche Vorstellungen davon, wie es sein sollte, relativieren, revidieren und manchmal sogar ganz zurücknehmen. In einem solchen Verhältnis versteht die Lehrperson sich hauptsächlich als Wegbegleiterin. Sofern Kinder Mühen und Schwierigkeiten beim Lernen offenbaren oder andere Unsicherheiten erkennen lassen, wird sie einen taktvollen Umgang pflegen und selbst kindlichen Misserfolgen und Leistungsschwächen gegenüber Achtung aufbringen. Auf diese Weise unterstützt sie in den ihr Anheimgestellten das diffizile Ausbalancieren von Verletzlichkeit und Zuversicht, um so schließlich – in dem jeweils möglichen Tempo – die mentalen Grundlagen für eine dialogische und kooperative Praxis zu schaffen. Buber macht augenfällig, dass alle Erziehung in letzter Instanz auf Verbundenheit hinzielt. Deshalb kann Distanzierung und Unabhängigkeit für ihn nur »ein Steg und kein Wohnraum« 23 sein. Freiheit dient als »Sprungbrett«, damit 23

(Ebd., S. 26).

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ein junger Mensch aus innerer Überzeugung und nicht erzwungenermaßen zu personenbezogener Verantwortung findet. Wird Freiheit zu einem isolierten und verselbständigten Erziehungsziel hin übersteigert, ist sie laut Buber eine eher schädliche, »pathetische Posse«. 24 Deshalb hängt alles davon ab, wie weit unter den stets ungleichen, durch ein Altersgefälle geprägten Bedingungen der erzieherischen Situation – wie eben beschrieben – das Dialogische oder, modern gesprochen, das Partnerschaftliche im Kind zur Blüte gebracht wird. Wie stellt sich vor diesem Hintergrund ein altes Grundproblem der Erziehung dar? Das heißt, wie kann der Pädagoge verhindern, dass er bei seiner unumgänglichen »Auslese der Welt« 25 willkürlich verfährt? Wie kann ihm die Balance zwischen Einflussnahme und Freizügigkeit gelingen? Buber sagt, dass Fehler immer dann geschehen, wenn der »Umfassungsakt« zeitweilig aussetze. Doch Umfassung als nicht abreißende Zwiesprache verlangt aus seiner Sicht keinesfalls, sich in einem fort mit dem Kind zu beschäftigen bzw. es unentwegt anzusprechen. Es kommt vielmehr darauf an, eine Grundstimmung der Dialogik wie ein »silberne(s) Panzerhemd des Vertrauens« 26 um es zu legen, es intensiv spüren zu lassen, dass der Erwachsene immer zugleich auch bei seiner Seele ist. Über diese wache und zugewandte Ausgestaltung der pädagogischen Beziehung wird einem Kind ermöglicht, sich von »drüben«, vom anderen her, in seinem Tun zu spüren, um sich selber auffangen und reale Grenzen wahrnehmen zu können. Erlebt es den Pädagogen als einen umfassend bergenden, so erfährt es – aus dieser Verbundenheit heraus – die Annahme von Begrenzungen (schließlich) als wesentliches Anliegen seiner selbst. Erlebt es ihn hingegen

24 25 26

(Ebd., S. 28). (Ebd., S. 42). (Ebd., S. 40).

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als rigiden Regelvollstrecker, so wird es Einschränkungen sowie die Trennungslinie zwischen Mein und Dein zwar durchaus akzeptieren, darin jedoch primär eine lästig-knebelnde Beschneidung ursprünglicher Freiheitsimpulse erblicken. Daraus ergibt sich, dass der Erzieher stets »an beiden Enden der gemeinsamen Situation« stehen muss, während »der Zögling nur an einem« 27 steht. Aufgrund seiner altersbedingten Überlegenheit hat in erster Linie der Erwachsene das Gelingen des pädagogischen Prozesses zu verantworten. Da es angesichts des Zerfalls tradierter Werte und Bindungsformen schwer geworden ist, allgemeingültige Antworten auf die Frage nach dem Wohin der Erziehung zu finden, liegt eine große Entscheidungslast auf seinen Schultern. So mag er sich gelegentlich durch einen »kreisenden Wirbel der Freiheit« 28 überfordert fühlen. Wenn Buber das Handeln der Erziehungsperson vor diesem Hintergrund zuletzt an ein Vertrauen in Gott bindet, so hat er, wie mir scheint, keineswegs bestimmte religiöse Vorstellungen oder Gebote im Sinn, sondern erinnert an unseren Status als ›Geschöpfe‹. Wer sich als ›Geschöpf‹ begreift, sieht sich nicht als letzte maßgebliche Instanz, sondern als Bestandteil eines umschließenden Ganzen. Ein solcher öffnet sein Welterkennen einer spezifischen Demut, die in Bezug auf die ›Schöpferrolle‹ des Erziehers bedeutet, dass »das Da-Sein und So-sein aller seiner Zöglinge (…) das entscheidende Faktum ist, dem seine ›hierarchische‹ Erkenntnis sich unterordnet«. 29 Obwohl es sich eigentlich von selbst versteht, so möchte ich doch kurz unterstreichen, dass eine solchermaßen empathisch handelnde Lehrerin den Aktionen ihrer Schülerschaft keineswegs mit konturloser Indifferenz oder bloß gefühlsseliger Zuwendung begegnet. Sie wird nicht im Zeichen

27 28 29

(Ebd., S. 44). (Ebd.). (Ebd., S. 33).

276 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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einer Kuschelpädagogik in allem nachgeben und nur positive Rückmeldungen wagen, sondern vorleben, dass man auch in kritikfreudigen Auseinandersetzungen die Verwundbarkeit anderer sensibel berücksichtigen kann. Sie wird verstehbar machen, dass es im Dienste einer konstruktiven Praxis immer darauf ankommt, möglichst ehrlich zu verfahren und dabei tunlichst viele Perspektiven auszudifferenzieren. Wir werden durch das Du zum Ich. Damit wird unübersehbar, dass es vom jeweiligen Du abhängt, ob jemand aus der Erziehungssituation schwerpunktmäßig als ein besonnenes Ich der dialogischen Bezogenheit auf andere hervorgeht oder als ein Ich, das sein menschliches Gegenüber eher wie ein Ding betrachtet bzw. betrachten muss. Besonnenheit und dialogische Bezogenheit bedeuten, den anderen zu respektieren, sich ihm zuzuwenden und ihn – auch in der Meinungsverschiedenheit – bestehen zu lassen, ihm aufgeschlossen und aufnahmefähig zu begegnen und doch zugleich einen eigenen Standpunkt einnehmen zu können. Den anderen wie ein Ding betrachten bedeutet, ihn nicht oder nur bedingt zu respektieren, über ihn zu verfügen, ihm desinteressiert und gleichgültig zu begegnen, zu taktieren, zu manipulieren, ihn ins Eigene zu verrechnen usw. Unsere Lebenswelt ist voll davon, während der dialogische Beziehungstyp zunehmend gefährdet ist, bis hinein in die Liebesbeziehungen. Wichtig ist es, mit Buber herauszuheben, dass hier zwei »Pole des Menschtums« beschrieben werden, die sich nicht auf »zweierlei Menschen« aufteilen lassen, sondern in jedem Menschen zu jeweils unterschiedlichen Anteilen auffindbar sind: »Jeder lebt im zwiefältigen Ich«, schreibt Buber. Es gibt kein Auskommen in der Welt ohne den es-haften, also verdinglichenden Umgang (mit Natur und Mensch) – »Das Grundwort Ich-Es ist nicht vom Übel – wie die Materie nicht vom Übel ist.« Problematisch wird es erst, wenn der objekthafte Umgang »sich anmaßt, das Seiende zu sein. Wenn der Mensch es walten lässt, überwuchert ihn die unablässig wachsende Eswelt, entwirklicht sich ihm das eigene Ich«, wo277 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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hingegen er »um so personenhafter« ist, »je stärker in der menschlichen Zwiefalt seines Ich das des Grundworts IchDu ist.« 30 Natürlich kann eine Erziehungsperson nicht verhindern, Entscheidungen über statthafte Freiheitsspielräume im Miteinander zu treffen. Sie vermag ihren Schülerinnen aber – im Interesse der Freiheit – innerhalb geschützter institutioneller Kontexte Räume zu eröffnen, in denen sich selbstständiges Denken und Handeln aktiv und gefahrlos erproben lassen. Versucht sie das Bewusstsein der noch unfertigen Menschen gemäß ihrer persönlichen Ideale zu prägen oder es gar zu indoktrinieren, so verletzt sie damit die Freiheit ihres Gegenübers erheblich. Genau hierauf spielt auch Arendt an, wenn sie sagt, dass man einen Menschen nicht auf zukünftige Verhältnisse hin erziehen kann, ohne ihm Gewalt anzutun. 31 Der Erzieher kommt nicht umhin, genau zu sondieren, welche Dinge er der Freiheit des Kindes um der Freiheit willen überlassen muss und welche er unbedingt gegen immer mögliche individuelle Willkür zu schützen hat. Versucht er die Lage vollends in den Griff zu bekommen, so verwundert es nicht, wenn das zu straff gespannte Gängelband reißt und sein Edukand außer Rand und Band gerät. Gewährt er indes auch da Freiheit, wo er im Interesse der Gemeinschaft Grenzen ziehen müsste, so ist mit einem sehr viel schlimmeren Effekt zu rechnen: Der Heranwachsende bleibt in einer kleinkindhaften Egozentrik stecken und lernt es nicht, sich aus eigener Initiative fair und angemessen im sozialen Miteinander zu bewegen. Nicht der Impuls zu mehr Selbstbestimmung ist derzeit das Problem der Erziehung. Wir sind vielmehr in eine Situation geraten, in der der Begriff der Selbstbestimmung bis zur Unkenntlichkeit entstellt und verwässert wurde. Mit

30 31

(Buber 1997, S. 79, S. 57, S. 79). (Arendt 1994).

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Mitgefühl als Boden der Besonnenheit – Bestandsaufnahme

Crawford gesprochen ist dieser Begriff vielfach ein hohles Meta-Gut geworden, auf das geschickt rekurriert wird, um jede Art von Regulierung und Begrenzung als paternalistisch abzustempeln und zurückzuweisen. Diese Mechanismen stehen, wie schon angedeutet, im Dienste einer gewünschten Marktgängigkeit. Um beruflich erfolgreich zu sein, ist ein Set von Persönlichkeitsmerkmalen gemäß einer nicht unproblematischen Schnittvorlage gefordert. Modell ist hier längst nicht mehr ein Arbeitnehmer, welcher gewissenhaft und diszipliniert Anweisungen von oben ausführt, sondern derjenige, der sich kreativ ausdrücken kann, der sich innovativ denkend und flexibel operierend in die produktiven Abläufe der freien Marktwirtschaft einfügen kann. Jemand gilt dann als besonders autonom, wenn er über ein breites Möglichkeitsspektrum der Selbstdarstellung verfügt und sich ›verkaufen‹ kann. Nur so reüssiert man als erfolgreicher Agent und gewinnt auch als Privatperson ein unverkennbares Profil.

3. Mitgefühl als Boden der Besonnenheit – Bestandsaufnahme Ohne Ausformung einer zuhörenden und mitfühlenden Haltung als Säulen eines gelingenden Antwortgeschehens kann Besonnenheit weder entstehen noch bestehen. Wir haben gesehen: Wahrhaft mitfühlend wird ein Mensch, dem auf behutsame Weise vermittelt wird, auch schmerzliche Erfahrungen von Getrenntheit, Einsamkeit, Leid sowie eigener Unzulänglichkeit anzunehmen und zu integrieren – Erfahrungen, die unweigerlich zum menschlichen Leben dazu gehören und zweifellos früher oder später eintreten werden. In solchen Momenten wird eine Person grausam auf sich selbst zurückgeworfen. Deshalb ist Schmerzempfänglichkeit zwar ein Los, das grundsätzlich allen Menschen gemein ist, dennoch vereinzelt nichts so sehr wie akute, heftige oder gar an279 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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haltende Schmerzen. 32 Folgender Gedanke drängt sich auf: Ob es um physische Leiden geht oder um seelische Nöte und soziale Herausforderungen, wir müssen einsamkeitsfähiger werden. Einsamkeitsfähigkeit – zu verstehen als Akzeptanz von Partikularität ohne Resignation – bildet paradoxerweise die wesentliche Voraussetzung für Mitgefühl, welches dann wiederum zentrale Antriebskraft für Begegnungsfähigkeit, Solidarität und Wirstärke ist. 33 Je mehr Mündigkeit jemand sich selbst gegenüber gewinnt, d. h. je besser er lernt, auch negative Erfahrungen und ihre belastenden emotionalen Begleiterscheinungen gut zu verarbeiten, desto nachsichtiger, aufgeschlossener und diskussionsbereiter kann er vermutlich auch anderen gegenüber werden. Das ›Mit-Gefühl-Denken‹ intendiert also keineswegs eine geistige Haltung, durch die jedem auf seine Art recht gegeben werden soll, als vielmehr eine solche, die ausgehend von emotional-leiblich bedingter Betroffenheit stets die Perspektivität und Einseitigkeit des eigenen Horizontes einräumt. Gemeint ist ein Streben nach Wahrhaftigkeit, das auch dann noch, wenn eigene tief verankerte Vorannahmen und Überzeugungen tangiert sind, den Unterschied zwischen Meinen und Wissen wachzuhalten sucht, d. h. eine Einstellung, die darum bemüht ist, sich – so weit wie möglich – an Tatsachenbelegen als unparteiisches Korrektiv zu orientieren. Grundsätzlich wäre zu konzedieren, dass unsere emotionale Konstitution, so sie unreflektiert bleibt, zu voreiligen Schlüssen und überstürzten Aktionen verleitet. Bevor nicht hinlänglich respektvoll und ausdauernd mit anderen Betroffenen gesprochen wurde, lässt sich auch in moralischen Fragestellungen oftmals nicht ausmachen, wo genau die schwankende Grenzlinie zwischen der gemeinsamen Welt und dem

Zum Schmerz als Paradigma des Unverfügbaren, siehe insbes.: (Hähnel 2015, S. 42). 33 Siehe hierzu weiterführend: (Bennent-Vahle 2015b). 32

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Mitgefühl als Boden der Besonnenheit – Bestandsaufnahme

Bereich des Nur-Persönlichen verläuft bzw. wo Grenzverletzungen ausgemacht werden können. Wir müssen uns schon deshalb in diese Richtung bewegen, weil Selbstkorrekturen, die allein aus moralischen Grundsätzen heraus erfolgen, heute von vielen, wenn ich das abschließend mal so salopp sagen darf, als ›überholt‹ eingestuft werden, einmal abgesehen von der Gewaltsamkeit, die rasant schnell mit universellen Ansprüchen einhergehen kann. 34 Doch wie man es auch dreht und wendet, wie alteritätsoffen man schließlich auch handeln mag, die Unhintergehbarkeit eines moralischen Prinzips drängt sich fraglos auf, eines Prinzips, wie es Kant in seiner Menschheitszweckformel gefasst hat: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« 35 Ob wir die Zulässigkeit einer beabsichtigten Unaufrichtigkeit überprüfen, ob wir unsere emotionalen Impulse einer Angemessenheitsprüfung unterziehen, ob wir Räume individueller Freizügigkeit abstecken wollen oder Fragen der Gerechtigkeit erwägen, wir kommen niemals umhin, uns der Verpflichtung zum nicht-objekthaften Umgang mit anderen zu stellen und damit auch das Kantische Prinzip der gleichen

Dass die hier anvisierte Haltung keineswegs impliziert, im Zeichen kritikloser Toleranz eigene Überzeugungen abzulegen und infolgedessen jeden entschlossenen Widerstand gegenüber problematischen Aspekten anderer Kulturen sowie auch gegenüber den rückwärtsgewandten politischen Trends innerhalb der westlichen Welt aufzugeben, kann hier nicht vertiefend ausgeführt werden. Zwar wäre dem Ressentiment jedweder Couleur mit »zivilisierter Verachtung« entgegenzutreten, zugleich aber wäre den personalen Trägern solcher Haltungen – nicht zuletzt eingedenk der sozialen Genese antisozialer Impulse – ein grundlegender Respekt zu zollen. – Zur zivilisierten Verachtung, siehe: (Strenger 2015). 35 (Kant 1996, S. 61). // Eine Problematisierung der Frage, wie weit ich die Zwecke anderer zu berücksichtigen und zu fördern vermag, bietet z. B. Römer – (Römer 2013). 34

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Freiheit anzuerkennen. 36 Unendliches ist verhandelbar, dies nicht, denn es bildet den basalen Bezugspunkt jeder sinnvollen Verhandlung. Die konkrete Anwendung derart allgemeiner Regeln ist indes keine Frage rein logischer Operationen, sondern erfordert ein spezifisches von Mitgefühl getragenes Urteilsvermögen, welches sich erst nach und nach aufbauen kann. Vorwiegend muss es also um die Kultivierung der Bereitschaft gehen, auch im Falle persönlichen Involviertseins den ›Standpunkt eines unvoreingenommenen Beobachters‹ anzustreben, d. h. bereit zu sein, zu den eigenen spezifischen Privatinteressen probeweise auf Distanz zu gehen, um die Belange aller Betroffenen in Rechnung zu stellen und abzuwägen, um möglichst fair und umsichtig über angeführte Rechtfertigungsgründe nachzudenken – kurz gesagt, um diskursfähig zu werden. Ethische Orientierung konfiguriert sich nicht in der ausgedünnten Luft akademischer Debatten über hypothetische Fallbeispiele, nicht im abgehobenen Austausch von Spitzfindigkeiten bzw. in intellektuellen Grabenkämpfen konträrer Denkschulen, vielmehr nimmt sie eigentlich erst dort Gestalt an, wo der leibhaftige Mensch mit all seinen Nöten, Ängsten und Bestrebungen herausgefordert ist, im Inte»Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc. Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir Unrecht, der mich daran hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen.« (Kant 1982, S 337). – Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch schon in Adam Smiths Ausformulierung des Postulats, den Standpunkt eines neutralen Zuschauers einzunehmen. Smith beleuchtet zudem, wie eine solche ethische Haltung sich realistischerweise aus den emotionalen Naturanlagen des Menschen heraus entwickeln kann. – (Smith 2010, S. 131 ff.). – Zum Thema des unvoreingenommenen Beobachters bzw. des unparteiischen Zuschauers, siehe weiterhin: (Smith 2010, S. 124 ff. sowie 6. Teil).

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resse tendenziell aller anderen Abstand von sich selbst zu nehmen. Über die ausführliche Thematisierung emotionaler Faktoren in den vorherigen Kapiteln sollte ersichtlich werden, dass die Bereitschaft zu einem solchermaßen neutralen Vernunftgebrauch (eben auch angesichts persönlicher Betroffenheit) nur unter bestimmten Rahmenbedingungen hinlänglich ausgebildet werden kann. Hier spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Neben der Strahlkraft kontinuierlich positiver Vorbilder im Umfeld eines Kindes 37 sind das vor allem konkrete Maßnahmen und Programme zur Förderung empathischer Anlagen. Über einfühlsame Anstöße vermag ein Kind einzusehen, dass andere Menschen ähnliche Wünsche und Empfindlichkeiten haben wie es selbst. Wenn es z. B. jemandem Schaden zugefügt hat, sollte es behutsam zur Einnahme der ›Opferperspektive‹ eingeladen werden, um sich allmählich die gleiche Leidempfänglichkeit anderer vor Augen führen zu können. Vor allem in der Kindheit kann über solche Aktivierungen des naturgegebenen Mitfühlens ein moralischer Standpunkt nahegebracht und gefestigt werden 38 – also jenes Vermögen, situativ ein paar Schritte neben sich treten zu können. Betrachten wir den Menschen als das, was er ist, nämlich als emotional-rationales Mischwesen, so müssen wir mit sehr viel mehr Emphase, als dies bisher der Fall ist, auf die Relevanz der Kindheitsphase für die Herausbildung eines moralischen, sozialen und politischen Verantwortungsbewusstseins hinweisen. Früh werden die Weichen dafür gestellt, ob Die dauerhafte Präsenz guter Vorbilder ist nicht zuletzt deswegen so wichtig, weil Untersuchungen zeigen, dass Kinder unmittelbarer und schneller (als von positiven) von negativen Verhaltensweisen beeinflusst werden, so »als suchten sie nach einer Entschuldigung dafür, egoistisch zu sein, (…)«. – Siehe hierzu: (Bloom 2014, S. 230 f.). 38 Diese Methode der Bewusstmachung wird insbesondere von dem Entwicklungspsychologen Martin Hoffmann vorgestellt: (Hoffmann 2000, S. 143 f.). 37

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sich eine Person später in ihrer alltäglichen Praxis auf Unparteilichkeit und Verständigung verpflichtet sieht, d. h. in konkreten Problemlagen über nachvollziehende Empathie Begründungen einholt und auslotet sowie auch den eigenen Standpunkt stets kritisch befragt, ob sie bereit ist, sich dafür zu engagieren, dass Menschen mit unterschiedlichen, ja heterogenen Lebenskonzepten und Wertpräferenzen friedliche Koexistenzen aufbauen können. Wir haben gesehen: Damit diese Bereitschaft zu selbstkritischer Reflexion und Rücksichtnahme (neben Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit) entstehen kann, darf ein Kind bzw. ein Jugendlicher auf keinen Fall empathisch überfordert werden. Das heißt, es kommt darauf an, dass seine Ich-Interessen und Bedürfnisse nicht durch heftige Reaktionen und unerfüllbare Ansprüche des Umfeldes überrollt bzw. ignoriert werden. Ein Kind nimmt empfindsam alle emotionalen Regungen seiner engsten Bezugspersonen wahr. Ist die ihm gewährte Liebe jedoch ausbeuterisch, wird es z. B. durch den Gefühlsausdruck seines Gegenübers unter Druck gesetzt und emotional überlastet, so wird es sein eigenes empathisches Empfinden schon bald als vorwiegend leidvoll erleben und zurückfahren müssen. Dies führt wie beschrieben zu Vermeidungshaltungen, Heimlichkeiten, Groll und zunehmender innerer Abschottung gegen andere. Ausschlaggebend ist vor allem, wie Eltern und Erzieherinnen den Angst- und Verlassenheitsgefühlen des Kindes begegnen, sowie auch seinen ›normalen‹ Ausbrüchen von Eigensinn und Destruktivität. Werden die unweigerlichen Turbulenzen der frühen Kindheit nicht liebevoll aufgefangen, sind viele Varianten der Fehlentwicklung möglich, wie sie z. B. der Psychoanalytiker Arno Gruen in seinem Werk umfassend analysiert. 39 Das Fehlen von nachsichtiger Liebe und Ermutigung verhindert nicht nur, dass Kinder ihrem Erkundungsdrang zu folgen wagen, sondern sie lernen ebenso 39

Siehe hierzu insbes.: (Gruen 1986). – Siehe auch: (Maaz 2017).

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Mitgefühl als Boden der Besonnenheit – Bestandsaufnahme

wenig, angemessen mit Aggressionen und destruktiven Impulsen umzugehen sowie den Sinn der ihnen auferlegten oder angebotenen Regeln zu verstehen. Der Geist der Liebe, die möglichst frühe Erfahrung verlässlicher Zuwendung, ist für den Aufbau eines Grundgefühls minimaler Egalität unbedingt notwendig. Erst daraus kann, wie weiter oben in Anlehnung an Herzog dargelegt, die zukünftige Erziehungsfähigkeit des Kindes erwachsen. Hier entsteht eine Art Humus für waches Mitfühlen und fernerhin für eine grundlegende Haltung zwischenmenschlichen Respekts. Umgekehrt bringen moralisierende Überstrenge oder extreme Leistungserwartungen, die auf Disziplinierung und Beschämung setzen, zwar gehorsame und angepasste Mitläufer hervor, doch als Kehrseite dieser vermeintlichen Tugenden breiten sich Aufsässigkeit, Groll und Feindseligkeit gegen Andersdenkende aus. In jedem Fall lässt ein moralinsaures Klima aus Intoleranz und Strenge das Mitgefühl gegen Null tendieren. Wie schon dargelegt, richtet es sich fortan allenfalls noch auf Gleichgesinnte, wenn diese im Dienste geteilter ›höherer Ideale‹ leiden müssen, nicht jedoch auf Unvertraute, Fremde oder Vertreter anderer Kulturkreise. Ein unablässiges Wechselspiel zwischen Nähe/Begegnung und Distanz/ Einsamkeit ist – so sind wir nun einmal gestrickt – das Elixier unserer Vitalität. Geistige Lebendigkeit gleicht einer Wanderung auf schwankendem Grund. Doch man muss sich klarmachen, dass einzig auf diese Weise vorübergehend Gleichklang und Übereinstimmung mit anderen Menschen wirklich werden können. Gleichwohl ist nicht abzustreiten, dass das vollständige Gelingen eines Antwortgeschehens eher Seltenheitswert hat. Im Blick auf dieses positive Gut ist es paradoxerweise wesentlich, sich jeden Tag aufs Neue mit den Unzulänglichkeiten der eigenen Person und den Unvollkommenheiten gewöhnlicher Abläufe anzufreunden. Angesichts einer hochentwickelten individualistischen Gesellschaft erscheint es unumgänglich, auch der jüngeren Generation zu vermitteln, 285 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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diesen Schritt ohne Frustration und allzu große Angst vor Prestigeverlust zu wagen. Davon sind wir in den Bildungseinrichtungen noch weit entfernt. Stattdessen leisten wir mit der kritiklosen Übernahme und Aufrechterhaltung problematischer Persönlichkeitsideale dem Kapitulieren und Scheitern im Grunde genommen sogar noch Vorschub. Zugleich delegieren wir die Bewältigung der hieraus erwachsenden ›Schadensfälle‹ an die Reparaturwerkstätten der Medizin und Psychotherapie. Dass Therapieplätze mittlerweile Mangelware sind und Therapeutinnen auch längerfristig nicht über Arbeitsmangel klagen werden, versteht sich von selbst. Denn ein Bildungssystem, welches – frühe Selektion im Visier – den Typus eines auf kurzfristige Selbstoptimierung fixierten Solitärs fördert, trägt letztlich zur Schwächung jugendlicher Persönlichkeiten bei. Auch entscheidet immer noch die Herkunft über Bildungserfolge. Konfrontiert mit einseitigen Leistungsmaßstäben, die z. B. handwerkliches Können nicht hinreichend wertschätzen, erleben sich unzählige Jugendliche zunehmend als Versager. 40 Da generell, insbesondere aber in bildungsfernen Partikularkulturen, immer seltener Möglichkeiten – Denkräume – eröffnet werden, die eigene Situation mit etwas Abstand zu beleuchten, können derartige ›Niederlagen‹ kaum angemessen verarbeitet werden. Eher weist man reaktiv jede Schwäche von sich, simuliert ›Stärke‹ durch Aggressivität und Rücksichtslosigkeit oder flüchtet sich in die virtuellen Welten unschlagbarer Helden.

4. Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg Konkrete Bildungsanstrengungen sind erforderlich, doch primär wäre, wie auch Julian Nida-Rümelin anmahnt, über die Zum Thema Bildungsdünkelhaftigkeit, siehe: (Brake u. Büchner 2011, z. B. S. 17).

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Grundlagen einer humanen Anthropologie zu diskutieren. Die »kognitive Schlagseite« 41 unseres Bildungssystems kritisierend, akzentuieren die von Nida-Rümelin erbrachten Vorschläge – neben vielem anderen – die immense Bedeutung ethischer und emotionaler Tugenden. Nimmt man dies ernst, so muss vor allem die Persönlichkeit formierende Kraft des Philosophierens selbst dezidiert zur Sprache gebracht werden. Philosophieren bedeutet seit Sokrates, in der Beschäftigung mit letztlich unbeantwortbaren Fragen auf wichtige Unterscheidungen zu achten und neue weiterführende Gesichtspunkte aufzuspüren. Es bedeutet die Verabschiedung der Illusion, dass endgültiges Wissen und persönliche Perfektion je erlangt werden können. Demzufolge ist gerade das Philosophieren mit Kindern nach meinem Ermessen sehr geeignet, um jene für ein gelingendes Leben so wichtige Besonnenheit praktisch einzuüben, d. h. eine Haltung zu kultivieren, in der emotional aufgeschlossenes und vernunftorientiertes Nichtwissen-Können in die souveräne Akzeptanz eigener Begrenztheit mündet, eine Haltung, aus der letztlich alle Menschlichkeit hervorgeht. 42 Wie verdeutlicht wurde, gehört dazu aktuell unbedingt schwerpunktmäßig ein intensiviertes Nachdenken über das Spektrum menschlicher Emotionalität. Das Thema ›Emotionen‹ sollte mitnichten nur den Psychologen vorbehalten bleiben – die Philosophiegeschichte bietet im Übrigen Texte in Hülle und Fülle, um das Nachdenken und Diskutieren über Gefühle anzuregen. Der philosophisch-systematischen Beschäftigung mit den stets hervorbrechenden affektiven Auf-

(Nida-Rümelin 2013, S. 11). Zum Philosophieren mit Kindern, siehe u. a.: (Martens 1999) // (Matthews 1995) // (Freese 1994) // (Niewiem 2001) // (Brüning 2014) // (Schmalfuß-Plicht 2017) // (Zoller 1995) // (Bruell 2017 u. 2019). https://www.montclair.edu/cehs/academics/centers-and-institutes/iapc /what-is/why-philosophy/.

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wallungen und emotionalen Beunruhigungen ist eine eminent persönlichkeitsbildende Wirkung zuzusprechen. Weitere Überlegungen zum kindlichen Philosophieren mögen dies noch verständlicher werden lassen: Man denke z. B. an die früh gestellten Warum-Fragen, die sogenannten großen Kinderfragen, bei denen es sich in der Regel gerade nicht um schnell zu beantwortende Sachfragen handelt, sondern um tiefgründige Sinnfragen, die ein erwachsenes Gegenüber oft genug in die Bredouille bringen können. Kinder verfügen über eine ausgeprägte Fähigkeit, das Rätselhafte der sie umgebenden Welt zu erspüren und sich von Empfindungen der Unbegreiflichkeit des eigenen Daseins erfassen zu lassen. 43 Wer hierauf sogleich weltgewandt zu parieren sucht, läuft Gefahr, vom unbestechlichen Blick eines Kindes mit Aporien konfrontiert und mit Ratlosigkeit infiziert zu werden. Damit einhergehende Gefühle der Unsicherheit und Verlegenheit werden meistenteils als unangenehm empfunden und negativ bewertet. Ein probates Gegenmittel liegt dann in Ausflüchten oder Ablenkungen, während es nicht der Mühe wert scheint, derartige Fragen gemeinsam mit den Kindern auszuloten oder einzukreisen. Lieber verlegt man sich auf den Bereich der wissbaren und überprüfbaren Dinge, um sie mit versierter Kennermiene vorzutragen. Oft genug wird auch da, wo es um moralische Fragen oder Weltanschauungen, um Wertfragen und Präferenzen geht, gleichermaßen belehrend und aufoktroyierend verfahren. Wird dem Kind jedoch der Eindruck vermittelt, der Erwachsene verfüge bereits über alle wissenswerten Kenntnisse, so verliert es aller Voraussicht nach schon bald die Fähigkeit sich zu wundern, zu staunen und Fragen zu stellen. Aufsteigende Siehe hierzu: (Freese 1994). Hans-Ludwig Freese, der dieses besondere philosophische Gespür des Kindes herausstellt, bietet hierzu viele Belege aus den Kindheitserinnerungen bekannter Persönlichkeiten. Gleichermaßen verdeutlicht er, dass berühmte Philosophen stets auf die besondere philosophische Relevanz der Kindheit hingewiesen haben. (Ebd., S. 23–45).

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Zweifel und Ahnungen, das Gewahrwerden tieferer Dimensionen des Wirklichen, wird es ruhig zu stellen suchen und sich stattdessen auf eifriges Lernen von Techniken und Sachwissen verlegen. Vermutlich sind heutige Lernsituationen immer noch durch jene ›philosophische Besinnungslosigkeit‹ gekennzeichnet, auf die einst Montaigne hinwies, als er formulierte: »Von klein auf schreit man uns die Ohren voll, als ob man unablässig in einen Trichter nach schütte, und nichts anderes haben wir zu tun, als immer wieder nachzusprechen, was man uns vorgesprochen hat.« 44 Eine Bildung, die allein auf Wissensvermittlung aus ist, tut im Grunde nichts anderes, auch wenn dabei gegenwärtig nicht mehr unbedingt wild herumgeschrien wird. Zweifellos gibt es neue didaktische Methoden, doch wird die enorme Aufgeschlossenheit von Kindern, Dinge durch Selbsttun zu ergründen, Sinnfragen zu stellen und die persönliche Betroffenheit ins Spiel zu bringen, in einem leistungsorientierten Lernumfeld nach wie vor nicht hinreichend bedacht, wenn nicht gar systematisch ausgetrieben – Adorno sagte einst »ausgeprügelt«. 45 Während das Eintrichtern zu Montaignes Zeiten in einer festgefügten hierarchischen Weltordnung noch annehmbar gewesen sein mag, so ist es mittlerweile hochproblematisch geworden. Denn eine demokratische Gesellschaft von Bestand benötigt mündige, selbstständig denkende Bürgerinnen und Bürger, ebenso wie sie politisch Agierende voraussetzt, deren Handwerkszeug sich nicht darin erschöpft, mit strategischer Zweckrationalität oder gar mit Lügentaktik feststehende Ziele zu verfolgen. Für die meisten Menschen innerhalb der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften ist nach wie vor ein hoher Freiheits- bzw. Selbstbestimmungsanspruch leitend. Das ist gewissermaßen unser selbstverständliches aufklärerisches Erbe. Dennoch besteht in den Bildungseinrichtungen kein hin44 45

(Montaigne 1998, S. 83). (Adorno 1957, S. 142).

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reichender Raum dafür zu lernen, was Freiheit überhaupt bedeutet und wie man sich ihrer adäquat bedient. Infolgedessen verkommt das hochfliegende Selbstbestimmungsideal der Aufklärung zusehends zu einer Ermunterung zu Selbstzentriertheit und Egoismus. Ein Bildungssystem, das primär auf Erfolgs- und Effizienzsteigerung und immer weniger auf Persönlichkeitsentwicklung angelegt ist, lässt junge Menschen zunehmend in Schwierigkeiten geraten, denn sie werden kaum noch darin unterstützt, ein kohärentes Selbst auszubilden. Digitale Innovation in atemloser Taktung, die erwähnten Veränderungen der Arbeitswelt und damit einhergehende Leistungs- und Selbstverwirklichungsimperative, gleichermaßen aber auch ein grundlegender Wandel familiärer Strukturen führen zu einer Gemengelage, die die Herausbildung gefestigter Individualitäten beeinträchtigt. Daraus resultierende Gefühle tief reichender Verunsicherung und Desorientierung provozieren problematische Gegenreaktionen, nicht zuletzt in den Schulen, z. B. in Form zelebrierter Unflätigkeit und demonstrativer Machtposen. Vielfach zeigt sich trotz grundsätzlicher Lernbereitschaft ein Mangel an Selbstdisziplin und Konzentrationsvermögen, so dass es in den Klassenräumen ›drunter und drüber‹ geht. In der 2018 ausgestrahlten 37°-Sendung Lehrer am Limit 46 konnte man sich einen Eindruck problematischer Lerngruppen verschaffen, wobei zugleich sichtbar wurde, wie viel eine engagierte Lehrerin dennoch auszurichten vermag. Eine der Lehrerpersönlichkeiten, die mich sehr beeindruckt hat, weist wiederholt darauf hin, dass wir gegenwärtig dabei sind, eine ganze Generation vor die Wand zu fahren. Dabei betont sie, dass es in erster Linie darum gehen müsse, deutlich kleinere Klassen zu ermöglichen, so dass sich die Lehrerin den Belangen einzelner Schülerinnen sehr viel intensiver widmen könne. 47 Es sei ungemein wichtig, dass sich die einzel46 47

(ZDF-37°, 18. September 2018). Auch Bauer stellt dies neben vielen anderen heraus: »Um die sich (…)

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nen Schülerinnen, nicht zuletzt solche mit Migrationshintergründen, intensiv erzählend und nachdenkend mit ihren persönlichen Lebensumständen und den daraus hervorgehenden Problemen befassen könnten. Aus meiner Sicht wird hier deutlich, dass in den schulischen Kontexten Raum für eine nachzuholende bzw. kompensierende Persönlichkeitsbildung geschaffen werden muss. Man kann einfach nicht mehr sagen, dass das nicht Aufgabe der Schulen sei bzw. wenn man dies sagt, so verschließt man die Augen vor der gesellschaftlichen Realität. Blicken wir auf den Leistungsabfall vieler am Arbeitsmarkt nicht vermittelbarer junger Menschen, blicken wir auf die Phänomene der Verrohung und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft, blicken wir ebenso auf die Skrupellosigkeit mancher Wirtschaftsbosse oder auf die um sich greifende Verlogenheit politisch Agierender, so scheint es mir sehr hilfreich, mit Michael Niewiem herauszustellen, »dass ein Philosophieunterricht, der zu einer Förderung der Denkfähigkeit (…) führt, (…) als ein Therapeutikum für das ganze schulische System angesehen werden« 48 kann. Und nicht nur für das schulische System, würde ich sagen, denn es geht hier ja um das genuin menschliche Verlangen nach Sinnorientierung durch Ergründen und Hinterfragen, nicht um eine kognitiv geschulte systemimmanente Zweckrationalität. Anders als in antiken Entwürfen vernunftgeleiteter Selbstbildung, aber auch anders als in den autoritätsorientierten Verfahren der mittelalterlichen Welt agiert die neuzeitliche Pädagogik unter dem paradoxen Anspruch, andere zur Selbstbestimmung bzw. Freiheit hinzulenken. Der Erzieher hat nicht für sich selbst, sondern für seinen Edukanden zu ergebenden Defizite aufzufangen und sich dem einzelnen Kind intensiver zuwenden zu können, brauchen schulische Lehrkräfte – neben einer Verbesserung ihrer psychologischen und pädagogischen Kompetenz, vor allem kleinere Klassen.« – (Bauer 2008, S. 211 f.). 48 (Niewiem 2001, S. 95).

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entscheiden, was vernünftig ist und was es im Zeichen der Freiheit zu lernen gilt. Der junge Mensch soll angeleitet werden, sich selbsttätig seiner Vernunft zu bedienen. Über den Einfluss nehmenden Erziehungsprozess soll er zu Autonomie, Freiheitsbewusstsein und umfassender Entfaltung seiner Talente gelangen. Hier zeigt sich abermals das schon umrissene Grundproblem: Wie kann der Pädagoge gewissermaßen von außen, also mittels erzieherischer Einwirkung, sicherstellen, dass ein junger Mensch tatsächlich den richtigen Gebrauch der Freiheit erlernt? Ist die Freiheit nicht ein Potential, das sich der Herstellung durch bestimmte Erziehungsmethoden nachgerade entzieht? Diese Thematik wurde im vorletzten Abschnitt bereits angesprochen. Bezug nehmend auf Buber wurde herausgestellt, dass eine freiheitsorientierte Erzieherin der permanenten Gefahr des Selbstwiderspruchs ausgeliefert ist. Sie muss deshalb mit Bedacht vorgehen. Sofern sie Zwangsmittel, manipulative Tricks oder auch nur allzu geschickte Methoden anwendet, um ihren Zögling zu instruieren, um ihn z. B. in gewünschte Gesellschaftsideale einzupassen, droht sie den Keim jener Freiheit zu ersticken, welche doch ursprünglich ihr deklariertes Anliegen war. Ein gewisses Maß an ›Nötigung‹ scheint aber unerlässlich, um junge Menschen in Beschränkungen einzugewöhnen, die für jedes soziale Miteinander notwendig sind. Schon Kant war sich dieses Problems nur allzu bewusst, als er schrieb: »Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich der Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwang? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen.« 49 Dieser Hinweis auf ein tradiertes Erziehungs-

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(Kant 1991b, S. 711).

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dilemma mag genügen, um klarzumachen, dass wir uns als Erziehende stets auf einem schmalen Grat zwischen Reglementierung/Zwang und Freizügigkeit bewegen. Idealerweise gelingt es zu vermitteln, warum Beschränkungen subjektiver Willkür sinnvoll sind, so dass sie nicht zähneknirschend hingenommen, sondern verstanden und angenommen werden, um schließlich Teil der Selbstkonzepte jugendlicher Menschen zu werden. An diesem Punkt bietet das frühe Philosophieren mit Kindern m. E. eine Art Königsweg. Ausgehend von Themen aus dem Alltag der Kinder oder von Fragen, die Kinder von sich aus einbringen, lässt sich schon mit Vier- oder Fünfjährigen philosophieren. Über Prozesse, in denen Kinder einander selbst Antwort geben und ihre Gedanken miteinander besprechen, wird das Nachdenken geschult, d. h. eben nicht durch Belehrungen, sondern durch dieses Selbsttun, bei dem der Erwachsene allenfalls Impulse setzen, z. B. die Einigung auf Rahmenregeln anregen sollte. Zum Philosophieren kann man nur einladen, angeordnet werden kann es nicht. Deshalb sollte es für jüngere Kinder auf keinen Fall ein der Benotung unterliegendes Unterrichtsfach sein. Es geht nicht darum, philosophisches Wissen zu vermitteln, sondern darum, selber nachzudenken oder besser noch, Freude daran zu finden, die eigenen Gedanken und Gefühle kennen zu lernen, d. h. ein Vokabular dafür zu entwickeln, um sie anderen zu erklären und nach Begründungen und Ursachen zu suchen, wenn Einwände oder Reaktionen erfolgen. Auf diese Weise werden nach und nach Urteils- und Dialogfähigkeiten eingeübt, welche später für demokratische Prozesse unerlässlich sind. Ein Kind lernt, freudig und wissbegierig anderen zuzuhören und auf deren Widerrede mit Ruhe zu reagieren. Als Teil einer Gesprächsgruppe, in der es sich wahrgenommen und respektiert sieht, kann es zugleich die Besonderheit seiner Individualität erkunden. So wird ihm Raum gegeben, sich auch losgelöst von feststehenden Bewertungsmustern zu erproben, angstfrei Nachfragen zu stellen und zu lernen, auf die eige293 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung

nen Gefühle nicht nur zu achten, sondern auch darüber nachzudenken. Das bewusste Einbeziehen von Gefühlen ist in frühen Lebensjahren, da Denken und Fühlen noch ganz eng verwoben sind, nahezu unumgänglich. Zunächst wird ja noch keine klare Unterscheidung zwischen diesen beiden Weltzugangsmodi vorgenommen. Deshalb ist die Beschäftigung mit Gefühlen für Kinder naheliegend und selbstverständlich. Das heißt: Sie äußern noch ganz unvermittelt, wie sich das Wichtigfinden bzw. das Positiv- oder Negativbewerten einer Sache für sie anfühlt, und haben zunächst kaum Probleme damit, über ihre Regungen zu sprechen. Anders gesagt, sie sind noch ganz in die Welt involviert, sind berührt und betroffen. Ihre Lust am gemeinsamen Austausch wurzelt nicht zuletzt darin, zuhörend zu erfahren, wie die Wirklichkeit sich für die anderen anfühlt. Notwendig sind geschützte Räume, in denen offen miteinander gesprochen werden kann, wobei auch die vermeintlich rein subjektiven emotionalen Regungen Gehör finden. Indem sich das Augenmerk zunächst auf die individuellen Besonderheiten des Erlebens richten darf, können allmählich Gemeinsamkeiten, geteilte Erfahrungen und verbindende Elemente hervortreten. Das heißt: Indem das eigene Empfinden sowie auch das der anderen Kinder situationsbezogen zur Geltung gelangt, wird erkennbar, dass sich auch im emotionalen Bereich Regelmäßigkeiten und auffällige Zusammenhänge feststellen lassen, vor allem wird verstehbar, dass emotionale Reaktionen eng mit Annahmen und Gedanken verknüpft sind, mit denen man – voreingenommen – an die Wirklichkeit herantritt. Findet ein solches gemeinsames Philosophieren über längere Zeiträume statt, so erschließt sich den Kindern im Zuge des Älterwerdens allmählich die besondere Logik der Emotionen. 50 Stufenweise formiert sich zum

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(Ben Ze’ev 2009).

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Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg

einen die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung und Reflexion der eigenen Gefühlslandschaft, so dass junge Menschen sich darin bewusster im Blick auf die jeweiligen Situationsumstände verorten können und es zunehmend auch lernen, sich eigenständig zu steuern. Zum anderen finden sie gemeinsam heraus, dass es reale Dinge gibt, deren Existenz und Beschaffenheit sich weitgehend unabhängig von den eigenen Vorannahmen zeigen, bzw. dass man durchaus zu stabilen Ruhepunkten der Einigung über erforschbare Tatsachen gelangen kann. Das heißt aber auch: Nur indem man zunächst einmal lernt, an konkreter Stelle sehr genau auf sich selbst zu blicken, werden die kognitiven und motivationalen Voraussetzungen dafür geschaffen, einen Perspektivwechsel vornehmen und im Interesse anderer bzw. der Gemeinschaft auch wieder von sich selbst absehen zu können. Zugespitzter gesagt: Nur derjenige, dem erlaubt wird, Mittelpunkt zu sein, erwirbt die Fähigkeit, sich ohne Groll oder Frust zurückzunehmen. Nur ein solcher erwirbt schließlich die Fähigkeit, eigeninitiativ – zur Ausweitung des Blickfeldes – einen Standort außerhalb des Spiels aufzusuchen. Auf diese Weise wird gleichsam ein Grundstein für den Umgang mit schwierigen Konstellationen gelegt. Ermöglicht wird auch das, was man in der Theorie zum frühen Philosophieren als CaringThinking 51 bezeichnet. Das für das Caring-Thinking so wichtige Reflektieren über Gefühle verhilft letztlich dazu, leichter auch eigene Fehler zugeben zu können bzw. sich und anderen zuzugestehen, dass man viele Dinge zuweilen auf Anhieb nicht richtig einzuschätzen vermag. Gelernt wird, im respektvollen Umgang mit den Argumenten anderer eine wesentliche Hilfe für Selbstkorrekturen zu finden. Natürlich ist hierbei zentral, dass Kinder sich philosophierend darin üben können, das Gewicht eines Arguments an seiner Stich-

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Siehe hierzu z. B.: (Zoller 2010, Kap. 4).

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Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung

haltigkeit zu bemessen und es nicht vom Status der sich äußernden Person abhängig zu machen. 52 Vor allem muss man sich beizeiten darin üben, zwischen Tatsachen und Werturteilen sowie auch zwischen Erklärungen und Begründungen zu unterscheiden. Insbesondere in Bezug auf den Umgang mit Emotionen gilt: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr bzw. je nachdem lernt Hans es nur mit viel Betrübnis und hohem therapeutischen Aufwand. Wird nicht wirklich – d. h. in der Tiefe – im Blick auf die Verletzlichkeit des Menschen verstanden, warum manche Verhaltensweisen mich und andere beeinträchtigen und damit der Gemeinschaft schaden, so findet Disziplinierung bzw. ethische (Selbst)Regulierung keine tief verankerte Zustimmung durch die Person und trägt folglich zwanghafte Züge. Dann kann es vorkommen bzw. passiert es sehr häufig, dass jemand später zwar moralisch angepasst bzw. regelkonform agiert, unbemerkt und heimlich aber ganz anderen, oftmals unerkannten emotionalen Impulsen folgt. Kurzum: Ein Denken und Gefühl umschließendes frühes Philosophieren schult die (moralische) Urteilskraft des Kindes, was sein Selbstbewusstsein stärkt und es gegen Überangepasstheit an moralische Vorgaben feit. Übrigens gibt es guten Grund zur Zuversicht, dass Kinder im freien Gedankenaustausch altersgemäß Orientierung finden werden. Mehrfach habe ich schon auf entwicklungspsychologische und pädagogische Studien hingewiesen, die eine rudimentäre moralische Anlage der menschlichen Natur offenbaren. So findet heute gewissermaßen Bestätigung, was bereits Herder ins Feld führte, als er vor langer Zeit schrieb: »Humanität ist der Charakter unseres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit; auf der

Deshalb muss der Erwachsene, der für die Kinder stets eine Autorität ist, sich mit abschließenden Aussagen auch zurückhalten.

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Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg

Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Summe unserer Uebungen, unser Werth sein (…).« 53 Es bedarf also tatkräftiger pädagogischer Unterstützung, damit sich die altruistischen Potentiale des Menschen gut entfalten können. Das Philosophieren mit Kindern ist dabei aus meiner Sicht ein besonders hilfreicher Weg, weil in Gruppen, die zunehmend vertraut miteinander sind, das direkte Hineinfühlen in andere eingeübt werden kann, um darüber zu einem bewussten und nachdenklichen Umgang mit spontanen Gerechtigkeitsintuitionen zu gelangen. Sind die Gruppen zudem von kultureller Vielfalt geprägt, so befördert das Philosophieren darüber hinaus einen aufgeschlossenen und wertschätzenden Umgang mit Fremdartigkeit. Das heißt: Nicht zuletzt zur Aneignung interkultureller Kompetenz müssen genau die Fähigkeiten gepflegt werden, die ein lebendiges Philosophieren ausmachen: Fragen stellen, zu sich selbst in Distanz treten, Vorannahmen überprüfen, Gefühle wahrnehmen und einbeziehen, anderen genau zuhören, einen Perspektivwechsel versuchen, Antwort geben, dabei auf Argumente hören, diese prüfen und gegebenenfalls auch widersprechen. Philosophieren hat wesentlichen Einfluss auf den menschlichen Reifungsprozess, egal in welchem Alter. Es muss sich allenthalben so weit wie möglich in Abstinenz von hierarchischer Belehrung und Zwang vollziehen, insbesondere im pädagogischen Bereich. Ähnlich wie Buber konstatiert auch Hannah Arendt, dass erzieherischer Druck bei Kindern nur allzu leicht entweder Konformismus oder auch Haltlosigkeit hervorrufen wird. 54 Weil Kinder noch über keine ausgebildeten Methoden des Selbstschutzes und ebenso wenig über argumentative Durchsetzungsfähigkeit verfügen, verfallen sie, wenn zu viel Druck im Kessel ist, reflexartig in Muster der Angepasstheit oder umgekehrt der Rebellion. Dies sind die 53 54

(Herder 2018, S. 31). (Arendt 1994).

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Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung

beiden Extrempole einer ganzen Palette von Reaktionsweisen, die sich vor dem Hintergrund der ursprünglichen empathischen Bezogenheit des Kindes auf sein Umfeld ergeben können. In diesen Fällen bleibt das Verhältnis des Kindes zu seinem Umfeld von Unfreiheit geprägt: Es passt sich an, um Akzeptanz zu finden (bzw. um gute Noten zu bekommen), aber ohne echte innere Zustimmung; oder es begehrt auf, weil ihm kein befriedigender Halt geboten wird bzw. weil unterdrückerische Zwänge ihm Schmerzen zufügen, die in Opportunismus, Hemmungslosigkeit und gewaltsame Gegenreflexe münden. Merkliche Vorteile des frühen Philosophierens im institutionellen Rahmen belegt auch eine einschlägige empirische Studie der Durham-Universität: 55 Sofern Grundschulkinder – es ging hier um 9- und 10-Jährige – über einen längeren Zeitraum in Gruppen philosophieren, steigern sich nicht nur ihre schulischen Leistungen in den Kernfächern, z. B. in Mathematik, Lesen und Schreiben, sondern es verbessern sich insbesondere auch ihre sozialen Fähigkeiten. Die SchülerInnen zeigen mehr Selbstvertrauen, wagen es, sich offen zu äußern, zeigen aber auch eine erhöhte Bereitschaft, anderen zuzuhören, sowie generell ein verbessertes Beziehungsverhalten. Dem muss meines Erachtens ein wesentlicher Punkt hinzugefügt werden: Aus Sicht der Philosophischen Praxis ist Philosophieren überdies maßgeblich für ein gelingendes Leben, welches unerreichbar bleiben muss, wenn wir fortfahren, den Bildungsakzent primär auf messbare Erfolge und ökonomisch verwertbare Leistungen zu legen. Vielmehr muss es – nicht zuletzt im Dienste einer florierenden Gesellschaft – um ein umfassenderes Nachdenken gehen, welches auch die Fähigkeit zum unmittelbaren Lebensgenuss, die Möglich(Gorard u. a. 2015). – Siehe auch die jüngst erschienene empirische Studie von Anne Goebels zum Philosophieren mit Grundschulkindern: (Goebels 2018) // (Information Philosophie 2018, S. 110–113).

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298 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg

keiten künstlerischen Ausdrucks, das Lebensförderliche der Schönheit sowie vor allem die ethisch-politische Dimension unseres Seins in den Blick nimmt. Über früh einsetzendes Philosophieren kann die Plastizität und Ganzheitlichkeit des kindlichen Geistes konstruktiv in den Dienst einer freiheitsorientierten Persönlichkeitsentwicklung treten. Wer die eigenen Interessen und Stärken erkunden darf, wird Selbstvertrauen gewinnen und es leichter dabei haben, innerhalb der komplexen und vielfältigen modernen Wirklichkeit einen eigenen Weg zu bahnen. Nahezu spielerisch kann so in diesen Gesprächsrunden eingeübt werden, ein aktives und verantwortungsbewusstes Subjekt zu werden. Zudem: Wo die Gestaltung des Lebens als ganzes im Brennpunkt steht, kommt es auf sehr viel mehr an als darauf, aktiv zu sein und tolle Projekte zu realisieren. Denn vieles widerfährt uns eher: Wir erleben ungefragt die Grenzen unserer Möglichkeiten, stoßen auf unüberwindliche Widerstände und erleiden den unbeugsamen Starrsinn anderer. Wir scheitern in einer Sache, sind innerlich zerrissen oder drohen an einem Schicksalsschlag zu verzweifeln. Unweigerlich kommen wir immer wieder mit der passiven und verletzlichen Seite der menschlichen Existenz in Berührung. Deshalb ist es ungemein wichtig zu lernen, mit derartigen Erfahrungen und den unauflöslichen Spannungen des Menschseins umzugehen, d. h. entsprechende Haltungen zu entwickeln und einzuüben. Wer diese Grundtatsachen nicht hinreichend an sich heran lässt, d. h. wer blindlings heute gängigen übersteigerten und illusionären Autonomieansprüchen folgt, geht das hohe Risiko ein, nicht umsichtig genug zu leben. Er wird Fehler machen und Grenzen überschreiten und, wenn das länger so geht, schließlich permanent auf der Flucht vor sich selbst sein müssen. Eine fatale Dynamik des Selbstbetrugs setzt ein, welche die Fundamente eines guten und gelingenden Lebens kontinuierlich aushöhlt. Nur ein starkes Selbst ist vollumfänglich in der Lage, Mitgefühl und moralische Sehkraft zu entfalten. Dagegen steht 299 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Einübung der Besonnenheit – eine neue Bildungsherausforderung

die große gegenwärtige Versuchung, zu Macht und Rückendeckung verheißenden Gruppen oder Clans Zuflucht zu nehmen, sowie die Versuchung, ausschließlich ›per Knopfdruck‹ den Resonanzmodus aufzurufen, um gemeinsam oder allein emotional abzuheben. Nicht minder üblich ist es, das Zwischenmenschliche über abrufbare kommunikative oder regulative Standards profimäßig abzuwickeln. Manches mag für einen reibungslosen Alltag unentbehrlich sein, letztlich jedoch wird damit unser Verlangen nach Gesehenwerden und Antwort nicht erfüllt. Die in vielfacher Hinsicht so bedeutsame Differenzstruktur des Mitgefühls bleibt auf der Strecke. Die in Mitgefühl wurzelnde Besonnenheit ist kein bloßer Reflex, sondern eine Haltung, welche sich im Zuge einer bewussten mentalen Praxis allmählich etabliert, ohne dass jemals mit Vollendung zu rechnen ist. Besonnenheit ist damit letztlich ein Effekt andauernder selbstkritischer Imaginationskraft. Erst das willentliche Abstandnehmen von spontanen Impulsen bzw. vorsichtige Skepsis diesen gegenüber ermöglicht wirkliche Öffnung zum anderen hin. Dessen Welt kann näher an ein Ich herantreten, das bereit ist, vorübergehend von sich abzusehen, jedoch ohne deshalb gegenüber der eigenen inneren Wirklichkeit blind zu sein. Im Gegenteil, Besonnenheit als eine Haltung mitfühlenden Denkens setzt den bewussten Umgang mit eigenen Emotionen voraus. Dies ist, wie ich dargelegt habe, ein für alle pädagogischen Prozesse überaus relevanter Gedanke. Bezogen auf die Philosophische Praxis bezeichnet Leon de Haas die mitfühlende Haltung der Praktikerin als »ascetic, sceptical engagement«. 56 Askese und Distanz bedeuten hier mithin nicht Abschottung, ebenso wenig Selbstverleugnung, sondern Zurückhaltung und Empfänglichkeit für die spezifische Lage des anderen, dessen Gefühlsfarbe berühren und bewegen darf. Umgekehrt ließe sich ebenso sagen, dass nur 56

(De Haas 2016, S. 78).

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Frühes Philosophieren – ein Lösungsweg

jemand, dem andere schon irgendwie nahegehen, überhaupt angeregt werden kann, von sich selbst Abstand zu nehmen. Sogar auf das Risiko einer vielleicht unumgänglichen Selbstveränderung hin lässt er den anderen näher an sich heranrücken und sich zu Herzen gehen. Der im folgenden Kapitel dargelegte Leitfaden emotionaler (Selbst)Prüfung kann in mehrfacher Weise genutzt werden: Zum einen bietet er Anregungen für eine dialogische Beschäftigung mit Fragen der Emotionalität auf den Arbeitsfeldern von Pädagogik, Psychologie und Philosophischer Praxis. Zum anderen aber kann er – und das ist hier primäres Anliegen – jeden Einzelnen darin unterstützen, der eigenen Emotionalität mit nuanciertem Problembewusstsein zu begegnen, um Akte der Selbsteinwirkung in Gang zu setzen. Über das grundlegende Verstehen des Sinns besonnener Distanznahme hinaus ist diese ›Gebrauchsanweisung‹ (zu einer möglichen Regulierung beeinträchtigender Emotionen) darauf angelegt, Schritt für Schritt konkrete Gesichtspunkte zu benennen, die es im Zuge einer Besonnenheitspraxis zu berücksichtigen gälte.

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VI. Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis Sprich, wenn du wütend bist, und du wirst die beste Rede halten, die du jemals bereut hast. (Ambrose Bierce) Wer keinerlei Ähnlichkeit zwischen sich und den anderen erkennt, wer nur das fremde Böse, aber nicht das eigene sieht, der ist (tragischerweise) dazu verurteilt, seinen Feind zu imitieren. Wer hingegen das Böse auch in sich selbst zu erkennen vermag und folglich merkt, dass er dem Feind ähnlich ist, gerade der unterscheidet sich wirklich von ihm. (…) Halte ich mich für anders, bin ich vom gleichen Schlag; halte ich mich für gleich, bin ich anders (…). (Tzvetan Todorov)

1. Hinführung Ärger und Zorn bergen das hohe Risiko in sich, zu gefährlichen Selbstläufern zu werden. Ehe man sich versieht, wird der emotionale Zündfunke zur lodernden Flamme, die einen desaströsen Flächenbrand nach sich zieht. Im Nachhinein folgen dann oft Zerknirschtheit, Bedauern, wenn nicht gar Reue und Scham – Reaktionsweisen, die ihrerseits nicht selten dazu veranlassen, das Innenleben angestrengt vor anderen und schließlich womöglich vor sich selbst zu verbergen. Damit aber ist zweierlei geschehen: Jemand wappnet sich mit Strategien der Selbstrechtfertigung, kapituliert vor dem Ansturm der Gefühle bis hin zu einer vollendeten und zugleich kaschierten Unterwerfung unter das Diktat des Emotionalen; nach und nach aber verliert er auf diese Weise geradezu unmerklich sich selbst als frei agierende Person. Er/sie übersieht oder ignoriert, dass es Möglichkeiten der Selbstlenkung gäbe, 302 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Hinführung

dass er/sie eine besondere Form von Aufmerksamkeit trainieren könnte, die dem eigenen Bewusstsein auch dann ein Mitwirken einräumt, wenn es im Überschwang der Gefühle unterzugehen droht. Deshalb kann man sagen: Wir müssen zwar normalerweise nicht erst lernen, wie man ärgerlich wird; was wir aber unbedingt erlernen müssen, ist die Fähigkeit, umsichtig, rücksichtsvoll und mit Mitgefühl ärgerlich zu sein. Um uns zu einem solchen Duktus innerer Sammlung im Blick auf neue Bewegungsspielräume zu motivieren, müssen zunächst einige Klärungen vorgenommen werden. Es gilt vor allem bewusst zu machen, wodurch emotionale Verfassungen gekennzeichnet sind. Was passiert mit uns, wenn wir emotional werden? Warum sind diese Effekte manchmal sinnvoll und warum münden sie in vielen anderen Fällen in Blindheit und Kopflosigkeit, in selbstschädigende Einseitigkeiten sowie in den Zusammenbruch zwischenmenschlicher Beziehungen? Am besten lassen sich diese Fragen außerhalb akuter Betroffenheit, aber durchaus bezogen auf einige konkrete Beispiele, beantworten. Nach und nach kann das so gewonnene Wissen dann im tatsächlichen Erleben und Handeln wirksam werden. Hierzu bedarf es allerdings großer Geduld und enormer Ausdauer, häufig muss eine Reihe mentaler Techniken und Aufmerksamkeitsübungen ergänzend hinzutreten, z. B. Übungen, welche das spontane Registrieren und Abfangen emotionaler Impulse unterstützen. Wie Paul Ekman und der Dalai Lama würde auch ich in dieser Angelegenheit für »Metaaufmerksamkeitszimmer« plädieren 1 – nicht zuletzt in den Bildungseinrichtungen. Emotionen sind, so viel steht fest, hoch komplexe Phänomene. Sie benötigen deshalb entsprechend komplexe, abgestufte ›Gegengaben‹, wenn es (Ekman 2009, S. 286). – Der Band bietet insgesamt ein weites Wissensspektrum zur menschlichen Emotionalität, wobei zugleich ein starker Akzent auf Interventionsmöglichkeiten und Übungsformen gelegt wird.

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Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

darum geht, das mentale Gleichgewicht zu erhalten und sozial destruktive Impulse einzudämmen. In aller Kürze nun ein paar Gedanken zur Charakterisierung des emotionalen Modus (über bereits Gesagtes hinaus): Kennzeichnend für diesen Modus ist eine starke Einengung der Wahrnehmungsperspektive auf diejenigen Dinge, die für unsere unmittelbaren subjektiven Belange und Bedürfnisse relevant sind (bzw. erscheinen). Dementsprechend fällt es uns schwer, unter dem Einfluss emotionaler Erregung alle Faktoren einer Gesamtsituation angemessen zu berücksichtigen, z. B. auch den Sichtweisen und Interessenlagen möglicher anderer Beteiligter gerecht zu werden. Sind wir stark affektiv von einem Geschehen betroffen, so sind wir zwar überaus wach und präsent, büßen aber mehr oder weniger die Fähigkeit zu sachgemäßer, weitsichtiger Beurteilung ein. Wir sind in gesteigertem Maße selbstbezogen, d. h., wir verlieren jegliche Distanz und verzerren möglicherweise die Ereignisse aus dem Blickwinkel des uns unmittelbar notwendig Erscheinenden. Emotionen besitzen eine überwältigende Wirksamkeit, weil sie unser ganzes Selbst erfassen und durchtönen, Leib und Seele gleichsam mit sich fortreißen. Die bedrängende Macht starker Emotionen befeuert in der Regel die Überzeugung, ja vielfach die Gewissheit, unbedingt im Recht zu sein. Der Betreffende verspürt Legitimation und Lust zugleich, diesen drängenden Schubkräften blindlings zu folgen. Starke Gefühle sind Ergriffenheitstatsachen, an denen es nichts zu rütteln gibt, denn sie sprudeln – wie wir glauben – aus einer reinen Quelle innerer Authentizität hervor. Meistens führen sie einen nahezu bezwingenden Handlungsimpuls mit sich. Wir stürmen ungestüm davon, bevor sich auch nur ein zaghafter Gedanke dazwischenschieben konnte. Wir agieren gewissermaßen kopflos und verletzen – inbrünstig von uns selbst erfasst und weggerissen – die Sphären anderer Menschen oder schaden uns selbst. Der moderne Kult emotionaler Echtheit, die Verwechslung von Euphorie und Glück sowie auch die Bejubelung von Häme und Gemeinheit 304 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Hinführung

durch Realityshows und flache Comedyprogramme sowie vieles andere mehr wirken hier als verhängnisvolle Zutaten des Zeitgeistes. Die im Folgenden dargelegte Angemessenheitsprüfung soll vor Augen führen, an wie vielen Stellschrauben wir dennoch drehen könnten, um unsere emotionalen Reaktionsmuster zu hinterfragen. Beginnen wir nämlich erst einmal damit, das emotionale Geschehen in seine Bestandteile zu zerlegen, so treten unzählige Faktoren zu Tage, die zu überdenken wären. Zuvor muss allerdings nochmals an folgenden wichtigen Grundtatbestand erinnert werden: Jeder Mensch ist gleichsam Träger eines einmaligen emotionalen Skripts, 2 in dem auf je einzigartige Weise verschiedene Einflüsse ineinanderspielen – natürliche, individuell genetische, biografischmilieuspezifische sowie gesellschaftliche und kulturelle. Trotz geteilter biologischer Voraussetzungen, trotz einer gewissen Naturähnlichkeit aller Menschen sind unsere emotionalen Reaktionsweisen immer auch das Ergebnis einer einmaligen, kulturell verorteten Prägungsgeschichte. Vor diesem Hintergrund sind Emotionen gleichsam als Erfahrungsspeicher anzusehen, die angereichert sind mit – zumeist unbemerkt und unreflektiert übernommenen – sozialen Normen und Bewertungsmechanismen. Worauf wir anspringen, wie rasch eine affektive Reaktion erfolgt, wie hoch das Erregungsniveau ist, wie schnell Beruhigung eintritt, wie viel wir davon bewusst registrieren – all dies variiert erheblich von Person zu Person. Umso mehr kommt es darauf an, am Leitfaden der nun folgenden Angemessenheitsprüfung, unser persönliches Drehbuch aufzuspüren, um nicht immer wieder gedankenlos dieselben stumpfsinnigen und schädlichen Szenen durchspielen zu müssen.

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(Ebd., S. 94 ff.).

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Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

2. Angemessenheitsprüfung – vier Schritte A. Gefühlswissen Zunächst gilt es die betreffende Emotion zu identifizieren. Zu fragen wäre: Was signalisiert z. B. eine negativ-lodernde Wallung, ein niederdrückendes Gewicht, ein dumpfes Brennen? Ist es Ärger, ist es Zorn, ist es Neid, ist es Eifersucht oder ist es womöglich Hass? Dieser erste Schritt einer ehrlichen Innenschau stellt bereits eine enorme Herausforderung dar, denn zum einen (a) brauche ich geeignete Begrifflichkeiten, um meine inneren Erfahrungen differenzierend und zutreffend beschreiben und benennen zu können, und zum anderen (b) muss ich erst einmal dazu bereit sein, emotionale Erregungszustände an mir selbst überhaupt wahrnehmen zu wollen bzw. derartige Verfassungen bei mir selbst überhaupt zuzugeben. Meistens weigern wir uns einzuräumen, dass unsere Handlungsweisen Ausfluss unklarer Gefühlslagen oder unkontrollierter Launen sein könnten. Erläuterung zu (a) Um gerüstet zu sein, emotionale Gegebenheiten zu erkennen und im eigenen Selbst aufzuspüren, ist es sinnvoll, sich zunächst auf allgemein-gedanklicher Ebene darin zu üben, verschiedene Fühlphänomene gegeneinander abzugrenzen – gewissermaßen als eine Art Vorübung in der Theorie. Auch wenn viele Dinge sich im wirklichen Leben überlappen und ineinander verwoben sind, so hilft es dennoch sehr, Emotionen begrifflich gegenüber Stimmungen 3 und Empfindungen Von Stimmungen oder Atmosphären sprechen wir dann, wenn ein Empfinden die Grenzen der Individualität überschreitet, also gewissermaßen in der Luft liegt, sich im Raum ausdehnt. So antwortet unser Fühlen z. B. im Erleben von Naturstimmungen auf bestimmte Tönungen, die in den Dingen selbst zu liegen scheinen. Solche Stimmungen oder Atmosphären können eine starke Macht über uns gewinnen, kön-

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Angemessenheitsprüfung – vier Schritte

abgrenzen zu können. Ein weiterer hilfreicher Schritt wäre es, die wichtigsten Emotionen in ihrer wertenden Ausrichtung auf etwas in der Welt bzw. etwas an uns selbst (als einem Teil dieser Welt) unterscheiden und gegeneinander abgrenzen zu können. Einige weitere Grundgedanken zur Philosophie der Emotionen seien deshalb an dieser Stelle kurz skizziert. 4 Nach Aaron Ben-Ze’ev wird mit dem Begriff »Emotion« ein spezifischer, sehr effektiver Modus der Wirklichkeitserschließung bezeichnet. Dieser Modus folgt durchaus einer eigenen Logik, die deutlich von der Logik rationalen Denkens unterschieden ist. 5 Ben Ze’ev favorisiert den Begriff der »Emotion« gegenüber dem des »Gefühls«, weil so besser verdeutlicht werden kann, dass Fühlen zwar ein zentraler Bestandteil der zu beschreibenden Phänomene ist, in diesen aber zudem weitere Faktoren eine Rolle spielen. Im Vergleich zu Empfindungen oder ungerichteten Gefühlen wie z. B. Schmerz, Hunger oder physischem Wohlbehagen, in denen wir Veränderungen hauptsächlich auf körperlicher Ebene registrieren, stellen Emotionen komplexere Phänomene dar, welche sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzen. Um diese »Bauteile« in aller Kürze zu veranschaulichen, verweise ich auf die Emotion des Ärgers oder gar Zorns, die uns üblicherweise dann überkommt, wenn in einer spezifischen, uns fraglos erscheinenden Situation eine – aus unserer Sicht – zentrale Richtlinie, anerkannte Norm oder auch nur zwischenmenschliche Rücksicht in gravierender Weise missachtet wird. 6 Folgende Aspekte des emotionalen Geschehens lassen sich theoretisch auseinanderhalten, wenngleich sie praktisch nen in Resonanz, Dissonanz oder Interferenz zu den je eigenen Emotionen treten. – Siehe hierzu weiterführend: (Bollnow 1995) // (Schmitz 2018, S. 296 ff.) // (Bennent-Vahle 2013). 4 Siehe hierzu auch die Ausführungen in diesem Buch: S. 112 ff. 5 Siehe zum Folgenden weiterführend: (Ben Ze’ev 2009). 6 Vg. hierzu, insgesamt: (Bennent-Vahle 2013).

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Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

natürlich unablässig ineinanderfließen: 1. Emotionen haben einen Weltbezug, sind intentional, d. h., in ihnen vollzieht sich immer ein auf konkrete Gegebenheiten gerichtetes Welterkennen. 2. Emotionen sind zudem durch eine bewertende, evaluative Komponente gekennzeichnet, wobei diese – positive oder negative – Bewertung spontan und reflexartig auf der Basis subjektiver Erwartungen und Wünsche erfolgt. 3. Diesen je nach Emotion unterschiedlichen Spontanurteilen korrespondieren zumeist starke leibliche Empfindungen, im Falle des Zorns z. B. ein Brennen, vermehrte Durchblutung, Unruhe, Zittern etc. 4. Schließlich kommt Emotionen motivierende Kraft zu; d. h., sie fungieren als Impulsgeber. In der Regel drängen sie uns dazu, reagierend, sprechend oder handelnd zu intervenieren, eine Veränderung in Angriff zu nehmen oder uns wenigstens doch Ausdruck zu verschaffen. Erleben wir eine Erfahrung als emotional, dann durchmischen sich normalerweise all diese Komponenten, beeinflussen und verstärken sich wechselseitig. Wie schon gesagt wurde, spiegeln emotionale Reaktionsweisen stets einen Weltbezug, der mich als persönlich stark angesprochen, involviert, ja betroffen zeigt. Ich beobachte etwas nicht von einer neutralen Warte aus oder rekapituliere ein Geschehen unbeteiligt, sondern ich fühle mich davon in markanter Weise angegangen. Dabei weiß ich um die Umstände, um die äußeren Veränderungen, die für die inneren Veränderungen in meinem Fühlen und an meinem Körper verantwortlich sind. Im Falle des Zorns gerate ich in heftige Erregung darüber, dass ein Ereignis oder fremdes Agieren, auf das ich ganz bewusst bezogen bin, mit meinen Ansprüchen, Erwartungen oder Vorannahmen kollidiert. 7 Die damit einhergehende Bezüglich der Intensität einer Emotion spielen viele weitere Variablen eine Rolle, wie z. B. die Relevanz, die ein Ereignis für mich hat, ebenso die jeweiligen Hintergrundumstände, z. B. meine Verantwortlichkeit dafür, mithin auch die Frage, inwieweit ich das Ereignis mitverursacht oder sogar verschuldet habe. – Siehe: (Ben Ze’ev 2009, S. 88 ff.).

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Angemessenheitsprüfung – vier Schritte

physische Symptomatik empfinde ich im Normalfall als höchst unangenehm und suche sie deshalb irgendwie abzustellen. Wie schon mehrfach angesprochen sind Emotionen intensiv brodelnd und parteilich. Sie offenbaren unvermittelt meine perspektivische Sicht und Einschätzung der Dinge. Im Zorn bin ich – stark negativ wertend – primär auf die Handlung einer oder mehrerer anderer Personen gerichtet, während sich Groll und Hass destruktiv auf einen anderen Menschen als ganzen (oder auch eine gesamte Gruppe von Menschen) beziehen. In der Scham trete ich in Dissonanz zu etwas an mir selbst, mit dem ich mich aus je unterschiedlichen Gründen nicht identifizieren kann. Mein Aussehen, mein ungeschicktes Verhalten oder meine verwerfliche Verhaltensweise führen zu quälenden Empfindungen der Abwertung meiner selbst, begleitet von vehementen leiblichen Empfindungen, die in manchem denen der Zornerfahrung gleichen. 8 Durch intensiviertes (am besten gemeinsames) Nachdenken – insbesondere über die intentionalen und evaluativen Komponenten verschiedener menschlicher Emotionen – lässt sich eine Art Grundgerüst entwickeln, mit dessen Hilfe eigene emotionale Erfahrungen transparenter und verständlicher werden. Dies ist ein wichtiges Übungsfeld, dessen Erträge hier nur angedeutet werden können. Obschon es also einige Variabeln in den Gleichungen der Emotion gibt, folgen sie einer durchaus verallgemeinerbaren Struktur, eben jener besonderen Prozesslogik, die Ben Ze’evs Studie noch wesentlich genauer entfaltet. Grundsätzlich gilt: Das Anspringen einer Emotion signalisiert dem subjektiven Erleben, dass sich in der Welt irgendetwas Unerwartetes, Besonderes, Beachtenswertes ereignet (hat). 9 Ist ein Mensch Zur Scham siehe u. a.: (Bennent-Vahle 2013, IV/2) // (Köhler 2017). Nicht unerwähnt bleiben sollte hier, dass auch imaginierte oder fingierte Veränderungen die menschliche Emotionalität in Gang zu setzen vermögen. So vermag z. B. bloß phantasierte Untreue des Partners hef-

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Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

ausgesprochen sensibel oder penibel bzw. hat er eine Gegebenheit – sei es ein besonderer Vorfall oder auch eine ungewöhnliche Naturszenerie – noch niemals erfahren oder wahrgenommen, so wird er natürlich stärker reagieren als eine andere Person, die so schnell nichts mehr aus der Fassung bringt, weil sie schon hundert Länder bereist und unzählige Dinge erlebt hat. Für letztere müsste man dann schon schärfere Geschütze auffahren, um sie erneut in Fahrt zu bringen. Dies gilt nicht minder für denjenigen, der es beizeiten gelernt hat, sich hinter coolem Selbstschutz zu verschanzen. Emotion und Veränderung hängen also unmittelbar zusammen. Lebten wir unter permanent gleichförmigen Umständen, könnte uns nichts mehr aus dem Häuschen bringen und unsere Emotionalität würde vermutlich erheblich abflachen. Umgekehrt kann man im Blick auf diesen Zusammenhang sehr gut nachvollziehen, dass Menschen ein Risiko eingehen, wenn sie im Zuge moderner Mobilitätsanforderungen ununterbrochen auf Achse sind und sich permanent auf Neues einstellen müssen. Sie erleben durch rasanten Wechsel zwar möglicherweise jede Menge Kicks und Höhenflüge, sind aber zugleich von Reizüberflutung und Überforderung bedroht, da die Verarbeitungskapazität der Seele nicht grenzenlos ist. Obschon auch dies sicherlich stark vom Sensibilitätsgrad der jeweiligen Persönlichkeit abhängt, überschätzen viele sich schnell im Bemessen ihrer Fähigkeit, das Exzeptionelle zu verkraften. Oftmals vermag der rastlos Getriebene sich schon bald kaum noch der kleinen Begebenheiten des Lebens zu erfreuen – sei es das Rotwerden einer Frucht über Nacht zu bewundern, sei es die unspektakuläre Freundlichkeit einer Alltagsbegegnung auszukosten.

tige Eifersuchtsreaktionen auszulösen. Nicht zuletzt deswegen sieht die nächste Stufe der Angemessenheitsprüfung eine Tatsachenprüfung vor.

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Angemessenheitsprüfung – vier Schritte

Erläuterung zu (b) Emotionen werden als passivische Zustände erlebt, insofern sie uns – hervorgerufen durch irgendetwas in der Welt – unwillkürlich und unkontrolliert anspringen. Wer emotional wird, hat – zumindest vorübergehend – nicht mehr alles fest im Griff. Das lassen sich die meisten so lange gerne gefallen, wie ein emotionaler Zustand mit ihrem Selbstbild vereinbar ist. Wer sich indes dem Selbstideal grenzenloser Mündigkeit, sachlicher Überlegtheit oder auch cooler Überlegenheit verschreibt, wird sich schwer darin tun, die eigenen emotionalen Antriebe aufrecht und demütig zugleich in den Blick zu nehmen. Meiner Beobachtung nach entgeht gerade den Apologeten neutral-sachlicher Distanziertheit nur allzu oft, wie stark ›problematische‹ Emotionen in ihnen wirksam werden. Viele erkennen weder, wenn Rivalität, Hochmut oder Eitelkeit das eigene Innenleben usurpiert haben, noch wenn sie in ihren vermeintlich nüchternen Argumentationen von Vorurteilen, Einseitigkeiten, ungeprüften Annahmen und Parteilichkeiten durchdrungen sind. Zum Beispiel passiert es oft, dass jemand im Blick auf eine weniger geschätzte Person sachliche Einwände ins Feld führt, die er problemlos unter den Tisch fallen ließe, wenn es um einen seiner Günstlinge (oder auch nur einen Vertreter der eigenen Denkschule) ginge. 10 Der unablässige Verweis auf die eigene rationale Neutralität und Mündigkeit droht also leicht zum kommoden Werkzeug des Selbstbetruges zu werden. Generell fällt es schwer, vor allem solche emotionalen Regungen einzugestehen, die uns als abhängig, bedürftig oder gar übelwollend kennzeichnen. Das betrifft insbesondere die Emotionen, welche derzeit nicht ›angesagt‹ sind, seien es Eifersucht, Neid, Gier oder Hass. Ja, man muss hinzufügen: Wie dargelegt können nicht nur antisoziale Regungen, sondern auch bestimmte Formen des Mitfühlens bzw. der ›liebenden‹ Zugewandtheit Realitäten verzerren und damit die angemessene Beurteilung einer Gesamtsituation erheblich behindern.

10

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Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

Gerade Menschen, die sich dem Guten verschrieben haben, verleugnen nur allzu gerne ihre antisozialen Impulse. Hierin liegt die Gefahr unangemessener Selbstbilder, deren Aufrechterhaltung auf Dauer erschöpft und die Persönlichkeit ›korrumpiert‹. So ist der Neid in unserer von Leistungs- und Prestigedenken beherrschten Gesellschaft extrem weit verbreitet, bleibt aber über weite Strecken eine uneingestandene, ja verleugnete Emotion. 11 Rivalität und Sichmessen werden zwar unablässig zur Stimulation ökonomischer Wachstumsprozesse angekurbelt, die damit verbundenen destruktiven Antriebe jedoch werden zugleich mit attraktiven Kategorien wie innovative Kreativität, erfinderische Selbstverwirklichung oder produktive Erfolgsorientierung verbrämt. Werden Emotionen wie Neid, Gier oder auch Wut verleugnet, sind sie deshalb nicht weniger wirksam, im Gegenteil, ihr Einfluss kann gerade dann ein zerstörerisches Werk tun. Es bleibt kaum noch eine Chance, sich zu derartigen zutiefst menschlichen Impulsen in ein Verhältnis zu setzen. Das Bemühen um einen unverstellten Blick auf problematische Regungen auch bei mir selbst (nicht zuletzt als Teil der modernen westlichen Lebenswelt) ist ein schmerzlicher, wenngleich unumgänglicher Schritt im Interesse einer Abmilderung und Bewältigung von Zwist und Feindseligkeit. In diesen Überprüfungszusammenhang gehört auch die Notwendigkeit, in grundlegender Weise über kulturell anerkannte Normen und Zeitgeistimperative nachzudenken bzw. diese möglicherweise im Kulturvergleich abzuwägen und zu relativieren.

B. Realitätscheck Danach gilt es zu überprüfen, ob das Geschehen oder Ereignis, auf das sich meine Emotion bezieht, einen realen Gehalt 11

Zum Thema Neid, siehe: (Decher 2005).

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Angemessenheitsprüfung – vier Schritte

besitzt bzw. eine adäquate Interpretation erfährt. – Habe ich es tatsächlich mit einem Aggressor zu tun oder unterstelle ich dem anderen feindliche Absichten? Liegt dort tatsächlich eine giftige Schlange auf dem Weg oder vielleicht nur ein gewundener Stock? Geht von dem herumschwirrenden Insekt wirklich eine Gefährdung aus? Ist meine Angst also berechtigt? Hat meine verärgerte Kollegin die Tür tatsächlich mit Absicht laut ins Schloss geworfen oder gab es womöglich einen Windstoß? Erläuterung: Auch dies ist keine leichte Aufgabe, denn in der Regel neigen wir dazu, am Gängelband unserer mitgebrachten Stimmungen, eingefleischten Vorurteile und Denkroutinen vorfindliche Tatsachen einzufärben oder zu verdrehen. Das heißt: wir machen aus einem harmlosen Vorgang eine Staatsaffäre, weil wir gegen eine Person voreingenommen sind; oder wir bagatellisieren umgekehrt die niederträchtige Handlung eines Sympathieträgers. Hochgradig aufgebracht durch bestimmte Verhaltensweisen anderer, unterstellen wir ihnen böse Absichten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, erst einmal das Gespräch zu suchen und vorsichtig nachzufragen. Nicht selten kommt es vor, dass jemand generell mit den Lebensregungen anderer hadert, weil er in schlechter Tagesform ist oder – weitaus gravierender – weil er das Erregungslevel des eigenen emotionalen Naturells nicht mit in Rechnung stellt und quasi notorisch danach giert, Anstoß an anderen zu nehmen. Solchermaßen gefangen in sich selbst, kann er keine faire Einschätzung der Tatsachen mehr vornehmen. Wenngleich er in seiner Angeschlagenheit sehr auf die Nachsicht seiner Mitmenschen angewiesen ist, hält er selbstherrlich und vermessen an verzerrten Realitätsbildern fest. Das macht ihn zu einem schwer erträglichen Zeitgenossen, denn er sieht im wahrsten Sinne des Wortes Gespenster. Was die äußeren Tatsachen angeht, verankert sich sein emotionaler Aufruhr gewissermaßen im Nichts. Das ist auch dann der Fall, wenn er Tatsachenbehauptun313 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

gen anderer ungeprüft übernimmt, wenn er etwa zum willigen Instrument in den Händen derjenigen wird, die ihn durch leere Versprechen, Halbwahrheiten und Lügen vor den Karren ihrer persönlichen oder politischen Interessen zu spannen suchen. Es ist zweifelsohne anstrengend, wachsam in der Welt zu stehen. Gewiss ist jedoch: Ärger, Zorn, worüber auch immer, entbehren jeder Berechtigung, wenn sie sich auf Fakten richten, die sich bei näherer Betrachtung als Fata Morgana oder Lügengespinste entpuppen. Hieraus erwächst ungemein viel Leid. Auch jenseits einer fraglichen Identitätspolitik wird unser alltägliches Miteinander heute in ungeheurem Ausmaß durch die menschliche Bereitschaft vergiftet, Ammenmärchen zu glauben und darauf gestützt andere als Sündenböcke abzustempeln.

C. Werteüberprüfung Sind wir hinsichtlich der Tatsachen zu etwas mehr Klarheit gelangt, so wäre in einem dritten Schritt zu hinterfragen, ob unsere jeweilige Emotion – nehmen wir noch einmal den Zorn – nicht möglicherweise eine Erwartung enthält, welche einer kritischen Beurteilung schwerlich standhalten kann. Zu fragen wäre demnach: Verdient das Verhalten eines anderen tatsächlich Zorn, offenbart es nicht eher ein lässliches Vergehen bzw. erweist es sich aus der Nähe betrachtet nicht sogar als sehr gut nachvollziehbar und akzeptabel? Bin ich tatsächlich berechtigt, mich dadurch in meiner Sphäre angegriffen zu fühlen? Oder erhebe ich möglicherweise selbst übertriebene, ja unhaltbare oder unerfüllbare Ansprüche? Erläuterung: Wie bei allen bisher genannten Schritten ist es auch auf der Ebene normativer Beurteilung (zuvor überprüfter, erwiesener Tatbestände) unumgänglich, die eigene Persönlichkeit mit zu bedenken. Wie schon angerissen, sind uns Wert- und Normvorstellungen im Laufe unserer Lebensgeschichte gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen. 314 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Angemessenheitsprüfung – vier Schritte

Wie eine Person z. B. über die Rollen von Männern und Frauen denkt, welchen Erziehungsmaximen sie anhängt oder welches Ausmaß individueller Entfaltungsfreiheit sie anderen zubilligt, hat viel mit den besonderen kulturellen und persönlichen Umständen ihres Lebens zu tun. Übertriebene Kränkbarkeit als Ergebnis früher Leiderfahrungen mündet nahezu unweigerlich in hohe Frustrationsbereitschaft. Verletzungen durch Überstrenge oder auch durch emotionale Überbeanspruchung seitens der Bezugspersonen bewirken nicht selten eine Verengung des mentalen Horizontes. So kann es z. B. zu sozialer Rücksichtslosigkeit oder auch – im Gegenteil – zur Überidentifikation mit rigiden Verhaltensnormen kommen: Jemand wähnt sich legitimiert, die vitalen Aktivitäten anderer auch dort einzudämmen, wo weder im rechtlichen noch im moralischen Sinne von einer ernsthaften Beeinträchtigung der eigenen Lebenssphäre die Rede sein kann. Nachbarschaftsstreitigkeiten über die Positionierung von Blumenkübeln oder über die Zulässigkeit feuchtfröhlicher Feste etwa bieten hierfür hinreichend Anschauungsbeispiele. Doch nicht nur engstirnige Spießer, auch die vermeintlich Toleranten behelligen – jenseits des Justitiablen – unablässig ihre Mitmenschen mit ungeprüften Sollvorschriften, wie das Leben zu leben sei. Deshalb ist es durchaus wichtig und sinnvoll, die eine oder andere fraglos erscheinende Norm, die zum Auslöser heftiger Emotionen wurde/wird, nochmals einer redlichen Prüfung zu unterziehen. Dringend wird dies vor allem dann, wenn wir mit Menschen aus anderen Lebenskontexten oder Kulturkreisen zu tun haben. Hier kommt es insbesondere darauf an, die eigene Weltsicht einklammern zu können, ohne damit sogleich alle anerkannten Wertvorstellungen über Bord zu werfen. Denn, wie viele Theoretikerinnen darlegen, gelingen kooperative Verhältnisse zwischen sehr verschiedenen Menschen nicht etwa deshalb, weil einer den anderen von der Richtigkeit seiner (moralischen) Auffassungen überzeugt hätte, sondern weil im kommunikativen Prozess Nachsichtigkeit und Selbstzurücknahme wirken. Oftmals zeigen 315 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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sich im Klima kommunikativer Geduld hinter den vordergründigen Unterschieden merklich mehr Gemeinsamkeiten als gedacht. Ein Blick auf die letzten zweihundert Jahre Rechtsgeschichte westlicher Länder mag zudem nachsichtig stimmen, denn wir müssen erkennen, wie viele Revisionen das hochfliegende Ideal sozialer Fairness auch hier im Laufe der Zeit durchlaufen musste und immer noch muss, um einigermaßen glaubwürdig zu erscheinen. Hierzu ließe sich noch vieles sagen.

D. Was tun mit einer berechtigten Emotion? Sollte ich nach eingehender Erwägung der Punkte 1 bis 3 zu dem Schluss gelangen, dass mein Zorn, meine Angst etc. durchaus angebracht/legitim ist, so wäre im Anschluss sehr genau zu bedenken, ob und wie ich im jeweiligen Einzelfall dieser Emotion Ausdruck verleihe. Besonnenheit im Handeln ist nun das Gebot der Stunde. Hier ergibt sich eine ganze Palette von Fragestellungen, wobei es wiederum darauf ankommt, sich das eigene Selbstbild und Selbstverhältnis in Erinnerung zu rufen. Im Dienste von Verbesserung kommt es darauf an, auch angemessene Emotionen richtig zu kanalisieren. Im Falle des Zorns erscheint mir zentral, diese Emotion primär als Hinweis auf mögliches Unrecht zu verstehen. Sollte die Prüfung dann eine Berechtigung des Zorns ergeben, so empfiehlt es sich trotzdem nicht, diesem Impuls freie Bahn zu gewähren. Hier ist Gefahr im Verzug. Packt uns diese Emotion mit voller Wucht, so wird ein Verlangen nach tatkräftiger Heimzahlung quasi automatisch mitgeliefert. Deshalb ist es in jedem Fall ratsam, auf ein Abflauen dieser Emotion hinzuwirken, sich also abzuwenden und abzuwarten: mindestens einmal darüber zu schlafen, ist neben vielem anderen schon seit Seneca ein wertvoller Hinweis. 12 12

(Seneca 2007).

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Angemessenheitsprüfung – vier Schritte

Erläuterung: Klar ist, dass die Art und Qualität einer Beziehung ausschlaggebend dafür ist, wie viel unmittelbaren Emotionsausdruck ich meinem Gegenüber zumuten kann bzw. darf. Einem Kind oder einer labileren Person, die nur über ein geringes Potential der Abgrenzung und Gegenwehr verfügt, sollte nicht zu viel emotionaler Überschwang aufgebürdet werden. In jedem Fall kommt es hier auf die Bereitschaft an, zwischen der Person des anderen und seiner möglicherweise verwerflichen Tat zu unterscheiden. Wichtig für jedes Vorankommen ist es, deutlich zu signalisieren, dass man die Tat und nicht die Gesamtperson des Täters verurteilt. Wer schäumend und wutentbrannt loslegt, wird diesen Unterschied schwerlich markieren können. Zur Mäßigung des Zorns, aber auch im bewussten Umgang mit Neid, Eifersucht oder Angst ist grundsätzlich bedeutsam, wie wir uns selbst im Verhältnis zu anderen Menschen betrachten. Eine entscheidende schon von Seneca gestellte Frage lautet hier: Halten wir uns für überlegen und vorbildlich oder agieren wir aus dem Wissen heraus, dass wir unter Umständen dieselben Fehltritte oder Übergriffe begehen würden (begangen haben) wie andere? Hier noch einmal folgender Hinweis: Unzählige psychologische Experimente zeigen, dass in ganz durchschnittlichen Menschen mit Leichtigkeit jene Emotionen mobilisiert werden können, die Voreingenommenheit, Parteilichkeit und Feindseligkeit nach sich ziehen. Selbst die Anfälligkeit ganz normaler Bürger für Brutalisierung und ideologische Verführung ist mehrfach belegt. Wer allzu schnell bestimmte Tätergruppen verteufelt, sollte sich diese Experimente einmal ansehen. 13

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Siehe Teil I, Fußnote 53.

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3. Fazit Stellt man alles dies in Rechnung, so wird man von seinem grandiosen Selbstbild Abstand nehmen müssen, jedoch – wie zu hoffen ist – ohne im Gegenzug allzu kleinmütig zu werden. Begreiflich werden sollte, dass zur Eindämmung Leid verursachender Faktoren (bei sich selbst und anderen) neben dem Erkennen und Anerkennen der jeweiligen emotionalen Regung vor allem zwei Dinge von Belang sind: zum einen die Bereitschaft, die übermäßige Ichzentrierung des emotionalen Modus zu überwinden, und zum anderen – damit eng verkoppelt – eine Kultivierung des Mitgefühls anzustrengen, wie sie weiter oben differenziert erläutert wurde. Weil gegenwärtig die prinzipielle Angewiesenheit aller Menschen aufeinander durch wachsende Interdependenzen immer offensichtlicher wird, empfiehlt es sich mehr denn je, von ungeprüften reaktiven Reflexen sowie von kurzfristigen Strategien brachialer Problembewältigung Abstand zu nehmen. Auch das heute vielfach eingesetzte Anti-Gewalt-Training findet seinen Auftakt darin, einzelnen Betroffenen zunächst eine Grundeinsicht zu vermitteln, nämlich die Einsicht, dass sie selbst es sind, die Verantwortung tragen. Subjektiv mag der Eindruck dominieren, als Handlanger eines gerechten und berechtigten Zorns zu agieren, doch tatsächlich gilt noch immer, was Seneca vor über zweitausend Jahren schrieb: »Wut kann durch Unterweisung vertrieben werden. Sie ist nämlich eine willentliche Störung der Seele und nichts von dem, was gewissermaßen zu den Daseinsbedingungen der Menschen gehört und daher selbst dem Weisesten widerfährt, wozu auch jener erste Impuls der Seele zu rechnen ist, der uns nach der Meinung über das Unrecht in Bewegung setzt.« 14 Allerdings wissen wir heute genauer als der antike Denker, dass gerade antisoziale emotionale Dispositionen – im Zuge früher Interaktionen – tief und nachhaltig in die 14

(Seneca 2007, S. 75).

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Fazit

menschliche Seele eingraviert werden. Folglich braucht es mehr als nur Vernunfteinsicht, um Veränderungen in Gang zu setzen, z. B. eine Reaktivierung des Mitfühlens durch bestimmte Übungsformate kontemplativer Versenkung. Weiter oben wurde die maßgebliche Relevanz einer mitfühlenden Haltung für zwischenmenschliches Gelingen ausführlich erläutert und argumentativ untermauert. Es wurde dargelegt, welche Sicht- und Herangehensweisen dazugehören, wenn ein unverzerrtes Mitgefühl befördert werden soll. Ebenso wurde präzisiert, wie diese ›geistige‹ Haltung gegenüber Mitleid und anderen problematischen Formen der Empathie abzugrenzen ist. Gezeigt wurde, dass unverfälschtes Mitgefühl keine reine Emotion ist, eher eine emotional initiierte Haltung, die jenseits emotionaler Leidansteckung erst durch differenzorientiertes Nachdenken zur vollen Ausbildung gelangt. In Wertkonflikten veranlasst diese Haltung dazu, vernunftgemäß, d. h. im Sinne kooperativer Lösungsbemühungen zu agieren. Der übergeordnete Anspruch der Vernunft nimmt hier – im Wissen um unsere in konkreten Fragen letztlich nie ganz auflösbare subjektive Begrenztheit – die Gestalt beharrlicher Aufrechterhaltung des Dialogs an (vor allem in schwierigen Situationen). Sie gleicht damit der Zuversicht in immer mögliche Verständigung. Ein Mitfühlen dieser Art zu postulieren, mag vielen als ein extrem hoher, unrealistischer Anspruch erscheinen. Doch lässt sich m. E. zu Recht behaupten, dass diese Haltung der komplexen Wahrheit unserer menschlichen Existenz in wechselseitiger Interdependenz weitaus mehr gerecht wird als Selbstzentriertheit, Skrupellosigkeit und Egoismus. 15 Vornehmlich indem wir uns selbst mit mehr Ehrlichkeit betrachten, steigern wir unsere sozialen Kompetenzen. Wir gestehen uns und anderen zu, dass wir nicht zuletzt aufgrund unserer emotionalen Empfänglichkeit irrtumsanfällige und verletzliche Wesen sind. Vor allem machen wir uns keine fal15

Siehe hierzu auch: (Ricard 2016, Teil II).

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schen Vorstellungen hinsichtlich unserer geistigen Souveränität und moralischen Verlässlichkeit. Beides sind Aufgaben, keine Tatsachen. Eingedenk all dieser Gegebenheiten bemühen wir uns – mit Kierkegaard gesprochen – darum, »zugleich derart streng zu sein, wie die Wahrheit es heischt, und dennoch derart mild, wie die Liebe es wünscht, um den zu gewinnen, gegen welchen man die Strenge braucht.« 16 Im Blick auf unsere alltäglichen Querelen ergibt sich auf diese Weise mehr Leichtigkeit jenseits verbissener Konsequenz, mehr Takt und Milde sowie die Bereitschaft, mitunter auch da zu verzeihen, wo man nicht mehr verstehen kann. 17

4. Philosophisch-wissenschaftliche Einbettung Die umrissene Angemessenheitsprüfung kann kaum mehr sein als ein Leitfaden zur Kultivierung des Selbst. Im Wesentlichen geht es hier um ein unablässiges Streben nach Besonnenheit als Kernelement gelingender Lebenspraxis. Schon bei Aristoteles ist Besonnenheit wie dargelegt Bestandteil eines umfassenden Klugheitskonzeptes, das darauf zielt, dem Einzelnen zu genauer Kenntnis seiner selbst zu verhelfen, so dass er sich darin üben kann, sein Verhalten dem Einfluss unkontrollierter Erregungen zu entziehen. Kluge Selbstbesinnung steht hier im Dienst einer Ausrichtung des individuellen Lebens auf Gemeinschaft und zwischenmenschliche Ausgewogenheit. Im Unterschied zu vielen späteren Klugheitskonzepten geht es nicht um wohlüberlegte Schachzüge, welche die Durchsetzung vorabfixierter Erfolgsziele garantieren. Der ausgewogene Umgang mit emotionalen Impulsen soll vielmehr einer nachhaltigen Charakterbildung dienen, deren Dreh- und Angelpunkt zwischenmenschliche Verstän(Kierkegaard 1983, S. 372). Siehe hierzu: (Kodalle 2010). // Weiterführend zum Verzeihen, siehe auch: (Kodalle 2013) // (Bennent-Vahle 2013, Kap. V).

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digung bzw. der Aufbau guter Gemeinschaften ist. Indem jemand vielfältige Situationen mit je spezifischen Koordinaten bewusst durchlebt, durchdenkt und gestaltet, konfiguriert sich im Zuge besonnener Mäßigung allmählich ein urteilsfähiger und tugendreicher Charakter – wobei es für diesen Selbstbildungsprozess letztlich keinen Endpunkt der Vollkommenheit geben kann. Eine besonnene und kluge Lebensführung erweist sich hingegen darin, alle fest gezurrten Vorstellungen des Guten hinter sich zu lassen und von Mal zu Mal neu auszuloten, was unter den jeweiligen Umständen ratsam und redlich ist. Tragend ist hier die Annahme, dass der menschlichen Natur eine prinzipielle Zugewandtheit zu eigen ist, welche zunächst vielleicht nur als unklarer altruistischer Impuls oder als aufkeimender Wunsch nach zwischenmenschlichem Ausgleich spürbar wird. Wie wir gesehen haben, wird neuerdings die Jahrtausende alte Norm einer grundlegenden Gemeinschaftsorientierung des Menschen nachdrücklich durch die Erfahrungswissenschaften bestätigt. Ein wachsendes Feld empirischer Forschungen führt uns folgenden Tatbestand vor Augen: Schon ›von Natur aus‹ sind Menschen keineswegs lustgesteuerte Egoisten oder rational-eigennützige Profitmaximierer – so das gängige Bild des Homo oeconomicus. Studien der Verhaltensökonomie machen augenfällig, dass spontane altruistische Antriebe, die bei zahllosen Menschen nachweisbar sind, erst durch den ungebremsten Eigennutz einiger weniger Personen ausgehebelt und schließlich ruiniert werden. 18 Umgekehrt ist festzustellen, dass sich Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft erheblich steigern, wenn pro-soziale Verhaltensweisen anderer miterlebt werden. Derartige Erhebungen des Status quo unterstützen die Annahme, dass die genetisch bereitgestellten sozialen Anla(Fehr 2015a, S. 91–99) // (Ders. 2015b, S. 143–153) // (Bloom 2013, S. 108 ff.). // Zur Moral als biologische Notwendigkeit, siehe auch: (Dehner 1998).

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gen des Menschen keine Automatismen sind, sondern durch unterstützende Interaktionen in Gang gesetzt und ausgeformt werden müssen. Sofern Ichinteressen (z. B. des heranwachsenden Kindes) tangiert, beeinträchtigt oder womöglich bedroht werden, gewinnen gegenläufige Impulse rasant schnell Oberwasser, was – wie dargelegt – nicht selten eine dauerhaft abweisende oder feindselige Einstellung gegen andere nach sich ziehen kann. Deshalb bedarf es, damit sich die pro-sozialen und vernunftmäßigen Potentiale gut entfalten können, bestimmter Voraussetzungen und institutioneller Rahmenbedingungen, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen mit Bedacht aufzubauen sind. Wie erläutert fällt dabei dem pädagogischen und schulischen Bereich enorme Bedeutung zu. Hier zählt, was Kinder an Zugewandtheit erleben und an Kooperativität ausprobieren können. Alles ist letztlich eine Frage des sozialen Klimas sowie gezielter institutioneller Erneuerung, flankiert von vielfältigen Arenen individueller Weiterentwicklung, nicht zuletzt als Aufgabenfeld Philosophischer Praxis. Dabei können insbesondere solche Bildungsmodelle Pate stehen, die wie das aristotelische Klugheitskonzept ein graduelles Verständnis der menschlichen Vernunftfähigkeit vertreten. Denn mehr denn je wird heute augenfällig, dass sich erst unter bestimmten biografischen Voraussetzungen bzw. durch regelmäßige praktische Einübung nach und nach jene Charakterhaltungen herausbilden können, die schließlich zu eigenständigen moralischen Urteilen und Handlungen befähigen. Es liegt in der Natur eines solchen Entwicklungsgedankens, dass es – solange man unterwegs ist – immer wieder auch zu Fehleinschätzungen, Irrtümern und Rückschlägen kommen wird. Gerade ein Mangel an besonnener Zurückhaltung wird oft erst im Nachhinein augenfällig. Starre Normvorgaben und entsprechende Moralpredigten verhindern aber gerade das Eingestehen derartiger ›Fehltritte‹, ein Akt, der für vertiefte Persönlichkeitsbildung durch Selbsteinsicht jedoch unerlässlich ist. Wir haben gesehen: 322 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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Nur wem konzediert wird, ohne Gesichtsverlust gelegentlich danebenzugreifen, wird in der Lage sein, eigenständige moralische Kompetenz ohne krampfhafte Züge herauszubilden. Idealerweise bewegt sich ein solcher auf jenes von Schiller entfaltete Idealbild der »schönen Seele« zu, welche schließlich »dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen«. 19 Noch einmal anders gesagt: Allein aus Erfahrung gewinnen wir die Kompetenz zu kluger Selbststeuerung. Wirkliche Erfahrungen kann indes nur diejenige machen, die bereit ist, sich etwas sagen zu lassen, eigene Unzulänglichkeiten einzuräumen und diese angemessen und selbstkritisch in Rechnung zu stellen. Der habituellen Ausrichtung des eigenen Handelns auf Besonnenheit muss unbedingt ein Hang zum Guten vorangehen – zu verstehen als ein Wille, der eigene Freiheiten nicht auf Kosten der Freiheit anderer ausagiert. Was dieses Gute jedoch im Konkreten ausmacht, kann in der Regel weder vorab gedanklich in Besitz genommen noch situationenübergreifend festgelegt werden. Vielmehr kommt es auf eine Form praktischer Urteilskraft an, die im Dienste gemeinsam zu bestimmender und umzusetzender Zwecke zugleich eine realistische Einschätzung individueller Grenzen und Möglichkeiten vornimmt – die eigene Person niemals ausgenommen. Es liegt m. E. auf der Hand, dass die hierzu notwendige kommunikative Aufgeschlossenheit derzeit noch längst keine Selbstverständlichkeit ist. Dem stehen entgegen: zu hochtrabende Vorstellungen der Machbarkeit und rationalen Selbststeuerung, verknüpft mit dem heute allgegenwärtigen Streben nach individuellem Prestige, nicht minder aber altbackene Formen moralischer Überbeanspruchung. Ein ausschließlich pflichtorientierter moralischer Akteur, der emotionale Faktoren aus der Ethik heraushalten will, neigt schnell dazu, Schwäche und Verwundbarkeit als be19

(Schiller 1962, S. 468).

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drohlich anzusehen und mit rigiden Mitteln abzuwehren. Damit wird letztlich die Chance verbaut, die Welt und sich selbst mit offenen Augen zu sehen. In der Absicht, den Willen einzig und allein an strengen Prinzipien zu orientieren, weist er alle sinnlich-empirischen Einflussfaktoren von sich und vermeint gleichsam in einem imaginierten Jenseits solcher Bestimmungen agieren zu können – mit einem dreifach negativen Effekt: 1. Tatsächliche emotionale Triebfedern werden im Zeichen dieses ehrgeizigen Selbstbildes abgespalten und unterdrückt, wirken aber oftmals umso ungehinderter. 2. Wohlwollende Gefühle und altruistische Impulse erfahren moralische Abwertung, da sie ein gutes Handeln »bloß aus eigener Lust« darstellen, mithin eine Moralität, die »unserem Standpunkte, unter vernünftigen Wesen, als Menschen unangemessen ist«. 20 Darüber kommt es 3. insgesamt zu einer rabiaten Abkoppelung einer moralischen Lebensausrichtung von allen persönlichen Glücksinteressen. Letzten Endes gilt für Vertreter dieses Moraltypus: Wer moralisch handeln will, darf sich um sein Glück nicht scheren, ja ein solcher hat zumeist seinen hedonistischen Neigungen sowie seinen persönlichen Sympathien und Vorlieben eine Absage zu erteilen. Ein moralisches Leben bedeutet vor allem Zwang und Verzicht. Dagegen steht der schöne antike Gedanke, dass der Einzelne sein persönliches Glücksoptimum genau dann erreicht, wenn er objektiv gültigen Richtmaßen nachstrebt. So sehr uns diese objektiven, allgemeingültigen Maßstäbe heute auch fehlen mögen, so wichtig ist es dennoch, den auf die eigenen Füße gestellten modernen Menschen aus einem Dualismus zu befreien, der Moral und Glück auf schädliche Weise auseinanderdividiert hat. Der radikale Antagonismus von Sinnlichkeit und Vernunft, von privatem Glück und Glück der Siehe: (Kant 1996, S. 204). – Allerdings spricht Kant, wie schon gezeigt wurde, durchaus von einer bedingten Mitleidpflicht der »tätigen Teilnehmung« am Schicksal anderer. Siehe Teil IV, Fußnote 119.

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Mehrheit, von selbstlosen und selbstbezogenen Handlungen geht, wie sich gegenwärtig mehr und mehr erkennen lässt, an der menschlichen Lebensrealität vorbei. Nicht allein, dass wir immer wieder frappierende Bespiele nahezu anstrengungsloser menschlicher Seelengröße dokumentiert finden, 21 auch gezielte psychologische Untersuchungen machen Folgendes augenfällig: Den meisten Menschen liegt das Wohl ihrer Mitmenschen am Herzen. Etwas für andere zu tun, führt, so wurde inzwischen hinreichend nachgewiesen, sogar mehr zur Aktivierung der Glückszentren im menschlichen Gehirn wie materieller Gewinn. 22 »Das menschliche Motivationsrepertoire beschränkt sich keineswegs auf Egoismus und Eigeninteresse«, 23 bilanziert der Psychologe Dan Batson. Ähnliches formuliert der Verhaltensökonom Ernst Fehr: »Die alte Auffassung, der Mensch sei eigennützig und kümmere sich nicht um die anderen, ist falsch.« 24 Dieser Wandel im Menschenbild hat mittlerweile auch den unternehmerischen Sektor erfasst, wobei auch hier der weiter oben in Anlehnung an Aristoteles herausgestellte Entwicklungsgedanke akzentuiert wird. Beispielsweise betont der Harvard-Professor für Managementpraxis William George die Notwendigkeit kontinuierlicher Übungen zum Zwecke der Ausbildung mitfühlender Führungsqualitäten. 25 Man könne sich bei Entscheidungsträgern weder auf angeborene Charaktermerkmale verlassen, noch ließe sich ein neues Verhaltensrepertoire quasi von außen antrainieren. Vielmehr gelte es Prozesse anzuregen, durch die ein neues wertbezogenes Selbstgewahrsein erfahren und gefestigt werden könne. Initiiert durch empirische Untersuchungen, die nicht nur die persönlichen, sondern auch die ökonomischen Nachteile 21 22 23 24 25

Siehe hierzu u. a.: (Ricard 2016, Teil II) // (Terestchenko 2012, Teil II). Siehe u. a.: (Singer 2015) // (Davidson 2015). (Batson 2015, S. 35). (Fehr, 2015b, S. 143). Siehe hierzu insgesamt: (George 2015).

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einer rücksichtslosen Verfolgung des Eigeninteresses augenfällig machen, häufen sich allmählich auch im wirtschaftlichen Bereich die Anzeichen eines veränderten Bewusstseins, wobei sich bereits einige konkrete Erfolgsgeschichten vorweisen lassen. 26 Natürlich spielen hinsichtlich dieses Wandels auch andere Einflussfaktoren eine Rolle wie z. B. vermehrte ökologische Krisenphänomene, das Wissen um die Begrenztheit unserer materiellen Ressourcen und infolgedessen ein wachsender Druck, neue zukunftsichernde Maßnahmen einzuleiten. Entscheidend ist, dass man sich zunehmend der Dringlichkeit eines ganzheitlichen Umschwungs bewusst wird. Man erkennt, dass die Entwicklung neuer (Psycho)Techniken nicht mehr genügen kann, dass es hingegen ganz entschieden auf die Schaffung veränderter kooperativer Strukturen ankommt. Diese können aber nur dann Bestand haben, wenn zum einen institutionelle Regelungen eingeführt werden, die Profiteuren und Trittbrettfahrern das Leben schwer machen, und zum anderen, wenn auf mentaler Ebene Prozesse der Bewusstseinsbildung gefördert werden, die neue Verhaltens- und Kommunikationsmuster entstehen lassen. Aktuell kommen diesbezüglich wesentliche Impulse aus der buddhistischen Philosophie, aber auch das westliche Erbe hat hier enorm viel zu bieten und bedarf einer weiterführenden lebensbezogenen Ausschöpfung, welche den Erfordernissen der Gegenwart gemäß ist. Darin liegt m. E. ein zentrales Aufgabengebiet der Philosophischen Praxis. Der von mir vorgestellte Leitfaden einer besonnenen Selbstprüfung wäre dabei als ein hilfreiches Element neben unzähligen anderen anzusehen, Elemente, die zum Teil bereits existieren, größtenteils aber noch zu entwickeln sind. Entgegen der in unserer Traditionslinie prädominanten Vorstellung von Moralität als Niederdrückung und Überwindung emotionaler Anfechtungen, entgegen auch dem damit verknüpften Ideal, man 26

(Felber 2010) // (Felber o. J.) // (Roy 2015).

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Philosophisch-wissenschaftliche Einbettung

könne jenseits konkreter Situationen – gleichsam emotionsfrei argumentierend – das moralisch Richtige dingfest machen, wäre (nicht zuletzt mit Aristoteles) neu zu bedenken, dass moralische Integrität im Zentrum eines gelingenden Lebens steht, und zwar auch dann, wenn es um emotional-sinnliche Erfüllung geht. Nicht nur eine grundlegende Zufriedenheit mit sich selbst, auch das immer flüchtige Erleben außerordentlicher Glücksmomente nährt sich aus Quellen, die ohne ein gleichzeitiges Bemühen um ›tugendhaftes Agieren‹ schlichtweg versiegen. Denn ohne Wertschätzung des Gegenübers, ohne Achtung vor dessen Eigensinn und immer möglicher Fremdheit verkommt aller Genuss zu eindimensionalem Konsum. Das gilt gleichermaßen für Begegnungen mit Menschen wie auch für das Erleben von Kultur- und Naturdingen. Dominiert nämlich ein objekthafter Umgang, so überantwortet sich das innere Erleben einer fatalen Steigerungslogik ohne Aussicht auf Erfüllung. Verhindert wird auf diese Weise gerade jene seelische Empfänglichkeit, die das Glück dazu einlädt, gelegentlich vorbeizuschauen. Bezüglich der Besonnenheit bedeutet dies überspitzt gesagt: Sofern wir die Eindämmung unserer spontanen Lustund Gefühlsimpulse nicht nur in krampfhaftem Gehorsam gegenüber auferlegten Moralvorschriften vollziehen, sondern derartige Selbstbegrenzungen eigenständig und wohlbedacht am Leitfaden der vorgeschlagenen nachdenklichen Selbstprüfung vornehmen, wird Selbstrelativierung, was paradox erscheinen mag, letztlich nicht als Opfer, sondern als Zugewinn an innerem Reichtum und Begegnungsfähigkeit erfahren. Wesentlich ist in dem vorgeschlagenen Rahmen eine Mobilisierung unserer altruistischen Anteile, die dazu anregen, über Perspektivwechsel die jeweils vorliegende Situation ganzheitlich zu erschließen. Dabei kommt es immer auf die einmalige Person an, die bestrebt ist, gegebene Umstände von ihrer Warte aus angemessen einzuschätzen, in der Absicht, ihren Willen und ihr Handeln entsprechend zu modellieren. Auch wenn Fehlurteile dabei gewiss unvermeidlich 327 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Angemessenheitsprüfung – Ein Leitfaden Philosophischer Praxis

sind, so bewegt sich die altruistisch aufgeschlossene Person dennoch auf einer Wahrhaftigkeitslinie, die sich mit JeanMarie Guyau als »agierende Wahrheit« 27 bezeichnen ließe. Hier werden die affektive Persönlichkeitsstruktur sowie die Fähigkeit, Gutes zu tun, weder als unverrückbar determiniert angesehen, noch wird das menschliche Freiheits- und Selbststeuerungsvermögen überschätzt. Vielmehr geht es um Entwicklungen, an denen sich arbeiten lässt – durch liebevolle familiäre Bindungen, durch einen nicht autoritären Erziehungsstil, durch eine Neuausrichtung institutioneller Bildungsziele, durch Nachdenken und geistige Übungen und vieles mehr. Kognitive und emotionale Bildung gehen hier Hand in Hand oder besser noch: sind unlöslich ineinander verschränkt. Dasselbe ließe sich über das Verhältnis von Egoismus und Altruismus sagen. John Dunne, der in seinen Forschungen Kognitionswissenschaft und Buddhismus miteinander verbindet, konstatiert: »Eine altruistische Handlung, die der handelnden Person keinen Nutzen bringt, ist daher schlicht und einfach ein Ding der Unmöglichkeit – ein Widerspruch in sich.« 28 Beabsichtigt man, anderen von Nutzen zu sein, so gehen damit in der Regel eigene Vorteile einher. Werden diese auch keineswegs primär angesteuert, so erfolgen sie doch gewissermaßen als Begleitphänomene – als ein Erleben von Bereicherung, insofern das Streben nach Verbundenheit unwillkürlich Antwort und Bestätigung erfährt.

27 28

(Jean-Marie Guyau – zitiert: nach Terestchenko 2012, S. 202). (Dunne 2015, S. 102).

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VII. Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

»Es ist unmöglich, vollkommen mündige Bürger in einer Gesellschaft heranzubilden, die Erwachsensein unterminiert, und zugleich ist es unmöglich, ohne eine recht große Zahl mündiger Erwachsener eine andere Gesellschaft hervorzubringen.« (Susan Neiman) »Sich in die Richtung der eigenen Träume zu bewegen, bedeutet notwendigerweise, dass man die Träume riskiert.« (Stanley Cavell)

Besonnenheit ist das Vermögen, im Abstandnehmen von spontanen Handlungsantrieben gedanklich bei einer Sache zu verweilen, das heißt, die Angelegenheit behutsam von allen Seiten zu betrachten, sie in der Überlegung hin und her zu rücken und dabei die Folgen möglichen Tuns zu überdenken. Entfalten kann sich Besonnenheit besonders gut im kontinuierlichen Austausch mit wohlmeinenden Anderen. Dies betonte schon Sokrates, als er den jungen Charmides zur weiteren dialogischen (Selbst)Erkundung einlud. Sich nochmals auf Gespräche einzulassen, kam hier dem Einschlagen des Besonnenheitsweges gewissermaßen schon gleich. Besonnen ist nur diejenige, die sich der Zwiesprache öffnet, die ihr Selbst also nicht zu einer prachtvollen Ichtrutzburg ausgestaltet, deren Inneres von niemandem mehr aufgesucht werden kann. Grundlegend für zwischenmenschliches Gelingen ist in letzter Instanz eben nicht Abgrenzung und objekthafter Umgang, sondern Verbundenheit und Unterredung. Gleichwohl ist temporäre Absonderung unerlässlich, um echte Verbundenheit von romantischen Verschmelzungsillusionen zu unterscheiden. So sagt auch Buber, man müsse, um 329 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

verbunden zu sein, erst unabhängig geworden sein. Das wahre Fundament des Lebens aber ist Verbundenheit. Besonnenheit ist damit eine Form emotionaler Intelligenz, die von der heute angesagten erfolgstaktischen Indienstnahme der Gefühle Abstand nimmt. Denn emotionale Intelligenz bleibt so lange ein unzureichendes Konzept, wie es nicht gelingt, diese hohe Kompetenz mit der erweiterten Perspektive einer auf Intersubjektivität bezogenen Persönlichkeitsformung in Verbindung zu bringen. Besonnenheit ist vor allem da angeraten, wo Beziehungen eingefahren und Vorurteilsstrukturen verfestigt sind, wo Fronten erstarrt und Menschen zu Gegnern oder gar Feinden geworden sind. Hier wäre es lohnend, im Sinne der dargelegten Angemessenheitsprüfung zu verfahren. In jedem Fall ist man zu einer Arbeit an sich selbst genötigt, denn selten verfügt jemand automatisch über die Fähigkeit, emotionale Aufwallungen, wie Aristoteles schrieb, »zur rechten Zeit zu empfinden und den rechten Situationen und Menschen gegenüber sowie aus dem richtigen Beweggrund und in der richtigen Weise (…)«. 1 Man kommt also nicht umhin, von Situation zu Situation kontinuierlich abzuwägen, inwieweit die eigenen spontanen Reaktionsmuster von übergeordneter Warte aus tatsächlich gutzuheißen sind. Hierbei sind grundlegende Wertvorstellungen und höhere Ziele maßgeblich, so genannte Wünsche zweiter Ordnung, von denen Menschen in der Regel ebenso geleitet sind. 2 Erst indem man neben sich tritt, um das oft verschwommene Reich der Wünsche und Werte zu erhellen, werden bewusste und überlegte Entscheidungen möglich. Mit Bollnow geht es letztlich darum, auf ein harmonisches (Aristoteles 1969, S. 44). Siehe hierzu: (Frankfurt 2001) // (Bieri 2001). – Die Idee der korrigierend auf das unmittelbare emotionale Geschehen einwirkenden Wünsche zweiter Ordnung findet sich im Übrigen schon in der Ethik Spinozas. Hier heißt es: »Ein Affekt kann nur gehemmt oder aufgehoben werden durch einen entgegengesetzten und stärkeren, als der zu hemmende.« (Spinoza 1966, S. 201).

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

Zusammenspiel aller Seelenteile hinzuarbeiten und sich dieses Anliegen peu à peu zur Gewohnheit werden zu lassen. Wichtig ist, dass eine solche Arbeit an sich selbst oder besser, dieser bewusste Umgang mit sich selbst, nicht als forcierte, quälerische Reglementierung der Gefühle durch die Vernunft betrieben wird. Im Grunde gilt es zu verstehen, dass dem persönlichen Wohlergehen vor allem dann gedient ist, wenn beide Seiten keinen unversöhnlichen Gegensatz bilden, sondern im Dialog miteinander stehen und einander vermittelt werden. Besonnenheit ist letztlich die Kerntugend eines Lebens, mit dem ich mich immer wieder aufs Neue identifizieren kann. Weiß jemand bzw. glaubt er zu wissen, was er eigentlich tun will, und tut es dennoch nicht, obwohl keine äußeren Umstände ihn daran hindern, so zeigt sich darin Willenschwäche, die in der Regel als leidvoll empfunden wird. Diese Labilität des Willens wird als Entfremdung vom eigenen Selbst erlebt: Die betreffende Person verhält sich nicht so, wie sie ›eigentlich‹ ist, sondern empfindet sich als ›kraftlos‹ oder als ›künstlich‹ bzw. ›unecht‹, sie fühlt sich von Wünschen geleitet, die nicht die eigenen sind, erliegt Konformitäts- und Konsumzwängen, denen sie lieber widerstehen würde. 3 Ebenso kann sich Willenschwäche in Reaktion auf eine allzu forcierte Orientierung an unrealistischen Autonomieidealen einstellen. Überzeugt davon, die Welt könne einem nichts anhaben, unterliegt man Souveränitätstäuschungen, verkennt möglicherweise seine tatsächlichen Beweggründe und findet sich am Ende in unerfreulicher Lage wieder. Die Entfaltung nicht entfremdeter Identität dagegen vollzieht sich im lebendigen, sich stets neu besinnenden Durchlaufen konkreter Erfahrungen. Dabei zeichnet sich der Besonnene durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit aus. Das heißt, er agiert nicht ›vorschriftsmäßig‹, etwa in fragloser 3

Siehe hierzu: (Jaeggi 2005) // (Bennent-Vahle 2011a, Kap. 7–10).

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

Anpassung an (moralische) Konventionen und ebenso wenig in devoter Gefolgschaft zu den Erfolgsleitlinien der Ratgeberliteratur. Es kommt ihm deshalb auch nicht darauf an, eine beeindruckende Außenwirkung zu erzeugen, sondern auf eine tiefer verankerte Persönlichkeitsmodifikation, die auch längerfristig Bestand hat. Wesentlich ist dabei, dass er selbst es ist, der absichtsvoll und bewusst interveniert, weil er von einer übergeordneten Warte aus mit einer Verhaltensweise nicht einverstanden ist. Der Impuls, einzuschreiten, muss letztlich seiner Innenwelt entspringen, auch wenn er natürlich auf aufrüttelnde Anregungen von außen angewiesen ist. Wichtig ist, dass solche Anstöße vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen geprüft und durchdacht werden, dass man also selbst die Fäden in der Hand behält. Um dies zu können, muss jemand sich ein möglichst waches und klares Bild sowohl seiner akuten Affektlage als auch seiner höher gestellten Wünsche und Ideale machen. Vor allem kommt es darauf an, sich Rechenschaft über sein Selbstbild im Verhältnis zum Umfeld abzulegen. Besonnenheit bezeichnet mithin das stete Bemühen um das richtige Maß in allen Angelegenheiten. Man bewegt sich gleichsam auf einem schmalen Grat, auf dem man in zweierlei Richtung ins Straucheln geraten kann: Auf der einen Seite lauert die Gefahr zu großer Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Außenlenkung; auf der anderen das Risiko vermessener Selbstgefälligkeit und illusionärer Autarkie. Noch einmal anders gesagt: Das Ideal der Selbstbestimmung bleibt zwar leitend, doch es erfährt im Besonnenen eine relationale Ausrichtung. Daraus erwachsen verschiedene ethische Grundhaltungen: 1. Selbstrelativierung im Wissen um die subjektiv je unterschiedliche Gebundenheit (an Kultur, Geschichte, Milieu etc.) unserer Wahrnehmungen, Wertauffassungen und Ansichten; dies mündet aber nicht in Indifferenz oder eine Laissez-faire-Haltung, sondern es verbindet sich 2. mit Diversitätstoleranz und 3. mit Dialogbereitschaft, welche gemeinsam mit anderen um Klärungen und Lösungen 332 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

bemüht ist. Damit ist Besonnenheit 4. getragen von relationaler Autonomie, das heißt einem kontinuierlichen Ringen um Eigenständigkeit, die sich als fundamental auf andere bezogen definiert. Dazu gehören 5. Einsamkeitsfähigkeit, zu verstehen als ein mutiges Aushalten von Uneinigkeit, mithin auch »Tapferkeit vor dem Freunde«. 4 Mit all dem eng verbunden ist als weitere geistig-psychische Qualität 6. die Annahme eigener Verletzlichkeit und 7. Verzeihungsbereitschaft, die uns eingedenk eigener Unzulänglichkeiten mit Nachsicht auf die Fehler anderer blicken lässt. Ich habe – auch wenn alle diese Haltungen stark ineinander verwoben sind – vor allem das Zulassen von Verletzlichkeit und Begrenztheit mehrfach in besonderer Weise akzentuiert. Wir benötigen m. E. in der gegenwärtigen Hochleistungsgesellschaft mehr denn je eine liebevolle Akzeptanz menschlicher Schwäche und Fehlbarkeit bei anderen, aber auch bei uns selbst. Psychologen sprechen hier von Selbstmitgefühl und verabschieden damit Ideale übermenschlicher Selbstmächtigkeit, welche in unserer Tradition zur Dominanz gelangten. Doch Besonnenheit meint – wohlverstanden – nicht, sich in der Folge dieser Relativierungen einem radikalen Skeptizismus zuzuschlagen, d. h. über die Zurückweisung von Dogmatismus und allzu hochgesteckter Vernunftansprüche nunmehr einem Habitus der Beliebigkeit zu verfallen. Gerade der relationale Aspekt dieser Tugend verweist auf einen ethischen Kompass, der zur Gestaltung eines guten sozialen Lebens niemals aus der Hand gegeben werden kann, nicht einmal dann, wenn es uns lediglich um einen reibungslosen Ablauf des gesellschaftlichen Miteinanders geht. Wie neuere Forschungen zeigen, empfiehlt es sich auch hinsichtlich des ökonomischen Erfolgs nicht, Profit und rationalen Eigennutz zu alleinigen Maßstäben zu erheben. Politische Theorien, die dem Staat nur ein minimales Recht gegenüber wirtschaftsliberalen Interessen einräumen wollen, werden in 4

(Bachmann 2005, S. 604).

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

zunehmendem Maße in Frage gestellt. 5 Nicht nur, dass solche Konzepte, die den Egoismus entweder zur höchsten Tugend deklarieren bzw. als Output unserer genetischen Anlagen betrachten, 6 ganz offensichtlich gegenläufige psychologische Studien ignorieren, hinzu kommt, dass selbst aus ökonomischem Blickwinkel diese Strategie am Ende nicht aufgeht. Zunehmend erweist sich, dass kurzsichtig eigeninteressierte Profitgier sich negativ auf das gesamte System auswirkt und damit über kurz oder lang hochgradig schädigende Folgen nach sich zieht. 7 Besonnenheit leitet dazu an, nicht nur die eigenen Belange in Betracht zu ziehen, sondern – den jeweiligen Handlungskontext präzise berücksichtigend – ebenso zu erwägen, wie es um andere steht. Dazu ist wie dargelegt ein vitales Mitgefühl nötig, das uns bereit macht, nachdenkend aus dem Bannkreis emotionaler Befangenheiten herauszutreten und den Horizont unserer Überlegung gezielt auszudehnen. Notwendig ist hierfür wiederum, dass auch Gefühle, die uns näher sein mögen als die eigene Haut, zum Gegenstand sorgsamer Analysen erhoben werden. Allgemeine Kenntnisse über das Ineinandergreifen von Emotion und Ratio sind diesbezüglich wichtig und hilfreich, denn sie erhöhen die Motivation, gegebenenfalls einen Prozess der Selbstkorrektur und Mäßigung anzustrengen. Dies mag mühsam und belastend klingen. Und sicher lässt sich nicht abstreiten, dass wir uns in manchen Lagen etwas abverlangen müssen. Dennoch habe ich versucht zu zeigen, dass die hier tragenden Vorgänge der Zurückhaltung und Entdramatisierung alles andere als prinzipiell knebelnd, versagend und lustfeindlich sind. Wenngleich dieses Thema geSiehe: (Ricard 2016, S. 319–339). Siehe z. B.: (Rand 2017). – Eine Kritik der soziobiologischen Theorie egoistischer Gene bietet Bauer: (Bauer 2008, S. 135–176). 7 Siehe insges.: (Singer u. Ricard 2015). // Aus philosophischer Sicht wird dieser Zusammenhang insbesondere von Nida-Rümelin aufgezeigt. – (Nida-Rümelin 2011). 5 6

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

wiss eine weitere umfängliche Untersuchung benötigen würde, sei jetzt nochmals in aller Kürze gesagt: Genuss und Lebensfreude auf der einen sowie zwischenmenschliche Wertschätzung und Rücksichtnahme auf der anderen Seite stellen keineswegs Gegensätze dar. Unter dem Dach der Selbstachtung als Kernelement eines gelingenden Lebens findet sich beides letztlich vereint, wobei immer wieder Lebensumstände eintreten können, die uns einen schwierigen Balanceakt abverlangen, weil wir mühsam austarieren müssen, wie wir uns selbst treu bleiben können, ohne anderen dabei brutal auf die Füße zu treten. Ein allgemeiner Königsweg lässt sich hier nicht vorzeichnen. Um individuelle (Denk)Anstrengungen kommt man also tatsächlich nie herum. Auch ist es mit Sicherheit so, dass wir vielfach scheitern und im Nachklang mit Unsicherheit oder Schuldgefühlen leben müssen. Realisiert und akzeptiert man diese Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge, so mag eine verzeihende Haltung entstehen – oder zumindest doch ein weniger scharf urteilender Blick auf andere Menschen, die Vergleichbares durchleben. In einem Klima der Milde erhöhen sich die Chancen, Formen des Neubeginns freizulegen. 8 »Die Liebe, mit der ich einen Menschen umfasse, mag imstande sein, ihn mit neuer Lebenskraft zu erfüllen, wenn die seine versagt«, 9 schreibt die Philosophin Edith Stein. Über die Annahme eigener Schwäche, Fehlbarkeit, Bedürftigkeit und Verletzlichkeit wächst Sanftmut und damit die Empfänglichkeit für andere Menschen sowie ein lebendiges Interesse an ihrem Wohlergehen. 10 Nicht Angepasstheit an die Erfolgsleitlinien für technische Höchstleis-

Für den Bereich der Politik, siehe hierzu Nussbaums Beschäftigung mit dem Versöhnungsprozess in Südafrika durch Nelson Mandela: (Nussbaum 2017, S. 317–324). 9 (Stein 2006, S. 163 f.). 10 Schon Aristoteles legte dem Sanftmütigen, dem »vornehm-ruhigen Charakter«, der sich nicht von Affekten fortreißen lässt, höchsten Wert bei. (Aristoteles 1969, S. 107/108). 8

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

tungen, sondern Leidempfindlichkeit entfacht das innere Zwiegespräch, welches den kommunikativen Raum öffnet. Die Weichen für diese Fähigkeiten werden – wie dargelegt – zweifelsohne in der Kindheit gestellt. Doch auch wenn die Dinge einen ungünstigen Verlauf genommen haben, ist es in jedem Moment des Lebens möglich, auf den schmalen Pfad der Besonnenheit einzuschwenken. Unterstützend mögen hier gute Freunde wirken oder auch eine Philosophische Praktikerin, deren Aufgabe darin liegt, wie eine gute Freundin zu agieren. Er oder sie begleitet ihren Gast dabei, nachdenkend – philosophierend – alle Facetten der inneren Wirklichkeit weltbezogen aufzuschließen, um sich zu sehen, zu verstehen und gegebenenfalls zu wandeln, was bedeutet, Selbstentfremdung zu überwinden und sich sich selbst anzuverwandeln. 11 Leitend ist dabei die Zuversicht in ein Humanum, das in jedem angelegt ist, der Glaube an die Fähigkeit innerer Neuorientierung, die selbst dann nicht ganz unmöglich ist, wenn Schwerwiegendes vorgefallen ist. Noch einen Schritt weiter gehend würde ich behaupten, dass Besonnenheit sogar eine überaus wichtige Bedingung dafür ist, Glück erfahren zu können. Oder besser gesagt: Für den Besonnenen gibt es zwar keine Garantie auf Glück, aber er schafft innere Voraussetzungen dafür, die das Aufkommen glückvoller Erfahrungen begünstigen. Dem Glück eignet ein Moment des Unverfügbaren, so dass es – weitaus mehr als Besonnenheit – außerhalb unserer Reichweite liegt. Es gibt Schicksalsschläge, denen Menschen emotional nicht gewachsen sind, so dass kein Trost, kein Mittel gegen das Unglücklichsein, zu finden ist. Dennoch steht uns frei, auch den unbeeinflussbaren Wechselfällen des Lebens, wenn auch weder gelassen noch heiter, so doch mit duldsamer Besonnenheit zu begegnen. Weil das Leben eben so ist, wie es ist, nehmen

Man benötigt hierfür m. E. keine substantielle Vorstellung des Selbst. Siehe: (Jaeggi 2005) // (Bennent-Vahle 2011a, Kap. 7–10).

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

wir auch das Schwierige und Dunkle an. Trostreich mögen dann allenfalls Freunde sein, die präsent sind – der zeitüblichen Tendenz, alles Unangenehme vermeiden zu wollen, widerstehend –, die dem Untröstlichen im Zuhören ohne Urteil und Hintergedanken einen Zufluchtsort bieten. Auf diesem Wege vermag sich, wenn überhaupt, allmählich das Sichtfeld wieder ein wenig zu weiten und zu lichten. Doch es verbietet sich, in Fragen von Trauer und Verlust für andere sprechen und Maßstäbe erheben zu wollen, womöglich auf ein schnelles ›Abarbeiten‹ der Trauer zu drängen. Hier hilft allein, wie Frank Ostaseski ausführt, »die Intelligenz des Mitgefühls (…) eine Freundlichkeit, die das Leid nicht loszuwerden versucht«. 12 Abschließend möchte ich den Bogen schließen und auch im Blick auf das politische Spiel von Lüge, Betrug und Verstellung nochmals den Wert der Besonnenheit herauskehren. Zweifelsohne ist dieser Tugend gleichermaßen bei Regierenden wie Regierten Relevanz zuzumessen und es wäre unsinnig zu erwarten, dass Politiker bessere oder vorbildhafte Menschen zu sein haben. Dennoch erlegt das politische Amt den Volksvertreterinnen eine gewisse Wahrhaftigkeitspflicht den Bürgern gegenüber auf. Diese müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Mandatsträgerinnen Entscheidungen im Rahmen von Gesetz und Verfassung treffen, dabei am Gemeinwohl und den Interessen derjenigen orientiert sind, in deren Auftrag sie agieren. Vor allem aber obliegt ihnen die (Ostaseski 2017, S. 251) – Frank Ostaseski, der lange Zeit als Sterbebegleiter in einem buddhistischen Hospiz tätig war, legt in beeindruckender Weise Zeugnis ab von einer Praxis der Zugewandtheit, die, indem sie dem Schmerz Aufmerksamkeit schenkt, Brücken von Mensch zu Mensch wachsen lässt: »Trauer ist wie ein Fluss, der unser Leben durchströmt, und es gilt, zu begreifen, dass sie nicht weggeht. Sie bleibt ein Leben lang bestehen. Nur das Verhältnis zu einem bestimmten Verlust ändert sich. Die Trauer als natürlich menschliche Reaktion auf Verlust aber wird bleiben, und unser Widerstand dagegen wird den Schmerz nur noch intensivieren.« (Ebd., S. 222).

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Pflicht, umfassend und aufrichtig Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Als Delegierte des Volkes müssen sich Politiker und Politikerinnen dieser Verpflichtungen bewusst sein, was im Konkreten heißt, sich unablässig neu darauf zu besinnen. In Anbetracht des Faktums, dass sie qua ihrer Funktion nicht allein für sich selbst stehen, sollten sie tatsächlich bewusster als jeder andere eine Haltung der Besonnenheit kultivieren. Dazu gehört, wie ich ausführlich dargelegt habe, jedes überdimensionierte Machtstreben einzudämmen, eigene Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, emotionale Selbstprüfungen anzustrengen sowie – vor allen Dingen – stets mit Nachdruck für ein adäquates Tatsachenwissen und eine entsprechende Diskursbereitschaft zu kämpfen. Nichtsdestoweniger wird man in der Politik ohne Taktik und Kalkül nicht auskommen können. Und manchmal, wenn es gilt, großen Schaden abzuwenden, scheint selbst die offene Lüge unausweichlich, z. B. eine Lüge, die der Abwehr äußerer Bedrohungen oder destruktiver Dynamiken dient. 13 Zweifelsohne kann es Lügen geben, die Gutes bewirken, im Politischen wie im Privaten. Dies im Einzelfall klug, wahrhaftig und umsichtig abzuwägen, wäre eine Frage besonnener Urteilskraft. Lüge ich tatsächlich zum Schutz bzw. zur Schonung anderer? Oder will ich mich nur selbst vor unliebsamen Konsequenzen bewahren? Vollziehe ich womöglich unter dem Vorwand hochherziger Rücksichtnahme einen Akt der Entmündigung anderer und nehme ihnen damit ihre Entscheidungsfreiheit? Ohne auf diese Fragen weiterführend eingehen zu wollen, möchte ich an dieser Stelle noch Folgendes zu bedenken geben: Trifft Arendts Gegenwartsdiagnose anwachsender Lügenbereitschaft zu, ohne dass zugleich ein Bemühen erkennSiehe hierzu: (Dietz 2003, S. 157–167). // Zur Politik als »unvermeidlich unreine Kunst«, die sich in demokratischen Gesellschaften bestimmter »Herrschaftstechniken« bedienen muss, siehe auch: (Kohler 2005).

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bar wäre, in hinreichendem Maße zwischen guten/pro-sozialen/weißen und schlechten/sozial-destruktiven/schwarzen Lügen zu unterscheiden, so wäre höchste Gefahr im Verzug. Nicht nur das Überhandnehmen einer Kultur der Unaufrichtigkeit wäre zu beklagen, nicht nur ein Anwachsen wechselseitiger Instrumentalisierung und Bevormundung unter dem fadenscheinigen Deckmantel von Schonung oder Notwendigkeit, viel gravierender noch wäre es, dass wir auf diese Weise allmählich den Boden der Wirklichkeit unter unseren Füßen verlören und eine fiktive Welt konstruierten, bis sich herausstellt, »daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt«. 14 – »Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück«, lautet ein polnischer Aphorismus, der den Vertrauens- und Weltverlust der Verlogenheit lakonisch registriert. Aktuell erleben wir eine inflationäre Verwendung des Lügenvorwurfs, der – wenngleich vielfach ohne Berechtigung erhoben – Ausdruck einer elementaren Vertrauenskrise ist. Weltentfremdung und Weltangst spielen hier ineinander und generieren destruktive Dynamiken. Es mag naiv erscheinen, angesichts hochgradig komplexer Problemlagen und Verfeindungsstrukturen mit einem Bündel althergebrachter Tugenden aufwarten zu wollen. Doch, so möchte ich fragen, lässt sich tatsächlich behaupten, wir kämen auf Dauer ohne Selbstvertrauen und ein Ethos innerer Festigkeit aus? Zehren die noch einigermaßen funktionierenden Demokratien nicht im Grunde von der moralischen Substanz umfassend gebildeter Menschen, die unablässig Schadensbegrenzung betreiben? Mittlerweile zeigen sich immense Erosionen in diesem substanziellen Sockel. In jedem Fall ist die Lage ernst und drängend genug, um sich daran zu erinnern, was nach unserem humanistischen Erbe einen gebildeten Menschen ausmacht. Überspitzt gesagt: Noch lebt diese Erinnerung in eini-

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(Arendt 2013, S. 83).

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gen fort, aber es steht zu befürchten, dass wir dabei sind, im Zuge wachsender ökonomistischer Vereinseitigung diese lebenswichtigen Quellen zuzuschütten. Schon Nietzsche sagte zu seiner Zeit, dass man nach den gängigen Sittlichkeitsvorstellungen zweierlei verlange, »nämlich eine r a s c h e Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können und doch eine so gründliche Bildung, um ein s e h r v i e l Geld verdienendes Wesen werden zu können. Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet als im Interesse des Erwerbs ist, aber so viel wird auch von ihm gefordert.« 15 Die ökonomische Ausrichtung der Bildungsziele hat sich heute verschärft. Bildung wird mit beruflicher Ausbildung zum Zweck der Employability gleichgesetzt. 16 Diese Fixierung der Bildungskonzepte auf ökonomischen Erfolg wird von Philosophen und Philosophinnen mit zunehmendem Nachdruck problematisiert. So wirft u. a. Julian Nida-Rümelin der Bildungspolitik eine »hektische Betriebsamkeit« vor, da die Reformbemühungen »keine Idee einer humanen Persönlichkeitsentwicklung erkennen« 17 lassen. Ohne normatives Fundament gelange man allenfalls zu kurzlebigen Neuerungen, während es an einem überzeugenden Entwurf bzw. an kulturellen Leitideen fehle. Zu monieren ist, dass der Zusammenhang zwischen philosophischer Reflexion und Bildungspraxis verlorengegangen ist. Bildungsziele, die nicht sofort ökonomisch nutzbar gemacht werden können, geraten zunehmend aus dem Sichtfeld. Heute bedeutet Bildung hauptsächlich verdichtete Wissensbzw. Informationsaufnahme sowie weiterhin Aneignung von praktischen Kompetenzen wie Textverstehen, logisches Denken oder (technisches) Problemlösen, derweil die eigentlich humanisierende Charakterbildung brachliegt. Zwar rücken – (Nietzsche 1988d, Bd. 1, S. 668). Deutlich wird dies nicht zuletzt durch den Rückgang des Anteils der Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt. 17 (Nida-Rümelin 2011, S. 8 u. S. 12). 15 16

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Schlusswort: Signatur der Besonnenheit

wie dargelegt – auch kommunikative und emotionale Fähigkeiten nachdrücklicher ins Zentrum der Bildungsbemühungen. Gerade hier nun aber zeigt sich die gegenwärtige Problematik in ihrer besonderen Brisanz, insofern mittlerweile auch emotionale Fähigkeiten wie Empathie und Zugewandtheit – die sogenannten soft skills – in den Dienst des ökonomischen Erfolges treten. Über entsprechende Trainingsprogramme soll die Persönlichkeit in allen ihren Facetten nutzbar gemacht werden: Der ideale zeitgemäße Manager verfolgt einen betont emotionalen Stil, wobei er seine Leidenschaften perfekt zu zügeln weiß und die Gefühle seiner Mitarbeiter wendig auszuloten versteht, um situationsgerecht, gleichsam ›fürsorglich‹, mit ihnen umzugehen. 18 Entgegen dem humanistischen Ideal der Charakterformung durch Verinnerlichung, das den Aspekt der individuellen Aneignung und nachdenkenden Verarbeitung bestimmter Haltungen betont, dienen ›soft skills‹ als ein vielseitig verwertbares Handwerkszeug, das man zweckgebunden einsetzt und wieder fahren lässt, wenn das Ziel erreicht oder der Auftrag erfüllt ist. Emotionale Versiertheit wird hier ohne Zweifel dem instrumentellen Handeln unterworfen, wobei die Akteure kaum von Skrupeln hinsichtlich ihrer persönlichen Integrität umgetrieben werden. Bestehende Sinnordnungen – moralische Maßstäbe, Gerechtigkeitsfragen sowie ein echtes Interesse am Gegenüber – treten in den Hintergrund. Wer auf Ehre und Anstand pocht, würde sich der Gefahr aussetzen, als rückständiger Gutmensch oder inkompetenter Loser belächelt zu werden. Was dabei herauskommt, ist ein bindungsloses Selbst, ein enthusiastisches Kompetenzbündel, das – angetrieben von einem virtuellen Mehr – in ein fatales Fahrwasser der Selbstentfremdung und charakterlichen Deformation gerät. Indem es den Job zum heiligen Gral der Selbstverwirklichung erhebt

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Siehe: (Bennent-Vahle 2013, Kap. II).

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und sich karrierestrategisch in Szene setzt, gerät das ganze Leben in den Sog eines angestrengten Machbarkeitscredos. Noch die intimsten Angelegenheiten und die persönlichsten Eigenschaften werden zum Material einer findigen erfolgstaktischen Umarbeitung. Die Problemseiten einer derartigen ›Gefühlskultur‹ liegen auf der Hand. Hier regiert in weiten Teilen die funktionelle Sprache einer instrumentellen Vernunft, die einen Mangel an tief gehender Involviertheit erkennen lässt. Der neue emotionale Kapitalismus bringt Formen der Ausbeutung und Selbstausbeutung hervor, die das Heranreifen starker, auch moralisch berührbarer Persönlichkeiten beeinträchtigt. So ignorieren verbreitete Vorstellungen von emotionaler Intelligenz und Authentizität die gesellschaftlich-politische Verantwortung des Individuums. Oder besser gesagt: Sie ignorieren, dass Menschen aus einem genuinen gemeinschaftsorientierten Impuls heraus agieren. Mit der Kategorie der Besonnenheit habe ich – anknüpfend an die philosophische Tradition – versucht, eine Haltung zu umreißen, die sich gegen die dargelegte strategische Optimierung und Nutzanwendung der Emotionalität abgrenzt, gleichwohl aber einen bewussten und reflektierten Umgang mit Empfindungen und Gefühlen anregt. Eine emotional intelligente Charakterbildung im Sinne der Besonnenheit ist wesentliche Voraussetzung für die Gestaltung eines Miteinanders in gegenseitiger Achtung und Anerkennung, sie ist, wie der vorgestellte Leitfaden detaillierter zu zeigen versucht, Kerntugend sozialer, politischer und letztlich auch ökonomischer Verantwortung. Besonnenheit auf der Basis von Selbst(er)kenntnis bildet somit eine Grundbedingung politischer Mündigkeit, denn sie macht uns weniger verführbar und lässt uns zugleich aufgeschlossener werden. Sie senkt die Gefahr, sich etwas vormachen zu lassen, realistische Einschätzungen des Status quo zu ignorieren und daraus resultierende Frustrationen ausschließlich anderen anzulasten. Besonnenheit erlaubt auch Abscheu und zivilisierte Ver342 https://doi.org/10.5771/9783495823859 .

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achtung 19 gegenüber den Hassparolen und monströsen Aktionen bestimmter Tätergruppen. Doch, vertraut mit der Fragilität des menschlichen Seins, weiß die Besonnene um die brutale Ausweglosigkeit vieler Lebensgeschichten. Sie wird auch die eigene moralische Zuverlässigkeit nicht überschätzen, sich eher als verschont begreifen und gegebenenfalls dazu bereit sein, auch hinter abartigen Handlungen und widerlichen Parolen noch den Menschen zu suchen. Eingedenk der sozialen Genese antisozialer Impulse wäre gegenüber den personalen Trägern problematischer Haltungen an einem grundlegenden Respekt unbedingt festzuhalten, auch wenn ihre Äußerungen verächtlich erscheinen mögen.

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(Strenger 2015).

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Dank

Ich danke allen, die mich während der gedanklichen Vorbereitung und Niederschrift dieses Buches tatkräftig unterstützt haben. Angefangen von inspirierenden Gesprächen, die ich mit vielen Menschen im Rahmen meiner Praxistätigkeit führen konnte, über die dauernde emotionale Unterstützung durch Freunde und Familie gilt mein Dank vor allem denjenigen, die ganz konkret zum Gelingen des Textes beigetragen haben. Insbesondere danke ich Ute Gahlings, Judith Tech und Thomas Gutknecht für ihre Bereitschaft, das Manuskript mit Sorgfalt und kritischem Bewusstsein gegenzulesen und wiederholt ausführlich mit mir zu besprechen. Unzählige wertvolle Impulse kamen von ihrer Seite. Zudem verdanke ich Herrn Lukas Trabert vom Alber-Verlag vielfältige hilfreiche Anregungen und Hinweise, wodurch das Manuskript sowohl wesentliche inhaltliche Vertiefungen als auch die notwendige formale Nachbesserung erfuhr. Ebenso danke ich Thomas Schwabe, Christiane Galla, Andrea Jarosch-Kotzur und Beate Zapka für ihre praktische Hilfe, für ihr stets offenes Ohr, für das gewährte Vertrauen sowie für wichtige Inspirationen, die meiner Arbeit immer wieder frischen Aufwind gaben. Was ich in dieser Hinsicht meiner Familie und vor allem meinem Mann verdanke, lässt sich weder bemessen noch adäquat in Worte fassen. Hier liegt Dankbarkeit im Eingeständnis der fraglosen Angewiesenheit auf diese anderen.

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Abramović, Marina: https://www.zeit.de/2010/11/InterviewAbramovic https://www.youtube.com/watch?v=2TlZjFGriLw https://www.youtube.com/watch?v=U6Qj__s8mNU (Letzter Aufruf: 8. 1. 2019). Achenbach, Gerd B.: Eingelassenheit – oder: Zuhören ist die Seele des Gesprächs. In: Giovanni Maio (Hg.): Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Achtsamkeit in der Medizin. Freiburg 2017. S. 267– 276. Achten, Willi: Nichts bleibt. Bielefeld 2017. Adorno, Theodor W.: Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie. Frankfurt/Main 1957. Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München 2013. Dies.: Vita Activa. Oder vom tätigen Leben. München/Zürich 2006a. Dies.: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. München/ Zürich 2006b. Dies.: Ein mögliches Schlusskapitel: »Von der Wüste und den Oasen.« In: Dies.: Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. Hg. von Ursula Ludz. München/Zürich 2005. S. 180–187. Dies.: Denktagebuch. 1950–1973. 2. Bd. München/Zürich 2002. Dies.: Vom Leben des Geistes. München 1998. Dies.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 1997. Dies.: Die Krise in der Erziehung. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. München 1994. Dies.: Was ist Existenzphilosophie? Frankfurt/Main 1990. Dies. und Martin Heidegger: Briefe (1925–1975) und andere Zeugnisse. Frankfurt/Main 1998. Dies. im Gespräch mit G. Gaus: https://www.rbb-online.de/zurperson/interview_archiv/arendt_ hannah.html 1964. (Letzter Aufruf: 8. 1. 2019). Aristoteles: Nikomachische Ethik. Stuttgart 1969.

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