Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid: Grundlagentexte zur ethischen Debatte 9783495823927, 9783495491553


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Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Einleitung: Die ethische Debatte über Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick
1. Die Entstehung der Probleme und die Argumente für und gegen die Legalisierung der Hilfe zum Sterben
2. Die Tendenz zur Liberalisierung und der Widerstand gegen sie
3. Die alte Terminologie zur Sterbehilfe und die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten
4. Die neuen Terminologien und das Fortbestehen der sachlichen Probleme
5. Zwischen Abwehrrechten und Anspruchsrechten: Um welche Art von Rechten geht es in der Debatte?
6. Die Notwendigkeit der Abgrenzung von Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid
7. Ziel und Aufbau der vorliegenden Anthologie
Teil I: Gibt es einen moralisch relevanten
Héctor Wittwer: James Rachels’ Aufsatz »Aktive und passive Sterbehilfe«:
Michael Tooley: Ein irrelevanter Gesichtspunkt: Töten versus Sterbenlassen
Literaturverzeichnis
Thomas D. Sullivan: Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung?
Literaturverzeichnis
Bonnie Steinbock: Die absichtliche Beendigung des Lebens
Schluss
Anmerkung
Literaturverzeichnis
Michael Quante: Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe – deskriptiv und ethisch tragfähige Unterscheidungen?
I.
II.
III.
IV.
IV.1 Die freiwillige direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln
IV.2 Die nicht freiwillige direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln
V.
1. Berechtigte Ansprüche dritter Parteien?
2. Die Schiefe-Ebene-Argumente
Literaturverzeichnis
Teil II: Prinzipielle Argumente für und wider direkte aktive Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid
Margaret Pabst Battin: Selbsttötung und Rechte
1. Selbsttötung als ein Recht
2. »Es ist mein Leben«: das Argument des Eigentums an sich selbst
3. Das Argument der Freiheit
4. Selbsttötung als ein natürliches Recht
5. Rechte und die Rolle anderer
Literaturverzeichnis
Norbert Hoerster: Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?
Literaturverzeichnis
Leon R. Kass: Gibt es ein Recht zu sterben?
Ein Recht zu sterben
Ein Recht zu sterben
Warum wird behauptet, dass es ein Recht zu sterben gibt?
Gibt es ein Recht zu sterben?
Gibt es ein juridisches Recht zu sterben?
Die tragische Bedeutung des »Rechts zu sterben«
Ein Anhang: Über die Rhetorik der Rechte
J. David Velleman: Ein Recht auf Selbsttötung?
Erwiderung auf F. M. Kamm
Literaturverzeichnis
Judith Jarvis Thomson: Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente
I.
II.
III.
IV.
V.
Literaturverzeichnis
Teil III: Schiefe-Ebene- und Missbrauchsargumente
Robert Spaemann: Es gibt kein gutes Töten
Die zivilisatorische Situation
»Wert des Lebens«?
Zur Beurteilung der Selbsttötung
Die Einstiegsdroge
Die Entsolidarisierung
Leben verlängern um jeden Preis?
Barbara Guckes: Sterbehilfe
1. Die Verwendung des SE-Argumentes gegen die Legalisierung von Sterbehilfe in den anglo-amerikanischen Ländern
1.1 Sullivan
1.2 Lamb
1.3 Bewertung
2. Die Verwendung des SE-Argumentes gegen die Legalisierung von Sterbehilfe im deutschsprachigen Raum
3. Fazit
Literaturverzeichnis
Robert L. Holmes: Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?
1.
2.
Literaturverzeichnis
Ulrich Eibach: Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen? – Eine Beurteilung aus seelsorgerlicher und ethischer Sicht
1. Zum weltanschaulichen Hintergrund
1.1 Selbstbestimmung und Todeszeitpunkt
1.2 Planbarkeit des Lebens und »menschenunwürdiges« Leben und Sterben
2. Selbstbestimmung, Todeswunsch und Tötungswunsch
3. Autonomie, Angewiesensein und Selbsttötung
4. Normativ ethische und rechtliche Regelungen für »tragische Grenzfälle«?
4.1. Hilfe zur Selbsttötung: Eine Gewissensentscheidung?
4.2. Von der Hilfe zur Selbsttötung zur Tötung auf Verlangen!?
4.3. Wer dürfte Hilfe zur Selbsttötung in Grenzfällen erbringen?
5. Schlussfolgerungen für eine mögliche Gesetzgebung
Literaturverzeichnis
Teil IV: Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid
Bettina Schöne-Seifert: Ist ärztliche Suizidbeihilfe ethisch verantwortbar?
1. Einleitung
1.1 Eingrenzungen
2. Standardargumente gegen (helfer-unspezifische) Suizidbeihilfe
2.1 Kategorische Einwände
2.2 Missbrauchsargumente
2.3 Verrohungsargumente
3. Das Argument von der Unärztlichkeit aller Suizidbeihilfe
3.1 Unvereinbarkeit mit dem ärztlichen Ethos?
3.2 Brutalisierung der Ärzte?
3.3 Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient?
4. Ärzte als bestgeeignete Suizidhelfer?
5. Schlussfolgerungen
Literaturverzeichnis
Dieter Birnbacher: Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik
1. Die (nahezu) einhellige Ablehnung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik
2. Uneindeutigkeiten
3. Rechtfertigungen
4. Ein konstruktiver Vorschlag
Literaturverzeichnis
Leon R. Kass: »Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«: Warum Ärzte nicht töten dürfen.
I. Zeitgenössische ethische Ansätze
II. Freie Berufe: intrinsisch moralisch
III. Schlechte Folgen
IV. Die äußeren Grenzen der Medizin
V. Der Kern der Sache
V. Wenn die Medizin versagt
VII. Menschlich-Sein und Ein-Mensch-Sein
Literaturverzeichnis
Daniel Callahan: Selbstauslöschung: Zur moralischen Bewertung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid
1. Gibt es einen moralischen Unterschied zwischen Sterbehilfe und ärztlicher Beihilfe zum Suizid?
2. Ein Wendepunkt?
3. Selbstbestimmung
4. Töten und Sterbenlassen
5. Zur Berechnung der Folgen
6. Sterbehilfe und die Zwecke der Medizin
Literaturverzeichnis
Drucknachweise
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Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid: Grundlagentexte zur ethischen Debatte
 9783495823927, 9783495491553

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Héctor Wittwer (Hg.)

Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid Grundlagentexte zur ethischen Debatte

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823927

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B

Héctor Wittwer (Hg.) Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid Grundlagentexte zur ethischen Debatte

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer (Hg.)

Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid Grundlagentexte zur ethischen Debatte

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer (ed.) Euthanasia and physician-assisted suicide Key texts on the ethical debate The anthology assembles influential contributions to the ethical debate on euthanasia and physician-assisted suicide published since 1975. For this book, some of the seminal papers from the anglo-saxon world have been translated into German for the first time. Some of the topics addressed in the volume are the following: Are euthanasia and physician-assisted suicide in principle morally permitted? Are they compatible with the internal morality of medicine? Are slippery-slope arguments against the legalization of euthanasia and physician-assisted suicide plausible? Do we have to make the same moral judgment on euthanasia and assisted suicide, or are there any compelling reasons for evaluating them differently? – The volume is particularly suitable for use in teaching.

The editor: Héctor Wittwer is Professor of Practical Philosophy at the Otto-vonGuericke University Magdeburg. His research focuses on normative ethics and metaethics, the philosophy of death and the philosophy of law.

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer (Hg.) Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid Grundlagentexte zur ethischen Debatte Die Anthologie versammelt wichtige Beiträge zur ethischen Debatte über die Zulässigkeit der direkten aktiven Sterbehilfe und der ärztlichen Beihilfe zum Suizid seit 1975. Etliche einflussreiche Aufsätze aus dem angelsächsischen Raum erscheinen hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung. Behandelt werden u. a. folgende Fragen: Sind Sterbe- und Suizidbeihilfe grundsätzlich moralisch erlaubt? Lassen sie sich mit dem Berufsethos der Medizin vereinbaren? Wie plausibel ist das Argument der schiefen Ebene gegen ihre Legalisierung? Müssen Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid moralisch gleich beurteilt werden, oder sprechen gute Gründe dafür, sie unterschiedlich zu bewerten? – Aufgrund seiner systematischen Anlage ist der Band besonders für die Lehre geeignet.

Der Herausgeber: Héctor Wittwer ist Professor für Praktische Philosophie an der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Normativen Ethik und der Metaethik, der Philosophie des Todes sowie in der Rechtsphilosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

© VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49155-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82392-7

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Die ethische Debatte über Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Teil I: Gibt es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen? Héctor Wittwer: »James Rachels’ Aufsatz ›Aktive und passive Sterbehilfe‹: eine Zusammenfassung« . . . . . . . . . . . . .

39

Michael Tooley: »Ein irrelevanter Gesichtspunkt: Töten versus Sterbenlassen« (1980) . . . . . . . . . . . . . .

48

Thomas D. Sullivan: »Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung?« (1977) . . . . . . . . . . .

58

Bonnie Steinbock: »Die absichtliche Beendigung des Lebens« (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Michael Quante: »Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe – deskriptiv und ethisch tragfähige Unterscheidungen?« (1998) . .

80

Teil II: Prinzipielle Argumente für und wider direkte aktive Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid Margaret Pabst Battin: »Selbsttötung und Rechte« (1982)

. . . 115

Norbert Hoerster: »Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?« (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

146 7

https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Inhaltsverzeichnis

Leon R. Kass: »Gibt es ein Recht zu sterben?« (1993) J. David Velleman: »Ein Recht auf Selbsttötung?« (1999)

. . . . . 169 . . . . 202

Judith Jarvis Thomson: »Ärztliche Beihilfe zum Suizid. Zwei moralische Argumente« (1999) . . . . . . . . . . . . .

235

Teil III: Schiefe-Ebene- und Missbrauchsargumente in der Diskussion Robert Spaemann: »Es gibt kein gutes Töten« (1997) . . . . . .

271

Barbara Guckes: »Sterbehilfe« (1997) . . . . . . . . . . . . .

285

Robert L. Holmes: »Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?« (2001) . . . . . . . .

320

Ulrich Eibach: »Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen? Eine Beurteilung aus seelsorgerlicher und ethischer Sicht« (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

334

Teil IV: Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid aus Sicht der ärztlichen Berufsethik Bettina Schöne-Seifert: »Ist ärztliche Suizidbeihilfe ethisch verantwortbar?« (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363

Dieter Birnbacher: »Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik« (2006) . . . . . . . . . . . . . . . .

382

Leon R. Kass: »›Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben.‹ Warum Ärzte nicht töten dürfen« (1992) . . . . . . .

405

Daniel Callahan: »Selbstauslöschung. Zur moralischen Bewertung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid« (1997) . . . . .

429

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Danksagung

Ohne die Unterstützung durch andere hätte ich die vorliegende Anthologie nicht veröffentlichen können. Mein Dank gilt den Übersetzerinnen und Übersetzern sowie dem Karl Alber-Verlag und insbesondere Lukas Trabert für die Aufnahme dieses Bandes in das Programm des Verlags. Besonderen Dank schulde ich Miriam Gorr, meiner studentischen Hilfskraft. Sie hat die Textvorlagen für den Druck vorbereitet, alle Übersetzungen korrigiert und schwer zu findende Literatur beschafft. Ohne ihre unschätzbare Hilfe hätte ich dieses Publikationsprojekt nicht realisieren können. Héctor Wittwer

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Einleitung: Die ethische Debatte über Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

1.

Die Entstehung der Probleme und die Argumente für und gegen die Legalisierung der Hilfe zum Sterben 1

Bei den moralischen Diskussionen über die Zulässigkeit der Sterbehilfe und der ärztlichen Beihilfe zum Suizid handelt es sich um vergleichsweise junge Debatten. Im Großen und Ganzen werden sie erst seit den 1970er Jahren geführt. Diese Feststellung wirft die Frage auf, warum sich die Ethik den genannten Themen erst so spät und warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt zugewandt hat. Die Antwort auf diese Frage liegt nahe. Mehrere Entwicklungen haben in ihrem Zusammenspiel dazu geführt, dass die Sterbehilfe und die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung auf die Tagesordnung der Angewandten Ethik gesetzt wurden. An erster Stelle ist hier der rasante Fortschritt der Medizin in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu nennen. Dieser Fortschritt, der sich ab den 1950er Jahren beschleunigt hat, führte dazu, dass immer mehr Krankheiten, die bis dahin unheilbar gewesen waren, geheilt werden konnten und dass Menschen, die noch vor wenigen Jahrzehnten an ihren Krankheiten oder Verletzungen gestorben wären, mit den Mitteln der modernen Medizin am Leben erhalten werden können, und zwar in einigen Fällen sehr lange. Sogenannte Wachkomapatienten können beispielsweise mittels künstlicher Ernährung und Pflege jahrelang am Leben erhalten werden. Allerdings wird die Lebenserhaltung in manchen Fällen um den Preis eines erheblichen Verlusts an Lebensqualität erkauft. Auch dies lässt sich anhand des Beispiels des persistierenden vegetativen Zustands anschaulich machen. Die Patienten, die sich in diesem Zustand befinden, haben ab einem bestimmten Zeitpunkt die Fähigkeit, das BeDer Ausdruck »Hilfe zum Sterben« wird hier als Oberbegriff verwendet, der sowohl die Sterbehilfe als auch die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung umfasst. Die Hilfe zum Sterben ist von der Hilfe beim Sterben, also der Sterbebegleitung, zu unterscheiden.

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wusstsein wiederzuerlangen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein für alle Mal verloren. Angesichts solcher und ähnlicher Konstellationen stellt sich die Frage, ob die Medizin dazu verpflichtet ist, das Leben der Patienten unter allen Umständen so lange wie möglich und unabhängig von den Heilungschancen zu erhalten, oder ob es Fälle gibt, in denen es besser ist, einen Patienten sterben zu lassen oder seinen Tod, sofern er dies wünscht, herbeizuführen. Zweitens hat die Alterung der Bevölkerung dazu geführt, dass immer mehr Menschen an alterstypischen Krankheiten leiden, die früher seltener waren. In fast allen modernen Staaten nimmt die durchschnittliche Lebenserwartung seit Jahrzehnten stetig zu. 2 Der Anteil der über 75-jährigen Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt beständig an. Da nun ab einem bestimmten chronologischen Alter die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Erkrankungen zu leiden, signifikant zunimmt, treten diese Krankheiten insgesamt häufiger auf als früher. Immer mehr Menschen leiden unter Krebserkrankungen, neurodegenerativen Krankheiten oder Demenz. Trotz der großen Fortschritte, welche die Medizin in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, sind noch immer einige der genannten Krankheiten unheilbar. Beispielsweise gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch immer keine Therapie für den Bauchspeicheldrüsenkrebs, eine Krankheit, die mit außergewöhnlich starken Schmerzen verbunden ist. Patienten, die an einer unheilbaren Krankheit leiden oder bei denen alle zur Verfügung stehenden Behandlungsmethoden, wie etwa Chemotherapien, versagt haben, gelten als »austherapiert«. Diese Menschen befinden sich in einer ausgesprochen bedrückenden Lage. Sie wissen, dass es für sie keine Chance auf Heilung gibt und dass sie in absehbarer Zeit sterben werden. In manchen Fällen lässt sich ihre verbleibende Lebenserwartung sogar ziemlich genau angeben. Darü»Estimates suggest that in a pre-modern, poor world, life expectancy was around 30 years in all regions of the world. Life expectancy has increased rapidly since the Age of Enlightenment. In the early 19th century, life expectancy started to increase in the early industrialized countries while it stayed low in the rest of the world. […] Since 1900 the global average life expectancy has more than doubled and is now above 70 years.« (Max Roser, Esteban Ortiz-Ospina and Hannah Ritchie (2013) – »Life Expectancy«. Published online at OurWorldInData.org. Retrieved from: ›https://ourworldindata.org/life-expectancy‹ [Online Resource]) – Die einzige Ausnahme sind die USA, in denen seit einigen Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung wieder abgenommen hat. Es wird vermutet, dass dieser Rückgang maßgeblich durch die sogenannte Opioidkrise verursacht worden ist.

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Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

ber hinaus sind sie in der Regel auch über den Krankheitsverlauf, der ihnen bevorsteht, informiert. Daher wissen sie, dass sich ihre Situation weiter verschlechtern wird. Unter diesen Umständen stellen sich austherapierte Patienten immer häufiger die Frage, ob sie die letzten Wochen oder Monate, die ihnen verbleiben und die ihnen im Großen und Ganzen nur noch Leid bringen werden, durchstehen wollen oder ob es nicht besser für sie wäre, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Dies gilt nicht nur für austherapierte Krebspatienten, sondern auch für Menschen, die an bestimmten neurodegenerativen Krankheiten, wie etwa der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), leiden. Auch bei ihnen steht fest, dass Heilung unmöglich ist, und auch bei ihnen ist absehbar, dass sich ihr Zustand nur noch verschlechtern wird. Insbesondere müssen sie davon ausgehen, dass sie die Fähigkeit, sich zu bewegen und sich selbst zu versorgen, nach und nach einbüßen werden, sodass sie letztlich gänzlich und jederzeit auf fremde Hilfe angewiesen sein werden. Der absehbare und unvermeidliche Verlust der Selbstständigkeit führt bei einigen Patienten dazu, dass sie den vorzeitigen Tod einem Leben vorziehen, welches in ihren Augen nicht mehr lebenswert ist. 3 Der dritte Faktor, der dazu beigetragen hat, dass heute eine ethische Debatte über die Zulässigkeit der Sterbehilfe und der ärztlichen Suizidbeihilfe geführt wird, ist die veränderte gesellschaftliche Haltung zur Medizin. Der Grundsatz der Selbstbestimmung, der sich nach und nach auf immer mehr Gebieten des Zusammenlebens durchgesetzt hat, wird nun auch auf Patienten bezogen. Diese Entwicklung hat ihren Niederschlag darin gefunden, dass sich der Grundsatz der Patientenautonomie allmählich in allen modernen Rechtsstaaten durchgesetzt hat. Heute wird er in Staaten wie Deutschland öffentlich nicht mehr in Frage gestellt. Das Prinzip der Patientenautonomie besagt, dass an dem Körper eines Patienten keine Maßnahme ohne seine Einwilligung vorgenommen werden darf. Der Dies belegen die empirischen Daten, die in Oregon, dem ersten Bundesstaat der USA, in dem die ärztliche Beihilfe zum Suizid unter strengen Auflagen legalisiert wurde, alljährlich erhoben werden. Vgl. dazu etwa den derzeit neuesten Jahresbericht für das Jahr 2018 (Oregon Death with Dignity Act. Data Summary 2018). Unter den Gründen, die für den Sterbewunsch sprechen, wurde der Verlust der Selbstbestimmung (»loss of autonomy«) bei Weitem am häufigsten angeführt. Dabei waren Mehrfachnennungen möglich (vgl. Data Summary, S. 12) (https://www.oregon.gov/oha/ PH/PROVIDERPARTNERRESOURCES/EVALUATIONRESEARCH/DEATH WITHDIGNITYACT/Documents/year21.pdf, zuletzt abgerufen am 30. 01. 2020).

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Patient hat mit anderen Worten immer das Recht, eine Behandlung abzulehnen – selbst dann, wenn diese Behandlung nach dem Urteil der Mediziner indiziert ist und sich der Patient daher durch die Ablehnung selbst schadet. Aus dem speziellen Grundsatz der Patientenautonomie folgt in Bezug auf die Hilfe zum Sterben zunächst nur, dass Patienten auch das Recht haben, lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen. Wenn man einen Schritt weiter geht und das allgemein anerkannte Recht auf Selbstbestimmung auf den eigenen Tod anwendet, dann stellt sich die Frage, ob Patienten unter Umständen nicht auch das Recht haben sollten, über den Zeitpunkt ihres Todes und die Art und Weise ihres Sterbens selbst zu entscheiden. In ihrem Zusammenspiel haben die drei genannten Faktoren, der rasante Fortschritt der Medizin, die Alterung der Bevölkerung und der Siegeszug des Prinzips der Selbstbestimmung, dazu geführt, dass sich die Forderung nach dem »Recht auf den eigenen Tod«, wie man oft irreführenderweise sagt, 4 nicht länger ignorieren ließ. Diese Forderung stößt allerdings bis zum heutigen Tag in vielen Staaten auf erbitterten Widerstand. Ebenso wie diejenigen, die sich für die Zulassung der Sterbehilfe und der ärztlichen Beihilfe zum Suizid einsetzen, können die Gegner der Legalisierung gute Gründe für ihre Ablehnung anführen. Zunächst einmal ist die Beteiligung von Ärzten an der Herbeiführung des Todes von Patienten unvereinbar mit der traditionellen Auffassung von den Aufgaben der Medizin. Bis vor wenigen Jahrzehnten herrschte Einigkeit darüber, dass die Medizin unter allen Umständen der Pflicht unterliegt, menschliches Leben zu erhalten. Es galt jahrtausendelang als ausgemacht, dass Ärzte niemals ihre Patienten töten dürfen und dass sie ihnen auch niemals dabei helfen dürfen, sich zu töten. Diese Überzeugung ist noch heute weit verbreitet. Sie findet sich in zahlreichen Stellungnahmen von Ärzteorganisationen und anderen Institutionen. Zweitens widerspricht die Forderung nach der Legalisierung der Sterbe- oder der Suizidbeihilfe der christlichen Moral. Genauer gesagt, widerspricht sie einer bestimmten, sehr einflussreichen Interpretation der christlichen Moral. Abgesehen von wenigen Ausnah-

Warum dieser Ausdruck irreführend ist, habe ich an anderer Stelle dargelegt (vgl. Héctor Wittwer, Das Leben beenden. Über die Ethik der Selbsttötung, Paderborn 2020, S. 143).

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Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

men, kann man sagen, dass die Sterbehilfe und die ärztliche Beihilfe zum Suizid bis zum heutigen Tag sowohl von der Katholischen Kirche als auch von den Evangelischen Kirchen ausdrücklich missbilligt werden. Die Ablehnung der Hilfe zum Sterben beschränkt sich nicht auf den Klerus. Sie wird von vielen Laien geteilt; unter ihnen befinden sich etliche einflussreiche Politiker. Drittens wurde seit Beginn der Debatte über die Hilfe zum Sterben von den Gegnern der Legalisierung immer wieder darauf hingewiesen, dass die rechtliche Freigabe der Hilfe zum Sterben mit erheblichen Risiken verbunden ist. Erstens lasse sich der Missbrauch bestimmter rechtlicher Erlaubnisse nicht wirksam verhindern. Und zweitens bestehe die Gefahr, dass die Gesellschaft, sobald sie eine Form der Hilfe zum Sterben zulasse, auf eine schiefe Ebene gerate und auf dieser von dem, was moralisch möglicherweise vielen als vertretbar erscheine, wie etwa der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, unmerklich zur Zulassung von Handlungsweisen abgleite, die sich moralisch zweifellos nicht rechtfertigen ließen, wie beispielsweise der Tötung von Patienten, die nicht mehr bei Bewusstsein sind, auf deren mutmaßlichen Wunsch hin. Um Letzteres (die Tötung von Patienten ohne ausdrückliche Zustimmung) zu verhindern, müsse Ersteres (die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung) strikt verboten bleiben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gegner der Legalisierung der Hilfe zum Sterben vor allem drei Arten von Gründen gegen die rechtliche Freigabe der Sterbehilfe oder der ärztlichen Suizidbeihilfe vorbringen. Erstens berufen sie sich auf die Aufgaben und das sogenannte innere Ethos der Medizin. Es gehöre zum Wesen der Medizin, dass Ärzte ihre Patienten niemals töten und diesen auch niemals beim Suizid helfen dürften. Zweitens verweisen sie auf bestimmte moralische Grundsätze wie etwa die Unantastbarkeit oder die Heiligkeit des menschlichen Lebens. In diesem Zusammenhang berufen sich Kritiker der Legalisierung häufig auf die christliche Moral, sei es ausdrücklich oder implizit. Schließlich werden die Risiken, die mit der Legalisierung der Hilfe zum Sterben verbunden wären, gegen diese ins Feld geführt.

15 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer

2.

Die Tendenz zur Liberalisierung und der Widerstand gegen sie

Wie fast alle Diskussionen innerhalb der Angewandten Ethik, so zielt auch die Debatte über die Zulässigkeit der Hilfe zum Sterben auf die Gesetzgebung ab. Beide Parteien, sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Sterbe- und Suizidbeihilfe, verfolgen das Ziel, die Gesetzeslage zu beeinflussen. Entweder treten sie dafür ein, dass das geltende Recht in Bezug auf die Sterbe- und Suizidbeihilfe geändert wird, oder sie setzen sich dafür ein, dass das Recht so bleibt, wie es ist. Diese Ausrichtung auf die Beeinflussung der Gesetzgebung unterscheidet die philosophische und medizinethische Diskussion über die Hilfe zum Sterben von der Individualethik. Die Angewandte Ethik ist in diesem Fall »Kampf ums Recht«, um eine bekannte Formulierung von Rudolf von Jhering zu zitieren. 5 In diesem Zusammenhang ist nun die Tatsache von Interesse, dass die öffentlichen Debatten über die Hilfe zum Sterben in einigen Fällen dazu geführt haben, dass die einschlägigen Gesetze geändert worden sind. Dabei lässt sich zweierlei festhalten. Erstens lässt sich im Hinblick auf die Entwicklungen in der Welt eine eindeutige Tendenz zur Liberalisierung der Gesetzgebung über Sterbe- und Suizidbeihilfe konstatieren, und zweitens wird dieser Tendenz in Deutschland vonseiten der Politik starker Widerstand entgegengesetzt. Seit Ende der 1990er Jahre haben einige Staaten und Bundesstaaten die eine oder andere Form der Hilfe zum Sterben unter bestimmten Bedingungen zugelassen. In Europa waren dabei die Niederlande und Belgien die Vorreiter. Nachdem die Praxis der ärztlichen Sterbehilfe in den Niederlanden zuvor schon einige Jahre lang von den Gerichten toleriert worden war, wurden im Jahr 2002 durch ein entsprechendes Gesetz sowohl die direkte aktive Sterbehilfe, d. h. die Tötung auf Verlangen, als auch die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Dabei ist die Strafbarkeit der beiden Handlungsweisen nicht aufgehoben worden. Sterbe- und Suizidbeihilfe sind in den Niederlanden nach wie vor grundsätzlich strafbar. Sie bleiben jedoch straffrei, sofern bestimmte Sorgfaltskriterien eingehalten worden sind. Ärzte, die Sterbehilfe oder Beihilfe zur Selbsttötung geleistet haben, müssen dies melden und ausführlich nachweisen, dass sie die genannten Anforderungen erfüllt haben. 5

Vgl. Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht [1872], Frankfurt am Main 82003.

16 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

In Belgien ist man dem niederländischen Modell im Großen und Ganzen gefolgt. Allerdings ist hier die Suizidbeihilfe nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt worden. In der Praxis wird sie aber offenbar von den Gerichten toleriert, wenn die Auflagen, die für die Sterbehilfe gelten, eingehalten worden sind. Inzwischen ist die Tötung eines Patienten auf dessen Wunsch hin auch in Luxemburg erlaubt worden. In der Schweiz dürfen Ärzte unter der Bedingung Beihilfe zur Selbsttötung leisten, dass ihre Handlung nicht durch selbstsüchtige Gründe motiviert wird. Die Tötung auf Verlangen ist dort hingegen weiterhin verboten. Auch außerhalb Europas lässt sich inzwischen die Tendenz zur Liberalisierung der Gesetzgebung zur Hilfe zum Sterben konstatieren. In den USA ist die ärztliche Beihilfe zum Suizid mittlerweile in zehn Bundesstaaten gesetzlich erlaubt worden, davon in neun Bundesstaaten durch ein Gesetz: Kalifornien, Colorado, District of Columbia, Hawaii, Maine, New Jersey, Oregon, Vermont und Washington. In Montana ist die Legalisierung durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs bewirkt worden. Der erste Bundesstaat, der die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung rechtlich zuließ, ist Oregon. Dort wurde das entsprechende Gesetz bereits 1997 verabschiedet. Der Staat Washington folgte bald darauf. Diese beiden Bundesstaaten sind insofern von besonderem Interesse für die ethische Debatte über die Hilfe zum Sterben, als in ihnen in jedem Jahr die Daten über die geleisteten Fälle von ärztlicher Suizidbeihilfe im Detail gesammelt und in Berichten veröffentlicht werden. Diesen Berichten lassen sich Anhaltspunkte im Hinblick darauf entnehmen, ob sich die unheilvollen Tendenzen, die von den Gegnern der Suizidbeihilfe als Wirkungen der Legalisierung befürchtet werden, tatsächlich empirisch nachweisen lassen. Die Tendenz zur Liberalisierung der Gesetzgebung über die Hilfe zum Sterben beschränkt sich nicht auf Europa und die USA. Kanada hat im Jahr 2016 ein Gesetz verabschiedet, durch welches unter bestimmten Bedingungen sowohl die Tötung auf Verlangen als auch die Beihilfe zum Suizid erlaubt werden. Mittlerweile haben auch zwei australische Bundesstaaten, nämlich Victoria und Western Australia, die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung zugelassen. Die Tötung auf Verlangen ist dort jedoch weiterhin verboten. – Wie dieser knappe Überblick zeigt, haben sich die Befürworter der Legalisierung der Hilfe zum Sterben in den letzten 25 Jahren in etlichen Staaten und Bundesstaaten durchgesetzt. Auf der anderen Seite muss jedoch festgehalten werden, dass die 17 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer

Liberalisierung der Gesetzgebung zu Sterbe- und Suizidbeihilfe in anderen Staaten zu einer Reaktion in Deutschland geführt hat, die darauf abzielt, die rechtliche Freigabe der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung zu verhindern. Hierzulande wurde nach einer langen und kontroversen Diskussion Ende 2015 ein neuer Paragraph des Strafgesetzbuches erlassen, der § 217 StGB, durch welchen die sogenannte »geschäftsmäßige« Beihilfe zur Selbsttötung sowie die »geschäftsmäßige« Förderung und Vermittlung derselben unter Strafe gestellt wurden. Zwar blieb die Suizidbeihilfe gemäß Absatz 2 dieses Paragraphen unter bestimmten Umständen straffrei. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das neue Gesetz alles in allem zu einer restriktiveren Regelung der Beihilfe zur Selbsttötung führte, weil diese bis dahin strafrechtlich überhaupt nicht reguliert gewesen war. Allerdings hatte dieses Gesetz nicht lange Bestand. Aufgrund mehrerer Klagen gegen den neuen Paragraphen musste dessen Verfassungsmäßigkeit gerichtlich überprüft werden. In letzter Instanz hat das Bundesverfassungsgericht den neuen § 217 StGB in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 für verfassungswidrig erklärt: »Die Vorschrift ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.« 6 In der Begründung dieses Urteils stützt sich das Bundesverfassungsgericht erstens auf die Annahme, dass das Recht auf Selbstbestimmung auch das Recht umfasst, sich zu töten: Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. 7

Darüber hinaus hält das Gericht ausdrücklich fest, dass zu dem Recht, das eigene Leben zu beenden, auch das Recht gehört, sich beim Suizid von anderen Menschen helfen zu lassen: »Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür Hilfe bei Dritten zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.« 8 Schließlich vertritt das Gericht die Auffassung, dass sich das

BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15, 2 BvR 2527/16, 2 BvR 2354/16, 2 BvR 1593/16, 2 BvR 1261/16, 2 BvR 651/16 – Rn. (1–343), http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html, S. 6. 7 Ebd., S. 1. 8 Ebd. 6

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Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

Recht auf Selbsttötung und auf die Inanspruchnahme von Suizidbeihilfe aus der in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes festgeschriebenen Garantie der Unantastbarkeit der Menschenwürde ableiten lässt: Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt. […] Zwar ist das Leben die vitale Basis der Menschenwürde […]. Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine auf einen freien Willen zurückgehende Selbsttötung der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde widerspräche. Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck der Würde. 9

Der Versuch, die Freiheit der Hilfe zum Sterben in Deutschland durch ein rechtliches Verbot einzuschränken, ist somit zumindest vorerst gescheitert. Allerdings ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehbar, welche der beiden hier skizzierten Tendenzen in der Zukunft die Oberhand gewinnen wird. Voraussichtlich werden die öffentlichen Diskussionen über die moralische Beurteilung der Hilfe zum Sterben nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo fortgeführt werden. Diese Auseinandersetzungen können nur dann auf rationale Weise ausgetragen werden, wenn die Argumente für und gegen die Zulassung der Sterbehilfe und der Beihilfe zum Suizid hinreichend bekannt sind.

3.

Die alte Terminologie zur Sterbehilfe und die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten

Seit den 1970er Jahren hat sich in den ethischen Debatten über die Zulässigkeit der Sterbehilfe eine Terminologie eingebürgert, die bis in die Gegenwart hinein weit verbreitet ist. Heute herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass diese Terminologie unklare Unterscheidungen enthält und dass die Begriffe für die Bezeichnung der einzelnen Arten der Sterbehilfe in verschiedenen Hinsichten irrefüh9

Ebd., S. 63.

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Héctor Wittwer

rend sind. Deshalb haben einige Institutionen, wie etwa in Deutschland die Bundesärztekammer, empfohlen, die alte Terminologie nicht mehr zu gebrauchen. Dennoch muss die alte Terminologie in der Einleitung zu der vorliegenden Anthologie vorgestellt werden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist ihre Kenntnis unabdingbar für das Verständnis zahlreicher Diskussionsbeiträge. Zweitens hat sie sich ungeachtet der Empfehlung, sie nicht mehr zu verwenden, so im allgemeinen Sprachgebrauch festgesetzt, dass man sie nicht ohne Weiteres wieder aufgeben kann. Wenn bestimmte Begriffe einmal Eingang in die Bildungssprache gefunden haben, ist es schwer, sie durch andere zu ersetzen. Aus den genannten Gründen soll die alte Terminologie mitsamt den mit ihr verbundenen Schwierigkeiten hier in aller Kürze vorgestellt werden. Diese Begrifflichkeit umfasst zwei Unterscheidungen, die nach verschiedenen Gesichtspunkten getroffen werden. Was zunächst das Verhalten der Ärzte betrifft, so hat es sich eingebürgert, folgende Unterscheidungen zu treffen: Sterbehilfe (in Bezug auf das Handeln der Ärzte)

aktive

direkte

passive

indirekte

Wie diese Unterscheidungen genau zu verstehen sind, ist leider alles andere als klar. Glücklicherweise herrscht zumindest darüber weitgehend Einigkeit, was jeweils paradigmatische Beispiele für die Typen der Sterbehilfe sind. Anhand dieser paradigmatischen Fälle lassen sich die Unterschiede zwischen den einzelnen Arten der Sterbehilfe bestimmen. Anders als die Gegenüberstellung der Attribute »aktiv« und »passiv« vermuten lässt, beruht die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nicht auf der Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen. Bei dem paradigmatischen Fall der sogenannten passiven Sterbehilfe, der Einstellung der künstlichen Ernährung bei einem Wachkomapatienten, muss die Ärztin oder die Krankenschwester etwas tun. Sie muss die Magensonde entfernen oder die 20 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

künstliche Ernährung durch eine andere Handlung beenden. Die Zusätze »aktiv« und »passiv« sind also irreführend. Die Feststellung, dass die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nicht auf der Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen beruht, wirft die Frage auf, worin denn die wesentliche Differenz zwischen den beiden Typen besteht. In Bezug auf diese Frage haben sich zwei Vorschläge als besonders einflussreich erwiesen. Gemäß dem ersten Vorschlag liegt eine aktive Sterbehilfe dann vor, wenn der Arzt den Patienten tötet. Um eine passive Sterbehilfe handle es sich hingegen dann, wenn eine Ärztin die Patientin sterben lasse. Diesem Vorschlag liegt der Gedanke zugrunde, dass bei der passiven Sterbehilfe der Tod nicht durch das Handeln der Ärzte, sondern durch eine andere Ursache bewirkt werde. Dies lässt sich anhand des Beispiels der Wachkomapatienten erläutern. Diese Patienten sind aufgrund ihrer permanenten Bewusstlosigkeit nicht mehr imstande, selbstständig Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Ohne künstliche Ernährung würden sie daher nach einigen Tagen verdursten. Dies wäre der »natürliche Krankheitsverlauf«. Durch die Einleitung der künstlichen Ernährung sei nun zunächst ein Hindernis für den natürlichen Krankheitsverlauf und den natürlicherweise einsetzenden Sterbeprozess errichtet worden. Wenn nun ein Arzt die künstliche Ernährung wieder einstelle, dann entferne er nur ein von ihm selbst errichtetes künstliches Hindernis für das Sterben. Danach führe der natürliche Verlauf der Krankheit zum Tod. Nicht der Arzt töte den Patienten, vielmehr sterbe dieser an den Folgen seiner Krankheit oder Verletzung. Der Arzt lasse ihn nur sterben. Falls die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe tatsächlich eine Spezifizierung der Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen sein sollte, würde ihre unterschiedliche rechtliche Bewertung in vielen Staaten auf der Annahme beruhen, dass Töten verwerflicher ist als Sterbenlassen. Dies ist nur dann möglich, wenn zwischen Töten und Sterbenlassen in moralischer Hinsicht mindestens ein wesentlicher Unterschied besteht. Diese Annahme ist von James Rachels und Michael Tooley in zwei einflussreichen Aufsätzen mittels plausibel erscheinender Gegenbeispiele bestritten worden. 10 Sie vertreten die These, dass zwischen dem Töten und dem Sterbenlassen kein wesentlicher moralischer Unterschied besteht. Da Vgl. dazu in diesem Band die Zusammenfassung zu Rachels’ Aufsatz (Héctor Wittwer: »James Rachels’ Aufsatz ›Aktive und passive Sterbehilfe‹ : eine Zusammen-

10

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Héctor Wittwer

sie außerdem von der Voraussetzung ausgehen, dass die Differenzierung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe auf der Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen beruht, kommen sie zu dem Schluss, dass sich die unterschiedliche moralische und rechtliche Bewertung dieser beiden Arten der Sterbehilfe nicht rechtfertigen lässt. Entweder müssten beide erlaubt oder beide verboten sein. In der Auseinandersetzung mit der Kritik von Rachels und Tooley ist bestritten worden, dass der Gegensatz zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe etwas mit dem Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen zu tun habe. Stattdessen beruhe diese Differenzierung auf der Unterscheidung zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Behandlungsmaßnahmen. Unter »gewöhnlichen« Behandlungsmaßnahmen 11 versteht man dabei solche, die erfahrungsgemäß zur Heilung einer Krankheit führen, als »außergewöhnlich« gelten im Gegensatz dazu Behandlungsmaßnahmen, die erfahrungsgemäß nicht zur Heilung des Patienten führen. Ein einschlägiges Beispiel für eine gewöhnliche Behandlung ist die operative Entfernung eines Magengeschwürs, ein paradigmatisches Beispiel für außergewöhnliche Behandlungsmaßnahmen sei die künstliche Ernährung bei Wachkomapatienten. Die Einstellung oder Unterlassung außergewöhnlicher Maßnahmen sei deshalb moralisch nicht geboten, weil es keine Pflicht gebe, menschliches Leben unter allen Umständen zu verlängern. Hingegen sei der Verzicht auf gewöhnliche Behandlungsmaßnahmen stets moralisch unzulässig, weil er zu einer Schädigung des Patienten führe. Ihm werde eine Therapie vorenthalten, die zur Heilung seiner Krankheit oder gar zur Erhaltung seines Lebens geführt hätte. Zusammenfassend lässt sich zur Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe sagen, dass keine Einigkeit darüber besteht, wie diese beiden Typen im Detail zu unterscheiden sind. Konsens herrscht nur darüber, dass diese Unterscheidung nicht auf dem Gegensatz zwischen Handeln und Unterlassen beruht. Wenn der Unterschied zwischen den beiden Arten der Sterbehilfe näher bestimmt werden soll, dann muss geklärt werden, wie sich die folgenden drei begrifflichen Gegensätze zueinander verhalten und ob sie miteinander zusammenhängen: fassung«, S. 39–47) sowie die deutsche Übersetzung von Tooleys Aufsatz (»Ein irrelevanter Gesichtspunkt: Töten versus Sterbenlassen«, S. 48–57). 11 Vgl. dazu in diesem Band den Aufsatz von Steinbock, »Die absichtliche Beendigung des Lebens«, S. 67–79.

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Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

aktive Sterbehilfe Töten gewöhnliche Behandlungsmaßnahmen

passive Sterbehilfe Sterbenlassen außergewöhnliche Behandlungsmaßnahmen

Innerhalb der aktiven Sterbehilfe wird nochmals zwischen direkter aktiver und indirekter aktiver Sterbehilfe unterschieden. Obwohl dies häufig anders dargestellt wird, handelt es sich bei der indirekten Sterbehilfe also nicht um einen dritten Typ neben aktiver und passiver Sterbehilfe, sondern um eine Unterart der aktiven Sterbehilfe. Gemäß der herrschenden Meinung besteht der wesentliche Unterschied zwischen der direkten und der indirekten Sterbehilfe darin, dass bei der direkten Sterbehilfe der Arzt den Tod des Patienten beabsichtigt oder absichtlich herbeiführt, während er bei der indirekten Sterbehilfe etwas anderes beabsichtige, nämlich die Linderung der Schmerzen des Patienten, und das Risiko, dass er dadurch den vorzeitigen Tod der Patientin herbeiführe, nur als unerwünschte Nebenfolge in Kauf nehme. Der paradigmatische Fall der sogenannten indirekten aktiven Sterbehilfe wird gewöhnlich so dargestellt: Eine Ärztin möchte einem austherapierten Krebspatienten, der unter sehr starken Schmerzen leidet, helfen. Um seine Schmerzen zu lindern, ist es nötig, die Dosis des schmerzstillenden Medikaments nach und nach zu erhöhen. Die Ärztin weiß, dass diese Erhöhung mit dem Risiko verbunden ist, dass dadurch der Tod des Patienten früher eintreten könnte als ohne die palliative Behandlung. Sie nimmt dieses Risiko jedoch nur billigend in Kauf. Ihre Absicht bestehe hingegen darin, die Schmerzen des Patienten zu lindern. Aus dieser Darstellung der herrschenden Meinung geht hervor, dass es möglich ist, dass, obwohl zwei Ärztinnen genau das Gleiche tun und dadurch den Tod ihrer Patientinnen bewirken, die eine von ihnen direkte und die andere indirekte Sterbehilfe leistet. Der Unterschied zwischen ihren Handlungen liegt nicht in den Körperbewegungen, die sie ausführen, sondern in ihren Absichten. Dass sich die unterschiedliche moralische Bewertung von äußerlich gleichen Handlungsweisen nur anhand verschiedener Intentionen begründen lässt, ist jedoch von Judith Jarvis Thomson und anderen bestritten worden. 12 Vgl. die deutsche Übersetzung von Thomsons Aufsatz in diesem Band: »Ärztliche Beihilfe zum Suizid. Zwei moralische Argumente«, S. XX-XX.

12

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Héctor Wittwer

Die zweite geläufige Unterscheidung zwischen Arten der Sterbehilfe betrifft nicht das Verhalten der Ärzte, sondern den Sterbewunsch der Patienten. Je nachdem, ob und wie dieser Wunsch geäußert worden ist, unterscheidet man zwei oder drei Arten der Sterbehilfe: Sterbehilfe (in Bezug auf den Sterbewunsch der Patienten)

freiwillige

nicht freiwillige

[unfreiwillige]

Von freiwilliger Sterbehilfe spricht man dann, wenn der Patient den Wunsch zu sterben unmittelbar vor seiner Tötung ausdrücklich geäußert hat. Voraussetzung dafür ist, dass er noch bei Bewusstsein gewesen ist. Von nicht freiwilliger Sterbehilfe ist hingegen dann die Rede, wenn die Patientin zwar unmittelbar vor ihrer Tötung den Sterbewunsch nicht mehr äußern konnte, z. B. weil sie nicht mehr bei Bewusstsein war, wenn aber andere Menschen aufgrund früherer Äußerungen der Patientin zu dem Schluss gekommen sind, dass sie unter den gegebenen Umständen nicht mehr weiterleben will. Grundlage der Entscheidung zur Sterbehilfe ist hier nicht der aktuale Wille (wie bei der freiwilligen Sterbehilfe), sondern der mutmaßliche Wille der Patientin. Wie diese Erläuterung zeigt, sind die Ausdrücke »freiwillige Sterbehilfe« und »nicht freiwillige Sterbehilfe« ebenso wie »aktive« und »passive Sterbehilfe« ausgesprochen unglücklich gewählt worden. Wörtlich verstanden, würde ja die Rede von der freiwilligen und der nicht freiwilligen Sterbehilfe besagen, dass Ärzte freiwillig oder nicht freiwillig – was immer das hier auch heißen mag – einem Patienten bei der Herbeiführung des Todes helfen. Dies ist aber gar nicht gemeint. Stattdessen bezieht sich die Unterscheidung auf den Sterbewunsch des Patienten. Gelegentlich wird neben der freiwilligen und der nicht freiwilligen Sterbehilfe ein weiterer Typ genannt: die sogenannte unfreiwillige Sterbehilfe. Sie liegt angeblich dann vor, wenn eine Ärztin einen Patienten tötet, obwohl dieser nicht sterben, sondern weiterleben will. Meiner Meinung nach handelt es sich bei der »unfreiwilligen Sterbehilfe« um ein hölzernes Eisen, also um einen begrifflichen Selbstwiderspruch. Helfen kann man jemandem nur bei etwas, was dieser Mensch selbst erreichen will. Daher kann man einem 24 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

Menschen, der weiterleben will, nicht beim Sterben helfen. Die richtige Bezeichnung für die Tötung eines Patienten gegen dessen Willen lautet nicht »Sterbehilfe«, sondern »Mord«. 13 Die Unterscheidung zwischen freiwilliger und nicht freiwilliger Sterbehilfe ist vor allem im Hinblick darauf relevant, welche ethischen Positionen innerhalb der Debatte über die Zulässigkeit der Hilfe zum Sterben möglich sind. Dies kann man verdeutlichen, indem man die verschiedenen Typen der Hilfe zum Sterben anhand des Grades ihrer moralischen Umstrittenheit in folgende Anordnung bringt: (1) passive Sterbehilfe (2) ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung (3) freiwillige direkte aktive Sterbehilfe (4) nicht freiwillige direkte aktive Sterbehilfe Am wenigsten umstritten ist die sogenannte passive Sterbehilfe, der größte Widerstand wird der nicht freiwilligen direkten aktiven Sterbehilfe, d. h. der Tötung auf mutmaßliches Verlangen bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten, entgegengesetzt. – Je nachdem, welche der genannten Handlungsweisen rechtlich erlaubt oder verboten sein sollen, lassen sich nun zwei extreme und zwei gemäßigte ethische Positionen unterscheiden: Die restriktive Extremposition: Alle Formen der Hilfe zum Sterben, also auch der Behandlungsabbruch bei Patienten ohne Aussicht auf Heilung, sollen rechtlich verboten sein. Diese Auffassung wird nur selten vertreten. 14 Die liberale Extremposition: Alle Formen der Hilfe zum Sterben sollen unter bestimmten Auflagen erlaubt sein, also auch die Tötung eines Patienten nur auf dessen mutmaßlichen Willen hin. Diese Auffassung liegt der Praxis in den Niederlanden und Belgien zugrunde. 15 Die gemäßigte restriktive Position: Die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung sollte rechtlich zugelassen werden. Hingegen muss die direkte aktive Sterbehilfe verboten bleiben, weil sie eine Form der Fremdtötung darstellt, die unter das allgemein anerkannte Tötungs-

Vgl. zur Kritik an dem Ausdruck »unfreiwillige Sterbehilfe« v. Verf., Das Leben beenden, a. a. O., S. 203. 14 Vgl. z. B. Robert Spaemann, »Es gibt kein gutes Töten«, in diesem Band, S. 271–284. 15 Vgl. dazu in diesem Band Norbert Hoerster, »Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?«, S. 146–168. 13

25 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer

verbot fällt, und ihre Zulassung mit unbeherrschbaren Risiken verbunden wäre. 16 Die gemäßigte liberale Position: Sowohl die ärztliche Beihilfe zum Suizid als auch die direkte aktive Sterbehilfe sollen legalisiert werden. Allerdings muss die Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen auf die Fälle beschränkt werden, in denen der Patient bei Bewusstsein und zurechnungsfähig ist und er seinen Sterbewunsch unmittelbar vor der Sterbehilfe ausdrücklich und unmissverständlich geäußert hat. Die Tötung auf Verlangen auf der Grundlage des sogenannten mutmaßlichen Willens eines Patienten ist unzulässig. Diese vier Positionen bilden das Spektrum der möglichen ethischen Beurteilung der Hilfe zum Sterben vollständig ab. Eine weitere Auffassung ist nicht möglich.

4.

Die neuen Terminologien und das Fortbestehen der sachlichen Probleme

Wie die Ausführungen im vorigen Abschnitt gezeigt haben, ist die alte Terminologie in verschiedenen Hinsichten ungenau und irreführend. Deshalb haben mehrere Institutionen vorgeschlagen, sie durch eine neue Begrifflichkeit zu ersetzen. So hat beispielsweise der Nationale Ethikrat, der Vorgänger des Deutschen Ethikrats, in einer im Jahr 2006 veröffentlichten Stellungnahme vorgeschlagen, folgende Begriffe zu gebrauchen 17: • •



Sterbebegleitung: Maßnahmen zur Pflege und Betreuung von Todkranken Therapien am Lebensende: »alle medizinischen Maßnahmen, einschließlich palliativmedizinischer Maßnahmen, die in der letzten Phase des Lebens erfolgen mit dem Ziel, Leben zu verlängern und jedenfalls Leiden zu mildern« 18 Sterbenlassen: liege vor, »wenn eine lebensverlängernde medizinische Behandlung unterlassen wird und dadurch der durch den

Für diese Auffassung argumentiere ich in meinem Buch Das Leben beenden, a. a. O. Vgl. Nationaler Ethikrat (Hg.), Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende. Stellungnahme, Berlin 2006, S. 53–55. 18 Ebd., S. 54. 16 17

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Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

• •

Verlauf der Krankheit bedingte Tod früher eintritt, als dies mit der Behandlung aller Voraussicht nach der Fall wäre« 19 Beihilfe zur Selbsttötung: Unterstützung bei der Vorbereitung und/oder der Durchführung des Suizids eines Patienten Tötung auf Verlangen: absichtliche Herbeiführung des Todes eines Patienten durch einen Arzt auf Wunsch des Ersteren

Einen anderen Vorschlag hat die Bundesärztekammer unterbreitet. Sie unterscheidet in ihren »Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung« von 2011 zwischen 20: • • • • • •

Änderung des Therapieziels von Heilung auf Symptomkontrolle Abbruch lebenserhaltender Therapien Unterlassen einer medizinischen Behandlung Begrenzung einer Therapie Beihilfe zur Selbsttötung Tötung auf Verlangen

Angesichts der eklatanten Unzulänglichkeiten der alten Terminologie sind diese Vorschläge zweifellos zu begrüßen. Sie tragen dazu bei, die in Frage stehenden Handlungsweisen genauer als zuvor zu bezeichnen, die relevanten Unterschiede zwischen ihnen präziser zum Ausdruck zu bringen und irreführende Konnotationen von vornherein zu vermeiden. Freilich wird man nicht erwarten dürfen, dass sich die sachlichen Probleme allein durch die Einführung einer neuen Terminologie lösen lassen. Begriffe sind stets nur Hilfsmittel für die Lösung theoretischer Probleme. Sie erleichtern die Arbeit, sind aber, für sich allein genommen, niemals hinreichend für die Lösung eines Problems. Dies gilt auch für die Hilfe zum Sterben. Selbst wenn sich alle Beteiligten auf eine bestimmte Terminologie geeinigt hätten, würde dies selbstverständlich nicht dazu führen, dass nun auch Konsens über die moralische Bewertung der in Frage stehenden Handlungsweisen bestünde. In ihrem Streit geht es letztlich nicht nur um Worte, sondern um sachliche Probleme. Ebd. Vgl. Bundesärztekammer, »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, Deutsches Ärzteblatt, 108 (2011), Heft 7, S. A 346–A 348, hier S. A 346.

19 20

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Welche sind dies? – Die folgende Liste, die nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden ist, enthält die wichtigsten ethischen Fragen hinsichtlich der Hilfe zum Sterben: Kann es moralisch erlaubt sein, sich zu töten?: Wenn diese Frage verneint wird, dann erübrigt sich die Diskussion darüber, ob Ärzte Patienten bei deren Selbsttötung unterstützen dürfen, weil die Hilfe bei einer moralisch verbotenen Handlung selbst ebenfalls moralisch verboten ist. Daher muss zuerst geprüft werden, ob Menschen sich überhaupt töten dürfen. Nur wenn diese Frage bejaht wird, stellt sich das zweite Problem. Dürfen Ärzte Patienten unter Umständen beim Suizid unterstützen?: Hier ist zunächst zu klären, ob die Hilfe zur Selbsttötung mit dem Ethos der Medizin vereinbar ist. Wenn diese Frage positiv beantwortet wird, muss im nächsten Schritt geklärt werden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung zulässig ist. Sind Ärzte dazu verpflichtet, das Leben eines Patienten auch dann zu erhalten, wenn keine Aussicht auf Heilung besteht?: Diese Frage hängt offensichtlich untrennbar mit der Frage nach den Pflichten der Ärztinnen und Ärzte im Zeitalter der Hochleistungsmedizin zusammen. Außerdem berührt sie die Frage, was das Leben eines Menschen aus dessen eigener Sicht lebenswert macht: Ist es nur das bloße Weiterleben unabhängig davon, ob noch Bewusstsein vorliegt, oder das bewusst geführte Leben? Dürfen Ärzte das Leben von Patienten auf deren Wunsch hin beenden?: Auch in diesem Fall muss geprüft werden, ob die Tötung auf Verlangen durch Mediziner mit dem Ethos des Medizin vereinbar ist. Möglicherweise muss dieses Ethos auch an die enorm angewachsenen Möglichkeiten der Medizin angepasst werden. Die Medizin kann das ethische Problem der Hilfe zum Sterben nicht einfach von sich weisen und so tun, als ob sie mit seiner Entstehung nichts zu tun hätte. Es steht außer Frage, dass das Problem der Sterbehilfe zumindest teilweise eine unerwünschte Nebenfolge des medizinischen Fortschritts ist. In den typischen Fällen tritt der Sterbewunsch nämlich bei Patienten auf, die heutzutage – im Unterschied zur Vergangenheit – mit den Mitteln der Medizin am Leben erhalten werden können, für die aber 28 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

zweifelhaft ist, ob sie um jeden Preis weiterleben wollen. Es könnte sein, dass das, was Ärzte tun dürfen und sollen, teilweise davon abhängt, welche Handlungsmacht sie über ihre Patienten haben. Müssen das Sterbenlassen und die Tötung auf Verlangen moralisch gleich oder unterschiedlich bewertet werden?: In vielen Rechtssystemen, wie etwa demjenigen der Bundesrepublik Deutschland, werden das Sterbenlassen eines todkranken Patienten (Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen) und die Tötung eines todkranken Patienten (Tötung auf Verlangen) unterschiedlich bewertet. Diese rechtliche Ungleichbehandlung ist aber möglicherweise nur dann gerechtfertigt, wenn Töten und Sterbenlassen auch moralisch unterschiedlich beurteilt werden müssen. Worin besteht der wesentliche moralische Unterschied zwischen ihnen? Gibt es ihn überhaupt? Diese Probleme bilden den Gegenstand der ethischen Debatten über die Hilfe zum Sterben.

5.

Zwischen Abwehrrechten und Anspruchsrechten: Um welche Art von Rechten geht es in der Debatte?

Ein Grund dafür, dass die Vertreter der entgegengesetzten Positionen häufig aneinander vorbeireden, besteht darin, dass keine Einigkeit darüber besteht, um welche Art von Recht es in der Debatte über die Zulässigkeit der Hilfe zum Sterben geht. Wie sich gleich zeigen wird, hängt der Gang der ethischen Argumentation maßgeblich davon ab, wie diese Ausgangsfrage beantwortet wird. Gewöhnlich unterscheidet man innerhalb der ethischen Debatte über die Hilfe zum Sterben zwei Arten von Rechten: Abwehrrechte (engl.: liberties) und Anspruchsrechte (engl.: claim rights). Unter einem Abwehrrecht versteht man gewöhnlich das Recht einzelner Menschen, etwas Bestimmtes zu tun, ohne dass sie andere Menschen oder der Staat daran hindern dürften. Ein typisches juridisches Abwehrrecht ist das Recht volljähriger und unverheirateter Menschen, einen Partner oder eine Partnerin zu heiraten. Wenn sich die beiden Heiratswilligen einig sind, dann darf sie niemand, sei es ein eifersüchtiger Nebenbuhler, seien es fundamentalistische Eltern oder der Staat, daran hindern, die Ehe zu schließen. Allerdings hat niemand das Recht darauf, dass der Staat ihm einen Partner oder eine Partnerin zuführt, wenn es ihm selbst nicht gelingt, ihn oder sie zu finden. Niemand darf beim Staat 29 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer

einen Ehepartner einklagen. Dies unterscheidet die bloßen Abwehrrechte von den sogenannten Anspruchs- oder Leistungsrechten. Bei ihnen handelt es sich um einklagbare Ansprüche der Einzelnen. Wenn eine Person ein Anspruchsrecht auf X hat, dann darf sie die Bereitstellung von X gerichtlich erwirken. Der Staat ist dann verpflichtet, dafür zu sorgen, dass X bereitgestellt wird. Es liegt auf der Hand, dass die Forderung nach der Legalisierung der Sterbe- und Suizidbeihilfe je nachdem, ob sie als Forderung nach Abwehr- oder Anspruchsrechten verstanden wird, unterschiedliche Implikationen hat. Wer sich für ein bloßes Abwehrrecht auf ärztliche Suizidbeihilfe einsetzt, der verlangt, dass es Patientinnen erlaubt sein soll, ärztliche Hilfe bei der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen, und dass Ärztinnen diese Unterstützung straffrei leisten dürfen. Er verlangt jedoch nicht, dass irgendein Arzt zur Suizidbeihilfe verpflichtet sein soll. Dies wäre nur dann der Fall, wenn es ein Anspruchsrecht, also einen einklagbaren Anspruch auf Hilfe zur Selbsttötung, gäbe. Wenn es dieses Anspruchsrecht gäbe, aber kein Arzt dazu bereit wäre, einen Suizid zu unterstützen, dann müsste der Staat notfalls einzelne Mediziner dazu zwingen, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten. Somit müsste der Staat die Freiheit der Ärzte beschränken, wenn er das Anspruchsrecht auf Hilfe zum Sterben durchsetzen wollte. Das bloße Abwehrrecht auf Hilfe zum Sterben ließe sich hingegen ohne eine Beschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Ärzte verwirklichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass einem Anspruchsrecht der Patienten auf Sterbe- oder Suizidbeihilfe die ärztliche Pflicht zur Sterbe- oder Suizidbeihilfe entspräche, dem bloßen Abwehrrecht auf Hilfe zum Sterben hingegen nicht. Daher ist die Beweislast größer, wenn man für ein Anspruchsrecht auf Sterbe- oder Suizidbeihilfe eintritt, als wenn man nur ein Abwehrrecht fordert, da im ersteren Fall gezeigt werden muss, warum das Selbstbestimmungsrecht der Ärztinnen und Ärzte massiv beschränkt werden darf. Es ist nun kennzeichnend für die ethische Debatte über die Hilfe zum Sterben, dass fast alle Befürworter der Legalisierung der Hilfe zum Sterben nur für ein Abwehrrecht auf Sterbe- oder Suizidbeihilfe eintreten und dass sie die Forderung nach einem entsprechenden Anspruchsrecht sogar ausdrücklich ablehnen. Dafür gibt es einen guten Grund. Wenn man nicht nur dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten, sondern auch dem Selbstbestimmungsrecht der Ärztinnen und Ärzte gerecht werden will, dann muss es jeder Ärztin freistehen, selbst darüber zu entscheiden, ob sie Sterbehilfe leistet oder einen 30 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

Suizid unterstützt. Darüber herrscht unter den Befürwortern der Legalisierung weitgehend Einigkeit. Die einzige prominente Ausnahme ist Margaret Pabst Battin. 21 Obwohl also die meisten Verfechter des Rechts auf den selbstbestimmten Tod in aller Regel explizit darauf hinweisen, dass es keine ärztliche Pflicht zur Sterbe- oder Suizidbeihilfe geben darf, behaupten die Gegner der Legalisierung häufig, dass die Befürworter ein solches Anspruchsrecht fordern. Durch diese nachweislich falsche Behauptung schüren sie Ängste, die jeder sachlichen Grundlage entbehren. Die »Mitteilung«, dass Ärztinnen und Ärzte angeblich dazu verpflichtet werden sollen, Hilfe zum Sterben zu leisten, verfehlt nur selten ihre rhetorische Wirkung auf die Leser oder Zuhörer. Eine sachliche Diskussion ist jedoch nur dann möglich, wenn beide Seiten jeweils möglichst genau angeben, für oder gegen welche Art von Recht sie argumentieren, und wenn die Gegenseite dies jeweils aufmerksam zur Kenntnis nimmt. Ansonsten werden einige der üblichen Einwände ihr Ziel von vornherein verfehlen, weil sie sich gegen eine Position richten, die von beinahe niemandem vertreten wird.

6.

Die Notwendigkeit der Abgrenzung von Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid

Sowohl in den öffentlichen Debatten als auch in den wissenschaftlichen Fachdiskussionen werden die Sterbehilfe und die Beihilfe zum Suizid häufig in einem Atemzug genannt und gemeinsam erörtert. Es gibt jedoch gute Gründe dafür, die beiden Handlungsweisen getrennt voneinander zu behandeln. Der erste und augenfälligste Unterschied zwischen ihnen betrifft die Frage, wer wen tötet. Bei der Sterbehilfe tötet ein Mensch einen anderen Menschen, bei der Selbsttötung ein Mensch sich selbst. Daher fällt zwar die Sterbehilfe, nicht aber die Unterstützung bei der Selbsttötung unter das allgemein anerkannte Tötungsverbot. Dieses besagt, dass es nicht erlaubt ist, einen anderen Menschen gegen seinen Willen zu töten. Die beiden allgemein anerkannten, berechtigten Ausnahmen von diesem Verbot sind die

Vgl. Margaret P. Battin, »Is a Physician Ever Obligated to Help a Patient Die?«, in: dies., Ending Life. Ethics and the Way We Die, Oxford/New York 2005, S. 88–107.

21

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Héctor Wittwer

Tötung in Notwehr und die Tötung des bewaffneten Gegners in einem gerechten Krieg. Da die Sterbehilfe unter das Tötungsverbot fällt, müssen diejenigen, die sich für die Legalisierung derselben einsetzen, überzeugende Gründe dafür anführen, warum die Sterbehilfe eine berechtigte Ausnahme vom Verbot der Fremdtötung bilden sollte. Wer sich hingegen darauf beschränkt, die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid zu fordern, muss diesen Nachweis nicht führen. Der zweite Unterschied betrifft das, was die Juristen als »Tatherrschaft« bezeichnen. Damit ist die Herrschaft über den Ablauf der tödlichen Handlung gemeint. Es liegt im Wesen der Sterbehilfe, dass die Patientin in einem bestimmten Augenblick die Tatherrschaft an die Ärztin übergeben muss. Ansonsten könnte diese keine Sterbehilfe leisten. Hinzu kommt in der Regel, dass die Patientinnen, bei denen Sterbehilfe geleistet wird, zunächst das Bewusstsein verlieren, bevor der Sterbeprozess einsetzt. Daher können sie ihre Entscheidung für die Sterbehilfe ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr rückgängig machen. Ganz anders verhält es sich bei der Hilfe zur Selbsttötung. Es liegt im Wesen des Suizids, dass der Patient den letzten, tödlichen Akt selbst vollziehen muss – sonst würde es sich nicht um eine Selbsttötung handeln. Im Unterschied zur Sterbehilfe erfordert die Beihilfe zum Suizid also, dass der Patient bis zum letzten Augenblick die Tatherrschaft behält. Dies kann er aber nur, wenn er bis zur Ausführung der tödlichen Handlung bei Bewusstsein ist. Bis dahin kann er seinen Entschluss jederzeit rückgängig machen. Der letzte Unterschied zwischen Sterbehilfe und Suizidbeihilfe hängt eng mit dem soeben genannten zusammen. Wenn man, wie es in den Niederlanden und Belgien der Fall ist, nicht nur die sogenannte freiwillige, sondern auch die nicht freiwillige Sterbehilfe zulässt, dann besteht die Gefahr, dass Ärzte Patienten auf deren mutmaßlichen Wunsch hin töten, obwohl diese zum Zeitpunkt ihres Todes weiterleben wollen oder gewollt hätten. Der Grund dafür besteht darin, dass die Ermittlung des mutmaßlichen Willens irrtumsanfällig ist. Die Menschen, die stellvertretend für die Patientin entscheiden, welchen Wunsch diese äußern würde, wenn sie sich noch äußern könnte, sind nicht immun gegen Irrtümer. Deshalb kann man, sobald auch die nicht freiwillige Sterbehilfe legalisiert worden ist, nicht mehr ausschließen, dass gelegentlich Menschen getötet werden, die nicht sterben wollen. Diese Gefahr darf nicht unterschätzt werden. – Im Falle der Beihilfe zur Selbsttötung ist hingegen von vornherein 32 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

ausgeschlossen, dass Menschen getötet werden, obwohl sie weiterleben wollen. Der Patient kann nämlich den letzten, tödlichen Akt nur dann ausführen, wenn sein Wunsch zu sterben hinreichend klar ausgeprägt ist. Aus diesem Vergleich geht hervor, dass einer der stärksten Einwände gegen die Zulassung der nicht freiwilligen Sterbehilfe auf die Hilfe zur Selbsttötung nicht zutrifft. Aus den genannten drei Gründen empfiehlt es sich, die Sterbehilfe und die Hilfe zur Selbsttötung separat zu erörtern. Warum, so kann man fragen, werden in der vorliegenden Anthologie dennoch beide Themen zugleich behandelt? Der Grund dafür ist, dass es sich nun einmal eingebürgert hat, beide Probleme häufig im Zusammenhang zu erörtern. Daran kann der Herausgeber dieser Auswahl nichts ändern. Man sollte allerdings beim Lesen und Nachdenken stets die Frage stellen, ob bestimmte Argumente auf beide Formen der Hilfe zum Sterben oder nur auf eine von beiden zutreffen.

7.

Ziel und Aufbau der vorliegenden Anthologie

Obwohl über die Zulässigkeit der Hilfe zum Sterben seit Jahrzehnten eine intensive öffentliche Debatte geführt wird, liegt bisher in deutscher Sprache kein repräsentativer Band vor, in dem die wichtigsten Diskussionsbeiträge versammelt wären. Mit der hier vorgelegten Anthologie soll diese Lücke geschlossen werden. Sie vereint wichtige und teilweise sehr einflussreiche Texte zur Ethik der Sterbehilfe und der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Einige der ursprünglich auf Englisch veröffentlichten Aufsätze erscheinen hier erstmals in deutscher Übersetzung. Mit der Herausgabe dieser Sammlung verfolge ich zwei Ziele. Erstens soll der Band all denen, welche die wichtigsten Argumente für und gegen die Legalisierung der beiden Arten der Hilfe zum Sterben kennenlernen wollen, einen handlichen Überblick über diese Argumente bieten. Nur diejenigen, welche die Gründe kennen, die von den Befürwortern und den Gegnern der Zulassung der Hilfe zum Sterben vorgebracht werden, können sich selbst ein wohlbegründetes Urteil über die Ethik der Sterbe- und Suizidbeihilfe bilden. Zweitens sollen beide Positionen gleichermaßen zu Wort kommen. Daher habe ich mich nach bestem Wissen und Gewissen darum bemüht, bei der Auswahl der Texte möglichst unparteilich zu verfahren. In jedem Teil 33 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer

werden Pro- und Kontraargumente gegenübergestellt, sodass die Leserinnen und Leser in die Debatte hereingezogen werden. Ich hoffe, dass ihnen die Kenntnis der verschiedenen Argumente dabei hilft, sich am Ende selbst ein Urteil über die Probleme zu bilden. Die Auswahl und die Anordnung der Texte orientieren sich an der Typologie der Argumente, die in Abschnitt 1 eingeführt wurde. In Teil I wird der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen und seine Relevanz für die Ethik der Hilfe zum Sterben diskutiert. James Rachels und Michael Tooley vertreten die These, dass es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen gibt. Da sie außerdem voraussetzen, dass die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe eine Spezifizierung der Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen ist, gelangen sie zu dem Ergebnis, dass es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Sterbehilfe gibt und dass diese daher moralisch und rechtlich gleich bewertet werden müssen: Entweder müssen beide erlaubt oder beide verboten sein. Thomas D. Sullivan und Bonnie Steinbock bestreiten hingegen, dass die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe auf der Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen beruht. Sie vertreten die Auffassung, dass zwischen den beiden Formen der Sterbehilfe wesentliche moralische Unterschiede bestehen, welche deren unterschiedliche moralische und rechtliche Bewertung rechtfertigen. Michael Quante schließlich vertritt erstens die These, dass sich keine kategorischen oder prinzipiellen Unterschiede zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe aufweisen lassen. Allerdings – so lautet seine zweite These – unterscheiden sich die passive, die indirekte aktive und die direkte aktive Sterbehilfe graduell im Hinblick auf ihren ethischen Rechtfertigungsbedarf. In Teil II sind Texte vereint, in denen prinzipielle Argumente für und gegen die Hilfe zum Sterben vorgebracht werden. Hier kommen zunächst die Befürworter des Rechts auf Hilfe zum Sterben zu Wort. Margaret P. Battin argumentiert dafür, dass das Recht, sich selbst zu töten, zu der Menge der natürlichen Rechte zählt, die durch die menschliche Würde konstituiert werden. Im nächsten Text vertritt Norbert Hoerster die Auffassung, dass nicht nur die direkte aktive Sterbehilfe auf ausdrücklichen Wunsch eines Patienten rechtlich erlaubt sein sollte, sondern dass unter bestimmten Umständen auch der mutmaßliche Wille des nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten als Rechtfertigungsgrund für Sterbehilfe ausreichen sollte. Gegen 34 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Einleitung: Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick

derartige Bestrebungen, die rechtlichen Verbote der Hilfe zum Sterben abzuschaffen oder einzuschränken, wenden sich die nächsten beiden Autoren. Leon R. Kass bestreitet, dass es ein Recht zu sterben gibt. Somit könne es auch kein Recht darauf geben, von anderen getötet zu werden. David Velleman stimmt darin mit Kass grundsätzlich überein. Allerdings konzentriert er sich in seiner Kritik an dem vermeintlichen Recht zu sterben auf die verbreitete Annahme, dass das Recht zu sterben im Recht auf Selbstbestimmung enthalten sei. Teil II endet mit einem einflussreichen Aufsatz von Judith Jarvis Thomson, in dem sie zwei verbreitete Argumente gegen die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid kritisch prüft und als unzulänglich verwirft. In Teil III stehen pragmatische Argumente gegen die rechtliche Freigabe der Hilfe zum Sterben im Mittelpunkt. Den Auftakt bildet hier ein ausgesprochen polemischer Text von Robert Spaemann, in welchem der Autor behauptet, dass die Zulassung der Tötung auf Verlangen nur die »Einstiegsdroge« für die Enttabuisierung der Ermordung von Menschen sei, deren Leben für »lebensunwert« gehalten werde. Spaemann bedient sich hier unter anderem einer weit verbreiteten Argumentationsform: des Arguments der schiefen Ebene. Sobald die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt sei, lasse sich nicht mehr verhindern, dass auch die Fremdtötung von Patienten auf deren Wunsch hin zugelassen werde. Und sobald dies geschehen sei, lasse sich das Abgleiten zur Ermordung von Menschen, deren Leben als minderwertig gelte, nicht mehr verhindern. Ob dieses Argument in Bezug auf die verschiedenen Formen der Sterbehilfe überzeugend angewandt werden kann, prüft Barbara Guckes im nächsten Beitrag. Dabei gelangt sie zu einer differenzierten Antwort auf diese Frage. Argumente der schiefen Ebene seien nicht notwendigerweise schlechte Argumente. Auch der folgende Beitrag von Robert L. Holmes ist der Frage gewidmet, ob man, wenn man die Selbsttötung für moralisch erlaubt hält, auf eine schiefe Ebene gerät, die über die Rechtfertigung der Beihilfe zum Suizid zur Erlaubtheit der freiwilligen Sterbehilfe führt. Dabei beschränkt sich der Autor auf die Analyse der logischen Variante des Arguments der schiefen Ebene. Seine Antwort auf die genannte Frage lautet, dass allein aus der Erlaubtheit der Selbsttötung nicht die Erlaubtheit der Beihilfe zum Suizid folgt und allein aus der Zulässigkeit der Suizidbeihilfe nicht die Erlaubtheit der freiwilligen direkten Sterbehilfe. Den Abschluss des Dritten Teils bildet ein Aufsatz von Ulrich Eibach, in welchem der Autor die These 35 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Héctor Wittwer

vertritt, dass man, wenn man für die rechtliche Freigabe der Beihilfe zur Selbsttötung eintritt, konsequenterweise auch die Zulassung der Tötung auf Verlangen fordern muss, weil die Gründe, die für Erstere sprechen, auch Letztere rechtfertigen. Der Versuch, die Legalisierung der Hilfe zum Sterben auf die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung zu beschränken, sei daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. In Teil IV wird schließlich die Frage behandelt, ob die Hilfe zum Sterben dem inneren Ethos der Medizin widerspricht oder nicht. Bettina Schöne-Seifert und Dieter Birnbacher vertreten die Auffassung, dass die ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung sehr wohl mit dem Ethos der Medizin vereinbar ist. Dies wird von Leon Kass und Daniel Callahan vehement bestritten. Sie beharren darauf, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten niemals bei deren Suizid unterstützen dürfen. Wie die Zusammenfassung der einzelnen Beiträge zeigt, habe ich mich darum bemüht, beide Seiten, sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Hilfe zum Sterben, gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen. Ich hoffe, dass diese Anthologie allen, die sich mit der ethischen Debatte über die Zulässigkeit der Sterbehilfe und der Beihilfe zum Suizid vertraut machen wollen, von Nutzen sein wird. Magdeburg im Juni 2020

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Teil I: Gibt es einen moralisch relevanten Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen?

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James Rachels’ Aufsatz »Aktive und passive Sterbehilfe«: eine Zusammenfassung Héctor Wittwer

Wenn man den Versuch unternehmen wollte, den Beginn der gegenwärtigen ethischen Debatte über die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe zu datieren, dann wäre sicherlich der am nächsten liegende Kandidat das Erscheinen von James Rachels’ Aufsatz »Active and Passive Euthanasia« im Jahr 1975. Dieser Text hat eine Reihe von Autoren zu kritischen Stellungnahmen herausgefordert. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass in der Medizinethik die Bedeutung solcher Ausdrücke wie »aktive Sterbehilfe« oder »passive Sterbehilfe« genauer als zuvor analysiert wurde, und er bildet bis heute einen wichtigen Bezugspunkt für die moralphilosophische Diskussion über die Zulässigkeit der ärztlichen Tötung auf Verlangen. Der Aufsatz ist mehrmals in englischsprachigen Anthologien wiederabgedruckt worden, und er hätte auch in der vorliegenden deutschsprachigen Auswahl vertreten sein sollen. Da dies nicht möglich war, soll der Inhalt des Aufsatzes hier in aller Kürze zusammengefasst werden. 1 Den Ausgangspunkt des Gedankengangs bildet die Feststellung, dass die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes sowohl in der Medizinethik als auch in der medizinischen Praxis weitgehend anerkannt ist. 2 Die begriffliche Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Sterbehilfe bilde dabei die Grundlage für deren unterschiedliche Leider ist es dem Herausgeber und dem Verlag trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen, von der Zeitschrift New England Journal of Medicine, in der Rachels’ Aufsatz zuerst erschien, die Genehmigung zum Abdruck einer neuen deutschen Übersetzung zu erhalten. Eine ältere Übersetzung von Walter Bohnacker mit dem Titel »Aktive und passive Sterbehilfe« findet sich in: Hans-Martin Sass (Hg.), Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 254–264. 2 Aus Gründen, die ich in der Einleitung zu diesem Band zusammengefasst habe, wird heutzutage von verschiedenen Institutionen, wie etwa der Bundesärztekammer, empfohlen, die Ausdrücke »aktive Sterbehilfe« und »passive Sterbehilfe« nicht mehr zu gebrauchen (vgl. in diesem Band »Einleitung: Die ethische Debatte über Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid im Überblick«, S. 11–36). 1

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Héctor Wittwer

moralische Beurteilung: Während es gemäß der herrschenden Meinung manchmal erlaubt ist, Patienten durch Behandlungsabbruch oder -verzicht das Sterben zu ermöglichen, sei es Medizinern niemals moralisch erlaubt, den Tod einer Patientin absichtlich und direkt durch eine Handlung herbeizuführen. Als Beleg für seine Behauptung, dass diese Lehre offiziell anerkannt sei, führt Rachels ein Zitat aus einer Stellungnahme der American Medical Association von 1973 an: Die absichtliche Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen – die Tötung aus Mitleid – widerspricht dem, wofür der ärztliche Beruf steht, und den Grundsätzen der American Medical Association. Wenn unwiderlegbare Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der biologische Tod unmittelbar bevorsteht, dann ist die Einstellung außergewöhnlicher Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens des Körpers Sache der Entscheidung des Patienten und/oder seiner engeren Familie. In diesem Fall sollte dem Patienten und/oder seiner engeren Familie der Rat und das Urteil des Arztes frei zugänglich sein. 3

Im Anschluss an dieses Zitat formuliert Rachels die These, dass die herrschende Meinung starken Einwänden ausgesetzt ist. Um seine Zweifel an der Berechtigung der unterschiedlichen moralischen Bewertung von aktiver und passiver Sterbehilfe zu illustrieren, bedient sich der Autor zunächst eines Beispiels. Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein Patient ist an unheilbarem Rachenkrebs erkrankt und leidet deswegen unter extrem starken Schmerzen, die nicht mehr auf zufriedenstellende Weise gelindert werden können. Nach dem Urteil der Ärzte wird er mit Sicherheit innerhalb weniger Tage sterben. Der Patient bittet die behandelnden Ärzte darum, dass sie sein Leben beenden, und seine Familie schließt sich diesem Wunsch an. Wenn sich die Mediziner auf die soeben wiedergegebene, offizielle Auffassung stützen, dann werden sie den Patienten durch den Abbruch der Behandlung sterben lassen; sie werden aber seinen Tod nicht direkt durch eine tödliche Injektion herbeiführen. Nun könne es aber sein, dass es aufgrund des Behandlungsabbruchs länger dauere, bis der Patient verstirbt, als im Fall der Weiterbehandlung und dass er daher stärker leidet. Rachels sieht darin eine Inkonsistenz. Falls die Ärzte einmal zu der Entscheidung gekommen sind, dass es moralisch er3 Zit. nach James Rachels, »Active and Passive Euthanasia«, New England Journal of Medicine 292 (Januar 1975), S. 78–80, hier S. 78 (der besseren Lesbarkeit halber sind alle Zitate aus diesem Text von mir ins Deutsche übersetzt worden – H. W.).

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James Rachels’ Aufsatz »Aktive und passive Sterbehilfe«: eine Zusammenfassung

laubt ist, den Patienten durch die Beendigung seines Lebens vor unnötigem Leid zu bewahren, erscheint es inkonsequent, als Mittel dafür die Verlängerung seines Leidens zu wählen: Diese Tatsache stellt einen starken Grund für die Annahme dar, dass, sobald die anfängliche Entscheidung getroffen worden ist, seine Agonie nicht zu verlängern, eher die aktive Sterbehilfe der passiven Sterbehilfe vorzuziehen ist als umgekehrt. Die Behauptung des Gegenteils läuft darauf hinaus, diejenige Option zu billigen, die zu größerem statt zu geringerem Leid führt, und widerspricht dem humanitären Impuls, der überhaupt erst zu der anfänglich getroffenen Entscheidung führte, sein Leben nicht zu verlängern. 4

Rachels’ Kritik an der Vorgehensweise der Ärzte in dem Beispiel beruht auf der Feststellung, dass der Prozess, in dem es einer Patientin erlaubt ist zu sterben, lang und schmerzvoll sein kann, während die Herbeiführung des Todes durch eine Injektion vergleichsweise schnell und schmerzlos ist. Diese Feststellung wirft die Frage auf, welcher moralische Grund dafür sprechen könnte, dass es besser ist, eine Patientin langsam und auf schmerzvolle Weise sterben zu lassen als sie schnell und schmerzlos zu töten. Rachels’ Vermutung, dass die herrschende Lehre inhuman ist, wird in seinen Augen durch ein weiteres Beispiel bestärkt. In den USA gehörte es in den 1970er-Jahren zur gängigen klinischen Praxis, dass die Ärztinnen Neugeborene, die mit einem Down-Syndrom zur Welt gekommen waren, auf Wunsch der Eltern sterben lassen konnten. Dies geschah gelegentlich dann, wenn die Säuglinge mit einem organischen Mangel, z. B. einem Darmverschluss, geboren worden waren, der sich durch eine Routineoperation leicht hätte beheben lassen. Wenn die Eltern das behinderte Kind nicht aufziehen wollten, konnten sie die Operation ablehnen und dadurch dafür sorgen, dass man es sterben ließ. Allerdings war der Sterbeprozess in solchen Fällen verhältnismäßig lang und schmerzvoll. Die Säuglinge litten unter Dehydrierung und oft auch unter Infektionen. Das Sterben zog sich über mehrere Tage hin, und die behandelnden Ärztinnen und Ärzten mussten tatenlos dabei zusehen, wie ein Kind, dessen Leben sie hätten retten können, langsam dahinsiechte. Rachels zufolge beruht diese Praxis nicht nur auf einer inkonsistenten ethischen Grundlage, sondern sie ist darüber hinaus auch inhuman. Er schreibt:

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Ebd.

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Ich kann verstehen, warum einige Menschen gegen jede Form der Sterbehilfe sind und darauf bestehen, dass es solchen Kindern erlaubt sein muss zu leben. Ich glaube, dass ich ebenfalls verstehen kann, warum andere Menschen eher dafür sind, dass diese Säuglinge schnell und schmerzlos getötet werden. Aber warum sollte es jemand befürworten, dass »Dehydrierung und Infektionen ein winziges Wesen über Stunden und Tage hinwegschwinden lassen«? Die Lehre, die besagt, dass man einem Säugling erlauben darf, dass er dehydriert und dahinschwindet, dass ihm jedoch keine Injektion verabreicht werden darf, die sein Leben ohne Leiden beenden würden, erscheint so offenkundig grausam, dass sie keinerlei Widerlegung zu erfordern scheint. 5

Rachels’ erster Einwand lautet somit, dass die moralische und rechtliche Regelung, dass es erlaubt ist, Patienten »sterben zu lassen«, aber verboten ist, sie zu »töten«, unmenschliche Folgen zeitigt. Diesem ersten Einwand fügt er einen zweiten hinzu. Die herrschende Lehre führe dazu, dass Entscheidungen über Leben und Tod »anhand irrelevanter Gründe« 6 getroffen würden: Betrachten wir nochmals den Fall der Kinder mit Down-Syndrom, die, damit sie überleben können, Operationen für angeborene Mängel benötigen, die in keinem Zusammenhang mit dem Syndrom stehen. Manchmal gibt es keine Operation, und der Säugling stirbt, doch wenn kein solcher Mangel vorliegt, dann lebt das Kind weiter. Nun ist eine Operation wie die Entfernung eines Darmverschlusses nicht in unvertretbarem Maße schwierig. Der Grund dafür, dass die Operation in diesen Fällen nicht durchgeführt wird, besteht darin, dass das Kind das Down-Syndrom hat und dass die Eltern und der Arzt urteilen, dass es aufgrund dieser Tatsache für das Kind besser ist zu sterben. 7

Rachels zufolge stellt die Tatsache, dass in solchen und ähnlichen Fällen anhand irrelevanter Gründe über Leben und Tod von Patienten entschieden wird, einen weiteren Grund gegen die herrschende Lehre dar. Im nächsten Schritt seines Gedankengangs zieht Rachels eine wichtige zusätzliche Annahme heran, die in der späteren Diskussion über seinen Aufsatz kritisiert worden ist: Der Autor geht davon aus, dass die gängige unterschiedliche Bewertung der sogenannten passiven und der aktiven Sterbehilfe darauf beruhe, dass viele Menschen

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Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 79. Ebd.

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James Rachels’ Aufsatz »Aktive und passive Sterbehilfe«: eine Zusammenfassung

glaubten, dass es moralisch schlechter sei, jemanden zu töten als ihn sterben zu lassen. Um nachzuweisen, dass kein prinzipieller moralischer Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen besteht, konstruiert Rachels zwei Fälle, die sich nur darin unterscheiden, dass der Protagonist in dem einen Fall einen anderen Menschen tötet, während er ihn in dem anderen Fall »nur« sterben lässt. Alle anderen Umstände, insbesondere die Motive der beiden Protagonisten, stimmen gänzlich überein: Im ersten Fall erwartet Smith ein großes Erbe, wenn seinem sechs Jahre alten Cousin irgendetwas zustoßen sollte. Als der Junge eines Abends ein Bad nimmt, schleicht sich Smith in das Badezimmer, ertränkt das Kind und ordnet dann alles so an, dass es wie ein Unfall aussieht. Im zweiten Fall erwartet Jones ebenfalls ein großes Erbe, falls seinem sechs Jahre alten Cousin irgendetwas zustoßen sollte. Wie Smith schleicht sich Jones mit dem Plan in das Badezimmer, das Kind in der Badewanne zu ertränken. Doch gerade in dem Moment, in dem Jones das Badezimmer betritt, sieht er, dass das Kind ausrutscht, mit dem Kopf aufschlägt und mit dem Gesicht nach unten in das Wasser fällt. Jones ist entzückt: Er steht daneben, bereit, den Kopf des Kindes wieder unter Wasser zu tauchen, falls das nötig sein sollte, aber es ist nicht nötig. Mit ein wenig Gezappel ertrinkt das Kind von selbst, »durch einen Unfall verursacht«, da Jones nur zuschaut und nichts tut. 8

Rachels zufolge besteht kein moralischer Unterschied zwischen dem Verhalten von Smith und Jones, und er unterstellt, dass seine Leserinnen und Leser ihm darin zustimmen. Die bloße Tatsache, dass Jones das Kind nicht getötet hat, sondern sterben ließ, mache sein Verhalten um nichts weniger unmoralisch als dasjenige von Smith. Mehr noch: Wenn Jones versuchte, sein Verhalten durch die Aussage zu rechtfertigen, dass er das Kind ja nicht getötet habe, sondern nur sterben ließ, dann würde es sich dabei nicht um eine moralische Rechtfertigung, sondern nur um eine Perversion derselben handeln. Aus alledem folge, dass bei ansonsten gleichen Voraussetzungen der Unterschied zwischen Sterbenlassen und Töten, für sich allein genommen, nicht moralisch relevant sei. Nun will Rachels damit natürlich nicht behaupten, dass zwischen Smiths und Jones’ Verhalten auf der einen Seite und der ärztlichen passiven oder aktiven Sterbehilfe auf der anderen Seite keine wesentlichen Unterschiede bestehen. Es ist ja offensichtlich, dass 8

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Smith und Jones aus einem egoistischen Grund, nämlich aus Habgier, handeln, während Ärztinnen, die Sterbehilfe leisten, dies aus Mitleid tun. Dies ändere aber nichts daran, dass auch in Bezug auf die Sterbehilfe der bloße Unterschied zwischen Sterbenlassen und Töten keinen Unterschied in der moralischen Bewertung bewirken könne – vorausgesetzt, dass alle anderen Bedingungen einschließlich des Motivs gleich seien: Wenn ein Arzt einen Patienten aus humanen Gründen sterben lässt, dann ist er in derselben moralischen Lage wie in dem Fall, in dem er dem Patienten aus humanen Gründen eine tödliche Injektion verabreicht hätte. Falls seine Entscheidung falsch war – wenn beispielsweise die Krankheit des Patienten tatsächlich heilbar war –, dann wäre die Entscheidung unabhängig davon, welche Methode angewendet wurde, um sie auszuführen, gleichermaßen bedauerlich. Und wenn die Entscheidung des Arztes richtig war, dann ist die angewandte Methode, an sich betrachtet, nicht von Bedeutung. 9

Der entscheidende Fehler, den die American Medical Association und alle anderen Anhänger der herrschenden Lehre begingen, bestehe darin, dass sie bestreiten, dass es sich bei einem Behandlungsabbruch um eine absichtliche Lebensbeendigung handelt: »An dieser Stelle kommt der Fehler ins Spiel, denn was ist ein Behandlungsabbruch unter diesen Umständen, wenn er nicht ›die absichtliche Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen‹ ist? Selbstverständlich ist er genau das, und wenn er es nicht wäre, dann hätte es keinen Sinn, diesen Abbruch vorzunehmen.« 10 Rachels begnügt sich nicht damit, die herrschende Auffassung, dass Töten moralisch verwerflicher sei als Sterbenlassen, zu kritisieren. Darüber hinaus sucht er nach einer Erklärung dafür, dass die von ihm kritisierte Auffassung so verbreitet ist. Den Grund dafür findet er darin, dass in der Wirklichkeit die meisten Fälle von Tötungen aus Gründen, die mit dem prinzipiellen Verhältnis zwischen Sterbenlassen und Töten nichts zu tun hätten, tatsächlich moralisch verwerflicher seien als die gewöhnlichen Fälle von Sterbenlassen: Die meisten wirklichen Fälle von Tötungen sind klarerweise fürchterlich (denken Sie beispielsweise an all die Mordfälle, von denen in den Zeitungen berichtet wird), und von solchen Fällen hört man jeden Tag. Auf der anderen Seite hört man kaum jemals von einem Fall von Sterbenlassen, abgesehen von den Handlungen von Ärzten, die durch humanitäre Gründe be9 10

Ebd. Ebd., S. 79 f.

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James Rachels’ Aufsatz »Aktive und passive Sterbehilfe«: eine Zusammenfassung

wogen werden. Auf diese Weise lernt man, Töten in einem viel schlechteren Licht zu sehen als Sterbenlassen. Doch dies bedeutet nicht, dass es etwas am Töten gäbe, das dazu führen würde, dass es an sich schlechter ist als Sterbenlassen, denn in diesen Fällen liegt der Unterschied zwischen ihnen nicht nur im Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen. Stattdessen lassen sich die unterschiedlichen Reaktionen auf die verschiedenen Fälle durch andere Faktoren erklären – z. B. das Streben nach persönlichem Gewinn als Motiv des Mörders im Unterschied zur humanitären Motivation des Arztes. 11

Fassen wir zusammen. Rachels hat dafür argumentiert, dass das Sterbenlassen eines Menschen moralisch nicht anders bewertet werden darf als die Tötung eines Menschen. Daraus zieht er die Schlussfolgerung, »dass aktive Sterbehilfe kein wenig schlechter ist als passive Sterbehilfe« 12. Es muss nochmals betont werden, dass diese Schlussfolgerung nur dann wahr ist, wenn Rachels unausgesprochene Voraussetzung zutrifft, dass die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nur eine Spezifizierung der Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen ist. Diese Prämisse hat er aber in dem hier referierten Aufsatz nicht eigens begründet, und sie ist von anderen Autoren bestritten worden. Im letzten Teil seines Aufsatzes stellt Rachels die Frage, welche Argumente für die Gegenposition angeführt werden könnten. Seiner Meinung nach lasse sich das am weitesten verbreitete Argument für die Auffassung, dass passive Sterbehilfe moralisch erlaubt, aktive Sterbehilfe aber moralisch verboten sei, etwa folgendermaßen formulieren: Der wichtigste Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe besteht darin, dass der Arzt bei der passiven Sterbehilfe nichts tut, um den Tod des Patienten herbeizuführen. Der Arzt tut nichts, und der Patient stirbt an den Krankheiten, an denen er bereits litt. Bei der aktiven Sterbehilfe hingegen tut der Arzt etwas, um den Tod des Patienten herbeizuführen: Er tötet ihn. Der Arzt, der dem krebskranken Patienten eine tödliche Injektion verabreicht hat, hat den Tod des Patienten verursacht; während in dem Fall, in dem er nur die Behandlung abbricht, der Krebs die Ursache des Todes ist. 13

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Dieses Argument beruht nach Rachels auf der falschen Voraussetzung, dass Unterlassungen kausal unwirksam seien. Tatsächlich könne man jedoch in vielen Fällen durch Unterlassungen etwas kausal herbeiführen, und deshalb sei man dann für eine Unterlassung genauso moralisch verantwortlich wie für eine Handlung. Darüber hinaus gebe es Situationen, in denen ein Mensch einen bestimmten Sachverhalt entweder durch eine Unterlassung oder durch eine Handlung herbeiführen könne. Daher sei die Behauptung, dass ein Arzt, der eine Patientin sterben ließ, »nichts getan habe«, zumindest dann falsch, wenn damit gemeint sei, dass der Arzt nichts getan habe, was moralisch beurteilt werden dürfe: Die Entscheidung, einen Patienten sterben zu lassen, unterliegt auf die gleiche Weise der moralischen Bewertung, wie eine Entscheidung, ihn zu töten, der moralischen Beurteilung unterworfen wäre: Sie kann als klug oder unklug, als Ausdruck von Mitgefühl oder als sadistisch, als richtig oder falsch beurteilt werden. Wenn ein Arzt vorsätzlich einen Patienten sterben ließe, der an einer routinemäßig behandelbaren Krankheit litt, dann wäre dem Arzt das, was er getan hätte, sicherlich als Schuld vorzuwerfen, genauso wie man ihm seine Schuld vorwerfen müsste, wenn er den Patienten unnötigerweise getötet hätte. In diesen Fällen wären Anschuldigungen gegen ihn angemessen. Wenn dies so ist, dann würde sein Beharren darauf, dass er »nichts getan habe«, überhaupt keine Verteidigung darstellen. Tatsächlich hätte er etwas sehr Ernstes getan, weil er den Patienten sterben ließ. 14

Im Anschluss an diese Überlegung hebt Rachels einen wichtigen Gedanken nochmals hervor. In aller Regel halten wir die Tötung eines anderen Menschen deshalb für moralisch verwerflich, weil der Tod gewöhnlich etwas Schlechtes ist. Sobald die Ärzteschaft aber entschieden habe, dass es moralisch erlaubt sei, einen Menschen sterben zu lassen, weil für diesen Menschen zu diesem Zeitpunkt der Tod mindestens das geringere Übel im Vergleich zum Weiterleben, vielleicht sogar etwas Gutes sei, gibt es keinen überzeugenden Grund mehr dafür, die aktive Sterbehilfe dieses Patienten abzulehnen. Anders gesagt: Wenn man einmal zu dem Urteil gelangt ist, dass für einen bestimmten Menschen der Tod wünschenswert ist, dann kann man die gezielte Tötung dieses Patienten nicht mehr mit der Begründung ablehnen, dass man ihm dadurch Schaden zufügen würde.

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Ebd.

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James Rachels’ Aufsatz »Aktive und passive Sterbehilfe«: eine Zusammenfassung

Abschließend appelliert James Rachels an die amerikanischen Ärztinnen und Ärzte, die geltenden rechtlichen Regelungen nicht einfach hinzunehmen. Das geltende Recht in Bezug auf die Sterbehilfe könnte ganz einfach schlecht begründet sein, und wenn Rachels Einwände stichhaltig sind, dann ist die Rechtslage in Staaten wie den USA und Deutschland tatsächlich, moralisch betrachtet, unhaltbar.

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Ein irrelevanter Gesichtspunkt: Töten versus Sterbenlassen Michael Tooley

Viele Menschen sind der Meinung, dass es einen wichtigen moralischen Unterschied zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe gibt. Während etwa die American Medical Association behauptet, dass Menschen das Recht haben, »in Würde zu sterben«, sodass es einem Arzt moralisch erlaubt ist, jemanden sterben zu lassen, wenn diese Person das will und sie an einer unheilbaren Krankheit leidet, welche Schmerz verursacht, der nicht in hinreichendem Maße gelindert werden kann, ist die AMA nicht willens, aktive Sterbehilfe für eine Person zuzulassen, die sich in einer ähnlichen Notlage befindet, aber das Unglück hat, nicht an einer Krankheit zu leiden, die zu einem schnellen Tod führen wird. In Bezug auf Kindstötungen ist eine ähnliche Unterscheidung zu einem Gemeinplatz des medizinischen Denkens und Handelns geworden. Viele Ärzte und Krankenhäuser sind der Meinung, dass, wenn ein Neugeborenes mongoloid oder mikroenzephal ist und außerdem einen anderen Defekt aufweist, der, wenn das Kind überleben soll, eine korrigierende Operation erforderlich macht, die Eltern das Recht haben zu entscheiden, ob die Operation durchgeführt werden soll, und somit, ob das Kind überleben wird. Wenn das Kind jedoch keinen weiteren organischen Defekt aufweist, dann, so meint man, haben die Eltern nicht das Recht, sein Leben zu beenden. 1 Die Begründung, auf der die Unterscheidungen zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe sowie zwischen aktiver und passiver Kindstötung beruhen, ist jeweils die gleiche: Es handelt sich um die Idee, dass es einen wesentlichen moralischen Unterschied zwischen dem absichtlichen Töten und dem absichtlichen Sterbenlassen gibt. Diese Vgl. dazu z. B. Raymond S. Duff und A. G. M. Campbell: »Moral and Ethical Dilemmas in the Special-Care Nursery«, The New England Journal of Medicine 289 (1973), S. 890–894, sowie Anthony Shaw: »Dilemmas of ›Informed Consent‹ in Children«, The New England Journal of Medicine 289 (1973), S. 886.

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Ein irrelevanter Gesichtspunkt: Töten versus Sterbenlassen

Idee ist anerkanntermaßen sehr verbreitet. Ich glaube jedoch, dass sich zeigen lässt, dass diese Idee entweder Ausdruck eines verwirrten Denkens oder eines moralischen Standpunkts ist, der in keinem Zusammenhang mit den Interessen von Individuen steht. Zwei Söhne freuen sich auf den Tod ihres zwar abscheulichen, aber sehr wohlhabenden Vaters. Des Wartens müde beschließen die beiden unabhängig voneinander, ihren Vater zu töten. Der eine tut etwas Gift in den Whisky seines Vaters und wird dabei von seinem Bruder entdeckt, der sich gerade anschickte, das Gleiche zu tun. Letzterer lässt es dann geschehen, dass sein Vater das tödliche Getränk zu sich nimmt, und verzichtet darauf, ihm ein Gegengift zu verabreichen, das er zufällig bei sich hat. Der eine Sohn tötete seinen Vater. Der andere ließ ihn bloß sterben. Tat Ersterer etwas, was in erheblichem Maße falscher war als das, was Letzterer tat? Meiner Meinung nach sind die beiden Handlungen moralisch gleichwertig, weil ich glaube, dass der folgende allgemeine Grundsatz – der als moralisches Symmetrieprinzip bezeichnet werden kann – gültig ist: 2 C sei ein kausaler Prozess, der normalerweise zu dem Ergebnis E führt. A sei eine Handlung, die den Prozess C in Gang setzt, und B eine Handlung, die den Prozess C anhält, bevor das Ergebnis E eintritt. Außerdem sei angenommen, dass die Handlungen A und B keine weiteren moralisch relevanten Folgen haben und dass E der einzige Teil der Folgen des Prozesses C ist, der an sich moralisch relevant ist. Unter diesen Bedingungen besteht kein moralischer Unterschied zwischen dem Vollzug der Handlung A und der absichtlichen Unterlassung der Handlung B, sofern in beiden Fällen die gleiche Motivation vorlag.

Vorausgesetzt, dass alle anderen Umstände gleich sind, folgt aus diesem Grundsatz, dass es genauso falsch ist, jemandem, der an einer In meinen Aufsätzen über Abtreibung und Kindstötung habe ich mich auf ein damit eng zusammenhängendes Prinzip gestützt. Für einige Bemerkungen, die auch für das Prinzip der moralischen Symmetrie relevant sind, vgl. »Abtreibung und Kindstötung«, in: A. Leist (Hg.): Um Leben und Tod, Frankfurt a. M. 1990, S. 157–195, hier S. 180–182, sowie »A Defense of Abortion and Infanticide«, in: J. Feinberg (Hg.): The Problem of Abortion, Belmont, Cal. 1973, S. 51–92, hier S. 84–86. Meine Ansicht ist die folgende: Wenn die Handlungen A und B auf die beschriebene Weise zusammenhängen, dann gilt sowohl, dass die Ausführung von A moralisch gleichwertig mit der absichtlichen Unterlassung von B ist, als auch, dass die Ausführung von B moralisch gleichwertig mit der absichtlichen Unterlassung von A ist, vorausgesetzt, dass in beiden Fällen die gleiche Motivation vorliegt.

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Vergiftung stirbt, ein Gegengift nicht zu verabreichen, wie ihm das Gift einzuflößen, sofern in beiden Fällen das gleiche Motiv wirksam ist. Und, etwas allgemeiner, folgt aus dem Prinzip, dass die Unterscheidung zwischen Töten und dem absichtlichen Sterbenlassen an sich nicht von moralischer Bedeutung ist. Manchen Menschen fällt es schwer, dies zu akzeptieren. Meine Erfahrung besagt jedoch, dass diejenigen, die dazu neigen, das moralische Symmetrieprinzip abzulehnen, dies oft tun, weil sie nicht genau verstanden haben, was dieses Prinzip impliziert und was nicht. Lassen Sie mich mit der Betrachtung eines Einwandes beginnen, der, obwohl er ziemlich verworren ist, hilfreich bei der Klärung des Prinzips ist. 3 Die in Frage stehende Kritik behauptet, dass man anhand des folgenden Gegenbeispiels zeigen kann, dass das moralische Symmetrieprinzip falsch ist. Das Gegenbeispiel enthält diese beiden Handlungen: Handlung M: Jemand unterlässt es, dem Feind eine gewisse Information zu geben, obwohl er weiß, dass der Feind, solange er sich weigert, die Information preiszugeben, ein Kind foltern wird. Handlung N: Jemand foltert ein Kind, um den Feind dazu zu bringen, ihm eine Information zu geben.

Die Behauptung lautet nun, es sei »gewiss monströs«, diese beiden Handlungen als moralisch gleichwertig anzusehen. Die intuitive Anziehungskraft dieser Position ist offensichtlich. Ob sie einer kritischen Überprüfung standhält, ist eine andere Frage. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass dieses Beispiel im Hinblick auf das moralische Symmetrieprinzip einfach nicht relevant ist. Grob gesagt, besagt dieses Prinzip, dass es genauso falsch ist, absichtlich darauf zu verzichten, in einen Kausalprozess einzugreifen, der zu einem moralisch relevanten Ergebnis führt, wie diesen Prozess in Gang zu setzen. Es behauptet nicht, dass der Verzicht darauf, jemand anderen davon abzuhalten, einen Kausalprozess in Gang zu setzen, genauso falsch ist, wie diesen Prozess selbst zu initiieren. Daher impliziert der Grundsatz nicht, dass die Handlungen M und N moralisch gleichwertig sind.

Dieser Einwand wurde von Philip E. Devine in seinem auf dem Eastern Meeting der American Philosophical Association im Dezember 1973 gehaltenen Vortrag »Tooley on Infanticide« vorgebracht.

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Man könnte nun folgendermaßen argumentieren: Obwohl das Prinzip der moralischen Symmetrie nicht impliziert, dass solche Handlungen wie M und N moralisch gleichwertig sind, lässt sich ein verallgemeinerter Grundsatz der moralischen Symmetrie formulieren, der diese Implikation hat und der von jedem akzeptiert werden sollte, der bereit ist, das ursprüngliche Prinzip zu akzeptieren. Sicherlich kann man ein solches Prinzip formulieren. Die Schwierigkeit besteht darin, die Behauptung zu begründen, dass jeder, der das ursprüngliche Prinzip akzeptiert hat, auch seine Verallgemeinerung akzeptieren sollte. Denn wenn der absichtliche Verzicht darauf, jemand anderen daran zu hindern, etwas zu tun, und es selbst zu tun moralisch gleichwertige Handlungen sind, dann sind, wie es scheint, jemanden daran zu hindern, etwas zu tun, und absichtlich darauf zu verzichten, es selbst zu tun, ebenfalls moralisch gleichwertige Handlungen. 4 Das intuitive Gefühl der meisten Menschen besagt jedoch sicherlich, dass allein die Tatsache, dass man, wenn man jemand anderen daran hindert, etwas zu tun, man in dessen Handlung eingreift, während, wenn man nur darauf verzichtet, etwas selbst zu tun, man dies nicht tut, einen moralisch bedeutsamen Unterschied ausmacht. Also spricht prima facie etwas gegen jede Ausweitung des Prinzips der moralischen Symmetrie, welche zur Folge hätte, dass der absichtliche Verzicht darauf, jemand anderen daran zu hindern, etwas zu tun, und es selbst zu tun moralisch gleichwertige Handlungen sind. Damit will ich selbstverständlich nicht behaupten, dass dieses Primafacie-Argument nicht widerlegt werden kann. Allerdings würde einem jedes Gegenargument, mit dessen Hilfe man das prima facie gültige Argument überwinden könnte, ipso facto einen Grund dafür an die Hand geben, die Behauptung zurückzuweisen, dass es »monströs« sei, die Handlungen M und N als moralisch gleichwertig zu behandeln. Tatsächlich hat der Einwand gegen das Prinzip der moralischen Symmetrie dieses Prinzip mit dem Konsequentialismus in der Ethik verwechselt. Wenn der Konsequentialismus wahr ist, dann ist auch der Grundsatz der moralischen Symmetrie wahr. Aber die UmkehDies ist gewiss sehr vernünftig. Falls jedoch noch eine Begründung verlangt wird, kann man argumentieren, dass (1), wenn die Handlungen Q und R moralisch gleichwertig sind, auch die absichtliche Unterlassung von Q und die absichtliche Unterlassung von R moralisch gleichwertig sind und dass (2) die absichtliche Unterlassung der absichtlichen Unterlassung einer Handlung Q gleichwertig mit der Ausführung der Handlung Q ist.

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rung ist nicht gültig. Es ist sehr wichtig einzusehen, dass man das Prinzip der moralischen Symmetrie akzeptieren kann, ohne sich auf die konsequentialistische Position festzulegen. 5 Um meine Behauptung zu stützen, dass ein möglicher moralischer Unterschied zwischen den Handlungen M und N, anstatt gegen das Prinzip der moralischen Symmetrie zu sprechen, nur die Tatsache widerspiegelt, dass unsere Pflicht, andere daran zu hindern, etwas zu tun, möglicherweise nicht so stark ist wie die Pflicht, darauf zu verzichten, es selbst zu tun, lassen Sie uns Handlungen betrachten, die M und N ähneln, bei denen allerdings die Folgen nicht dadurch herbeigeführt werden, dass die Handlung eines anderen beeinflusst wird, sondern auf direkte Weise: Handlung M*: Man wird mit einer Maschine konfrontiert, die ein Kind und ein militärisches Geheimnis enthält. Die Maschine ist so konstruiert, dass, wenn man nicht den Knopf drückt, das Kind gefoltert und das Geheimnis zerstört werden wird. Drückt man den Knopf, wird das Kind unverletzt herauskommen, aber das Geheimnis wird dem Feind übermittelt. Man sieht davon ab, den Knopf zu drücken. Handlung N*: Man wird mit einer ähnlichen Maschine konfrontiert. Diesmal ist sie jedoch so konstruiert, dass, wenn man nicht den Knopf drückt, dem Feind ein Geheimnis übermittelt wird, während das Kind unverletzt herauskommen wird. Drückt man den Knopf, so wird das Geheimnis zerstört, aber das Kind wird gefoltert werden. Man drückt den Knopf.

Obwohl das Prinzip der moralischen Symmetrie nicht impliziert, dass die Handlungen M* und N* moralisch gleichwertig sind, glaube ich, dass jeder, der jenes Prinzip akzeptiert hat, der Behauptung zustimmen würde, dass es keinen moralischen Unterschied zwischen M* und N* gibt. Zweifellos gibt es einige Philosophen, die auch diese Ansicht als »monströs« charakterisieren würden. Und einige Philosophen haben versucht, dafür zu argumentieren, dass es zumindest einen bedeutenden moralischen Unterschied zwischen Handeln und Unterlassen gibt; alle mir bekannten Argumente für diese Behauptung scheinen mir entweder unplausibel oder aber irrelevant zu sein im Hinblick auf die Annahme, dass die Unterscheidung an sich selbst von Bedeutung ist. 6 Eine einschlägige Diskussion dieses Themas findet sich bei Bernard Williams in Utilitarianism: For and Against von J. J. C. Smart und B. Williams, Cambridge 1973, S. 82–100. 6 Das Argument, das Daniel Dinello in seinem Aufsatz »On Killing and Letting Die« 5

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Aber was soll man über das Gefühl sagen – das zugegebenermaßen weit verbreitet ist –, dass es einen moralisch bedeutsamen Unterschied zwischen Handeln und Unterlassen gibt? Ich möchte dieses Gefühl nicht einfach verwerfen, obwohl ich behaupten würde, dass die Berufung auf solche »moralischen Intuitionen« keinen guten Weg darstellt, wenn man zu überzeugenden moralischen Grundsätzen gelangen will. Stattdessen will ich zeigen, dass die zur Debatte stehenden Gefühle auf bestimmten Verwirrungen beruhen können. Der Ausgangspunkt dafür bildet die Unterscheidung zwischen den folgenden beiden Fragen: 1. 2.

Ist die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen an sich von Bedeutung? Gibt es andere Faktoren, die in der Regel dafür sorgen, dass die Tötung eines Menschen in höherem Maße moralisch falsch ist als das absichtliche Sterbenlassen eines Menschen?

Die Antwort auf die zweite Frage lautet sicherlich »ja«. Erstens ist das Motiv einer Person, die einen anderen tötet, gewöhnlich böser als das Motiv einer Person, die einen anderen nur sterben lässt. Eine Person kann einen anderen aufgrund von Faulheit oder Apathie sterben lassen, und, obwohl ich darauf bestehen würde, dass ein solches Nichthandeln in erheblichem Maß falsch ist, ist es sicherlich nicht so falsch wie die Handlung einer Person, die jemand anderen tötet, weil sie will, dass er tot ist. Zweitens ist es möglich, dass die Alternative dazu, jemanden sterben zu lassen – die Rettung seines Lebens – ein erhebliches Risiko für den Handelnden oder sehr große Ausgaben aus den öffentlichen Ressourcen einschließen kann. Dies wird nur selten auf die Unterlassung der Tötung eines anderen zutreffen. Drittens: Wenn man eine Handlung ausführt, die normalerweise zum Tod einer Perentwickelt hat, scheint einfach ungültig zu sein (vgl. ders.: »On Killing and Letting Die«, Analysis 31/3 (1971), S. 83–86). Hingegen scheint das Argument, das P. J. Fitzgerald in seinem Aufsatz »Acting and Refraining« (Analysis 27/4 [1967], S. 133–139) vorgetragen hat, irrelevant für die Behauptung zu sein, dass die Unterscheidung an sich moralisch bedeutsam ist. Für eine energische Verteidigung der Ansicht, dass die Unterscheidung nicht an sich moralisch bedeutsam ist, vgl. Jonathan Bennetts Aufsatz »Whatever the Consequences« (Analysis 26/3 [1966], S. 83–102). Zwar wird die Qualität von Bennetts Aufsatz leicht getrübt durch eine unangemessene Analyse der Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen, aber dies wirkt sich nicht auf seine zentralen Thesen aus.

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son führt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person überleben wird, gering. Wenn man es hingegen nur unterlässt, das Leben eines anderen zu retten, dann gibt es oft eine beträchtliche Wahrscheinlichkeit, dass er auf andere Weise überleben wird. Diese drei Faktoren – das Motiv, die Kosten für den Handelnden und/oder die Gesellschaft sowie die Wahrscheinlichkeit, dass das eigene Handeln oder Nichthandeln zum Tod führen wird – führen tendenziell dazu, dass der Versuch, jemanden zu töten, in der Regel in höherem Maße falsch sein wird als die absichtliche Unterlassung der Rettung des Lebens eines anderen. Statt des Unterschiedes zwischen Töten und Sterbenlassen sind es eher diese Faktoren, die den Unterschied ausmachen. Die Leute haben recht damit, dass Töten gewöhnlich schlechter ist als jemanden sterben zu lassen. Ihr Fehler besteht darin, dass sie nicht bemerken, dass dabei Faktoren im Spiel sind, die diesen Unterschied auf vollkommen befriedigende Weise erklären. Und deshalb ziehen sie fälschlicherweise die Schlussfolgerung, dass der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen an sich moralisch bedeutsam sein muss. Lassen Sie mich meine Argumentation gegen die genannte Unterscheidung anhand eines Beispiels beenden, in dem die einwirkenden Variablen so isoliert werden, dass es auf lebendige Weise die Frage aufwirft, ob es wirklich einen moralisch bedeutsamen Unterschied zwischen Handeln und der absichtlichen Unterlassung von Handlungen gibt. Stellen Sie sich eine Maschine vor, in der sich zwei Kinder befinden, John und Mary. Wenn man einen Knopf drückt, dann wird John getötet, aber Mary wird unverletzt davonkommen. Wenn man den Knopf nicht drückt, dann wird John unverletzt davonkommen, aber Mary wird getötet werden. Im ersten Fall tötet man John, während man im zweiten Fall Mary nur sterben lässt. Will man wirklich behaupten, dass der absichtliche Verzicht darauf, den Knopf zu drücken, dem Drücken des Knopfes moralisch vorzuziehen ist, obwohl in beiden Fällen genau eine Person zugrunde geht? Die beste Handlung scheint mir hier darin zu bestehen, dass man ein Münze werfen würde, um zu entscheiden, welche Handlung ausgeführt werden soll, weil man dadurch jeder Person die gleiche Überlebenschance geben würde. Aber wenn das nicht möglich ist, dann scheint es mir auf das Gleiche hinauszulaufen, ob man den Knopf drückt oder nicht. Wenn es keinen intrinsischen Unterschied zwischen Töten und absichtlichem Sterbenlassen gibt, was wird dann aus der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe? Es gibt zwei Mög54 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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lichkeiten, die geprüft werden müssen. Erstens könnte es sein, dass, obwohl weder aktive noch passive Sterbehilfe an sich falsch sind, die Legalisierung der Ersteren unerwünschte Folgen haben könnte, wie Yale Kamisar und andere behauptet haben. 7 Ich glaube nicht, dass diese Argumentationsweise überzeugend ist; allerdings verdient sie sicherlich, ernsthaft geprüft zu werden. Die zweite Möglichkeit ergibt sich, wenn man sowohl behauptet, dass es keinen intrinsischen Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe gibt, als auch, dass Sterbehilfe nichtsdestoweniger an sich falsch ist, z. B. weil eine Person nicht das Recht hat, sich selbst zu töten, um ihr unerträgliches Leiden zu beenden. Eine solche Ansicht wäre damit vereinbar, dass passive Sterbehilfe in einigen, aber nicht in allen Fällen akzeptabel ist. Denn, obwohl man sich darauf festgelegt hätte, dass passive Sterbehilfe ebenso wie aktive Sterbehilfe an sich falsch sei, könnte es Umstände geben, unter denen Erstere moralisch gerechtfertigt wäre. Beispielsweise könnten die Kosten dafür, jemanden am Leben zu erhalten, so hoch sein, dass es das kleinere Übel wäre, ihn sterben zu lassen. Meine Antwort auf diesen zweiten Versuch, der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe eine zumindest begrenzte moralische Bedeutung zuzuschreiben, wenn auch abgeleiteter Art, besteht darin, dass ich die Ansicht, dass aktive Sterbehilfe an sich falsch ist, zurückweise. Letztlich würde ich dafür argumentieren, dass die Institution der Moral zweifellos irgendeine Art der Begründung benötigt, einen Grund dafür, dass die Gesellschaft moralische Regeln akzeptieren soll. Und welchen plausibleren Grund könnte es dafür geben als die Tatsache, dass eine Menge moralischer Regeln den Interessen der Menschen besser entspricht als eine andere Menge moralischer Regeln oder gar keine Regeln? Einige moralische Regeln, die von Menschen akzeptiert werden oder akzeptiert worden sind, sind offensichtlich so beschaffen, dass sie den Interessen der Einzelnen nicht dienen – z. B. verschiedene sexuelle Verbote, wie das Verbot der Selbstbefriedigung. Das Verbot der aktiven Sterbehilfe scheint mir ein weiteres Beispiel für einen moralischen Standpunkt zu sein, der die Interessen der Individuen, die in einer Gesellschaft zusammenleben, nicht befördert. Warum ist dieser Standpunkt dann akzeptiert worden? Wie in Bezug auf die Auffassung der westlichen GesellVgl. Yale Kamisar, »Euthanasia Legislation: Some Non-Religious Objections«, in: A. B. Downing (Hg.): Euthanasia and the Right to Death, Los Angeles 1969.

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schaft zur Sexualität, so ist die Antwort auf diese Frage auch hier im mächtigen Einfluss der christlichen Kirchen zu suchen. 8 Dieser historische Aspekt verdient es, fest im Blick behalten zu werden, wenn man über die moralische Beurteilung der Sterbehilfe nachdenkt. Viele Menschen, die ansonsten bedächtig sind, verlieren irgendwie die Tatsache aus dem Auge, dass das, worauf sie sich unter dem Titel »moralische Intuitionen« beziehen, ursprünglich einer bestimmten theologischen Auffassung entsprang, einer Auffassung, die von denjenigen, die sich die Mühe gemacht haben, ihre Begründungen sorgfältig und unparteilich zu prüfen, nicht länger ernst genommen wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es alles andere als klar ist, ob die allgemein akzeptierte Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe moralisch von Bedeutung ist. Der hier gegebene Überblick der dafür einschlägigen Probleme war zugegebenermaßen sehr knapp. Bei einigen Punkten konnte ich kaum mehr tun, als sie im Vorübergehen zu berühren. Jedoch habe ich mich darum bemüht, recht detailliert dafür zu argumentieren, dass die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen nicht an sich moralisch bedeutsam ist. Wenn dies richtig ist, dann ist die Begründung, die am häufigsten dafür angeführt wird, dass es einen moralisch bedeutsamen Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe gibt, in der Tat nicht überzeugend. Übersetzt von Héctor Wittwer

Literaturverzeichnis Bennett, J.: Whatever the Consequences. In: Analysis 26/3 (1966), S. 83–102. Devine, P. E.: Vortrag »Tooley on Infanticide« im Rahmen des Eastern Meeting der American Philosophical Association. Atlanta Dezember 1973. Dinello, D.: On Killing and Letting Die. In: Analysis 31/3 (1971), S. 83–86.

Für eine Diskussion, welche deutlich macht, in welchem Ausmaß die gegenwärtige westliche Abneigung gegenüber der freiwilligen Sterbehilfe den Einfluss der christlichen Kirchen widerspiegelt, vgl. Raanan Gillon: »Suicide and Voluntary Euthanasia: Historical Perspective«, in: A. B. Downing (Hg.): Euthanasia and the Right to Death, Los Angeles 1969. Ebenfalls sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang die Diskussion von Glanville Williams in seinem Buch The Sanctity of Life and the Criminal Law, New York 1957, Kap. 8.

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Ein irrelevanter Gesichtspunkt: Töten versus Sterbenlassen

Duff, R. S./Campbell, A. G. M.: Moral and Ethical Dilemmas in the SpecialCare Nursery. In: The New England Journal of Medicine 289 (1973), S. 890–894. Fitzgerald, P. J.: Acting and Refraining. In: Analysis 27/4 (1967), S. 133–139. Gillon, R.: Suicide and Voluntary Euthanasia: Historical Perspective. In: A. B. Downing (Hg.): Euthanasia and the Right to Death. Los Angeles 1969. Kamisar, Y.: Euthanasia Legislation: Some Non-Religious Objections. In: B. Downing (Hg.): Euthanasia and the Right to Death. Los Angeles 1969. Shaw, A.: Dilemmas of »Informed Consent« in Children. In: The New England Journal of Medicine 289 (1973), S. 886. Tooley, M.: Abtreibung und Kindstötung. In: A. Leist (Hg.): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt a. M. 1990, S. 157–195. Tooley, M.: A Defense of Abortion and Infanticide. In: J. Feinberg (Hg.): The Problem of Abortion. Belmont, Cal. 1973, S. 51–92. Williams, B./Smart J. J. C.: Utilitarianism: For and Against. Cambridge 1973. Williams, G.: The Sanctity of Life and the Criminal Law. New York 1957.

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Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung? Thomas D. Sullivan

Durch die jüngsten Fortschritte in der Medizintechnik ist es heute möglich, das Leben vieler Personen zu retten und zu verlängern, die in früheren Zeiten rasch gestorben wären. Unglücklicherweise ist dies jedoch häufig nicht möglich, ohne den Patienten und ihren Familien eine Zukunft voller Sorgen aufzubürden. Die modernen Methoden der Neurochirurgie machen es möglich, bei einem Baby, das mit schwerer Spina bifida geboren wird, den Spalt im unteren Bereich der Wirbelsäule erfolgreich zu schließen, doch sie können nichts tun, um die Lähmung zu lindern, die den Patienten hüftabwärts plagen wird oder um seine Stuhl- und Harninkontinenz zu heilen. Antibiotika und Hauttransplantationen können das Leben einer von schwersten Verbrennungen betroffenen Person retten, aber sie können nicht die immobilisierenden Kontraktionen von Armen und Beinen, die extremen Schmerzen und die furchtbare Entstellung des Gesichts beheben. Es verwundert daher nicht, dass zunehmend mehr Ärzte und Ethiker empfehlen, solchen Patienten keine Hilfe zu leisten, und dass einige mittlerweile sogar die absichtliche Beschleunigung des Todes mit medizinischen Mitteln befürworten, vorausgesetzt, die zuständigen Parteien haben ihre Einwilligung hierzu nach erfolgter Aufklärung erteilt. Die letztere Empfehlung steht in bewusstem und direktem Konflikt zu dem, was man die »traditionelle« Auffassung von der Rolle des Arztes nennen könnte. Die traditionelle Auffassung, wie sie beispielsweise von der Delegiertenversammlung der American Medical Association (AMA) im Jahr 1973 artikuliert wurde, erklärte: Die absichtliche Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen – Tötung aus Mitleid [mercy killing] – steht im Widerspruch zu dem, wofür der Arztberuf steht, und im Widerspruch zu den Grundsätzen der American Medical Association.

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Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung?

Die Beendigung des Einsatzes außergewöhnlicher Maßnahmen zur Lebensverlängerung bei Personen, wenn es unwiderlegbare Anzeichen dafür gibt, dass der biologische Tod unmittelbar bevorsteht, liegt in der Entscheidung des Patienten und/oder der seiner engsten Angehörigen. Der Rat und die Einschätzung des Arztes sollten für den Patienten und/oder seine engsten Familienangehörigen frei verfügbar sein.

Im Wesentlichen umfasst diese Auffassung zwei Punkte: (1) dass der Arzt oder eine sonstige Person nicht absichtlich das Leben eines Patienten beenden darf, aber (2) dass es in einigen Fällen zulässig ist, den Einsatz »außergewöhnlicher Maßnahmen« zur Lebenserhaltung zu beenden, obgleich die absehbare Folge davon der Tod des Patienten ist. Ergibt diese Position wirklich einen Sinn? Jüngste Kritiken bestreiten das. Im Mittelpunkt der Kritik steht, dass die traditionelle Auffassung willkürlich alle Fälle von absichtlichem Handeln, um ein Leben zu beenden, ausschließt, das eigentliche moralische Äquivalent hingegen, das Sterbenlassen von Patienten, erlaubt. Dieser Vorwurf wurde von James Rachels in einem vielgelesenen Beitrag, der in einer der jüngsten Ausgaben des New England Journal of Medicine unter dem Titel »Active and Passive Euthanasia« erschienen ist, klar formuliert. 1 Unter »aktiver Sterbehilfe« scheint Rachels zu verstehen, etwas zu tun, um den Tod eines Patienten herbeizuführen, und unter »passiver Sterbehilfe«, nichts zu tun, d. h. den Patienten bloß sterben zu lassen. Unter Bezugnahme auf die Erklärung der AMA versteht Rachels die traditionelle Position so, dass sie aktive Sterbehilfe stets verbietet, passive Sterbehilfe hingegen erlaubt. Er behauptet jedoch, dass sich passive Sterbehilfe in einigen Fällen moralisch nicht von aktiver Sterbehilfe unterscheiden lässt und in anderen Fällen sogar schlimmer sein kann als Letztere. Um sein Argument zu verdeutlichen, bittet er seine Leser, den Fall eines Babys mit Down-Syndrom zu betrachten, das unter einem Darmverschluss leidet, der durch eine Routineoperation leicht behoben werden könnte. Rachels erklärt dazu: Ich kann verstehen, warum einige gegen jede Art von Sterbehilfe sind und darauf beharren, dass es solchen Säuglingen erlaubt sein muss zu leben. Ich glaube, ich kann auch verstehen, warum andere dafür sind, diese Babys lieber schnell und schmerzlos zu töten. Doch warum sollte irgendjemand James Rachels: »Active and Passive Euthanasia«, in: The New England Journal of Medicine 292 (1975), S. 78–80.

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dafür sein, »ein winziges Wesen durch Dehydrierung und Infektion über Stunden und Tage verkümmern« zu lassen? Die Lehre, die besagt, dass ein Baby dehydrieren und verkümmern, aber keine Spritze erhalten darf, die sein Leben ohne Leiden beenden würde, scheint so offensichtlich grausam, dass sie keiner weiteren Widerlegung bedarf. 2

Rachels möchte darauf hinaus, dass sich Entscheidungen wie die, die er als »offensichtlich grausam« beschreibt, aus einer falschen moralischen Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe ergeben, die wiederum auf einer Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen beruht, die selbst keine moralische Bedeutung hat. Ein Grund, weshalb so viele Menschen der Ansicht sind, dass es einen wichtigen moralischen Unterschied zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe gibt, besteht darin, dass sie meinen, jemanden zu töten sei moralisch schlimmer als jemanden sterben zu lassen. Aber stimmt das? […] Um dieser Frage nachzugehen, lassen sich zwei Fälle betrachten, die sich exakt gleichen, außer dass der eine mit der Tötung und der andere mit dem Sterbenlassen einer Person einhergeht. Man kann folglich fragen, ob dieser Unterschied irgendeine Rolle für die moralische Bewertung spielt. […] Im ersten Fall kann Smith von einer großen Erbschaft profitieren, wenn seinem sechsjährigen Cousin etwas zustößt. Eines Abends, während das Kind ein Bad nimmt, schleicht sich Smith ins Badezimmer und ertränkt das Kind und lässt dann alles wie einen Unfall aussehen. Im zweiten Fall kann auch Jones profitieren, wenn seinem sechsjährigen Cousin etwas zustößt. Wie Smith schleicht sich auch Jones mit dem Plan herein, das Kind in seinem Bad zu ertränken. Doch gerade als er das Badezimmer betritt, sieht Jones, wie das Kind ausrutscht, seinen Kopf stößt und mit diesem nach unten ins Wasser fällt. Jones ist begeistert; er schaut zu, bereit, den Kopf des Kindes, falls nötig, wieder zurück unter Wasser zu drücken, doch das ist nicht notwendig. Das Kind zappelt nur noch ein paar Mal und ertrinkt dann »durch einen Unfall« ganz von allein, während Jones dabei zusieht und nichts tut. 3

Rachels erläutert, dass Smith das Kind getötet hat, während Jones das Kind »lediglich« hat sterben lassen. Wenn es eine wichtige moralische Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen gibt, sollten wir folglich sagen, dass Jones’ Verhalten aus moralischer Perspektive weniger verwerflich ist als das von Smith. Doch während das Gesetz hier einige Unterscheidungen treffen mag, scheint es offenkundig, dass sich die Taten von Jones und Smith nicht in irgendeiner wichtigen 2 3

Ebd., S. 78–79. Ebd., S. 79.

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Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung?

Weise unterscheiden oder dass, wenn es einen Unterschied gibt, Jones’ Handlung sogar noch schlimmer ist. Im Kern lautet daher der Einwand gegen die Position der AMA, den Rachels und andere, die wie er argumentieren, erheben, dass sie eine höchst fragwürdige moralische Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen billigt, die, wenn sie akzeptiert wird, zu unvertretbaren ärztlichen Entscheidungen führt. An keiner Stelle sagt Rachels wirklich offen, dass er in einigen Fällen aktive Sterbehilfe befürwortet, doch die Folgerung ist klar. Fast jeder ist der Auffassung, dass es manchmal sinnlos ist, den Sterbeprozess zu verlängern und dass es in diesen Fällen moralisch zulässig ist, einen Patienten sterben zu lassen, auch wenn man durch Maßnahmen, die auch die Qualen des Sterbenden vergrößern würden, einige Stunden oder Tage gewinnen könnte. Doch wenn es unmöglich ist, eine allgemeine Unterscheidung zwischen dem Sterbenlassen von Menschen und einem Handeln, das auf die direkte Beendigung ihres Lebens abzielt, zu vertreten, dann scheint es, dass aktive Sterbehilfe ebenfalls moralisch zulässig sein könnte. Was sollen wir nun von all dem halten? Es ist grausam, danebenzustehen und zuzuschauen, wie ein Baby mit Down-Syndrom einen qualvollen Tod stirbt, wenn eine einfache Operation den Darmverschluss beheben würde; doch uns damit zu entschuldigen, dass wir durch die Unterlassung der Operation nichts getan hätten, um den Tod herbeizuführen, wäre ein Beispiel für moralische Ausflüchte, die mit der Entschuldigung vergleichbar wären, die Jones für seine Handlung anbieten würde, mit der er seinen Cousin »lediglich« sterben ließ. Versucht jemand, den Tod eines anderen Menschen herbeizuführen, so stimmt es zudem, dass es aus moralischer Perspektive dann kaum einen Unterschied macht, ob seine Zielsetzung, wie in den Fällen von Jones und Smith, durch eine Handlung oder eine böswillige Unterlassung erreicht wird. Doch müssen wir, wenn wir dies einräumen, die traditionelle Auffassung, wie sie in der Erklärung der AMA zum Ausdruck kommt, aufgeben? Natürlich nicht. Zunächst einmal sind wir kaum dazu verpflichtet, die Jones-artige Rolle zu übernehmen, die Rachels dem Verteidiger der traditionellen Auffassung zuschreibt. Wir haben die Möglichkeit, das Baby mit Down-Syndrom zu operieren und sein Leben zu retten. Rachels erwähnt diese Möglichkeit nur im Vorbeigehen, so als wäre es nicht das, was die Gegenseite tun würde. Doch

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natürlich würden sich die meisten Verfechter der traditionellen Auffassung für genau diese Vorgehensweise entscheiden. Obwohl es zweitens sein kann, dass einige eher verwirrte Menschen ihre Unterstützung der traditionellen Auffassung damit begründen, dass es aus ihrer Sicht stets schlimmer ist, einen Menschen zu töten als ihn sterben zu lassen, wird doch niemand, der sich eingehender mit dieser Sache beschäftigt, sie so darstellen. Eher wird man sagen, dass es eindeutig moralisch schlimmer ist, einen Menschen zu töten als ihn nicht zu töten, und dass seine Tötung entweder dadurch erfolgen kann, dass man handelt, um den Tod herbeizuführen, oder dass man gewöhnliche Maßnahmen, mit denen sein Leben erhalten werden könnte, verweigert, um so zum selben Ziel zu gelangen. Ich behaupte, dass Rachels’ Einwände die Position, die er kritisieren möchte, nicht treffen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass der Jargon von aktiver und passiver Sterbehilfe – und es ist ein Jargon – in der Resolution der AMA nicht auftaucht. Und Letztere nennt oder impliziert auch nicht die Unterscheidung, die Rachels angreift: eine Unterscheidung, die einen besonderen moralischen Wert auf offenes Verhalten – ob man seine Körperteile bewegt oder nicht – legt, während die Absichten des Handelnden vollkommen ignoriert werden. Dass keine Unterscheidung vorgenommen wird, scheint sich daran zu zeigen, dass sich die AMA-Resolution in bestimmten Fällen zustimmend dazu äußert, den Einsatz außergewöhnlicher Maßnahmen zu beenden, und solche Abbrüche können leicht körperliche Bewegungen beinhalten, zum Beispiel das Abschalten eines Sauerstoffgeräts. Zusätzlich dazu, dass er seiner Gegenseite eine unvertretbare Unterscheidung, die sie nicht vornimmt, aufbürdet, ignoriert Rachels darüber hinaus eine Unterscheidung, die sie durchaus macht – eine, die für eine faire Interpretation der Auffassung zentral ist. Erinnern wir uns daran, dass die AMA den Abbruch dessen erlaubt, was sie als außergewöhnliche Maßnahmen zur Lebenserhaltung bezeichnet; den Gegensatz hierzu bilden offensichtlich die gewöhnlichen Maßnahmen. Obwohl in ihrer kurzen Erklärung diese Ausdrücke nicht definiert werden, erscheint die Definition, die Paul Ramsey als Standard in seinem Buch The Patient as Person anführt, passend: Gewöhnliche Maßnahmen zur Lebenserhaltung sind alle Medikamente, Behandlungen und Operationen, die eine begründete Hoffnung auf einen Nutzen für den Patienten bieten und die ohne unverhältnismäßige Kosten,

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Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung?

Schmerzen und andere Unannehmlichkeiten erlangt und eingesetzt werden können. Außergewöhnliche Maßnahmen zur Lebenserhaltung sind all jene Medikamente, Behandlungen und Operationen, die nicht ohne unverhältnismäßige Kosten, Schmerzen oder andere Unannehmlichkeiten erlangt werden können oder die, falls sie eingesetzt würden, keine begründete Hoffnung auf einen Nutzen bieten würden. 4

Mit dieser Unterscheidung vor Augen können wir nun erkennen, wie sich die traditionelle Auffassung von der Position unterscheidet, mit der Rachels sie verwechselt. Die traditionelle Auffassung besagt, dass die absichtliche Beendigung menschlichen Lebens unzulässig ist, gleichviel, ob dieses Ziel durch Handeln oder Nichthandeln erreicht wird. Zielt die Handlung oder Unterlassung der Handlung darauf ab, einen Tod herbeizuführen? Wird die Beendigung des Lebens angestrebt, bewusst gewählt oder geplant? Ist die Absicht tödlich? Wenn ja, ist die Handlung oder Unterlassung falsch. Doch wir alle wissen, dass es durchaus möglich ist, dass die fehlende Bereitschaft eines Arztes, außergewöhnliche Maßnahmen zur Lebenserhaltung einzusetzen, nicht auf einen Entschluss, den Tod herbeizuführen, zurückgehen muss, sondern andere Beweggründe haben kann. Der Arzt könnte zum Beispiel zu der Einsicht gelangen, dass eine weitere Behandlung kaum eine Hoffnung bietet, den Sterbeprozess aufzuhalten und bzw. oder sehr qualvoll sein könnte, etwa wenn eine stark nekrotische Darmerkrankung bei einem Neugeborenen außer Kontrolle geraten ist. Der Arzt, der alles in seiner Macht Stehende tut, um dem Säugling Beistand zu leisten, doch ihn keiner weiteren Behandlung oder Operation unterzieht, mag absehen, dass die Entscheidung seinen Tod beschleunigen wird, doch daraus folgt sicherlich nicht, dass er beabsichtigt, seinen Tod herbeizuführen. Schließlich ist es durchaus möglich, dass man absieht, dass etwas infolge des eigenen Verhaltens eintreten wird, ohne dass man die Folge oder die Nebenwirkung beabsichtigt. Wenn ich in die Innenstadt fahre, kann ich absehen, dass ich meine Reifen ein wenig abnutze, doch ich fahre nicht mit der Absicht in die Innenstadt, meine Reifen abzunutzen. Und wenn ich mich entscheide, ein paar Tage auf mein Training zu verzichten, kann ich der Meinung sein, dass sich dadurch Paul Ramsey: The Patient as Person, New Haven/London 1970, S. 122. Ramsey kürzt die Definition ab, die zuerst von Gerald Kelly, S.J. vorgeschlagen wurde (ders.: Medico-Moral Problems, St. Louis, Mo. 1958, S. 129).

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Thomas D. Sullivan

meine körperliche Verfassung ein wenig verschlechtern wird, doch ich setze meine Übungen nicht in der Absicht aus, mich selbst zu schwächen. Und wenn Sie eine Stelle zu besetzen haben und Green wählen, die besser für den Posten qualifiziert ist als ihr Mitbewerber Brown, dann müssen Sie nicht Green in der Absicht einstellen, Brown zu kränken, obwohl Sie vielleicht absehen, dass Brown sich gekränkt fühlen wird. Und wenn ein Land seine allgemeinen Bildungsprogramme auf seine analphabetische Bevölkerung ausdehnt, so ist vorhersehbar, dass die Suizidrate steigen wird, doch auch wenn die Behörden sich dieser Tatsache bewusst sind, folgt daraus nicht, dass sie das Programm in der Absicht einleiten, damit die Suizidrate hochzutreiben. Im Allgemeinen ist es folglich nicht so, dass all die absehbaren Folgen und Nebenwirkungen unseres Verhaltens notwendig beabsichtigt sind. Und weil der Abbruch der außergewöhnlichen Maßnahmen durch den Arzt durch andere Dinge motiviert sein kann als durch den Wunsch, den absehbaren Tod des Patienten herbeizuführen, kann so ein Handeln nicht kategorisch als falsch ausgeschlossen werden. Doch die Weigerung, gewöhnliche Maßnahmen einzusetzen, ist etwas völlig anderes. Mit welchem Ziel sollte man schließlich eine Hilfe verweigern, die eine begründete Hoffnung auf einen Nutzen für den Patienten böte und mit der keine exzessiven Schmerzen oder andere Unannehmlichkeiten verbunden wären? Wie könnte plausibel behauptet werden, dass die Weigerung nicht durch den Wunsch motiviert ist, den Tod des Patienten herbeizuführen? Die traditionelle Position schließt daher nicht nur direkte Handlungen zur Herbeiführung des Todes aus, wie etwa die Verabreichung einer tödlichen Spritze für den Patienten, sondern auch böswillige Unterlassungen, wie etwa die fehlende Bereitstellung einer Mindestversorgung für das Neugeborene. Dass die Position der AMA so albern klingt, wenn man Argumente wie die von Rachels hört, liegt daran, dass er die Unterscheidung zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Maßnahmen ignoriert und dann auf Fällen herumreitet, in denen gewöhnliche Maßnahmen verweigert werden. Dadurch entsteht der Eindruck, die traditionelle Lehre würde Unterlassungen billigen, die sich moralisch nicht wesentlich von direkten Tötungen unterscheiden, sich dann aber unverständlicherweise weigern, eine schnelle und schmerzlose Lebensbeendigung zu erlauben. Wenn die traditionelle Lehre es billigen würde, dass Jones mit einem Grinsen im Gesicht dabei zusieht, 64 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Aktive und passive Sterbehilfe: Eine irrelevante Unterscheidung?

wie sein junger Cousin in der Badewanne ertrinkt, oder dass ein Baby mit Down-Syndrom verkümmert und stirbt, obwohl gewöhnliche Maßnahmen zu seiner Lebenserhaltung zur Verfügung stehen, wäre es wirklich schwierig zu verstehen, wie irgendjemand sie vertreten könnte. Doch wer die traditionelle Lehre so versteht, versteht sie schlicht falsch. Es handelt sich um nicht um eine Lehre, die auf einer vermeintlichen Unterscheidung zwischen »aktiver« und »passiver« Sterbehilfe fußt, was auch immer diese Worte bedeuten sollen, oder auf einer Unterscheidung zwischen der Bewegung und der Nichtbewegung unserer Körper. Es handelt sich vielmehr schlicht um ein Verbot der absichtlichen Tötung, das sowohl direkte Handlungen als auch böswillige Unterlassungen umfasst. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Erklärung der AMA, die die traditionelle Position repräsentiert, ist nicht inkohärent. Sie erkennt die Tatsache an oder richtiger noch: Sie besteht auf der Tatsache, dass die Verweigerung gewöhnlicher Maßnahmen zur Lebenserhaltung einer Tötung gleichkommen kann. Man kann die traditionelle Position nur dadurch inkohärent erscheinen lassen, dass man ihr eine krude Vorstellung vom Töten aufdrängt, die von keiner ihrer redegewandteren Befürworter vertreten wird. Indem sie ihr Angriffsziel missversteht, geht die Kritik von Rachels und anderen Reformern somit an der traditionellen Position vorbei. Diese stellt einfach ein Verbot von Mord dar. Und es ist gut, nicht zu vergessen, was C. S. Lewis einst herausstellte: Niemand hat vielleicht jemals am Anfang sich selbst gegenüber die Tat, die er im Begriff war zu tun, als Mord, Ehebruch, Betrug oder Verrat beschrieben. […] Und wenn er hört, dass sie von anderen so beschrieben wird, ist er (in gewisser Weise) ernsthaft schockiert und überrascht. Diese anderen »verstehen es nicht«. Wenn sie ihn wirklich verstehen würden, würden sie nicht solche kruden, abgedroschenen Bezeichnungen benutzen. Mit einem Blinzeln oder Kichern oder einer verworrenen Gefühlswallung hat sich diese Sache als etwas nicht sonderlich Außergewöhnliches in seinen Willen geschlichen, als etwas, auf das er, richtig verstanden in all seinen besonderen Umständen, vielleicht sogar stolz ist. 5

Ich bin mir vollkommen darüber im Klaren, dass es Zeiten gibt, in denen diejenigen, die die edle Pflicht haben, sich um die Kranken und die Sterbenden zu kümmern, von den Leiden ihrer Patienten tief erschüttert sind, besonders wenn es sich um sehr junge und sehr alte 5

Clive S. Lewis: A Preface to Paradise Lost, London/New York 1970, S. 126.

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Thomas D. Sullivan

Menschen handelt, und dass es Momente gibt, in denen sie sich verzweifelt wünschen, sie könnten mehr tun, als ihnen Beistand zu leisten und sie zu begleiten. Dann mag es vielleicht so scheinen, als seien allgemeine moralische Prinzipien bloße abstrakte Begriffe, die wenig mit der Qual der Sterbenden zu tun haben. Doch natürlich sehen wir nicht am klarsten, wenn unsere Augen voller Tränen sind. Übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

Literaturverzeichnis Kelly, G., S.J.: Medico-Moral Problems. St. Louis, Mo. 1958. Lewis, C. S.: A Preface to Paradise Lost. London/New York 1970. Rachels, J.: Active and Passive Euthanasia. In: The New England Journal of Medicine 292 (1975), S. 78–80. Ramsey, P.: The Patient as Person. New Haven/London 1970.

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Die absichtliche Beendigung des Lebens Bonnie Steinbock

Nach James Rachels und Michael Tooley […] handelt es sich bei dem Glauben, es gebe eine moralische Differenz zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, um einen häufigen Fehler in der Medizinethik. Es handle sich deswegen um einen Fehler, so ihr Argument, weil die Begründung, die der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe zugrunde liegt, in dem Gedanken fußt, dass es einen signifikanten moralischen Unterschied gibt zwischen der absichtlichen Tötung und dem absichtlichen Sterbenlassen. »Diese Vorstellung«, so Tooley, »ist zugegebenermaßen recht verbreitet. Aber ich glaube, dass man zeigen kann, dass sie entweder auf gedanklicher Verwirrung beruht oder auf einem moralischen Standpunkt, der keinen Bezug zu den Interessen der Individuen hat.« Ob der Glaube, dass es einen signifikanten moralischen Unterschied gebe, irrig ist, soll mich hier nicht beschäftigen. Denn es ist alles andere als eindeutig, dass diese Unterscheidung die Grundlage der Doktrin der American Medical Association ist, die von Rachels angegriffen wird. Und wenn die Töten/Sterbenlassen-Unterscheidung nicht die Grundlage der AMADoktrin ist, dann zeigen Argumente, die nachweisen, dass die Unterscheidung kein moralisches Gewicht besitzt, nicht schon von alleine die »gedankliche Verwirrung« der Anhänger der Doktrin oder, dass sie auf einem »moralischen Standpunkt, der keinen Bezug zu den Interessen der Individuen hat«, stünden. Bei näherer Betrachtung wird vielmehr deutlich werden, dass sich die Doktrin der AMA mehrerer, sich überschneidender Unterscheidungen bedient, die in besonderen Fällen moralisches Gewicht besitzen, etwa der Unterscheidung zwischen bewusst Vorhaben und Voraussehen und zwischen normaler und außergewöhnlich intensiver Pflege. Betrachten wir also die Verlautbarung des Delegiertengremiums der AMA von 1973, aus der Rachels zitiert:

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Die absichtliche Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen – Sterbehilfe – steht im Widerspruch zu dem, wofür der Beruf des Mediziners steht, und im Widerspruch zu den Grundsätzen der American Medical Association. Die Entscheidung über die Beendigung des Einsatzes besonderer intensivpflegerischer Mittel, um den Körper am Leben zu halten, wenn es unzweifelhafte Anzeichen für den bevorstehenden biologischen Tod gibt, liegt in den Händen des Patienten bzw. seiner engsten Familie. Der Rat und das Urteil des Mediziners sollten dem Patienten und seiner engsten Familie frei zur Verfügung stehen.

Rachels greift diesen Text an, weil er der Auffassung ist, dass er eine moralische Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe enthält. Tooley ist der gleichen Auffassung und schreibt: Viele Menschen sind überzeugt, dass es einen wichtigen moralischen Unterschied zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe gibt. Während die AMA also auf dem Standpunkt steht, dass Menschen ein Recht auf einen »würdevollen Tod« haben, so dass es einem Arzt moralisch erlaubt sein soll, jemanden sterben zu lassen, wenn diese Person das will und an einer unheilbaren Krankheit leidet, die Schmerzen verursacht, die nicht ausreichend gelindert werden können, ist die AMA nicht bereit, aktive Sterbehilfe für Patienten in ähnlichen Lagen zu befürworten, die das Unglück haben, nicht an Krankheiten zu leiden, die zu einem raschen Tod führen.

Beide nehmen also an, dass die Aussage der AMA aktive Sterbehilfe verbiete, während sie unter bestimmten Umständen passive Sterbehilfe erlaube. Ich möchte zeigen, dass die Verlautbarung der AMA diese Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe nicht deckt. Indem sie die absichtliche Beendigung des Lebens verbietet, lehnt sie sowohl aktive als auch passive Sterbehilfe ab. Sie erlaubt in der Tat »die Beendigung des Einsatzes außergewöhnlicher medizinischer Mittel, um den Körper am Leben zu halten«. Der Fehler, den Rachels und Tooley machen, liegt in der Gleichsetzung der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen einerseits und passiver Sterbehilfe oder dem absichtlichen Sterbenlassen andererseits. Könnte man beides gleichsetzen, würde die Verlautbarung der AMA sich selbst widersprechen, würde sie doch mit der Ablehnung der absichtlichen Lebensbeendigung beginnen und dann mit ihrer Erlaubnis schließen. Aber wenn die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen nicht immer oder nicht notwendigerweise passive Sterbehilfe ist, dann gibt es auch keine Verwirrung und keinen Widerspruch. Warum glaubt Rachels, dass die Beendigung lebenserhaltender 68 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Die absichtliche Beendigung des Lebens

Maßnahmen dasselbe ist wie die absichtliche Beendigung des Lebens? Er schreibt: Die Grundsätze der AMA legen den Kern des Problems recht deutlich frei: Das entscheidende Problem ist »die absichtliche Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen«. Aber nachdem dieses Problem deutlich gemacht und »Sterbehilfe« verboten wurde, fährt der Text fort, indem er bestreitet, dass der Behandlungsabbruch eine Form der absichtlichen Lebensbeendigung ist. Hier schleicht sich der Fehler ein, denn was ist der Behandlungsabbruch unter diesen Umständen anderes als »die absichtliche Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen«? Natürlich ist er genau das, und wäre er es nicht, wäre er auch zwecklos.

Nun kann die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen durchaus einen anderen Zweck haben als den Tod eines Patienten herbeizuführen, und so ist die pauschale Gleichsetzung des Abbruchs einer Behandlung mit der absichtlichen Beendigung von Leben unzutreffend. Es gibt mindestens zwei Situationen, in denen man die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen nicht mit der absichtlichen Beendigung des Lebens eines Menschen durch einen anderen gleichsetzen kann. Die erste Situation betrifft das Recht des Patienten, eine Behandlung abzulehnen. Sowohl Tooley als auch Rachels nennen das Beispiel eines Patienten, der im Begriff ist, an einer unheilbaren Krankheit zu sterben, die von nicht zu lindernden Schmerzen begleitet wird, und der die Behandlung abbrechen möchte, die ihn nicht heilen kann, sondern nur seine leidvolle Existenz verlängert. Warum, so ihre Frage, darf ein Arzt dem Wunsch eines Patienten, die Behandlung zu beenden, nachkommen, nicht aber einem Patienten, der sich in einer ähnlichen Situation befindet, eine tödliche Dosis verabreichen? Die Antwort liegt im Recht des Patienten, eine Behandlung zu verweigern. Im Allgemeinen hat ein mündiger Erwachsener das Recht, Behandlungen abzulehnen, auch wenn eine solche Behandlung notwendig zur Lebenserhaltung ist. Dieses Recht ist in der Tat sogar dann bestätigt worden, wenn die Begründung des Patienten für die Verweigerung der Behandlung allgemein als inadäquat befunden wurde. 1 Dieses Recht kann zwar ausgehebelt werden (z. B. wenn der Patient Erziehungsberechtigter von ihm abhängiger Kindern ist), aber Zum Beispiel In re Yetter, 62 Pa. D. & C. 2D 619 (C. P., Northhampton County Ct. 1974), https://www.leagle.com/decision/197368162padampc2d6191572 (letzter Zugriff: 15. 01. 2019).

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grundsätzlich kann niemand per Gesetz gezwungen werden, eine Behandlung zuzulassen, der man nicht zugestimmt hat. »Historisch betrachtet, wurden chirurgische Eingriffe immer als etwas angesehen, was im formalen Sinne eine Körperverletzung darstellte, die durch die Zustimmung des Patienten oder die speziellen Umstände entschuldigt oder gerechtfertigt werden musste […].« 2 An diesem Punkt könnte man den Einwand erheben, dass, falls man das Recht hat, lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen, man um der Widerspruchsfreiheit willen auch zugestehen muss, dass man dann auch das Recht hat, zu beschließen, sein Leben zu beenden, und dabei Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Gedanke lautet, dass das Recht, Behandlungen zu verweigern, irgendwie gleichbedeutend mit dem Recht auf freiwillige Sterbehilfe ist, und man muss sich ansehen, wie dieser Gedanke zustande kommt. Das Recht, Behandlungen zu verweigern, wurde von einigen juristischen Autoren als ein Fall des Rechts auf Privatsphäre oder genauer: auf körperliche Selbstbestimmung interpretiert. Man hat das Recht zu entscheiden, was mit dem eigenen Körper passiert; und das Recht, Behandlungen zu verweigern, ist ein Beispiel für dieses Recht. Aber wenn man das Recht hat zu entscheiden, was mit dem eigenen Körper passiert, sollte man dann nicht auch das Recht haben, darüber zu entscheiden, ob man das eigene Leben beenden will, und gar das Recht, dafür Hilfe in Anspruch zu nehmen? Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass das Recht auf die Ablehnung einer Behandlung weder mit dem Recht auf freiwillige Sterbehilfe identisch ist noch dieses beinhaltet, auch wenn beide aus dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung ableitbar sind. Das Recht, eine Behandlung abzulehnen, ist nicht bereits ein »Recht zu sterben«; dabei ist irrelevant, ob jemand dieses Recht auch angesichts eines Sterberisikos ausüben möchte oder gar mit dem Ziel zu sterben. Der Zweck des Rechts auf die Ablehnung einer Behandlung ist nicht, seinen Trägern ein Recht zu geben, über ihr Leben oder ihren Tod zu entscheiden, sondern sie vor ungewollten Eingriffen anderer zu schützen. Vielleicht sollten wir das Recht auf körperliche Selbstbestimmung breiter definieren, um auch das Recht zu sterben einzuschließen; aber dabei würde es sich um eine substanzielle Erweiterung unseres gegenwärtigen Verständnisses des Rechts auf körperDavid W. Meyers: »Legal Aspects of Voluntary Euthanasia«, in: J. Benke/S. Bok (Hg.): Dilemmas of Euthanasia, New York 1975, hier S. 56.

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Die absichtliche Beendigung des Lebens

liche Selbstbestimmung handeln und nicht lediglich um eine Konsequenz dieses Rechts. Würde man ein Recht auf freiwillige Sterbehilfe akzeptieren, müsste man weiterhin auch anerkennen, dass man nicht nur das Recht hat, nicht behandelt zu werden, sondern auch das Recht, getötet zu werden. Diese schwerwiegende moralische Frage möchte ich einstweilen nicht behandeln. Meine Behauptung lautet einfach, dass es einen anderen Grund dafür geben kann, eine lebenserhaltende Maßnahme abzubrechen, als den Wunsch, »den Tod des Patienten herbeizuführen«. Der zweite Fall, in dem der Abbruch der Behandlung nicht identisch mit der absichtlichen Beendigung des Lebens ist, tritt ein, wenn die Fortführung der Behandlung wenig Aussicht auf Besserung der Lage des Patienten verspricht und mehr Beschwerden als Erleichterung bewirkt. Die Frage ist hier, welche Art von Behandlung zu dem jeweiligen Fall passt. Ein Krebsspezialist schreibt hierzu: Meine Grundregel lautet: Es wird so lange behandelt, wie die Behandlung gut anschlägt, und das Potential hat, eine angemessene Lebensqualität zu gewährleisten. Aber wenn alle geeigneten Therapien angewendet worden sind und der Patient Zeichen einer rapiden Verschlechterung zeigt, kann die Behandlung mehr Beschwerden als der Krebs selbst hervorrufen. Ab diesem Zeitpunkt empfehle ich Operation, Strahlentherapie oder Chemotherapie nur noch zur Schmerzlinderung. Aber wenn sich der Zustand eines Patienten nach dem Abbruch der aktiven Therapie wieder stabilisiert und es sich so darstellt, als könnte er noch eine gute Zeit gewinnen, würde ich die aktive Therapie sofort wiederaufnehmen. Die Entscheidung, eine Krebstherapie abzubrechen, ist nie irreversibel, und häufig bewirkt der Lebenswille des Patienten den Willen, eine erneute Remission anzustreben, oder gar ein paar Tage mehr Lebenszeit. 3

Hier kann die Entscheidung, die Krebsbehandlung abzubrechen, nicht als die Entscheidung über den Tod des Patienten oder als die absichtliche Beendigung seines Lebens verstanden werden. Es handelt sich vielmehr um eine Entscheidung darüber, wie die passendste Behandlung für den Patienten zu diesem Zeitpunkt aussieht. Rachels legt nahe, dass der Zweck des Behandlungsabbruchs die absichtliche Beendigung des Lebens des Patienten ist. Aber der Zweck der Beendigung der Behandlung ist hier nicht, den Tod des Patienten herbeizuführen, sondern eine Behandlung zu verhindern, die mehr Beschwerden be3

Ernest H. Rosenbaum, M.D.: Living With Cancer, New York 1975, hier S. 27.

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wirkt als der Krebs selbst und bei der wenig Aussicht auf Verbesserung des Zustands des Patienten besteht. Behandlungen, auf die diese Beschreibung zutrifft, werden oft als »außergewöhnlich« 4 bezeichnet. Das ist ein flexibler Begriff, und was in der einen Situation als »normal« angesehen wird, kann in einer anderen schon »außergewöhnlich« sein. Den Einsatz eines Beatmungsgeräts bei einem Patienten, der an einer schweren Erkrankung des Atmungsapparats leidet, wird wohl als normal angesehen werden, im Falle der Lebenserhaltung einer komatösen Person mit einem schweren Hirnschaden jedoch als außergewöhnlich. Außergewöhnliche Behandlungsmaßnahmen stehen im Gegensatz zu normalen, also denen, die ein Arzt üblicherweise durchführt. Das Versäumnis, eine solche Behandlung durchzuführen, stellt unterlassene Hilfeleistung dar und könnte sogar als bewusste Schädigung angesehen werden, wenn eine rechtliche Verpflichtung zur Behandlung vorliegt. Die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Behandlungsmaßnahmen liegt zum Teil in ihrem Bezug zur Absicht des Arztes. Der Verzicht auf außergewöhnliche Maßnahmen sollte als eine Entscheidung darüber angesehen werden, zu vermeiden, schmerzhafte Behandlungen bei Patienten anzuwenden, bei denen es keine realistische Aussicht auf Erfolg gibt. Der Verzicht auf gewöhnliche Maßnahmen muss hingegen als unterlassene Hilfeleistung betrachtet werden. In den Worten eines Arztes: »Wir müssen eine Linie zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Maßnahmen ziehen. Wir würden nie einem Säugling etwas vorenthalten, das ihm Annehmlichkeit bereitet, wir würden nie eine Fürsorge vorenthalten, wie Eltern sie bieten. Wir werden niemals einen Säugling töten. […] Aber wir können bei bestimmten waghalsigen Eingriffen zu dem Schluss kommen, dass sie die Mühe nicht wert sind.« 5 Man sollte die Unterscheidung zwischen gewöhnlichen und außergewöhnlichen Behandlungsmaßnahmen bei der Betrachtung eines Beispiels im Hinterkopf behalten, mittels dessen sowohl Tooley als auch Rachels die Irrationalität der Aktiv-passiv-Unterscheidung in Bezug auf die frühe Kindstötung nachweisen wollen. Es handelt Siehe Tristram Engelhardt, Jr.: »Ethical Issues in Aiding the Death of Young Children«, in: M. Kohl: Beneficient Euthanasia, Buffalo 1975. 5 B. D. Colen: Karen Ann Quinlan: Living and Dying in the Age of Eternal Life, Los Angeles 1976, hier S. 115. 4

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Die absichtliche Beendigung des Lebens

sich um folgendes Beispiel: Ein Kind wurde mit Down-Syndrom geboren und hat außerdem einen Darmverschluss, der chirurgisch behandelt werden muss. Wenn die Operation nicht durchgeführt wird, wird das Kind verhungern, weil es oral keine Nahrung zu sich nehmen kann. Dies kann sich über Tage oder Wochen hinziehen, wobei Dehydration und Infektionen eintreten. Rachels kommentiert diese Situation in seinem Artikel […] wie folgt: Ich kann verstehen, warum manche Leute gegen jede Form der Sterbehilfe sind und darauf bestehen, dass solche Kinder am Leben gelassen werden sollten. Ich glaube, dass ich ebenso verstehen kann, warum andere es vorziehen, solche Kinder so schnell und schmerzlos wie möglich zu töten. Aber wieso sollte irgendjemand dafür sein, »ein kleines Lebewesen über Stunden und Tage hinweg an Dehydration und Infektionen zugrunde gehen zu lassen«? Die Lehre, die besagt, dass es erlaubt ist, einen Säugling dehydrieren und zugrunde gehen zu lassen, dass es jedoch verboten ist, ihm eine Injektion zu verabreichen, die sein Leben ohne Leid beenden würde, erscheint so offensichtlich grausam, dass kaum eine Widerlegung nötig scheint.

Eine solche Lehre bedarf möglicherweise keiner Widerlegung; aber dabei handelt es sich nicht um die Lehre der American Medical Association. Die Erklärung der AMA, auf die Rachels sich bezieht, erlaubt nur die Beendigung außergewöhnlicher lebenserhaltender Maßnahmen, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht. Keine dieser Bedingungen ist in diesem Beispiel erfüllt. Der Tod steht hier genauso wenig unmittelbar bevor wie im Falle einer Blinddarmentzündung bei einem normalen Kind. Weder der chirurgische Eingriff, um den Darmverschluss zu behandeln, noch die intravenöse, lebenserhaltende Ernährung, bis ein solcher Eingriff vorgenommen werden kann, können als außergewöhnliche Maßnahmen begriffen werden, denn weder sind beide sonderlich teuer, noch stellen sie eine besondere Belastung für den Patienten oder andere dar. (Man mag argumentieren, dass die fortgesetzte Existenz des Kindes eine übermäßige Last für die Eltern darstellt, aber das hat nichts mit den Eigenschaften der lebenserhaltenden Maßnahmen zu tun. Wäre dem so, dann müsste man schon das Füttern eines schwerbehinderten, intensiv pflegebedürftigen Kindes als außergewöhnlich beschreiben). Die Chancen auf eine erfolgreiche Operation sind recht gut, auch wenn es bei Eingriffen bei Säuglingen immer ein Risiko gibt. Auch wenn das DownSyndrom dadurch nicht gelindert werden wird, kann das Kind eine ansonsten normale Kindheit erleben.

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Man kann nicht argumentieren, dass die Behandlung um des Kindes willen vorenthalten wird, es sei denn, man gibt zu, dass alle geistig behinderten Kinder besser dran wären, wenn sie tot wären. Das ist im Falle von Kindern mit Down-Syndrom besonders unplausibel, weil sie im Allgemeinen keinen Leidensdruck haben und sie fähig sind, in unterschiedlichem Maße Liebe zu geben und zu empfangen, zu lernen und zu spielen. In einem Film zum Thema mit dem Titel »Who Should Survive?« verteidigt ein Arzt seine Entscheidung, keine Operation vorzunehmen, und gibt an, dass, weil die Eltern dem Eingriff nicht zustimmten, seine Hände in der Sache gebunden wären. Wie gezeigt wurde, bedarf es für chirurgische Eingriffe der Zustimmung, und im Falle von kleinen Kindern zumeist der der Eltern. Aber als Erziehungsberechtigte sind Eltern verpflichtet, medizinische Versorgung für ihre Kinder zu gewährleisten, und diese vorzuenthalten wäre gleichbedeutend mit unterlassener Hilfeleistung oder gar Mord. Im Allgemeinen sind Gerichte verständlicherweise zögerlich gewesen, ein elterliches Recht auf die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen zuzugestehen. 6 Und obwohl eine Verfolgung unwahrscheinlich ist, könnten Mediziner, die sich nach ungültigen Vorgaben von Eltern richten und ein Kind sterben lassen, für Beihilfe zur Tat, für die unterlassene Meldung einer Gefährdung des Kindeswohls oder gar für Mord belangt werden. Es trifft also nicht zu, dass Ärzte in diesem Fall rechtlich an die Wünsche der Eltern gebunden sind. Zusammenfassend kann man Folgendes sagen: Ich glaube, dass Rachels recht damit hat, dass in dem Beispielfall des Kindes mit dem Down-Syndrom die Entscheidung, nicht zu operieren, eine absichtliche Lebensbeendigung ist. Aber es gibt keinen Grund für die Annahme, dass sowohl das Gesetz als auch die Grundsätze der AMA dies anders sehen. Fest steht, dass die AMA-Doktrin die Vorenthaltung der Behandlung nicht rechtfertigt. Es kann nicht geleugnet werden, dass man solche Kinder hat sterben lassen; aber hierbei handelt es sich, so mein Argument, um ein Missverständnis auf Seiten der Ärzte in Bezug auf die Gesetzeslage und die Position der AMA.

Siehe Norman L. Cantor: »Law and the Termination of an Incompetent Patient’s Life Preserving Care«, in: J. Benke/S. Bok (Hg.): Dilemmas of Euthanasia, New York 1975, S. 69–105.

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Die absichtliche Beendigung des Lebens

In diesem Fall handelt es sich bei der Vorenthaltung einer Behandlung deshalb um eine absichtliche Lebensbeendigung, weil man das Kind vorsätzlich sterben lässt; genau das ist der Zweck des NichtOperierens. Aber es gibt andere Fälle, wo dies nicht zutrifft. Wenn es darum geht, zu vermeiden, dass am Patienten schmerzhafte Behandlungen durchgeführt werden, die wenig oder keine Aussicht auf Erfolg haben, dann handelt es sich nicht um eine absichtliche Beendigung des Lebens. Die Zulässigkeit eines solchen Behandlungsverzichts hätte somit keinerlei Implikation in Bezug auf die Zulässigkeit der aktiven oder passiven Sterbehilfe. Die Entscheidung über das Für und Wider des Eingriffs oder den Einsatz intensiver Maßnahmen ist besonders schwierig in Fällen von Kindern, die mit einer spina bifida geboren wurden, einer Öffnung am unteren Ende des Rückgrats, die in der Regel mit einem Hydrozephalus 7 und schweren geistigen Beeinträchtigungen einhergeht. Wird nicht operiert, so sterben diese Kinder in der Regel innerhalb der ersten Jahre ihres Lebens an Meningitis oder Nierenversagen. Und selbst wenn sie überleben, steht allen betroffenen Kindern ein Leben voller Krankheit, Operationen und unterschiedlichen Schweregraden an Behinderung bevor. Das übliche Verfahren war lange Zeit, so viele Kinder wie möglich zu retten, aber der Trend geht mittlerweile dahin, dass die Ärzte auf der Grundlage ihrer Einschätzung der Erfolgschancen selektiv behandeln. Wenn eine Operation wenig Aussicht auf eine signifikante Verbesserung des Zustands des Kindes verspricht, können der Arzt und die Eltern vereinbaren, von einer Operation abzusehen. Dabei handelt es sich nicht um eine absichtliche Lebensbeendigung, denn der Zweck ist hier nicht, um es zu wiederholen, die Beendigung des Lebens des Kindes, sondern die Vermeidung einer schmerzhaften und zwecklosen Behandlung. Dass es gerechtfertigt ist, auf die Behandlung zu verzichten, ist nicht gleichbedeutend damit, dass es gleichermaßen gerechtfertigt ist, das Kind zu töten. Bisher habe ich durchweg unterstellt, dass der absichtliche Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen nicht dasselbe ist wie die absichtliche Beendigung des Lebens, es sei denn, der Arzt bezweckt damit den Tod des Patienten.

Erweiterung der liquorgefüllten Hohlräume des Gehirns, umgangssprachlich auch als »Wasserkopf« bezeichnet [Anm. d. Übers.].

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Man könnte nun einwenden, dass ich die Umstände einer absichtlichen Lebensbeendigung nicht korrekt dargestellt habe. Vielleicht reicht es, dass der Arzt die Behandlung absichtlich abbricht und er dabei voraussehen kann, dass der Patient sterben wird. In vielen Fällen könnte man behaupten, dass, absichtliches Handeln vorausgesetzt, man ein Ergebnis absichtlich herbeigeführt hat, wenn es vorhersehbar war. Dies ist in der Tat auch im Allgemeinen die rechtliche Regel. Warum bin ich dann nicht bereit, den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen, im Einklang mit dem Recht des Patienten auf die Verweigerung von Behandlungen, mit der absichtlichen Lebensbeendigung gleichzusetzen? Nicht etwa, weil eine solche Gleichsetzung unbedingt schändlich wäre; denn man könnte sich weiter darüber streiten, ob ein solcher Abbruch von Behandlungen eine rechtfertigbare absichtliche Lebensbeendigung ist. Sogar im Recht lassen sich manche Tötungen rechtfertigen, zum Beispiel Tötungen in Notwehr. Der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen wird jedoch bei den Fällen, die ich besprochen habe, im Recht nicht als gerechtfertigte Tötung eines Menschen betrachtet, und zwar deshalb nicht, weil dieser Behandlungsabbruch gar keine Tötung ist. Warum nicht? Etwa deshalb, weil der Arzt »gar nichts tut« und daher nicht des Mordes schuldig sein kann? Sicher nicht, weil, wie ich gezeigt habe, das Recht oft eine Unterlassung als Todesursache ansieht. Eine bessere Erklärung ist aus meiner Sicht der Umstand, dass angesichts des Rechts des Patienten, Behandlungen zu verweigern, ein Arzt keine völlige Handlungsfreiheit bezüglich der Fortführung von Behandlungen hat. Die Möglichkeit, den Tod zu verhindern, ist wohl ein wesentlicher Bestandteil davon, von absichtlichem Sterbenlassen zu sprechen. Natürlich kann der Arzt in dieser Situation den Tod physisch verhindern, aber, weil nicht behauptet werden kann, der Arzt könne frei entscheiden, die Behandlung fortzuführen, muss man sagen, dass er »nichts tun kann«. Also lässt er den Patienten auch nicht absichtlich sterben. Um diese Annahme zufriedenstellend darzulegen, bräuchte ich eine vollständige Theorie absichtlichen Handelns. Trotzdem habe ich immerhin durch die Diskussion der obigen Beispiele gezeigt, dass eine solche Theorie recht komplex wäre und dass ein Aspekt der Komplexität in den Gründen eines Akteurs für sein Handeln liegt. Der Grund, aus dem ein Akteur gehandelt (oder die Handlung unterlassen) hat, kann die Beschreibung dessen, was er absichtlich getan 76 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Die absichtliche Beendigung des Lebens

hat, beeinflussen. Die bloße Tatsache, dass er irgendetwas absichtlich getan und dabei ein bestimmtes Ergebnis vorhergesehen hat, bedeutet nicht schon notwendigerweise, dass er dieses Ergebnis auch absichtlich herbeigeführt hat. Um zu zeigen, dass der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen in den besprochenen Fällen eine absichtliche Lebensbeendigung ist, müsste man entweder zeigen, dass die Behandlung abgebrochen wurde, um den Tod des Patienten herbeizuführen, oder eine Theorie absichtlichen Handelns anbieten, der zufolge der Grund für den Behandlungsabbruch irrelevant für dessen Charakterisierung als absichtliche Lebensbeendigung ist. Ich finde diese Annahme zwar nicht plausibel, aber ich bin bereit, auf Argumente einzugehen, die sie stützen. Rachels hat dafür keinerlei Argumente geboten: Tatsächlich teilt er offenbar meine Ansicht bezüglich der absichtlichen Lebensbeendigung. Wenn er nämlich behauptet, dass der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen gleichbedeutend mit der absichtlichen Beendigung des Lebens ist, lautet seine Begründung: »Wäre sie es nicht, wäre sie auch zwecklos.« Rachels nimmt an, dass der Zweck des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen »in diesen Fällen« die Herbeiführung des Todes des Patienten ist. Wäre dies nicht der Zweck, so seine Frage, warum sollte der Arzt die Behandlung dann abbrechen? Ich habe aber gezeigt, dass es für den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen einen anderen Zweck als den Tod des Patienten geben kann. Indem ich dies gezeigt habe, habe ich Rachels’ Begründung für die Gleichsetzung des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen mit der absichtlichen Beendigung des Lebens widerlegt und damit auch sein Argument gegen die Lehre der AMA. An dieser Stelle könnte man Folgendes einwenden: Angenommen, dass das Vorenthalten von Behandlungen nicht identisch mit der absichtlichen Lebensbeendigung ist – ist diese Tatsache von moralischer Bedeutung? Wenn man um des Kindes willen auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichten darf, darf man dann nicht auch um des Kindes willen seinen leichteren Tod herbeiführen? Es kann Monate bis Jahre dauern, bis ein Kind mit einer spina bifida ohne Operation stirbt. Verstört vom Anblick von Kindern, die »herumliegen und auf den Tod warten«, hat ein Arzt geschrieben, dass »Gesellschaft und Medizin aufhören müssen, die Fiktion aufrechtzuerhalten, dass der Behandlungsverzicht ethisch anders zu beurteilen ist als die Beendigung eines Lebens. Es wird Zeit, dass es eine gesellschaftliche Debatte gibt über die Mechanismen, mit denen wir den Schmerz und das Leid 77 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Bonnie Steinbock

von Individuen lindern können, denen wir anders nicht helfen können«. 8 Ich bestreite nicht, dass es Fälle geben mag, in welchen der Tod im besten Interesse des Patienten ist. In solchen Fällen stellt ein rascher und schmerzloser Tod wohl die beste Möglichkeit dar. Dennoch glaube ich nicht, dass ein schneller Tod nach Abbruch aktiver oder intensiver Behandlung immer besser ist als ein schleichender. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir vermeiden wollen, dass wir unsere Qual beim Anblick dahinvegetierender Kinder diesen selbst zuschreiben. Auf ihren Tod zu warten mag eine große Belastung für Eltern, Ärzte und Krankenpersonal sein – aber es muss nicht unbedingt belastend für das Kind sein. Ein Verzicht auf eine Operation ist nicht in jedem Fall eine Verletzung der Pflicht zur Hilfeleistung, und es kann möglich sein, die verbleibenden Monate bequem, angenehm, und liebevoll zu gestalten. Wenn diese Alternative geboten ist, ist sie sicherlich anständiger und menschlicher, als das Kind zu töten. In solchen Fällen ist der Verzicht auf die Behandlung bei gleichzeitig vorhersehbarem Tod des Kindes nicht ethisch äquivalent mit der Tötung des Kindes, und wir können nicht von der Zulässigkeit von Ersterem auf die Zulässigkeit von Letzterem schließen. Ich fürchte, dass es eine Tendenz genau hierfür geben wird, falls aktive Sterbehilfe als moralisch gleichwertig mit dem Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen angesehen wird.

Schluss Die Erklärung der AMA bedient sich nicht der Unterscheidung, die Rachels und Tooley angreifen möchten, nämlich derjenigen zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Stattdessen zieht das Dokument eine Trennlinie zwischen der absichtlichen Lebensbeendigung auf der einen Seite und dem Abbruch außergewöhnlicher lebenserhaltender Maßnahmen auf der anderen Seite. Nichts von dem, was Rachels und Tooley schreiben, deutet darauf hin, dass diese Unterscheidung eine gedankliche Verwirrung ist. Es mag sein, dass manche Ärzte das Dokument falsch interpretiert haben und dass dies dazu geführt hat, dass man zum Beispiel schwer geschädigte Säuglinge hat verhungern las8 John Freeman: »Is there a Right to Die – Quickly?«, Journal of Pediatrics 80/5 (1972), S. 904–905.

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Die absichtliche Beendigung des Lebens

sen. Ich stimme Rachels und Tooley darin zu, dass die Entscheidungen, auf die sie Bezug nehmen, grausam und unzureichend begründet waren. Es ist sicherlich erwähnenswert, dass das Sterbenlassen eines Menschen eine absichtliche Lebensbeendigung sein kann und dass es genauso schlimm oder gar schlimmer sein kann, als jemanden zu töten. Der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen stellt jedoch nicht notwendigerweise eine absichtliche Lebensbeendigung dar. Deshalb folgt aus der Annahme, dass es erlaubt sein kann, auf lebenserhaltende Maßnahmen zu verzichten, nicht, dass es unter ansonsten gleichen Umständen zulässig ist zu töten. Außerdem sind die übrigen Umstände meistens nicht dieselben. In vielen Fällen, in denen es richtig ist, die Behandlung abzubrechen, wäre es nicht richtig, so meine Überzeugung, zu töten.

Anmerkung Ich möchte Jonathan Bennett, Josiah Gould, Deborah Johnson, David Pratt, Bruce Russell und David Zimmermann danken, die alle hilfreiche Kritik und Hinweise beigetragen haben. Rohübersetzung von Bernhard E. Pirkl, überarbeitet von Héctor Wittwer

Literaturverzeichnis Cantor, N. L.: Law and the Termination of an Incompetent Patient’s Life Preserving Care. In: J. Benke/S. Bok (Hg.): Dilemmas of Euthanasia. New York 1975, S. 69–105. Colen, B. D.: Karen Ann Quinlan: Living an Dying in the Age of Eternal Life. Los Angeles 1976. Engelhardt Jr., T.: Ethical Issues in Aiding the Death of Young Children. In: M. Kohl (Hg.): Beneficient Euthanasia. Buffalo 1975. Freeman, J.: Is there a Right to Die – Quickly?. In: Journal of Pediatrics 80/5 (1972), S. 904–905. In re Yetter. 62 Pa. D. & C. 2D 619 (C.P., Northhampton County Ct. 1974). hhttps://www.leagle.com/decision/197368162padampc2d6191572i (letzter Zugriff: 15. 01. 2019). Meyers, D. W.: Legal Aspects of Voluntary Euthanasia. In: J. Benke/S. Bok (Hg.): Dilemmas of Euthanasia. New York 1975. Rosenbaum, E. H. M.D.: Living With Cancer. New York 1975.

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe – deskriptiv und ethisch tragfähige Unterscheidungen? Michael Quante

Ethische Probleme, die sich im medizinischen Umgang mit Sterben und Tod ergeben, berühren nicht nur die Spezialinteressen von philosophischen Ethikern, Moraltheologen oder Juristen. Sie rufen auch ein großes öffentliches Echo hervor, welches durch Anzeigenserien in Zeitungen, durch Feuilletonartikel, Talk-Shows oder auch abendfüllende Spielfilme zusätzlich genährt wird. Während in Deutschland die Diskussion um die Abtreibung, anders als z. B. in den USA, in den letzten Jahren nicht primär im Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gestanden hat, gehören die Fragen um die moralischen Grenzen des medizinischen Handelns im Bereich der Sterbehilfe zu den umstrittensten. Unvergessen ist die sogenannte »SingerAffäre«, die inzwischen durch die Kontroverse um die Aufnahme des Hirntodkriteriums in das unlängst verabschiedete Transplantationsgesetz und die Empörung über den Entwurf einer Bioethikkonvention der Europäischen Union überlagert worden ist. 1 Es ist offenkundig, dass der medizinische Umgang mit Sterben und Tod ein Konfliktfeld darstellt, das sowohl generelle Ängste provoziert wie auch Ausdruck eines basalen Wertedissenses ist. Auf der einen Seite wird ein »Recht auf den eigenen Tod« reklamiert, das den Ärzten die Pflicht auferlege, dem einzelnen Patienten einen selbstbestimmten und »würdigen Tod« zu ermöglichen. Auf der anderen Seite wird vor inhumanen Tendenzen einer »Hochleistungsmedizin« gewarnt, die vor dem Hintergrund einer säkularisierten und atomiAuch die Auseinandersetzungen um das Transplantationsgesetz waren nicht frei von Bezügen auf den Problembereich der Sterbehilfe (vgl. Michael Quante: »›Wann ist ein Mensch tot?‹ Zum Streit um den menschlichen Tod«, Zeitschrift für philosophische Forschung 49 (1995), S. 167–193; ders.: »Hirntod und Organentnahme«., in: J. S. Ach/ders. (Hg.): Hirntod und Organverpflanzung. Ethische, medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Transplantationsmedizin, Stuttgart/Bad Cannstatt 1996, S. 21–47); Johann S. Ach/Michael Anderheiden/ders.: Ethik der Organtransplatation, Erlangen 2000.

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

sierten modernen Gesellschaft und im Rahmen der gegenwärtig bestehenden ökonomischen Krise direkt in die Wiederkehr der moralischen Katastrophe der NS-Diktatur münden werde, wenn man nicht eine absolute moralische Grenze uneingeschränkt verteidige: die Unzulässigkeit der direkt aktiven Herbeiführung des Todes durch medizinisches Handeln. Während es für die einen darum geht, der Autonomie des Patienten endlich auch im Bereich des Sterbens und des Todes zum Durchbruch zu verhelfen, sehen die anderen in diesem Versuch einen Dammbruch, der die Grundlagen der abendländischen Kultur gefährdet. Entsprechend heftig prallen die Positionen im öffentlichen ›Diskurs‹, aber auch in fachwissenschaftlichen Diskussionen aufeinander. Die ethischen Probleme im medizinischen Umgang mit Sterben und Tod haben sicherlich zu allen Zeiten Aufmerksamkeit erregt. Dennoch lassen sich einige Faktoren benennen, die diesen Fragenkomplex zu einem gegenwärtig in den westlichen Industrienationen dominierenden gesellschaftlichen Konfliktfeld werden lassen. Da ist zum einen der gesamtgesellschaftlich beobachtbare Wandel hin zu einer pluralistischen und weitgehend säkularisierten Gesellschaft. Religiöse Vorstellungen einer Unverfügbarkeit auch des eigenen Lebens lassen sich nicht mehr allgemeinverbindlich voraussetzen. An ihre Stelle tritt der Wert der Selbstbestimmung, der – aufgefasst als formale Kompetenz von Subjekten zu autonomen Entscheidungen – besser zur individualistischen und pluralistischen Gesellschaft passt. 2 Auch im Bereich der Medizin hinterlässt dieser Wandel Spuren: An die Stelle der tradierten Konzeption des ArztPatienten-Verhältnisses tritt die Vorstellung der Interaktion zwischen autonomem Patienten und Arzt, die sich in der Priorität des Modells der informierten Zustimmung manifestiert. Es liegt auf der Hand, dass angesichts einer solchen Umwertung der Werte sowohl auf Seiten der Ärzte wie auch auf Seiten der Patienten das ›Recht‹ auf einen selbstbestimmten Tod plausibler und vehementer eingefordert wird als unter den Rahmenbedingungen einer paternalistisch orientierten ärztlichen Ethik. Klassifizieren lässt er sich mit den Schlagworten »Heiligkeit des Lebens« versus »Qualität des Lebens« (vgl. dazu die Diskussion in Michael Quante: »Zwischen Autonomie und Heiligkeit: Ethik am Rande des Lebens«, Philosophischer Literaturanzeiger 49 (1996), S. 270–294 und ders.: Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg 22014, S. 9 ff. und S. 203 ff.).

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Zum anderen werfen Entwicklungen innerhalb der Medizin selbst die Frage nach dem selbstbestimmten Tod auf. Der medizinisch-technische Fortschritt führt dazu, dass es immer häufiger Lebensumstände gibt, in denen Lebensverlängerung und Lebensqualität auseinandertreten und sich die Frage nach den Grenzen der ›Apparatemedizin‹ und das Bedürfnis nach der Neudefinition der Funktion ärztlichen Handelns einstellt. 3 In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen aufgrund ihres hohen Alters als Patienten oder als Angehörige mit den Möglichkeiten der Intensivmedizin konfrontiert werden, ist zu erwarten, dass der sich hier anbahnende Konflikt weiter an Bedeutung zunehmen wird. Gestärkt werden diese Tendenzen noch durch das in der deutschen Bevölkerung weitverbreitete Misstrauen gegen technologische Innovationen, das sich auch auf die neuen medizinisch-technischen Entwicklungen und damit auf die gesamte ›Apparatemedizin‹ ausdehnt. 4 Die moderne Medizin ist dabei, auch aufgrund immanenter Entwicklungen, davon betroffen, dass Wissenszuwachs und technischer Fortschritt längst nicht mehr generell als positiv oder wertneutral eingeschätzt werden. Da diese Grundhaltung auch von vielen Ärzten geteilt wird, die sich selbst gegen den technischen Imperativ der Umsetzung des Machbaren um des Machbaren willen aussprechen, wirkt dieser Einstellungswandel nicht nur als äußerer Druck auf die Institution der Medizin, sondern führt auch intern zu Orientierungsproblemen. Diese beiden Entwicklungstendenzen: Dominanz des Autonomieprinzips und generelle Technikskepsis rufen gegensätzliche Reaktionen hervor. In dem Vorwurf an die Medizin, »Gott spielen zu wollen«, drückt sich nicht nur eine Abwehr gegen paternalistische Wichtig ist auch, dass die scheinbar in ethischer Hinsicht so tragfähige Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen, zwischen aktivem Töten und passivem Sterbenlassen obsolet wird (vgl. dazu James Rachels: »Aktive und passive Sterbehilfe«, in: H. M. Sass (Hg.): Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, S. 254–264 und Bruce C. Reichenbach: »Euthanasie und die aktiv/passiv-Unterscheidung«, in: A. Leist (Hg.): Um Leben und Tod, Frankfurt a. M. 1990, S. 318–348). Hans-Bernhard Wuermeling führt den politischen Erfolg der Euthanasiebewegung sogar darauf zurück, dass »die Ärzteschaft die Ziele ihres Handelns bei unheilbar Kranken und Sterbenden nie klar genug formuliert hat« (ders.: »Der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer zu ärztlicher Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 91–99, hier S. 91). 4 Man denke nur an die Reproduktionsmedizin, die Humangenetik oder bestimmte experimentelle Bereiche der Transplantationsmedizin wie Hirngewebs- oder Xenotransplantationen. 3

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

Tendenzen der »Halbgötter in Weiß« aus, sondern auch die Intuition der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens und Sterbens. Diese steht in einem Spannungsverhältnis zu der Forderung nach einem selbstbestimmten Tod, so dass sich bei vielen der an der Diskussion beteiligten Parteien konfligierende Motive aufweisen lassen. Nähert man sich aus philosophischer Perspektive der Frage, ob sich die direkt aktive Herbeiführung des Todes im Bereich medizinischen Handelns rechtfertigen lässt, so sind vorab einige Klärungen erforderlich: •





In der Auseinandersetzung ist eine Vielzahl ethischer und metaethischer Hintergrundannahmen wirksam, die gegenüber dem Problem nicht neutral sind. So kann es, selbst unter gemeinsamer Verwendung von zentralen Begriffen wie »Menschenwürde«, »Autonomie« oder »Intention«, aufgrund divergierender methodischer und inhaltlicher Prämissen zu fundamentalen Differenzen kommen, die sich nur gelegentlich auf die abweichende Einschätzung empirischer Daten zurückführen lassen. Viele der zur Klassifikation verwendeten Begriffe (»Töten«, »Sterbenlassen«, »Sterbehilfe«, »assistierter Suizid« etc.) und Unterscheidungen (»aktiv vs. passiv«, »gewöhnliche vs. außergewöhnliche Maßnahmen«, »tun vs. unterlassen« etc.) werden in zwei fundamental verschiedenen Weisen gebraucht. Zum einen dienen sie als rein deskriptive Begriffe, die einen Phänomenbereich strukturieren sollen, um die einzelnen Fallgruppen anschließend ethisch bewerten zu können. Zum anderen werden sie mit einem normativen Einschlag verwendet, so dass z. B. Tötungshandlungen, die als ethisch erlaubt gelten, als Fälle von Sterbenlassen klassifiziert werden. Oder es werden medizinische Maßnahmen deswegen als »außerordentlich« klassifiziert, weil deren Nichtaufnahme oder Abbruch als ethisch erlaubt oder gar geboten angesehen wird. Die philosophische, moraltheologische und juristische Literatur zum Thema hat verschiedene Klassifikationsschemata vorgeschlagen, die – je nach Hintergrundannahmen – geeignet sein sollen, die relevanten ethischen Unterschiede im Gegenstandsbereich zu treffen oder die ethisch richtigen Grenzen zu ziehen (so z. B. die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, die Einteilung in freiwillige, nicht freiwillige und unfreiwillige Euthanasie oder die Differenzierung zwischen inten83 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dierten und bloß vorhergesehenen Folgen einer Handlung oder einer Unterlassung). 5 Diese unterschiedlichen Klassifikationen ermöglichen es Diskussionsteilnehmern, die auf der allgemeinen Ebene ihrer jeweiligen ethischen Theorien entgegengesetzte Positionen vertreten, bei der Bewertung konkreter Einzelfälle zu gleichen Handlungsanweisungen zu kommen. Diese werden dann allerdings im Rahmen der jeweils in Anschlag gebrachten begrifflichen Unterscheidungen auf fundamental verschiedene Weise beschrieben. 6 Mit den folgenden Überlegungen versuchen wir, das Problem der ethischen Bewertung von medizinischen Handlungen, die eine direkt aktive Herbeiführung des Todes darstellen, aus philosophisch-ethischer Sicht zu analysieren, sodass theologische oder juristische Aspekte nicht erörtert oder berücksichtigt werden. Außerdem behandeln wir das Problem im Rahmen der biomedizinischen Ethik. Daher kann die Perspektive der ärztlichen Ethik zwar berücksichtigt, nicht aber zur alleinigen Bewertungsgrundlage gemacht werden. Standesethische Gesichtspunkte und auch solche Argumente, die das Problem aus der Sicht des handelnden Arztes darstellen, erfassen nur einen Ausschnitt der zu berücksichtigenden, ethisch relevanten Aspekte. Im ersten Abschnitt (I.) werden die verschiedenen traditionellen Begriffs- und Fallunterscheidungen vorgestellt und die von uns verwendete Terminologie festgelegt. Danach fragen wir zuerst, welche Gründe prima facie für die Annahme sprechen, die direkt aktive Herbeiführung des Todes im Bereich medizinischen Handelns sei ethisch zu rechtfertigen (II.). Anschließend (III.) setzen wir uns mit zwei prominenten Argumentationsweisen auseinander, die für sich in Anspruch nehmen, ein kategorisches Argument gegen die ethische Zulässigkeit von solchen medizinischen Handlungen zu liefern, in denen der Tod eines Menschen intendiert wird. Da sich unseres Erachtens derartig starke Begründungsansprüche vor dem Hintergrund einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft generell nicht rechtferZu den handlungstheoretischen Grundlagen dieser Unterscheidungen vgl. Michael Quante: Philosophische Handlungstheorie, Paderborn 2019, Kapitel 9. 6 Als Beispiel siehe John M. Freeman/Edmund D. Pellegrino: »Management at the End of Life: A Dialogue About Intending Death«, in: T. L. Beauchamp (Hg.): Intending Death. The Ethics of Assisted Suicide and Euthanasia, Upper Saddle River, New Jersey 1996, S. 184–187. 5

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

tigen lassen, wird in den darauffolgenden beiden Abschnitten untersucht, ob es intrinsische (IV.) oder extrinsische (V.) ethische Gründe gibt, die die Prima-facie-Plausibilität der ethischen Zulässigkeit direkt aktiver Herbeiführungen des Todes durch medizinisches Handeln überstimmen können. Das Ziel dieser Überlegungen ist dabei zum einen, fehlerhafte Argumentationsmuster aus der Diskussion zu verbannen, und zum anderen, die Falschheit einfacher »Ja-Nein«und die Notwendigkeit differenzierter Antworten aufzuweisen, bei denen der Urteilskraft des Mediziners eine unersetzliche Rolle zuerkannt wird.

I. In Deutschland 7 hat sich, vor allem auch aufgrund der historischen Belastung des Wortes »Euthanasie« durch den Nationalsozialismus, der Begriff »Sterbehilfe« etabliert. Semantisch ist »Sterbehilfe« gegenüber der Kennzeichnung »Euthanasie« in einer Hinsicht vorzuziehen: Während das Kriterium »guter Tod« nicht festlegt, für wen der Tod »gut« sein soll, enthält »Hilfe« eine solche auf das Wohl des jeweiligen Patienten bezogene Implikation. Damit ist eine ausschließlich oder primär am Wohle anderer orientierte Handlungsweise ausgeschlossen, auch wenn z. B. Gesichtspunkte wie die berechtigten Interessen von Angehörigen dann hinzugezogen werden können, wenn die Annahme plausibel ist, dass die Berücksichtigung im Interesse des Patienten liegt, gelegen hat oder gelegen hätte. In einer anderen Hinsicht weisen »Euthanasie« und »Sterbehilfe« gleichermaßen eine Unklarheit auf: Es bleibt offen, wie der Standard des Guten oder des Patientenwohls festgelegt wird. Zum einen gibt es Fälle, in denen die subjektiven Einschätzungen des Patienten rational nicht begründbar und seine Wünsche nicht in seinem »besten Interesse« sind. Zum anderen gibt es Patienten, die ihre Autonomie irreversibel verloren haben, zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens autonom gewesen oder gegenwärtig nicht zu autonomen EntIm Gegensatz dazu kann der Terminus »Euthanasie« in anderen Ländern eine von diesen Konnotationen unbelastete Funktion erfüllen. Obwohl die Kennzeichnung der fraglichen Handlungen, um deren moralische Zulässigkeit es im Folgenden gehen wird, als »Euthanasiehandlungen« geeigneter wäre, verzichten wir auf das Wort »Euthanasie«, um emotionale Assoziationsketten zu vermeiden, die häufig an die Stelle von Argumenten treten.

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scheidungen in der Lage sind. Für diese kann »das Gute« und »das Wohl« nicht über die aktualen subjektiven Einschätzungen und Wünsche bestimmt werden. Gegebenenfalls muss es sogar vollständig unabhängig davon festgelegt werden, weil die fraglichen Patienten zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens zur Ausbildung solcher subjektiven Einschätzungen und Wünsche in der Lage gewesen sind. Da solche Konstellationen unbestreitbar eintreten können, kann der Standard für die Festlegung des Guten oder des Wohls nicht allein das subjektive Überzeugungs- und Wertemuster des jeweiligen Patienten sein. Damit stellt sich die Frage, wie weit eine »objektivierende« inhaltliche Bestimmung dieser Bewertungsgrundlage gehen kann. In einer dritten Hinsicht stellt »Sterbehilfe« einen semantischen Bezug her, der inadäquat ist. Es gibt Patienten, die nicht in einem Sterbeprozess begriffen sind, sodass ihnen auch keine Hilfe beim Sterben geleistet werden kann. Man könnte vielleicht sagen, dass ihnen geholfen wird, den Sterbeprozess einzuleiten, aber dies ist sicherlich nicht die geläufige Konnotation von »Sterbehilfe«. Patienten, die sich z. B. in einem PVS-Zustand befinden, oder solche mit einer Querschnittlähmung im Nackenbereich und nicht behebbaren Schmerzen, befinden sich nicht im Sterbeprozess. Gleiches gilt für Patienten, die aufgrund psychischer Erkrankungen einen Tötungswunsch äußern. Hier von Sterbehilfe zu sprechen, ist irreführend. Umgekehrt kann das Festhalten an der Kennzeichnung allein auch nicht als Argument für die Forderung angeführt werden, in solchen Fällen müsse das Leben der Patienten weitergehen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass es andere Argumente gibt. Es erscheint uns daher sinnvoll, den Terminus »Sterbehilfe« zu ersetzen durch die Wendung »Hilfe bei der Herbeiführung des Todes«. 8 Dabei verwenden wir »Herbeiführung des Todes« in einem deskriptiven Sinn. Eine Handlung als Tötung zu beschreiben, heißt nicht ohne weiteres, sie als ethisch unzulässig zu bezeichnen. Als Töten fassen wir dabei sowohl solche Handlungen auf, die durch direkte physische Einwirkungen auf einen Menschen den Tod herbeiführen, wie auch mittelbares Herbeiführen durch absichtliches Schaf-

Dies ist die Konsequenz der methodischen Entscheidung, in einem ersten Schritt eine ethisch neutrale und deskriptiv umfassende Beschreibung der Problemfälle zu liefern, um dann im zweiten Schritt innerhalb dieses Spektrums die ethischen Differenzen auszuweisen. Eine ethische Bewertung z. B. der PVS-Fälle (Persistent Vegetative State) ist daher mit den obigen Überlegungen noch nicht gegeben.

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

fen von geeigneten Umständen und negative Verursachungen durch absichtliche Unterlassungen. Dies deckt sich mit dem juristischen Aspekt der Zurechenbarkeit, allerdings ohne die negative ethische Konnotation. 9 Der durch den Bestandteil »Hilfe« hergestellte Bezug zum Wohl oder dem für den Patienten Guten ist so zu verstehen, dass eine Handlung dann als ein Fall von »Hilfe bei der Herbeiführung des Todes« gilt, wenn das Motiv des Handelnden die Achtung des Patientenwohls und die Herbeiführung eines für den Patienten guten Zustands ist und sein Handeln auf intersubjektiv nachvollziehbaren Überlegungen (Fakten- und Wertentscheidungen) beruht. In diesem Sinne ist »Hilfe bei der Herbeiführung des Todes« kein Erfolgsbegriff, d. h. er trifft nicht nur dann zu, wenn die Handlung wirklich zum Wohle des Patienten ist. Er ist aber auch nicht in dem Sinne subjektiv, dass die Annahme des Handelnden ausreicht, um seine Handlung entsprechend zu klassifizieren. Auch auf der Basis einer auf intersubjektiven Bewertungsmaßstäben aufruhenden Klassifikation kann man zwischen vermeintlicher und wirklicher Hilfe differenzieren. Die faktische Förderung des Wohls oder des für den Patienten Guten kann unserer Auffassung nach zwar eine Wahrheits-, nicht aber eine Rechtfertigungsbedingung sein. Eine der geläufigsten Differenzierungen ist die zwischen freiwilliger, nicht-freiwilliger und unfreiwilliger Sterbehilfe. Eine Tötungshandlung gilt als freiwillig, wenn sie aufgrund der autonomen Willensentscheidung des Patienten, getötet zu werden, vollzogen wird. 10 Unfreiwillig sind alle die Tötungshandlungen, die gegen den autoUnsere Differenzierung zwischen deskriptiver und normativer Verwendung darf nicht mit der Unterscheidung verwechselt werden, die Thomas Fuchs unlängst vorgenommen hat. Er engt den Begriff der Tötung auf eine aktive physische Einwirkung ein (vgl. ders.: »Was heißt ›töten‹ ?«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 78–90, hier S. 80) und unterscheidet davon den juristischen Sprachgebrauch, der unter dem Gesichtspunkt der Zurechenbarkeit auch mittelbare Herbeiführungen des Todes und negative Verursachungen durch Unterlassungen als »Tötungen« wertet. Fuchs engt den Begriff zwar ein und schließt die mittelbare und negative Verursachung aus, behält aber die ethisch negativen Konnotationen bei (vgl. ebd., S. 80 u. 82). Wir verfahren dagegen umgekehrt und blenden die normative Ebene aus, ohne eine der drei Unterarten kausaler Erklärungen auszuschließen. Dies erscheint angemessener, da es uns gerade um die Frage der ethischen Bewertung geht. Diese sollte daher nicht schon in die Beschreibung mit aufgenommen werden. 10 Die Freiwilligkeit bezieht sich nicht auf die die Tötungshandlung ausführende Person, sondern auf den Patienten, der getötet wird. 9

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nomen Willen des Patienten durchgeführt werden. Nicht-freiwillige Tötungshandlungen sind diejenigen, die an Patienten vollzogen werden, die entweder nicht zu autonomen Willensäußerungen in der Lage sind oder sich faktisch nicht äußern, obwohl sie zu einer autonomen Äußerung fähig wären. 11 Mit dieser Klassifikation wird eine moralisch relevante Unterscheidung vorgenommen, die vor allem der Dominanz des Autonomieprinzips Rechnung trägt. In den meisten Fällen, wie auch in diesem Beitrag, geht es in den Auseinandersetzungen, die um die moralische Bewertung der Herbeiführung des Todes im Bereich medizinischen Handelns ausgetragen werden, primär um den Fall einer Herbeiführung aufgrund eines auf einer autonomen Entscheidung des Patienten beruhenden Tötungswunsches. Die Fälle nicht-freiwilliger Herbeiführungen des Todes durch medizinisches Handeln (z. B. schwerstgeschädigte Neugeborene, PVS-Patienten) gelten demgegenüber allgemein als ethisch weitaus problematischer, wenngleich es hier die Ausnahme der Abtreibung gibt. Herbeiführungen des Todes gegen den Willen des Betroffenen dagegen werden, mit wenigen nicht auf das medizinische Handeln bezogenen Ausnahmen wie der Selbstverteidigung, allgemein als ethisch unzulässig angesehen. Auch in unseren folgenden Überlegungen wird das Problem der freiwilligen Herbeiführung des Todes durch medizinisches Handeln im Vordergrund stehen. Dennoch ist die soeben vorgestellte Dreiteilung

Barbara Guckes ersetzt in ihrer Klassifikation die Rubrik der freiwilligen Euthanasie durch die »Handlungen der Sterbehilfe auf Verlangen« (Das Argument der schiefen Ebene, Stuttgart/Jena/Lübeck/Ulm 1997, hier S. 140), wobei sie zwischen solchen Handlungen, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruhen, und solchen, die nur dem »Anschein« (ebd.) nach auf eine autonome Entscheidung zurückgehen, differenziert. Diese Aufteilung erscheint wenig sinnvoll, da sich die nur scheinbar auf eine autonome Entscheidung zurückgehende Gruppe auf die der Handlungen ohne oder gegen den Willen des Betroffenen zurückführen lässt, je nachdem, auf welche Weise die scheinbar autonome Entscheidung zustande gekommen ist. Ihre Binnendifferenzierung innerhalb der Klasse der ohne eine Willensäußerung des Betroffenen vollzogenen Handlungen in solche, bei denen die Patienten nicht zu einer Willensäußerung in der Lage sind, und solche, bei denen äußerungsfähige Patienten sich faktisch nicht geäußert haben, trifft dagegen einen moralisch relevanten Unterschied. Den Vorschlag von Guckes ergänzend sollte man die Gruppe der aktual nicht zu autonomen Entscheidungen fähigen Patienten noch weiter differenzieren in diejenigen, die zu keinem Zeitpunkt ihrer Existenz zu Willensäußerungen in der Lage sind, solchen, die diese Fähigkeit irreversibel verloren haben, und solchen, die diese Fähigkeit in der Zukunft (in gewissem Maße) gewinnen oder wiedererlangen werden.

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

zuerst einmal als rein deskriptiv zu verstehen. Die Frage danach, wie die einzelnen Rubriken ethisch zu bewerten sind, ist ohne weitergehende Annahmen nicht zu beantworten. 12 Die (zumindest in Deutschland) vielleicht geläufigste Unterscheidung ist die zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe oder Töten und Sterbenlassen. Mit ihr wird in vielen Fällen beansprucht, ein deskriptiv eindeutiges Unterscheidungsmerkmal in den Händen zu haben, das gleichzeitig eine ethisch relevante Grenze markiert. Sterbenlassen oder passive Sterbehilfe gilt gemeinhin in bestimmten Fällen als ethisch zulässig oder gar geboten und wird auch praktiziert, während aktive Sterbehilfe oder Töten demgegenüber als ethisch verboten angesehen wird. Gerade unter den Bedingungen der modernen Medizin aber erweist sich die Unterscheidung als problematisch, wenn mit ihr der doppelte Anspruch einer deskriptiv und ethisch eindeutigen Grenzziehung erhoben wird. Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass diese Differenzierungen argumentativ problematisch und schwer durchschaubar werden. Erstens findet sich im ethischen common sense die Annahme, Tun sei prinzipiell ethisch gravierender als Unterlassen. 13 Zweitens wird die Unterscheidung von »Tun versus Unterlassen« mit der Differenzierung in »aktiv versus passiv« gleichgesetzt. Drittens wird, in Bezug auf das hier zu diskutierende Problem, die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen mit den anderen beiden Unterscheidungen identifiziert. Dies zeigt sich nicht nur in der gebräuchlichen Differenzierung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe, sondern auch darin, dass die moralische Ungleichwertigkeit von Töten und Sterbenlassen, die von den meisten Ärzten als zentral anerkannt wird, begründet wird mit dem Unterschied zwischen Tun und Unterlassen oder dem von aktivem Eingreifen oder passivem Geschehenlassen. Nun ist es aber zum einen nicht so, dass sich die Faustregel des common sense, Tun sei generell ethisch gewichtiger als Unterlassen, halten lässt. Auch Unterlassungen sind, wenn sie absichtlich geschehen, eine Form von Handlungen und ihr ethischer Wert muss nicht

Für eine juristische Einschätzung siehe Reinhard Merkel: »Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik«, in: R. Hegselmann/ders. (Hg.): Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt a. M. 1991, S. 71–127. 13 Vgl. die umfassende Darstellung in Dieter Birnbacher: Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995. 12

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prinzipiell höher sein als der von Handlungen, die eine Intervention beinhalten. Dies hat ja, wie schon erwähnt, auch seinen Niederschlag im juristischen Begriff von Töten gefunden. Zum anderen lässt sich die Unterscheidung »aktiv/passiv« nicht eindeutig auf die Unterscheidung »Tun/Unterlassen« abbilden. Dies gilt besonders unter den Bedingungen menschlichen Handelns in Kombination mit dem Einsatz von Maschinen. Damit lässt sich die Standardbegründung für die ethische Ungleichwertigkeit von Töten und Sterbenlassen nicht mehr aufrechterhalten. Es gibt keine auf der Ebene der kausalen Verursachung allein verankerte moralische Differenz. 14 Diejenigen, die für eine ethische Gleichwertigkeit von aktiver und passiver Sterbehilfe plädieren, sind daher der Meinung, mit dem Aufweis der Unhaltbarkeit der Standardbegründung zugleich jedes Argument zugunsten einer ethischen Differenz ausgehebelt zu haben. Genau genommen müssen diejenigen, die die ethische Differenz begründet beibehalten wollen, aber nur eine alternative Begründung vortragen. Die Frage ist also, ob sich die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen unabhängig von den Differenzierungen zwischen Tun und Unterlassen oder zwischen aktiv und passiv als ethisch signifikant ausweisen lässt (oder ob es möglich ist, auf einer anderen als der Ebene kausaler Intervention der Aktiv-Passiv-Unterscheidung einen Sinn zu verleihen). Die These, die ethische Differenz zwischen Töten und Sterbenlassen sei bedeutend, ist daher vereinbar mit der Verabschiedung einer Begründung, die sich auf die Differenzierungen in Tun und Unterlassen bzw. aktiv und passiv stützt. 15 Gibt es aber überhaupt jenseits dieser Unterschiede eine deskriptiv ausweisbare Differenz zwischen Töten und Sterbenlassen?

Eine weitere Quelle für Unklarheiten liegt darin, dass zum einen geglaubt wird, in der rein deskriptiv erfassbaren Differenz verschiedener Kausalverläufe ein ethisch relevantes Unterscheidungskriterium vorliegen zu haben, und dass zum anderen die Ebene der deskriptiven Kausalverhältnisse mit der deskriptiv-evaluativen Ebene der Kausalerklärungen vermischt wird. Dies kommt natürlich der intuitiven Voreingenommenheit mit Bezug auf die ethische Ungleichwertigkeit von Tun und Unterlassen genauso entgegen wie der unbemerkten Doppelrolle von »Töten« und »Sterbenlassen« als deskriptiven und normativen Kennzeichnungen. 15 Sowohl Wuermeling (vgl. »Der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer zu ärztlicher Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 91–99, hier S. 93) als auch Fuchs (vgl. »Was heißt ›töten‹ ?«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 78–90, hier S. 83) beziehen diese Position. 14

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Thomas Fuchs hat diese Frage bejaht und weist darauf hin, dass sich dieser Unterschied erst auf einer »biologischen Ebene« 16 und nicht schon auf der rein physikalischen Ebene der Kausalverhältnisse erfassen lässt. Während das Sterben die »irreversible Desintegration des Organismus« als Ergebnis eines Krankheitsprozesses meint, sei eine Tötung – man könne nach Fuchs auch von einem »unnatürlichen Tod« sprechen – ein Ereignis, »wo der Organismus von einer äußeren Einwirkung oder Noxe gewissermaßen überwältigt wird« 17. Anders als beim Krankheitsprozess habe im Falle einer Tötung der Organismus keine Gelegenheit mehr, »eine prozeßhafte organismische Reaktion, einen Reintegrationsversuch« vorzunehmen. 18 Mit dieser Unterscheidung gelingt es, einen phänomenalen und nicht schon wertenden Unterschied zwischen Handlungen des Sterbenlassens und Tötungshandlungen zu erfassen. Auf diese Weise »gewinnen wir den eigentlichen Begriff des Tötens, nämlich als einer dem Organismus äußerlichen, ihn unmittelbar tödlich schädigenden Einwirkung.« 19 Sterbenlassen bedeute demgegenüber, »einem bereits begonnenen, innerorganismischen Desintegrationsprozess seinen Lauf zu lassen, ohne die zentralen Lebensfunktionen zu stützen bzw. zu substituieren« 20. Diese Unterscheidung erfüllt ihre Funktion, einen deskriptiv erfassbaren Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen aufzuzeigen, hinreichend für unsere argumentativen Zwecke. 21 Denn wenn es gelingt, den Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen deskriptiv zu erfassen, dann stellt sich sofort die Frage, ob damit auch Thomas Fuchs: »Was heißt ›töten‹ ?«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 78–90, hier S. 85. 17 Ebd., hier S. 84. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Es ließe sich z. B. fragen, was mit der Klausel »unmittelbar tödlich schädigende Einwirkung« erfasst werden soll (direkte zeitliche Folge?) und welche Eingriffe als »unmittelbar« zu zählen sind. Dies ist notwendig, um einen stillschweigenden Wechsel auf die Ebene der Intentionen (der Tod wird als solcher intendiert) auszuschließen. Außerdem unterstellen wir hier, dass der obige Vorschlag gegen den Einwand, die Technisierung der Medizin lasse die Unterscheidung zwischen natürlichem und unnatürlichem Sterben fragwürdig werden, verteidigt werden kann, und dass es eine deskriptiv hinreichend scharfe Unterscheidung zwischen beidem gibt. Vor allem aber muss man die Unterscheidung von Fuchs, die nur auf die Art der Einwirkung auf den Organismus konzentriert ist, einschränken auf Tötungen, die beabsichtigte Handlungen sind. 16

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eine generelle ethische Differenz getroffen worden ist. Abgesehen davon, dass mit dieser Unterscheidung ethisch möglicherweise inakzeptable Lebensumstände, die keine Fälle von Sterben sind (z. B. PVS oder unbehandelbare Schmerzzustände), gar nicht erfasst werden können, ist zu fragen, weshalb das Töten per se ethisch negativ zu bewerten sein soll.

II. Prima facie scheint die Beweislast bei denjenigen zu liegen, die einen kategorischen ethischen Unterschied zwischen Tötungshandlungen und Sterbenlassen behaupten, dergestalt, dass es unter allen Umständen unzulässig ist, den Tod eines Menschen durch ärztliches Handeln direkt aktiv herbeizuführen. Denn zum einen lässt sich auf der Ebene der rein kausalen Beschreibung allein, gerade unter Bedingungen technischer Hilfsmittel, keine generelle ethische Differenz zwischen aktivem Eingreifen und passivem Geschehenlassen mehr mit dem common sense rechtfertigen. Die Qualifizierungen »aktiv« und »passiv« lassen sich hier vielmehr nur noch in einem auf die Handlungsabsichten bezogenen Sinne verstehen. Eine Herbeiführung des Todes ist dann als direkt aktiv zu bezeichnen, wenn sie auf einer Absicht des Handelnden beruht, d. h. wenn der Handelnde aufgrund seiner Entscheidung, durch seine Handlung den Tod eines Menschen herbeizuführen, aktiv an dem Geschehen beteiligt ist. Dies kann aber ohne Zweifel sowohl durch Vollzugs- wie auch durch Unterlassungshandlungen geschehen. Davon unterschieden sind indirekt aktive Handlungen (oder Unterlassungen), in denen der Tod nicht intendiert, sondern nur in Kauf genommen wird. Wenn wir nach dem ethischen Status direkt aktiver Herbeiführungen des Todes eines Menschen durch ärztliches Handeln fragen, dann muss »direkt aktiv« im Sinne von »absichtlich« verstanden werden. 22 Eine solche absichtliche Herbeiführung des Todes eines Menschen ist nie ausnahmslos als ethisch falsch eingeschätzt worden. Selbstverteidigung, Tötungshandlungen in gerechtfertigten Kriegen, Todesstrafe, Abtreibung oder auch der sogenannte Gnadentod sind intuitiv und zumeist auch theoretisch gerechtfertigt worden. Diejenigen, die eine absichtliche Tötungshandlung eines Menschen in 22

Zur weiteren Qualifikation von »absichtlich« in diesem Kontext vgl. unten III.

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allen Fällen für kategorisch falsch halten, stehen daher mit weiten Teilen des common sense in Konflikt und tragen deshalb die Beweislast zu zeigen, dass unser Prima-facie-Urteil auf einem ethischen Irrtum beruht. Die alternative Strategie ist es, den Nachweis einer spezifischen Differenz zwischen ethisch zulässigen und ethisch unzulässigen Tötungshandlungen zu erbringen und zu zeigen, dass die absichtliche Herbeiführung des Todes eines Menschen durch ärztliches Handeln im Gegensatz zu anderen Tötungshandlungen kategorisch ethisch unzulässig ist. 23 Im Folgenden werden zwei prominente Argumentationsweisen diskutiert, die diese beiden Strategien verfolgen. 24

III. Eine in den gegenwärtigen bioethischen Auseinandersetzungen prominente Position ist die Lehre von der »Heiligkeit des Lebens«. In ihrer generellen z. B. von Albert Schweitzer vertretenen Form bezieht sie sich auf alles Leben überhaupt. Im Kontext der biomedizinischen Ethik ist die eingeschränkte Version der Heiligkeit des menschlichen Lebens relevanter, um die allein es im Folgenden gehen soll. Die These ist, dass das menschliche Leben eine dem menschlichen Werturteil prinzipiell entzogene Wertdimension hat, die es verbietet, Menschen absichtlich zu töten. Die religiösen Ursprünge dieser These sind offenkundig, und es ist daher problematisch, in einer pluralistischen Gesellschaft auf einer solchen Basis Konfliktregelungen allgemeinverbindlich begründen zu wollen. Dennoch zeigt sich, dass diese Annahme zumindest in der westeuropäischen Kultur tief verankert ist und die Diskussion offen oder unterschwellig leitet. 25 Ver23 Denkbar sind auch Zwischenlösungen, denen zufolge einige der prima facie für ethisch zulässig gehaltenen Tötungshandlungen wirklich akzeptabel sind, andere dagegen nicht. Da in diesem Beitrag keine generelle Diskussion des Tötungsverbots angestrebt wird, geht es im Folgenden nur um solche Argumente, die den Nachweis der kategorischen ethischen Unzulässigkeit von direkt aktiven Tötungshandlungen im Bereich des ärztlichen Handelns erbringen sollen. 24 Hält man die Aussage, solche Tötungshandlungen seien kategorisch ethisch falsch, für nicht begründbar, bleibt die Frage, ob es möglicherweise schwächere Begründungsformen gibt, die diese Handlungen als ethisch inakzeptabel ausweisen können (vgl. unten IV. und V.). 25 Vgl. Ronald Dworkin: Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1994.

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treter säkularer Ethikbegründungen fordern dagegen den Übergang von einer Ethik der Heiligkeit des menschlichen Lebens zu einer an der Autonomie des Individuums angebundenen Ethik der Qualität des Lebens. 26 Sie versuchen außerdem, den Nachweis zu führen, dass auch die Anhänger der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens in ihren Antworten auf konkrete Fragen auf implizite Lebensqualitätsurteile angewiesen sind, die durch eine scheinbar wertneutrale Begrifflichkeit maskiert werden – z. B. Vergeblichkeit der Behandlung oder gewöhnliche versus außergewöhnliche Maßnahmen. 27 Darüber hinaus lautet der Vorwurf, die Einschränkung auf das menschliche Leben sei willkürlich und ohne den Rekurs auf eine theologische Prämisse der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht begründbar, ohne in einen Speziesismus zu verfallen. Die Versuche, die Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens von ihren religiösen Ursprüngen zu emanzipieren und durch eine historische Besinnung auf die unterschiedlichen ideengeschichtlichen Quellen diejenigen Bestandteile ausfindig zu machen, die auch unabhängig vom jüdisch-christlichen Weltbild akzeptabel sein können, sind problematisch. 28 Selbst wenn es gelingt, einen solchen nicht-religiösen Kern der Lehre freizulegen, der dann zumeist unter der Kennzeichnung des absoluten Wertes menschlichen Lebens angeführt wird, bleibt das Problem des Speziesismusvorwurfs bestehen. Vor allem kann eine derart abgeschwächte Position nicht mehr beanspruchen, ein generelles kategorisches Tötungsverbot zu begründen. Plausibel ist dann vielmehr nur noch, der Analyse Dworkins zu folgen und anzuerkennen, dass der intrinsische Wert des menschlichen Lebens in unserer Kultur eine hohe Akzeptanz besitzt, aber durchaus gegenüber anderen Werten wie dem der auf der Autonomie der Person beruhenden Menschenwürde abgewogen werden kann. 29 Der intrinVgl. Michael Quante: »Zwischen Autonomie und Heiligkeit: Ethik am Rande des Lebens«, Philosophischer Literaturanzeiger 49 (1996), S. 270–294; ders.: Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg 22014. 27 Vgl. Helga Kuhse: Die »Heiligkeit des Lebens« in der Medizin, Erlangen 1994. 28 Vgl. die Diskussion in Kurt Bayertz (Hg.): Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrecht 1996. 29 Ein formales, ausschließlich auf Autonomie begründetes Konzept der Menschenwürde kann in Fällen der Sterbehilfe mit der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens konfligieren. Ein material reichhaltigeres Konzept von Menschenwürde, welches diesen Konflikt ausschließt, kann dagegen nicht in gleichem Maße allgemeinverbindlich gemacht werden (vgl. die Beiträge in ebd.). 26

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sische Wert des menschlichen Lebens kann z. B. als Erklärungsgrundlage dafür herangezogen werden, dass ein Embryo ethisch zu berücksichtigen und ein Schwangerschaftsabbruch auch in den ersten Lebenswochen ethisch problematisch ist. 30 Die modifizierte Konzeption eines Abwägungen zulassenden intrinsischen Wertes des menschlichen Lebens ist eher geeignet, die prima facie ethisch relevanten Gesichtspunkte zu erfassen, als allein auf der Autonomie oder den Interessen der Beteiligten beruhende Argumentationen. Auch der Speziesismusvorwurf greift hier nicht mehr, da die so verstandene These nicht impliziert, dass nur das menschliche Leben einen ethisch relevanten Wert besitzt. Der Preis für diese Abschwächung ist allerdings zum einen, dass auf diese Weise ein kategorisches Verbot von Tötungshandlungen nicht zu begründen ist. Zum anderen ergeben sich, sobald Abwägungen zugelassen werden, automatisch Fragen nach der Qualität des jeweiligen individuellen Lebens. 31 Die erste Strategie, ein kategorisches Verbot der aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen unter Rekurs auf die These der Heiligkeit des menschlichen Lebens zu begründen, scheitert daran, dass sie sich vor dem Hintergrund einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft nicht ausreichend begründen und damit auch nicht zur Grundlage allgemeinverbindlicher Regelungen machen lässt. Außerdem steht diese Lehre vor der Schwierigkeit, mit den ethischen Intuitionen und der gesellschaftlichen Realität zu konfligieren, da nicht jede Tötungshandlung als ethisch falsch angesehen wurde und wird. Mit einer zweiten Argumentationsfigur wird daher vielfach versucht, unter Rekurs auf das Modell der Doppelwirkung zu zeigen, dass es einen ethisch relevanten Unterschied gibt zwischen dem absichtlichen (= direkt aktiven) und dem nicht beabsichtigten, sondern nur in Kauf genommenen (= indirekt aktiven) Herbeiführen des Todes eines Menschen. Die These ist nun, dass eine absichtliche Tötung, in der der Tod eines Menschen als Ziel oder als Mittel angestrebt wird, kategorisch ethisch falsch ist. Die (oder einige der) vom common sense als prima facie zulässig angesehenen Tötungshandlungen werden dieser zweiten Strategie zufolge dadurch ethisch zulässig, dass sie keine Fälle absichtlichen Tötens sind. 32 Gegen präferenzutilitaristische Begründungsversuche von z. B. Singer, Hoerster oder Guckes. 31 Vgl. hierzu Michael Quante: Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg 22014, erster Teil. 32 Dass dies zumindest für den Fall der Selbstverteidigung nicht greift, hat Suzanne 30

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Diese Argumentationsstrategie führte, wenn erfolgreich durchführbar, dazu, dass die ethisch relevante Grenze zwischen absichtlichen Herbeiführungen des Todes (direkte aktive Sterbehilfe) und bloß vorhergesehenen bzw. in Kauf genommenen Herbeiführungen des Todes (indirekte aktive Sterbehilfe) verliefe. 33 Da sich dieser Unterschied nicht auf der Ebene der Kausalrelationen mit der Differenz von Tun und Unterlassen gleichsetzen lässt, muss der relevante Unterschied in den Handlungsgründen verankert sein. 34 Die entscheidende Frage ist daher, weshalb ein absichtliches Herbeiführen des Todes eines Menschen kategorisch falsch sein sollte. Von der kausalen Konnotation befreit, kann diese Rekonstruktion des ethischen Unterschiedes nicht mehr beanspruchen, mit der Prima-facie-Einschätzung des ethischen common sense übereinzustimmen. 35 Die dem ganzen Argument zugrunde liegende Annahme ist, dass eine absichtliche Herbeiführung des Todes eine explizite oder implizite Bewertung des Lebens eines menschlichen Individuums enthält. Folgt man – im Falle freiwilliger Herbeiführungen des Todes – dem Tötungswunsch des Betroffenen, so akzeptiert man dessen Bewertung seiner eigenen Existenz als nicht mehr lebenswerten Lebens. Darüber hinaus bewerte man selbst dessen Existenz als nicht mehr lebenswert, wenn man die von dem Betroffenen vorgenommene Bewertung als rational akzeptiere. 36 Bei nicht-freiwilligen Herbeiführungen des Todes kommt Uniacke gezeigt (vgl. dies.: Permissible killing. The self-defence justification of homicide, Cambridge 1994). 33 Für eine ausführlichere Diskussion der Zusammenhänge zwischen den Unterscheidungen Tun/Unterlassen, aktiv/passiv, direkt/indirekt und intendiert/in Kauf genommen vgl. Ludwig Siep/Michael Quante: »Tödliche Absichten«, in: A. Holderegger (Hg.): Das medizinisch assistierte Sterben, Freiburg i. B. 1999. 34 Vgl. zur Analyse dieser Handlungsgründe Michael Quante: Personales Leben und menschlicher Tod, Frankfurt am Main 2002, Kapitel 6 sowie allgemein zur Analyse von Handlungsgründen im Kontext der philosophischen Handlungstheorie ders.: Philosophische Handlungstheorie, Paderborn 2019, Kapitel 5. 35 Dies muss für den Verfechter dieser Strategie kein entscheidender Einwand sein. Man kann auch wie Gormally den Verfall des ethischen Bewusstseins daraus ableiten (vgl. ders.: »Walton, Davies, Boyd and the legalization of euthansia«, in: J. Keown (Hg.): Euthanasia Examined. Ethical, Clinical and Legal Perspectives, Cambridge 1995, S. 113–140, hier S. 133). 36 Dies gilt allerdings dann nicht, wenn eine Entscheidung aufgrund des Primats des Autonomieprinzips akzeptiert wird, weil man die Entscheidung des Betreffenden zwar nachvollziehen, nicht aber teilen kann. In diesem Fall gesteht man nur zu, dass der Betreffende das Recht hat, seine eigene Wertung vorzunehmen, man macht sie sich aber nicht zu eigen. Diese Differenz ist auch bei der ethischen Bewertung des

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es auf jeden Fall zu einer expliziten Bewertung der Lebensqualität des betroffenen Individuums. Auch in solchen Fällen, in denen ein intersubjektiver Maßstab des Guten oder des Wohls angelegt werden muss, geht es allerdings um das Wohl aus der Sicht des betroffenen Individuums bzw. um das für das jeweilige Individuum Gute. Die Objektivierung betrifft nur den epistemischen Zugang, nicht den Wertmaßstab selbst. Blendet man die sicherlich zu starke These aus, dass schon die autonome Entscheidung eines Individuums ein hinreichender Grund ist, einem Tötungswunsch nachzukommen, greifen diese Argumente. Die direkt aktive Herbeiführung des Todes enthält implizit oder explizit eine Bewertung der subjektiven Qualität des fraglichen Lebens. Fraglich ist nur, weshalb dies allein ausreichen soll, um die fragliche Handlung kategorisch ethisch falsch werden zu lassen. Ein kategorisches Verbot jeder Bewertung der Qualität eines menschlichen Lebens führt letzten Endes wieder auf die Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens zurück und teilt damit alle bereits angesprochenen Probleme. 37 Neben diesem prinzipiellen Einwand wirft die Lehre von der Doppelwirkung weitere Schwierigkeiten auf, die auch derjenige noch auszuräumen hat, der an der fundamentalen Prämisse der Heiligkeit des menschlichen Lebens und des daraus abgeleiteten Verbots der Lebensqualitätsbewertung festhält. Diese Schwierigkeiten ergeben sich, sobald man versucht, auf diesem Fundament den ethischen Unterschied zwischen zulässiger indirekt aktiver und verbotener direkt aktiver Sterbehilfe zu begründen. Da wir schon die fundamentale Prämisse nicht als Begründung eines kategorischen Verbots akzeptieren, seien diese Probleme hier nur kurz benannt: 38

assistierten Suizids relevant, vgl. dazu Michael Quante: »Selbstbestimmter Tod? Assistierter Suizid aus philosophischer Sicht«, in: ders./E. Schockenhoff: Autonomie am Lebensende, Münster 2016, S. 9–40 sowie ders: Tod, wo ist Dein Stachel? Über einen Zusammenhang von Endlichkeit und personaler Lebensform des Menschen, Paderborn 2019b. 37 Exemplarisch dafür sind die Beiträge von John M. Finnis: »A philosophical case against euthanasia«/Luke Gormally: »Walton, Davies, Boyd and the legalization of euthansia«, in: John Keown (Hg.): Euthanasia Examined. Ethical, Clinical and Legal Perspectives, Cambridge 1995, S. 23–35/113–140. 38 Vgl. ausführlicher Ludwig Siep/Michael Quante: »Tödliche Absichten«, in: A. Holderegger (Hg.): Das medizinisch assistierte Sterben, Freiburg i. B. 1999.

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Die gesamte moralische Differenz wird an die Intentionen des Handelnden geknüpft. Dies erscheint zum einen angesichts der epistemischen Unsicherheit, diese Intentionen sicher zu ermitteln, als problematisch, und muss zum anderen als eine unbefriedigende Verengung der moralisch relevanten Aspekte der Handlung auf die Qualität des Willens angesehen werden. Die Annahme, die Unterscheidung zwischen intendierten und bloß vorhergesehenen Folgen stelle eine moralisch tragfähige Differenzierungsbasis dar, kann nicht überzeugen. Sie steht im Widerspruch zu unserer rechtlichen und ethischen Bewertungspraxis, in der ein weiter Intentionsbegriff verwendet wird, der neben dem evaluativ positiv Intendierten auch die vorhergesehenen Folgen mit umfasst. Dieser weite Intentionsbegriff ist die Basis der Bewertung; die These, die Herbeiführung des Todes als positiv evaluierte sei unzulässig, als bloß in Kauf genommene dagegen zulässig, kann daher nicht überzeugen. 39 Die den kategorischen Begründungsversuchen zugrunde liegende Annahme ist, dass jede schwächere Begründungsbasis »arbiträr« 40 und letztlich nicht sicher ist. Diese Annahme ist unplausibel, wenn mit ihr gemeint ist, dass auf intersubjektiver rationaler Übereinkunft aufruhende ethische Begründungen nicht ausreichen können, eine humane gesellschaftliche Praxis zu begründen oder zu schützen. Abwägungsfragen mögen schwierig sein und in konkreten Einzelfällen sogar zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Dennoch lässt sich daraus nicht

Das an dieser Stelle stereotyp als Standardverteidigung vorgebrachte Argument, wir ließen uns nicht alle vorhersehbaren Folgen ethisch zurechnen, ist fehl am Platze. Die These ist nicht, dass alles Vorhergesehene ethisch relevant ist, sondern vielmehr, dass es ethisch relevantes In-Kauf-Nehmen gibt. Vgl. zu den allgemeinen handlungstheoretischen Aspekten von Intentionen Michael Quante: Philosophische Handlungstheorie, Paderborn 2019a, Kapitel 3. 40 Mit dem Vorwurf des Arbiträren kann Verschiedenes gemeint sein. Einmal zählt jede auf menschliche Wertvorstellungen beruhende Bewertung als »arbiträr«, weil sie mit der These der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens kollidiert. Diese Begründungsfigur führt auf die schon dargestellten Schwierigkeiten zurück. Dann kann mit »arbiträr« auch gemeint sein, dass eine willkürliche, an den Situationen nicht plausibel festzumachende Unterscheidung keine stabile Basis für eine ethische Praxis sein kann. In diesem Sinne ist der Einwand berechtigt. Es kommt dann aber darauf an, welche Aspekte als ethisch relevant und damit als nicht-arbiträr gelten sollen. Hier erscheint uns der Rekurs auf die Lehre von der Doppelwirkung ihrerseits als »willkürlich«, wenn damit beansprucht wird, alle ethisch relevanten Aspekte abdecken zu können. 39

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ableiten, dass nur kategorische Begründungsformen einen hinreichenden Schutz bieten. Eine solche Annahme würde letztlich den Ermessensspielraum und die ethische Urteilskraft der Beteiligten ausblenden. Wir kommen damit insgesamt zu dem Schluss, dass sich ein kategorisches Verbot jeder Tötungshandlung auf der Basis der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens in einer säkularisierten Gesellschaft nicht begründen lässt. 41 Auch der Versuch, unter Zuhilfenahme der Lehre von der Doppelwirkung zwischen indirekt und direkt aktivem Herbeiführen des Todes eines Menschen eine kategorische ethische Grenze zu ziehen, scheitert. 42 Damit ist aber noch nicht entschieden, ob es nicht plausible Einwände gegen die direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen gibt, die einen weniger starken Begründungsanspruch erheben. Während sich die kategorischen Argumente generell auf die direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen richten, zielen diese schwächeren Begründungsformen auf ethisch relevante Eigenschaften der an der Handlung beteiligten Individuen ab. Daher ist es an dieser Stelle wieder präziser, von dem Problem der direkt aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln zu sprechen. Die kategorischen Argumente lassen diese Spezifikation außer Acht und beanspruchen, auf allgemeinerer Ebene ein Verbot jeder direkt aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen begründen zu können. Bei den Begründungsversuchen, die sich auf intrinsische ethische Aspekte der fraglichen Situation beziehen, ist dies anders. Zu diesem Schluss kommt auch Wuermeling: »Letztlich wird das Verbot der Tötung auf Verlangen nur aus einer metaphysischen Sicht begründbar sein, der das Lebensrecht als unverzichtbar gilt« (ders.: »Der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer zu ärztlicher Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 91–99, hier S. 93). Zu ergänzen wäre: oder der das menschliche Leben als prinzipiell unverfügbar gilt. 42 Verteidiger dieser Lehre begründen ihre These häufig mit dem Argument, dass sich ohne eine solche Begründungsstrategie der ethische Unterschied zwischen freiwilliger und nicht-freiwilliger Herbeiführung des Todes nicht begründen lasse. Diese Argumentation ist aber fehlerhaft. Es ist zwar richtig, dass das Verbot, menschliches Leben zu bewerten, ausreicht, beide Formen der Herbeiführung des Todes als kategorisch falsch auszuweisen. Nicht korrekt ist aber der Umkehrschluss, dass der Wegfall dieses Verbots automatisch dazu führt, dass beides ethisch gleichwertig ist. Übersehen wird hier die Möglichkeit anderer ethisch relevanter Unterschiede als die von der Lehre der Doppelwirkung berücksichtigten Aspekte. 41

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IV. Während kategorische Argumente dazu dienen sollen, die absichtliche Herbeiführung des Todes eines Menschen als ethisch falsch darzustellen, egal, wer der Handelnde ist, beziehen sich intrinsische 43 Begründungsversuche auf Eigenschaften des Situationstyps bzw. der daran beteiligten Individuen. Daher ist es entscheidend, im Folgenden den Situationstyp wieder einzuschränken auf die direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln. Daran beteiligt sind Mitglieder des medizinischen Teams (Ärzte und Pfleger) sowie das betreffende Individuum. Ist der Patient nicht in der Lage, seinen Tötungswunsch aktual hervorzubringen und liegt keine Patientenverfügung vor, muss möglicherweise ein Patientenanwalt hinzugezogen werden (diese Komplikation wird im Folgenden ausgeblendet). Ansonsten stellt sich das Problem der nicht-freiwilligen direkt aktiven Herbeiführung – eine Situation, die sich hinsichtlich ihrer ethisch relevanten Aspekte von der ersteren unterscheidet.

IV.1 Die freiwillige direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln Hier liegen als ethisch relevante intrinsische Aspekte die (aktuale oder verlässlich dokumentierte) autonome Entscheidung des betroffenen Individuums, das Berufsethos des beteiligten Mitglieds des medizinischen Behandlungsteams sowie dessen jeweilige individuellen ethischen Überzeugungen vor. 44 Ein Versuch, dem prima facie zu beWir verstehen unter intrinsischen Begründungen solche, die sich nur auf die Eigenschaften des Situationstyps (Handlungstyp und an der Handlung beteiligte Individuen) beziehen. Extrinsische Begründungen sind dagegen solche, in denen Auswirkungen auf andere Individuen (z. B. Angehörige), andere Bevölkerungsgruppen (z. B. Behinderte), soziale Institutionen (z. B. der Medizinsektor) oder gesamtgesellschaftliche Konsequenzen als ethisch relevant angeführt werden. Sowohl intrinsische wie auch extrinsische Eigenschaften unterscheiden sich von kategorischen dadurch, dass sie einer Abwägung zugänglich sind. 44 Das Berufsethos gehört zu den intrinsischen Aspekten, weil es die Rollenidentität einer der in dieser Rolle beteiligten Personen konstituiert, wobei diese Rollenidentität im Normalfall den zusätzlichen ethischen Überzeugungen dieser Person einen Spielraum lässt. Vgl. hierzu ausführlicher Michael Quante: »Selbstbestimmter Tod? Assistierter Suizid aus philosophischer Sicht«, in: Ders./E. Schockenhoff: Autonomie am Lebensende, Münster 2016, S. 9–40. 43

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rücksichtigenden Tötungswunsch nicht zu folgen, bezieht sich auf das ärztliche Berufsethos. 45 Ein solches Argument besagt z. B., dass das absichtliche Herbeiführen des Todes mit der »Sinnorientierung des ärztlichen Handelns« 46 unvereinbar sei. Damit ist eine solche Handlung für einen Arzt qua Arzt ausnahmslos verboten. Dennoch ist diese Begründung in unserem Sinne nicht kategorisch, sondern nur intrinsisch, da sich nun zwei Optionen ergeben. Entweder man überlässt die Tötungshandlung einem anderen Berufsstand des medizinischen Personals (z. B. Pflegern) oder man hält den auf dem Autonomieprinzip aufruhenden Tötungswunsch für derart stark, dass aus ihm eine das Berufsethos überstimmende ethische Verpflichtung abgeleitet werden kann. 47 Eine dritte Möglichkeit, die Tötungshandlung an jemanden zu delegieren, der kein Mitglied des medizinischen Personals ist, bliebe offen, wenn gezeigt werden kann, dass die direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln aus intrinsischen Gründen ethisch falsch ist. Selbst wenn sich also, wie von Wuermeling nahegelegt, die Ärzteschaft darauf festlegte, die direkt aktive Herbeiführung des Todes durch medizinisches Handeln sei mit ihrem Berufsethos unvereinbar, bliebe die Möglichkeit, dass andere Berufsgruppen eine derartige Inkompatibilität nicht sehen. 48 Aber uns erscheint fraglich, dass sich aus dem Berufsethos des Arztes allein ein solches den Arzt absolut bindendes Verbot begründen lässt. Es gibt Fälle, in denen ein Patient unter seinem Weiterleben nur noch leidet und die Verweigerung der Sterbehilfe daher für ihn ein Übel ist. Der Vollzug eines Tötungswunsches ist in solchen Fällen mit dem Nichtschadensprinzip auf jeSowohl Thomas Fuchs wie auch Hans-Bernhard Wuermeling beziehen diese Position und begründen damit kein kategorisches, sondern ein intrinsisches Verbot. So schreibt z. B. Wuermeling: »Für den Arzt ergibt sich aber die Unzulässigkeit einer Tötung auf Verlangen bereits auf einer viel pragmatischeren Ebene aus berufsspezifischen Gründen.« (Ders.: »Der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer zu ärztlicher Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 91–99, hier S. 94). 46 Thomas Fuchs: »Was heißt ›töten‹ ?«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 78–90, hier S. 84 ff. 47 Dies bedeutet noch nicht automatisch, dass sich daraus auch eine erzwingbare Rechtspflicht ergibt. 48 Da wir nicht davon überzeugt sind, dass das ärztliche Standesethos mit der absichtlichen Herbeiführung des Todes eines Menschen inkompatibel ist, verfolgen wir diesen Argumentationsstrang nicht weiter. Er sei hier nur als möglicher Ausweg angedeutet. 45

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den Fall vereinbar. 49 Die Vorstellungen des Gnadentodes oder des Todes als Erlösung sind sicher auch für das ärztliche Ethos keine inkompatiblen oder fremden Elemente. Der Rekurs auf das ärztliche Standesethos reicht daher nicht nur nicht aus, um die direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln ethisch auszuschließen. Er beruht auch auf einer nicht nachvollziehbaren 50 Einschätzung des ärztlichen Selbstverständnisses, oder auf dem Rekurs auf fundamentalere Wertvorstellungen. Aber auch wenn aus dem Berufsethos des Arztes die ethische Unzulässigkeit der aktiven Herbeiführung nicht folgt, kann als weiteres intrinsisches Merkmal der Situation die jeweilige biographische Identität des beteiligten Arztes angeführt werden. Aufgrund seiner persönlichen Wertvorstellungen, die zu den intrinsischen Aspekten der Situation gehören, kann ein Arzt den Tötungswunsch als für ihn aus Gewissensgründen inakzeptables Ansinnen zurückweisen. Intrinsische Begründungen können im Fall des Vorliegens eines autonomen Tötungswunsches letztlich nur begründen, dass ein Arzt für sich selbst das Recht hat, diesem Ansinnen nicht nachzukommen. Eine generelle intrinsische, sich auf das ärztliche Berufsethos stützende Begründung ist dagegen – ohne impliziten Rekurs auf kategorische Begründungsmuster – im Falle der freiwilligen absichtlichen Herbeiführung des Todes nicht plausibel. Weitere in die Abwägung jeweils einzubeziehende intrinsische Aspekte, deren Gewichtung jeweils von den konkreten Einzelfällen abhängt, sind die Mindestanforderungen an eine autonome Entscheidung (Information, rationale Nachvollziehbarkeit der Fakteneinschätzung, psychische Verfassung) und die prognostizierbare gesundheitliche Entwicklung des betreffenden Individuums. Beruht ein Tötungswunsch z. B. auf einer falschen Information, auf einer falschen Einschätzung der (mit einiger Sicherheit prognostizierbaren) weiteren Entwicklung oder auf einer offensichtlich rational nicht begründbaren Angst vor medizinischen Maßnahmen, dann liegen gute, aus der individuellen Situation ableitbare intrinsische Gründe vor, einem Tötungswunsch nicht nachzukommen.

Thomas Fuchs geht deshalb in seinem Beitrag auch wieder zu der kategorischen Begründung über, wenn er die Bewertung des menschlichen Lebens als solche für mit dem ärztlichen Ethos unvereinbar hält. 50 Man denke nur an die Abtreibungspraxis in Deutschland. 49

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

IV.2 Die nicht freiwillige direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln Die öffentliche Diskussion beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fällen, in denen ein autonomer Tötungswunsch vorliegt. Aber zunehmend entwickelt sich auch ein Problembewusstsein dahingehend, dass es Fälle nicht freiwilliger Tötungen gibt, die zumindest prima facie nicht ethisch verboten zu sein scheinen. Dies gilt vor allem für schwerstgeschädigte Neugeborene. 51 Hier stehen als intrinsische Größen, da ein autonomer Tötungswunsch nicht vorliegt, nur das individuelle Selbstverständnis des Arztes und das ärztliche Ethos (bzw. das anderer medizinischer Berufsgruppen) neben der Lebensqualität des betreffenden Individuums. 52 Aufgrund des fehlenden autonomen Tötungswunsches wiegen die anderen intrinsischen Faktoren schwerer. Trotzdem lassen sich auch in diesem Fall aus dem Nichtschadensprinzip allein keine Gründe ableiten, die eine direkt aktive Herbeiführung des Todes für den Arzt aufgrund seines Berufsethos kategorisch ausschließen. Zu den beachtenswerten Schwierigkeiten im Bereich der freiwilligen Herbeiführung des Todes kommt hinzu, dass nun an die Stelle der intersubjektiv nachvollziehbaren Lebensqualitätsbewertung dessen, der getötet werden möchte, ein objektiver Bewertungsmaßstab (»best interest standard«, objektives Interesse) angelegt werden muss, der wesentlich schwieriger zu begründen ist. Selbst in den Fällen, in denen ein Patientenanwalt eine Stellvertreterentscheidung vornehmen kann, weil das betreffende Individuum in seiner vorherigen Existenz Wertvorstellungen ausgebildet und mitgeteilt hat, kommen erschwerend Probleme der Überprüfbarkeit hinzu. Damit sind intrinsisch begründbare ethische Differenzen benannt, die aber selbst nicht ausreichen, diese Fälle kategorisch auszuschließen. Es ist vielmehr zu fordern, einen objektiven Bewertungsmaßstab durch Offenlegung der medizinischen Praxis und einen interdisziplinären Diskurs zu entwickeln und ab-

Vgl. Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann/Volker von Loewenich: »Die Behandlungspraxis bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen an deutschen Kliniken«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 56–77. 52 Wir verwenden den Begriff Lebensqualität hier so weit, dass auch die Fälle von irreversibel komatösen oder PVS-Patienten mit darunter subsumiert werden können. Vgl. hierzu auch Michael Quante: Menschenwürde und personale Autonomie. Demokratische Werte im Kontext der Lebenswissenschaften, Hamburg 22014, Kapitel III. 51

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Michael Quante

zusichern. 53 Wichtig ist dabei zum einen, dass die Eigeninteressen von Angehörigen nicht als intrinsische Aspekte gezählt werden. Zum anderen muss deutlich gemacht werden, dass ein objektiver Bewertungsmaßstab der Lebensqualität eines Individuums nichts Anderes meint als eine intersubjektive und in diesem Sinne objektive Ermittlung der subjektiven Lebensqualität (mit dem Grenzfall der irreversibel komatösen und der PVS-Patienten). Auf keinen Fall geht es um einen Standard, der in dem Sinne objektiv ist, dass er ohne Rekurs auf die Perspektive des betreffenden Individuums auskommt. Die intrinsischen Gründe gegen die direkt aktive Herbeiführung des Todes durch medizinisches Handeln wiegen unserer Meinung nach in den nicht-freiwilligen Fällen schwerer als in den freiwilligen Fällen, da neben dem Wegfall des positiv zu beachtenden autonomen Tötungswunsches zusätzliche Begründungslasten entstehen. Dennoch können diese Argumente in keinem Fall ausreichen, diese Handlungstypen kategorisch als ethisch falsch auszuweisen. Es kommt vielmehr auf eine den Einzelfall berücksichtigende Bewertung der Situation und eine Abwägung konkurrierender ethischer Ansprüche an. Eine direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen lässt sich daher weder kategorisch noch intrinsisch als in jedem Falle ethisch falsch bezeichnen. Sollten sich die Mitglieder der medizinischen Berufe allerdings auf den Standpunkt stellen, eine solche Handlung sei mit dem Berufsethos von Ärzten (oder Pflegern) nicht vereinbar, müsste eine andere Personengruppe diese Handlungen vollziehen. Unserer Auffassung nach lässt sich ein derartiger Rückzug auf das Berufsethos nicht ohne Rekurs auf kategorische Argumente plausibel machen. Diese kategorischen Gründe selbst sind ihrerseits in einer pluralistischen Gesellschaft letztlich nicht allgemeinverbindlich begründbar. Es bleibt die berechtigte Möglichkeit, dass ein Arzt jeweils für sich selbst reklamiert, eine solche Handlung sei nicht mit seinen Wertvorstellungen vereinbar. 54 In allen anderen Fällen müssen ethische Abwägungen ergeben, ob eine direkt aktive Herbeiführung des Todes in einem konkreten Fall zulässig ist Zu den Unsicherheiten im Umgang mit schwerstbehinderten Neugeborenen vgl. Mirjam Zimmermann/Ruben Zimmermann/Volker von Loewenich: »Die Behandlungspraxis bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen an deutschen Kliniken«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 56–77. 54 Vgl. dazu Michael Quante: »Selbstbestimmter Tod? Assistierter Suizid aus philosophischer Sicht«, in: ders./E. Schockenhoff: Autonomie am Lebensende, Münster 2016, S. 9–40. 53

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

oder nicht. Es ist allerdings noch zu diskutieren, ob nicht vielleicht extrinsische Gründe dafür sprechen, die direkt aktive Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln generell als ethisch falsch einzuschätzen.

V. Extrinsische ethische Aspekte, d. h. solche Aspekte, die sich nicht auf Eigenschaften der unmittelbar an dem Situationstypus beteiligten Individuen und der Handlung zurückführen lassen, müssen in zwei Arten unterteilt werden. Zum einen geht es um die Frage, ob es ethisch relevante Ansprüche von Individuen oder Institutionen gibt, die nicht unmittelbar an der Situation beteiligt sind. Zum anderen geht es um extrinsische Gründe, die sich auf den vielleicht prominentesten Argumenttyp in der biomedizinischen Ethik stützen – auf sogenannte Schiefe-Ebene-Argumente. 1.

Berechtigte Ansprüche dritter Parteien?

Bisher haben wir die Angehörigen eines Individuums, das einen Tötungswunsch geäußert hat, nur mittelbar mit einbezogen, wenn sie als Stellvertreterentscheider oder als Patientenanwalt für den aktual nicht mehr äußerungsfähigen Betroffenen sprechen. Dabei ist zu beachten, dass diese Angehörigen (zumindest idealerweise) nicht ihre eigenen Interessen vorbringen. Auch im Falle der nicht-freiwilligen Herbeiführung des Todes, gerade im Bereich schwerstgeschädigter Neugeborener, sowie in dem Fall, dass keine Willensäußerung des betroffenen Individuums überliefert ist, kommen Angehörige – neben dem medizinischen Personal – als Entscheider im besten Interesse in Betracht. 55 Zu fragen ist nun, ob es ethisch relevante Aspekte gibt, die sich direkt aus den Ansprüchen der Angehörigen selbst ergeben. In diesen Fällen geht es darum, ob es Ansprüche Angehöriger gibt, die den autonomen Tötungswunsch ethisch überwiegen können. Unseres Dies gilt gerade im Kontext von Neugeborenen und Kindern, da man hier annimmt, dass die Eltern am ehesten in der Lage sind, das für das Kind jeweils Beste zu benennen. Allerdings sollte man dabei nicht verkennen, dass sich gerade hier auch die Ängste und Wünsche der Eltern durchaus mit dem Urteil im besten Interesse vermischen werden und daher eine kritische Abgleichung mit den medizinischen Fakten erforderlich ist.

55

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Erachtens kann dies im Falle des Vorliegens eines autonomen Tötungswunsches nicht der Fall sein. 56 Anders ist dies in den Fällen, in denen kein autonomer Tötungswunsch vorliegt. Hier ist zu fragen, ob die Ansprüche Angehöriger eine Entscheidung im besten Interesse überwiegen können. Die eine Richtung (der Tod liegt nicht im besten Interesse des fraglichen Individuums) ist ethisch sicher unzulässig. 57 Fraglich ist aber, ob nicht Ansprüche Angehöriger schwerwiegend genug sein können, ein Leben entgegen dem besten Interesse des Patienten nicht zu beenden. Hier kommt es genau auf die Art der Ansprüche und das faktische Ausmaß des Leidens des betreffenden Individuums an. Lässt man finanzielle Versorgungsinteressen einmal außen vor, die in aller Regel eine solche Entscheidung nicht rechtfertigen können, dann bleiben psychische und weltanschauliche Gründe übrig. Hier wird, allein schon wegen der ansonsten zu befürchtenden Konsequenzen für die Institution der Medizin, der Weg des Sterbenlassens am ehesten ethisch akzeptabel sein. 58 Diese Einschätzung beruht allerdings auf graduellen und nicht auf kategorischen ethischen Unterschieden und kann daher nur als Prima-facie-Urteil gelten. Analog zu einem Suizid, der z. B. aufgrund des »im Stich Lassens« einer Familie als unmoralisch angesehen werden kann, ist denkbar, dass ein Tötungswunsch aufgrund sozialer Verpflichtungen ethisch zweifelhaft ist. Aber zum einen wird ein solcher Tötungswunsch in aller Regel im Kontext schwerer Krankheit geäußert, sodass das Versorgungsargument ohnehin nur begrenzt greift. Und zum anderen wiegt unseres Erachtens die Missachtung des autonomen Tötungswunsches ethisch schwerwiegender. 57 Der einzig prima facie problematische Fall sind irreversibel komatöse oder PVSPatienten, die keine Willensbekundung übermittelt haben. Hier lässt sich strenggenommen nicht von einem »besten Interesse« sprechen, sodass eine direkt aktive Herbeiführung ihres Todes nicht in ihrem Interesse sein kann. Es ist unbezweifelbar, dass es für die Angehörigen derartiger Patienten eine enorme Belastung darstellt, wenn ein Patient möglicherweise viele Jahre in einem solchen Zustand weiterlebt. Dennoch erscheint uns auch hier eine Herbeiführung des Todes ethisch nicht akzeptabel, wenn sie sich ausschließlich auf Ansprüche dritter Parteien stützen kann. Die Achtung vor dem menschlichen Leben muss in diesen Fällen gewahrt werden, um Menschen in diesem Lebenszustand ethisch nicht schutzlos werden zu lassen. Dies schließt nicht aus, dass juristische Regelungen z. B. in Eigentums- und Erbschaftsfragen akzeptabel sein können, die den Ansprüchen und Bedürfnissen der Angehörigen gerecht werden können. 58 In diesem Kontext kommt dann das Prinzip der »Vergeblichkeit« einer medizinischen Maßnahme als Abwehrrecht des Arztes gegen die Behandlungswünsche von Angehörigen zum Tragen (vgl. dazu die Beiträge in Marjorie B. Zucker/Howard D. Zucker (Hg.): Medical Futility and the evaluation of life-sustaining interventions, New York 1997). 56

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

Weitere Interessengruppen, die Ansprüche im Kontext der direkt aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen anmelden könnten, kommen durch Allokationsfragen ins Spiel. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies nur die Konstellation der nicht-freiwilligen aktiven Herbeiführung des Todes betreffen kann, da eine Aufrechterhaltung der Behandlung und Pflege (z. B. eines PVS-Patienten) Kosten verursacht und die Ansprüche anderer Patienten tangieren kann. Man darf die Augen nicht davor verschließen, dass der Verzicht auf die direkt aktive Herbeiführung eines Todes unter den – real stets gegebenen – Bedingungen der Mittelknappheit an anderer Stelle im Gesundheitswesen immer dazu führen wird, dass berechtigte Ansprüche anderer Parteien (Patienten oder Angehörige) nicht erfüllt werden können. Dennoch können diese Zusammenhänge nicht zur Rechtfertigung dafür dienen, ein Leben zu beenden, wenn dies nicht im besten Interesse des betroffenen Individuums liegt. Damit würde eine ohnehin schwache und schützenswürdige Gruppe von Menschen eines fundamentalen Schutzes beraubt. Eine solche Praxis ist weder mit den Grundwerten eines solidarischen Gesundheitswesens noch mit den Grundwerten einer die Würde des menschlichen Individuums und den intrinsischen Wert des menschlichen Lebens respektierenden Gesellschaft vereinbar. Damit lassen sich extrinsische Gründe der ersten Art nicht als zusätzliche relevante Aspekte anführen. Die Frage nach der ethischen Zulässigkeit entscheidet sich nicht an den Interessen Dritter. Es bleibt zu klären, ob extrinsische Gründe der zweiten Art hinreichend stark genug sein können, die Bewertung der direkt aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln zu beeinflussen. 2.

Die Schiefe-Ebene-Argumente

Schiefe-Ebene-Argumente, zumindest in ihrer einzig plausiblen Form, verweisen auf kausale Folgen, die daraus erwachsen, dass eine bestimmte Handlungsweise als ethisch akzeptabel eingeführt wird (analog für Verbote). 59 Diese Folgen sind dann entweder so gravieDie umfangreichste und detaillierteste Auseinandersetzung mit dieser Argumentform findet sich in Barbara Guckes: Das Argument der schiefen Ebene, Stuttgart/ Jena/Lübeck/Ulm 1997 [vgl. in diesem Band den Auszug aus Guckes’ Buch, S. 285– 319 – Anm. d. Herausg.].

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rend, dass sie die ethische Prima-facie-Bewertung umzudrehen in der Lage sind, oder aus einer ethisch indifferenten Handlung eine ethisch eindeutige werden lassen. Schiefe-Ebene-Argumente sind in der bioethischen Auseinandersetzung und vor allem auch in der Auseinandersetzung um die ethische Bewertung der direkt aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln sehr prominent. Obwohl sie im Prinzip auch als positive Argumente fungieren könnten, die auf gewünschte Folgen einer scheinbar ethisch indifferenten oder gar prima facie ethisch falschen Handlung mit dem Ziel hinweisen, die Bewertung umzudrehen, spielen sie in unserem Kontext nur die Rolle, auf negative Folgen hinzuweisen. Einige Autoren (z. B. Finnis, Gormally) sehen den Untergang des Abendlandes drohen und die Grundlagen der Zivilisation überhaupt in Gefahr, wenn die absichtliche Tötung eines Menschen aufgrund einer Lebensqualitätsbewertung als ethisch zulässig angesehen würde. 60 Das Gespenst des Nationalsozialismus steht vor der Tür oder geht bereits um in Europa. Zumindest mit dem ärztlichen Ethos sei eine absichtliche Tötung nicht vereinbar – »der Arzt, der einen Menschen auch auf dessen Wunsch hin tötet, gerät durch sein Tun in eine Handlungsorientierung und Gesinnung, die in der letzten Konsequenz die Achtung vor der Person aufheben muss« 61. Die Frage ist allerdings, welcher Art dieses »muss« sein soll und wie es begründet werden kann. Als empirische Prognosen über psychologische Konsequenzen oder gesellschaftliche Entwicklungen sind solche Argumente keine philosophischen und ihre Plausibilität kann nur mit sozialpsychologischen und soziologischen Erklärungsmodellen geprüft werden. 62 Trotz ihrer Beliebtheit sind derartige ArgumenVgl. John M. Finnis: »A philosophical case against euthanasia«/Luke Gormally: »Walton, Davies, Boyd and the legalization of euthanasia«, in: John Keown (Hg.): Euthanasia Examined. Ethical, Clinical and Legal Perspectives, Cambridge 1995, S. 23–35/113–140. 61 Thomas Fuchs: »Was heißt ›töten‹ ?«, Ethik in der Medizin 9 (1997), S. 78–90, hier S. 86. 62 Eine Vorbedingung für die plausible Anwendung dieser Argumentationsform ist, dass empirisch gesicherte Daten (mindestens zwei Messungen zu zwei verschiedenen Zeitpunkten) vorliegen. Ohne eine solche Basis hängen Schiefe-Ebene-Argumente schlicht in der Luft und können höchstens eine Beweislastverschiebung innerhalb der Diskussion erreichen. Wie weit interpretierbar – vor dem Hintergrund abweichender ethischer Vorannahmen – allerdings auch empirische Daten sind, zeigt die Kontroverse um die Erfahrungen in den Niederlanden (vgl. John Keown: »Some reflections on euthanasia in The Netherlands«/»Further reflections on euthanasia in 60

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

te, vor allem aufgrund des Fehlens empirischer Daten, daher in vielen Fällen ›ungedeckte Schecks‹. Ihr faktischer Beitrag für die Diskussion besteht entweder darin, ethische Vorurteile der Beteiligten zu illustrieren, oder aber darin, unterschwellige Ängste zu mobilisieren. Prinzipiell können Schiefe-Ebene-Argumente in Abwägungskontexten sehr wohl begründende Funktion übernehmen. Diese kann, im Falle des Fehlens eines autonomen Tötungswunsches, hinreichend sein, auf direkt aktive Herbeiführungen zugunsten von passivem Sterbenlassen zu verzichten oder – wie im Falle von komatösen oder PVSPatienten – keinen Behandlungsverzicht zuzulassen. Dort aber, wo ein autonomer Tötungswunsch vorliegt, können Schiefe-Ebene-Argumente nur die Einführung von Sicherheitsmaßnahmen begründen. Auch diese extrinsischen Begründungen tragen also nur in sehr begrenztem Maße dazu bei, die ethische Falschheit der direkt aktiven Herbeiführung des Todes eines Menschen durch medizinisches Handeln nachzuweisen. In den meisten Fällen fehlt die empirische Datenbasis und der Hinweis auf die bloß logische Möglichkeit einer schiefen Ebene reicht sicherlich nicht aus. Ohne hier eine Einzelüberprüfung der unzähligen konkreten Schiefe-Ebene-Argumente durchführen zu können, die ohnehin in vielen Fällen auf eine das zu Beweisende voraussetzende Einschätzung »diese Gefahr erscheint mir plausibel/erscheint mir nicht plausibel« hinauslaufen müsste, sei daher gesagt, dass auch extrinsische Gründe dieser Art, wenn sie denn plausibel sind, nur ein Faktor in der allgemeinen Abwägung sein können. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass sich ein kategorischer oder prinzipieller ethischer Unterschied zwischen den verschiedenen Formen der Sterbehilfe nicht begründen lässt. Die deskriptiven Unterschiede sind für sich nicht hinreichend, ethische Unterscheidungen zu begründen. Eine Analyse der verwendeten Terminologien und eine Prüfung der verschiedenen Argumenttypen zeigt, dass die Aufgabe der philosophischen Ethik nur sein kann, die jeweiligen relevanThe Netherlands in the light of The Remmelink Report and the van der Maas Survey«, in: L. Gormally (Hg.): Euthanasia, Clinical Practice and the Law. The Linacre Centre For Health Care Ethics, London 1994, S. 193–218/S. 219–240; ders.: »Euthanasia in the Netherlands: sliding down the slippery slope?« In: ders. (Hg.): Euthanasia Examined. Ethical, Clinical and Legal Perspectives, Cambridge 1995, S. 261–296; Helga Kuhse: »Sanctity of Life, Voluntary Euthanasia and the Dutch Experience: Some implications for Public Policy«, in: K. Bayertz (Hg.): Sanctity of Life and Human Dignity, Dordrecht 1996, S. 19–37.

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ten Gesichtspunkte herauszustellen, die es dann jeweils gegeneinander abzuwägen gilt. Wie diese unterschiedlichen Aspekte des hier behandelten Problems einzuschätzen sind, kann nur in einem interdisziplinären Gespräch geklärt werden. Die Gewichtung der relevanten Aspekte zueinander muss letztlich dem gesellschaftlich-politischen Diskurs und dem Gesetzgeber überlassen werden.

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Passive, indirekt und direkt aktive Sterbehilfe

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Teil II: Prinzipielle Argumente für und wider direkte aktive Sterbehilfe und ärztliche Beihilfe zum Suizid

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Selbsttötung und Rechte Margaret Pabst Battin

Der Behauptung, dass die Selbsttötung deswegen falsch sei, weil sie den intrinsischen Wert des Lebens missachte, weil sie dem Leben anderer schade, oder weil die Position, der zufolge Selbsttötung zu erlauben ist, zur Nötigung und zum Missbrauch führen könnte, steht die Auffassung entgegen, dass eine Person nichtsdestoweniger das Recht habe, ihrem Leben dann ein Ende zu setzen, wenn sie sich dazu entschließe, und dass dieses Recht schwerer wiege als die genannten Einwände gegen die Selbsttötung. Zudem schließe das Recht auf Selbsttötung die paternalistische Einmischung, welche die Ausübung dieses Rechts vereiteln würde, aus. Im Folgenden werden wir den philosophischen Standpunkt untersuchen, dass die Selbsttötung eine Sache ist, bei der es um Rechte geht. Es gibt zwei Dinge, die wir angesichts dieses Standpunktes beachten sollten. Erstens: Zu sagen, dass das Recht auf Selbsttötung schwerer wiege als die Einwände gegen dieses Recht, zeigt nicht, dass diese Einwände irrig oder gegenstandslos sind. Beispielsweise schließt die Behauptung, dass das Recht auf Selbsttötung schwerer wiege als der inhärente Wert des menschlichen Lebens, nicht ein, dass menschliches Leben nicht wertvoll sei – es könnte von so hohem Wert sein, dass niemand das Leben eines anderen zerstören sollte; es ist damit lediglich gemeint, dass der Wert des menschlichen Lebens nicht so hoch sei, dass man sich nicht selbst das Leben nehmen dürfe. Die Behauptung, dass das Recht auf Selbsttötung schwerer wiege als die Kritik, die die Schädigung anderer ins Feld führt, impliziert zudem nicht, dass es eine solche Schädigung nicht gebe oder sie nicht berücksichtigt werden sollte. Und zu behaupten, dass das Recht auf Selbsttötung schwerer wiege als die Gefahr der Nötigung und des Missbrauchs, schließt nicht ein, dass diese Gefahr nicht real sei, sondern nur, dass wir die Präferenzen einiger Individuen nicht ignorieren sollten, um andere zu schützen. Die Selbsttötung als ein Recht zu be-

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Margaret Pabst Battin

trachten bedeutet nicht, die zuvor genannten Einwände als gegenstandslos zurückzuweisen. Zweitens: In den geläufigeren Lesarten der Ansicht, dass die Selbsttötung ein Recht ist, wird angenommen, dass sie ein Recht aller Personen sei. Viele Ethikerinnen und Ethiker – sogar jene, die nicht die libertarische Linie verfolgen – räumen ein, dass Personen, deren Leben von einer unerträglichen, unheilbaren Krankheit oder von stärkstem Schmerz geprägt ist, das Recht hätten, ihr Leben zu beenden; die Position, die hier vertreten wird, besagt allerdings, dass alle Personen dieses Recht haben – auch jene, die jung, gesund und erfolgreich sind –, wenngleich es selbstverständlich nahe liegt, dass eher solche Personen dieses Recht in Anspruch zu nehmen wünschen werden, deren Leben von einer unerträglichen, unheilbaren Krankheit oder von stärkstem Schmerz geprägt ist. Zunächst müssen wir jedoch prüfen, ob es ein solches Recht gibt.

1.

Selbsttötung als ein Recht

Die Behauptung, dass die Selbsttötung ein Recht sei, ist nicht neu. Beispielsweise macht Schopenhauer geltend, dass eine Person das Recht habe, sich selbst zu töten, obgleich er die Selbsttötung in metaphysischer Hinsicht als ganz und gar töricht erachtet: […] während doch offenbar Jeder auf Nichts in der Welt ein so unbestreitbares Recht hat, wie auf seine eigene Person und Leben. 1

Auch wenn der Begriff der Rechte erst erheblich später gebräuchlich sein wird und sich die Ansicht, dass Frauen Rechte haben, noch viel später durchsetzen wird, ist die Auffassung, dass ein Individuum dazu berechtigt sei, sich das Leben zu nehmen, sofern es sich dafür entscheide, bereits in vielen klassischen griechischen und römischen Quellen zu finden. Unter Berücksichtigung einer Metapher, die von vielen Autoren der Stoa verwendet wird, sagt Cicero Folgendes: Es muss ja auch kein Schauspieler, um zu gefallen, ein ganzes Stück hindurch auf der Bühne stehen – er braucht nur in dem Akt, in dem er auf-

Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften: Zweiter Band, Leipzig 1877, S. 328.

1

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Selbsttötung und Rechte

getreten ist, Beifall zu finden. Ebenso wenig hat es ein Weiser nötig, das abschließende »Hoch!« zu erleben. 2

Flavius Josephus’ Eleazar spricht von der Selbsttötung als einer »gnädigen Fügung Gottes« und einem »Glück« 3; Seneca meint, dass eine Person von ihrem Vorrecht auf Selbsttötung Gebrauch machen dürfe, sobald ihr das Schicksal übel mitspiele. 4 Auch wenn die Stoiker die leichtfertige Selbsttötung verurteilen, halten sie daran fest, dass ein Mensch dazu berechtigt sei, sich selbst das Leben zu nehmen, wenn dessen Nachteile seine Vorteile überwiegen. Zudem behaupten sie, dass die Bestimmung der genauen Begleitumstände und die Art der Selbsttötung zu den fundamentalen Rechten des Individuums gehören würden, die durch Ansprüche anderer kaum aufgehoben werden könnten. Seneca sagt: Das Leben muss ein jeder auch vor anderen rechtfertigen, den Tod vor sich: Der beste Tod ist, der gefällt. 5

Die energischsten Beteuerungen, dass die Selbsttötung ein Recht sei, wurden nach dem viele Jahrhunderte währenden Mittelalter, in dem die Selbsttötung vonseiten der Kirche strikt abgelehnt worden war, vorgebracht; besonders nachhaltigen Einfluss hatte Rousseaus Roman Héloïse (1761), in dem Saint-Preux davon ausgeht, dass die Befreiung vom »unglückliche[n] Dasein« das »einfachste unter den Naturgesetzen« sei, »welches ein vernünftiger Mensch noch niemals in Zweifel gezogen hat« 6. Die Denker der Romantik und jene Philosophen, die von ihnen beeinflusst worden sind, erachten die Selbsttötung als ein grundlegendes Menschenrecht. Nietzsche ist hierfür repräsentativ; er behauptet, dass die Selbsttötung ein »MenschenRecht und -Vorrecht« 7 sei.

Marcus Tullius Cicero: Cato der Ältere. Über das Alter. (Cato maior de senectute), Lateinisch-Deutsch, hg. v. M. Faltner, München 1963, S. 87. 3 Flavius Josephus: Jüdischer Krieg, aus dem Griechischen übers. v. Ph. Kohout, Linz 1901, S. 515 und S. 516. 4 Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Vierter Band: An Lucilius, Briefe über Ethik 70–124, [125], Lateinisch und Deutsch, hg. v. M. Rosenbach. Darmstadt 21987, S. 11 [Brief 70]. 5 Ebd. 6 Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, hg. v. D. Leube, München 21988, S. 399. 7 Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile, Stuttgart 41952, S. 210. 2

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Es mag den Anschein haben, dass solche Betrachtungen von rein historischem Interesse sind. Jedoch ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass ein entscheidender philosophischer Punkt, der mit ihnen verknüpft ist, weitreichende Folgen für unsere heutige Sicht auf die Selbsttötung hat: Wenn wir die Selbsttötung als ein Recht auslegen, dann verändern sich die Strategien für die Bestimmung, wann sie erlaubt ist und wann nicht. In vorangegangenen Kapiteln dieses Buches 8 haben wir unterschiedliche moralische Vorschriften ins Auge gefasst, denen zufolge die Selbsttötung verboten ist; die meisten von ihnen lassen Ausnahmen zu, in denen die Selbsttötung erlaubt ist. Beispielsweise kann man mit Aristoteles der Meinung sein, dass man Pflichten gegenüber der Gemeinschaft verletze, wenn man sich selbst töte; aber es gebe Ausnahmen – nämlich dann, wenn die Selbsttötung dem Staat dienlich sei. Platon und Augustinus behaupten, dass man die vorrangige Pflicht habe, dem Befehl Gottes zu gehorchen; beide nennen allerdings als Ausnahmen Fälle (wie diejenigen von Sokrates und Samson), in denen Gott die Selbsttötung eher fordere statt sie zu verbieten. Kant ist der Ansicht, dass die Selbsttötung deswegen verboten sei, weil man die Pflicht habe, die Menschheit in der eigenen Person anzuerkennen; offenkundig berücksichtigt aber auch er, der in der Frage der Selbsttötung ansonsten unnachgiebig ist, eine Ausnahme, nämlich den Fall Catos. Diesen Auffassungen nach ist die Selbsttötung im Allgemeinen falsch; einige besondere Fälle werden allerdings als Ausnahmen zugelassen. Wenn wir aber die Selbsttötung als ein Recht auslegen, dann verändert sich die Strategie. Nun beginnt man mit der Annahme, dass die Selbsttötung ein Prima-facie-Recht sei, berücksichtigt dann aber Umstände, deretwegen dieses Recht außer Kraft gesetzt werden könnte. Dieser taktische Zug mag in religiösen Argumentationen erfolgreich sein: Man könnte unterstellen, dass menschliche Wesen das Recht haben, sich das Leben zu nehmen (kraft ihrer Verantwortung zur Selbstbestimmung, die ihnen gemäß der Lehre vom freien Willen gegeben ist), aber dass Gottes Erlasse dieses Recht – außer in sehr wenigen Ausnahmefällen – aufheben. Oder wir könnten, eine ähnliche Strategie anwendend und so den aristotelischen Standpunkt neu interpretierend, annehmen, dass alle Personen das Recht hätten, sich Gemeint ist die folgende Monografie, aus der das vorliegende Kapitel entnommen ist: Margaret P. Battin: Ethical Issues in Suicide, Englewood Cliffs (NJ) 1995 (Anm. d. Übers.).

8

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das Leben zu nehmen, aber dass dieses Recht nichtig werde, wenn der Tod der Personen den Staat schädige. In manchen zeitgenössischen Erörterungen wird die Moralität der Selbsttötung entsprechend analysiert, auch wenn zugleich gesagt wird, dass das Recht auf Selbsttötung für nahezu jeden außer Kraft gesetzt sei. In diesen Analysen wird üblicherweise besonderes Gewicht darauf gelegt, dass die Inanspruchnahme des Rechts auf Selbsttötung andere Individuen verletzen und die Gesellschaft schädigen würde: Dies sei überhaupt die Grundlage dafür, dass dieses Recht außer Kraft gesetzt werden könne. Somit ist das Zugeständnis, dass Personen das Recht haben, sich selbst zu töten, nicht gleichbedeutend damit, dass sie sich töten dürfen, wann immer sie dies wünschen; man kann für eine Analyse der Selbsttötung, die sie als Recht begründet, eintreten, und trotzdem behaupten, dass dieses Recht, anders als die meisten anderen Rechte, fast immer außer Kraft gesetzt sei. Ehe wir die Implikationen der Auffassung, dass die Selbsttötung ein Recht sei, berücksichtigen können, müssen wir zunächst prüfen, ob sie überhaupt nachvollziehbar ist. Wir können einige Interpretationen der Behauptung, dass die Selbsttötung ein »Recht« sei, voneinander unterscheiden. Gemäß einer in der Alltagskultur weitverbreiteten Interpretation wird das Recht auf Selbsttötung als ein Eigentumsrecht begriffen; dies gründet auf der Vorstellung, dass das eigene Leben eher einem selbst gehöre als Gott oder dem Staat. Die zweite Interpretation, die vielleicht ebenso verbreitet ist, fasst die Selbsttötung als ein Recht auf, das man aufgrund seiner allgemeinen Freiheit habe, so zu handeln, wie man zu handeln wünsche, wobei man nur zu beachten habe, anderen keinen Schaden zuzufügen oder keine moralischen Regeln zu brechen. Gemäß einer dritten Interpretation, die interessant ist, aber – eigentlich unnötig, dies zu sagen – hoch kontrovers, kann man die Selbsttötung als ein natürliches Recht ansehen, und somit als eine der grundlegenden Freiheiten des Menschen. Nach all diesen Interpretationen hat ein Individuum das Recht, sich selbst zu töten, es sei denn, dass etwas zu berücksichtigen ist, das dieses Recht außer Kraft setzt; interessant ist, unter welchen Umständen Rechte dieser Art von anderen Ansprüchen außer Kraft gesetzt werden.

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2.

»Es ist mein Leben«: das Argument des Eigentums an sich selbst

Ein in vielen Epochen wiederkehrender Gedanke ist der, dass das Leben einer Person »ihr gehört«; er stützt das Argument, dass ein Individuum über das eigene Leben nach eigenem Wunsch verfügen darf, auch wenn dies dazu führt, es mittels der Selbsttötung zu beenden. In der klassischen Literatur wird diese Auffassung vor dem Hintergrund der Befreiung aus der Sklaverei gedeutet; so behaupten die Stoiker, dass die Möglichkeit der Selbsttötung beweise, dass man kein Sklave sei. 9 Demgegenüber interpretieren Philosophen der Aufklärung und des 18. Jahrhunderts diesen Gedanken als ein Gegenargument gegen die im Mittelalter verbreitete und religiös fundierte Annahme, dass die Selbsttötung deswegen falsch sei, weil das Leben eines Menschen Gott gehöre. Wie H. J. McClosky formuliert, ist das Argument für das Recht auf Selbsttötung die »auf den Kopf gestellte« traditionelle Ansicht Lockes, dass der Mensch das Eigentum Gottes ist: […] es ist so, als sagte man, dass der Mensch, der ein Entscheider ist, ein Wählender, der einen eigenen Willen hat, sich selbst gehört, sein eigener ›Besitz‹ ist, und als solcher Eigentumsrechte an sich und seiner Person hat. Seine Autonomie ist sein wertvollster Besitz und verleiht ihm das Eigentumsrecht an sich selbst und für sich selbst. 10

Varianten dieses aus dem Mittelalter stammenden Arguments gegen die Selbsttötung, dem zufolge das Leben das Eigentum Gottes ist, finden sich auch bei zeitgenössischen Autoren; der russische Emigrant Berdyaev schreibt etwa: Menschen, die nicht der Ansicht sind [dass die Selbsttötung Mord ist – M. P. B.], heben besonders die Tatsache hervor, dass ein Mörder ein Leben nimmt, das nicht ihm gehört. Ihr Argument geht von der Behauptung aus, dass, weil mein Leben mein eigenes sei, ich dieses genauso nehmen könne, ohne einen Mord zu begehen, wie ich mein eigenes Geld nehmen könne,

Siehe Senecas Beschreibung eines spartanischen Jungen in: Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Vierter Band: An Lucilius, Briefe über Ethik 70–124, [125], Lateinisch und Deutsch, hg. v. M. Rosenbach. Darmstadt 21987, S. 123 [Brief 77]. 10 Eigene Übersetzung von H. J. McClosky: »The Right to Life«, Mind 84/332 (1975), S. 416–417: »[…] it is akin to say that the man who is a decider, a chooser who has a will of his own, possesses himself, is his own ›property‹, and as such, has property rights in and to his person. His autonomy is his most precious possession, and gives him his property right in and to himself.« (Anm. d. Übers.) 9

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Selbsttötung und Rechte

ohne dadurch zum Dieb zu werden. Aber dieses Argument ist falsch und oberflächlich. Mein Leben ist nicht ausschließlich mein eigenes, es gehört nicht vollkommen mir, es gehört zunächst Gott. Er ist der unbedingte Eigentümer; mein Leben gehört auch meinen Freunden, meiner Familie, der Gesellschaft, und letztlich der ganzen Welt, die mich braucht. Im Allgemeinen ist uneingeschränktes Privateigentum ein falsches Prinzip.11

Das Privateigentumsargument, das von Berdyaev zurückgewiesen wird, um gegen die Selbsttötung zu argumentieren, kann allerdings auch in eine positive Form gewendet werden, um gegen die Selbsttötung zu argumentieren. Beispielsweise wurde ein 74-jähriger Mann aus Washington D.C., der an Parkinson erkrankt war, nach einem Versuch, sich das Leben zu nehmen, von seinem Arzt darauf hingewiesen, dass er, wenn er »sein Leben« nicht mehr »will«, es für einen »nützlichen Zweck« einsetzen könne; er sollte keine weiteren Suizidversuche unternehmen, sondern sich freiwillig als Forschungsobjekt für voraussichtlich risikoreiche medizinische Studien zur Verfügung stellen. 12 Das zugrunde liegende Argument des Mediziners suggeriert, dass man auch dann, wenn man das Recht habe, mit seinem Besitz so zu verfahren, wie man es wünsche, diesen jemandem vermachen oder einem anderen Zweck zuführen sollte, anstatt ihn zu zerstören – so wie man eine Jacke, aus der man herausgewachsen ist, spenden kann. Häufiger wird die Behauptung, dass das eigene Leben einem selbst gehöre, jedoch dafür genutzt, libertarische Praktiken bezüglich der Selbsttötung zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung erlangte in den vergangenen Jahren 13 große öffentliche Aufmerksamkeit durch Eigene Übersetzung von Nicholas Berdyaev: »On Suicide«, Approach: A Literary Quarterly 43 (1962), S. 6–27; zit. n. der Übersetzung von Elizabeth Bellenson und Helen Fowler in: Christianisme Social: Revue Internationale et Sociale pour un monde chrétien (1953), S. 15: »People who do not think [that suicide is murder] make much of the fact that a murderer takes a life which does not belong to him. Their argument turns on the proposition that since my life is my own, I can take it without committing murder in the same way that I can take my own money without being a thief. But this argument is false and superficial. My life is not solely my own, it does not belong to me absolutely, it belongs to God first. He is the absolute owner; my life also belongs to my friends, to my family, to society, and finally to the entire world which has need of me. Absolute private ownership is a false principle, generally speaking.« (Anm. d. Übers.) 12 Victor Hasenoehrl, private Unterredung. 13 Battin kann sich hierbei nur auf den Zeitraum von 1972 – dem Jahr der Erstausstrahlung des Stücks Whose Life is It, Anyway? im Fernsehen [s. folgende Fußnote; 11

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Brian Clarks Stück »Ist das nicht mein Leben?« 14. Darin streitet ein in allen Gliedern gelähmter Mann dafür, dass die medizinischen Maßnahmen beendet werden, die ihn am Leben erhalten. Das Argument des Privateigentums hat jedoch konzeptuelle Schwachstellen. Man könnte einwenden, dass das Leben – anders als Land, Geld, Viehbestand, Waren, Kleidung oder Haushaltsgegenstände – nicht etwas ist, das Eigentum sein kann, weil nicht transferierbares Eigentum eben kein Eigentum ist. Kluge formuliert entsprechend: Was wir besitzen – im vollen Sinne dieses Ausdrucks – können wir verstoßen, weggeben, verkaufen, oder anderweitig vergeben, sodass es der Besitz eines anderen wird. Dies können wir mit unserem Leben nicht tun. Was auch immer dieses einzigartige Verhältnis für uns sein mag, es kann kein Eigentumsverhältnis sein. 15

Wir sprechen – eher im metaphorischen Sinne – davon, uns selbst zu versklaven oder uns zu opfern, indem wir das eigene Leben für jemand anderen geben; gewiss sprechen wir von sich aufopfernden Helden als denen, die »ihr Leben gegeben haben«. Wir sprechen davon, unser Leben einzusetzen, um bestimmte Vorteile zu erlangen, es »aufzugeben«, »abzulegen« oder gar »wegzuwerfen«. Diese Redewendungen geben deutlich zu verstehen, dass das Leben entbehrliches Eigentum sei; aber es lassen sich Gründe dafür anführen, dass die Annahme, auf der das Privateigentumsargument für die Selbsttötung gründet, unzutreffend ist; zumindest ist sie dann unzutreffend, wenn die metaphysische Prämisse eines postmortalen Lebens abgelehnt wird: Gewöhnlich existieren in den Fällen, in denen Eigentum zerstört wird, die Eigentümer nach der Zerstörung fort (und werden begünstigt oder geschädigt). Im Fall der Selbsttötung ist jedoch der Eigentümer selbst das zerstörte Eigentum. Der Satz »Das ist mein Leben« weist eine irreführende grammatikalische Ähnlichkeit mit Sätzen wie »Das ist meine Pfeife« oder »Das ist mein Haus« auf;

1978 wurde das Stück erstmals ans Theater gebracht] – bis 1995 – dem Jahr des Erscheinens ihres Buches Ethical Issues in Suicide – beziehen (Anm. d. Übers.). 14 Brian Clark: Whose Life is It, Anyway? New York 1978. 15 Eigene Übersetzung von Eike-Henner W. Kluge: The Practice of Death, New Haven 1975, S. 119: »What we own – in any full-blooded sense of that term – we can disown, give away, sell, or otherwise dispose of so that it becomes the property of someone else. We cannot do this with our lives. Therefore, whatever the unique relationship this bears to us, it cannot be one of ownership.« (Anm. d. Übers.)

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Selbsttötung und Rechte

irreführend ist sie deshalb, weil der Besitzer eines Lebens die Aufgabe dieses Besitzes nicht überleben wird, der Besitzer einer Pfeife oder eines Hauses die Aufgabe der Pfeife oder des Hauses dagegen sehr wohl. Zweifellos ist die Vorstellung, dass das eigene Leben »mir gehört«, im öffentlichen Denken libertarischer Prägung weitverbreitet. Interessanterweise ist dies ein Argument, das man häufig von Heranwachsenden und jungen Erwachsenen hört. Gleichwohl ist es keineswegs offensichtlich, dass die Vorstellung vom eigenen Leben als »meinem« Leben kohärent ist. »Es ist mein Leben« könnte der Ausdruck eines wirkmächtigen Gefühls sein, aber nicht notwendigerweise ein Beleg dafür, dass das eigene Leben zu den Dingen gehört, die einem gehören.

3.

Das Argument der Freiheit

Man versteht die in der Einstellung »Es ist mein Leben« implizierte Vorstellung besser, wenn man die Selbsttötung nicht als ein Eigentumsrecht begreift, sondern als ein Recht, das den eigenen natürlichen Freiheiten entstammt. Demzufolge darf jemand kraft seiner ihm eigenen Freiheit sich dazu entschließen, sich selbst zu töten, vorausgesetzt, dass damit verbundene Handlungen andere nicht schädigen oder gegen die Rechte anderer verstoßen, und vorausgesetzt, dass es keine widerstrebenden Auflagen und Pflichten gibt; gibt es jene, ist das eigene Recht außer Kraft gesetzt. Es gibt drei bedeutende Rechtskonzeptionen, die wir der Vorstellung von einem Recht auf Selbsttötung zugrunde legen können: die Hobbes’sche Konzeption der Freiheitsrechte; die Konzeption der Rechte auf Nichteinmischung; und die, auf die bisweilen als Konzeption der Anspruchsrechte Bezug genommen wird. Ich werde alle genannten Rechte »einfache« Rechte nennen, um sie von den natürlichen Rechten, auf die wir später eingehen werden, zu unterscheiden. Die erste der genannten Konzeptionen besagt, dass eine Person berechtigt sei, etwas zu tun, wenn sie nicht dazu verpflichtet sei, es nicht zu tun: Wenn Jones berechtigt ist, einen Wahrsager aufzusuchen, obgleich es gute Gründe gibt, dies nicht zu tun (z. B. Vernunftgründe), ist sie nicht dazu verpflichtet, ihn nicht aufzusuchen. Innerhalb der zweiten der relevanten Rechtskonzeptionen bedeutet ein Recht zu haben nicht nur, dass eine Person nicht die Pflicht oder die Auflage 123 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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habe, eine Handlung nicht auszuführen, sondern dass andere Personen die korrespondierende Pflicht hätten, sich nicht in die Ausübung der Handlung einzumischen. Wenn Smith berechtigt ist, nach Bermuda zu segeln, dann haben Sie und ich nicht das Recht, ihn vom Besteigen des Bootes abzuhalten. Die dritte Rechtskonzeption schließt die beiden anderen ein, erhebt aber stärkere Forderungen: Sie enthält positive Vorschriften, denen gemäß andere jemanden bei der Ausübung eines Rechts zumindest dann unterstützen müssen, wenn sie sich damit selbst keinem ernsthaften Risiko aussetzen und keine anderen moralischen Grundregeln brechen. Wenn Brown von Räubern gefangen genommen und an einen Baum gefesselt worden ist, verpflichtet uns ihr Recht auf Freiheit von unrechtmäßiger Freiheitseinschränkung – wenn es ein Anspruchsrecht ist – dazu, sie zu befreien, wenn wir dies tun können, ohne dadurch selbst Gefahr zu laufen, gefangen genommen zu werden und ohne andere moralische Regeln zu brechen. Die Formulierung, dass wir ein Recht auf Selbsttötung haben, mag jeder der Konzeptionen entsprechen: dass eine Person nicht dazu verpflichtet sei, sich selbst nicht zu töten, obgleich es beispielsweise anders wäre, wenn sie von ihr abhängige Kinder hätte; dass andere Personen keinen Grund hätten, sich einzumischen, gleich bei welchem Versuch einer Person auch immer, sich selbst zu töten (und dass deswegen die Suizidprävention sozialer und polizeilicher Dienste, sofern sie überhaupt rechtmäßig wäre, spezieller Rechtfertigung bedürfte); oder dass andere Personen (wenngleich keine bestimmten) nicht nur dazu verpflichtet seien, sich nicht nur nicht einzumischen, sondern einer anderen Person, die sich zur Selbsttötung entschlossen hat und sich zu töten versucht, Hilfe zu leisten. Die meisten der Gegenwartsautoren, die die Selbsttötung als ein Recht anerkennen, interpretieren es als ein Freiheitsrecht, wenngleich manche es als ein Recht verstehen, das anderen etwas auferlegt. Die andauernd diskutierten philosophischen Probleme erfordern eine Festlegung, wann und unter welchen Umständen das Recht auf Selbsttötung außer Kraft gesetzt werden kann. Der Psychiater Jerome Motto behauptet beispielsweise Folgendes: Vom psychiatrischen Standpunkt aus kann die Frage, ob eine Person das Recht habe, den Schmerz in ihrer Welt mittels Selbsttötung zu behandeln, ohne zu zögern beantwortet werden: Sie hat das Recht dazu. […] das Problem, mit dem wir uns auseinandersetzen, ist nicht das, ob das Individuum

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Selbsttötung und Rechte

das Recht hat, sich selbst zu töten; vielmehr haben wir ein zweigeteiltes Dilemma vor uns, das der Tatsache geschuldet ist, dass das Individuum dieses Recht hat. Erstens: Wie groß ist das Ausmaß, in dem die Ausübung des Rechts Gegenstand der Einschränkung sein sollte? Zweitens: Wenn das Recht ausgeübt wird, wie können wir dann der sozialen Stigmatisierung entgegenwirken, die jetzt damit verknüpft ist? 16

Die Bioethiker Lebacqz und Engelhardt argumentieren wie folgt: Insofern prinzipielle Argumente gegen die Selbsttötung nicht schlagend sind, gibt es ein Prima-facie-Recht, sich selbst zu töten. Die Frage der Selbsttötung wird damit zu einer Frage der Verteilungsgerechtigkeit – zu einer Frage des Ausgleichs zwischen diesem Recht und den rechtmäßigen Ansprüchen anderer. 17

Einige »einfache« Rechte sind nahezu spielend außer Kraft zu setzen – mein Prima-facie-Recht, mir an die Nase zu fassen, ist aufgrund der Bedürfnisse anderer Speisender am Tisch in Windeseile außer Kraft gesetzt; andere »einfache« Rechte sind dies nicht – mein Recht, einen Gemüsegarten anzulegen, wird nicht durch die Präferenz meines Nachbarn, lieber auf Blumen statt auf Gemüse zu blicken, außer Kraft gesetzt. Selbstverständlich sind Entscheidungen darüber, welche Pflichten, Auflagen und Folgen von Handlungen Rechte diverser Art außer Kraft setzen, Teil des alltäglich-moralischen Lebens; während einige Fälle leichthin gelöst werden können, gilt dies für andere nicht. Vermutlich liegen im Zusammenhang mit der Selbsttötung allerdings besonders schwierige Fälle vor. Wird das Prima-facie-Recht Eigene Übersetzung von Jerome Motto: »The Right to Suicide: A Psychiatrist’s View«, Suicide and Life-Threatening Behavior 2/3 (1972), S. 213 [nachgedruckt in: Margaret P. Battin/David J. Mayo (Hg.): Suicide: The Philosophical Issues, New York 1980, S. 212–219]: »From a psychiatric point of view, the question as to whether a person has the right to cope with the pain in his world by killing himself can be answered without hesitation. He does have the right … The problem we struggle with is not whether the individual has the right to suicide; rather, we have a two-fold dilemma stemming from the fact that he does have it. Firstly, what is the extent to which the exercise of that right should be subject to limitations? Secondly, when the right is exercised, how can we eliminate the social stigma now attached to it?« (Anm. d. Übers.) 17 Eigene Übersetzung von Karen Lebacqz/H. Tristram Engelhardt Jr.: »Suicide«, in: D. J. Horan/D. Mall (Hg.): Death, Dying and Euthanasia, Washington D.C. 1977, S. 669: »Since arguments in principle against suicide do not succeed, there is a prima facie right to kill oneself. The question of suicide thus becomes a question of distributive justice – of balancing this right against the legitimate claims of others.« (Anm. d. Übers.) 16

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einer 18-Jährigen, sich selbst zu töten, durch die verheerenden Folgen, die ihr Tod für ihre Eltern bedeuten würde, und angesichts ihres grundlegenden Interesses, ihr Kind aufwachsen zu sehen, außer Kraft gesetzt? Womöglich ist dies so. Wird das Recht einer 80-Jährigen, sich selbst zu töten anstatt an unheilbarem Krebs zu sterben, durch die konservativen religiösen Überzeugungen ihrer erwachsenen Kinder außer Kraft gesetzt? Womöglich ist dies nicht so. Allerdings weisen diese Fälle auf ein zentrales Problem hin, das sich stellt, wenn man die Selbsttötung als ein Recht behandelt: Welche Bedingungen und Umstände genau sind es, die dieses Recht außer Kraft setzen? Keineswegs ist dies das einzige Problem, das auftritt, wenn man die Selbsttötung als ein Recht ansieht. Ein zweiter zentraler Punkt ist der, der mit Forderungen der Nichteinmischung und Hilfe bei Suizidversuchen zu tun hat. Nehmen Sie beispielsweise an, dass Jones das Recht hat, sich selbst zu töten, und dass ihr Recht nicht von Ansprüchen anderer außer Kraft gesetzt wird: Schließt dies ein, dass Smith die Pflicht hat, Jones aus dem Weg zu gehen, wenn sie sich zu töten versucht? Mehr noch: Kann Smith verpflichtet sein, Jones dabei zu helfen? In einigen verhältnismäßig einfachen Fällen sind wir vielleicht in der Lage, überzeugende Antworten auf Fragen wie diese zu geben, aber damit sind wir weit davon entfernt, eine kohärente und vollständige Zusammenstellung von Prinzipien erstellt zu haben, mit denen wir Außerkraftsetzungen und Verpflichtungen anderer bestimmen können. Dies heißt nicht, dass die Meinung, die Selbsttötung sei ein Recht, philosophisch nicht nützlich wäre – wenn wir uns aber dieser Meinung anschließen, wartet der Hauptteil der philosophischen Arbeit erst noch darauf, von uns erledigt zu werden. Es liegen durchaus etliche Fallstricke bereit, wenn man die Selbsttötung als ein Recht ansieht. Der erste und wichtigste ist folgender: Die Ansicht, dass die Selbsttötung ein Recht sei, das aufgrund von Pflichten und Auflagen anderer Personen außer Kraft gesetzt werden könne, könnte zu einer ungleichen Behandlung von Individuen führen, deren Beweggründe, sich selbst zu töten, dieselben sind, die sich aber hinsichtlich ihrer Rahmenbedingungen und ihrer Beziehungen zu anderen Menschen unterscheiden. Von zwei Personen, die beispielsweise von derselben unheilbaren Krankheit betroffen sind, könnte die eine das Recht haben, sich selbst zu töten – nämlich dann, wenn sie keine familiären Beziehungen hat –, während das Recht der anderen Person – die familiäre Beziehungen hat – außer Kraft gesetzt wird; dies wäre eine Ungleichbehandlung, obwohl der Grund für die 126 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Selbsttötung derselbe ist. Zweitens könnte die Ansicht, dass die Selbsttötung ein Recht sei, dazu führen, dass man denen, deren Gründe für die Selbsttötung nicht gleich gut sind, dieselbe Erlaubnis erteilt. Wenn die Selbsttötung ein Recht ist, das vor allem aufgrund von Pflichten und Auflagen anderer außer Kraft gesetzt werden kann, dann könnten zwei Suizidenten, deren zwischenmenschliche Beziehungen und Verbindlichkeiten gegenüber anderen gleich sind, das Recht haben oder nicht, sich selbst zu töten, auch wenn ihre Gründe dafür, dies tun zu wollen, wesentlich differieren. Ferner könnten die Person, die sich aufgrund vernunftgeleiteter Überlegung zur Selbsttötung entschließt, und eine andere Person, deren Gründe oberflächlich oder pathologisch sind, nicht nur dasselbe Recht haben, sich selbst zu töten, sondern auch denselben Anspruch darauf, daran nicht gehindert zu werden, oder denselben Anspruch darauf, dabei unterstützt zu werden. Drittens könnte die Behandlung der Selbsttötung als Recht, gleich welche Art von Rechten wir anerkennen, anderen einheitlich Pflichten auferlegen, unabhängig von deren individuellen Eigenschaften und Empfindsamkeiten. Wenn die Selbsttötung als ein Freiheitsrecht begriffen wird, dann darf keine Person, wie nahestehend sie auch immer ist, die Pflicht haben, einzugreifen oder zu helfen. Wenn die Selbsttötung als ein Anspruchsrecht begriffen wird, dann würden andere Personen, allgemein formuliert, die Pflicht haben, Suizidbeihilfe zu leisten. Zweifellos könnte man diesen Fallstricken mittels eines komplexen Systems von Rechten, Außerkraftsetzungen und Pflichten, das nicht solche grob vereinfachenden Ergebnisse liefern würde, entgehen. Aber wenn dieses komplexe System entwickelt würde, dann müssten die Gründe, auf denen Rechte, Außerkraftsetzungen und Pflichten hinsichtlich der Selbsttötung basieren, genauestens in Betracht gezogen werden. Die Entwicklung dieses komplexen Systems würde die Schwachstellen jener bislang von uns betrachteten Ansicht, dass die Selbsttötung ein Recht ist, offenlegen. Wenn die Selbsttötung schlichtweg ein Recht auf einen Zweck der eigenen Freiheit ist, nämlich den, so zu handeln, wie man zu handeln wünscht, dann wird es sehr schwierig werden, zu zeigen, warum nicht in nahezu jedem Fall, in dem andere auch nur irgendwie benachteiligt sind, das Recht auf Selbsttötung unmittelbar außer Kraft gesetzt ist, und wie wir anderen Auflagen erteilen können, Suizidbeihilfe zu leisten. Die Selbsttötung könnte ein Recht sein, aber sie wäre als Recht nur so bedeutend wie 127 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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jenes, sich an die Nase fassen zu dürfen; es wäre etwas, das man ausüben kann, solange es niemanden stört. Wenn das »Recht« auf Selbsttötung aber nur so stark wäre, dann hätten wir den überlieferten Ansichten, mit denen wir begonnen hatten, keinen Dienst erwiesen. Offenkundig ist mit ihnen etwas Stärkeres gemeint. Es gibt ein weiteres Problem mit der Ansicht, dass die Selbsttötung ein »einfaches« Recht sei. Wie James Bogen bemerkt, könnten in einer Auseinandersetzung mit der Selbsttötung, in der die Begriffe »Rechte«, »Pflichten« und »Auflagen« im Vordergrund stehen würden, die eigentlich moralischen Fragen zur Selbsttötung nicht beantwortet werden: Durch diese Auseinandersetzung könnte vermittelt werden, was uns zu tun erlaubt ist, aber nicht, was wir tun sollen. 18 Aus dem Nachweis, dass ich das Recht habe, mich selbst zu töten, folgt nicht, dass mein Versuch, mich selbst zu töten, gut oder schlecht ist – ebenso wenig, wie ich mit dem Nachweis, dass ich das Recht habe, für einen bestimmten Kandidaten zu stimmen, begründet habe, dass meine Stimmabgabe für ihn eine gute Wahl ist. Es gibt jedoch noch einen Weg, die Selbsttötung als ein Recht zu behandeln. Mit ihm könnte man die genannten Probleme vielleicht teilweise umgehen: Es ist der, die Selbsttötung als ein natürliches Recht anzusehen. Damit könnte man eine vorläufige Antwort auf die Frage geben, wie leicht ein Recht auf Selbsttötung außer Kraft gesetzt werden kann, und darüber hinaus einen Hinweis darauf – wie provisorisch er auch immer sein mag –, wann es gut ist, sich selbst zu töten. Letzten Endes ist das, worauf wir ein natürliches Recht zu haben glauben, etwas, das wir als gut und wichtig erachten.

4.

Selbsttötung als ein natürliches Recht

Ein dritter Weg, die Behauptung, dass es ein Recht auf Selbsttötung gibt, zu verstehen, besteht somit darin, dieses Recht zu den fundamentalen oder natürlichen Rechten der Menschheit zu zählen. Diese noch grundlegenderen Rechte, die von den zuvor berücksichtigten »einfachen« Rechten zu unterscheiden sind, sind Rechte, wie sie aus klassischen Manifesten bekannt sind: aus der US-amerikanischen

18 James Bogen: Suicide and Virtue, in: M. P. Battin/D. J. Mayo (Hg.): Suicide: The Philosophical Issues, New York 1980, S. 286–292.

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Verfassung und der Bill of Rights, aus der Französischen Erklärung der Menschenrechte, aus dem Kommunistischen Manifest und aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, neben weiteren. Offenkundig variieren die aufgelisteten Rechte von Manifest zu Manifest – enthalten sind etwa (aber nicht in jedem) das Recht auf Leben, auf Freiheit, auf den Besitz von Eigentum, auf Versammlungsfreiheit, auf die freie Rede und die Religionsfreiheit, auf Bildung, auf Arbeit, auf politische Repräsentation und medizinische Versorgung. Auch wenn sich die Manifeste inhaltlich offenkundig unterscheiden, eint sie dieselbe zugrunde liegende Konzeption: In ihnen wird erklärt, dass bestimmte universelle, allgemeine und grundlegende Rechte von Individuen beansprucht werden, kraft derer sie Menschen sind. Wenngleich in der Praxis Verletzungen vorkommen, sind zumindest theoretisch natürliche Rechte nicht leichthin außer Kraft zu setzen, und dann auch nur aufgrund weniger zwingender Gründe im öffentlichen Interesse. Könnte die Selbsttötung ein natürliches Recht sein? Dies würde dieses Recht auf eine Stufe mit den Rechten auf Leben, auf Freiheit, auf Redefreiheit und auf Religionsfreiheit, auf politische Repräsentation und auf das Streben nach Glück heben und es so schützenswert machen wie diese Rechte, wenn sie eingeschränkt zu werden drohen. Es wäre im Rechtswesen, in der Alltagsmoral, in Medizin und Religion zu achten, und zwar als eine weitere Säule einer moralisch aufgeklärten Gesellschaft. Das Recht zu sterben, wann man sterben möchte und wie man sterben möchte, und zwar aus eigens anerkannten Gründen, wäre so grundlegend wie das Recht auf Leben. Mit dieser Auffassung des Rechts auf Selbsttötung stößt man auf zwei prinzipielle Probleme. Zunächst gibt es keinen Präzedenzfall für diese Forderung; um genau zu sein: Kein großes Menschenrechtsmanifest nennt irgendein Recht auf Selbsttötung. Die jüngste Gesetzgebung in den meisten Bundesstaaten der USA 19 kennt ein sogenanntes Recht auf Sterben; jedoch ist die Nutzung dieses Ausdrucks auf medizinische Kontexte beschränkt, in denen die heroische Aussetzung von Mitteln zur Verlängerung des Lebens unheilbar Kranker eine Rolle spielt. Das Recht zu sterben, wie es in dieser Gesetzgebung enthalten ist, ist bloß das Recht darauf, dass das eigene Sterben nicht verlängert wird; es wird nicht als Recht interpretiert, ein ansonsten

19

Battin bezieht sich hier auf die näherliegenden Jahre vor 1995 (Anm. d. Übers.).

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andauerndes Leben zu beenden. Daher begründet gemäß dieser Rechtsprechung der Rechtsanspruch auf die Aussetzung der Behandlung bei unheilbarer Erkrankung kein umfassenderes Recht auf Selbsttötung. Selbstverständlich belegt die Nichtnennung eines Rechts auf Selbsttötung in Hauptmanifesten oder Gesetzgebungen nicht, dass es ein solches Recht nicht gibt; es kann womöglich auf anderen, unabhängigen Gründen fundiert werden. Ein zweiter grundsätzlicher Einwand dagegen, die Selbsttötung als ein natürliches Recht zu deuten, ist der, dass diese Deutung keinen adäquaten Einblick in die Pathologie biete, die in den meisten gegenwärtigen Fällen von Selbsttötung eine Rolle spiele. Es kann kaum bestritten werden, dass Pathologie in vielen – vielleicht den meisten – Selbsttötungen, von denen wir heute Kenntnis haben und die wir studieren, eine Rolle spielt. Aber dies widerlegt nicht die Annahme, dass es ein solches Recht gibt; es könnte nur darauf hinweisen, dass die Ausübung dieses Rechts oftmals paternalistische Einschränkungen der Art nach sich ziehen würde, wie wir sie bereits diskutiert haben. Schließlich billigen wir gewöhnlich die Einschränkung anderer natürlicher Rechte unter ungewöhnlichen und pathologischen Umständen, beispielsweise dann, wenn wir die Freiheit, die Redefreiheit, die Versammlungsfreiheit, sogar das Streben nach Glück von Kriminellen und psychisch Erkrankten einschränken. Wenn wir diese beiden Einwände außer Acht lassen, können wir uns fragen, welchen positiven Beleg wir für die Existenz eines solchen Rechts finden. Es auf das umfangreichere Recht auf Autonomie oder auf Selbstbestimmung zu gründen könnte dazu führen, es lediglich als ein »einfaches« Recht zu bestimmen – eine Position, die am Ende einen schwachen Beleg liefern würde. Alternativ könnte das Recht, sich das Leben zu nehmen, als selbstverständlich ausgezeichnet werden: als ein natürliches, grundlegendes Recht, das nicht von anderen Rechten, Interessen oder Pflichten abgeleitet werden kann oder muss. Oder es könnte auf ein umfassenderes Freiheitsrecht gegründet werden; dies ist die Position, die Rousseaus Saint-Preux einnimmt. Ihm zufolge basiert es auf dem allgemeinen und grundlegenden Recht, sein eigenes Wohl anzustreben: Je mehr ich darüber nachsinne, desto mehr finde ich, dass sich die Frage auf folgenden Hauptsatz zurückführen lässt: Es ist ein natürliches Recht, dass man, solange man keinem andern schadet, sein Gutes suche und sein Übel fliehe. Wenn unser Leben ein Übel für uns und kein Gut für jemand ist, so

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ist es erlaubt, sich seiner zu entledigen. Gibt es in der Welt einen augenscheinlich klaren und unwiderleglichen Grundsatz, so denke ich, ist es dieser […]. 20

Aber während in Rousseaus Text, wie in den Texten vieler anderer Philosophen, die Selbstverständlichkeit des Rechts auf Selbsttötung geltend gemacht wird, machen andere Denker die Selbstverständlichkeit des gegenteiligen Prinzips geltend – nämlich, dass die Selbsttötung verboten ist. Jenen Gedanken verfolgend, schreibt Wittgenstein: Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt. Wenn etwas nicht erlaubt ist, dann ist der Selbstmord nicht erlaubt. Dies wirft ein Licht auf das Wesen der Ethik. Denn der Selbstmord ist sozusagen die elementare Sünde. 21

Außergewöhnlich ist an dem Problem der Selbsttötung die Selbstgewissheit, mit der beide Seiten argumentieren: die eine, die davon ausgeht, dass die Selbsttötung ein natürliches Recht des Individuums sei; die andere, die davon ausgeht, dass es nicht nur nicht ein natürliches Recht, sondern sogar, dass die Selbsttötung strikt verboten sei. Mehr noch: Die Denker auf beiden Seiten halten ihre jeweilige Position für selbstverständlich. Wenn ein infrage kommendes Recht als selbstverständlich gilt, dann dürfte es nicht zu dessen weiterer Rechtfertigung kommen können – genauso, wie behauptet wurde, dass die tiefere Begründung des fundamentalen Prinzips des Werts des Lebens überflüssig sei. Folglich mag es, da widerstreitende Prinzipien aufeinandertreffen, so scheinen, als ob der Streit nicht beigelegt werden kann. Werfen wir dennoch einen Blick auf die Arten von Argumenten, die von denen vorgetragen werden, die sich mit der Frage nach dem Recht auf Selbsttötung befassen. Das Recht auf Selbsttötung und das Recht auf Leben. Vielleicht ist die Selbsttötung mit dem natürlichen oder grundlegenden Recht auf Leben unvereinbar; wenn dem so ist, dann legt dies nahe, dass ein Recht auf Selbsttötung nicht auch ein natürliches Recht sein kann, Jean-Jacques Rousseau: Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, hg. v. D. Leube, München 21988, S. 394. 21 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 41988 [Werkausgabe Bd. 1], S. 187. Wittgenstein beschließt den letzten Eintrag [10. 1. 1917] in seinen edierten Tagebüchern von 1914 bis 1916 (S. 187) allerdings mit der folgenden Mutmaßung: »Oder ist nicht auch der Selbstmord an sich weder gut noch böse!« 20

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womöglich überhaupt kein Recht ist. Dieses Ergebnis wird von unterschiedlichen Denkern, wie etwa Joel Feinberg 22 und Antony Flew 23, erwogen. Feinberg bemerkt, dass das Recht auf Leben in der Jefferson’schen Tradition Politischer Theorie, die ihren Ausdruck in Dokumenten wie der US-amerikanischen Bill of Rights finde, nicht nur als universell, sondern auch als unveräußerlich beschrieben werde; d. h., dass dieses Recht von keinem anderen Individuum, keiner Institution und mutmaßlich nicht einmal von einem selbst aufgehoben werden könne. Wenn man aber sein Recht auf Leben nicht aufgeben oder auf es nicht verzichten kann, dann hat es den Anschein, als habe man kein Recht auf Selbsttötung. Dies legt gemäß Feinbergs Beobachtung nahe, dass es so etwas wie ein Recht auf Leben nicht gibt. Allerdings beobachtet Feinberg ebenfalls, dass auch dann, wenn das Recht auf Leben unveräußerlich sei, sich mit ihm kein Zwang verbinde, es auszuüben. 24 Lassen wir das Recht auf Leben für einen Moment beiseite: Wenn wir, weiterhin unter Berücksichtigung der vorgängigen Annahme der Gegebenheit von Naturrechten, die Liste anderer Rechte, die als natürliche Rechte angesehen werden – Freiheit, Eigentum, Brüderlichkeit, das Streben nach Glück, Religionsfreiheit, Redefreiheit – untersuchen, dann ist ersichtlich, dass in keinem Fall, vielleicht mit der Ausnahme der Freiheit, angenommen wird, dass von einem Individuum zu verlangen ist, dieses Recht auszuüben. Wenn wir sagen, dass das Recht auf Religionsfreiheit ein natürliches Recht ist, dann schließt dies nicht aus, dass man überhaupt keine Religion hat. Das Recht auf Eigentum verlangt von niemandem, etwas zu besitzen – man kann sich für die Besitzlosigkeit entscheiden, wenn man dies möchte. Mit anderen Worten: Ein Recht ist weder etwas Notwendiges noch etwas Verpflichtendes, sondern etwas Freigestelltes; man nimmt es in Anspruch, wenn man es in Anspruch nehmen möchte. Wenn das Recht auf Leben ein natürliches Recht ist, dann garantiert es, dass ein Individuum das Recht auf Leben hat, wenn es dies wünscht, aber es verpflichtet und nötigt es nicht, ebendies zu wünschen. Dies lässt sich auch so formulieren: Das natürliche Recht auf Leben ist, wie die anderen natürlichen Rechte auf

Joel Feinberg: »Voluntary Euthanasia and the Inalienable Right to Life«, Philosophy and Public Affairs 7/2 (1978), S. 93–123. 23 Antony Flew: The Right to Death, Ms., University of Reading. 24 Joel Feinberg: »Voluntary Euthanasia and the Inalienable Right to Life«, Philosophy and Public Affairs 7/2 (1978), S. 104 ff. 22

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Freiheit, auf Versammlungsfreiheit, auf Religionsfreiheit, nur ein Recht, keine Pflicht. Es gibt keine Pflicht, einen Glauben zu haben, sich mit anderen zu versammeln oder frei zu reden, und es gibt keine Pflicht zu leben. Allerdings könnte man erwidern, dass zwischen natürlichen Rechten, die Ermessenssache seien – wie dem Recht auf freie Rede – und solchen, die rechtsverbindlich seien – wie den Rechten auf Freiheit, Bildung, und, für Hegelianer, auf Bestrafung – zu unterscheiden sei. Kinder haben demzufolge ein Recht auf Bildung, aber ihre Anwesenheit in der Schule liegt nicht in ihrem Ermessensspielraum oder in dem ihrer Eltern; sie wird verlangt. Mill argumentiert, dass man ein natürliches Recht auf Freiheit habe, aber dass selbst da, wo die Einschränkung der Freiheit nur auf sich selbst bezogen werde, ein Individuum nicht das Recht habe, seine Freiheit auszuschließen. 25 In ähnlicher Weise könnte man argumentieren, dass das Recht auf Leben ein natürliches Recht sei, aber, anders als die natürlichen Rechte des Ermessens, der freien Rede, der Versammlungsfreiheit oder der Religionsfreiheit, in Anspruch genommen werden müsse. Man sei verpflichtet, am Leben zu bleiben. Aber das Plädoyer für verbindliche Rechte (um sie von allgemein anerkannten Pflichten zu unterscheiden) ist nicht überzeugend; dies deswegen, weil man immer behaupten kann, dass die Ausübung bestimmter Rechte nur nötig sei, um ihren Missbrauch zu verhindern. Diese Rechte seien selbst keine Pflichten. Wenngleich etwa die Schulpflicht den Anschein erweckt, als ob das Recht auf Bildung verbindlich sei, dürften Schulpflichtmaßnahmen keine moralische Pflicht der Kinder widerspiegeln, am Schulunterricht teilzunehmen. Sie sollen aber Verstößen gegen das Recht von Kindern, am Schulunterricht teilzunehmen, vorbeugen, die sowohl aufgrund des noch nicht voll entwickelten Urteilsvermögens von Kindern als auch aufgrund von Erwachsenen, die es bevorzugen würden, Kinder für Arbeiten oder zur Erreichung eigener Zwecke einzusetzen, auftreten könnten. Der These, dass das Recht auf Leben verbindlich sei, kann mit einer ebenfalls relevanten Behauptung begegnet werden […]. 26

Diese These findet sich in John Stuart Mills On Liberty (1859); Mill diskutiert allerdings weder in diesem noch in irgendeinem anderen Text die Selbsttötung. 26 Auslassung d. Übers.: Battin bezieht sich hier auf etwas aus einem anderen Kapitel ihres Buches, in dem das vorliegende Kapitel enthalten und dessen Kenntnis für das Verständnis nicht zwingend ist. 25

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Wir sollten auch darauf hinweisen, dass ein Individuum, das sich zur Selbsttötung entschließt, dadurch nicht sein Recht auf Leben verliert. Ein Suizidversuch ist nicht die Aufkündigung des Rechts auf Leben: Es ist die Aufkündigung des eigenen Lebens. In ähnlicher Weise haben Sklaven ein Recht auf Freiheit, auch wenn sie keine Freiheit mehr haben – obgleich dies in den Gesellschaften, in denen sie leben, oftmals nicht respektiert wird. Der Verzicht auf die Ausübung einer Religion, des Rechts auf Eigentum, des Wahlrechts oder des Recht auf Redefreiheit schränkt das Recht auf ebendiese Dinge nicht ein. Es wäre irreführend, davon zu sprechen, dass Personen dadurch, dass sie sich diesen Dingen verweigern, auch auf ihre Rechte auf diese Dinge verzichten, sie aufheben, preisgeben oder abtreten. Selbstverständlich kann eine Person einige oder alle Rechte verlieren. Aber dies geschieht nicht durch deren Nichtausübung, sondern vielmehr durch andere Umstände wie die Schließung eines Vertrages oder als Folge eines Vergehens: Jemand könnte sein Recht auf finanzielle Unabhängigkeit dadurch verlieren, dass er heiratet, oder, wie die Befürworter der Todesstrafe behaupten, sein Recht auf Leben dadurch, dass er gemordet hat. Die Nichtinanspruchnahme des Rechts auf Leben durch die Selbsttötung schließt nicht den Verlust dieses Rechts ein. Wenn dies so ist, dann kann das Recht auf Selbsttötung mit dem unveräußerlichen Recht auf Leben vereinbar sein. Vielleicht ist die Analogie zwischen dem Recht auf Leben und anderen unveräußerlichen natürlichen Rechten deswegen schwach, weil die Nichtinanspruchnahme des Rechts auf Leben zu einem bestimmten Zeitpunkt dessen weitere Inanspruchnahme unmöglich macht: Die erfolgreiche Selbsttötung schließt jede Möglichkeit der künftigen Ausübung des Rechts auf Leben aus. Die erfolgreiche Selbsttötung hebt allerdings nicht jemandes Recht auf Leben auf; wenn ein Individuum, das sich selbst getötet hat, erneut lebte, wäre es unwahrscheinlich, dass wir ihm das Recht auf Leben absprechen würden. Offenbar wurde dies in früheren Zeiten anders gesehen. Die Selbsttötung galt im spätmittelalterlichen und frühmodernen Europa gewöhnlich als ein verbrecherisches Vergehen, und gescheiterte Suizidversuche konnten mit der Todesstrafe geahndet werden. 27 Auf der anderen Seite ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – der Vgl. Alvarez’ Zitat zu einer verstörenden Beschreibung der Erhängung eines erfolglosen Suizidenten in London (ca. 1860) in: Al Alvarez: Der grausame Gott, Hamburg 1999, hier S. 63. 27

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Suizidversuch heute kein Straftatbestand mehr; vielmehr wird der, der sich zu töten versucht, wiederbelebt und ermutigt, weiterzuleben. Die Grundlage eines natürlichen Rechts auf Selbsttötung. Dass das natürliche Recht auf Leben nicht in Anspruch genommen werden muss, bedeutet nicht, dass die Selbsttötung ein natürliches Recht ist; dies muss eigenständig nachgewiesen werden. Natürliche oder grundlegende Rechte zu begründen ist eine notorisch schwierige Angelegenheit, die Diskussionen anfacht. Wie gezeigt, sind sich die bekanntesten Manifeste sogar bei den am wenigsten strittigen Punkten nicht einig, und die philosophische Debatte über die Grundlagen natürlicher Rechte ist nicht abgeschlossen. Ich denke, dass sich dennoch Umrisse einer Verteidigung der Behauptung, dass die Selbsttötung ein natürliches Recht sei, zeichnen lassen. Man kann, wie ich andernorts vorgeschlagen habe, grundlegende oder natürliche Rechte als in der menschlichen Würde begründet sehen. 28 Dieser Ansicht zufolge haben Personen natürliche oder grundlegende Rechte auf etwas schlichtweg deshalb, weil es dazu beiträgt, die menschliche Würde zu fördern. Womöglich ist dabei eine nur vage Vorstellung von »Würde« im Spiel, aber sie ist, wie Ronald Dworkin dies ausdrückt, eine »einflußreiche Vorstellung« 29, und wir können intuitiv erfassen, wie Freiheit, die Redefreiheit, Bildung, die Versammlungsfreiheit und andere fundamentale Rechte dazu beitragen, die menschliche Würde zu fördern. Auf der anderen Seite haben wir kein natürliches Recht auf Alkoholismus, weil dieser der menschlichen Würde generell nicht förderlich ist; wir mögen allerdings frei darin sein (z. B. ein einfaches Anrecht darauf haben), Alkoholiker zu werden, sofern wir dies wünschen, vorausgesetzt, dass wir damit niemanden schädigen und gegen keine andere Pflicht verstoßen. Gemäß dieser, wie ich denke, plausiblen Ansicht ist die Selbst-

Margaret P. Battin.: »Suicide: A Fundamental Human Right?«, in: dies./D. J. Mayo (Hg.): Suicide: The Philosophical Issues, New York 1980, S. 267–285. Manches in diesem Abschnitt ist dem belegten Beitrag entnommen, obgleich die Darstellung von Rechten geringfügig abweicht. 29 Ronald Dworkin: Bürgerrechte ernstgenommen, übers. v. U. Wolf, Frankfurt am Main 1984, S. 325. Dworkin spricht von zwei voneinander unabhängigen Vorstellungen, die Rechte begründen: einmal von der »vage[n], aber einflußreiche[n] Vorstellung der Würde des Menschen« und dann von der »bekanntere[n] Vorstellung der politischen Gleichheit« (S. 325 und S. 326). Siehe auch sein neueres Buch Die Grenzen des Lebens (Hamburg 1994), darin besonders Kapitel 7. 28

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tötung in der Tat eine Sache des Naturrechts, weil sie generell dazu beträgt, die menschliche Würde zu untermauern. 30 Diese Ansicht mag angesichts offenkundigster Tatsachen wie ein Affront erscheinen. Augenscheinlich bezweckt die Selbsttötung, wie wir sie kennen, generell nicht, die menschliche Würde zu fördern; die Selbsttötung ist eine bedrückende, mitleiderregende Angelegenheit. Denken Sie beispielsweise an die allgegenwärtigen Selbsttötungen aus Rache, mit denen bewusst oder unterbewusst bezweckt wird, Schuld, Reue oder Verletzungen auszulösen. Selbsttötungen dieser Art offenbaren, dass die menschliche Natur alles andere als erhaben ist. Oder denken Sie erneut an die Selbsttötung aufgrund von Vereinsamung: an den alten Mann, der allein in einem schäbigen Zimmer zur Miete lebt, ohne Familie, ohne Freunde, ohne echte soziale Kontakte. Mit der Behauptung, dass die Selbsttötung ein natürliches Recht sei, weil sie generell bezwecke, die menschliche Würde zu fördern, werden diese Fälle offenbar falsch beschrieben, und sie verleitet uns dazu, die Tragödien zu übersehen, die sich in ihnen abspielen. Wie wir schon sagten und häufig wiederholen sollten, beweist die Tatsache, dass die Selbsttötung in unserer Kultur sehr stark mit der Depression, mit Unruhe oder mit psychischen Erkrankungen verbunden wird, nicht, dass diese Verbindung zwingend ist oder dass eine Person psychisch krank sein muss, um die Selbsttötung in Erwägung zu ziehen. Wäre die Selbsttötung kein kulturelles Tabu und würde sie traditionell nicht als Verbrechen und Sünde angesehen, würde sie höchstwahrscheinlich häufiger vorkommen und wäre akzeptierter, als sie es gegenwärtig ist. Barrington geht davon aus, dass die Selbsttötung ein Segen für die unheilbar Kranken und Alten sein könnte; Kastenbaum spekuliert, dass es die bevorzugte Weise werden könnte, zu Tode zu kommen. In solchen Welten würden die pathologischen Fälle bloß einen kleinen, eher unbedeutenden Teil des Ganzen bilden. Aber kann die Selbsttötung tatsächlich menschliche Würde fördern, wie es der Fall sein müsste, damit sie als ein natürliches Recht anerkannt werden könnte? Die Beantwortung dieser Frage, die für Diese Schilderung gleicht Jean Baechlers Verteidigung der Selbsttötung als einem »unveräußerliche[n] menschliche[n] Privileg« (ders.: Tod durch eigene Hand. Eine wissenschaftliche Untersuchung über den Selbstmord, übers. v. Ch. Seeger, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1981, S. 40), das auf dem Recht auf Freiheit, dem Recht auf Glück und dem Recht auf Würde gründet (S. 48–52). Siehe insbesondere das 2. Kapitel (»Die Humanität des Selbstmords«, S. 43–56).

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das Problem, ob die Selbsttötung als ein natürliches Recht angesehen werden kann, zentral ist, erfordert es, ausdauernd, umsichtig und unvoreingenommen nachzudenken. Man könnte hierfür mit der Nennung einiger exemplarischer Namen beginnen: Cato, Sokrates, Charlotte Perkins Gilman, Szmuel Zygielbojm und Captain Lawrence Oates. Man könnte sich sorgfältig mit der Vorstellung von der vernünftig begründeten Selbsttötung und Fällen, in denen die eigenen Werte die Oberhand über die Fortführung des eigenen Lebens gewinnen, beschäftigen. Man könnte darüber nachdenken, ob manche Selbsttötungen paradoxerweise nicht als eine Art »Selbstschutz«, als Ausdruck des Respekts gegenüber sich selbst und als Schutz eigener grundlegender Interessen erachtet werden können. »Ich bin, was ich gewesen bin«, scheinen Selbsttötungen manchmal zu bedeuten, »aber ich kann nicht mehr sein«. Sie gründen gewissermaßen auf einem Ideal von sich selbst, einer Konzeption eigener Werte und des eigenen Werts, unter die man nicht zu fallen bereit ist. Selbstverständlich kann das Ideal von sich selbst aufgrund einer Depression, einer Psychose und anderer Krankheiten des Geistes verzerrt sein, aber es kann auch realistisch, von Empfindsamkeit geprägt und stabil sein, und es macht wenigstens einen Teil der Grundvorstellung menschlicher Würde aus, mit der wir begonnen hatten. Die Relevanz ist dieselbe, gleich, ob dieses Ideal durch eine physische Krankheit und körperlichen Schmerz bedroht wird, wie beim assistierten Suizid, oder durch die Vernichtung anderer Personen oder Werte, auf die das Leben wesentlich konzentriert ist, wie im Selbstopferungssuizid, oder durch die prinzipielle Weigerung, sich vor den Lebensbedingungen in einer dem Untergang geweihten Welt zu ergeben, wie in Selbsttötungen aus Prinzip und sozialem Protest: Jemand wählt den Tod anstelle des künftigen Lebens, weil das künftige Leben die Würde in einer Weise gefährdet, deretwegen man sich mit dem Leben nicht einverstanden erklären kann. Was aber – um die Frage zu wiederholen – ist mit den Fällen, in denen die Selbsttötung eindeutig das Resultat einer Erkrankung ist? Dies gilt für die meisten der uns heute bekannten Fälle. Hier ist es, wie wir bereits sahen, ein Leichtes, eine Antwort zu geben: Das Recht auf Selbsttötung, obgleich ein grundlegendes Menschenrecht, ist außer Kraft gesetzt, weil das Individuum nicht in der Lage ist, es so auszuüben, dass es damit seine Ziele erreichen kann. Wie wir bereits feststellten, billigen wir normalerweise die Einschränkung anderer grundlegender Rechte in Fällen, in denen eine Krankheit oder Stö137 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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rung vorliegt. Beispielsweise sperren wir Kriminelle, Unverständige sehr jungen und hohen Alters oder Wahnsinnige ein, wenngleich wir der Ansicht sind, dass es allgemein zutreffe, dass die Freiheit zur Förderung menschlicher Würde beitrage und Menschen sich nur vollends zu entwickeln vermögen, wenn sie frei sind. Aber wenn wir die Einschränkung anderer natürlicher Menschenrechte unter Umständen wie diesen erlauben, dann gibt es keinen Grund, warum wir nicht auch die Einschränkung des Rechts auf Selbsttötung unter bestimmten Umständen erlauben sollten. Dies könnte das Recht auf Selbsttötung Depressiver oder zeitweilig Verwirrter einschränken, während beispielsweise die Selbsttötung unheilbar Kranker erlaubt wäre. Rufen wir uns David Woods Beispiel der Selbsttötung eines Architekten, der Pionierarbeit auf dem Gebiet des Baus von Wohnhochhäusern geleistet hatte und dies bedauerte, ins Gedächtnis. 31 Ist dessen Selbsttötung eine solche aus Würde und somit eine, auf die man ein grundlegendes Recht hat? Oder ist es eine Selbsttötung wie die meisten uns empirisch bekannten und somit das Resultat eines verwirrten, unvernünftigen Geistes? Wir können uns den Fall so und so vorstellen: wie zuletzt angedeutet als eine Verzweiflungstat aus Selbsthass, als einen Tiefpunkt, an den man aufgrund jahrelanger übersteigerter Selbstvorwürfe gelangen kann; aber wir können sie, wie ebenfalls angesprochen, als ein mutiges Bekenntnis zu einem Prinzip verstehen, als eine würdevolle letzte Handlung, mit der man die eigene Ohnmacht überwindet. Wenn es die erste Tat wäre, könnten wir uns vorstellen, den Mann an seine Pflichten gegenüber seiner Familie, seinen Freunden, seinen Göttern und sich selbst zu erinnern und zu tun, was wir können, um die Tat zu vereiteln; wenn es aber die zweite Tat wäre, würden solche Einwände als nebensächlich und die Einmischung als falsch erscheinen: Wir können den Versuch, ein anspruchsvolles menschliches Ideal zu verwirklichen, nur bewundern. Könnten wir uns ernsthaft vorstellen, Cato zu sagen, dass er sich nicht umbringen soll, weil seine Rechenschaft unvollständig ist oder weil er damit die Sklaven bei ihren Arbeiten stört? Wir bewundern in anderen Zusammenhängen Taten, die in der Würde begründet sind, vergessen aber manchmal, dass sie sich – wenngleich dies nicht oft vorkommen mag – auch in der Selbsttötung äußern können.

Siehe das Ende von Kapitel 4 in Margaret P. Battin: Ethical Issues in Suicide, Englewood Cliffs (NJ) 1995, S. 152.

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Wenn man behauptet, dass eine Person das Recht habe, sich das Leben zu nehmen, weil dies ein Ausdruck menschlicher Würde sei, dann behauptet man gewiss nicht zugleich, dass die Person nicht auch Pflichten zum Leben haben könnte, und/oder Pflichten, die voraussetzen, dass sie lebt. Sokrates wog seine Wahl des Todes gegen die Pflichten gegenüber seinen zwei kleinen Söhnen ab und bestätigte seine Entscheidung; der Heilige Paulus wog seine Pflichten gegenüber der Kirche gegen sein Sehnen, Christus zu sehen, ab und blieb am Leben. Viele der Pflichten, die aus menschlichen Beziehungen resultieren, scheinen der Selbsttötung einen Riegel vorzuschieben; viele der traditionellen Argumente gegen die Selbsttötung behaupten Pflichten, derentwegen man leben muss; deshalb rechtfertigen sie rechtliche und kulturelle Selbsttötungsverbote, die sicherstellen sollen, dass die Pflicht zu leben von allen erfüllt wird. Aber es ist nicht sicher, wie stark Pflichten gegenüber anderen sein müssen, um ein natürliches Recht auf Selbsttötung außer Kraft zu setzen. Ferner ist es so, dass manchen Interessen einer Person Genüge getan werden kann, ohne dass sie weiterlebt; manche Pflichten einer Person können trotz ihres Todes erfüllt werden (beispielsweise die Begleichung von Schulden). Manche Pflichten können durch andere Erwägungen überwogen werden: Beispielsweise könnte die Pflicht zur ehelichen Gemeinschaft von dem Recht, Qualen zu vermeiden, außer Kraft gesetzt werden. Auf der anderen Seite könnte das Recht auf Selbsttötung so stark sein, dass andere Pflichten es gar nicht erst antasten. Wenn es ein natürliches Recht darauf geben sollte, sein Leben zu beenden, sofern man sich dafür entscheidet, dann würde die Abwägung dieses Rechts mit Pflichten, die ihm entgegenstehen, eine der wesentlichen und entscheidenden Aufgaben der normativen Ethik sein.

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Rechte und die Rolle anderer

Ob es ein Recht auf Selbsttötung gibt, ist nicht eine bloß abstrakte Frage; schwerwiegende praktische Folgen hängen von ihr ab. Wenn eine Handlung eine Angelegenheit ist, bei der es um Rechte geht, dann bedarf jede Einschränkung des betroffenen Rechts einer Begründung; seine Inanspruchnahme hingegen nicht. Beispielsweise ist für jede Einschränkung des Rechts auf Freiheit eine Begründung erforderlich (z. B. die Rekrutierung zum Militär in Kriegszeiten), wo139 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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hingegen jede Ausübung dieses Rechts keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn es ein Recht darauf gibt, sein Leben zu beenden, sofern man dies wünscht, muss eine Rechtfertigung vorgebracht werden, um in die Pläne eines Individuums, sich selbst zu töten, eingreifen zu dürfen. Dies würde für jeden gelten, gleich, ob die Eingreifenden ehrenamtliche Telefonseelsorger wären, Polizisten, Psychiater, der Gesetzgeber, der Strafmaßnahmen gegen die Selbsttötung vorschreibt, Versicherungsgesellschaften, die das Sterbegeld gegenüber Überlebenden zurückzuhalten suchen, 32 oder Krankenhaus-, Gefängnis-, Militär- oder anderes institutionelles Personal, das einen Suizidversuch in seiner Obhut vereiteln will. Jede Person oder Institution, die ein Individuum davon abzuhalten suchen würde, sich das Leben zu nehmen, müsste dafür gute Gründe angeben können. Das würde in Notsituationen wie in anderen Situationen gelten. Deswegen muss zumindest in Notsituationen oder bei erstmaligen Suizidversuchen selbstverständlich nicht vor jeder Einmischung eine vollständige und ausdrückliche Stellungnahme zur Rechtfertigung vorgebracht werden; man kann den Grundsatz verteidigen, dass die einstweilige Einmischung erlaubt ist, um die Umstände eines vorliegenden Falles aufzuklären. Eine weitere Einmischung wäre nur in den Fällen angemessen, in denen die Selbsttötung nicht selbst gewollt würde oder in denen das Individuum Pflichten hätte (z. B. gegenüber von ihm abhängigen Kindern), die das Recht außer Kraft setzen; die Einmischung wäre auch in den Fällen angemessen, in denen der Nachweis der Freiwilligkeit der Selbsttötung oder der Nichtexistenz einer Kollision mit Pflichten nicht ausreichen würde. Prinzipiell wäre jedoch eine Rechtfertigung der Einmischung bei jedem Siehe Kapitel 2, Fußnote 13, in Margaret P. Battin: Ethical Issues in Suicide, Englewood Cliffs (NJ) 1995, zu Lebens- und Krankenversicherungspolicen im Zusammenhang mit der Selbsttötung. Eine Rechtfertigung für die 2-Jahres-Ausschlussklauseln, die gegenwärtig [gemeint ist: Anfang/Mitte der 1990er-Jahre in den USA – Anm. d. Übers.] bei Lebensversicherungen üblich sind, könnte lauten, dass man den Versicherungsgeber vor solchen Personen, die sich mit einem Selbsttötungsvorsatz versichern, um ihre Begünstigten in den Genuss der Versicherungsleistung zu bringen, schützen müsse. Aber solche Klauseln berücksichtigen nicht nicht betrügerische Suizidgründe, die sich innerhalb einer 2-Jahres-Frist auftun könnten. Es mag rational sein, von Versicherungsunternehmen zu erwarten, sich mit Ausschlussklauseln gegen die finanziell motivierte Selbsttötung zu schützen; aber vielleicht ist es nicht rechtfertigbar, dies mit Klauseln zu tun, die auf einer festgeschriebenen Frist basieren. Es ist zudem keineswegs klar, ob diese Art der Rechtfertigung bei Krankenversicherungen gelten würde.

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Suizidversuch erforderlich, und das Individuum, das sich töten möchte, wäre in seiner Entscheidung so lange als frei anzuerkennen, bis eine solche Rechtfertigung gefunden würde. Wie die Dinge nun stehen, geht man allerdings von der entgegengesetzten Voraussetzung aus. Die, die bei Suizidversuchen eingreifen, müssen ihre Handlung weder vor noch nach dem Eingriff rechtfertigen, während von denen, die ihr Leben zu beenden suchen – selbst dann, wenn es ihnen erlaubt ist, dies zu tun –, generell erwartet wird, eine angemessene Rechtfertigung zu geben. Dass die Verhinderung eines Suizids legal ist, setzt voraus, dass die Selbsttötung kein Recht ist. Die zugrunde liegende Annahme ist die, dass die Selbsttötungshandlung einer bestimmten Rechtfertigung bedarf, während ihre Verhinderung keiner Rechtfertigung bedarf. Wenn aber die Selbsttötung ein Recht ist, dann darf bei Suizidversuchen nicht von dem, der sich zur Selbsttötung entschlossen hat, verlangt werden, einen Grund für seine Handlung anzugeben. Die einzige Frage, die dann noch gestellt werden muss, ist die, ob das Recht aus einem anderen Grund außer Kraft zu setzen ist. Ferner könnte ein Recht anderen nicht nur die Pflicht auferlegen, sich nicht einzumischen, sondern sogar, Hilfe zu leisten. In einem jüngst erschienenen Aufsatz argumentiert Peter Williams dafür, dass es kein Recht gebe zu sterben (er hat Fälle von Sterbehilfe vor Augen), weil es keine korrespondierende Pflicht anderer gebe zu töten. 33 Dies ist der springende Punkt. Wenn es ein Recht auf Sterben gibt (das mittels Sterbehilfe oder Selbsttötung ausgeübt werden kann), dann könnte dies dazu führen, dass es auf der anderen Seite eine Pflicht gibt – auch wenn diese gegenwärtig rechtlich oder moralisch nicht anerkannt ist –, dem Individuum entweder Sterbehilfe zu leisten oder es dabei zu unterstützen, seine Tötung herbeizuführen. Wenn dieses Recht ein natürliches wäre, dann könnten die Pflichten, die anderen auferlegt werden, noch stärker sein. Das extremste Beispiel ist der Fall einer Querschnittsgelähmten, die aufgrund der vollständigen und dauerhaften Lähmung all ihrer Gliedmaßen nicht in der Lage ist, sich selbst zu töten. Wenn wir darin übereinstimmen, dass diese Person nicht dazu verpflichtet ist, in ihrem Zustand weiterzuleben, oder wenn wir von der noch stärkeren Annahme ausgehen, dass sie wie jede andere Person das Recht hat, ihr Leben zu beenden, Peter Williams: »Rights and the Alleged Rights of Innocents to be Killed«, Ethics 87 (1977), S. 383–394.

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sofern sie es zu beenden wünscht, dann müssen wir uns einem zusätzlichen Problem stellen: Hat ein anderer – sei es ein Arzt, ein Familienmitglied, ein Freund oder ein Staatsbediensteter – die Pflicht, dieser Person die von ihr gewünschten Mittel zur Selbsttötung zur Verfügung zu stellen? Wenn wir das Recht anerkennen, dann müssen wir darauf gefasst sein, eine korrespondierende Pflicht anerkennen zu müssen, und wenn wir behaupten, dass die Selbsttötung ein grundlegendes Recht sei, dann müssen wir sicherstellen, dass der Pflicht Genüge getan wird. Selbstverständlich können nicht aller Rechte wegen korrespondierende Pflichten auferlegt werden, Mittel bereitzustellen, damit ein Recht ausgeübt werden kann: Bürgerinnen und Bürger der USA haben beispielsweise das Recht, ins Ausland zu reisen, aber dies verpflichtet weder die Regierung noch irgendwelche Individuen dazu, ihnen dafür die Mittel zur Verfügung zu stellen. Auf der anderen Seite haben Bürgerinnen und Bürger der USA ein Recht auf Rechtsbeistand. Anders als in dem anderen Fall hat der Staat hier eine Pflicht, nämlich die, den Rechtsbeistand zu stellen; er bestellt Pflichtverteidiger für die, die sich den Rechtsbeistand nicht selbst einholen können. Wenn es tatsächlich ein Recht auf Selbsttötung gibt, dann müssen wir noch klären, ob es ein »einfaches« Freiheitsrecht oder ein natürliches Recht ist und ob es anderen Pflichten auferlegt oder nicht. Die meisten Autoren, die das Recht auf Selbsttötung anerkennen, sehen es als Freiheitsrecht an, das anderen keine Pflichten auferlege. Allerdings gab es in der Geschichte Präzedenzfälle dafür, dass die Selbsttötung als ein Recht angesehen wurde, das anderen Hilfspflichten auferlegte: Der römische Bürger durfte erwarten, dass sein Sklave das Schwert halten wird, durch das er zu Tode kommt; und zur Zeit des Römischen Reichs besaß das heutige Marseille einen öffentlichen Vorrat an Giften zum Zweck der Selbsttötung, zu dem es jedem Bürger Zugang gewährte, der gegenüber dem Senat eine angemessene Anzahl an Gründen für die eigene Selbsttötung vorbringen konnte. 34 Derartige Vorstellungen gab es nicht nur im antiken Rom. Der aus der Sorbonne stammende Arzt Binet-Sanglé forderte 1919 die Einrichtung öffentlicher Thanatorien oder »Suizidsalons«, in denen sich der Kun34 Valerius Maximus: Memorabilia, Buch II, Kapitel 6; darin wird von dem Erscheinen einer älteren Frau vor den Magistraten berichtet, die um die Erlaubnis ersuchte, sich selbst töten zu dürfen.

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de für eine Tötung durch Stromschlag, Gift, Gase, Narkotika oder andere Mittel entscheiden kann, um einen individuell bestimmten Tod herbeizuführen. 35 Doris Portwood wiederum widersetzte sich dem, was wir die »Bürokratisierung« der Selbsttötung nennen können, trat aber dafür ein, dass alternde und kranke Personen das Recht haben sollten, von ihren Vertrauten und Freunden bei der Selbsttötung unterstützt zu werden. 36 Selbstverständlich schließt das Vorhandensein solcher Praktiken und Ansprüche nicht unbedingt ein, dass die Berechtigung zur Suizidbeihilfe eine Angelegenheit moralischer Rechte ist, aber es sollte uns ermutigen, unsere Überzeugungen und Praktiken abermals zu prüfen. 1961 erschoss sich der damals fast 80-jährige und an Krebs im Endstadium leidende Percy Bridgman. Der Nobelpreisträger für Physik hinterließ die folgenden letzten Zeilen: Es ist nicht anständig, wenn die Gesellschaft einen dazu bringt, dies selbst zu tun. Womöglich ist dies der letzte Tag, an dem ich in der Lage sein werde, es selbst zu tun. 37

Bridgmans Fall kann uns dabei helfen, das Spektrum moralischer Ansichten über die Rolle anderer bei der Selbsttötung zu untersuchen. Wenn wir die traditionelle Position vertreten, dass das Leben wertvoll ist, dann tat Bridgman mit Blick auf sich selbst, seine Familie und die Gesellschaft, in der er lebte, etwas Schlechtes. Wenn wir hingegen die stärkeren Versionen der These, dass die Selbsttötung ein Recht sei, annehmen, dann kam die Gesellschaft, wie Bridgman selbst glaubte, ihrer letzten Verpflichtung ihm gegenüber nicht nach. Sicherlich ist die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Rechten von Individuen und den Pflichten anderer eine komplexe Aufgabe, aber dies ist kein Grund dafür, Bridgmans Beanstandung zu übergehen. Übersetzt von Christoph Sebastian Widdau

Charles Binet-Sanglé: L’Art de Mourir. Défense et Technique du Suicide Secondé, Paris 1919. Siehe darin insbesondere Teil II, Kapitel II (»Choix du Procédé, euthanasique«). 36 Doris Portwood: Commonsense Suicide: The Final Right, New York 1978. 37 Eigene Übersetzung von Percy Bridgman: Letter in Bulletin of the Atomic Scientists, zit. n. M. Delbrück: »Education for Suicide. Interview«, Prism. A Publication of the American Medical Association 2 (1974), S. 20: »It isn’t decent for society to make a man do this thing himself. Probably this is the last day I will be able to do it myself.« (Anm. d. Übers.) 35

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Margaret Pabst Battin

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Selbsttötung und Rechte

Seneca, L. A.: Philosophische Schriften. Vierter Band: An Lucilius. Briefe über Ethik 70–124, [125]. Lateinisch und Deutsch. Hg. v. M. Rosenbach. Darmstadt 21987. Williams, P.: Rights and the Alleged Rights of Innocents to be Killed. In: Ethics 87 (1977), S. 383–394. Wittgenstein, L.: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 41988 [Werkausgabe Bd. 1].

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Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung? Norbert Hoerster

In den vorangehenden Kapiteln 1 ist deutlich geworden, dass eine Sterbehilfe prinzipiell nur dann als legitim betrachtet werden kann, wenn sie im Einklang mit dem Willen des Betroffenen steht: Wer Sterbehilfe leistet, muss sich auf den Willen des Betroffenen selbst stützen können. Er muss, mit anderen Worten ausgedrückt, die Ermächtigung des Betroffenen zur Sterbehilfe besitzen. Und zwar sollte diese Ermächtigung, wie ich im Einzelnen argumentiert habe, bei der aktiven Sterbehilfe in dem (auf bestimmte Art zustande gekommenen) Wunsch des Patienten nach der Tötungshandlung, bei der passiven Sterbehilfe in der Verweigerung der Einwilligung des Patienten in eine lebenserhaltende Behandlung erblickt werden. […] Diese Ermächtigung zur Sterbehilfe liegt natürlich immer dann vor, wenn sie von dem Betroffenen ausdrücklich erteilt worden ist. Ja, eine Sterbehilfe aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung stellt sozusagen den Idealfall legitimer Sterbehilfe dar. Trotzdem wird man nicht sagen können, dass nur eine ausdrückliche Ermächtigung die Sterbehilfe legitimieren kann. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass es Fälle geben kann, in denen der Betroffene zu einer ausdrücklichen Willensbekundung nicht bzw. nicht mehr in der Lage ist, in denen sein baldiges Sterben aber gleichwohl in seinem offenkundigen Interesse liegt. In solchen Fällen, deren charakteristische Eigenschaften wir noch näher kennenlernen werden, wäre es sicher ganz inhuman, dem Betroffenen von vornherein jede Sterbehilfe zu verweigern. Im vorliegenden Kapitel geht es um die Frage, unter genau welchen Bedingungen eine Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung zuNorbert Hoerster bezieht sich hier auf das Buch, aus dem der hier abgedruckte Auszug stammt: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998 [Anm. d. Herausg.].

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Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

lässig sein soll. Diese Frage stellt sich sowohl für die (direkte oder indirekte) aktive Sterbehilfe als auch für die passive Sterbehilfe. Da die passive, nicht aber die aktive Sterbehilfe, wie wir sahen, eng mit dem normativen Prinzip der Behandlungshoheit verknüpft ist, ist nicht zu erwarten, dass die erforderlichen Bedingungen für beide Formen von Sterbehilfe in allen Punkten identisch sein werden. Ich beginne mit der betreffenden Erörterung in Bezug auf die passive Sterbehilfe, bei der die Bedingungen im Ergebnis weniger streng als bei der aktiven Sterbehilfe ausfallen werden. Wir haben in Kapitel 5 2 im Einzelnen gesehen, dass die passive Sterbehilfe als Anwendungsfall des Prinzips der Behandlungshoheit des Patienten verstanden werden muss: Eine lebensrettende oder lebensverlängernde Behandlungsmaßnahme ist prinzipiell nur dann legitim, wenn sie von einer wirksamen Einwilligung des Betroffenen getragen ist. Wie ist nun zu verfahren, wenn der Betroffene zu dem entscheidenden Zeitpunkt, also unmittelbar vor Beginn der fraglichen Behandlung, aus irgendwelchen Gründen zu einer ausdrücklichen, wirksamen Einwilligung nicht in der Lage ist? Für derartige Fälle hat die juristische Wissenschaft und Praxis die Rechtsfigur der mutmaßlichen (zu vermutenden) Einwilligung. entwickelt, die an die Stelle der ausdrücklichen Einwilligung treten kann. 3 Eine solche mutmaßliche Einwilligung des Patienten in eine Behandlungsmaßnahme setzt voraus, dass der Patient, sofern dazu in der Lage, eine ausdrückliche Einwilligung abgeben würde. Hierbei ist zu bedenken, dass auch eine mutmaßliche Einwilligung in einen Eingriff in die eigene Rechtssphäre – nicht anders als eine ausdrückliche Einwilligung – ihre legitimierende Funktion nur dann erfüllen kann, wenn sie wirksam ist. Und zwar ist die Wirksamkeit einer Einwilligung, […], generell darin zu erblicken, dass diese Einwilligung im Zustand der Urteilsfähigkeit und der Kenntnis von Bedeutung und Tragweite des betreffenden Eingriffs zustande gekommen ist. Genau dies gilt auch dann, wenn es sich bei dem Eingriff um die Behandlungsmaßnahme gegenüber einem kranken oder leidenden Menschen handelt. Danach ist eine solche Behandlungsmaßnahme Vgl. die erste Anm. [Anm. d. Herausg.]. Erhellend zum Folgenden auch Erwin Bernat: »Behandlungsabbruch und (mutmaßlicher) Patientenwille«, Recht der Medizin 2 (1995), S. 51–61. Übersehen wird diese Form der Einwilligung häufig von Philosophen, so etwa von Philippa Foot: »Euthanasie«, in: A. Leist (Hg.): Um Leben und Tod, Frankfurt a. M. 21992, S. 285–317. 2 3

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dann durch die mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen legitimiert, wenn der Betroffene in diese Behandlungsmaßnahme im Zustand der Urteilsfähigkeit und der Kenntnis ihrer Bedeutung und Tragweite ausdrücklich einwilligen würde. (Wenn ich im Folgenden den Begriff der »mutmaßlichen Einwilligung« verwende, ist stets eine mutmaßliche Einwilligung gemeint, die in diesem Sinn wirksam ist.) Man darf nicht den Fehler machen, die Bedeutung der mutmaßlichen Einwilligung in der Praxis des medizinischen Alltags zu überschätzen. Eine ausdrückliche Einwilligung ist sicher auch immer dann gegeben, wenn nicht jede Einzelmaßnahme im Rahmen eines umfassenden Behandlungskonzepts, dem der Patient zu Beginn zugestimmt hat, im gegebenen Moment erneut von ihm gebilligt wird. Die erforderlichen Einzelmaßnahmen werden hier von der einmaligen, ausdrücklichen Einwilligung zu Behandlungsbeginn mit erfasst und abgedeckt […]. Trotzdem ist die mutmaßliche Einwilligung in der Praxis keineswegs bedeutungslos. Betrachten wir näher das schon kurz erwähnte Beispiel eines bewusstlosen Unfallopfers. Angenommen, der gesunde, vierzigjährige A hat einen Verkehrsunfall, bei dem er bewusstlos wird. Ohne eine sofortige ärztliche Behandlung wird A sterben. Eine ärztliche Behandlung wird dagegen mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb weniger Tage seine völlige Genesung zur Folge haben. Wohl niemand würde in diesem Fall daran zweifeln, dass die Behandlung – trotz des Fehlens jeder ausdrücklichen Einwilligung des Betroffenen – durchgeführt werden darf. Ihre Legitimation besteht ganz einfach darin, dass man hier von einer mutmaßlichen Einwilligung des Betroffenen ausgehen darf. Worin besteht nun, genauer betrachtet, die mutmaßliche Einwilligung des A? Sie besteht in der Tatsache, dass A, wenn er unter Wirksamkeitsbedingungen eine ausdrückliche Einwilligung abgeben könnte, dies sicherlich auch täte. Dabei ist zu betonen, dass für die mutmaßliche – nicht anders als für die ausdrückliche – Einwilligung allein der Zeitpunkt der Behandlung maßgebend ist. Es kommt deshalb keineswegs entscheidend darauf an, ob A zu irgendeinem späteren Zeitpunkt – vom Standpunkt seiner zu diesem späteren Zeitpunkt vorliegenden Interessen aus betrachtet – die betreffende Maßnahme im Nachhinein zu billigen in der Lage sein wird und tatsächlich billigen würde. 4 4

Dies verkennt Reinhard Merkel: »Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche

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Im Zusammenhang der mutmaßlichen Einwilligung ist außerdem der folgende Punkt von größter Wichtigkeit. Das Urteil über die genannte Tatsache muss, um als Feststellung der mutmaßlichen Einwilligung des A gelten zu können, unter allen Umständen deskriptiver und nicht normativer Natur sein. Das bedeutet: Nicht die Bewertung, die der die Situation Beurteilende bzw. den Patienten Behandelnde (B) seinerseits vielleicht vornimmt, zählt, sondern allein die (mutmaßliche) Bewertung des A selbst. Es kommt also nicht darauf an, wie B, falls seinerseits betroffen, in der Situation reagieren würde oder wie B denkt, dass A, wenn er sich äußern könnte, nach seiner (des B) Auffassung reagieren sollte. Es kommt allein darauf an, wie A, der tatsächlich Betroffene, reagieren würde. Allein über diese Tatsache hat sich B, so gut er eben kann, ein deskriptives Urteil zu bilden. Aus diesem Grund müssen prinzipiell auch sehr persönliche Präferenzen oder Wertungen des A, die vielleicht kaum jemand mit A teilt, von B bei seinem Urteil berücksichtigt werden. Wenn B etwa bekannt ist, dass A aus religiösen Gründen grundsätzlich jede Form von Bluttransfusion ablehnt, darf er eine solche bei A auch dann nicht vornehmen, wenn A ohne Bluttransfusion sterben wird. Dies gilt unter Bedingungen einer mutmaßlichen grundsätzlich ebenso wie unter Bedingungen einer ausdrücklichen Einwilligung. Wenn A sich etwa zu einem früheren Zeitpunkt in wirksamer Form ausdrücklich gegen eine Bluttransfusion zu seiner Lebensrettung ausgesprochen hat, so muss daraus normalerweise von B geschlossen werden, dass es für eine Bluttransfusion zum gegebenen Zeitpunkt an einer mutmaßlichen Einwilligung des A fehlt. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn A inzwischen unter Wirksamkeitsbedingungen zum Ausdruck gebracht hat (etwa im Gespräch mit seiner Familie), dass er seine Ablehnung einer Bluttransfusion revidiert hat. Es wird im Folgenden noch deutlich werden, inwieweit dieses Beispiel des A und seine normative Beurteilung für die typische Problematik der passiven Sterbehilfe unmittelbare Relevanz besitzt. Zunächst aber müssen wir aus dem Beispiel des A noch einige Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom«, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107/3 (1995), S. 545–575, hier S. 563 ff., wenn er dafür plädiert, die Berufung auf die mutmaßliche Einwilligung weitgehend durch die Anknüpfung an das spätere Interesse des Betroffenen zu ersetzen.

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wichtige allgemeine Konsequenzen ableiten. Wir haben gesehen, dass es für die mutmaßliche – genauso wie für die ausdrückliche – Einwilligung des A auf seinen eigenen, ganz persönlichen Willen ankommt. Daraus dürfen wir jedoch nicht schließen, dass es an einer mutmaßlichen Einwilligung des A in eine lebensrettende Behandlung durch B etwa immer dann fehlt, wenn keinerlei zurückliegende Äußerungen des A bekannt sind. In diesem Fall muss man vielmehr von einer mutmaßlichen Einwilligung des A auch dann ausgehen, wenn praktisch jedermann (die überwältigende Mehrheit), sofern in die Situation des A versetzt, für seine Person in die betreffende Behandlungsmaßnahme ausdrücklich einwilligen würde. Denn wenn praktisch jedermann ausdrücklich einwilligen würde und über die persönlichen Präferenzen des A nichts bekannt ist, muss mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass auch A, wenn er dazu in der Lage wäre, ausdrücklich einwilligen würde. Ob aber praktisch jedermann für seine Person einwilligen würde, lässt sich prinzipiell, sofern Zweifel bestehen, durch Befragungen ermitteln. In genau diesem Gedankengang liegt auch die Legitimation zum Beispiel für eine Bluttransfusion bei A, sofern insoweit über die persönlichen Präferenzen des A nichts bekannt ist. Auch in diesem Fall bleibt also das Prinzip unberührt, wonach für die mutmaßliche Einwilligung des A letztlich die Einstellung des A selbst – und nicht etwa die Einstellung des B oder die Einstellung des Durchschnittsbürgers – den Ausschlag gibt. Die Einstellung des Durchschnittsbürgers gewinnt allein insoweit Bedeutung, als sich aus ihr mangels sonstiger Anhaltspunkte am sichersten auf die Einstellung des A schließen lässt. Eine Behandlungsmaßnahme erfordert für ihre Legitimität, wie wir sahen, in jedem Fall eine wirksame – ausdrückliche oder mutmaßliche – Einwilligung. Es ist nun der Fall denkbar, dass es nicht nur an einer ausdrücklichen Einwilligung in eine bestimmte Behandlungsmaßnahme fehlt, sondern dass darüber hinaus sogar eine ausdrückliche Ablehnung der Behandlungsmaßnahme durch den Betroffenen vorliegt. Kann in einem solchen Fall trotzdem unter Umständen eine mutmaßliche Einwilligung angenommen werden? Diese Frage ist zu bejahen – wobei die Wirksamkeit der Einwilligung hier die entscheidende Rolle spielt. Zwar versteht es sich von selbst, dass bei einer wirksamen, ausdrücklichen Ablehnung einer unmittelbar bevorstehenden Behandlung für eine wirksame, mutmaßliche 150 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Einwilligung in diese Behandlung kein Raum bleibt: Wenn bekannt ist, was jemand unter Wirksamkeitsbedingungen ausdrücklich will, wird die Frage gegenstandslos, was er unter Wirksamkeitsbedingungen ausdrücklich wollen würde. Anders sehen die Dinge aber dann aus, wenn 1. die wirksame, ausdrückliche Ablehnung zeitlich zurückliegt oder wenn 2. die (zurückliegende oder gegenwärtige) ausdrückliche Ablehnung den unverzichtbaren Wirksamkeitsbedingungen nicht genügt. Um mit der ersten Alternative zu beginnen: Da es für eine wirksame Behandlungseinwilligung selbstverständlich auf den Zeitpunkt der Behandlung selbst bzw. ihres Beginns ankommt, ist eine zurückliegende wirksame Ablehnung nicht per se gleichbedeutend mit dem Fehlen einer gegenwärtigen wirksamen Einwilligung. Dabei kann eine gegenwärtige wirksame Einwilligung nicht nur in der Weise zustande kommen, dass A zum entscheidenden Zeitpunkt ausdrücklich einwilligt und damit seine frühere Ablehnung aufgibt. Sie kann im Prinzip auch so zustande kommen, dass zum entscheidenden Zeitpunkt von einer mutmaßlichen Einwilligung des A ausgegangen werden darf. Nehmen wir z. B. an, dass A in der Vergangenheit einer Bluttransfusion nur deshalb ablehnend gegenüberstand, weil er bekennender Zeuge Jehovas war; inzwischen ist er jedoch bekennendes Mitglied der katholischen Kirche geworden. Unter diesen Umständen darf man, wenn A sich wegen Bewusstlosigkeit nicht äußern kann, sicher von seiner mutmaßlichen Einwilligung in die Bluttransfusion zum Zweck der Rettung seines Lebens ausgehen. Natürlich muss man mit einer derartigen Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung grundsätzlich sehr vorsichtig und zurückhaltend sein. Wenn A früher eine bestimmte Behandlung ausdrücklich abgelehnt hat, müssen schon sehr starke Gründe dafür sprechen, dass er jetzt in diese Behandlung, sofern urteilsfähig, ausdrücklich einwilligen würde. Eine früher geäußerte, wirksame Ablehnung ist jedenfalls ein sehr starkes Indiz für eine gegenwärtige, mutmaßliche Ablehnung, das nur durch eindeutig stärkere Gegenindizien aus der Zwischenzeit entkräftet werden kann. Von einer mutmaßlichen Behandlungseinwilligung des zuvor urteilsfähigen Patienten wird man in diesem Fall nur dann ausgehen können, wenn eine (ausdrückliche oder mutmaßliche) Einwilligung in die betreffende Behandlung auch schon zum Zeitpunkt unmittelbar vor Verlust der Urteilsfähigkeit vorlag bzw. angenommen werden konnte. Denn da es stets auf den individuellen Willen ankommt, fehlt für die Unterstellung einer 151 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Änderung dieses Willens im Zustand der Urteilsunfähigkeit notwendigerweise jede Basis. Wir kommen zur zweiten Alternative der obigen Problemstellung: Wie steht es um die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung, sofern die (zurückliegende oder gegenwärtige) ausdrückliche Ablehnung den aufgestellten Wirksamkeitsbedingungen nicht genügt? Eine zurückliegende nicht wirksame ausdrückliche Ablehnung kann sicherlich die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung nicht ausschließen und bei der Erwägung des Für und Wider einer solchen auch kein großes Gewicht beanspruchen. Darf eine Behandlung aufgrund einer mutmaßlichen Einwilligung aber vielleicht sogar dann durchgeführt werden, wenn A gegenwärtig (also zum relevanten Zeitpunkt) ausdrücklich, wenngleich nicht unter Wirksamkeitsbedingungen, seine Ablehnung ausspricht? Auch diese Frage ist unter bestimmten Umständen zu bejahen. Betrachten wir folgendes Beispiel. Bei A ist eine Meniskusoperation indiziert, in die er einige Tage vor dem geplanten Termin ausdrücklich einwilligt. Unmittelbar vor Beginn der Operation aber widerruft A aus offensichtlich irrationaler Angst vor der erforderlichen Anästhesie seine Einwilligung und verlässt fluchtartig den Operationssaal. Einige Tage später bereut A diese Entscheidung und vereinbart einen neuen Operationstermin. Doch bei diesem zweiten Termin wiederholt sich der Vorgang des ersten Termins. Wiederum bereut A später seinen Rückzieher und vereinbart nun mit seinem Arzt, dass er bei einem dritten Termin im entscheidenden Moment einfach zur Einleitung einer Vollnarkose gezwungen wird. Unter diesen Umständen wird man durchaus von einer mutmaßlichen Einwilligung – trotz ausdrücklicher Ablehnung zum entscheidenden Zeitpunkt – ausgehen dürfen. Aber auch dann, wenn es an einer ausdrücklichen Aufforderung des Patienten zur Ignorierung seiner gegenwärtigen irrationalen Ablehnung fehlt, wird man unter Umständen eine mutmaßliche Einwilligung annehmen dürfen. Auch etwa derjenige, der in eine unverzüglich indizierte, lebensrettende Blinddarmoperation zunächst einwilligt, im letzten Moment aber – aus denselben Gründen wie A im vorigen Beispiel – die Operation ablehnt, darf – in diesem Fall wegen der Lebensgefahr auch ohne einen weiteren Anlauf – zur Operation gezwungen werden. Die mutmaßliche Einwilligung (»Was würde A unter Wirksamkeitsbedingungen ausdrücklich wollen?«) kann also unter Umständen sogar die Durchkreuzung des ausdrücklichen (nicht wirksamen) Willens umfassen. 152 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

Natürlich wird man auch hier für die tatsächliche Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung im konkreten Fall sehr strenge Maßstäbe anlegen müssen. Wir wollen diese allgemeinen Erkenntnisse über die mutmaßliche Einwilligung in eine ärztliche Behandlung nun auf die spezielle Konstellation der passiven Sterbehilfe übertragen. Wir sahen schon: Wie jede andere Behandlung kann auch eine lebensrettende Behandlung bei Fehlen einer ausdrücklichen, wirksamen Einwilligung nur durch eine mutmaßliche Einwilligung legitimiert werden. Und zwar müssen bei Beantwortung der Frage, ob eine mutmaßliche Einwilligung des betroffenen A vorliegt, die persönlichen Wertungen und Präferenzen des A, also der mutmaßliche Wille des A selbst, zugrunde gelegt werden. Der mutmaßliche Wille des A zum fraglichen Zeitpunkt, zu dem A zur Abgabe einer ausdrücklichen, wirksamen Einwilligung unfähig ist, lässt sich am sichersten aus früheren Willenserklärungen des A schließen. In diesem Zusammenhang sind vergangene Äußerungen des A – insbesondere Äußerungen gegenüber ihm nahestehenden Personen – ohne Zweifel von großer Bedeutung. Außerordentlich wichtig aber ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren die sogenannte Patientenverfügung (manchmal etwas irreführend auch als »Patiententestament« bezeichnet) geworden, die der Betroffene in schriftlicher Form niedergelegt hat. 5 In einer derartigen Patientenverfügung kann A grundsätzlich bestimmen, dass er gewisse oder auch sämtliche Behandlungsmaßnahmen unter bestimmten Bedingungen für sich ablehnt. Zwar kann in einer Patientenverfügung wegen des zeitlichen Abstandes zwischen ihrer Fixierung und der fraglichen Behandlungsmaßnahme keine – zum relevanten Zeitpunkt vorliegende – ausdrückliche Behandlungsablehnung erblickt werden. Trotzdem wird man in der Regel aus einer zurückliegenden ausdrücklichen, wirksamen Ablehnung auf eine gegenwärtige mutmaßliche Ablehnung schließen müssen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine zwischenzeitliche Willensänderung des Betroffenen vorliegen.

Siehe im Einzelnen Wilhelm Uhlenbruck: »Patiententestament, Betreuungsverfügung und Vorsorgevollmacht: Zur Selbstbestimmung im Vorfeld des Todes«, Berliner Medizinethische Schriften 8, Dortmund 1996.

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An diesem Punkt ist auf eine in unserer Ärzteschaft verbreitete Tendenz einzugehen, Patientenverfügungen nicht hinreichend ernst zu nehmen und dementsprechend zu berücksichtigen. Das immer wieder vorgebrachte Standardargument in diesem Zusammenhang lautet 6: Wenn A eine Patientenverfügung abgibt, ist er gewöhnlich noch gesund. Wenn er sich später jedoch tatsächlich in einem kritischen Zustand befindet und seine Behandlung zur Debatte steht, würde er, sofern er sich jetzt äußern könnte, die Dinge völlig anders sehen: Sein Lebenswille würde sich als ungebrochen erweisen, und er würde die betreffende Behandlung durchaus wünschen. Zu diesem Argument ist Folgendes zu sagen. A kann selbstverständlich jederzeit seine schriftliche Patientenverfügung dadurch aufheben, dass er – sei es in schriftlicher oder auch in mündlicher Form – ausdrücklich diese Verfügung entweder widerruft oder einfach in die betreffende Behandlung einwilligt. Und zwar ist diese theoretische Möglichkeit auch bei Einwilligungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der fraglichen Behandlung durchaus von erheblicher praktischer Relevanz. Denn bei nicht wenigen Patienten werden sich die lebensbedrohliche Situation und die mit ihr verbundene Unfähigkeit zu einer ausdrücklichen Einwilligung nicht aus heiterem Himmel einstellen, sondern das Resultat eines längeren, sich allmählich verschlimmernden Krankheitsprozesses sein. In all diesen Fällen hat also der bereits kranke oder auch schwerkranke Patient, der mit dem Schlimmsten rechnen muss, durchaus die Möglichkeit, einem eventuell ungebrochenen Lebenswillen in einer Weise Ausdruck zu geben, die seine zurückliegende Patientenverfügung aufhebt. Ob A von dieser Möglichkeit aber tatsächlich Gebrauch machen möchte: genau dies hätte ein verantwortungsvoller Arzt, der die Patientenverfügung des A kennt, rechtzeitig im Einzelnen zu überprüfen – anstatt sich über die vorliegende schriftliche Willenserklärung des A selbstherrlich hinwegzusetzen. Natürlich wird es auch Fälle geben, in denen diese Möglichkeit aufseiten des Patienten vor Einsetzen seines kritischen Zustandes gar nicht vorhanden ist. Und natürlich lässt sich auch nicht völlig ausschließen, dass ein – selbst nur Wochen oder Tage vor dem entscheidenden Zeitpunkt geäußerter – ausdrücklicher Wille mit dem mutmaßlichen Willen zu dem entscheidenden, späteren Zeitpunkt nicht Siehe etwa Jörg-Dietrich Hoppe: »Eine gezielte Lebensverkürzung ist unzulässig«, Frankfurter Rundschau 136 (1995), S. 22.

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deckungsgleich ist. Man muss in diesem Zusammenhang jedoch Folgendes bedenken. Zum ersten: Die Annahme eines von einem früher ausdrücklich geäußerten wirksamen Willen abweichenden mutmaßlichen Willens des A setzt voraus, dass es für diese Annahme eindeutige Indizien aus der Zwischenzeit gibt, als A noch urteilsfähig war. Kein Arzt darf diese Indizien einfach durch seine persönliche Wertentscheidung ersetzen. Ein sogenannter »Lebenswille« im Zustand der Urteilsunfähigkeit, zu dem der tatsächliche Wille des urteilsfähigen A bis zuletzt in Widerspruch stand, ist, wenn nicht eine bloße Fiktion, so jedenfalls gemäß den Kriterien für eine wirksame Einwilligung ohne normative Relevanz. Ein derartiger »Lebenswille« kann jedenfalls dann nicht die Basis für eine mutmaßliche Einwilligung des A bilden, wenn A selber zuvor unter Wirksamkeitsbedingungen die entsprechende Behandlung ausdrücklich abgelehnt hat und wenn auch zu keinem späteren Zeitpunkt für einen unter Wirksamkeitsbedingungen im Widerspruch hierzu entstandenen Behandlungswunsch des A deutliche Indizien vorhanden sind. 7 Diese Konsequenz ist insbesondere für ärztliche Maßnahmen gegenüber sogenannten »Alzheimer-Patienten« im Spätstadium ihrer Krankheit von großer Bedeutung. 8 Natürlich kann es der Willenserklärung einer Patientenverfügung im Einzelfall an Wirksamkeit und damit an Verbindlichkeit fehlen. Wir müssen in diesem Zusammenhang bedenken, dass die Wirksamkeit der Willenserklärung voraussetzt, dass A sich bei ihrer Abgabe nicht nur in einem urteilsfähigen, sondern auch in einem aufgeklärten Zustand befindet: A muss über den weiteren Verlauf seiner Krankheit und seines Befindens im Wesentlichen zutreffende Vorstellungen besitzen. Hieran kann es z. B. fehlen, wenn A nicht mit der Möglichkeit vertraut ist, dass selbst jemand, der im Vorhinein eine bestimmte Behandlung ablehnt, im Nachhinein, sofern wieder bei Bewusstsein, vielleicht froh darüber ist, wenn diese Behandlung gleichwohl gegen seinen Willen durchgeführt worden ist. Im Ergebnis ebenso Ronald Dworkin: Die Grenzen des Lebens, Reinbek 1994, hier S. 308 ff., allerdings mit unnötig komplizierter Begründung. Reinhard Merkel dagegen stellt schlicht fest, dieses Ergebnis erscheine ihm »moralisch inakzeptabel« (ders.: »Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom«, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107/3 (1995), S. 545–575, hier S. 566). 8 Für eindrucksvolle Beispiele siehe Ronald Dworkin: Die Grenzen des Lebens, Reinbek 1994, hier S. 303 ff. 7

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Unter Bedingungen dieser Konstellation kann man in der Tat dem oben genannten Standardeinwand gegen die Verbindlichkeit der Patientenverfügung noch am ehesten eine gewisse Plausibilität abgewinnen: Wenn A irrtümlicherweise nicht damit rechnet, dass er die betreffende Behandlung im Nachhinein durchaus billigen würde, und wenn außerdem dieses Wissen ihn von seiner Patientenverfügung abgehalten hätte, so ist seine tatsächlich getroffene Verfügung gegen die Behandlung in relevanter Hinsicht unaufgeklärt und deshalb unwirksam. Die Bedingungen dieser Konstellation sind jedoch alles andere als selbstverständlich und werden lediglich in einigen Fällen erfüllt sein. Insbesondere trifft es sicherlich nicht zu (wie Gegner der Patientenverfügung häufig suggerieren), dass so gut wie jeder Patient tatsächlich im Nachhinein die erforderliche Billigung erkennen lässt. Es gibt mit Sicherheit auch solche Patienten, die nachträglich enttäuscht darüber sind, dass ihre Ärzte sie nicht ihrem Wunsch gemäß im Zustand der Bewusstlosigkeit in Ruhe haben sterben lassen. Dies bringt mich zu dem zweiten ganz zentralen Punkt, der im Zusammenhang mit einer mutmaßlichen Behandlungseinwilligung ganz unbedingt beachtet werden muss und regelmäßig falsch bewertet wird. Der Punkt betrifft die Frage der Beweislast: Wie ist in solchen Fällen zu verfahren, in denen über die persönliche Einstellung des individuellen Patienten nichts Näheres bekannt ist, durchschnittliche Patienten jedoch, falls befragt, recht unterschiedlich reagieren würden? Hierzu ist Folgendes entschieden festzustellen: Es ist ganz generell der (aktive) Eingriff der Behandlung – und nicht der (passive) Verzicht auf diesen Eingriff –, welcher der legitimierenden Einwilligung des Patienten bedarf. Das bedeutet: Für die Ermächtigung zur Behandlung, nicht aber für die Legitimation der Nichtbehandlung muss es im konkreten Fall ausreichende Belege geben, die eine (ausdrückliche oder mutmaßliche) Zustimmung des Patienten in einem hohen Grad wahrscheinlich machen. Die Beweislast liegt demnach aufseiten der Behandlung; im Zweifelsfall muss die Behandlung unterbleiben. Daraus folgt in Bezug auf die Patientenverfügung: Auch eine unwirksame Patientenverfügung, in der eine bestimmte Behandlung abgelehnt wird, ist keineswegs automatisch gleichbedeutend mit einer (mutmaßlichen) Einwilligung in diese Behandlung. Eine solche bedarf vielmehr deutlich positiver Indizien. Nun kommt zwar bei der erforderlichen Gewichtung der rele156 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

vanten Evidenz mangels verwertbarer individueller Anhaltspunkte grundsätzlich auch der Einstellung des Durchschnittsbürgers bzw. Normalpatienten eine gewisse Bedeutung zu. Wenn es wirklich zuträfe, dass so gut wie jeder Patient, der trotz einer zurückliegenden, eine Behandlung ablehnenden Patientenverfügung im Zustand der Bewusstlosigkeit gleichwohl behandelt wird, anschließend diese Behandlung gutheißt und im Wissen darum auch bereits im Vorhinein gutheißen würde, so wäre diese Tatsache ohne Zweifel ein starkes Argument für die Annahme einer mutmaßlichen Einwilligung auch im konkreten Einzelfall. Genau diese Voraussetzung trifft aber – jedenfalls bei unheilbar und schwer leidenden Patienten – durchaus nicht zu: Es gibt zwar solche Patienten, die unter den genannten Umständen die lebensverlängernde Maßnahme nachträglich begrüßen; es gibt aber ebenso Patienten, die sie auch nachträglich noch ablehnen. Davon, dass praktisch jeder Patient im Vorhinein, sofern urteilsfähig und über seine spätere Einstellung aufgeklärt, in die Behandlung einwilligen würde, kann also nicht die Rede sein. Deshalb kann auch auf die mutmaßliche Einwilligung des konkreten Patienten A unter diesen Umständen nicht hinreichend sicher geschlossen werden. Ein Arzt, der in dieser Situation einfach unter Berufung auf den »Lebenswillen« des Patienten dessen vorliegende Patientenverfügung ignoriert und sich ohne weitere Hinweise anmaßt, durch die betreffende Behandlung den »wahren« Interessen des Patienten zu dienen, nimmt zweifellos eine eigenmächtige, illegitime Heilbehandlung vor. Deshalb muss das oben angeführte Standardargument für die Durchführung einer lebensverlängernden Behandlung trotz entgegenstehender Patientenverfügung – jedenfalls in seinem umfassenden, pauschalen Anspruch – eindeutig zurückgewiesen werden. In welchem Maße die Einstellung, sich bei entscheidungsunfähigen Patienten tatsächlich über ihren mutmaßlichen Willen hinwegzusetzen, unter Ärzten verbreitet ist, mögen die folgenden Zitate belegen. Sie stammen aus einem Aufsatz von Jörg-Dietrich Hoppe, dem einflussreichen Vize-Präsidenten der Bundesärztekammer, der sich seit Jahren mit der Problematik engagiert befasst und sich immer wieder in schriftlicher und mündlicher Form zu ihr äußert. 9

Für die folgenden Zitate siehe Jörg-Dietrich Hoppe: »Eine gezielte Lebensverkürzung ist unzulässig«, Frankfurter Rundschau 136 (1995), S. 22.

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In der Sichtweise Hoppes ist im Fall »schwerkranker oder gar sterbender Menschen« für jeden Arzt »der Entscheidungsspielraum für die Anwendung einer medizinischen Behandlung von seiner berufsethischen Verpflichtung bestimmt« und kann daher letztlich nicht »vom mutmaßlichen Willen des unmittelbar betroffenen Patienten« definiert werden. »Der mutmaßliche Wille«, so Hoppe, »ist deshalb keineswegs ein verlässlicher Maßstab dafür, ob der Arzt lebensverlängernde Maßnahmen wirklich unterlassen kann«; auch eine vorliegende Patientenverfügung »löst das Problem der Sterbehilfe für den behandelnden Arzt nicht«. Überhaupt sei Hilfe zum Sterben dem Arzt, der »in seiner Berufsausübung dem Leben verpflichtet ist«, nun einmal untersagt. Diese Sätze lassen nur den Schluss zu, dass ihr Autor nicht bereit ist, das Prinzip der Behandlungshoheit des Patienten in vollem Umfang anzuerkennen. Zumindest bei schwerkranken Patienten, die aktuell nicht entscheidungsfähig sind, soll die Durchführung von Behandlungsmaßnahmen nicht etwa von ihrem individuellen, mutmaßlichen Willen, sondern von der moralischen Beurteilung des Arztes abhängen. Dieser Beurteilung will Hoppe dabei offenbar durchaus einen gewissen Ermessensspielraum einräumen. Denn die von ihm geltend gemachte »berufsethische Verpflichtung« dem Leben gegenüber »bedeutet natürlich nicht, dass ein Arzt das Sterben eines Patienten um jeden Preis mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin verlängern muss«. Um welchen Preis und mit welchen Möglichkeiten der modernen Medizin der Arzt aber in der gegebenen Situation eben doch nach seiner Meinung die Behandlung weiterführen muss, lässt Hoppe völlig offen. Mit anderen Worten: Die passive Sterbehilfe wird hier im Grunde vollkommen in das Ermessen des jeweiligen Arztes gestellt. An die Stelle des individuellen Patientenwillens tritt die individuelle Eigenwertung des Arztes. Dem Arzt wird – unter dem Deckmantel einer scheinbar feststehenden Berufsethik – ermöglicht, bei dem Patienten eine Behandlung durchzuführen, die gar nicht von dessen Einwilligung getragen ist. Hierin liegt eine eklatante Verletzung der Autonomie des Individuums. Ebenso gut hätte Hoppe die Behauptung aufstellen können, der Arzt dürfe sich unter Umständen auch über eine ausdrückliche Ablehnung einer Behandlung seitens des Patienten hinwegsetzen. Eine solche Behauptung hätte allerdings auch dem oberflächlichen Betrachter unmissverständlich gezeigt, was sich nach 158 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

dieser Sichtweise alles mit der »berufsethischen Verpflichtung« des Arztes vereinbaren lässt. Dass ein führender deutscher Ärztefunktionär sich mit einer solchen Sichtweise heute noch an die Öffentlichkeit begibt, ist umso erstaunlicher, als die Rechtsprechung unserer Gerichte das Prinzip der Patientenautonomie und die damit verbundene Erforderlichkeit einer (ausdrücklichen oder mutmaßlichen) Einwilligung in eine medizinische Behandlung mehrfach und eindeutig bestätigt hat. So heißt es in einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1957, niemand dürfe sich »zum Richter in der Frage aufwerfen, unter welchen Umständen ein anderer vernünftigerweise bereit sein sollte, seine körperliche Unversehrtheit zu opfern«. Das Gericht spricht in diesem Zusammenhang von dem »grundsätzlichen freien Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper« und bezeichnet die nicht von der Einwilligung des Patienten getragene ärztliche Behandlungsmaßnahme, selbst wenn sie »aus medizinisch berechtigten Gründen« erfolgt, als »eigenmächtig und selbstherrlich«. Eine solche Behandlungsmaßnahme ist, so das Gericht, »ein rechtswidriger Eingriff in die Freiheit und Würde der menschlichen Persönlichkeit« 10. Dass das Prinzip der Patientenautonomie auch dann nicht zugunsten einer »eigenmächtigen und selbstherrlichen« Entscheidung des Arztes außer Kraft tritt, wenn der Patient aktuell entscheidungsunfähig ist, hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus dem Jahr 1994 sehr deutlich gemacht. 11 In diesem Urteil stellt das Gericht für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit ganz ausdrücklich auf den mutmaßlichen Willen des individuellen Patienten ab und befindet: »Objektive Kriterien, insbesondere die Beurteilung einer Maßnahme als gemeinhin ›vernünftig‹ oder ›normal‹ sowie den Interessen eines verständigen Patienten üblicherweise entsprechend, haben keine eigenständige Bedeutung; sie können lediglich Anhaltspunkte für die Ermittlung des individuellen hypothetischen Willens sein.« Ein Arzt darf sich nach diesem höchstrichterlichen Urteil also gerade nicht, wie es offenbar immer wieder geschieht und wie es von Hoppe ausdrücklich gefordert wird, über den mutmaßlichen Willen

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 11,8. 114. Für die folgenden Darstellungen und Zitate aus diesem Urteil siehe Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Band 40, S. 262 f. Zur Entwicklung der Rechtsprechung in dieser Frage siehe Andreas Kuhlmann: Sterbehilfe, Reinbek 1995, hier S. 48 ff.

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des entscheidungsunfähigen Patienten hinwegsetzen. Das fundamentale Prinzip, dass jede ärztliche Behandlungsmaßnahme – gleichgültig, wie sehr sie »medizinisch indiziert« ist und in welchem Stadium einer Krankheit sie durchgeführt wird – einer wirksamen Einwilligung bedarf, ist von unumstößlicher Geltung. Bedauerlicherweise unterläuft dem Bundesgerichtshof – trotz aller Klarheit seiner Ausführungen in diesem grundsätzlichen Punkt – bei der Anwendung des Prinzips der Patientenautonomie auf die Praxis ein gravierender Fehler. Das Gericht geht nämlich für den Fall des eventuellen Abbruchs einer Behandlungsmaßnahme ohne Weiteres so vor, als ob es tatsächlich dieser Abbruch wäre, der einer (mutmaßlichen) Einwilligung des Patienten bedarf. In Wahrheit aber ist es nicht der Abbruch, sondern die Behandlung – und zwar die Behandlung als solche in ihrer Gesamtheit –, die der Einwilligung bedarf. Das Gericht begeht hier einen Denkfehler, der zu einer Umkehr der Beweislast führt: Nicht mehr die Einwilligung in die Behandlung (also auch in die Fortführung der Behandlung zu jedem gegebenen Zeitpunkt), sondern die Einwilligung in den Abbruch (also in die Nichtfortführung) der Behandlung muss in der Sichtweise des Gerichts bewiesen bzw. belegt werden. Das bedeutet: Im Zweifelsfall ist die Behandlung fortzuführen. Man könnte auf den ersten Blick zwar meinen, diese Sichtweise des Gerichts mit der ihr entsprechenden Verteilung der Beweislast sei doch nur angemessen und realistisch: Wenn für den Beginn einer Behandlung eine wirksame Einwilligung vorliege, dann erfasse diese Einwilligung notwendig die gesamte Behandlung (die Behandlung in ihrer gesamten Dauer) – es sei denn, diese Einwilligung werde zu einem späteren Zeitpunkt für die Zukunft widerrufen. Es sei also eben doch dieser Widerruf, also die Einwilligung in den Abbruch der Behandlung, die des Beweises bedarf. Diese Argumentation ist jedoch bei näherem Hinsehen nicht geeignet, die Auffassung des Gerichts zu retten. Es trifft zwar zu: Sofern eine wirksame Einwilligung in die Gesamtbehandlung vorliegt, braucht diese Einwilligung natürlich nicht vor jedem einzelnen neuen Behandlungsschritt für eben diesen Schritt wiederholt bzw. von neuem erteilt zu werden. Die Frage ist jedoch, ob die zur Debatte stehende Weiterbehandlung bei einem dauerhaft bewusstlosen Patienten – um einen solchen handelte es sich in dem von dem Urteil des Gerichts betroffenen Fall – tatsächlich als Teil einer von der ursprünglichen

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Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

Einwilligung getragenen Gesamtbehandlung betrachtet werden kann. Dies aber hängt von den Umständen des konkreten Falles ab. Falls es an einer ausdrücklichen Einwilligung in die Gesamtbehandlung fehlt, muss die entscheidende Frage wie folgt präzisiert werden: Ist tatsächlich eine mutmaßliche Einwilligung, welche diese Form der Weiterbehandlung unter diesen Lebensumständen als Teil einer Gesamtbehandlung umfasst, anzunehmen? Diese Frage aber könnte aus zwei Gründen eine negative Antwort verdienen: Zum einen könnte schon die vor dem fraglichen Zeitpunkt (der Weiterbehandlung) liegende Behandlung nicht von einer mutmaßlichen Einwilligung gedeckt sein; und zum anderen könnten zum fraglichen Zeitpunkt auftretende Veränderungen in der Form der Behandlung oder in den Lebensumständen des Patienten es ausschließen, die Weiterbehandlung einfach als selbstverständliche Fortsetzung der vorhergehenden, von einer mutmaßlichen Einwilligung getragenen Behandlung und damit als integralen Bestandteil einer bereits legitimierten Gesamtbehandlung zu betrachten. In beiden Fällen liegt eine (mutmaßliche) Einwilligung des Patienten in die betreffende Weiterbehandlung nicht vor. Das bedeutet: Die Weiterbehandlung ist rechtlich unzulässig; die Behandlung muss abgebrochen werden. An der folgenden – bei konsequentem Denken eigentlich recht trivialen – Einsicht geht kein Weg vorbei. Wer behauptet, dass eine bestimmte Behandlung bzw. Behandlungsmaßnahme von einer Einwilligung des Patienten erfasst und somit legitim ist, trägt für diese Behauptung in jedem Falle die Beweislast. Daraus folgt: Sofern keine ausdrückliche Einwilligung vorliegt, muss der Betreffende jedenfalls dartun können, dass der individuelle Patient die Behandlung bzw. Maßnahme, sofern er entscheidungsfähig wäre, mit hoher Wahrscheinlichkeit billigen würde. Und zwar müssen die Belege für eine solche mutmaßliche Einwilligung des Patienten, der aktuell nicht urteils- und entscheidungsfähig ist, notgedrungen aus einer Zeit stammen, in der der Patient noch urteils- und entscheidungsfähig war. […] Die vom Bundesgerichtshof in seinem Urteil vorgenommene Umkehr der Beweislast lässt sich auch in solchen Fällen nicht begründen, in denen de facto keinerlei Anhaltspunkte für eine ganz persönliche Einstellung des individuellen Patienten vorliegen. In solchen Fällen muss sich vielmehr zeigen lassen, dass praktisch jeder Patient unter den betreffenden Bedingungen die Behandlung billigt bzw. billigen würde. Für den vom Gericht für solche Fälle generell aufgestell161 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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ten Grundsatz, »im Zweifel« habe »der Schutz menschlichen Lebens Vorrang«, besteht daher kein Grund. Sofern nicht zweifellos feststeht, dass jedenfalls der Normalpatient in der betreffenden Situation die in Frage stehende Behandlung billigen würde, ist diese Behandlung illegitim. Dies muss natürlich erst recht dann gelten, wenn etwa bei einer repräsentativen Befragung eine Mehrheit von Personen im urteilsfähigen Zustand eine solche Behandlung ausdrücklich ablehnt. Denn von einer hohen Wahrscheinlichkeit, dass der individuelle Patient A, dessen persönliche Einstellung in der Frage sich nicht ermitteln lässt, unter diesen Voraussetzungen die Behandlung billigen würde, kann ja nicht die Rede sein. Nicht »Im Zweifel für den Schutz des Lebens«, sondern »Im Zweifel gegen eine (lebensverlängernde) Behandlung« muss die oberste Devise lauten. Man ist leicht versucht, diese Priorität zu übersehen und sich der Suggestivwirkung des »Im Zweifel für den Schutz des Lebens« zu überlassen, weil die beiden Beweislastregeln im Normalfall ärztlichen Handelns bei entscheidungsunfähigen Patienten zu absolut identischen Ergebnissen führen: Natürlich steht etwa bei dem durchschnittlichen bewusstlosen Unfallopfer die mutmaßliche Einwilligung des Patienten außer Frage. Diese Koinzidenz der beiden Regeln ist jedoch keineswegs in jedem Fall gegeben. So ist es insbesondere im Fall von schwer und unheilbar leidenden Patienten am Lebensende alles andere als selbstverständlich, dass die beiden Regeln zu identischen Ergebnissen führen. Hier kann deshalb die Ersetzung der aus dem Prinzip der Patientenautonomie ableitbaren Regel »Im Zweifel gegen eine Behandlung« durch die Regel »Im Zweifel für den Schutz des Lebens« in der Praxis leicht zu Ergebnissen führen, die bei konsequentem Denken als illegitime, eigenmächtige Heilbehandlungen bezeichnet werden müssen. Noch in einem weiteren Punkt ist das Urteil des Bundesgerichtshofs kritikwürdig. Das Gericht macht nämlich eine terminologische Unterscheidung zwischen einer »Sterbehilfe im eigentlichen Sinn« und einer »Sterbehilfe im weiteren Sinne«. Bei der letzteren Form von Sterbehilfe, die das Gericht wesentlich dadurch charakterisiert sieht, dass der »Sterbevorgang noch nicht eingesetzt« hat, seien »an die Annahme des mutmaßlichen Willens erhöhte Anforderungen insbesondere im Vergleich zur Sterbehilfe im eigentlichen Sinne zu stellen«. Auch dieser Beweisregel ist – zumindest in dieser undifferenzierten Form – zu widersprechen. Denn es mag zwar generell der Fall 162 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

sein, dass der Normalpatient zu einer lebensverlängernden oder lebensrettenden Behandlung eher dann seine Einwilligung erteilt, wenn er noch Wochen oder Monate, als wenn er nur noch Stunden oder Tage zu leben hat. Unter bestimmten Bedingungen kann dies aber auch genau umgekehrt sein – nämlich etwa dann, wenn der Patient schwer leidet und deshalb gerade einen möglichst schnellen Tod herbeiwünscht. Wenn das Gericht selbst für diese Fälle warnen zu müssen glaubt, der Gefahr, »dass Arzt, Angehörige oder Betreuer unabhängig vom Willen des entscheidungsunfähigen Kranken, nach eigenen Maßstäben und Vorstellungen das von ihnen als sinnlos, lebensunwert oder unnütz angesehene Dasein des Patienten beenden«, sei entgegenzuwirken, so ist hier wohl eher die Warnung angebracht, der Gefahr, dass Arzt, Angehörige oder Betreuer unabhängig vom Willen des entscheidungsunfähigen Kranken, nach eigenen Maßstäben und Vorstellungen das von ihnen als sinnvoll, lebenswert oder nützlich angesehene Dasein des Patienten verlängern, sei entgegenzuwirken. So weit zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen einer passiven Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung. Kommt außer einer passiven auch eine aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung in Betracht? Manche Leser werden meinen, dass die aktive Herbeiführung des Todes selbst bei einem schwer und unheilbar Leidenden auf dessen mutmaßlichen Wunsch hin unter keinen Umständen zulässig sei. Eine solche Einstellung kann auf zwei unterschiedlichen Erwägungen basieren. Erstens kann jemand auch eine aktive Sterbehilfe, die von einem ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen begleitet ist, ablehnen. Dann hat er natürlich von seinem Standpunkt aus einen guten Grund, eine nur von einem mutmaßlichen Wunsch des Betroffenen begleitete aktive Sterbehilfe erst recht abzulehnen. Mit dieser Sichtweise brauchen wir uns jedoch an dieser Stelle nicht mehr auseinanderzusetzen, da ich sie bereits in den Kapiteln 1–3 ausführlich erörtert und zurückgewiesen habe. Auseinandersetzen müssen wir uns hier jedoch mit einer zweiten Form der Ablehnung aktiver Sterbehilfe auf mutmaßlichen Wunsch, die mit der gleichzeitigen Billigung aktiver Sterbehilfe auf ausdrücklichen Wunsch einhergeht. Eine solche Position könnte sich insbesondere auf die Behauptung stützen, die Rechtsfigur einer mutmaßlichen Einwilligung bzw. eines mutmaßlichen Wunsches sei 163 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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unter keinen Umständen geeignet, um menschliches Leben vor einem Zugriff, der nicht im Interesse des Betroffenen selbst liegt, wirksam zu schützen. Eine derart pauschale Ablehnung jeder aktiven Sterbehilfe auf mutmaßlichen Wunsch hält jedoch den folgenden Erwägungen nicht stand. Zunächst einmal ist zu bedenken, dass die Rechtsfigur der mutmaßlichen Einwilligung generell im Umgang mit Eingriffen in die individuelle Rechtssphäre unverzichtbar ist. Wir sahen schon, dass beispielsweise die lebensrettende Operation des bewusstlosen Unfallopfers nur auf diese Weise zu rechtfertigen ist. Nun handelt es sich bei diesem Eingriff in die körperliche Integrität zwar um einen Eingriff, der dem Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes, nämlich des Lebens, dient. Doch auch einen entsprechenden Eingriff zur Wiederherstellung der Gesundheit oder zur Rettung eines Körpergliedes wird niemand grundsätzlich verbieten wollen. Natürlich steht es im Einklang mit dem wohlverstandenen Interesse bzw. dem mutmaßlichen Willen eines normalen Patienten, dass er als bewusstloses Unfallopfer sofort operiert wird, wenn nur so sein Arm gerettet werden kann. Und natürlich darf – um ein weiteres Beispiel für eine mutmaßliche Einwilligung zu bilden – jemand in ein verlassenes Haus einbrechen, um dort einen schwelenden Brand, der die ganze Einrichtung zu zerstören droht, zu löschen. Es wäre somit ganz ungereimt, allein im Fall des Lebens jeden Eingriff in die Sphäre eines anderen, der zwar nicht mit seinem ausdrücklichen, wohl aber mit seinem mutmaßlichen Wunsch im Einklang steht, kategorisch zu verbieten. Dies könnte, um es noch einmal zu sagen, nur dann als in sich konsequent betrachtet werden, wenn man tatsächlich jede – also auch die auf einen ausdrücklichen Wunsch zurückgehende – aktive Sterbehilfe unvertretbar fände. Wenn man diese Position jedoch nicht einnimmt, dann ist nicht einzusehen, warum Eingriffe in die Rechtssphäre eines anderen, die generell durch den mutmaßlichen Willen des Betroffenen als in seinem Interesse liegend legitimiert werden, ausgerechnet im Fall von Sterbehilfe unzulässig sein sollen. Nehmen wir an, A ist unheilbar und in einem fortgeschrittenen Stadium an Krebs erkrankt. Er hat permanente, starke Schmerzen, die mit Medikamenten nur unzureichend gelindert werden können. Da es sich bei seiner Krankheit um einen Hirntumor handelt, ist er zu einer ausdrücklichen, wirksamen Willensbekundung unfähig. Er hat aber, als er schon erkrankt, aber noch urteilsfähig war, in einer 164 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

schriftlichen Patientenverfügung für den voraussehbaren Fall seines jetzigen Zustandes ausdrücklich den Wunsch nach direkter aktiver Sterbehilfe niedergelegt. Wie ist dieser Fall zu beurteilen? Wir sahen schon im entsprechenden Fall einer passiven Sterbehilfe, dass hier zum relevanten Zeitpunkt (der Herbeiführung des Todes) vom Vorliegen einer ausdrücklichen Willensbekundung nicht ausgegangen werden kann. Andererseits bestehen unter normalen Bedingungen keine Zweifel, dass hier ein mutmaßlicher Wunsch nach Sterbehilfe vorliegt. […] Es gibt keinen Grund, warum diesem mutmaßlichen Wunsch – ebenso wie einem ausdrücklichen und aktuellen Wunsch nach aktiver Sterbehilfe – nicht vonseiten des mit der Situation des A vertrauten Arztes sollte entsprochen werden dürfen. Aber auch unter der Voraussetzung, dass kein früherer, situationsspezifischer Wunsch nach aktiver Sterbehilfe vorliegt, wird man unter Umständen von einem mutmaßlichen, eine aktive Sterbehilfe legitimierenden Wunsch ausgehen können. Dies dürfte etwa dann der Fall sein, wenn keinerlei Zweifel bestehen, dass 1. A in jeder, insbesondere in weltanschaulich-ethischer Hinsicht einer aktiven Sterbehilfe prinzipiell positiv gegenübersteht und dass 2. in A’s aktuellem, anhaltendem Zustand der Urteilsunfähigkeit seine bis zu seinem natürlichen Ende nicht zu beseitigenden Schmerzen von unerträglicher Intensität sind. Die erste dieser beiden Bedingungen dürfte beispielsweise bei Barbara Bush, der Gattin des ehemaligen US-Präsidenten, erfüllt sein. Barbara Bush erklärte: »Ich hatte einen geliebten Hund einschläfern lassen, weil ich nicht wollte, dass das kranke Tier weiter litt. Ich hoffe, dass mir dasselbe gewährt wird.« 12 Kann der mutmaßliche Wunsch des A nach aktiver Sterbehilfe aber auch ohne jede Kenntnis der persönlichen Einstellung des Aähnlich wie im Fall der passiven Sterbehilfe – aufgrund der bloßen Tatsache angenommen werden, dass in der betreffenden Situation praktisch jeder aktive Sterbehilfe wünschen würde? Prinzipiell gewiss; denn entsprechend wird ja, wie wir sahen, etwa auch im Fall der Operation des entscheidungsunfähigen Unfallopfers verfahren. Zu bedenken ist jedoch: Die genannte Bedingung ist in unserer derzeitigen Gesellschaft sicher nicht erfüllt. Es gibt bei uns zumindest eine beträchtliche Minderheit von Menschen (insbesondere aus

Siehe o. A.: »Barbara u. George Bush: Körper f. d. Wissenschaft«, Der Spiegel 44 (1990), S. 330.

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christlich-kirchlich orientierten Kreisen), die jeder aktiven Sterbehilfe aus Prinzip ablehnend gegenüberstehen. Es wäre aber mit dem individuellen Recht auf Leben und mit der hier vertretenen Sichtweise völlig unvereinbar, ein nennenswertes Risiko einzugehen, dass einem Menschen – gleichgültig unter welchen Umständen – aktive Sterbehilfe gegen seinen eigentlichen Willen aufgenötigt wird. An diesem Punkt wird ein äußerst wichtiger Unterschied zwischen der Zulässigkeit von aktiver und passiver Sterbehilfe deutlich, der besonders in Bezug auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen praktische Bedeutung gewinnt: Die Beweislast für die Zulässigkeit einer Sterbehilfe muss für ihre beiden Formen in genau entgegengesetzter Weise gewichtet werden. Während im Fall der passiven Sterbehilfe, wie wir oben sahen, prinzipiell der (mutmaßliche) Wille zur Behandlung, also zur Bewahrung des Lebens, bewiesen werden muss, muss im Fall der aktiven Sterbehilfe prinzipiell der (mutmaßliche) Wille zur Preisgabe des Lebens bewiesen werden. Daraus folgt: Während passive Sterbehilfe im Zweifelsfall zulässig ist, ist aktive Sterbehilfe im Zweifelsfall unzulässig. Nur dann, wenn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der mutmaßliche Wunsch des entscheidungsunfähigen A nach aktiver Sterbehilfe unterstellt werden kann, ist diese als legitim zu betrachten. Der Grundsatz »Im Zweifel für das Leben«, den wir für die passive Sterbehilfe ablehnen oder zumindest stark relativieren mussten, gilt für die aktive Sterbehilfe uneingeschränkt. Denn er erweist sich in diesem Fall als unmittelbare Konsequenz des generell geltenden Prinzips »Im Zweifel gegen den ärztlichen Eingriff (hier: des Tötens)«. Jeder ärztliche Eingriff, welcher Art auch immer, ist für seine Legitimität jedenfalls an die folgende, absolut unverzichtbare Voraussetzung gebunden: Er muss im Einklang stehen mit dem, was der Patient – unter Bedingungen rationaler Willensbildung – selbst will. Er darf deshalb in der Praxis nur dann vorgenommen werden, wenn dieser Einklang mit dem Patientenwillen so gut wie sicher feststeht. Deshalb ist bei der Feststellung eines mutmaßlichen Wunsches nach aktiver Sterbehilfe in der Tat die größte Vorsicht geboten. Dass dies jedoch nicht bedeutet, dass eine solche Feststellung unter keinen Umständen möglich und eine legitime aktive Sterbehilfe aufgrund eines mutmaßlichen Wunsches deshalb in der Praxis auszuschließen ist, haben wir bereits anhand der beiden obigen Beispiele gesehen. Es handelte sich dabei um Fälle, in denen der betroffene A in der Vergangenheit, als er noch die Urteilsfähigkeit besaß, die Vornahme ak166 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe ohne ausdrückliche Ermächtigung?

tiver Sterbehilfe unter den gegebenen Bedingungen eindeutig befürwortet hat. Einschlägige Beispiele kann es aber darüber hinaus auch unter der Voraussetzung geben, dass A vor dem fraglichen Zeitpunkt nie die Urteilsfähigkeit und insofern die Möglichkeit besaß, in wirksamer Form eine aktive Sterbehilfe zu befürworten. Angenommen, A war sein ganzes Leben schwer und unheilbar geisteskrank. Jetzt ist er außerdem unheilbar an einer Form von Krebs erkrankt, die ihm bis zu seinem natürlichen Ende unerträgliche Schmerzen bereitet, die durch keine positiven, ihm noch möglichen Erfahrungen annähernd kompensiert werden. Muss man in diesem Fall nicht, da A mit Sicherheit einer aktiven Sterbehilfe niemals ablehnend gegenüberstand, mit Rücksicht auf seinen Leidenszustand von seinem mutmaßlichen Wunsch nach einem möglichst baldigen Tod, also nach aktiver Sterbehilfe, ausgehen? Ein weiteres Beispiel wäre das eines schwerstgeschädigten Neugeborenen oder Kleinkindes, das ebenfalls nur noch Leid und Schmerzen bis zu seinem natürlichen Ende vor sich hat. 13 Abschließend noch ein Wort zu den beiden verschiedenen Formen – der direkten und der indirekten Form – aktiver Sterbehilfe. Wie in Kapitel 3 näher ausgeführt, 14 wird in unserer derzeitigen ärztlichen und juristischen Praxis generell zwar die indirekte, nicht aber die direkte aktive Sterbehilfe zugelassen. Und zwar wird diese Zulassung der indirekten Sterbehilfe gewöhnlich – in mehr oder weniger selbstverständlicher Weise – auch auf die hier zur Debatte stehende Fallgruppe der mutmaßlichen Ermächtigung des Arztes ausgedehnt. Wir haben oben […] im Einzelnen gesehen, dass die dogmatische Ablehnung der direkten bei gleichzeitiger Zulassung der indirekten Sterbehilfe schon unter dem Gesichtspunkt interner Folgerichtigkeit im Rahmen unseres Strafrechtssystems – ganz abgesehen von der Frage der ethischen Vertretbarkeit einer solchen Ablehnung – durchschlagenden Einwänden ausgesetzt ist. An dieser Stelle möchte ich betonen: Alle diese Einwände treffen auch auf die Fallgruppe der mutmaßlichen Ermächtigung zu. Außerdem ist nicht erkennbar, warum die jede aktive Sterbehilfe erst legitimierende Feststellung eines (hier mutmaßlichen) Wunsches des Betroffenen im Fall der indirek-

Ein reales Beispiel dieser Art wird im einzelnen geschildert in: Norbert Hoerster: Neugeborene und das Recht auf Leben, Frankfurt a. M. 1995, hier S. 104 ff. 14 Vgl. die erste Anm. d. Herausgeb. 13

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ten irgendwie unproblematischer als im Fall der direkten Sterbehilfe sein sollte. Sollte es im Fall der indirekten Sterbehilfe etwa ethisch akzeptabel sein, wenn der Arzt hier die Entscheidung einfach selber fällen würde – vielleicht unter bloßer Berufung auf das »ärztlich Angezeigte«? Ja, könnte nicht unter Bedingungen einer derart paternalistischen Verfahrensweise, wenn man zusätzlich die häufig schwierige Grenzziehung zwischen den beiden Formen aktiver Sterbehilfe in der Praxis in Betracht zieht, gerade die Gefahr einer ganz unzureichend am Patientenwillen ausgerichteten direkten Sterbehilfe eine sehr reale sein?

Literaturverzeichnis Bernat, E.: Behandlungsabbruch und (mutmaßlicher) Patientenwille. In: Recht der Medizin 2 (1995), S. 51–61. Dworkin, R.: Die Grenzen des Lebens. Reinbek 1994. Foot, Ph.: Euthanasie. In: A. Leist (Hg.): Um Leben und Tod. Frankfurt a. M. 21992, S. 285–317. Hoerster, N.: Neugeborene und das Recht auf Leben, Frankfurt a. M. 1995. Hoppe, J.-D.: Eine gezielte Lebensverkürzung ist unzulässig. In: Frankfurter Rundschau 136 (1995), S. 22. Kuhlmann, A.: Sterbehilfe, Reinbek 1995. Merkel, R.: Tödlicher Behandlungsabbruch und mutmaßliche Einwilligung bei Patienten im apallischen Syndrom. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107/3 (1995), S. 545–575. o. A.: Barbara u. George Bush: Körper f. d. Wissenschaft. In: Der Spiegel 44 (1990). Uhlenbruck, W.: Patiententestament, Betreuungsverfügung und Vorsorgevollmacht: Zur Selbstbestimmung im Vorfeld des Todes. In: Berliner Medizinethische Schriften 8, Dortmund 1996.

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Gibt es ein Recht zu sterben? Leon R. Kass

Seit einiger Zeit hat es sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens Amerikas eingebürgert, dass Menschen das, was sie wollen oder benötigen, als Recht einfordern. In den letzten Jahrzehnten sind Ansprüche erhoben worden auf ein Recht auf Gesundheit oder Gesundheitsversorgung, ein Recht auf Bildung oder Arbeit, ein Recht auf eine Privatsphäre (das auch das Recht einschließt, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, Pornographie zu konsumieren, sich zu töten oder Geschlechtsverkehr mit Tieren zu haben), ein Recht auf saubere Luft, ein Recht darauf, nackt zu tanzen, das Recht, geboren zu werden, und das Recht darauf, nicht geboren worden zu sein. Kürzlich haben wir von der allerneuesten Forderung auf ein Recht gehört: dem »Recht zu sterben«. Diese Forderung ist im Kontext veränderter Umstände und wachsender Sorgen in Bezug auf das Ende des Lebens aufgetaucht. Teilweise aufgrund der medizinischen Möglichkeiten, menschliches Leben zu bewahren und zu verlängern, sind viele von uns dazu verurteilt, unser einstmals blühendes Leben in Jahren der Hinfälligkeit, der Abhängigkeit und der Schmach zu beenden. Dank dem Einsatz des Beatmungsgerätes und anderen leistungsstarken Methoden, die es erlauben, ganz von sich aus komatöse und andere schwer geschädigte Patienten jenseits der Grenze zwischen Leben und Tod zu halten, sind viele Menschen, die ansonsten schon tot wären, nur noch aufgrund fortwährender medizinischer Behandlungen am Leben. Von den etwa 2,2 Millionen Todesfällen, die jährlich in den USA gezählt werden, ereignen sich 80 % in Gesundheitseinrichtungen; in etwa anderthalb Millionen Fällen geht dem Tod eine ausdrückliche Entscheidung über den Beginn einer medizinischen Behandlung oder über den Verzicht auf sie voraus. Somit wird der Tod in Amerika nicht nur medizinisch verwaltet, vielmehr unterliegt auch der Todeszeitpunkt in steigendem Maße einer bewussten Entscheidung. Vor die-

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sem Hintergrund wird die Forderung nach einem Recht zu sterben erhoben. Ich glaube nicht, dass in Bezug auf dieses schwierige und beunruhigende Problem die Rede von einem Recht und die Herangehensweise mittels der Idee eines Rechts geeignet sind, vernünftige persönliche Entscheidungen oder eine sinnvolle Gesundheitspolitik zu ermöglichen. In den meisten der herzzerreißenden Situationen am Ende des Lebens ist es für die praktische Weisheit ohnehin schwer genug herauszufinden, was moralisch richtig und menschlich gut ist, auch ohne dass sie sich dabei mit unnachgiebigen und absoluten Forderungen nach einem moralischen oder juridischen Recht zu sterben auseinandersetzen müsste. Außerdem bin ich sowohl aus philosophischen als auch aus rechtlichen Gründen geneigt zu glauben, dass es so etwas wie ein Recht zu sterben nicht geben kann – dass der Begriff »Recht zu sterben« unhaltbar und möglicherweise sogar logisch inkohärent ist. Sogar die Befürworter dieses Rechtes setzen den Begriff gewöhnlich in Anführungszeichen und erkennen damit an, dass es sich bei ihm um eine unglücklich gewählte Bezeichnung handelt. Dennoch können wir uns über die Forderung nach einem Recht zu sterben nicht einfach hinwegsetzen, denn sie wirft wichtige und interessante praktische und philosophische Fragen auf. In der Praxis wird die Existenz des Rechtes zu sterben immer häufiger behauptet, und die Idee dieses Rechts gewinnt an Popularität; immer öfter begegnet uns dieses Recht in den Printmedien ohne Anführungszeichen. Die frühere Euthanasia Society of America wollte das durch die Nazis befleckte und leicht angreifbare »E-Wort« in ihrem Namen loswerden und änderte ihn daher in die politisch korrektere Bezeichnung Society for the Right to Die um, bevor sie zu Choice in Dying wurde. Streitfälle über Entscheidungen am Ende des Lebens, die vor Gericht ausgetragen werden und bei denen die Forderungen fast immer in der Sprache der Rechte vorgetragen werden, haben dazu geführt, dass die Idee, es gebe eine Art von »Recht zu sterben« Unterstützung erfährt. Wie ich im Folgenden zeigen werde, hat ein bestimmter Fall, der von dem konservativen Obersten Gerichtshof der USA entschieden wurde, nämlich der Fall Cruzan, dazu beigetragen, diese Sache voranzutreiben. Die Bürgerinitiativen für die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid und der Sterbehilfe in den Bundesstaaten Washington und Kalifornien waren ihren Gegnern nur knapp unterlegen. Teilweise lag das daran, dass es sich bei den Vorschlägen um schlecht 170 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Gibt es ein Recht zu sterben?

durchdachte Gesetzesvorlagen handelte. Die Befürworter solcher Praktiken scheinen jedoch die größere gesellschaftliche Schlacht über das richtige moralische Prinzip zu gewinnen. Wie aus verschiedenen Meinungsumfragen hervorgeht, ist die Mehrzahl der Amerikaner heute davon überzeugt, dass »man, wenn das Leben elend ist, das Recht hat, es aktiv und, wenn nötig, mit Unterstützung anderer zu beenden«. Obwohl die philosophische Beweislast für die Etablierung neuer Rechte (insbesondere, wenn es um ein so sonderbares Recht wie das »Recht zu sterben« geht) immer von den Befürwortern dieser Rechte erbracht werden muss, hat sich in der Öffentlichkeit die Beweislast so verschoben, dass sie nun bei denen liegt, die gegen die Möglichkeit der freiwilligen Entscheidung für den Tod durch ärztliche Beihilfe zum Suizid sind. Deshalb ist es politisch notwendig – und gleichzeitig außerordentlich schwer – geworden, prinzipielle Argumente dafür vorzubringen, warum Ärzte nicht töten dürfen, warum Sterbehilfe nicht die geeignete Antwort auf die Endlichkeit des Menschen ist und warum es weder ein natürliches noch ein verfassungsmäßiges Recht zu sterben gibt. Bei dieser Frage handelt es sich nicht um eine rein akademische Angelegenheit: Vielmehr steht hier die Fähigkeit unserer Gesellschaft, gefährdetes Leben zu schützen, auf dem Spiel. Noch interessanter ist die Prüfung des vermeintlichen Rechts zu sterben in philosophischer Hinsicht. Diese kritische Prüfung bringt die Gefahren und Grenzen der liberalistischen – d. h. auf Rechten beruhenden – politischen Philosophie und Rechtsprechung, der wir Amerikaner uns verschrieben haben, ans Licht. Als allerneuestes Recht, das weder auf der Natur noch auf der Vernunft gründet, beweist das vermeintliche Recht zu sterben die nihilistischen Implikationen, welcher der neuen (»postliberalen«) Lehre von den Rechten, die auf dem sich selbst erschaffenden Willen beruht, eigen sind. Und als Antwort der liberalen Gesellschaft auf die bittersüßen Siege, welche die Medizin bei ihrem Versuch, den Tod zu besiegen, erringt, bringt dieses Recht in Reinform die tragische Bedeutung des gesamten wissenschaftlichen und politischen Projekts der Moderne zum Vorschein. Die Forderung nach einem Recht zu sterben wird nur in westlichen, liberalen Gesellschaften erhoben – das ist nicht überraschend, weil sich die Menschen nur in den westlichen, liberalen Gesellschaften immer zuerst den Rechten der Einzelnen zuwenden, wenn ein Problem zu entscheiden ist. Außerdem finden wir nur in diesen Ge171 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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sellschaften die hoch entwickelte Medizin vor, die es möglich macht, das Sterben von Menschen, die möglicherweise sterben möchten, zu verhindern. Allerdings ist die Forderung nach einem Recht zu sterben auch ausgesprochen befremdlich, und zwar insbesondere in liberalen Gesellschaften, die auf dem Gedanken beruhen, dass dem Recht zu leben der Vorrang zukommt. Wir Amerikaner halten es für eine evidente Wahrheit, dass Regierungen dazu da sind, die unverlierbaren Rechte der Individuen zu sichern. An erster Stelle steht dabei das Recht auf Selbsterhaltung. Nun werden wir dazu ermutigt, die Regierung zu benutzen, um ein vermeintliches Recht auf Selbstzerstörung durchzusetzen. Das sogenannte »Recht zu sterben« ist zweifellos eine seltsame Angelegenheit, die beispiellos und wohl kaum unschuldig ist. Deshalb müssen wir sorgfältig prüfen, worin dieses Recht bestehen könnte, warum es gefordert wird und ob es tatsächlich existiert – das heißt, ob es sich prinzipiell begründen oder verteidigen lässt.

Ein Recht zu sterben Obwohl die größte Unklarheit den Inhalt des Rechts betrifft – das »Sterben« –, beginnen wir damit, uns in Erinnerung zu rufen, was es im Allgemeinen bedeutet, wenn man sagt, dass jemand ein Recht auf etwas hat. An dieser Stelle löse ich mich von der ursprünglichen Vorstellung natürlicher Rechte, mehr noch: Ich lasse die Frage nach dem Ursprung der Rechte hier gänzlich außer Acht. Stattdessen konzentriere ich mich auf den gegenwärtigen Sprachgebrauch, weil die Forderung nach einem Recht zu sterben nur vor dem Hintergrund des heutigen Sprachgebrauchs verstanden werden kann. Ein Recht, sei es ein juridisches oder ein moralisches, ist nicht identisch mit einem Bedürfnis oder einem Wunsch oder einem Interesse oder einer Fähigkeit. Es kann sein, dass ich sowohl das Bedürfnis als auch den Wunsch nach dem Eigentum eines anderen habe und dass ich überdies ein Interesse daran habe und imstande bin, es mir durch Gewalt oder Diebstahl zu nehmen – dennoch wird man in diesem Fall wohl kaum behaupten können, dass ich ein Recht auf das Eigentum des anderen habe. Ein Recht ist zuallererst einmal eine Art von Freiheit. Hobbes, der erste Vertreter der Lehre von den Rechten, war der Auffassung, dass ein Recht eine Freiheit ist, für deren Gebrauch man niemandem einen Vorwurf machen darf. Jedoch haben 172 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Gibt es ein Recht zu sterben?

wir nicht auf alles, was wir im moralischen oder juridischen Sinn tun dürfen, ein Recht: Es mag mir freistehen, ein aufdringliches Parfüm zu tragen, frech zu meinen Eltern zu sein oder unnatürlichen Sex zu haben, doch daraus folgt nicht, dass ich ein Recht darauf habe, diese Dinge zu tun. Nicht einmal die Aufhebung der Strafbarkeit einer früher verbotenen Handlungsweise begründet ein juridisches Recht auf sie, nicht einmal dann, wenn ich Gründe für sie anführen kann. Daher genügt die bloße Erlaubtheit der Selbsttötung – »Ich will mich töten, ich verfüge über die nötigen Mittel und Gründe dafür; Sie können mich nicht aufhalten, und der Suizid verstößt nicht gegen das Gesetz« – nicht dafür, das Recht zu etablieren, sich das Leben zu nehmen. Bei einem echten Recht würde es sich zumindest um eine Freiheit handeln, deren Gebrauch nicht vorwerfbar sowie erlaubt ist, im besten Fall sogar um eine lobenswerte oder rechtmäßige Freiheit, etwas zu tun oder nicht zu tun, ohne dass irgendjemand eingreifen oder sich dem widersetzen könnte. Historisch betrachtet, war die Wahrscheinlichkeit, dass von außen eingegriffen oder Widerstand geleistet werden könnte, sogar die notwendige Bedingung dafür, dass ein Recht geltend gemacht werden konnte. Rechte waren und sind in erster Linie Produkte politischen Handelns, genauer gesagt: die ersten Grundsätze liberaler Politik. Die rhetorische Beschwörung von Rechten, die im Prinzip immer absolut und unbedingt sind, hat eine wichtige Verteidigungsfunktion, jedoch nur deshalb, weil der Lebensbereich, in dem ihre Gültigkeit behauptet wird, begrenzt ist. Rechte werden beansprucht, damit bestimmte Freiheiten, die von anderen bestritten oder beschränkt werden könnten, dadurch geschützt werden, dass man sie als nicht vorwerfbar oder als rechtmäßig bezeichnet. Rechte werden eingefordert, um die Sicherheit und die Würde des Einzelnen gegen die Herrschaft eines Tyrannen, Königs oder Prälaten zu schützen und gegen jene hochsinnigen Moralapostel und eifernden Wichtigtuer, die danach streben, die Seele eines Menschen zu retten oder seine Ehre auf Kosten seines Lebens und seiner Freiheit zu bewahren. Diesen klassischen, negativen Abwehrrechten will das moderne Denken sogenannte Anspruchsrechte hinzufügen – darunter werden Rechte verstanden, die uns einen Anspruch auf bestimmte Möglichkeiten oder Güter verleihen, in Bezug auf die wir anderen gegenüber, in der Regel ist hier die Regierung gemeint, ein Recht haben. Die Rhetorik der Anspruchsrechte erweitert die Macht absoluter und uneingeschränkter Forderungen über das Ziel der Selbstverteidigung 173 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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gegen Tyrannei und über den begrenzten Bereich bedrohter Freiheiten hinaus. Aus diesem Grund wird ihre Existenzberechtigung als Rechte oft in Frage gestellt. Allerdings sind nicht einmal die sich ständig erweiternden Listen von Rechten unbegrenzt. Man kann sinnvollerweise nicht behaupten, dass ich ein Recht darauf habe, von denen geliebt zu werden, von denen ich hoffe, dass sie mich lieben, oder ein Recht darauf, weise zu werden. Es gibt viele gute Dinge, die ich rechtmäßigerweise besitzen und genießen kann, auf die ich jedoch keinen Anspruch erheben darf, wenn sie mir fehlen. Im Allgemeinen bedeutet, ein Recht zu haben, somit, anderen gegenüber einen berechtigten Anspruch darauf zu haben, dass sie sich auf bestimmte Weise verhalten: entweder darauf, dass sie in jemandes Handeln nicht eingreifen, oder darauf, dass sie ihm das zur Verfügung stellen, was sie ihm billigerweise schuldig sind. Es versteht sich von selbst, dass das bloße Aufstellen einer Behauptung oder Forderung oder die willkürliche Festsetzung eines Rechts nicht dafür hinreichen, dieses Recht zu etablieren. Einen Anspruch auf etwas zu erheben ist nicht dasselbe wie einen berechtigten Anspruch darauf zu haben. Daher müssen wir, wenn wir uns mit dem vermeintlichen Recht zu sterben befassen, sorgfältig darauf achten, ob ihm eine gerechtfertigte Forderung nach Freiheit oder ein gerechtfertigter Anspruch zugrunde liegt und nicht nur ein Wunsch, ein Interesse, eine Handlungsmöglichkeit oder eine Forderung. Rechte scheinen Verpflichtungen zu implizieren: Dem Recht der einen Person, sei es nur auf Nichteinmischung oder auf ein Gut oder eine Leistung, entspricht notwendigerweise die Verpflichtung einer anderen Person. Es wird wichtig sein, später darüber nachzudenken, welche Verpflichtungen ein Recht zu sterben anderen Menschen auferlegen würde.

Ein Recht zu sterben Wörtlich verstanden, würde ein Recht zu sterben nur etwas Unvermeidbares bezeichnen; die Gewissheit des Todes für alles, das lebt, ist geradezu das paradigmatische Beispiel für schicksalhafte Unvermeidbarkeit. Warum sollte man aber ein Recht fordern auf etwas, was nicht nur unabwendbar, sondern im Allgemeinen auch etwas Schlechtes ist? Besteht etwa die Gefahr, dass der Tod seine Unausweichlichkeit verlieren könnte? Laufen wir Gefahr, körperlich un174 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Gibt es ein Recht zu sterben?

sterblich zu werden? Ist der Tod für uns zu etwas Gutem geworden, das man eher einfordern soll, als dass man ihm auszuweichen oder ihn zu besiegen versuchen sollte? Diese Vermutungen treffen noch nicht und nicht genau zu, obwohl die Fragen, welche durch das wörtliche Verständnis des »Rechts zu sterben« aufgeworfen werden, sicherlich relevant sind. Sie weisen uns darauf hin, dass wir von dem biomedizinischen Projekt, das im Prinzip darauf abzielt, das menschliche Leben unendlich zu verlängern, zunehmend ernüchtert sind. Die bereits zur Verfügung stehenden Mittel dafür, das Leben für längere Zeiträume aufrechtzuerhalten – zwar nicht unendlich lange, aber viel länger, als es in vielen Fällen vernünftig oder wünschenswert ist –, haben dazu geführt, dass der Tod so verspätet eintritt, dass er weniger als unvermeidbar zu sein scheint. Sie haben dazu geführt, dass der Tod, wenn er endlich eintritt, als ein Segen erscheint. Denn wir verfügen heutzutage über medizinische »Behandlungsmaßnahmen« (d. h.: Eingriffe), die nicht bestimmte Krankheiten behandeln (im Sinne von heilen oder lindern); stattdessen dienen sie allein dazu, Menschen durch die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen am Leben zu erhalten. Das bekannteste und berüchtigtste unter diesen Geräten ist die Herz-Lungen-Maschine. Andere Beispiele sind die einfachen, doch nichtsdestoweniger technischen Instrumente für die künstliche Ernährung und das Dialysegerät, mit dessen Hilfe Schadstoffe aus den Nieren entsorgt werden. Und in Zukunft wird es sicherlich das künstliche Herz geben. Diese Geräte, deren Benutzung durch eine aggressive Politik der Gesundheitsinstitutionen unterstützt wird, ermöglichen es, Menschen selbst dann am Leben zu erhalten, wenn sie sich im Koma befinden, und zwar in vielen Fällen jahrzehntelang. Im Rahmen der heutigen öffentlichen Debatten bezieht sich der Ausdruck »Recht zu sterben« oft auf das Recht, solche lebenserhaltenden Maßnahmen abzulehnen – und der Begriff wird sicherlich mit der Absicht gebraucht, genau diese Fälle einzubeziehen. Doch gewöhnlich schließt das »Recht zu sterben« noch mehr ein. Durch die Mehrdeutigkeit des Begriffs wird der Unterschied verwischt, der im Hinblick auf den Inhalt und die Absicht zwischen dem in der Rechtsprechung bereits allgemein anerkannten Recht, eine Operation oder andere unerwünschte medizinische Maßnahmen sowie die Einweisung ins Krankenhaus abzulehnen, und dem vermeintlichen neuen »Recht zu sterben« besteht. Das Erstere erlaubt die Ablehnung einer Behandlung, und sei es auch mittels der Herz175 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Lungen-Maschine, selbst wenn diese Entscheidung mit der Akzeptanz eines erhöhten Risikos zu sterben verbunden ist. Letztes erlaubt die Ablehnung einer Behandlung, wie z. B. einer Nierendialyse oder einer künstlichen Ernährung, die dazu führen wird, dass der Tod eintreten wird. Bei Ersterem scheint es eher darum zu gehen, den Patienten die Möglichkeit zu geben, selbst darüber zu entscheiden, wie sie leben, während sie sterben; bei Letzterem steht hingegen die Entscheidung für den Tod im Mittelpunkt. In dieser Hinsicht ist der Begriff »Recht zu sterben« nicht irreführend. Er ist es umso weniger, wenn wir berücksichtigen, dass einige von denen, die dieses Recht einfordern, sich nicht nur für die Möglichkeit des Behandlungsabbruchs einsetzen, sondern für das Recht, Unterstützung bei der Herbeiführung des eigenen Todes zu erhalten. In diesem Fall umfasst das Recht zu sterben das (Anspruchs-)Recht auf eine tödliche Injektion oder eine Überdosis an Medikamenten, die wahlweise vom Patienten selbst eingenommen oder vom Arzt oder jemand anderem verabreicht wird. Dieses Recht zu sterben sollte besser als Recht auf Beihilfe zum Suizid oder als Recht auf Tötung auf Verlangen bezeichnet werden – kurz: als das Recht auf die Herbeiführung des Todes, falls nötig auch mit Unterstützung. Offenkundig erinnert dieser Anspruch stark an die Forderung nach einem Recht auf Selbsttötung, wobei der Suizid in keinem Zusammenhang mit den Problemen des Sterbens oder der medizinischen Technologie stehen muss. Tatsächlich behaupten einige Autoren, dass das »Recht«, durch Sterbehilfe oder ärztliche Beihilfe zum Suizid »zu sterben«, nicht auf dem Recht beruht, eine medizinische Behandlung abzulehnen, sondern auf dem vermeintlichen Recht, sich zu töten. (Der Suizid ist heutzutage in fast allen Staaten straffrei.) Es scheint jedoch ein himmelweiter Unterschied zu bestehen zwischen der Hinnahme des Todes (wenn die Zeit gekommen ist) und der Selbsttötung (zur rechten Zeit oder zur Unzeit) oder zwischen dem Zulassen und der Herbeiführung des Todes. Diese Grenze wird jedoch unscharf, sobald das angebliche Recht, die künstliche Ernährung abzulehnen, einbezogen wird. Obwohl nur wenige Verfechter des Rechts zu sterben mit der Idee in Verbindung gebracht werden möchten, dass sie den Suizid als solchen verteidigen (der trotz der Aufhebung seiner Strafbarkeit noch immer einen schlechten Ruf hat), unterstellen sie doch dessen Zulässigkeit und gehen sogar noch einen Schritt darüber hinaus. Sie behaupten nicht nur, dass es ein Recht darauf gibt, den Versuch der Selbsttötung zu unternehmen, sondern 176 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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auch darauf, dass der Versuch gelingt. Dies bedeutet aber in der Praxis ein Recht auf die tödliche Unterstützung durch andere. Es ist daher sicherlich angemessen, das »Recht zu sterben« im radikalsten Sinne aufzufassen, nämlich als das Recht darauf, zu einem Toten zu werden oder gemacht zu werden, mit welchen Mitteln auch immer. Mit dieser Art der Darstellung des »Rechts zu sterben« werden sicherlich diejenigen nicht einverstanden sein, die das Recht zu sterben weniger als eine Entscheidung über Leben und Tod ansehen denn als Ausdruck der Selbstbestimmung oder der Würde. Für sie bedeutet das Recht zu sterben das Recht, trotz einer Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten weiterhin die Kontrolle über das eigene Schicksal auszuüben. Gemäß einer gängigen Formulierung bedeutet es nicht das Recht darauf, tot zu sein, sondern darauf, über die Art, den Zeitpunkt und die Umstände des eigenen Todes selbst zu bestimmen, oder das Recht darauf, selbst darüber zu entscheiden, was man als die menschlichste oder würdigste Art und Weise der Beendigung des Lebens betrachtet. In diesem Zusammenhang ist mit dem Recht zu sterben entweder das Recht auf Selbstbestimmung oder das Recht auf ein Sterben in Würde gemeint – diese Ansprüche würden andere mindestens dazu verpflichten, nicht einzugreifen; häufig werden sie aber so verstanden, dass sie andere auch dazu verpflichten, »die Ausübung der Selbstbestimmung zu unterstützen« oder »einen würdevollen Tod« dadurch zu ermöglichen, dass diese sich an der geplanten Herbeiführung des Todes beteiligen. Letztlich laufen diese an sich billigen und von einer edlen Gesinnung getragenen Forderungen nach Autonomie und Würde in den meisten Fällen darauf hinaus, dass sie auch das Recht einschließen, zu einem Toten zu werden, falls nötig, mit Unterstützung durch andere. Die Analyse des gegenwärtigen Sprachgebrauchs zeigt, warum man in Bezug auf die Bedeutung des Ausdrucks »Recht zu sterben« mit gutem Grund verwirrt sein kann. So wie dieser Ausdruck heutzutage in öffentlichen Debatten verwendet wird, vermengt er alle bereits erwähnten Bedeutungen: das Recht, eine Behandlung selbst dann abzulehnen, wenn dies den Tod zur Folge hat; das Recht, getötet zu werden oder zu einem Toten zu werden; das Recht auf ein Sterben in Würde und schließlich das Recht auf Unterstützung bei der Herbeiführung des Todes. Teilweise ist diese semantische Verwirrung dem Ausdruck selbst geschuldet; teilweise leisten ihr die Befürworter all dieser Rechte aber auch absichtlich Vorschub, weil sie hoffen, durch die Vermengung der extremeren Ansprüche mit den schwäche177 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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ren Zustimmung für Erstere zu gewinnen. Unter anderem aus diesem Grund tun wir jedoch gut daran, das »Recht zu sterben« in seiner stärksten Ausprägung zu betrachten – und das werde ich in diesem Essay tun –, nämlich als das Recht, ein Toter zu werden, und zwar durch aktive Maßnahmen und, wenn nötig, mit der Unterstützung durch andere. Auf diese Weise werden wir die Neuartigkeit und Verwegenheit dieses Anspruchs ernst nehmen und werden ihnen gerecht, eines Anspruchs, der sowohl über die im Recht bereits anerkannte Möglichkeit, eine unerwünschte medizinische Behandlung abzulehnen, als auch über das sogenannte Recht, sich allein zu töten, hinausgeht. (Das erste Recht ist unbestreitbar; über das zweite ließe sich streiten, es soll in diesem Essay jedoch nicht in Frage gestellt werden. Was uns hier beschäftigen soll, sind die Aspekte des »Rechts zu sterben«, die über das Recht, sich zu töten und eine Behandlung abzulehnen, hinausgehen.) Nachdem wir versucht haben, die Bedeutung des Ausdrucks »Recht zu sterben« zu klären, sehen wir uns nun der noch größeren Verwirrung in Bezug darauf gegenüber, wem dieses vermeintliche Recht zukommt. Sind es nur diejenigen, die »nachweislich« tödlich erkrankt sind und deren Sterbeprozess bereits unumkehrbar ist, sei es nun mit oder ohne medizinische Behandlung? Oder zählen auch diejenigen dazu, die, obwohl sie zweifellos noch nicht sterben, unheilbar krank oder schwerbehindert sind? Kommt jeder für dieses Recht in Frage unabhängig davon, ob er geistig zurechnungsfähig oder unzurechnungsfähig ist? Hat eine senile Person das »Recht zu sterben«, wenn sie außerstande ist, es für sich selbst einzufordern? Muss ich, um dieses Recht zu besitzen, imstande sein, es einzufordern und ihm gemäß zu handeln, oder ist es möglich, andere damit zu beauftragen, mein Recht zu sterben stellvertretend für mich auszuüben? Wenn das Recht zu sterben im Wesentlichen als Ausdruck meiner Selbstbestimmung verstanden wird, wie kann es dann irgendein anderer für mich ausüben? Ebenso verwirrend ist die Frage, an wen oder was die Forderung nach einem Recht zu sterben gerichtet ist. Handelt es sich um ein Abwehrrecht, das sich in erster Linie gegen jene übereifrigen Menschen richtet, die sich in meine Angelegenheiten einmischen und mich am Sterben hindern wollen – also gegen jene Ärzte, Krankenschwestern, Krankenhäuser, Vereine für den Schutz des Rechts auf Leben und Bezirksstaatsanwälte, die mir entweder durch ihre Eingriffe die Fähigkeit zu sterben nehmen (durch die Einweisung ins Kran178 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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kenhaus und den Einsatz medizinischer Geräte) oder es mir unmöglich machen, bei der Beendigung meines Lebens Hilfe in Anspruch zu nehmen (durch rechtliche Sanktionen für die Beihilfe zum Suizid)? Wenn es ein Recht darauf ist, ein Toter zu werden, ist es dann nicht zugleich ein Anspruchsrecht gegenüber denjenigen, die den Sterbewilligen noch keine Hilfe leisten – ein Recht auf die Bereitstellung des tödlichen Giftes, das ich einnehmen darf? (Man vergleiche das Abwehrrecht auf Abtreibung – sie darf vorgenommen werden – mit dem Anspruchsrecht auf Schwangerschaftsabbruch, dem Anspruch darauf, dass sie vorgenommen wird.) Oder handelt es sich letztlich um eine Forderung, die gegenüber der Natur geltend gemacht wird, die es nicht gut mit mir meint, weil sie mich am Leben erhält, obwohl ich das nicht mehr wünsche und es meiner Würde nicht gerecht wird und da ich leider nicht an einer tödlichen Krankheit leide oder zu senil oder zu schwach bin, um die Angelegenheit selbst zu regeln? Ich bin davon überzeugt, dass es sich bei den radikalsten Formulierungen des Rechts zu sterben, sei es in der Form des »Rechts, ein Toter zu werden«, oder des »Rechts, mein Schicksal selbst in der Hand zu haben«, um die Anklage des menschlichen Stolzes gegen das handelt, was wir aufgrund der tyrannischen Tendenzen in uns selbst als »gegen uns gerichtete kosmische Ungerechtigkeit« ansehen. Hier fordern die Unglückseligen das Recht darauf ein, nicht unglückselig zu sein; diejenigen, die sterben wollen, aber nicht können, fordern das Recht zu sterben ein, aus dem, wie es Harvey Mansfield formuliert hat, ein Schadensersatzanspruch gegenüber der Natur wird. Somit kommt denjenigen, mit denen es das Schicksal gut gemeint hat, die Aufgabe zu, diejenigen, die von der Natur schlecht behandelt worden sind, dadurch zu entschädigen, dass sie deren Tod herbeiführen. Gemäß dieser Logik würde aus einer Handlungsweise, die noch gestern als ein Verbrechen gegen die Menschheit galt, eine Pflicht werden, die nicht nur auf mitfühlender Wohltätigkeit, sondern auf den Forderungen der ausgleichenden Gerechtigkeit beruhen würde!

Warum wird behauptet, dass es ein Recht zu sterben gibt? Bevor ich mich der schwierigeren Frage nach der Existenz und dem Geltungsgrund des »Rechts zu sterben« zuwende, erscheint es mir nützlich, in aller Kürze auf das Problem einzugehen, warum und

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von wem behauptet wird, dass es dieses Recht gibt. Einige der Gründe dafür sind bereits im Vorbeigehen erwähnt worden: • Furcht vor der Verlängerung des Sterbens aufgrund medizinscher Eingriffe; daher das Recht, eine Behandlung oder die Einweisung ins Krankenhaus abzulehnen, selbst wenn diese Ablehnung zum Tod führt; • Furcht davor, zu lange zu leben, ohne dass man durch eine tödliche Krankheit erlöst würde; daher das Recht auf Selbsttötung; • Furcht vor den Erniedrigungen, die mit der Senilität und der Abhängigkeit von anderen einhergehen; daher das Recht, in Würde zu sterben; • Furcht davor, die Kontrolle über das eigene Leben zu verlieren; daher das Recht, den Zeitpunkt und die Art des eigenen Todes selbst festzulegen. Ebenso wichtig ist für viele Menschen die Furcht davor, eine finanzielle, seelische oder soziale Last für andere zu werden. Nur wenige Eltern, wie sehr sie auch darauf aus oder willens sein mögen, am Leben zu bleiben, erfreut die Aussicht, dass sie dadurch die Aussichten ihrer Kinder und Enkel, glücklich zu werden, zerstören könnten. Was mich betrifft, so besteht die größte Versuchung, in Bezug auf die Sterbehilfe schwach zu werden, genau in diesem Punkt: Ich muss gestehen, dass ich eine starke Versuchung fühle, mich selbst aus dem Leben zu schaffen, um meinen Kindern die Qualen zu ersparen, die ihnen daraus erwachsen würden, dass sie jahrelang mein dementes Selbst betreuen müssten, und aufgrund der furchtbaren Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommen wird, dass sie, obwohl sie sich dafür hassen werden, die Tatsache bedauern werden, dass ich noch lebe. Überlegungen dieser Art, die für den Tod sprechen, könnten mich sogar zu der Überzeugung führen, dass ich eine Pflicht zu sterben habe – sie begründen für mich jedoch kein Recht zu sterben. 1 Wenn meine »Großzügigkeit« Erfolg haben sollte, müsste ich mich selbstverständlich ohne Hilfe anderer töten und ohne, dass es durch irgendwen entdeckt würde – d. h.: lange, bevor ich dement werde. Ich würde nicht wollen, dass meine Kinder glauben, dass ich den Verdacht hatte, sie wären außerstande, mich auch noch während meines unvermeidbaren Verfalls zu lieben. Es gibt noch einen anderen, stärkeren Grund dafür, dieser Versuchung zu widerstehen: Ist mein Versuch, die Welt so einzurichten, dass meine Kinder von den üblichen intergenerationellen Erfahrungen, Bindungen, Verpflichtungen und Lasten befreit werden, nicht auf geradezu unvernünftige Weise paternalistisch? Auf welches Prinzip des Familienlebens stütze ich mich, wenn ich »altruistischen Suizid« begehe?

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Aber die Befürworter des Rechts zu sterben sind nicht immer so wohlwollend. Im Gegenteil: Hier ist oft Unehrlichkeit und der Wunsch, Schaden anzurichten, im Spiel. Viele Menschen haben erkannt, dass es vorteilhaft ist, die Sprache der individuellen Rechte zu gebrauchen, die freiwilliges Handeln einschließt, um die öffentliche Meinung mit Bezug auf Leben und Tod so zu lenken, dass die Akzeptanz der Beendigung »nutzlosen« Lebens vorbereitet wird. 2 Viele, die sich für das Recht zu sterben einsetzen, wollen dabei nicht nur, dass Menschen dieses Recht bloß besitzen, sondern dass sie es umgehend in die Tat umsetzen, damit dadurch die steigenden sozio-ökonomischen Kosten für die Pflege unheilbar Kranker und Sterbender gesenkt werden. Tatsächlich sind die meisten von denen, die sich heute für das »Recht zu sterben« einsetzen, selbst weder krank noch im Sterben begriffen. Nicht weil sie selbst krank wären, wollen bestimmte Menschen unsere mit Mühe errungene, lebensbejahende Moral ändern: Kinder, die der Meinung sind, dass ihre Eltern nicht schnell genug sterben; Krankenhausleiter und Gesundheitsökonomen, denen daran gelegen ist, Kosten zu senken und die Verschwendung finanzieller Mittel zu verhindern; Ärzte, die angewidert davon sind, dass sie sich um unheilbar Kranke kümmern müssen; Menschen mit eugenischen oder ästhetischen Interessen, die sich von der Aussicht auf eine Gesellschaft abgestoßen fühlen, in der die jungen und starken Menschen enorm viel Energie dafür aufwenden müssen, nahezu Tote am Leben zu erhalten. Sie sind jedoch entweder zu verschämt oder zu gerissen dafür, ihre wahren Absichten zu verkünden. Viel besser ist es doch, öffentlich ein Recht zu sterben einzufordern und Menschen aufzufordern, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Diese Befürworter des Rechts zu sterben haben nur zu gut verstanden, dass es das Mei-

Hier ist ein neueres Beispiel von einem Soziologieprofessor, der meiner Verurteilung von Derek Humphrys Buch Final Exit widersprochen hat: »Lehnt Kass den Suizid ausnahmslos ab? Hätte er versucht, Hitler davon abzuhalten? Würde er die Selbsttötung Pol Pots missbilligen? […] Falls wir den Suizid bestimmter Menschen unter sehr besonderen Umständen begrüßten, sollten wir dann das Leben von Menschen verlängern, die ein nutzloses, menschenunwürdiges oder entmenschlichtes Leben geführt haben, oder von Menschen, welche diese Erniedrigungen anderen zugefügt haben, oder von wieder anderen Menschen, die früher gern lebten, die jedoch durch eine unheilbare Krankheit zur Nutzlosigkeit und zum Verlust ihrer Würde verurteilt worden sind?« (Leserbrief v. Philip G. Groth, in: Commentary 93 [1992], no. 5, May 1992, S. 12)

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nungsklima, das gegenwärtig in Amerika herrscht, notwendig macht, von Rechten zu sprechen, wenn man sich Gehör verschaffen will. Zum Vergleich betrachte man nur einmal, wie Argumente für das Recht auf Abtreibung auf die gleiche Art und Weise von Organisationen gebraucht werden, die hoffen, dadurch Frauen – vor allem arme, unverheiratete und nicht weiße Frauen – dazu zu bringen, ihr »Recht, selbst zu entscheiden«, auszuüben, d. h. ihre vermeintliche Pflicht zu erfüllen, zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums und der unteren Klassen beizutragen. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass alle Gründe, die für das »Recht zu sterben« vorgebracht werden, verdächtig sind. Außerdem will ich keineswegs suggerieren, dass es niemals richtig oder gut für einen Menschen sein könnte, sich für den Tod zu entscheiden. Es könnte aber eine gefährliche Torheit sein, in Bezug auf so schwierige Fragen auf die hier dringend erforderliche Klugheit zu verzichten und stattdessen ein verworrenes und gleichwohl als absolut gesetztes »Recht zu sterben« einzufordern, vor allem im Hinblick darauf, dass einige Befürworter dieses Rechts verschiedenartige Motive für ihre Forderung haben und gefährliche Zwecke mit ihr verbinden. Man muss sagen, dass unser Drang, Fragen nach dem Richtigen und dem Guten in Fragen nach individuellen Rechten umzuwandeln, zu einer Verarmung der öffentlichen Debatten über moralische Fragen in den Vereinigten Staaten führt. Teilweise handelt es sich hierbei um das Erbe des modernen Liberalismus, also derjenigen politischen Philosophie, auf welcher der Geist der Amerikanischen Republik vor allem beruht. Diese Tendenz wird jedoch durch den uns Amerikanern eigenen Drang zur Selbstbehauptung und zum Individualismus verstärkt, und zwar in steigendem Maße in einer Zeit, in der die Familie und andere vermittelnde Institutionen im Abstieg begriffen sind und das nackte Individuum dem bürokratischen Staat Auge in Auge gegenübersteht. Die Rhetorik der Rechte erhielt einen enormen Schub durch den moralischen Absolutismus der 1960er Jahre und insbesondere durch die Entdeckung, dass der nicht verhandelbare und verabsolutierte Charakter, der allen Forderungen nach Rechten eigen ist, den wirksamsten Rammbock im Kampf mit dem Status quo darstellt. Offensichtlich spielt es dabei keine Rolle, dass diese Rhetorik Ressentiments schürt und Hassgefühle nährt, dass sie die Folgen für die Gesellschaft ausklammert und einen politischen Prozess umgeht, der für eine ausgewogene Betrachtung des Gemeinwohls zugänglicher 182 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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wäre. All dies spielt offensichtlich keine Rolle: Ziehen Sie vor Gericht und fordern Sie ihre Rechte ein. Und die Gerichte sind bisher allzu sehr bereit gewesen, dieser Forderung nachzukommen und dabei, falls nötig, neue Rechte zu finden oder zu erfinden. Diese soziokulturellen Veränderungen, die an sich nichts mit Tod und Sterben zu tun haben, sind sicherlich ein Grund dafür, dass wir nun mit lautstarken Forderungen nach einem Recht zu sterben konfrontiert sind. Diese Veränderungen sind auch ein Grund dafür, dass der Begriff des Rechts zu sterben ungeachtet der mit ihm verbundenen notorischen Schwierigkeiten der wichtigste moralische Begriff ist, der herangezogen wird, wenn man sich den ausgesprochen komplizierten und heiklen menschlichen Problemen am Ende des Lebens zuwendet. Allerdings können die Gründe, die für die Forderung nach dem Recht zu sterben angeführt werden, auch wenn sie fragwürdig erscheinen mögen, die Frage nach der Wahrheit der Behauptung, dass es ein Recht zu sterben gibt, nicht entscheiden. Dieser Frage wenden wir uns nun endlich zu. Lassen Sie uns prüfen, ob man im philosophischen oder rechtlichen Sinne wirklich von einem Recht zu sterben sprechen kann.

Gibt es ein Recht zu sterben? Philosophisch gesehen, ist es sinnvoll, dass wir uns an den großen Denkern der Moderne orientieren, welche die Begründer und zugleich die umsichtigsten Vertreter unserer auf der Annahme von Rechten beruhenden Denkweise sind. Vor allem darf man davon ausgehen, dass sie den Zweck, das Wesen, die Grundlage und die Grenzen der Behauptung, dass es Rechte gibt, verstanden haben. Wenn behauptet wird, dass es ein neues Recht gibt, wie etwa das Recht zu sterben, und dieses nicht durch Rekurs auf die natürlichen oder rationalen Grundlagen gerechtfertigt werden kann, die von diesen Denkern angeführt wurden, dann liegt die Beweislast bei denjenigen, die sich für das neuartige Recht einsetzen; sie müssen dann eine neue und ebenso solide Grundlage schaffen, um ihre Forderung nach einem neuartigen Recht zu stützen. Wenn wir am Anfang beginnen, nämlich bei den großen philosophischen Naturrechtslehrern, dann ist schon der Begriff des Rechts zu sterben unsinnig. Wie wir von Hobbes und von John Locke lernen können, setzen alle Rechte, die dem Menschen von der Natur 183 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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verliehen wurden, voraus, dass wir aus Eigeninteresse an unserem eigenen Leben hängen. Alle natürlichen Rechte lassen sich auf das primäre Recht auf Leben oder besser: das Recht auf Selbsterhaltung zurückführen. Dieses Recht ist seinerseits in den mächtigen Impulsen und Leidenschaften der Selbstliebe, die nach unserer Erhaltung streben, verwurzelt. Das Recht auf Selbsterhaltung ist in erster Linie gegen tödliche, unterdrückerische Staaten gerichtet oder gegen jene Menschen, die beharrlich behaupten, dass die Moral von mir verlange, auch noch die andere Wange hinzuhalten, wenn mein Leben bedroht ist. Mansfield hat die klassische Auffassung auf elegante Weise zusammengefasst: Rechte werden den Menschen von der Natur verliehen, sie werden aber auch benötigt, weil die Menschen auch der Unbedachtsamkeit der Natur unterworfen sind. Weil das Leben gefährdet ist, müssen Menschen das Recht auf Leben haben sowie das Recht auf die Freiheit, durch welche das Leben beschützt wird, und das Recht darauf, nach Glück zu streben, mit dem ein Leben oder zumindest ein Leben in Unsicherheit ausgefüllt ist. In der Praxis wird das Streben nach Glück im Streben nach Eigentum bestehen, denn, obwohl Eigentum weniger wertvoll ist als das Leben oder die Freiheit, dient es als Schutz für sie. Abgesehen von den mit Reichtum verbundenen Freuden, zeigt die gesicherte Verfügung über Eigentum an, dass man sich im Besitz der gesicherten Freiheit befindet, die einen gegen Eingriffe vonseiten der Regierung oder vonseiten anderer Menschen schützt; und gesicherte Freiheit ist das beste Anzeichen für ein gesichertes Leben. 3

Weil der Tod, meine Vernichtung, dasjenige Übel ist, dessen Vermeidung die Bedingung für alle Güter ist, über die ich verfügen kann, wie immer diese beschaffen sein mögen, ist mein Recht, mein eigenes Leben gegen den Tod zu sichern – d. h.: meine rechtmäßige Freiheit, für meine Selbsterhaltung zu sorgen –, das Fundament aller anderen Rechte und der Moral, sofern diese politisch relevant ist. Sogar Hans Jonas erkennt in seinem Plädoyer für das »Recht zu sterben« an, dass das Recht auf Selbsterhaltung eine Sonderstellung hat, und räumt ein, dass »jedes andere Recht, für das jemals argumentiert wurde, das beansprucht, garantiert oder bestritten wurde, als eine Erweiterung dieses primären Rechts [auf Leben] angesehen werden kann, weil jedes einzelne Recht die Ausübung einer Fähigkeit des Lebens Harvey C. Mansfield, Jr.: »Responsibility versus Self-Expression«, in: Robert A. Licht (Hg.), Old Rights and New, Washington, D.C. 1993, S. 96–111.

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und die Befriedigung einer Bestrebung des Lebens betrifft« 4. Es ist offensichtlich, dass man auf diesen Fels nicht irgendein Recht, zu sterben oder ein Toter zu werden, gründen kann. Das Leben liebt es zu leben, und dabei benötigt es jede Hilfe, die es bekommen kann. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich diese Denker der frühen Neuzeit nicht der Tatsache bewusst waren, dass Menschen lebensmüde werden oder ihr Leben als eine Last empfinden können. In ihren Augen konnte jedoch das Abnehmen des Lebenswillens das Recht auf Leben weder verdrängen noch null und nichtig machen und noch viel weniger zur Forderung eines neuen Rechts, nämlich des Rechts zu sterben führen. Denn das Recht auf Leben hängt von der Natur, nicht vom Willen ab. Deutlich wird dies etwa dort, wo Locke bei der Diskussion des Naturzustands ein vermeintliches natürliches Recht auf Selbsttötung erörtert und verwirft: Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit ist, so ist es doch kein Zustand der Zügellosigkeit. Der Mensch hat in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen; er hat hingegen nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweck als seine bloße Erhaltung erfordert. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. 5

Man muss zugestehen, dass die Argumentation an dieser Stelle eine Wendung zum Theologischen nimmt – es wird behauptet, dass wir das Eigentum unseres weisen Schöpfers sind. Das Argument gegen das Recht, »seinen Posten zu verlassen«, scheint für Locke jedoch nur eine logische Implikation der natürlichen Neigung zur Selbsterhaltung und des Rechts auf Selbsterhaltung zu sein. Manche Autoren vertreten die – meiner Meinung nach falsche – These, dass Lockes Theorie des Eigentums auf dem Grundsatz des Eigentums an sich selbst beruht, welches dann dafür benutzt werden kann, die Selbstzerstörung zu rechtfertigen: Da ich Eigentümer mei4 Hans Jonas: »The Right to Die«, Hastings Center Report 8 (1978), Heft 4, S. 31–36, hier S. 31. 5 John Locke: »Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung« [bekannt als Zweite Abhandlung über die Regierung], in: ders., Zwei Abhandlungen über die Regierung, hg. u. eingel. v. Walter Euchner, Frankfurt am Main1977, S. 200–354, hier: 2. Kap., § 6, S. 203.

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nes Körpers und meines Lebens bin, kann ich über sie nach Belieben verfügen. Da dieses Argument recht verbreitet ist, lohnt es sich, es etwas genauer zu betrachten. Tatsächlich findet sich bei Locke eine Aussage, die dem ersten Anschein nach die Annahme des Eigentums an sich selbst stützt: Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. 6

Die Reichweite dieser Behauptung wird jedoch durch den Kontext bestimmt und begrenzt. Im Unterschied zum Recht auf die Früchte seiner Arbeit ist das Recht, das ein Mensch auf sich als Person hat, unveräußerlich: Ein Mensch darf den Rechtsanspruch auf sich selbst nicht dadurch veräußern, dass er sich in die Sklaverei verkauft. Die Rede vom »Eigentum an der eigenen Person« ist weniger als eine metaphysische Behauptung über das Eigentum an sich selbst zu verstehen denn als die politische Behauptung, dass niemand das Recht auf Eigentum an einem anderen hat. Durch dieses Recht wird jeder einzelne Mensch aus der Menge der Güter ausgenommen, die allen Menschen für die Aneignung und Nutzung zur Verfügung stehen. Mein Körper und mein Leben sind nur in dem begrenzten Sinne mein Eigentum, dass sie nicht Ihnen gehören. Sie unterscheiden sich von meinem veräußerlichen Eigentum – meinem Haus, meinem Auto, meinen Schuhen. Während es mir freisteht, meinen Körper und mein Leben zu benutzen, darf ich nicht über sie verfügen. Im eigentlichen Sinne gehört mein Körper niemandem, nicht einmal mir selbst. 7

Ebd., 5. Kap., § 27, S. 216. An einer späteren Stelle, an der Locke die Reichweite der gesetzgebenden Gewalt erörtert, spricht er der Legislative, obwohl sie in jedem Staat die höchste Gewalt sein soll, das Recht, willkürlich über die Einzelnen zu verfügen, und insbesondere das Recht, ihr Leben zu zerstören, ab: »Denn niemand vermag einem anderen eine größere Gewalt zu übertragen, als er selbst besitzt, und niemand hat eine absolute, willkürliche Gewalt über sich selbst oder irgendeinen anderen Menschen, sein eigenes Leben zu vernichten oder einem anderen sein Leben oder sein Eigentum zu nehmen.« (Ebd., 10. Kap, § 135, S. 284) Weil sich die Befugnisse des Staates von den Befugnissen der Menschen herleiten, folgt daraus, dass Personen nicht willkürlich über sich verfügen dürfen, dass auch das Recht des Staates, die einzelnen Personen zu töten, beschränkt werden muss.

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Gibt es ein Recht zu sterben?

Doch auch wenn man an der widervernünftigen Annahme festhält, dass der Mensch im strikten Sinn sich selbst gehört und über sich verfügen darf, lässt sich noch ein weiteres, entscheidendes Argument vorbringen. Durch das Eigentum an sich selbst kann man äußerstenfalls rechtfertigen, dass es erlaubt ist, den Versuch der Selbsttötung zu unternehmen; das Eigentum an sich selbst kann jedoch nicht das Recht auf eine erfolgreiche Selbsttötung begründen und ebenso wenig, was von größerer Bedeutung ist, das Recht auf die Unterstützung beim Suizid durch andere. Der designierte, potentielle Sterbehelfer hat weder eine natürliche Pflicht noch das natürliche Recht zu einem wirklichen Sterbehelfer zu werden, und der liberale Staat, der vor allem dazu eingerichtet wurde, das Leben zu schützen, kann ein solches Recht zu töten niemals billigen, selbst dann nicht, wenn die Tötung verlangt wird. Auf der Grundlage des klassischen Liberalismus lässt sich somit die Behauptung, es gebe ein Recht, ein Toter zu werden oder zu einem Toten gemacht zu werden, nicht aufrechterhalten. Auch spätere Denker aus der liberalen Traditionslinie einschließlich derer, welche die Freiheit höher als die Erhaltung des Lebens schätzten, lassen ein »Recht zu sterben« ebenfalls nicht zu. JeanJacques Rousseaus Klagen über die Missstände der bürgerlichen Gesellschaft richteten sich vor allem und am stärksten gegen die Bedrohungen für Leib und Leben, die von einer gesellschaftlichen Ordnung ausgingen, deren Aufgabe darin hätte bestehen sollen, Leib und Leben zu schützen. 8 Und Immanuel Kant, für den Rechte nicht auf der Natur, sondern auf der Vernunft gründen, behauptet, dass die selbst gewollte Handlung der Selbstzerstörung einfach selbstwidersprüchlich ist: Dass der Mensch sich selbst beleidigen könne, scheint ungereimt zu sein (volenti non fit iniuria). Daher sehe es der Stoiker für einen Vorzug seiner (des Weisen) Persönlichkeit an, beliebig aus dem Leben (als aus einem Zimmer das raucht), ungedrängt durch gegenwärtige oder besorgliche Übel, mit ruhiger Seele hinaus zu gehen, weil er in demselben zu nichts mehr nutzen könne. – Aber eben dieser Mut, diese Seelenstärke, den Tod nicht zu fürchten und etwas zu kennen, was der Mensch noch höher schätzen kann, als sein Leben, hätte ihm ein um noch so viel größerer Bewegungsgrund sein

8 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Stuttgart 1998, Rousseaus Anm. (i), S. 124– 134, v. a. den dritten und vierten Absatz, S. 127 f.

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müssen, sich, ein Wesen von so großer, über die stärkste sinnliche Triebfedern gewalthabenden Obermacht, nicht zu zerstören, mithin sich des Lebens nicht zu berauben. Der Persönlichkeit kann der Mensch sich nicht entäußern, so lange von Pflichten die Rede ist, folglich so lange er lebt, und es ist ein Widerspruch, die Befugnis zu haben, sich aller Verbindlichkeit zu entziehen, d. i. frei so zu handeln, als ob es zu dieser Handlung gar keiner Befugnis bedürfte. Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war. 9

Es liegt eine große Ironie darin, dass ausgerechnet »Autonomie«, der moralische Begriff, den die Welt vor allem Kant verdankt, heutzutage als Grund für die Rechtfertigung eines Rechts zu sterben angeführt wird. Für Kant erfordert die Autonomie, bei der es sich im wörtlichen Sinne um eine Selbst-Gesetzgebung handelt, dass man in Übereinstimmung mit seinem wahren Selbst handelt – d. h.: in Übereinstimmung mit seinem vernünftigen Willen, der durch eine verallgemeinerbare, d. h. vernünftige Maxime bestimmt wird. Autonom zu sein bedeutet, dass man nicht Sklave seiner Instinkte, Impulse oder Launen ist, sondern dass man so handelt, wie man als ein vernünftiges Wesen handeln soll. Heute jedoch hat der Begriff »Autonomie« die Bedeutung »tu, was dir gefällt«, angenommen, sodass er mit Zügellosigkeit nicht weniger vereinbar ist als mit Selbstbeherrschung. Hierin erkennt man deutlich den Triumph des nietzscheanischen Selbstes, welches die Vernunft für genauso versklavend hält wie den blinden Instinkt und sein wahres »Selbst« eher in unbedingten Akten eines rein schöpferischen Willens findet. Allerdings kann »Autonomie« nicht einmal dann, wenn man ihre voluntaristische moderne Deutung zugrunde legt, ein Recht zu sterben begründen. Erstens kann man auf dieser Grundlage nicht das Recht darauf, beim Suizid Hilfe von jemand anderem in Anspruch zu nehmen, begründen. Dieses vermeintliche Recht würde übrigens einem anderen eine Verpflichtung auferlegen und somit seine Autonomie beschränken. Zweitens könnte meine Autonomie selbst dann

9 Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (Zweiter Teil der Metaphysik der Sitten), § 6, A 72 f.

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nicht sein Recht, mich zu töten, begründen, wenn meine Entscheidung zu sterben »vernünftig« wäre und der von mir ausgewählte Helfer mich aus freien Stücken unterstützen würde. Deshalb kann die so verstandene Autonomie auch nicht das Recht darauf begründen, zu einem Toten zu werden. Drittens kann man durch Rekurs auf ein Abwehrrecht auf Hilfe zum Sterben (d. h.: ein Recht darauf, dass andere die Ausführung der Handlung nicht behindern) äußerstenfalls die ärztliche Suizidbeihilfe oder Sterbehilfe für Menschen, die zurechnungsfähig und bei Bewusstsein sind, rechtfertigen – aufgrund dieser Beschränkung dürfte nicht der Tod von unzurechnungsfähigen oder komatösen Patienten herbeigeführt werden, sofern diese keine ausdrücklichen Anweisungen im Hinblick auf ihre medizinische Behandlung hinterlassen haben. Nebenbei gesagt, wird über die Frage, ob solche Patientenverfügungen in jedem Fall befolgt werden müssen, in der Philosophie seit Langem diskutiert, da die Person, welche diese Verfügung vor langer Zeit verfasst hat, möglicherweise zu dem Zeitpunkt, zu dem die Verfügung relevant ist, nicht mehr »dieselbe Person« ist. Kann mein 53 Jahre altes Selbst wirklich schon heute festsetzen, was im besten Interesse meines 75 Jahre alten und senilen Selbstes sein wird? Im Unterschied zu Argumenten, die in der jüngeren Vergangenheit vor Gericht vorgebracht worden sind, bin ich der Meinung, dass die Behauptung selbstwidersprüchlich ist, ein Bevollmächtigter, der nicht vom Patienten selbst ausgewählt worden ist, könne dessen Recht auf Autonomie ausüben. Könnte ein Bürger ein Wahlrecht haben, das ohne die Möglichkeit, dies rückgängig zu machen, in seinem Namen und dem seiner Autonomie von der Regierung ausgeübt würde? 10 Schließlich ist auf Folgendes hinzuweisen: Wenn unsere Autonomie und Würde darin bestehen, dass wir von unseren Fähigkeiten, etwas zu wollen und zu entscheiden, Gebrauch machen, dann ist es zumindest paradox zu sagen, dass unsere Autonomie eine Handlung billigt, die dazu führt, dass unsere Autonomie endgültig nicht mehr ausgeübt werden kann.

Aus demselben Grund scheitert der Versuch, das Recht zu sterben auf das sogenannte Recht auf eine Privatsphäre zu gründen. Das Recht darauf, im privaten Raum ohne staatliche Eingriffe selbständige Urteile über den eigenen Körper zu fällen, kann nicht die Grundlage dafür bilden, dass ein anderer Mensch, sei er nun von dem Suizidalen bestimmt oder von der Regierung eingesetzt worden, dessen körperliches Leben beenden dürfte.

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Genau dieses Paradox wirkt auf das nietzscheanische Selbst, das der Träger so vieler »neuer Rechte« unseres Jahrhunderts ist, so anziehend. Wie Mansfield auf brillante Weise gezeigt hat, sind Nietzsche zufolge die kreativen Menschen weder durch die Normalität noch durch den gesunden Menschenverstand gebunden: Kreative Wesen haben offene Grenzen, und zwar de facto, nicht nur in Bezug auf ihre formalen Potentialitäten. Solche Wesen haben keine Interessen; denn wer könnte schon sagen, was im Interesse eines Wesens ist, das zu etwas bislang Unbekanntem wird? Deshalb ist die Menge der neuen Rechte durch den Verlust der Vorhersagbarkeit und der Normalität gekennzeichnet: Niemand weiß mehr, was er erwarten soll, nicht einmal von seinen engsten Gefährten. 11

Das authentischste sich selbst erschaffende Selbst schwelgt im Unvorhersagbaren, Extremen und Perversen. Es schreckt nicht einmal vor dem Selbstwiderspruch zurück. Im Gegenteil: Gerade in der Selbstverneinung kann es den Triumph seines Willens beweisen. Und auch wenn uns diese Entscheidung empören mag – wie könnte es uns zustehen, ihm diese Form der Selbstexpression zu versagen? Da wir in Bezug auf die Rechte anderer, ihre exzentrischen Neigungen auszuleben, äußerst tolerant sind, wenden wir den Blick ab und halten auch noch die andere moralische Wange hin. Hier stoßen wir schließlich auf die einzig mögliche philosophische Begründung eines Rechts zu sterben: den willkürlichen Willen, der durch den moralischen Relativismus gestützt wird – was so viel bedeutet wie, dass es sich überhaupt nicht um eine Begründung handelt.

Harvey C. Mansfield: »Responsibility versus Self-Expression«, a. a. O., S. 104. Durch die permanente Instabilität des »Selbst« wird die größte Stärke einer auf Rechten beruhenden Politik untergraben, denn diese weiß, wie sie die individuellen Rechte respektieren kann, genau deshalb, weil diese Rechte so verstanden werden, dass sie in einer uns allen gemeinsamen menschlichen Natur gründen, die verlässliche gemeinsame Interessen sowohl natürlicher als auch rationaler Art einschließt. Aufgrund seiner Veränderbarkeit bringt das sich selbst bestimmende Selbst auch alle Versuche in Schwierigkeiten, zeitlich vorausgehende Akte der Selbstbestimmung, wie im Fall eines Testaments, zu respektieren. Denn, wenn das »Selbst« tatsächlich in jedem Augenblick aufs Neue erschaffen wird, dann gibt es keinen guten Grund dafür, »seine« Anweisungen von gestern heute zu respektieren, da ja die beiden Selbste nicht dieselben sind.

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Gibt es ein juridisches Recht zu sterben? Solch seltsame philosophische Lehren, die innerhalb der Elite verbreitet sind, bahnen sich langsam ihren relativistischen Weg durch die breitere Kultur. In Amerika werden Rechte jedoch noch immer weitgehend durch das Recht definiert. Da die Gründervater der USA Rechte und die Rolle der Regierung mehr oder weniger so wie Locke verstanden, wäre es überraschend, wenn wir auf irgendeine konstitutionelle Grundlage eines Rechts zu sterben stoßen würden, sobald wir uns von der Politischen Philosophie und der Ethik dem amerikanischen Recht zuwenden. Bei der Durchsicht der ursprünglichen Verfassung von 1787 und der Bill of Rights finden nicht einmal die kreativsten Juristen irgendetwas, woran man ein solches Recht knüpfen könnte. Allerdings hat die berüchtigte Klausel des ordnungsgemäßen Verfahrens [due process clause], die im Vierzehnten Anhang zur Verfassung enthalten ist, gemäß ihrer zwar herrschenden, aber nichtsdestoweniger selbstwidersprüchlichen Interpretation als »inhaltlich bestimmten ordnungsgemäßen Verfahrens« einen solchen Anknüpfungspunkt bereitgestellt, wie sie es bereits bei so vielen anderen neuen Rechten getan hat, ungeachtet der Tatsache, dass in der Mehrzahl der Bundesstaaten zu dem Zeitpunkt, als der Vierzehnte Zusatz verabschiedet wurde, die Beihilfe zum Suizid rechtlich verboten war. In dem Fall, in dem der Streit um das »Recht zu sterben« bis hin zum Obersten Gerichtshof ausgetragen wurde, nämlich Cruzan by Cruzan v. Director, Missouri Department of Health (der durch ein Abstimmungsergebnis von fünf zu zwei im Juni 1990 entschieden wurde), wurde die Bedeutung des Vierzehnten Zusatzes im Zusammenhang mit einem solchen Recht gründlich geprüft. Dieser Fall hat möglicherweise den Weg für die Anerkennung eines verfassungsmäßig gewährten Schutzes am Ende des Lebens geebnet, zumindest für das Recht, lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen, damit der Tod eintreten kann. Die Eltern von Nancy Cruzan, einer komatösen, jungen Frau, die sich seit sieben Jahr im persistierenden vegetativen Zustand befunden hatte, beantragten die Entfernung der Magensonde für die künstliche Ernährung und die Entfernung des Schlauches für die Versorgung mit Wasser, damit Nancy sterben könne. Das zuständige Gericht entschied zugunsten der Eltern, aber der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates Missouri hob das Urteil auf. Nachdem die Cruzans Wider191 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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spruch gegen diese Aufhebung eingelegt hatten, nahm sich der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika des Falls an, um zu prüfen, »ob Cruzan gemäß der Verfassung der Vereinigten Staaten über das Recht verfügt, unter den gegebenen Umständen vom Krankenhaus die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen verlangen zu dürfen«. Auf den ersten Blick war das Urteil des Gerichtshofs im Fall Cruzan für die Befürworter des Rechts zu sterben enttäuschend, weil es die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Missouri aufrechterhielt: Dem Urteil zufolge war es dem Bundesstaat Missouri aufgrund seines Interesses an der Erhaltung menschlichen Lebens erlaubt, klare und überzeugende Indizien dafür zu verlangen, dass die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbare und somit unzurechnungsfähige Person tatsächlich die Einstellung der lebenserhaltenden Maßnahmen wünschte – Indizien, die im Falle von Nancy Cruzan fehlten. Allerdings wurde die Argumentation der Mehrheitsentscheidung des Gerichts weitgehend so verstanden, dass sie ein solches Recht für eine zurechnungsfähige Person eingeräumt hat – obwohl diese Interpretation sicherlich falsch ist, gibt es für sie einige Anhaltspunkte. Der Oberste Richter William Rehnquist, der im Namen der Mehrheit schrieb, vermied es in der Urteilsbegründung auf das Sorgsamste, irgendein »Recht zu sterben« zu erwähnen; außerdem hatte er die weise Entscheidung getroffen, die Frage nicht im Hinblick auf das sogenannte Recht auf eine Privatsphäre zu untersuchen. Stattdessen schloss er sich der früheren Rechtsprechung zum Vierzehnten Zusatz zur Verfassung an, und er stützte sich auf die Lehre, dass für jeden medizinischen Eingriff die informierte Zustimmung des Patienten erforderlich ist. Auf dieser Grundlage stellte er die Überlegung an, dass »der Grundsatz, dass eine zurechnungsfähige Person ein interessenbasiertes Recht darauf hat, eine unerwünschte medizinische Behandlung abzulehnen, aus unseren früheren Entscheidungen abgeleitet werden kann«. (Bei dem Ausdruck »interessenbasiertes Recht« [liberty interest] handelt es sich um einen Terminus technicus, der ein Recht bezeichnet, das durch den Grundsatz des ordnungsgemäßen Verfahrens weniger strikt geschützt wird als ein »Grundrecht«. Allgemein gesprochen, lassen sich Beschränkungen eines Grundrechts nur durch ein zwingendes Interesse des Staates rechtfertigen, während Beschränkungen eines interessenbasierten Rechts aufrechterhalten werden dürfen, sofern sie dessen Ausübung 192 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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nicht auf ungebührliche Weise erschweren.) Was jedoch die entscheidende Frage betrifft, ob das durch die Verfassung geschützte, interessenbasierte Recht, eine medizinische Behandlung abzulehnen, auch das Recht enthält, die lebensnotwendige Versorgung mit Nährstoffen und Flüssigkeit abzulehnen, so vermied Rehnquist geschickt eine klare Aussage: Die Kläger machen geltend, dass mit Bezug auf die allgemeinen Entscheidungen der hier herangezogenen Fälle die erzwungene Durchführung lebenserhaltender Maßnahmen und sogar der künstlichen Ernährung, die für das Leben wesentlich ist, im Zusammenhang mit den interessebasierten Rechten einer zurechnungsfähigen Person steht. Obwohl wir der Meinung sind, dass die Logik der oben diskutierten Fälle solch ein interessenbasiertes Recht einschließt, gehen wir davon aus, dass die dramatischen Folgen einer solchen Ablehnung der Behandlung [nämlich des Todes – L. K.] einen Einfluss auf die Behandlung der Frage haben sollten, ob es gemäß der Verfassung erlaubt sein kann, einem Patienten dieses interessenbasierte Recht vorzuenthalten. Im Rahmen dieses Falls nehmen wir jedoch an, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten einer zurechnungsfähigen Person das durch die Verfassung geschützte Recht gewährt, die lebenserhaltende Versorgung mit Flüssigkeit und Nahrung zu verweigern. (S. 2852 der Urteilsbegründung, Hervorh. v. mir – L. K.)

Da die Entscheidung im Fall Cruzan eine nicht zurechnungsfähige Person betraf, die außerstande war, »das hypothetische Recht, eine Behandlung abzulehnen, oder irgendein anderes Recht« auszuüben, hatte das Recht, welches Rehnquist einzuräumen bereit war, keinen Einfluss auf das Urteil. Der Oberste Richter hätte die Sache jedoch auch anders ausdrücken können. Er hätte Folgendes sagen können: »Unabhängig davon, ob eine zurechnungsfähige Person ein solches Recht hat, steht fest, dass Nancy Cruzan, da sie nicht zurechnungsfähig ist, es nicht hat.« Es stimmt, dass er es vermied, die Forderung der Kläger in seinem eigenen Namen zu akzeptieren. Stattdessen verwies er darauf, dass eine weitere Untersuchung nötig sei, um feststellen zu können, ob ein Bundesstaat im Rahmen der Verfassung einer zurechnungsfähigen Person das interessenbasierte Recht vorenthalten darf, sich durch die Ablehnung der künstlichen Ernährung für den Tod zu entscheiden. Er war jedoch bereit, im Rahmen dieses einen Falles ein durch die Verfassung geschütztes Recht darauf zu stipulieren, eine Behandlung abzulehnen, damit der Tod eintreten kann. (Man kann vermuten, dass er nicht »im Rahmen dieses Falles« meinte, sondern genauer gesagt, »um in diesem Fall eine Mehrheit auf 193 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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seine Seite zu ziehen«.) Mit Bezug auf diese Festlegung, allerdings unter Weglassung des Zusatzes »im Rahmen dieses Falles« vermeldeten viele Zeitungen und Nachrichtenmagazine, dass damit für zurechnungsfähige Personen ein verfassungsmäßiges Recht zu sterben geschaffen worden sei. Die Richterin Sandra Day O’Connor, von der man anscheinend angenommen hatte, dass nicht von vornherein feststand, wie sie stimmen würde, verfasste allein zu dem Zweck, darzulegen, warum das vermeintlich nur stipulierte Recht ein echtes Recht sei, eine abweichende Meinung. Aus ihren Ausführungen geht deutlich hervor, dass, wenn es in dem Fall um einen zurechnungsfähigen Patienten gegangen wäre, das Recht, sich durch die Ablehnung der künstlichen Ernährung für den Tod zu entscheiden, auf gerichtlichem Wege festgeschrieben worden wäre. Dafür spricht, dass sie sich auf die Seite der vierköpfigen Minderheit geschlagen hätte, die bereit war, dieses Recht sogar nicht zurechnungsfähigen Patienten zu gewähren: Ich stimme darin zu, dass ein [durch die Verfassung – L. K.] geschütztes, interessenbasiertes Recht darauf, eine unerwünschte medizinische Behandlung abzulehnen, aus früheren Gerichtsurteilen abgeleitet werden kann […] und dass die Ablehnung der künstlichen Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung in diesem interessenbasierten Recht inbegriffen ist. Ich verfasse eine abweichende Meinung, um klarzustellen, warum das meiner Meinung nach so ist. (S. 2856 der Urteilsbegründung)

Was der Oberste Richter Rehnquist als hypothetisch behandelt, behandelt die Richterin O’Connor als etwas Wirkliches, und für diese Auffassung bringt sie Argumente vor. Schließlich spricht sie sogar von der Notwendigkeit, ähnliche interessenbasierte Rechte für nicht zurechnungsfähige Patienten zu sichern, wobei sie der Pflicht des Staates, das Leben nicht zurechnungsfähiger Menschen vor denjenigen zu schützen, die deren vermeintliches Recht zu sterben in ihrem Namen ausführen würden, geradezu schockierend wenig Aufmerksamkeit schenkt. 12 Der Richter William Brennan bestreitet in seiner abweichenden Meinung sogar, dass der Staat ein legitimes Interesse am Leben eines Menschen hat (und noch weniger eine Pflicht diesem Leben gegenüber), welches jemals den Vorrang vor der Entscheidung des Einzelnen haben könnte, eine medizinische Behandlung abzulehnen. Wenn es sich um eine Patientin handelt, die nicht mehr selbst entscheiden kann, hat der Staat nur daran ein Interesse, so genau wie möglich zu bestimmen, »wie sie [die Patientin – der Übers.] ihre Rechte unter den gegebenen Umständen ausüben würde. […] Solange Nancys Wünsche nicht bestimmt worden sind, besteht das einzige [!]

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Wie es scheint, hat nur der Richter Antonio Scala, der ebenfalls eine abweichende Meinung verfasst hat, den Punkt richtig getroffen, indem er betonte, dass die Verfassung über den strittigen Punkt absolut nichts zu sagen hat. Er argumentiert erstens dafür, dass die Freiheit, die durch den Vierzehnten Zusatz zur Verfassung geschützt wird, ein »Recht auf Selbsttötung« weder wirklich einschließt noch einschließen könnte. Zweitens vertritt er die Auffassung, dass alle Argumente, die darauf abzielen, die Entfernung der Magensonde bei Nancy Cruzan von einem gewöhnlichen Suizid abzugrenzen, scheitern. Er stellt die (meiner Meinung nach überzeugende) Überlegung an, dass das Recht, eine Behandlung abzulehnen, hier, d. h. in Bezug auf Nancy Cruzan, notwendigerweise ihrem Recht gleichkommt, ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen: Meine bisherigen Ausführungen sollen keineswegs suggerieren, dass ich es für wünschenswert halten würde, Nancy Cruzan mittels der hier zur Diskussion stehenden Mittel am Leben zu erhalten, wenn wir sicher wären, dass sie sterben wollte. Ich behaupte lediglich, dass die Verfassung über dieses Thema nichts zu sagen hat. Um hier ein konstitutionelles Recht ins Feld zu führen, müssten wir aus dem Nichts heraus (da es weder im Text der Verfassung noch in der Tradition der Rechtsprechung existiert) ein Verfassungsprinzip erschaffen, welches als Begründung dafür dienen könnte, dass der Staat, obwohl er darauf bestehen darf, dass ein Individuum aus der Kälte hereinkommen und Nahrung zu sich nehmen muss, nicht darauf bestehen darf, dass er Medikamente einnimmt. Und obwohl der Staat seinen Magen auspumpen darf, wenn er Gift zu sich genommen hat, darf er seinen Magen nicht mit Nahrung füllen, die der Einzelne nicht zu sich genommen hat. (S. 2863 der Urteilsbegründung)

Paradoxerweise kann Scalias beeindruckendes Argument, in welchem die Ablehnung von Nahrung und Flüssigkeit als Selbsttötung identifiziert wird, auf uns zurückfallen, und zwar vor allem dann, wenn man es mit O’Connors Behauptung verknüpft, dass dieses Ablehnungsrecht bereits durch die Verfassung geschützt werde. Wenn sich Interesse des Staates, für das man plausible Gründe anführen kann, darin, die Richtigkeit dieser Bestimmung zu gewährleisten.« (Nebenbei bemerkt, ist dies, wie es scheint, eine unlösbare Aufgabe, wenn man von der Auffassung des Selbst ausgeht, die Brennans Argumentation implizit zugrunde liegt.) Für Brennan besteht das primäre Interesse des Staates nicht in der Sicherheit des Lebens, sondern in der Selbstbehauptung des sich selbst bestimmenden Willens. Man sieht hier, wie die nietzscheanische Denkweise sogar im Kontext der juristischen Interpretation unserer Verfassung den klassischen amerikanischen Liberalismus zu ersetzen droht.

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O’Connors Ansicht durchsetzte, dann würde Scalias scharfsinniger Verstand die Gründe dafür geliefert haben, warum man das neue Recht tatsächlich als das Recht zu sterben verstehen könnte. Es stehen nun alle Voraussetzungen dafür bereit, ein konstitutionelles Recht auf Selbsttötung und bei zurechnungsfähigen Patienten ein Recht auf Beihilfe zum Suizid zu erfinden, und das ist nichts anderes als das Recht zu sterben. Scalias Sorge ist daher berechtigt: Aufgrund des Tenors der heute vorgetragenen Meinungen beunruhigt mich die Möglichkeit, dass wir bereit sind, diese Angelegenheit [die Gesetzgebung in Bezug auf Entscheidungen am Ende des Lebens – L. K.] ebenso erfolgreich in Verwirrung zu bringen, wie wir die Gesetzgebung über die Abtreibung in Verwirrung gebracht haben. (S. 2859)

Wie es scheint, hat fast niemand bemerkt, dass in dieser Vorgehensweise eine schmerzliche Ironie liegt. 13 Der Vierzehnte Zusatz zur Verfassung verbietet dem Staat, ohne ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren Personen ihrer Freiheit und ihres Lebens und Eigentums zu berauben. Ein sogenannter Pro-Lebens-Bundesstaat wie Missouri ist zumindest vorläufig in seinen Bestrebungen unterstützt worden, das Leben einer nicht zurechnungsfähigen Person vor denen zu schützen, die behaupten, dass das »interessebasierte Recht« der Person, sich für den Tod durch Verhungern zu entscheiden, Vorrang vor ihrem Recht zu leben hat. Wie es scheint, hat man jedoch nicht an die KontraLebens-Bundesstaaten wie New Jersey gedacht, welche die andere Richtung einschlagen und im Falle der Unzurechnungsfähigkeit dem Tod den Vorzug geben – und das alles im Namen der Freiheit. Indem sie diese verletzlichen Personen, von denen andere behaupten, dass ihr Leben nicht länger lebenswert ist, im Stich lassen, kommen diese Bundesstaaten der Verletzung des strikten Wortlauts der im Vierzehnten Zusatz enthaltenen Behauptung, dass der Staat Bürgern nicht das Leben nehmen darf, viel näher als Missouri, das angeblich Cruzans Freiheit, sich für den Tod zu entscheiden, verletzt hat.

Eine erwähnenswerte Ausnahme ist Yale Kamisar, Juraprofessor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Michigan. Meiner Meinung nach ist Kamisar der beste juristische Kommentator in Bezug auf das Thema dieses Aufsatzes. Vgl. etwa seinen Artikel »When Is There a Constitutional ›Right to Die‹ ? When Is There No Constitutional ›Right to Live‹ ?«, Georgia Law Review 25 (1991), S. 1203–1242.

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Die tragische Bedeutung des »Rechts zu sterben« Die Forderung nach einem »Recht zu sterben«, die sich vor allem gegen Ärzte richtet, welche entschlossen sind, das Leben zu verlängern, bringt auf deutliche Weise einige tiefgreifende Schwierigkeiten innerhalb der Grundlagen der modernen Gesellschaft ans Licht. Die liberalen, technologischen Gesellschaften der Moderne beruhen vor allem auf zwei philosophischen Säulen, die zuerst im 17. Jahrhundert, am Beginn der Neuzeit, errichtet wurden: erstens auf der Idee, dass dem menschlichen Individuum der Vorrang zukommt. Diese Idee ist in der Lehre von den natürlichen Rechten enthalten, wie sie zuerst von Hobbes und Locke vertreten wurde. Zweitens beruhen moderne Gesellschaften auf der von Francis Bacon und René Descartes propagierten Idee der Beherrschung der Natur durch die radikal erneuerten Naturwissenschaften. Beide Ideen waren Reaktionen auf den Eindruck, dass die Natur den menschlichen Bedürfnissen gegenüber zumindest teilweise nicht entgegenkommend sei. Beide Ideen ermutigten die Menschen dazu, sich der Natur zu widersetzen, der ersten Idee zufolge durch die Flucht aus dem Naturzustand in die bürgerliche Gesellschaft, um die gefährdeten Rechte auf Leben und Freiheit zu schützen; der zweiten Idee zufolge durch die Unterwerfung der Natur zu dem Zweck, das Leben des Menschen zu verlängern und es gesünder und angenehmer zu machen. Man kann sogar sagen, dass insbesondere der Widerstand gegen den Tod zu diesen beiden Antworten, die gleichsam Zwillinge sind, geführt hat. Politisch gesehen, macht die Furcht vor einem gewaltsamen Tod durch die Hand kriegführender Menschen ein Rechtssystem und eine legitime Autorität erforderlich, um die natürlichen Rechte, vor allem das Recht auf Leben, zu schützen. Im Hinblick auf die Technologie führt die Furcht vor dem von der unfreundlichen Natur bewirkten Tod als solchem zu einer kühneren Herangehensweise an das Problem: nämlich zur Idee einer wissenschaftlichen Medizin, mit deren Hilfe man Krieg gegen die Krankheiten und sogar gegen den Tod führen könnte, und zwar letztlich mit dem Versprechen der Erlangung körperlicher Unsterblichkeit. Berauscht von ihren politischen und wissenschaftlichen Erfolgen, haben das moderne Denken und die moderne Praxis die bescheidenen und gemäßigten Anfänge der politischen Moderne hinter sich gelassen. In der bürgerlichen Gesellschaft mussten das natürliche Recht auf Selbsterhaltung, das durch aktive, aber dabei gemäßigte 197 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Selbstbehauptung gesichert wird, den nicht natürlichen Rechten auf Selbsterschaffung und Selbstexpression weichen. Die neuen Rechte weisen keinerlei Zusammenhang mit der Natur oder der Vernunft auf, vielmehr erscheinen sie als Rechte des unbeschränkten Willens. Das »Selbst«, das sich hier behauptet, ist nicht mehr das natürliche Selbst mit den ihm eigenen, vorhersehbaren Interessen, die aus der universalen Natur des Menschen einschließlich seiner körperlichen Bedürfnisse stammen, sondern ein jeweils auf einzigartige Weise individuiertes und selbst erschaffenes Selbst. Sein authentisches Selbstsein wird durch seine Fähigkeit bewiesen, nein zu sagen zu den Bedürfnissen des Körpers, den Regeln der Gesellschaft und den Vorschriften der Vernunft. Für ein solches Selbst stellen die Selbstverneinung durch den Suizid und das Recht zu sterben die höchste Form der Selbstbehauptung dar. In der medizinischen Wissenschaft ist der unbegrenzte Kampf gegen den Tod auf eine Natur gestoßen, die offenbar nicht gewillt ist, umzukippen und sich tot zu stellen. Bislang hat die Medizin in diesem Kampf äußerstenfalls Teilerfolge errungen, und ihr Sieg ist unvollständig geblieben, um das Mindeste zu sagen. Die begrüßenswerten Triumphe im Kampf gegen Krankheiten sind um den Preis der medikalisierten Entmenschlichung des Lebensendes erkauft worden. Schonungslos ausgedrückt, heißt dies: Sobald wir den Krebs und den Schlaganfall besiegt haben, können wir alle lang genug leben, um an Alzheimer zu erkranken. Und wenn die Krankenversicherung dafür ausreicht, können wir, ausreichend intubiert, auf der Intensivstation sterben. Die Furcht vor der Macht der Medizin, deren Dienst wir in Anspruch genommen haben, um den Tod zu bekämpfen, führt uns nun dazu, dass wir die Medizin um Gift bitten. Schließlich haben der Triumph des Individualismus und die Tatsache, dass wir im Hinblick auf die Befriedigung unserer neuen, als Rechte formulierten Wünsche von der Technik (nicht nur in der Medizin) und dem Staat abhängig sind, dazu geführt, dass unsere natürlicheren menschlichen Verbindungen geschwächt worden sind – insbesondere die Familie, auf die wir uns alle verlassen müssen, wenn durch den unvermeidbaren Verfall offengelegt wird, dass es sich bei unserer Forderung nach Selbstbestimmung und Herrschaft um einen Irrglauben handelt. Das hohe Alter und der Tod sind dem Schoß des Familienlebens entrissen und den staatlichen Pflegeheimen und Krankenhäusern übergeben worden. Nicht der Geistliche, sondern der Arzt (in Wirklichkeit: die Krankenschwester) herrscht über das 198 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Gibt es ein Recht zu sterben?

Lebensende, und zwar in einer sterilen Umgebung, die keine Zugeständnisse an unsere Endlichkeit erlaubt. Sowohl der autonome Wille als auch sein stolzer Partner, der Arzt, der den Tod verneint, übersehen die unvermeidlichen Grenzen des Willens und der Technik, auf denen die Natur insistiert. Das Versäumnis, diese Grenzen nicht zu erkennen, gefährdet nun das gesamte Unternehmen, weil der Widerstand gegen das Projekt durch ein »Recht zu sterben« dessen Schwierigkeiten noch verschärfen wird. Verletzliches Leben wird nicht länger durch den Staat geschützt werden. Die Medizin wird zu einem Geschäft mit dem Tod werden, und isolierte Individuen werden auf technische Weise abgefertigt, um das Problem zu vermeiden, wie man die Gesellschaft mit ihnen in der Stunde ihrer letzten Bedürfnisse auf menschliche Weise aufrechterhalten könnte. Wenn das Recht zu sterben gegenwärtig geltend gemacht wird, um sich von einer übermächtigen Medizin zu befreien, deren Anstrengungen am Lebensende vergeblich sind, dann ist das mehr als eine tragische Ironie: Es ist auch sehr gefährlich. Drei Gefahren sind besonders hervorzuheben: Erstens wird das Recht zu sterben, wenn es das Recht auf »Hilfe zum Sterben« oder auf Beihilfe zum Suizid oder Sterbehilfe einschließt, in eine Verpflichtung anderer übersetzt werden, entweder zu töten oder beim Töten zu helfen. Selbst wenn wir es ablehnen, Ärzten eine solche Pflicht aufzuerlegen, und die genannten Handlungsweisen nur denen erlauben, die diese Tätigkeiten freiwillig ausführen, würde unsere Gesellschaft sich drastisch verändern. Denn wenn der Staat den Beruf des Sterbehelfers akzeptierte, wovor uns Gott behüte, würde er sein Monopol auf den legalen Gebrauch tödlicher Gewalt aufgeben. Dieses Monopol muss er besitzen, um seiner ersten Verantwortung, dem Schutz unschuldigen Lebens, nachzukommen. Zweitens gibt es keinen Weg, diese Praxis auf die Personen zu beschränken, die bewusst und freiwillig um den Tod bitten. Die große Mehrheit der Menschen, die Anwärter auf einen assistierten Tod sind, sind und werden in zunehmendem Maße außerstande sein, selbstständig eine solche Vorgehensweise zu wählen oder durchzuführen. Niemand, der eine kostenaufwendige oder mit großem Aufwand verbundene Krankheit hat, wird noch vor dem auf ihn ausgeübten Druck sicher sein, sein Recht zu sterben wahrzunehmen. Drittens wird das ethische Zentrum der Medizin, die Hingabe an die Heilung und die Weigerung zu töten, permanent zerstört werden 199 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Leon R. Kass

und mit ihm das Patientenvertrauen und die ärztliche Selbstbeschränkung. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Erfüllung eines mutmaßlichen individuellen Rechts das Gemeinwohl erheblich schädigen könnte. Nichts von dem, was ich gesagt habe, sollte so verstanden werden, dass ich glaube, dass das Leben unter allen Umständen und um jeden Preis verlängert werden sollte. Weit gefehlt! Ich verteidige weiterhin, wenn auch mit Angst und Unbehagen, die Praxis, die das Sterben erlaubt, während ich der Praxis der vorsätzlichen Tötung entgegentrete – ungeachtet der Verwischung dieser moralisch ausgesprochen wichtigen Grenze durch die Fälle, in denen die künstliche Ernährung eingestellt wird, und trotz des Abgleitens zum Handel mit dem Tod, das sich im Gefolge eines Rechts auf Behandlungsabbruch einstellen würde. Ich begrüße die Bemühungen, den Patienten hinsichtlich der Beendigung ihres Lebens so viele Wahlmöglichkeiten wie möglich einzuräumen. Ich unterstütze die mutigen Patienten und Familienangehörigen sowie die gewissenhaften Ärzte, die in jedem einzelnen Fall umsichtig zu erkennen versuchen, welche Behandlungsform oder Nichtbehandlung die wirklich richtige für den Patienten ist, sogar dann, wenn sie mit einer erhöhten Sterbewahrscheinlichkeit einhergeht. Aber ich beharre darauf, dass wir dem Wohl des Patienten nicht dadurch dienen können, dass wir ihn absichtlich töten. Und wenn wir nicht das Recht haben, andere zu töten, dann haben wir kein Recht darauf, uns von anderen töten zu lassen. Nach reiflicher Prüfung lässt sich sagen, dass sich das Recht zu sterben nicht überzeugend verteidigen lässt.

Ein Anhang: Über die Rhetorik der Rechte Die Rhetorik der individuellen Rechte hat heute noch immer die edle, altehrwürdige Funktion des Schutzes des einzelnen Lebens und der Freiheit, eine Funktion, die heute vielleicht wichtiger ist, als die Urheber dieser Rhetorik es sich hätten vorstellen können, angesichts des tyrannischen Potentials des modernen bürokratischen und technologisch entwickelten Staates. Aber mit der Proklamation des »Rechts zu sterben« stehen wir, wie mit so vielen der neuartigen Rechte, die in den letzten Jahren geltend gemacht wurden, vor einer Ausweitung dieser Rhetorik auf Bereiche, in denen diese Rhetorik sich nicht mehr auf diese Schutzfunktion bezieht und über den begrenzten Lebens200 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Gibt es ein Recht zu sterben?

bereich hinauszielt, in dem Rechtsansprüche eindeutig angemessen und in der Tat von entscheidender Bedeutung sind. Infolgedessen sehen wir uns einer Reihe schwerwiegender und möglicherweise gefährlicher Verzerrungen in unserem Denken und Handeln gegenüber. Wir verzerren unser Verständnis dessen, was Rechte sind, und schwächen ihre Anerkennungswürdigkeit in ihrem angestammten Bereich dadurch, dass wir zulassen, dass als Antwort auf moralische Fragen neue Rechte erfunden werden, die außerhalb des begrenzten Bereichs der Rechte liegen, und dies ohne Rechtfertigung in der Natur oder der Vernunft. Wir verzerren unser Verständnis moralischer Überlegungen und des moralischen Lebens, indem wir alle komplizierten Fragen nach dem Richtigen und Guten auf Fragen der individuellen Rechte reduzieren. Wir untergraben den Vorrang und die Notwendigkeit der Klugheit, indem wir so tun, als würde die Geltendmachung von Rechten stets das Beste und moralischste Ergebnis zeitigen. Wenn wir versuchen, uns unseren Weg durch das menschliche Dasein mit der rhetorischen Keule der individuellen Rechte zu bahnen, lassen wir uns in den grundlegendsten Dingen täuschen: über den Tod und das Sterben, über unsere unvermeidliche Endlichkeit und über die fortdauernden wechselseitigen Abhängigkeiten unserer Leben. Lassen Sie uns auf jeden Fall weiter darüber nachdenken, ob und wann und warum es für jemanden sinnvoll sein könnte, sein Leben aufzugeben oder sogar aktiv den Tod zu wählen. Aber lassen Sie uns dieser gefährlichen Gedankenlosigkeit in Bezug auf die Rede von Rechten ein Ende setzen. Lassen Sie uns nicht mehr von einem »Recht zu sterben« sprechen. Übersetzt von Christiane Mahr & Héctor Wittwer

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Ein Recht auf Selbsttötung? 1 J. David Velleman

Durch meine Krebserkrankung hat sich meine Einstellung gegenüber Leuten, die rauchen, verändert. Ich erinnere mich noch an die Worte eines Philosophenkollegen, der mit einer Bewegung seiner Zigarette erläuterte, dass er das Recht habe, zu entscheiden, ob er rauchend leben und sterben oder aber damit aufhören und bloß überleben wolle. Ich fing gerade mit einem Jahr Chemotherapie an, und bloßes Überleben hörte sich für mich ziemlich gut an. Doch ich war der Gastreferent, und meine Gastgeber wussten nichts von meiner Diagnose. Einige von ihnen zündeten sich nach dem Essen eine Zigarette an, während wir den Ausführungen ihres Kollegen lauschten – sie mit amüsierter Vertrautheit und ich mit einer Empörung, die mich selbst überraschte und sie verblüfft hätte, hätte ich es gewagt, sie offen zu äußern. Dass ich es nicht wagte, bereue ich selbst heute noch, zehn Jahre später. Ein Einwand stand für mich bereits damals fest. Ein paar Monate mit Krebs hatten mich gelehrt, dass ein Tumor selten ein Gebiet befällt, das kleiner als ein erweiterter Familienkreis ist. Physisch beschränkte sich der Krebs auf meinen Körper, doch selbst in dieser Hinsicht war es schwierig, ihn als meinen Krebs zu betrachten. Die Tumorzellen wuchsen in meinem Knochenmark, das nicht seinem poetischen Rang als dem Innersten meines Seins gerecht Die Arbeit an diesem Beitrag wurde durch ein Stipendium der National Endowment for the Humanities und ein Forschungsfreisemester am College of Literature, Science, and the Arts der Universität Michigan unterstützt. Eine frühere Version dieses Beitrags, die deutlich von der vorliegenden abweicht, habe ich am Institut für Philosophie und dem Center for Ethics and Humanities in the Life Sciences an der Michigan State University vorgetragen. Hilfreiche Kommentare zu jener Version habe ich von Elizabeth Anderson und Stephen Darwall erhalten, die beide auch mit ihren veröffentlichten Arbeiten meine Ansichten zu diesem Thema beträchtlich mitgeprägt haben. Auch von Bette Crigger und einem anonymen Gutachter für den Hastings Center Report habe ich Kommentare erhalten. Für Kommentare zur vorliegenden Version danke ich Sally Haslanger, Connie Rosati, Tamar Schapiro und Brian Slattery.

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wurde. Ich musste erkennen, dass das Mark in meinen Knochen mir so fremd war wie die Rückseite des Mondes: In gewissem Sinne war es meine Rückseite – unsichtbar, empfindungslos –, und dass es sich tief in meinem Inneren befand, war ein Maß für seine Ferne statt für seine Vertrautheit. Natürlich war dieses schmierige Zeug in meinem Becken und meinem Schädel auch meine einzige Quelle für Blutkörperchen, und mein Leben hing davon ab. Doch das galt auch für das Leben des Vaters meiner Söhne, des Ehemanns meiner Frau, des Sohnes meiner Eltern, des Bruders meines Bruders, und ich war mir nie sicher, wer unter uns den größeren Schaden erleiden würde, wenn diesem Leben das schmierige Zeug ausgehen sollte. Während ich zuhörte, wie mein Gastgeber über seinen zukünftigen Krebs lachte, fragte ich mich, ob ihm bewusst war, wie viele andere ihn mit ihm teilen würden. Doch was ich in ihrem Namen gesagt hätte, hätte nicht das ausdrücken können, worüber ich mich in gewisser Hinsicht um meiner selbst willen am meisten aufregte, ohne dies artikulieren zu können. Ich fühlte mich irgendwie verletzt, beleidigt. Beim Anblick des Rauchs, der sich von den Lippen von Leuten kräuselte, die meine Sterblichkeit nicht beachteten, fühlte ich mich so, wie ich mich wahrscheinlich fühlen würde, wenn ich antisemitische Bemerkungen hören würde, die ein Sprecher gegen eine andere Person richten würde ohne zu wissen, dass auch ich ein Jude bin. Ich wurde Zeuge einer Beleidigung, die sich gegen eine Gruppe richtete, der auch ich angehörte. In diesem Symposium geht es natürlich nicht um das Recht zu rauchen; es geht um das Recht zu sterben. Wenig überraschend neigen diese Rechte jedoch dazu, mit denselben Begriffen artikuliert zu werden. Eine Person, die eines dieser Rechte einfordert, könnte es beispielsweise als das Recht beschreiben, »im Lichte […] ihrer eigenen Anschauungen darüber, warum ihr Leben wertvoll ist und worin sein Wert liegt, zu leben und zu sterben«. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob der Sprecher in meiner Geschichte genau diese Worte wählte, doch es war, als hörte ich seine Stimme erneut, als ich sie im New York Review of Books unter dem Titel »The Philosophers’ Brief« las. 2 Diese »Stellungnahme Ronald Dworkin et al.: »Assisted Suicide: The Philosophers’ Brief«, New York Review of Books 44 (1997), S. 41–47. Die Stellungnahme wurde in der Sache Washington et al. gegen Glucksberg et al. eingereicht. [Eine deutsche Übersetzung dieses Textes findet sich unter dem Titel »Hilfe zum Selbstmord: Das Resümee der Philo-

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der Philosophen« war beim US-Supreme Court, dem höchsten Gericht der Vereinigten Staaten, zugunsten einer Anfechtung von Gesetzen eingereicht worden, die ärztliche Beihilfe zum Suizid verboten. Als ich sie las, spürte ich erneut eine kollektive Kränkung, und dieses Mal konnte mir nicht entgehen, welche Gruppe gekränkt wurde. Ich glaube somit nun erklären zu können, warum ich mich damals durch die von einem Philosophen vorgetragene Verteidigung des Rauchens beleidigt fühlte, und die Erklärung führt mich dazu, auch die Verteidigung der Beihilfe zum Suizid durch »die Philosophen« zurückzuweisen. Was die Suizidbeihilfe jedoch selbst angeht, weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Das Thema ist derart komplex, dass meine Versuche, diesbezüglich zu einer festen Meinung zu gelangen, bislang gescheitert sind. In Bezug auf die von diesem Symposium gestellte politische Frage bin ich folglich weder dafür noch dagegen. Ich sage eher: Nicht so schnell. Das weiter oben angeführte Prinzip, das die Frage rasch entscheiden würde, lässt sich aus zwei übergeordneten Prinzipien ableiten. Das erste Prinzip lautet, dass eine Person das Recht hat, ihr eigenes Leben zu verkürzen, um es zu verbessern – das heißt, es zu verkürzen, wenn dies ein notwendiges Mittel oder eine notwendige Folge einer aufs Ganze gesehenen Verbesserung des Lebens für die Person darstellt. Das zweite Prinzip lautet, dass man sich im Allgemeinen dem Urteil einer Person in Bezug auf ihr eigenes Wohl fügen sollte. Zusammengenommen implizieren diese Prinzipien, dass eine Person das Recht hat, gemäß ihren eigenen Anschauungen in Bezug darauf, welches Leben für sie besser wäre, zu leben und insbesondere auch zu sterben. Für den Raucher in meiner Geschichte war natürlich die Verkürzung seines Lebens kein Mittel, um es zu verbessern, sondern eher eine wahrscheinliche Folge einer Aktivität, die das Leben seiner Ansicht nach verbesserte, obwohl sie es auch verkürzte. Doch in den meisten Fällen, in denen eine Beihilfe zum Suizid befürwortet wird, ist die Verkürzung des Lebens eines Patienten als Mittel gedacht, um es zu verbessern, weil die Fortführung seines Lebens dessen Gesamtwert für ihn schmälern würde. 3 Beschränkt sich das erste Prinzip auf sophen«, in: Ethik in der Medizin, hg. v. U. Wiesing, Stuttgart 2000, S. 225–227. – Anm. d. Herausgeb.] 3 Ich diskutiere Bewertungen dieser Art in »Well-Being and Time«, Pacific Philosophical Quarterly 72 (1991), S. 48–77.

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diesen letzteren Zusammenhang, lässt es sich auch zu der Behauptung umformulieren, dass ein Patient das Recht hat, sein Leben mit der Begründung zu beenden, dass es nicht länger lebenswert ist. Ich halte dieses Prinzip für falsch. Bevor ich es jedoch kritisiere, sollte ich kurz etwas zum zweiten oben genannten Prinzip sagen, das ich akzeptieren kann. Ich bin der Meinung, dass das wohlüberlegte Urteil einer Person über ihr Wohl ein Urteil ist, dem wir uns im Allgemeinen fügen sollten. Genauer noch bin ich daher der Meinung, dass wir uns im Allgemeinen einer Person in Bezug auf die Frage, ob ihr Leben lebenswert ist, fügen sollten, da die Lebenswertigkeit eines Lebens bemisst, inwieweit seine Fortführung für die Person, die es lebt, gut wäre. Die Person, die das Leben lebt, kann am besten beurteilen, welchen Wert seine Fortführung ihr bieten würde. – Natürlich ist ihr Urteil nicht unfehlbar, doch für gewöhnlich ist es verlässlicher, als es wahrscheinlich das Urteil jedes anderen wäre. Tatsächlich bewahrheitet sich ihr Urteil über diesen Wert bis zu einem gewissen Grade selbst, denn allein schon die Tatsache, dass die Person bestimmte Aspekte ihres Lebens mag oder nicht mag, kann diese Aspekte bis zu einem gewissen Grad gut oder schlecht für sie machen. Die Gründe dafür, sich dem Urteil einer Person über ihr Wohl zu fügen, gehen über die Verlässlichkeit ihres Urteils hinaus. Die Achtung vor der Autonomie einer Person kann es erfordern, dass wir uns ihrem wohlüberlegten Urteil über ihr Wohl selbst dann fügen, wenn wir Grund zu der Annahme haben, dass dieses Urteil falsch ist. Eine Person ihr eigenes Leben leben zu lassen, kann manchmal zur Folge haben, dass man sie ihre eigenen Fehler in Bezug darauf, was gut für sie ist, machen lässt – dazu gehören vielleicht Fehler in Bezug darauf, ob es gut für sie wäre weiterzuleben. Einer Person zu verbieten, solche Fehler zu begehen, kann unangemessen paternalistisch sein, weil man damit ihre Rolle als für ihre eigenen Angelegenheiten verantwortliche Akteurin an sich reißen würde. Wenn eine Person daher das Recht hätte, ihr Leben mit der Begründung zu beenden, dass es nicht lebenswert sei (im Einklang mit dem ersten oben genannten Prinzip), dann hätte sie das Recht, sich in dieser Hinsicht von ihrem eigenen Urteil leiten zu lassen (im Einklang mit dem zweiten Prinzip). Doch ich weise das Prinzip zurück, dass eine Person das Recht hat, ihr Leben einzig aufgrund der Vorteile, die sie dadurch gewinnt, oder aufgrund der Nachteile, die sie dadurch vermeidet, zu beenden. 205 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Ein Grund für die Zurückweisung dieses Prinzips ist, dass ein Leben auch anderen Menschen neben der Person, die es lebt, Vorund Nachteile bringt. Hat eine Person das Recht, ihre Kinder eines Elternteils zu berauben, einfach nur, weil ihr das Leben nicht lebenswert genug erscheint? Ich möchte diese Frage jedoch beiseiteschieben, weil sie stillschweigend die Annahme einräumt, dass die Werte, die bei Entscheidungen auf dem Spiel stehen, in denen es um Leben oder Tod geht, von persönlichen Interessen abhängen; die Frage fordert uns also lediglich dazu auf, einen weiteren Kreis von potentiellen Nutznießern in Betracht zu ziehen. Die Werte, die wir aus meiner Sicht betrachten müssen, hängen nicht von persönlichen Interessen ab und haben folglich keine Nutznießer. Man könnte darauf beharren, dass Werte Nutznießer haben müssten, weil es sie nicht geben würde, wenn niemand da wäre, der sie wertschätzen könnte: In einem Universum ohne empfindungsfähige Wesen wäre nichts gut oder schlecht. 4 Doch aus der Tatsache, dass es keine Werte ohne potentielle wertende Lebewesen gäbe, folgt nicht, dass sie jemandem zufallen müssten. Werte sind relativ zu potentiellen Wertenden, weil sie zunächst einmal für Wertungen normativ sind. 5 Dass etwas wertvoll ist, heißt also einfach, dass es so ist, dass es in irgendeiner Weise wertgeschätzt – geachtet, geliebt, bewundert, gewollt, geschätzt oder dergleichen – werden sollte. Schon der Begriff des Werts enthält daher den Begriff eines tatsächlichen oder potentiellen Wertenden. Die Erfahrung, etwas wertzuschätzen, kann zuträglich sein, wie etwa, wenn man den ästhetischen Wert eines Kunstwerks würdigt. Doch wenn der Wertbegriff auch einen potentiellen Wertenden voraussetzt, muss er nicht notwendig verlangen, dass er auch aus dieser Erfahrung einen Nutzen zieht. Dinge können beispielsweise verehrenswert sein, ob sich aus ihrer Verehrung nun irgendein Nutzen ergibt oder nicht; und sie können phantastisch sein, ob man nun von ihrer Bewunderung profitieren würde oder nicht. Die Tatsache, dass ein Wert in der Lage sein muss, von jemandem erfahren zu werden, der ihn somit würdigen würde, bedeutet daher nicht, dass der Wert jemandem zukommen können müsste, der somit von ihm profitieren

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Vgl. dazu Peter Railton: »Facts and Values«, Philosophical Topics 14 (1986), S. 5–31. Vgl. Elizabeth Anderson: Value in Ethics and Economics, Cambridge, Mass. 1993.

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würde. Werte bedürfen eines potentiellen Wertenden, nicht jedoch eines potentiellen Nutznießers. Tatsächlich kann unsere Würdigung von Werten, die relativ zu den Interessen eines Nutznießers sind, von einer vorausgehenden Würdigung eines Wertes abhängen, der nicht in diesem Sinne relational ist. Diese Abhängigkeit zeigt sich, wenn wir versuchen, den Begriff des interessenrelativen Werts oder den Begriff dessen, was gut für eine Person ist, zu erläutern. Der Begriff dessen, was gut für eine Person ist, erweist sich als ziemlich erklärungsresistent. Wir könnten anfänglich darüber nachdenken, das, was gut für eine Person ist, mit dem gleichzusetzen, was auch immer sie aus rationaler Sicht interessieren sollte. Doch diese Gleichsetzung würde letztlich implizieren, dass alle rationalen Anliegen per definitionem auf das eigene Interesse bedacht wären. Um die Möglichkeit einer vernünftigen Selbstlosigkeit zu berücksichtigen, müssen wir anerkennen, dass nicht alles, was jemanden aus rationaler Sicht interessieren sollte, auch notwendig in seinem eigenen Interesse ist. Zahlreiche Philosophen haben daher versucht, das, was gut für eine Person ist, als eine echte Teilmenge der Dinge zu definieren, die sie aus rationaler Sicht interessieren sollten, wie etwa die Teilmenge, die nur jene Dinge enthält, die ihre Existenz erfordern. Es mag eine Kehrseite dieser Definitionen darstellen oder auch nicht, dass sie solche Dinge wie etwa posthumen Ruhm aus dem Wohl einer Person ausschließen würden. In jedem Fall sind diese Definitionen noch zu umfassend, da zu den Dingen, die mit der Existenz einer Person einhergehen und die sie aus rationaler Sicht interessieren sollten, zum Beispiel besondere Opfer gehören, die sie für andere Menschen erbringen kann. Die einzig überzeugende Analyse des Wohls einer Person stammt meines Wissens von Stephen Darwall, der sie kürzlich vorgeschlagen hat. Er vertritt die Auffassung, dass für eine Person das gut ist, was man aus rationaler Sicht um ihretwillen will. 6 »Um … willen« ist ein Ausdruck, der die Unterordnung eines Anliegens unter ein anderes kennzeichnet: sich für eine Sache um einer anderen Sache Stephen Darwall: »Self-Interest and Self-Concern«, Social Philosophy and Policy 14 (1997), S. 158–178, wiederabgedruckt in Self-Interest, hg. v. Ellen Paul, Cambridge 1997. Dieser Artikel stellt auch die Quelle für meine Darlegung des Problems im vorangegangenen Abschnitt dar.

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willen zu interessieren bedeutet, sich für Erstere aus Sorge um Letztere zu interessieren. Etwas um einer Person willen zu wollen, bedeutet somit, es aus Sorge um die Person selbst zu wollen. Darwalls Analyse besagt, dass das Wohl einer Person das ist, was man aus rationaler Sicht aus Sorge um diese Person wollen würde. Darwall legt – meines Erachtens überzeugend – dar, dass das Wohl einer Person ein rationales Objekt des Verlangens für jeden ist, dem an dieser Person gelegen ist. Aus demselben Grund behauptet er, dass sogar die Person selbst sich nur insoweit rational für ihr Wohl interessieren muss, als ihr an der Person, um deren Wohl es geht – sprich: an ihr selbst –, gelegen ist. 7 Man denke hier an die wohlbekannte Verbindung zwischen dem, was man über sich selbst denkt, und dem, was man über sein Wohl denkt. Manchmal, wenn wir uns bewusst werden, dass wir etwas Gemeines oder Beschämendes getan haben, fühlen wir uns am Ende als Person wertlos; wir hassen uns vielleicht sogar selbst; und ein Symptom für Selbsthass ist der Verlust des Interesses an unserem eigenen Wohlergehen. Es scheint nicht mehr länger wichtig zu sein, ob das Leben es gut oder schlecht mit uns meint, weil wir selbst nichts wert zu sein scheinen. Unser Streben nach unserem Wohl hängt somit von unserer Sorge um uns selbst ab – und zwar, nach Darwalls Analyse, in durchaus rationaler Weise. Man beachte, dass Selbstverachtung nicht das Gefühl ist, dass wir für uns selbst ohne Wert sind. Der Wert, den die Dinge uns bieten, ist genau das, was tatsächlich nicht mehr länger von Bedeutung zu sein scheint, und deshalb würde es auch keine Rolle zu spielen scheinen, dass wir für uns selbst keinen Wert haben. Doch der Grund, weshalb es nicht mehr wichtig zu sein scheint, dass uns Werte zufließen, ist einfach nur, dass wir nicht mehr wichtig zu sein scheinen – und Punkt. Wir haben unsere Wertschätzung für den Wert verloren, den die Dinge in Bezug auf unser Interesse haben, weil wir das Gefühl dafür verloren haben, einen Wert in uns selbst zu verkörpern. Nun könnten nach Darwalls Analyse Dinge immer noch gut für uns sein, auch wenn wir keinerlei Wert verkörpern würden; denn sie könnten immer noch dergestalt sein, dass es für jemanden rational wäre, sie zu wollen, wenn ihm an uns gelegen wäre, wie unbegründet dieses Interesse vielleicht auch wäre. Doch Dinge, die gut für uns Die hier und im folgenden Absatz vorgetragenen Argumente finden sich bei Anderson: Value in Ethics and Economics, a. a. O., S. 26.

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wären, würden tatsächlich keine Beachtung verdienen, wenn wir keine Beachtung verdienten; und wenn wir sie nicht verdienten, so wären sie, obwohl sie gut für uns wären, letztlich doch nicht erstrebenswert. Wie eben bereits gesagt: Was gut für uns wäre, wäre unwichtig, wenn wir unwichtig wären. Dieses Verständnis vom Wohl einer Person impliziert daher – meiner Ansicht nach wiederum zu Recht –, dass das, was gut für eine Person ist, genauso wenig ein kategorischer Wert ist wie das, was gut für einen Zweck ist. Was gut für einen Zweck ist, ist nur wert, dass man sich dafür interessiert, aus Sorge um den Zweck, und daher nur insofern, als der Zweck es wert ist, dass man sich für ihn interessiert. Ähnlich ist das, was gut für eine Person ist, nur wert, dass man sich dafür interessiert, aus Sorge um die Person und daher nur, insofern sie es wert ist, dass man sich für sie interessiert. Das Wohl einer Person hat nur einen hypothetischen oder bedingten Wert, der von dem Wert der Person selbst abhängt. 8 Natürlich nehmen wir an, dass das Wohl einer Person durchaus wichtig ist. Doch diese Annahme machen wir nur, weil wir annehmen, dass Menschen wichtig sind – dass jeder einen Wert hat, der es wert macht, dass man sich für ihn interessiert. Darwalls Analyse des Wohls einer Person zeigt auf, wie unsere Würdigung des Werts, der jemandem zufließt, von einer vorausgehenden Würdigung des ihm innewohnenden Werts abhängt. Der letztere Wert kann nicht von persönlichen Interessen abhängen, andernfalls käme es zu einem problematischen Regress. Wäre dieser Wert abhängig von jemandes Interessen, dann wäre er nur im gleichen Maße wie jener Nutznießer wichtig. Dieser Regress von Werten würde weitergehen, bis er einen Wert erreichen würde, der von niemandes Interesse mehr abhängig wäre und der folglich um seiner selbst willen von Bedeutung wäre. Tatsächlich kommt dieser Regress jedoch gar nicht erst in Gang, weil wir annehmen, dass jede Person bereits um ihrer selbst willen wichtig ist, weil sie einen interessenunabhängigen Wert verkörpert. Ein Wert dieser Art, den eine Person in sich selbst, aber nicht für irgendwen hat, stellt die Grundlage für die kantische Moraltheorie dar. Kants Bezeichnung für diesen Wert lautet »Würde«, und er schreibt sie allen Personen aufgrund ihres vernünftigen Wesens zu.

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Auch dieses Argument wird von Anderson vertreten.

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Die Sittlichkeit verlangt Kant zufolge von uns die Achtung vor der Würde von Personen. 9 Die Würde einer Person ist ein Wert, der sich der Art nach von ihren Interessen unterscheidet. Im Unterschied zu ihren Interessen ist die Würde der Person zum Beispiel ein Wert, in Bezug auf den ihre Meinung nicht mehr Gewicht hat als die eines anderen. Weil ihr dieser Wert nicht zufließt, ist sie hinsichtlich seiner Beurteilung in keiner besseren Position als andere. Ähnlich verlangt die Achtung vor der Autonomie einer Person nicht, dass man sich ihr in Bezug auf Fragen ihrer Würde beugt, so wie dies in Bezug auf Fragen ihres Wohls gefordert ist. Vielmehr ist die Achtung vor der Autonomie einer Person gerade deshalb eine Anerkennung eines Werts in ihr, der auf eine Würde im kantischen Sinne des Begriffs hinausläuft, weil er Achtung gebietet. Wenn eine Person bestreitet, einen solchen Wert zu verkörpern, kann sie kaum verlangen, dass wir uns ihr aus Anerkennung eines Werts fügen sollten, den sie gerade bestreitet. Mit anderen Worten: Sie kann nicht verlangen, dass wir uns aus Achtung vor ihrer Autonomie ihrem Urteil fügen, dass sie nichts besitzt, was unserer Achtung würdig wäre. Es ist auch nicht paternalistisch, das Urteil einer Person in Bezug auf ihre Würde in Frage zu stellen, so wie dies in Bezug auf ihr Wohl der Fall wäre. Das Urteil einer Person in Bezug auf ihr Wohl in Frage zu stellen ist inakzeptabel, weil es ihre Rolle als Akteurin, die für ihre eigenen Angelegenheiten verantwortlich ist, untergräbt; doch ihr Wert als Person ist nicht allein ihre Sache. Obwohl ihr Wohl ein Wert ist, der ihr zunächst einmal allein zukommt, wohnt ihr der Wert als Person unter anderen Personen inne. Es ist ein Wert, den sie besitzt, weil sie eine von uns ist, und es ist nicht allein ihre Sache, den Wert, eine von uns zu sein, zu erfassen oder zu verteidigen. Der Wert, eine Person zu sein, ist daher etwas, das größer ist als irgendeine bestimmte Person, die ihn verkörpert. Genau das vermisse ich in so vielen Diskussionen über Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid: Einen Sinn für etwas in jedem von uns, das größer als jeder Einzelne von uns ist, etwas, das das menschliche

Hier mache ich einen Sprung, der einer stärkeren Rechtfertigung bedarf, als ich sie im vorliegenden Rahmen leisten kann. Ich setze den Wert, den wir schätzen, wenn wir uns um eine Person sorgen, mit dem Wert gleich, den wir, in etwas anderer Weise, schätzen, wenn wir diese Person im kantischen Sinne achten. Ich verteidige diese Gleichsetzung in »Love as a Moral Emotion«, Ethics 109 (1999), S. 338–374.

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Leben zu mehr macht als nur einem Tausch von Kosten gegen Nutzen, zu mehr als nur einem Arbeitsplatz oder einer Fahrt zum Einkaufszentrum. Ich vermisse den Sinn für einen Wert in uns, der einen Anspruch an uns stellt – einen Wert, dem wir gerecht werden müssen. Ich bestreite nicht, dass es Umstände gibt, unter denen es besser wäre, wenn das eigene Leben enden würde und es erlaubt wäre, sein Ende zu beschleunigen. Was ich bestreite, ist, dass man sein Leben einfach beenden darf, weil man nicht genug aus ihm herausholen kann. Es gilt zu überlegen, ob man ihm damit gerecht wird. Wenn eine Person keinen Wert besitzt, dem sie entsprechen oder gerecht werden müsste, dann wird ihr Leben zu einem bloßen Werkzeug, das man verwenden oder wegwerfen kann, je nachdem, ob dies ihren Interessen dient oder nicht. Ihr moralischer Anspruch auf ihr eigenes Leben sieht dann in etwa so aus: [Zum] Recht eines Patienten auf Leben gehört das Recht, nicht getötet zu werden. Doch dieses Recht gewährt [ihm] die Möglichkeit zu entscheiden, ob er leben oder sterben will; eine Entscheidung, in die sich andere nicht legitimerweise einmischen können; es erlegt [ihm] keine Pflicht zu leben auf. Wenn ein Patient beschließt, zu sterben, verzichtet er auf sein Recht zu leben. Indem er auf sein Recht verzichtet, entbindet er andere (vielleicht eine bestimmte andere Person) von der Pflicht, ihn nicht zu töten.

Das kann nicht richtig sein. Moral wird hier so dargestellt, als würde sie die Wahlmöglichkeiten einer Person schützen, ohne die Person selbst zu schützen, außer insofern, als ihre eigene Existenz eine ihrer Optionen darstellt. Sicherlich sind jedoch Wahlmöglichkeiten nicht um ihrer selbst willen schützenswert, sondern um der Person willen, deren Optionen sie darstellen. Wie kann also Moral die Person nur als schützenswert um des Schutzes einer ihrer Optionen willen behandeln? Wenn nicht sie bereits Schutz verdient, wie dann ihre Wahlmöglichkeiten? Das obige Zitat stammt aus einem jüngst veröffentlichten Essay von Frances Kamm, die kantische Einwände sodann wie folgt beantwortet: 10 Angenommen, mit dem Leben sind so unerträgliche Schmerzen verbunden, dass sich das gesamte eigene Leben nur noch auf diese Schmerzen konzentriert. Ich glaube, man könnte unter solchen Umständen die Auszeichnung, 10

Frances Kamm: »A Right to Choose Death?«, Boston Review 22 (1997), S. 20–23.

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eine Person zu sein, ablehnen. […] Wir könnten den großen (und normalerweise vorrangigen) Wert des Personseins anerkennen […] [und dennoch] zugeben, dass gewisse schlechte Umstände seinen sehr großen Wert in den Schatten stellen.

Kamm behauptet hier, dass jemand das Leben als bloße Option betrachten kann, obwohl er die kantische Auffassung seines Werts als Person akzeptiert. Das Problem an dieser Passage besteht darin, dass sie die kantische Auffassung falsch darstellt. Wenn Kamm erklärt, dass der Wert einer Person normalerweise »Vorrang« vor dem Wert anderer Güter hat, aber durch bestimmte Umstände »in den Schatten« gestellt werden kann, die außergewöhnlich schlecht sind, so impliziert sie damit, dass der Wert der Person gegen ihre Interessen abgewogen werden kann. Und wenn sie dann weiter von diesem Wert als einer »Auszeichnung« spricht, die die Person ablehnen kann, so impliziert sie damit, dass er tatsächlich Teil des Interesses einer Person ist, da eine Auszeichnung einer bestimmten Person zukommt, deren Rolle als ihr Nutznießer sie dazu berechtigt, sie anzunehmen oder abzulehnen. Doch die Würde einer Person ist nichts, was sie akzeptieren oder ablehnen kann, da sie kein Wert für sie ist; sie ist ein Wert in ihr, den sie lediglich missachten oder achten kann. Und sie kann auch nicht gegen etwas abgewogen werden, das gut oder schlecht für die Person ist. Wie ich dargelegt habe, steht der Wert für eine Person zum Wert in der Person ungefähr so, wie der Wert eines Mittels zum Wert des Zwecks: Ersterer verdient jeweils nur Beachtung auf Grund der Sorge um Letzteren. Und bedingte Werte können nicht gegen die unbedingten Werte, von denen sie abhängen, abgewogen werden. Der Wert von Mitteln für einen Zweck kann nicht den Wert des Zwecks in den Schatten stellen oder vom Wert des Zwecks in den Schatten gestellt werden, weil er bereits nur ein Schatten dieses Werts ist, in dem Sinne, dass er von ihm abhängt. Genauso ist der Wert dessen, was gut für eine Person ist, nur ein Schatten des Werts, der der Person innewohnt, und kann diesen nicht in den Schatten stellen oder von ihm in den Schatten gestellt werden. Dies sind abstrakte Überlegungen, doch sie werden durch die Geschichte, mit der ich begonnen habe, konkret veranschaulicht. Als mein Gastgeber behauptete, er würde mehr Nutzen aus den Genüssen des Rauchens ziehen als Schaden durch einen vorzeitigen Tod, war mein erster Gedanke, dass er es versäumt hatte, die Vor- und Nach212 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Ein Recht auf Selbsttötung?

teile anderer Menschen außer ihm zu berücksichtigen. Bei näherer Betrachtung nahm ich ihm jedoch seine Behauptung übel, dass Vorund Nachteile die einzigen Werte seien, die auf dem Spiel stünden. Die Bemerkungen meines Gastgebers implizierten, dass ein vorzeitiger Tod, so wie er ihn riskierte und wie ich ihn hoffte abwenden zu können, einen Verlust für ihn darstellen würde, der durch ausreichend große Gewinne aufgewogen werden könnte. Doch welche Rolle würde es spielen, wie viel ich verliere oder gewinne, wenn ich selbst keinen Verlust darstellen würde? Meine Gewinne und Verluste würden nur aufgrund der Sorge um mich Beachtung verdienen – was als Grundlage des Interesses an ihnen dann nicht durch dieses Interesse aufgewogen werden könnte. Folglich würden meine Gewinne und Verluste keine Rolle spielen, wenn ich nicht einen Wert hätte, der nicht durch ihre Werte aufgewogen werden könnte. Mein Gastgeber bestritt implizit die Existenz eines solchen Werts. Denn er behauptete, dass man sich nur Gedanken über den Tod im Hinblick auf Dinge machen müsse, für die er durch die Genüsse des Rauchens entschädigt werden könne. Er bestritt somit implizit den interessenunabhängigen Wert einer Person, ohne den es nicht wirklich eine Rolle spielen konnte, ob ich leben oder sterben würde. Natürlich bestritt er die Existenz dieses Werts nur in seinem eigenen Fall, nicht in meinem; doch unsere Fälle waren in dieser Hinsicht nicht zu unterscheiden. Indem er implizit seinen eigenen interessenunabhängigen Wert bestritt, trivialisierte er sich selbst als Person bzw. setzte sich in gewisser Weise selbst als Person herab. Manchmal bringen uns die selbstherabsetzenden Bemerkungen anderer Menschen einfach nur in Verlegenheit, aber in anderen Fällen können sie so grundsätzlicher Natur sein, dass sie uns kränken. Man denke an meinen früheren Verweis auf Antisemitismus. Antisemitismus kann sich in selbstherabsetzenden Bemerkungen manifestieren, wenn es sich um den Antisemitismus eines von Selbsthass erfüllten Juden handelt. Die Missachtung meines Gastgebers für seinen eigenen Wert als Person kränkte mich als Person, genauso wie die Selbstherabsetzung eines Juden mich als Juden kränken würde. Meiner Ansicht nach hatte Kant recht damit, dass der Tausch der eigenen Person gegen Vorteile oder die Verminderung von Nachteilen den Wert des Personseins herabsetzt, dessen Achtung ein Kriterium (Kant würde sagen: das Kriterium) für Sittlichkeit darstellt. Darum bin ich der Auffassung, dass Rauchen ein Laster ist – zumin213 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dest, wenn es aus den Gründen praktiziert wird, wie sie mein Gastgeber anführte. Und deshalb bin ich auch der Auffassung, dass Suizid unmoralisch ist, wenn er mit der Begründung vorgenommen wird, dass das Leben nicht lebenswert sei. Ich laufe allerdings nicht herum und reiße den Leuten ihre Zigaretten aus dem Mund. Und ich weiß auch nicht, ob ich versuchen würde, jemanden gewaltsam davon abzuhalten, sich das Leben zu nehmen, nur weil es auf unmoralische Weise selbstzerstörerisch wäre. Das unzulässige Verhalten eines anderen gibt mir nicht unbedingt die Erlaubnis, mich einzumischen. Aus demselben Grund bin ich jedoch der Auffassung, dass die Ermutigung oder Unterstützung anderer bei unerlaubtem Verhalten selbst unerlaubt ist. Deshalb bin ich der Auffassung, dass sich die Tabakindustrie an einem unmoralischen Geschäft beteiligt. Und darum bin ich zudem derselben Auffassung in Bezug auf Dr. Kevorkian, der mehr als jeder andere getan hat, um Menschen dabei zu helfen, gemäß ihren eigenen Anschauungen zu sterben. Man beachte, dass diese moralischen Urteile zwischen Selbstzerstörung und bloßer Selbstschädigung unterscheiden. Wie bereits gesagt, bin ich der Auffassung, dass Menschen manchmal das Recht haben, auf Basis falscher Urteile über ihre eigenen Interessen zu handeln; und zumindest insoweit haben sie das Recht, sich selbst zu schädigen. Doch die Verhaltensweisen, die ich kritisiert habe, schädigen nicht nur die Interessen der Handelnden; tatsächlich schaden sie den Interessen der Handelnden vielleicht überhaupt nicht, wenn die Handelnden recht in Bezug auf die damit verbundenen Kosten und Nutzen haben. Diese Verhaltensweisen sind aus meiner Sicht zu kritisieren, weil sie auf einer Missachtung des Werts der Handelnden selbst basieren. Dieselbe Kritik würde zum Beispiel für Handelnde gelten, die ihre eigene Freiheit als Sicherheit anbieten, um Darlehen zu erhalten. Menschen haben kein Recht, sich selbst in die Sklaverei zu verkaufen, ganz gleich, welche Überzeugungen sie vertreten, doch der Grund dafür ist nicht, dass sie sich dadurch selbst schädigen würden; der Grund dafür ist vielmehr, dass sie damit ihr eigenes Personsein missachten würden. Diese moralischen Urteile hängen natürlich von meiner Überzeugung ab, dass eine Person einen interessenunabhängigen Wert besitzt; und es mag folglich so scheinen, als würden sie meine kantischen Werte selbst Leuten aufdrängen, die nicht an sie glauben. 214 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Ein Recht auf Selbsttötung?

Haben Menschen nicht das Recht, gemäß ihren eigenen Anschauungen in Bezug auf den Wert ihres Lebens zu leben und zu sterben? Wenn die Frage lautet, ob es Menschen moralisch erlaubt ist, ihr Leben nur zu beenden, weil sie es für unbefriedigend halten, so habe ich sie bereits negativ beantwortet mit der Begründung, dass sie damit dann ihren eigenen interessenunabhängigen Wert als Personen missachten würden. Doch natürlich soll die vorliegende Frage anders aufgefasst werden und nahelegen, dass wir uns von vornherein den Urteilen von Menschen darüber, ob sie einen interessenunabhängigen Wert haben, fügen sollten. Nach dieser Interpretation lautet die Frage nicht, ob Menschen ihre eigene Würde missachten dürfen, sondern ob sie einen Anspruch darauf haben, dass man ihnen glaubt, wenn sie darauf bestehen, keine Würde zu haben. Ich habe auch die letztere Version dieser Frage negativ beantwortet. Die Gründe dafür, sich Menschen in Bezug auf Werte, die relativ zu ihren Interessen sind, zu fügen, gelten nicht für interessenunabhängige Werte. Diese Antwort mag wie eine Petitio Principii erscheinen, da sie die Existenz genau desjenigen interessenunabhängigen Werts voraussetzt, um den es geht. Doch ich habe nun behauptet, dass wir es ohnehin nicht vermeiden können, die Existenz dieses Werts vorauszusetzen, weil er benötigt wird, um der Bedeutung von interessenrelativen Werten Rechnung zu tragen. Wir können nicht den Tod eines Menschen mit der Begründung rechtfertigen, dass er gut für ihn ist, während wir auch die Existenz eines anderen Werts, der ihm innewohnt, bestreiten. Denn wenn er selbst, evaluativ gesprochen, ein Taugenichts wäre, dann würde das, was gut für ihn ist, gemäß derselben Redeweise auch zu nichts taugen. Ich gebe zu, dass die Rede vom Wert eines Menschen als Person mehr nach Religion als nach Philosophie klingt. Bei einer solchen Redeweise handelt es sich um eine säkulare Version der religiösen Rede von der Heiligkeit des menschlichen Lebens. Historisch gesehen, haben die meisten moralischen Diskurse religiöse Ursprünge. Die Frage für die säkulare Ethik lautet, ob wir die Werte, die wir durch die Religion ererbt haben, rational akzeptieren können, während wir gleichzeitig ihrer theologischen Grundlage skeptisch gegenüberstehen. Eine genauso drängende, wenn auch weit weniger unumstrittene Frage ist, ob wir selektiv einige dieser Werte akzeptieren und gleichzeitig andere verwerfen können. Meiner An-

215 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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sicht nach bleiben unsere Werte inkohärent, solange ihnen eine Entsprechung zur Heiligkeit des Lebens fehlt. Diese Ansicht zieht scheinbar sofort reaktionäre Konsequenzen nach sich, wie etwa eine Zurückweisung von Sterbehilfe und Abtreibung jeglicher Form. Doch ein säkularer Wert, der der Heiligkeit des menschlichen Lebens entspricht, muss nicht exakt derselbe Wert sein oder zu genau denselben Folgen führen. Insbesondere muss er nicht dem biologischen Leben oder dem biologischen Menschsein per se anhaften; und folglich muss er auch beispielsweise nicht Abtreibung ausschließen, nur weil der Fötus sowohl lebt als auch menschlich ist. Was die säkulare Moral als sakrosankt betrachten muss, so habe ich behauptet, ist nicht der menschliche Organismus, sondern die Person, und ein Fötus kann Ersteren verkörpern, Letztere hingegen nicht. Die Anerkennung des interessenunabhängigen Werts einer Person würde auch nicht zwingend Sterbehilfe oder Suizid ausschließen. Vielmehr ist die Anerkennung eines solchen Werts von zentraler Bedeutung für ein bekanntes Argument zugunsten dieser Praktiken – nämlich für das Argument für ein Sterben in Würde. Die Vorstellung, dass die Würde den Tod einer Person rechtfertigen kann, mag unvereinbar mit dem kantischen Konzept der Würde als einem Wert, der der Person innewohnt, erscheinen. Würde der Wert einer Person nicht immer für die Rettung ihres Lebens sprechen? Dieser scheinbare Konflikt beruht jedoch auf einer Verwirrung hinsichtlich der normativen Konsequenzen der Würde. Kant bezeichnete die Würde als einen »selbstständigen« Wert – einen Wert, auf den wir nur verpflichtet sind zu reagieren, wenn er bereits existiert, und dann nur in der Weise, dass wir ihm Ehrfurcht oder Achtung zollen. Der Wert von Personen verpflichtet uns nicht dazu, die Anzahl der existierenden Personen zu maximieren; er verpflichtet uns nur dazu, die Menschen zu achten, die tatsächlich leben. Und diese Menschen zu achten bedeutet nicht zwangsläufig, sie am Leben zu erhalten; vielmehr geht es darum, sie so zu behandeln, wie es uns ihr Personsein gebietet – was auch immer das im Einzelnen heißen mag. 11

Die Interpretation Kants in diesem Absatz ist nicht unumstritten. Ich verteidige sie ausführlich in »Love as a Moral Emotion«.

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Ein Recht auf Selbsttötung?

Der kantische Einwand gegen den Suizid ist demnach nicht, dass er etwas Wertvolles zerstört. Der Einwand richtet sich nicht einmal gegen den Suizid als solchen, sondern gegen einen Suizid, der aus einer bestimmten Art von Grund vorgenommen wird – nämlich um einen Nutzen daraus zu ziehen oder Übeln zu entgehen. Und der Einwand gegen einen Suizid, der aus diesem Grund vorgenommen wird, lautet, dass er die Würde der Person herabsetzt, indem er die Person gegen interessenrelative Güter eintauscht, so als ob sie eine dieser Güter wäre. Diese Interpretation des Einwandes gegen den Suizid lässt die Möglichkeit offen, dass die Würde einer Person einen Suizid in anderen Kontexten rechtfertigen könnte, wenn der Suizid einen angemessenen Ausdruck der Achtung vor der eigenen Person darstellen würde. Der Kantianismus wäre dann in der Lage, den Begriff des Sterbens in Würde zu billigen. 12 Der Ausdruck »Sterben in Würde« ist potentiell durchaus irreführend. Wir sind nicht der Ansicht, dass der Tod einer Person moralisch akzeptabel ist, solange sie ihn in Würde hinnehmen kann. Vielmehr sind wir der Meinung, dass der Tod einer Person akzeptabel ist, wenn sie nicht länger in Würde leben kann. Der Begriff, der hier zum Tragen kommt, ist derjenige eines würdelosen Lebens, nicht derjenige eines würdevollen Todes. Wenn eine Person nicht Leben und Würde zusammen aufrechterhalten kann, kann ihr Tod tatsächlich moralisch gerechtfertigt sein. Man darf und muss manchmal Gegenstände, die Würde besitzen, zerstören, wenn sie andernfalls so verfallen würden, dass ihre Würde dadurch verletzt würde. So ist beispielsweise die moralische Verpflichtung, einen Leichnam zu beerdigen oder zu verbrennen, eine Verpflichtung, ihn nicht zu einer Beleidigung für das, was er einst war, werden zu lassen. Bibliothekare haben ähnliche Bräuche für die Zerstörung zerfledderter Bücher – und Ehrenwachen für die Zerstörung zerschlissener Fahnen – aus Achtung vor der Würde, die diesen Gegenständen innewohnt. Natürlich muss der Wert, der bloßen Dingen wie Büchern oder Flaggen innewohnt, anders geartet sein als der Wert, der Personen kraft ihrer vernünftigen Natur innewohnt. Doch all diese Werte gehören einer Klasse an, nämlich der Klasse der Würde-Werte, deren Für ein kantisches Argument, das in diese Richtung geht, siehe Thomas E. Hill, Jr.: »Self-Regarding Suicide: A Modified Kantian View« in seinem Buch Autonomy and Self-Respect, Cambridge 1991, S. 85–103.

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definierendes Merkmal darin besteht, dass sie Ehrfurcht oder Achtung gebieten. 13 Diese Beispiele legen nahe, dass Würde nicht nur den Erhalt des Gegenstandes, der sie besitzt, erfordern kann, sondern auch die Zerstörung des Gegenstands, der sie verliert, wenn der Verlust unwiederbringlich wäre. 14 Im Unterschied zum Wohl tritt Würde nicht in unterschiedlichen Graden auf, die wir maximieren müssten; wie wir gesehen haben, ist sie kein Wert, dessen Existenz wir überhaupt befördern müssen. Einen Würde-Wert so zu behandeln, als wäre er zu unterschiedlichen Graden fähig, die allesamt erhaltenswürdig wären, würde bedeuten, ihn wie ein gewöhnliches Gut zu behandeln – was tatsächlich respektlos wäre. Achtung vor einem Gegenstand der Würde kann manchmal seine Zerstörung erfordern. Die Frage lautet daher, was den Verlust der Würde für eine Person ausmacht. Die Würde, um die es hier geht, hat nichts mit einem würdevollen Auftreten zu tun und nichts damit, den Schein zu wahren oder irgendeinen besonderen gesellschaftlichen Status aufrechtzuerhalten. Sie hat nichts damit zu tun, was Menschen aneinander bewundern oder schätzen sollten, oder damit, was sie tatsächlich achten. Es geht vielmehr um das, was sie achten sollten, und zwar auf eine Art und Weise, die sie nur bekunden können, indem sie einander moralisch behandeln. Kant zufolge ist das, was die Menschen auf diese Weise wechselseitig achten sollten, ihre vernünftige Natur.

Ich neige tatsächlich zu der Ansicht, dass die Würde von Büchern oder Flaggen der Würde des Personseins entlehnt ist; doch diese Frage sprengt den Rahmen des vorliegenden Aufsatzes. 14 Ich bin davon überzeugt, dass diese Besonderheit von Würde-Werten erklärt, warum die Zulässigkeit von Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid hauptsächlich auf Fälle tödlicher Krankheiten im Endstadium beschränkt ist. Felicia Ackerman hat kürzlich behauptet, dass eine solche eingeschränkte Erlaubnis eine unsichere Sache ist (»Assisted Suicide, Terminal Illness, Severe Disability, and the Double Standard«, in: Physician-Assisted Suicide: Expanding the Debate, hg. v. M. Pabst Battin et al., New York 1998, S. 149–161). Sie vertritt die Auffassung, dass Sterbehilfe entweder für alle zurechnungsfähigen Erwachsenen zulässig sein muss oder für niemanden. Ich stimme Ackerman zu, dass die Argumente, die normalerweise zugunsten von Sterbehilfe aufgeboten werden, nicht auf Fälle von tödlichen Krankheiten im Endstadium beschränkt werden können, obwohl ihre Befürworter oft ohnehin diese Beschränkung ohne Rechtfertigung voraussetzen. Wie Ackerman z. B. zeigt, unterstützen die Argumente in »The Philosopher’s Brief« die Beihilfe zum Suizid für alle, wenn sie sie für irgendwen unterstützen. Doch ich glaube, dass die kantische Auffassung eine Beschränkung rechtfertigen kann und dass diese Tatsache für diese Auffassung spricht. 13

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Ein Recht auf Selbsttötung?

Ironischerweise bestätigt sich Kants Auffassung durch Kamms Beispiel, in dem mit »dem Leben so unerträgliche Schmerzen verbunden« sind, »dass sich das gesamte eigene Leben nur noch auf diese Schmerzen konzentriert«. Kamm nimmt an, dass dieser Fall uns dazu auffordert, den negativen Wert der Schmerzen gegen den Wert, welcher dem Dasein als vernünftiger Akteur zukommt, abzuwägen. Doch in Wirklichkeit hat Kamm einen Fall beschrieben, in dem die Schmerzen mehr als schmerzvoll sind, da sie nicht nur dem Patienten wehtun, sondern auch zum einzigen Fokus seines Lebens werden. Schmerzen, die den Patienten in dieser Weise peinigen, untergraben seine Fähigkeit zu vernünftigem Handeln, indem sie ihn daran hindern, andere Zwecke für sich selbst zu wählen außer einer Schmerzerleichterung. Sie reduzieren den Patienten auf das Bild, das sich der psychologische Hedonismus von einer Person macht – der Person als einem vergnügungssüchtigen, schmerzmeidenden Tier, dem tatsächlich keine Würde zukommt. Und Kamm malt deutlich aus, dass dieser massiv reduzierte Zustand des Patienten nur durch seinen Tod beendet werden kann. Wenn somit Sterbehilfe in Kamms Beispiel gerechtfertigt erscheint, so vermute ich, dass dies nicht daran liegt, dass die Befreiung des Patienten von seinen Schmerzen wichtiger als seine Würde als Person ist; der Grund dafür ist vielmehr, dass die Schmerzen bereits die Würde des Patienten untergraben haben, und zwar unwiederbringlich. Das Beispiel stützt somit das Sterben um der Würde willen, nicht um des Selbstinteresses willen. Ich frage mich oft, ob die Befürworter der Beihilfe zum Suizid nicht die moralische Bedeutung von Schmerzen übertreiben. Schmerzen sind natürlich schlecht, doch ich bezweifle, dass sie auch nur annähernd so etwas wie Sterbehilfe oder Suizid rechtfertigen können, wenn sie nicht (wie Kamm es nennt) unerträglich sind. Und was dann den Tod rechtfertigt, ist eher die Unerträglichkeit der Schmerzen als die Schmerzhaftigkeit. Was meinen wir, wenn wir Schmerzen als unerträglich bezeichnen? Was heißt es, Schmerzen nicht zu ertragen? Sicherlich geht es nicht darum, dass man sich weigert, Schmerzen zu fühlen, dass man die Augen vor ihnen verschließt, wie man dies vielleicht bei einem unerträglichen Anblick tut, oder dass man vor ihnen wegläuft wie vielleicht vor einer unerträglichen Situation. Schmerzen nicht zu ertragen, bedeutet gewissermaßen, unter ihnen zusammenzubrechen, sich als Person aufzulösen. Schmerzen unerträglich zu finden, be219 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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deutet daher, sie nicht nur als zerstörerisch für das eigene Wohl, sondern für das eigene Selbst zu erleben. Doch dann machen wir einen Fehler, wenn wir den Patienten, der unerträgliche Schmerzen hat, so beschreiben, als wäre er sein altes, vernünftiges Selbst, welches das Leid der Schmerzen gegen die Vorteile des Daseins abwägen würde. Wenn seine Schmerzen wirklich unerträglich sind, dann ist er nicht mehr länger sein rationales Selbst: Er zerfällt unter dem Druck der Schmerzen. Wenn er sich auch noch einiger entlastender und klarer Momente erfreuen mag, zerfällt er doch nach und nach und ist bestenfalls noch eine zeitlich zersplitterte Person. Wir tun dem Patienten meiner Ansicht nach unter solchen Umständen keinen Gefallen, wenn wir in seinem Namen weitreichende Rechte der Selbstbestimmung fordern. Er mag tatsächlich Anspruch auf Hilfe beim Sterben haben, und er wird sich sicherlich an den relevanten Entscheidungen beteiligen müssen. Doch wir sollten nicht vergessen, dass diese Entscheidungen voreilig wären, wenn sich der Patient nicht bereits in der Endphase seiner Autonomie befände, in der die Selbstbestimmung eher eine schemenhafte Vermutung als eine eindeutige Tatsache darstellt. Ich weiß nicht, wie man eine staatliche Richtlinie oder ein Gesetz gestalten könnte, die zwischen den Fällen unterscheiden würden, in denen meiner Meinung nach Sterbehilfe oder Suizid moralisch erlaubt sind, und den Fällen, in denen dies meiner Ansicht nach nicht der Fall ist. Natürlich müsste das Gesetz den unterschiedlichen moralischen Einzelsituationen der Praxis nicht so genau folgen, wenn sie durch ein Recht auf Selbstbestimmung gedeckt wären. Gäbe es eine breite Klasse von Fällen, in denen der Patient das Recht hätte, für sich selbst zu entscheiden, ob der Tod gerechtfertigt wäre, so könnten wir in diesen Fällen Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid legalisieren, selbst wenn sie vielleicht nicht in all diesen Fällen gerechtfertigt wäre. Wenn ein Patient sich dann für den Tod entscheiden würde, obwohl er nicht gerechtfertigt wäre, so würde er immer noch im Rahmen seiner Rechte handeln, die das Gesetz legitimerweise geschützt hätte. Doch ich glaube nicht, dass eine Person im Allgemeinen das Recht hat, sich zwischen Leben und Tod zu entscheiden. Und ich glaube auch nicht, dass sich das Recht einer Person plötzlich ausweitet, sobald sie todkrank wird. Darum verstehe ich nicht, wie sich ein Plädoyer für die Legalisierung auf Rechte der Selbstbestimmung gründen kann, und ich stehe erneut vor dem Problem, wie sich der Tod um 220 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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der Würde willen legalisieren ließe, ohne ihn damit auch um des Selbstinteresses willen zu legalisieren. Ich bin sicherlich nicht der Ansicht, dass das Gesetz bestimmte Aktivitäten nur deshalb verbieten sollte, weil sie das Potential bergen, unter Umständen selbstzerstörerisch zu sein. Ich bin nicht der Ansicht, dass Bergsteigen – oder im Übrigen auch Rauchen – verboten werden sollte. Das Problem ist, dass Töten, im Unterschied zum Bergsteigen oder Rauchen, essentiell und nicht nur in bestimmten unglücklichen Situationen oder Einzelfällen gegen die Würde von Personen verstößt. Die Folge ist, dass das Gesetz in Bezug auf Tötungen, wie das Gesetz in Bezug auf die Sklaverei, unvermeidlich unsere kollektive Wertschätzung des Personseins selbst ausdrückt. Befürworter von Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid vergleichen diese manchmal mit den anderen intrinsisch schädlichen Behandlungen, denen ein Patient um seines übergeordneten Wohls willen zustimmen könnte – dem Schneiden und Stechen, Betäuben und Vergiften, die zum Handwerk des Arztes gehören. Dann fragen sie: Was ist so besonders am Töten? 15 Stellt nicht die Tötung nur einen weiteren medizinischen Eingriff dar, dem sich der Patient unterwerfen dürfen sollte, wenn er seinen Interessen dient? Ich neige dazu, auf diese Frage mit einer anderen Frage zu antworten: Was ist so besonders an der Sklaverei? Stellt nicht die Versklavung nur einen weiteren Preis dar, dessen Zahlung eine Person riskieren dürfen sollte, wenn sie ihre eigenen Interessen verfolgt? Natürlich ist Sklaverei ein besonderer Fall. Obwohl wir durchaus ein Recht haben mögen, im Lichte unserer eigenen Überzeugungen zu leben und zu sterben, erstreckt sich dieses Recht nicht auf Überzeugungen hinsichtlich des Preises, für den es sich lohnen würde, unsere Freiheit zu verkaufen. Und es erstreckt sich meiner Ansicht nach auch nicht auf Überzeugungen hinsichtlich des Preises, für den es sich lohnen würde, unser Leben zu beenden. Und auf das eigene Interesse bedachte Gründe für die Beendigung unseres Lebens sind, im kantischen Sinne, Gründe des Preises statt der Würde. Was die Gestaltung einer staatlichen Richtlinie zur Beihilfe zum Suizid anbetrifft, so neige ich zu der Auffassung, dass Überlegungen zur moralischen Bewertung der Praxis selbst von Überlegungen zu den Nebenfolgen einer Legalisierung überlagert werden könnten. 15

Kamm stellt diese Frage in Abschnitt 4 von »A Right to Choose Death?«.

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Wie ich bereits an anderer Stelle erörtert habe: Erlaubte man Menschen einfach, sich für den Tod zu entscheiden, könnte dies die Bedingungen zerstören, die das Leben einiger Menschen lebenswert machen, und dadurch neue Tötungskandidaten hervorbringen. 16 Eine Legalisierung würde daher Menschen Schaden zufügen, die in der derzeitigen Debatte allenfalls als Unbeteiligte zu bezeichnen wären. Diese Kollateralschäden müssten möglicherweise hingenommen werden, wenn es ein grundlegendes Recht darauf gäbe, sich zwischen Leben und Tod zu entscheiden. Wir können nicht allen Menschen eine Entscheidung nehmen, auf die sie einen moralischen Anspruch haben, nur weil einige Menschen ohne sie besser dran wären. Doch ich habe hier die Auffassung vertreten, dass es kein grundlegendes Recht darauf gibt, zwischen Leben und Tod zu entscheiden. Es mag immer noch in einigen Fällen eine moralische Rechtfertigung für den Tod geben, doch sie beruht nicht auf einem Recht auf Selbstbestimmung. Und ohne ein solches Recht muss die Verteidigung einer Legalisierung langsamer vorgehen – und zwar deutlich langsamer, als »die Philosophen« es uns gern glauben machen würden.

Erwiderung auf F. M. Kamm F. M. Kamms Kritik meines Essays widmet sich hauptsächlich der Widerlegung von Argumenten, die ich nicht als meine erachte. 17 Die Passagen, denen Kamm diese Argumente entnimmt, sind Passagen, in denen ich evaluative Argumente kritisiere, die den Wert einer Person vernachlässigen oder implizit leugnen. Ich komme schließlich zu dem Schluss, dass es unmoralisch ist, einen Suizid auf der Grundlage solcher Argumente vorzunehmen, genauso wie eine Beihilfe zu einem Suizid, der auf einer solchen Basis erfolgt. Ich kritisiere auch J. David Velleman: »Against the Right to Die«, Journal of Medicine and Philosophy 17 (1992), S. 665–681. 17 Dieser Anhang reagiert auf Kritikpunkte, die sich in Kamms Beitrag zu diesem Symposium finden (»Physician-Assisted Suicide, the Doctrine of Double Effect, and the Ground of Value«, Ethics 109 [1999], S. 586–605). Die Seitenzahlen in Klammern im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz von Kamm. Ich danke Kamm dafür, dass sie mir die Möglichkeit geboten hat, einige Punkte meines Essays, der ursprünglich nicht für ein philosophisches Publikum geschrieben wurde, deutlicher zu machen. Für Kommentare zu dieser Erwiderung, die mir sehr kurzfristig zur Verfügung gestellt wurden, danke ich Nomy Arpaly, Stephen Darwall und Connie Rosati. 16

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Philosophen, darunter Kamm, die solche Argumente verwenden, um die Praxis der Beihilfe zum Suizid zu rechtfertigen. In erster Linie untersuche ich jedoch lediglich die Unzulänglichkeiten der Argumente selbst in unterschiedlichen Kontexten, ohne daraus irgendwelche Rückschlüsse über die Beihilfe zum Suizid zu ziehen. Unglücklicherweise findet Kamm überall Argumente gegen die Beihilfe zum Suizid. So erkennt sie zum Beispiel ein Argument gegen die Beihilfe zum Suizid in meiner Erwiderung auf ihre eigene, in einer früheren Veröffentlichung getätigte Aussage, dass das Recht auf Leben eine moralisch geschützte Option, nicht getötet zu werden, sei. Ich erläutere an dieser Stelle, dass die Option einer Person, nicht getötet zu werden, erst gar nicht moralisch geschützt wäre, wenn sie keinen Wert besäße, der ihr einen direkten Schutz vor bestimmten Arten der Behandlung bieten würde, die, wie ich annehme, bestimmte Arten der Tötung einschließen würden. Ich behaupte daher, dass, sofern die Moral das Leben einer Person schützt, sie über den Schutz ihrer Option zu leben hinausgehen muss; doch ich sage in diesem Zusammenhang nichts darüber, wie viel weiter sie gehen könnte oder welche Arten der Tötung sie verbieten könnte. Kamm nimmt an, ich müsste zu irgendeiner voreiligen Schlussfolgerung gegen die Beihilfe zum Suizid springen, und macht sich daher daran, den Verlauf meines Sprungs zu rekonstruieren. Doch es gibt hier gar kein Argument gegen die Beihilfe zum Suizid, sondern nur ein Argument dagegen, ein bestimmtes Recht auf eine geschützte Option zu reduzieren. Kamm konstruiert ein weiteres Argument gegen die Beihilfe zum Suizid aus zwei kurzen Anspielungen von mir darauf, dass Sklaverei unmoralisch sei. Ziel dieser Anspielungen ist es, meine Behauptung zu veranschaulichen, dass moralisches Denken verarmt, wenn es berechnet, was gut oder schlecht für eine Person ist, ohne den Wert der Person selbst zu berücksichtigen. Betrachten wir nur den Schaden, der durch die Versklavung entsteht, erkennen wir nicht, so meine Argumentation, was falsch an ihr ist und was sie von anderen schädlichen Arten der Behandlung moralisch unterscheidet. Hier meint Kamm ein Analogieargument gegen die Beihilfe zum Suizid zu erkennen. Ich führe kein solches Argument an. Das Hauptargument, das Kamm in meinem Essay entdeckt, bezeichnet sie als das erste Reductio-Argument. Auch hier entnimmt Kamm ein Argument gegen die Beihilfe zum Suizid einer Passage, in der ich Einwände gegen die moralische Argumentation eines anderen 223 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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erhebe. Doch dieses Kaninchen scheint tatsächlich aus meinem Hut hervorzukommen, und daher verdient es mehr Aufmerksamkeit. Kamm findet das erste Reductio-Argument in meinen Bemerkungen über einen Raucher, der seine Sucht verteidigt, indem er ihre Auswirkungen auf seine Interessen berechnet. Ich sage über diese Person, dass ihre Interessen nur dann wichtig wären, wenn sie wichtig wäre – d. h. wenn sie einen Wert hätte, der Vorrang vor dem Wert ihrer Interessen hätte und nicht kommensurabel mit Letzterem wäre. Wenn diese Person ihren Tod einzig in Bezug auf ihre Interessen rechtfertigt, dann, so behaupte ich, wägt sie sich selbst gegen jene Interessen ab und setzt dadurch ihren Wert als Person – und damit indirekt den Wert aller Personen – herab. Aus diesen Bemerkungen formt Kamm ein Argument, das auf folgender Prämisse beruht: (3) Wenn es erlaubt ist, X zu eliminieren, unabhängig von der Sorge um irgendeine andere wertvolle Sache (während X die Merkmale behält, die es angeblich wichtig machen, dass er hat, was gut für ihn ist, einzig aus dem Grund, dass es gut für ihn wäre), dann ist X unwichtig. (S. 595 f.)

Irgendwie hat meine Aussage, dass die Interessen einer Person nicht wichtig wären, wenn sie selbst nicht wichtig wäre, für Kamm die Aussage nahegelegt, dass die Person unwichtig wäre, wenn ihre Tötung zulässig wäre. Und mein Einwand dagegen, ihren Tod ausschließlich aufgrund ihrer Interessen zu rechtfertigen, hat eine Prämisse über die Rechtfertigung des Todes »unabhängig von der Sorge um irgendeine andere wertvolle Sache« nahegelegt. Dieser Einschub ist besonders rätselhaft. Was ich ablehne, ist, dass man eine Person aufgrund der Sorge um bestimmte wertvolle Dinge tötet – also einzig aus Sorge um ihre Interessen. 18 Das führt mich zu einem Missverständnis, für das ich wahrscheinlich verantwortlich bin. Kamm scheint der Meinung zu sein, dass ich es ablehne, dass man die Interessen einer Person überhaupt berücksichtigt, wenn man ihren Tod rechtfertigt. Die Frage, die ich aufwerfe, lautet jedoch, »ob es Menschen moralisch erlaubt ist, ihr Leben nur zu beenden, weil sie es für unbefriedigend halten«. Meine Antwort auf diese Frage lautet: »[…] ich weise das Prinzip zurück, dass eine Person das Recht hat, ihr Leben einzig aufgrund der Vorteile, die sie dadurch gewinnt oder aufgrund der Nachteile, die sie dadurch vermeidet, zu beenden.« Der Einwand richtet sich daher nicht dagegen, dass die Interessen einer Person berücksichtigt werden, sondern dagegen, dass einzig oder ausschließlich sie berücksichtigt werden; im Besonderen lautet der Einwand, dass die Tötung einer Person einzig aufgrund ihrer Interessen ihre Würde verletzen würde. Ich behaupte dann jedoch, dass, wenn die Würde einer Person beeinträchtigt ist, dies für ihre Tötung sprechen könnte. Ich befürworte daher das

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Der Einwand gegen die Tötung einer Person einzig um ihrer Interessen willen lautet, dass sie die Person als wertmäßig kommensurabel mit jenen Interessen behandelt. In Kamms Reductio-Argument findet sich keine Spur von diesem Einwand. Soweit ich das letztere Argument verstehe, stimme ich ihr zu, dass es den Wert einer Person mit dem Wert ihres Lebens verwechselt. Ich versuche in meinem Essay, genau dieser Verwechslung wie folgt zuvorzukommen: Der Wert von Personen verpflichtet uns nicht dazu, die Anzahl der existierenden Personen zu maximieren; er verpflichtet uns nur dazu, die Menschen zu achten, die tatsächlich leben. Und diese Menschen zu achten bedeutet nicht zwangsläufig, sie am Leben zu erhalten; vielmehr geht es darum, sie so zu behandeln, wie es ihr Personsein gebietet – was auch immer das im Einzelnen heißen mag.

Diese Passage genügt, um zu zeigen, dass die Verwechslung, die dem Reductio-Argument inhärent ist, wie auch das Argument selbst nicht mir zuzuschreiben sind. Man beachte, dass das Argument, das implizit in dem Abschnitt enthalten ist, dem Kamm das Reductio-Argument entnimmt, eher dem Argument gleicht, das sie als das Tausch-Argument [Exchange Argument] bezeichnet. Unter all den Argumenten gegen den Suizid, die Kamm mir zuschreibt, ist das Tausch-Argument das Einzige, das ich tatsächlich vorbringe. Es besagt, dass eine Selbsttötung, die einzig um des zu erzielenden Nutzens willen erfolgt, in Wirklichkeit einem Eintauschen oder einem Tausch der eigenen Person gegen diese Vorteile gleichkommt und somit bedeutet, seinen eigenen Wert als kommensurabel mit dem Wert dieser Vorteile zu behandeln. Kamm bietet zwei Einwände gegen dieses Argument auf. Kamms erster Einwand lautet, dass der intrinsische Wert eines Kunstwerks uns nicht verbietet, das Kunstwerk für Geld zu verkaufen. Dieser Fall ist dem Fall des auf das eigene Interesse bedachten Suizids in keiner relevanten Weise ähnlich. Was man aufgibt, wenn man ein Kunstwerk verkauft, ist der Besitz dieses Kunstwerks, für das man als Gegenleistung etwas anderes als Besitz erhält. Das Kunst»Sterben um der Würde willen, nicht um des Selbstinteresses willen«. Unglücklicherweise scheint diese letzte Aussage zu implizieren, dass Erwägungen des Selbstinteresses vollkommen ausgeschlossen werden müssten. Interpretiert man die Aussage auf diese Weise, ist sie zu streng. Denn wenn die Würde einer Person als Grund für ihren Tod dient, dann können ihre Interessen auch berücksichtigt werden, ohne dass ihre Würde dadurch missachtet würde.

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werk existiert weiter und kann von seinem neuen Besitzer gewürdigt werden. Den Besitz eines Kunstwerks an einen anderen Besitzer, der seinen Wert zu schätzen weiß, weiterzureichen, ist vollkommen vereinbar damit, dass man seine Schönheit als im kantischen Sinne »über allen Preis erhaben« (und sich selbst zudem nur als Verwalter seiner Schönheit) betrachtet. Was in diesem Sinne unvereinbar mit der Achtung der Schönheit eines Kunstwerks wäre, wäre seine Zerstörung zur Herstellung gewöhnlicher Güter – etwa wenn man ein Gemälde in den Kamin wirft, weil man kein Kleinholz mehr hat. Doch das Verbrennen eines Kunstwerks für Kleinholz ist eben normalerweise auch verwerflich. Sicherlich nicht zufällig wäre dies auch analog zu einem auf das eigene Interesse bedachten Suizid. Kamms zweiter Einwand gegen das Tausch-Argument lautet, dass sich selbst zu töten, um daraus Nutzen zu ziehen, keine Kommerzialisierung der Art beinhaltet, wie sie jemand vornimmt, der eine Niere gegen Bargeld verkauft. Doch der Einwand gegen einen auf das eigene Interesse bedachten Suizid lautet nicht, dass damit einhergeht, dass man sich selbst wortwörtlich als Ware behandelt oder so, als habe man im wörtlichen, monetären Sinne einen Preis; der Einwand lautet vielmehr, dass damit einhergeht, dass man sich selbst als wertmäßig vergleichbar mit gewöhnlichen Schäden und Nutzen behandelt und daher so, als habe man einen Preis im kantischen Sinne. Die Tatsache, dass ein auf das eigene Interesse bedachter Suizid keine Kommerzialisierung im wörtlichen Sinne beinhaltet, ist daher irrelevant für das Tausch-Argument. Kamm weist zu Recht darauf hin, dass es, obwohl es verwerflich ist, eine Niere gegen Geld einzutauschen, nicht verwerflich ist, eine Niere gegen Schmerzlinderung einzutauschen. Ich frage mich, wie dieses Beispiel aus Kamms Sicht ihre Argumentation stützen könnte. Sie erkennt, dass eine Niere nicht wie ein Gebrauchtwagen behandelt werden sollte; glaubt sie, dass eine Person wie eine Niere behandelt werden sollte? Eine Niere sollte man tatsächlich entsorgen, wenn sie mehr schadet als nutzt. Doch darin liegt der Unterschied zwischen einer Niere und einer Person. Und genau das – die Tatsache, dass eine Person nicht einfach wie ein schlechtes Organ weggeworfen werden darf – ist die Grundlage für das Tausch-Argument. Das Tausch-Argument stellt eine Variante des allgemeineren kantischen Arguments gegen die Behandlung einer Person als bloßes Mittel dar. Kamm probiert sich an verschiedenen Auslegungen der kantischen Idee, eine Person als Mittel zu behandeln, doch keine ihrer 226 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Interpretationen gelingt zur Gänze. Vielleicht kann ich erklären, warum das so ist. Im Zentrum der kantischen Ethik steht die Einsicht, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, Dinge wertzuschätzen, und dass diese unterschiedlichen Weisen der Wertschätzung ihren unverwechselbaren Ausdruck im Denken und Verhalten finden. 19 Diese Auffassung steht im Gegensatz zum Konsequentialismus, der gegenwärtig die anglo-amerikanische Ethik dominiert und dem zufolge es nur einen Weg gibt, Dinge zu bewerten – nämlich indem man sie als mögliche Objekte von Präferenzen oder Entscheidungen in eine Rangordnung bringt. Diese letztere Ansicht impliziert, dass eine Bewertung stets die Bedingungen für einen möglichen Tausch von Alternativen mit niedrigerem Rang gegen höherrangige Alternativen festlegt, möglicherweise mit Ausnahme von Alternativen, die nicht für einen Tausch infrage kommen, weil sie strikt allen anderen Alternativen vorzuziehen sind. Kamm fragt sich ständig, wie sehr wir eine Person schätzen müssen, um sie als Zweck zu behandeln, so als ob die kantische Idee darin bestünde, einer Person oder ihrem Dasein eine bevorrechtigte Stellung in unserer Präferenzordnung zuzugestehen. Doch die kantische Idee besteht darin, eine Person auf besondere Weise zu wertschätzen, nicht in besonderem Maße – in der Tat auf eine Weise, die keine Abstufungen erlaubt. Es geht um die Idee einer bevorrechtigten Weise der Wertschätzung, die in einigen Handlungen von Natur aus zum Ausdruck kommt und mit anderen von Natur aus unvereinbar ist. Wenn der Kantianer Einwand dagegen erhebt, dass Menschen in einer Weise behandelt werden, die nicht mit der Achtung vor ihnen vereinbar ist, so beruht sein Einwand auf einer Deutung dessen, was diese inakzeptablen Formen der Behandlung bedeuten, welche Art der Wertschätzung sie ausdrücken. (Sein Einwand hängt also von einer Deutung der Maxime des Handelnden ab.) Etwas zu vernichten, nur weil es einem nicht länger mehr Wohl als Schaden stiftet, bedeutet aus Sicht des Kantianers, es als Mittel für die eigenen Interessen zu behandeln. Diese Aussage darüber, was eine Handlung im Kontext ihrer Gründe bedeutet, kann nicht auf eine Aussage darüber, wie sie Dinge innerhalb einer Rangordnung einstuft oder welche Präferenzen sie ausdrückt, reduziert werden. 19

An dieser Stelle knüpfe ich, wie im Essay, an Anderson an.

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Ich vermute, dass Kamm die Idee, eine Person als Mittel zu behandeln, nicht versteht, weil sie ein bestimmtes Verständnis voraussetzt, das mit dieser Idee nicht zu haben ist. Sie würde gern die Behandlung von Personen als Mittel auf ein gewisses Muster von Präferenzen oder Entscheidungen reduziert sehen – und damit auf etwas, das einfach und ohne evaluativ aufgeladene Interpretationen des Verhaltens des Handelnden geprüft werden kann. Eine solche Reduktion ist nicht möglich. Kamm stellt in ihrem Text manchmal Betrachtungen darüber an, auf welche Behandlung der Wert einer Person ihr einen Anspruch gibt, doch sie ist der Meinung, dass solche Überlegungen eher für statt gegen die Beihilfe zum Suizid sprechen. Denn sie ist der Ansicht, dass die Achtung der vernünftigen Natur einer Person darin besteht, sich ihren Entscheidungen als Ausdruck dieser Natur zu fügen. Daher könne Beihilfe zum Suizid »die Person schützen, selbst wenn sie sie tötet, weil sie die Erfüllung ihrer begründeten Entscheidungen schützt« (S. 597 f.). Diese Aussage geht an der eigentlichen Frage vorbei. Diese Frage lautet, ob die auf das eigene Interesse bedachte Entscheidung zum Suizid wirklich eine »begründete Entscheidung« darstellen kann – und diese Frage ist in der kantischen Ethik für die Frage, ob eine solche Entscheidung moralisch erlaubt ist, grundlegend. Die Antwort lautet, dass die auf das eigene Interesse bedachte Entscheidung zum Suizid kein Ausdruck der Vernunft sein kann, weil sie zur Folge hat, dass man sich selbst als Mittel für seine eigenen Interessen behandelt, was inkohärent ist. Deshalb ist diese Entscheidung nicht moralisch geschützt. Der Wert, der einem als vernünftigem Wesen zukommt, kann nicht erfordern, dass sich andere der eigenen irrationalen Missachtung eben dieses Werts beugen. Vielleicht ist Kamm der Meinung, dass ein auf das eigene Interesse bedachter Suizid nicht mit der Missachtung des eigenen Werts verbunden ist, weil Achtung vor den eigenen Entscheidungen alles ist, was der eigene Wert von jedem verlangen würde, sich selbst eingeschlossen. Mit anderen Worten: Vielleicht ist sie der Meinung, Achtung vor sich selbst als vernünftigem Geschöpf verlange nur, dass man sich erlaube, Entscheidungen zu treffen, solange sie in dem Sinne vernünftig sind, dass sie den eigenen Interessen dienen. Ein Problem mit dieser Vorstellung ist, dass sie jedwede Anwendung des Begriffs der Selbstachtung ausschließen würde. Sie würde implizieren, dass es nichts gibt, was die Selbstachtung einem ver228 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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bieten würde, sich selbst anzutun, vorausgesetzt dass man einen Vorteil daraus zieht; wohingegen der Begriff der Selbstachtung gerade eine Beschränkung in Bezug auf das, was man für einen Gewinn tun darf, darstellt. Wenn jede Entscheidung, die einem selbst nutzt, eo ipso ein Ausdruck von Selbstachtung wäre – wenn es unmöglich wäre, sich selbst bei der Verfolgung der eigenen Interessen herabzuwürdigen –, dann gäbe es so etwas wie Selbstachtung gar nicht (und wenn es nicht so etwas wie Selbstachtung gäbe, so könnte Kant fragen: wie könnte es dann so etwas wie Sittlichkeit geben?). Was noch wichtiger ist: sich selbst um der eigenen Autonomie willen die Entscheidung zum Suizid zu erlauben, heißt, dass ein einzelner Akt dieser Autonomie es aus eigener Sicht wert ist, dass man dafür das eigene autonome Selbst opfert. Es bedeutet, sich selbst wie einen Stab Dynamit zu behandeln, der seine Natur verwirklicht, indem er sich selbst in die Luft sprengt. Für Dynamit, das ein Mittel zur Erzeugung von Explosionen ist, ist das völlig in Ordnung, doch ein autonomer Akteur ist kein Mittel zur Erzeugung von Entscheidungen, genauso wenig wie er ein Mittel zur Förderung von Interessen ist. Kamm ist der Ansicht, dass die Prämissen, auf deren Basis ich die Beihilfe zum Suizid diskutiere, zu inakzeptablen Folgen führen würden, weil sie andere Praktiken ausschließen würden, die offensichtlich erlaubt sind. Zu diesen Praktiken zählen die Schmerzlinderung mithilfe tödlicher Dosen von Morphium (MPR 20, wie Kamm sie nennt) und »eine Katze einschläfern, um ihre Schmerzen zu beenden«. Tatsächlich würde meine Argumentation diese Praktiken in vielen Fällen erlauben, genauso wie sie es manchmal erlauben würde, einer Person direkt beim Sterben zu helfen. 21 Kamm unterschätzt die Bandbreite der Fälle, für die diese Erlaubnisse gelten würden. Weil ich den Patienten in einem ihrer Beispiele als »schmerzmeidende[s] Tier« beschreibe, kommt sie zu dem Schluss, dass ich den Suizid nur billigen würde, »wenn er nicht die Entscheidung einer vernünftigen, verantwortlichen Person« ist, und nicht, wenn die »vernünftige Natur noch betätigt wird […] [aber] MPR steht bei Kamm für morphine for pain relief, d. h. Morphium zur Schmerzlinderung (Anm. d. Übers.). 21 An dieser Stelle muss ich meine Ansicht über die moralische Bewertung dieser Praktiken von meiner Ansicht über ihre Legalisierung unterscheiden. 20

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einen sehr eingeschränkten Spielraum hat« (S. 604). Doch meine Beschreibung ihres Beispiels ist nichts weiter als eine Beschreibung; sie stellt kein allgemeines Kriterium für die Zulässigkeit der infrage stehenden Praktiken dar. Vernünftige Autonomie ist aus meiner Sicht eine komplexe Verfassung, die unendlich subtilen Graden des Verfalls unterliegt, die einerseits den Tod einer Person rechtfertigen können, andererseits aber auch in der Lage sind, ihre Fähigkeit, sich für ihn zu entscheiden, zu untergraben. Wann genau die Rechtfertigung hinreichend und die Fähigkeit des Patienten unzureichend wird, sind Fragen, die ich nicht behandele. Sie stellen sich an dem Punkt, den ich als Endphase der Autonomie des Patienten bezeichnet habe, in der er sowohl verantwortlicher als auch nicht verantwortlicher Akteur ist. Diese Komplikationen führen tatsächlich dazu, dass ich bezweifle, dass Unterstützung beim Sterben, wenn sie moralisch erlaubt ist, am besten als Unterstützung beim Suizid verstanden werden sollte. Die allgemeine Begeisterung, der sich diese Auffassung erfreut, scheint sich aus der Hoffnung zu speisen, dass man die Patienten dafür gewinnt, Verantwortung für ihren eigenen Tod zu tragen, sodass die Hinterbliebenen mit sauberen Händen da stehen. Doch ich bin der Ansicht, dass jeder, der bereit für Unterstützung beim Sterben ist, normalerweise den Punkt überschritten hat, an dem er volle Verantwortung für die Entscheidung tragen kann, egal wie er sich an ihr beteiligen mag. Er wäre normalerweise kein Kandidat für Unterstützung beim Sterben, wenn er nicht irgendwie in seinem Personsein vermindert wäre und somit auch eine verminderte Zurechnungsfähigkeit besäße. Dennoch: Zu behaupten, dass jeder Kandidat für Sterbehilfe in seinem Personsein vermindert sein muss, heißt nicht, zu behaupten, dass er überhaupt keine Person sein kann. In meinem Essay habe ich die Auffassung vertreten, dass Unterstützung beim Sterben moralisch gerechtfertigt ist, wenn sie dazu dient, den Patienten vor dem Verlust seiner Würde zu bewahren. Diese Auffassung könnte kaum rechtfertigen, eine solche Hilfestellung so lange zu verwehren, bis es nichts mehr gäbe, was man verlieren könnte. Aus Kamms Sicht ist meine Auffassung jedoch immer noch zu restriktiv, weil sie Schmerz nicht als hinreichende Rechtfertigung für MPR [Morphium zur Schmerzlinderung] oder Unterstützung beim Sterben akzeptieren würde. In meinem Essay habe ich bereits meine Einwände gegen Kamms Position in Bezug auf die moralische Be230 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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deutsamkeit von Schmerz geäußert, und ich muss zugeben, dass ich auch mit ihren neuen Bemerkungen zu diesem Thema Schwierigkeiten habe. Sie schreibt zum Beispiel: »Meiner Ansicht nach ist es dringlicher, einer Person, die unerträgliche Schmerzen hat, beim Sterben zu helfen, als einer dementen Person, die keine Schmerzen hat.« (S. 604) Selbstverständlich sind Schmerzen ein dringlicheres Leiden als Demenz, wenn Erstere im Gegensatz zu Letzterer unerträglich sind. Doch nimmt Kamm an, dass Demenz stets erträglich ist? Sind Schmerzen das Einzige, was wir nicht ertragen können? Ich vermute, dass Kamm, wenn sie von Schmerzen spricht, in Wirklichkeit Leiden oder vielleicht Schmerzen-und-Leiden meint. Was sie meiner Ansicht nach sagen will, ist, dass eine Person, die unter Schmerzen leidet, dringender einer Linderung bedarf als eine demenzkranke Person, die nicht leidet. Dem stimme ich zu. Doch ich kann mir vorstellen, dass Demenz schweres Leid verursachen kann, und ich sehe keinen Grund zu der Annahme, dass das durch Demenz verursachte Leid weniger dringlich wäre als das Leiden, das durch Schmerzen hervorgerufen wird. Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass Leiden genau das ist, was mit zunehmender Stärke dazu tendiert, die eigene Lage unerträglich zu machen. Ich neige daher dazu, Leiden mit denselben Worten, wie ich sie in meinem Essay für das Unerträgliche verwendet habe, zu begreifen – d. h. als eine besorgniserregende Wahrnehmung einer tatsächlichen oder drohenden Auflösung des eigenen Selbst. 22 Unter Schmerzen zu leiden heißt, zu fühlen, wie man unter ihnen zusammenbricht, von ihnen überwältigt wird, die Kontrolle über sich verliert. So verstanden, geht Leiden nicht zwingend mit Schmerz einher, und es geht auch nicht ausschließlich mit Schmerz einher. Doch es rührt zwangsläufig an der eigenen Würde – dem Wert, den man kraft seines Personseins besitzt und der gefährdet ist, wenn man zusammenbricht. Vor dem Hintergrund dieser Bemerkungen möchte ich mich den Praktiken zuwenden, die meine Auffassung aus Kamms Sicht unangemessen einschränken oder verbieten würde. Ich werde mit der Sterbehilfe für Katzen beginnen.

Zu dieser Auffassung von Leiden siehe Eric J. Cassell: »Recognizing Suffering«, Hastings Center Report 21 (Mai–Juni 1991), S. 24–31.

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Kamm spricht davon, »eine Katze einzuschläfern, um ihre Schmerzen zu beenden«. Nun, ich habe mehrere Katzen besessen, von denen einige bisweilen Schmerzen hatten und von denen zwei schließlich eingeschläfert werden mussten. Ich habe nie je erwogen, und ich glaube auch nicht, dass die meisten Tierärzte erwägen würden, eine Katze aus Gründen einzuschläfern, die man mit den Worten, »um ihre Schmerzen zu beenden«, zusammenfassen könnte – so als ob Sterbehilfe nur eine andere Form der Schmerztherapie wäre. Was man normalerweise als Rechtfertigung für das Einschläfern eines Tieres voraussetzt, ist, dass es leidet. Und jeder, der schon einmal ein Tier hat leiden sehen, weiß, dass er gesehen hat, wie es auf einen Zustand reduziert wurde, der seiner unwürdig ist, auf einen Zustand, der nicht einfach nur bedauerlich ist, sondern irgendwie unfair, eine Beleidigung, die noch zu seiner Verletzung hinzukommt. Wenn man ein Tier einschläfert, hat man somit natürlich das Gefühl, dass man ihm einen gütigen Gefallen erweist, aber auch, dass man ihm gerecht wird – was alles ist, worum ich im Namen von Personen bitten würde. Einer Person gerecht zu werden ist natürlich etwas anderes als einer Katze gerecht zu werden, da es sich um zwei sehr unterschiedliche Geschöpfe handelt. Doch das Grundprinzip ist dasselbe: Güte muss Hand in Hand mit Achtung gehen. 23 Was MPR [Morphium zur Schmerzlinderung] angeht, so ist meine Position dieselbe wie gegenüber anderen tödlichen Eingriffen. 24 Wenn MPR eindeutig zulässig ist, liegt dies daran, dass die Schmerzen des Patienten zu einem unaufhaltsamen Verfallsprozess gehören, den wir damit abkürzen können oder Gefahr laufen abzukürzen, ohne die Würde der Person zu missachten.

Siehe Fußnote 17 weiter oben. Kamm nimmt an, dass Katzen nicht über die Art von intrinsischem Wert verfügen, der sie zur Achtung berechtigen würde. Sicherlich haben Katzen nicht jenen Wert, der Personen vermöge ihrer Vernunftnatur zukommt. Doch die Interessen einer Katze hätten keinen Anspruch auf unsere Berücksichtigung, wenn die Katze nicht selbst einen vorrangigen Anspruch hätte. Die Frage ist, welche Art von Fürsorge in Bezug auf eine Katze angemessen ist – eine Frage, die im begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes nicht beantwortet werden kann. 24 Diese Aussage gilt für die moralische Position, die im vorliegenden Aufsatz skizziert wird. Sie gilt nicht für die Position, die ich in »Against the Right to Die« vertreten habe, die den rechtlichen Status von Sterbehilfe diskutiert. Ich glaube nicht, dass die Überlegungen, die ich in jenem Aufsatz angeführt habe, gleichermaßen für MPR gelten. Daher bin ich gegen eine gleichartige rechtliche Behandlung dieser Praktiken. 23

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Ein Recht auf Selbsttötung?

Laut Kamm steht »jeder Einwand [gegen die Beihilfe zum Suizid] vor einem großen Problem, wenn er auch von uns verlangt, auf die Zulässigkeit von MPR [Morphium zur Schmerzlinderung] zu verzichten, wenn dies voraussehbar zum Tod führt« (S. 593). Doch Kamm selbst würde die Zulässigkeit dieser Praxis in einigen Fällen (etwa tödliche Morphium-Dosen bei einem gebrochenen Bein) bestreiten; und ich akzeptiere ihre Zulässigkeit in einigen Fällen (tödliche Morphium-Dosen, um Leiden im Endstadium zu lindern). Die Frage ist nicht, ob MPR zulässig ist, sondern wann es zulässig ist, was davon abhängt, warum es zulässig sein soll. Kamm ist der Ansicht, dass MPR einzig aufgrund der Interessen des Patienten erlaubt werden sollte; ich bin der Ansicht, dass die Würde des Patienten berücksichtigt werden muss. Ich kann nichts in Kamms Kritik oder in ihrem früheren Aufsatz entdecken, das zeigen würde, dass meine Argumentation MPR in Fällen ausschließt, in denen es zulässig sein sollte. Übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

Literaturverzeichnis Ackerman, F.: Assisted Suicide, Terminal Illness, Severe Disability, and the Double Standard. In: Physician-Assisted Suicide: Expanding the Debate. Hg. v. M. Pabst Battin et al. New York 1998, S. 149–161. Anderson, E.: Value in Ethics and Economics. Cambridge, Mass. 1993. Cassell, E. J.: Recognizing Suffering. In: Hastings Center Report 21 (Mai–Juni 1991), S. 24–31. Darwall, S.: Self-Interest and Self-Concern. In: Social Philosophy and Policy 14 (1997), S. 158–178. Wiederabgedruckt in: Self-Interest. Hg. v. Ellen Paul. Cambridge 1997. Dworkin, R. et al.: Assisted Suicide: The Philosophers’ Brief. In: New York Review of Books 44 (1997), S. 41–47. Dworkin, R. u. a.: Hilfe zum Selbstmord: Das Resümee des Philosophen. In: Ethik in der Medizin. Hg. v. U. Wiesing. Stuttgart 2000, S. 225–227. Hill Jr., T. E.: Self-Regarding Suicide: A Modified Kantian View. In: Ders.: Autonomy and Self-Respect. Cambridge 1991, S. 85–103 Kamm, F.: A Right to Choose Death?. In: Boston Review 22 (1997), S. 20–23. Kamm, F.: Physician-Assisted Suicide, the Doctrine of Double Effect, and the Ground of Value. In: Ethics 109 (1999), S. 586–605. Railton, P.: Facts and Values. In: Philosophical Topics 14 (1986), S. 5–31.

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Velleman, J. D.: Well-Being and Time. In: Pacific Philosophical Quarterly 72 (1991), S. 48–77. Velleman, J. D.: Against the Right to Die. In: Journal of Medicine and Philosophy 17 (1992), S. 665–681. Velleman, J. D.: Love as a Moral Emotion. In: Ethics 109 (1999), S. 338–374.

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente 1 Judith Jarvis Thomson

Im Folgenden werde ich zwei der moralischen Argumente erörtern, die als Gründe dafür vorgebracht wurden, die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid abzulehnen. Sie sind von vielen Menschen sehr ernst genommen worden und haben das amerikanische Recht auf diesem Gebiet stark beeinflusst. 2 Ich werde die Auffassung vertreten, dass es sich um schlechte Argumente handelt. Ich sollte jedoch vorwegschicken, dass diese Argumente zwar schlecht sind, es aber natürlich andere geben könnte, die besser sind. Viele Menschen sind gegen eine Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, weil es (wie sie glauben) nicht möglich ist, ihre praktische Anwendung so zu begrenzen, dass sie angemessene Schutzvorkehrungen für Arme und Schwache bietet. Vielleicht haben sie recht. Wenn ja, dann wäre im Falle einer Legalisierung alles möglich. Ande-

Eine frühere Version von Teilen dieses Aufsatzes habe ich im April 1997 als fünfte jährliche »McGill Lecture in Jurisprudence and Public Policy« an der juristischen Fakultät der McGill Universität vorgetragen. Eine spätere Version habe ich im April 1998 als Vorlesung im Rahmen der Vorlesungsreihe des »Program in Ethics and the Professions« der [Harvard] Kennedy School gehalten. Ich danke den Teilnehmern beider Veranstaltungen für ihre Kommentare und Kritiken. Ich danke darüber hinaus Elizabeth Prevett für die Bereitstellung der einschlägigen Rechtsdokumente und für hilfreiche Diskussionen. Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass dieser Beitrag keine Erweiterung der moralisch-theoretischen Auffassungen darstellen soll, die in Abschnitt II.B von Ronald Dworkin u. a.: »Hilfe zum Selbstmord: Das Resümee des Philosophen«, in: Ethik in der Medizin, hg. v. U. Wiesing, Stuttgart 2000, S. 225–227 vertreten werden, an deren Vorbereitung ich beteiligt war. Ich weiß nicht, wie viel von dem, was folgt, meine Kollegen, die an jenem Unternehmen beteiligt waren, teilen würden. 2 Vgl. z. B. die Urteilsbegründung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten durch den Obersten Bundesrichter, Chief Justice Rehnquist in der Sache Vacco v. Quill, U.S. Reports 521 U.S. 793 (1997), die die Plausibilität beider Argumente befürwortet. Sämtliche Zitate weiter unten, die Rehnquist zugeschrieben werden, sind dieser Urteilsbegründung entnommen. 1

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rerseits haben sie vielleicht auch unrecht. Ich werde diese Frage hier einfach beiseitelassen.

I. Es erscheint sinnvoll, zunächst einmal zu klären, um welche Praxis es hier genau geht, da der Begriff »ärztliche Beihilfe zum Suizid« nicht transparent ist, und einiges von dem, was die Befürworter einer Legalisierung gern erlaubt sehen würden, sich eigentlich überhaupt nicht als Suizid beschreiben lässt. Beginnen werde ich jedoch tatsächlich mit zwei Arten von Fällen, in denen ein Handeln derzeit nicht gesetzlich verboten ist. Bei der ersten Art bittet der Patient um die Einstellung der aktuell laufenden lebenserhaltenden Maßnahmen. Ich denke hier an Fälle, in denen die Ärztin, die in den Wunsch des Patienten einwilligt, nicht nur die Versorgung mit weiteren Medikamenten oder anderen Dingen, die der Patient benötigt, beendet: Vielmehr greift sie aktiv ein – sie schaltet die Geräte, die den Patienten am Leben erhalten, ab oder trennt ihn von diesen. 3 Ich werde diese Fälle als Abschalt-Fälle bezeichnen. Bei der zweiten Art von Fällen bittet der Patient darum, dass keine lebenserhaltenden Maßnahmen vorgenommen werden – beispielsweise äußert er die Bitte, im Falle eines Herzstillstands an keine lebenserhaltenden Geräte angeschlossen oder keinen intensiven Wiederbelebungsbemühungen unterworfen zu werden. Diese Fälle werde ich als Nichtanschluss-Fälle bezeichnen. In den Vereinigten Staaten ist es in diesen zwei Arten von Fällen gesetzlich erlaubt, dem Wunsch eines Patienten nachzukommen, und ich denke, so ziemlich jeder hält diese Tatsache für moralisch akzeptabel. Die Verfahren zur Lebenserhaltung sind in diesen Fällen eingriffsintensiv und invasiv, und nahezu jeder ist der Meinung, dass ein Patient das Recht hat, seine Erlaubnis zur Fortsetzung einer solchen Behandlung zu verweigern, wenn diese bereits eingeleitet wurde, oder seine Erlaubnis zu einer solchen Behandlung zu verweigern, wenn sie noch nicht eingeleitet wurde. Ebenso sind sich fast alle darin

Ich nehme durchweg an, dass es sich um eine weibliche Ärztin und einen männlichen Patienten handelt.

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

einig, dass dem Patienten dieses Recht nicht nur zusteht, sondern dass es auch respektiert werden muss. Natürlich müssen die Ärztin oder die Krankenhausleitung sicherstellen, dass der Patient wirklich von diesem Recht Gebrauch machen will und dass er nicht von Menschen, für die er auf die eine oder andere Weise zu einer Belastung geworden ist, dazu verleitet oder genötigt wurde. Doch vorausgesetzt, dass diese Bedingung erfüllt ist, ist die Sache klar: Den Wünschen des Patienten muss entsprochen werden. Viele Befürworter einer Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid interessieren sich vor allem für eine dritte Art von Fällen. Bei dieser Art ist es in den meisten Bundesstaaten nicht erlaubt, der Bitte des Patienten nachzukommen, doch es sollte – aus ihrer Sicht – erlaubt sein. Bei dieser dritten Art von Fällen bittet der Patient um ein tödliches Medikament, welches er zu einem Zeitpunkt seiner Wahl selbst einnehmen kann. Ich werde diese Fälle Bereitstellungs-Fälle nennen. In diesen Fällen stellt die Ärztin, die in den Wunsch des Patienten einwilligt, diesem die Mittel zum Suizid bereit. Tötet sich der Patient dann tatsächlich selbst, kann dies klar und richtig als ärztliche Beihilfe zum Suizid bezeichnet werden. Eine vierte Art von Fällen verlangt ebenfalls unsere Beachtung. Bei dieser vierten Art ist der Patient nicht in der Lage, das tödliche Medikament selbst einzunehmen; er bittet daher darum, dass die Ärztin es ihm injiziert. Ich werde diese Art von Fällen InjektionsFälle nennen. In diesen Fällen stellt die einwilligende Ärztin nicht dem Patienten die Mittel zum Suizid zur Verfügung. Der Patient tötet sich auch nicht selbst. Stattdessen ist es die Ärztin, die den Patienten tötet. Es handelt sich hierbei somit nicht wirklich um Fälle von Suizid und a fortiori nicht wirklich um Fälle von ärztlicher Beihilfe zum Suizid. Ist die Einwilligung in den Wunsch des Patienten in diesem vierten Fall verboten? Viele Menschen sind dieser Meinung, doch es ist nicht so klar, ob sie damit recht haben, und ich werde später darauf zurückkommen. Jedenfalls wären viele, die für eine Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid sind, auch dafür, die Einwilligung der Ärztin bei dieser vierten Art von Fällen zu legalisieren. Mit anderen Worten, sie würden gern sowohl die Bereitstellung als auch die Injektion von Medikamenten legalisieren. Ihre Ausdrucksweise ist allerdings irreführend, wenn sie sich selbst als Befürworter einer Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid beschreiben. Doch aus ihrer Sicht gibt es keinen bedeutsamen moralischen Unterschied zwi237 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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schen einer Bereitstellung und einer Injektion von Medikamenten, und was demnach unter sonst gleichen Bedingungen für den einen Fall gilt, sollte ebenso für den anderen gelten. Vor uns liegen somit vier Arten von Fällen. Dem Wunsch eines Patienten in einem Abschalt- oder Nichtanschluss-Fall stattzugeben ist gesetzlich erlaubt, und nahezu alle stimmen darin überein, dass diese Situation moralisch akzeptabel ist. Doch dem Wunsch eines Patienten in einem Bereitstellungs-Fall nachzukommen, ist jedenfalls in den meisten Staaten verboten, und ihm in einem Injektions-Fall nachzukommen, ist ebenfalls verboten (oder wird zumindest von den meisten dafür gehalten). Viele Menschen sind der Ansicht, dass diese Sachlage ebenfalls moralisch akzeptabel ist. Das heißt, sie haben moralische Gründe für die Auffassung, dass die Bereitstellung und Injektion von Medikamenten illegal sein sollten. Ich werde zwei ihrer Argumente diskutieren. Bevor wir uns ihnen zuwenden, sollten wir jedoch noch zwei Punkte beachten. Sie mögen offensichtlich sein, doch selbst wenn sie es sind, verdienen sie es, ausdrücklich erwähnt zu werden. (1) Es gibt einen bekannten Grund für die Legalisierung von Abschalt- und Nichtanschlussfällen, der sich jedoch nicht zugunsten einer Legalisierung von Bereitstellungs- und Injektions-Fällen heranziehen lässt. Warum halten Menschen es für moralisch akzeptabel, dass das Abschalten und Nichtanschließen von Geräten gesetzlich erlaubt ist? Ich bin mir sicher, dass sie dies aus dem von mir genannten Grund tun, nämlich dass die lebenserhaltenden Maßnahmen, die diese Patienten ablehnen, eingriffsintensiv sind und traditionelle Vorstellungen von Autonomie es zudem verbieten, dem Patienten solche Maßnahmen ohne seine Einwilligung aufzuzwingen. Mit anderen Worten: Die Weigerung, dem Wunsch des Patienten nachzukommen, stellt in Abschalt- und Nichtanschluss-Fällen eine Körperverletzung dar. Im Gegensatz dazu stellt – wie bereits oft betont wurde – die Weigerung, ein tödliches Medikament bereitzustellen oder zu injizieren, keine Körperverletzung dar. Somit kann dieser Grund, der für eine Legalisierung von Abschalt- und Nichtanschluss-Fällen spricht, nicht zugunsten einer Legalisierung von Bereitstellungs- und Injektions-Fällen herangezogen werden. Eines sollte jedoch klar sein: Dass dieser Grund für die Legalisierung von Abschalt- und Nichtanschluss-Fällen nicht zugunsten einer Legalisierung von Bereitstellungs- und Injektions-Fällen herange238 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

zogen werden kann, stellt überhaupt keinen Grund dafür dar, dass die Bereitstellung und die Injektion von Medikamenten verboten bleiben. Dieser Unterschied ist vollkommen vereinbar damit, dass es einen guten Grund für die Legalisierung der Bereitstellung und der Injektion von Medikamenten geben könnte. Gibt es einen guten Grund für die Legalisierung der Bereitstellung und Injektion von Medikamenten? Das soll im Folgenden nicht mein Thema sein: Ich werde keine Argumente für die Legalisierung der Bereitstellung und Injektion von Medikamenten prüfen. Wir haben es in allen vier Arten von Fällen durchweg mit Menschen zu tun, die unheilbar krank sind und möchten, dass ihnen geholfen wird. Ich gehe davon aus, dass Beschränkungen im Hinblick darauf, was für sie getan werden kann, eine ernsthafte Verletzung ihrer Freiheit darstellen. Ich für meinen Teil bin daher der Ansicht, dass derjenige, der die Beschränkung vornimmt, die Beweislast trägt. Doch ich werde weder die Beweislast übernehmen noch behaupten, dass der »Beschränker« dies tun müsse. Viele Möchtegern-Beschränker haben selbst die Beweislast auf sich genommen, und ich werde lediglich erörtern, ob sie dies mit Erfolg getan haben. (2) Der zweite Punkt, den es zu beachten gilt, ist, dass ein Argument für das Verbot der Bereitstellung und Injektion von Medikamenten kein gutes Argument darstellt, wenn es entweder zu eng oder zu weit gefasst ist – das heißt, wenn es entweder nicht sowohl gegen die Bereitstellung als auch gegen die Injektion von Medikamenten spricht oder wenn es gegen die Abschaltung oder den Nichtanschluss von Geräten oder gegen andere Handlungen spricht, die aus unserer Sicht nicht verboten werden sollten. Wenn es ein gutes Argument sein soll, muss es einerseits das anvisierte Ziel in vollem Umfang erreichen, ohne andererseits Dinge zu erfassen, die nicht erfasst werden sollten. Wie wichtig dieser zweite Punkt ist, wird sich in Kürze zeigen.

II. Das erste der beiden Argumente, die ich diskutieren werde, stützt sich auf eine Unterscheidung, die in den vergangenen Jahren unter Philosophen sowohl außerhalb wie innerhalb der Medizinethik stark diskutiert wurde, nämlich die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen. Im medizinischen Kontext besteht die Idee aus zwei Teilen. 239 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Erstens gibt es einen Unterschied zwischen dem Töten des Patienten durch seine Ärztin und dem Sterbenlassen des Patienten durch seine Ärztin. Zweitens macht dieser Unterschied in moralischer Hinsicht einen Unterschied aus, und zwar folgenden, bedeutenden moralischen Unterschied: Die Tötung des Patienten durch seine Ärztin ist stets moralisch verboten, wohingegen das Sterbenlassen des Patienten durch seine Ärztin unter bestimmten Umständen moralisch erlaubt ist. Diese Vorstellung hat eine lange Tradition. Die Tötung eines Patienten durch seine Ärztin ist traditionell als aktive Sterbehilfe bezeichnet und als moralisch verboten betrachtet worden, eben weil es moralisch verboten ist, dass eine Ärztin ihren Patienten tötet. Das Sterbenlassen eines Patienten durch seine Ärztin ist traditionell als passive Sterbehilfe bezeichnet und unter bestimmten Umständen als moralisch erlaubt betrachtet worden, eben weil es sich um kein Töten, sondern lediglich um ein Sterbenlassen handelt. In folgender Weise nun wird diese Vorstellung auf unsere vier Arten von Fällen angewandt: Unter bestimmten Umständen – also insbesondere dann, wenn der Patient einer Ärztin wirklich von eingriffsintensiven, lebenserhaltenden Geräten getrennt oder nicht an sie angeschlossen werden will – ist es aus dieser Sicht moralisch erlaubt, dass die Ärztin seinem Wunsch stattgibt, weil die Ärztin, die in solchen Arten von Fällen ihre Einwilligung gibt, ihren Patienten nicht tötet, sondern ihn lediglich sterben lässt. Im Gegensatz dazu gehen die Bereitstellung und die Injektion von Medikamenten mit der Tötung des Patienten einher und sind daher stets moralisch verboten. Daraus wird dann gefolgert, dass dieser moralische Unterschied eine unterschiedliche rechtliche Behandlung rechtfertigt, nämlich die Legalisierung der Handlungen in den ersten beiden Arten von Fällen und das Verbot der Handlungen in der dritten und vierten Art. Lassen Sie uns mit den ersten beiden Arten von Fällen beginnen. Nach dem gewöhnlichen Verständnis der Worte »Töten« und »Sterbenlassen« scheint klar, dass die Ärztin, die ihren Patienten nicht anschließt, ihn nicht tötet, sondern stattdessen lediglich sterben lässt. Ist ebenso klar, dass dies auch für die Ärztin gilt, die die Geräte abschaltet? Wie ich zu Beginn bereits betonte, steht die Ärztin, die die Geräte abschaltet, nicht passiv daneben und tut nichts, sondern sie greift aktiv ein – sie schaltet die Geräte, die den Patienten am Leben erhalten, ab oder trennt ihn von ihnen. Warum gilt dies lediglich als Sterbenlassen des Patienten? 240 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

Viele Anhänger dieses Arguments antworten darauf: Wenn eine Ärztin ihren Patienten nicht anschließt, dann lässt sie lediglich »der Natur ihren Lauf«. Sie lässt ihren Patienten lediglich an der zugrunde liegenden Erkrankung sterben, die derzeit sein Leben bedroht. Ähnlich lässt eine Ärztin, wenn sie die Geräte ihres Patienten abschaltet, lediglich »der Natur ihren Lauf«. Sie lässt ihren Patienten lediglich an seiner zugrunde liegenden Erkrankung sterben, die sein Leben bedroht hat und wegen der er an die lebenserhaltenden Geräte angeschlossen wurde. In beiden Arten von Fällen ist es demnach die Krankheit des Patienten, die den Tod verursacht. Und natürlich fügen sie hinzu, dass demgegenüber bei der Bereitstellung und Injektion von Medikamenten nicht die Krankheit des Patienten den Tod verursacht, sondern das bereitgestellte oder injizierte Medikament. 4 Reicht das? Das heißt, sind Abschalt- und Nichtanschluss-Fälle in dieser Hinsicht gleich? Zweifelsohne stirbt der Patient, dessen lebenserhaltende Geräte abgeschaltet werden, an der Krankheit, aufgrund derer er sie benötigte. Aber lässt die Ärztin, die die Geräte abschaltet, den Tod des Patienten lediglich geschehen? Lässt sie lediglich »der Natur ihren Lauf«? Wenn der Patient momentan (was durchaus möglich wäre) durch ein Beatmungsgerät am Leben erhalten wird, dann verhindert momentan das Beatmungsgerät, dass die Natur ihren Lauf nimmt. Die Ärztin, die ihn vom Beatmungsgerät trennt, entzieht ihm damit das, was die Natur davon abhält, ihren Lauf zu nehmen. Sie greift ein – und, wie es scheint, lässt sich ihr Handeln am plausibelsten so verstehen, dass sie nicht lediglich der Natur ihren Lauf lässt, sondern ursächlich dafür ist, dass sie dies tut. 5 Wenn ich den Hauptbalken herausschlage, der momentan verhindert, dass das Dach einstürzt, dann lasse ich nicht bloß der Schwerkraft ihren Lauf, wenn das Dach somit auf die Leute im Haus kracht.

Dazu Rehnquist: »Wenn ein Patient lebenserhaltende medizinische Maßnahmen verweigert, stirbt er an der zugrunde liegenden tödlichen Krankheit oder dem Krankheitsbild; doch wenn ein Patient eine tödliche Medizin zu sich nimmt, die ihm vom Arzt verschrieben wurde, so wird er durch diese Medizin getötet.« 5 In einem interessanten, jüngst erschienenen Aufsatz fragt Patrick D. Hopkins, warum das Abschalten des künstlichen Lungensystems lediglich als Sterbenlassen gelten sollte, während das Blockieren des natürlichen Lungensystems aus Fleisch und Blut bei einem Patienten aller Voraussicht nach als Tötung gelten würde. Er fragt: Was ist so besonders an dem natürlichen System? Vgl. seinen Aufsatz »Why Does Removing Machines Count as ›Passive‹ Euthanasia?«, Hastings Center Report 27 (1997), S. 29– 37. 4

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Ich greife ein – ich bin ursächlich dafür, dass die Schwerkraft ihren Lauf nimmt. Wenn die Ärztin das Gerät des Patienten abschaltet, stirbt der Patient eindeutig früher, als er es sonst getan hätte, genauso wie die Leute im Haus früher sterben, als sie es sonst getan hätten, wenn ich den Hauptbalken herausschlage. Es gibt hier folglich ein Problem: Obwohl offensichtlich ist, dass die Ärztin, die ihren Patienten nicht anschließt, diesen lediglich sterben lässt, ist nicht unmittelbar offensichtlich, dass für die Ärztin, die das Gerät abschaltet, das Gleiche gilt. Den Anhängern des ersten Arguments zufolge macht die Tatsache, dass es sich sowohl beim Abschalten als auch beim Nichtanschluss von lebenserhaltenden Geräten lediglich um Fälle von Sterbenlassen handelt, beide gegen das erste Argument zugunsten eines Verbots der Bereitstellung und Injektion von Medikamenten immun. Doch wie soll man sich sicher sein, dass es eine solche Tatsache wirklich gibt? Bislang haben wir allerdings nur einen kleinen Vorgeschmack erhalten. Ich habe erläutert, dass sich das erste Argument auf den Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen stützt und dass dieser Unterschied in den vergangenen Jahren stark diskutiert wurde. Viele Philosophen haben darüber gestritten, worin genau der Unterschied zwischen diesen Begriffen liegt, und ob (worin auch immer er genau liegt) ihm die moralische Bedeutung zukommt, die man ihm allgemein zuschreibt – ja, sogar, ob er überhaupt eine moralische Bedeutung hat. 6 Ich werde hier kurz auf einen argumentativen Schachzug eingehen, den einige Philosophen an dieser Stelle machen. Die philosophische Literatur zum Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen – und zum noch allgemeineren Unterschied zwischen Tun und Unterlassen (wie er üblicherweise bezeichnet wird) – ist mittlerweile gewaltig. Eine Fülle von Beispielen und Argumenten findet sich in Frances M. Kamm: Morality, Mortality, Bd. 2, Oxford 1996, 1. Teil. Kamm konzentriert sich dort hauptsächlich auf die moralische Bedeutung des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen. Für interessante neuere Diskussionen zum Wesen des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen und zu dem allgemeineren Unterschied zwischen Tun und Unterlassen vgl. Jeff McMahans: »Killing, Letting Die, and Withdrawing Aid«, Ethics 103 (1993), S. 250–279, und »A Challenge to Common Sense Morality«, Ethics 108 (1998), S. 394–418. (Letzterer Beitrag stellt eine Rezension zu Jonathan Bennett: The Act Itself, Oxford 1995, dar. Ebenso wie in vorangegangenen Schriften behauptete Bennett auch in diesem Buch, es gebe keinen moralisch bedeutsamen Unterschied zwischen Tun und Unterlassen.) Sowohl Kamm als auch McMahan vertreten die Auffassung, dass Bedingung (ii) erfüllt sein muss, damit eine Ärztin ihren Patienten sterben lassen kann – siehe den Text unten.

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

Sie behaupten, dass es dafür, dass die Ärztin ihren Patienten sterben lässt, nicht bloß notwendig ist, dass sie »der Natur ihren Lauf lässt«, wenn man dies auf die einfachste und natürlichste Art versteht, nämlich so, dass das erfordert, dass sie überhaupt nichts tut. Sie behaupten, es sei notwendig, dass (i) der Patient an der zugrunde liegenden Erkrankung stirbt, die sein Leben bedroht, denn die Ärztin, die ihm ein tödliches Medikament injiziert, lässt ihren Patienten eindeutig nicht bloß sterben. Doch sie behaupten, dass die Erfüllung der Bedingung (i) zwar notwendig, aber nicht hinreichend sei. Wenn ein Patient gerade an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist und nachts ein Rivale eindringt und ihm das Gerät abschaltet, stirbt der Patient zwar an seiner zugrunde liegenden Erkrankung, die sein Leben bedroht, doch der Rivale lässt ihn nicht sterben, sondern er tötet ihn. 7 Sie behaupten, der Grund, weshalb der Rivale ihn tötet, während die Ärztin, die nur sein Gerät abgeschaltet hat, ihn lediglich sterben ließe, liege in Folgendem: Wenn das Gerät des Patienten abgeschaltet wird, so verliert er ein gewisses Stück an Lebenszeit – Lebenszeit, die er mit Hilfe der Ärztin ansonsten gehabt hätte. (Genauer würden wir sagen: mit Hilfe der lebenserhaltenden Geräte, die vom Krankenhaus bereitgestellt wurden, deren Angestellte sie ist. Der Kürze halber werde ich die Notwendigkeit dieser Präzisierung jedoch Man sollte meiner Ansicht nach auch darauf hinweisen, dass es sehr wahrscheinlich nicht so etwas wie den Unterschied zwischen Tun und Unterlassen gibt. In meiner eigenen Rezension zu Bennetts Buch (in: Nous 30 [1996], S. 545–57) habe ich auf den Unterschied zwischen Fällen aufmerksam gemacht, in denen eine Person ein Ereignis E verursacht, indem sie etwas tut (etwas unternimmt, das zu E führt), und Fällen, in denen eine Person E verursacht, aber nicht, indem sie etwas tut. Dies scheint mir einen Unterschied zwischen einem Begriffspaar, nämlich Tun und Unterlassen, zu markieren, auch wenn, sofern dies stimmen sollte, sie dünnere Begriffe sind als die, mit denen Kamm und McMahan sich befassen. (Schaltet eine Ärztin das Gerät ihres Patienten ab, fällt dies in meinem Schema unter »Tun« statt unter »Unterlassen«, während es bei Kamm und McMahan unter »Unterlassen« fällt.). Vielleicht sollte der Unterschied, den ich herausstelle, nicht als der Unterschied zwischen Handlung und Unterlassung betrachtet werden. Wenn es jedenfalls nicht so etwas wie den Unterschied zwischen Tun und Unterlassen gibt, muss jeder Unterschied erst noch genau auf seine moralische Bedeutung hin untersucht werden. 7 Der Fall des Rivalen geht auf Shelly Kagan zurück, vgl. ders.: The Limits of Morality, Oxford 1989, S. 101. Auf das Abschalten von Geräten durch unautorisierte Akteure hat Anthony Woozley aufmerksam gemacht in: »A Duty to Rescue: Some Thoughts on Criminal Liability«, Virginia Law Review 69 (1983),S. 1273–1300, hier S. 1297. Kagan und Woozley stellen beide sicherlich zu Recht fest, dass der Akteur in solchen Fällen tötet.

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beiseitelassen.) Wenn also die Ärztin sein Gerät abschaltet, verliert der Patient die Lebenszeit, die er mit ihrer Hilfe ansonsten gehabt hätte. Schaltet demgegenüber sein Rivale das Gerät ab, verliert er nicht die Lebenszeit, die er mit Hilfe des Rivalen ansonsten gehabt hätte: Der Rivale hat keine Hilfe zu bieten, sodass der Patient die Lebenszeit verliert, die er mit Hilfe der Ärztin gehabt hätte. Das führt zu einer zweiten notwendigen Bedingung. Wir sollen nur sagen, dass eine Ärztin ihren Patienten sterben lässt, wenn (i) der Patient an der zugrunde liegenden Erkrankung stirbt, die sein Leben bedroht, und (ii) der Patient die Lebenszeit verliert, die er mit Hilfe der Ärztin gehabt hätte. Dass die Erfüllung dieser zweiten Bedingung notwendig ist, erscheint mir richtig, denn: Wir können eine Person nicht sterben lassen, wenn wir nicht alternativ über eine Möglichkeit verfügen, ihr zu helfen, am Leben zu bleiben. Sowohl die Ärztin, die den Patienten nicht anschließt, als auch die Ärztin, die das Gerät abschaltet, erfüllen beide dieser Bedingungen. Folglich scheint die Ansicht, dass die Erfüllung dieser beiden Bedingungen notwendig ist, tatsächlich richtig zu sein. Doch ist ihre Erfüllung auch hinreichend? Nein. Denn angenommen, ein Patient kommt gut mit seinem Beatmungsgerät zurecht und hat den Wunsch geäußert, an ihm angeschlossen zu bleiben. Und angenommen nun, seine Ärztin schaltet das Gerät dennoch ab. (Warum? Vielleicht ist sie übermüdet oder ihre Unterlagen sind durcheinandergeraten.) Dann stirbt er (i) an seiner lebensbedrohlichen Erkrankung, und (ii) verliert er die Lebenszeit, die er mit Hilfe der Ärztin gehabt hätte. Doch es scheint mir offensichtlich, dass sie ihn in diesem Fall tötet. 8 Folglich ist mehr erforderlich als nur die Erfüllung der Kriterien (i) und (ii). Man könnte meinen, die weitere notwendige Bedingung sei offensichtlich genug: Sie muss lauten, dass der Patient um das Abschalten der Geräte bittet. Das ist intuitiv gesehen eine plausible Idee. Sie bedarf jedoch einer Verallgemeinerung, da der Patient möglicherweise nicht in der Lage ist, einen solchen Wunsch selbst zu äußern und dieser dementsprechend von seinem Vormund geäußert werden könnte. Für eine Verallgemeinerung müssen wir verstehen, in welcher Weise der Wunsch des Patienten oder seines Vormunds wichtig ist.

Woozley hat in »A Duty to Rescue«, Virginia Law Review 69 (1983), a. a. O., hier S. 1297, darauf hingewiesen, dass die Ärztin ihren Patienten in einem solchen Fall tötet.

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Kommen wir noch einmal auf Bedingung (ii) zurück. Ich glaube, was die meisten Menschen an der Idee verlockend finden, dass die Erfüllung von (ii) notwendig ist, ist der Gedanke, dass ich, wenn ich einer Person Hilfe zur Verfügung stelle, ein Freiheitsrecht habe, diese Hilfe einzustellen. Das stimmt sehr oft. Wenn ich einer Person meine Hilfe zur Verfügung stelle – meine Anstrengungen oder meine Ausrüstung oder beides – und mich nicht dazu verpflichtet habe, dies auch weiterhin zu tun, dann habe ich in der Tat das Freiheitsrecht, die Hilfe einzustellen. (Obwohl die Einstellung moralisch falsch sein könnte, etwa wenn die Fortführung der Hilfe einfach wäre und es keinen vernünftigen Grund für mich gäbe, sie einzustellen). Aber es stimmt nicht immer. Wenn ich mich zur Fortführung der Hilfe verpflichtet habe, dann habe ich, unter sonst gleichen Bedingungen, kein Freiheitsrecht zur Einstellung meiner Hilfe. Betrachten wir noch einmal die Ärztin, die das Gerät ihres Patienten abschaltet, obwohl er nicht wünscht, dass es abgeschaltet wird. Sie tut, wozu sie kein Freiheitsrecht hat. Krankenhäuser sagen nicht zu Patienten, die sie an Rettungsgeräte anschließen: »Das ist unser Beatmungsgerät, wir zahlen den Strom, der es am Laufen hält, und wir behalten uns das Freiheitsrecht vor, das Gerät nach Belieben abzuschalten.« Zweifellos gehört das Beatmungsgerät dem Krankenhaus, und es bezahlt den Strom dafür, doch ein Patient, der an das Beatmungsgerät angeschlossen wird, hat ein Anspruchsrecht auf seine Weiternutzung, so wie Sie ein Anspruchsrecht auf Weiternutzung meines Hauses haben, wenn ich es Ihnen für unbegrenzte Dauer zur Miete überlassen habe. Der Wunsch des Patienten ist also in folgender Weise wichtig: Indem er seine Ärztin darum bittet, sein Gerät abzuschalten, gibt er ihr ein Freiheitsrecht, dies zu tun. Die Verallgemeinerung folgt sogleich: Die dritte Bedingung, die erfüllt werden muss, lautet: (iii) Die Ärztin hat ein Freiheitsrecht, die Handlung vorzunehmen (Tun oder Unterlassen), die in den Tod des Patienten mündet. Ist die Erfüllung von (iii) wirklich eine notwendige Bedingung für das Sterbenlassen des Patienten durch seine Ärztin? Ist die Erfüllung einer angemessenen Verallgemeinerung von (iii) notwendig für das Sterbenlassen von irgendwem durch irgendwen? Diese Vorstellungen erscheinen mir, intuitiv gesehen, sehr plausibel. 9

Bei allen eindeutigen Fällen von Sterbenlassen, auf die ich in der Literatur gestoßen bin, handelt es sich um Fälle, in denen der Handelnde ein Freiheitsrecht hat, so zu

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Wenn die Erfüllung von Bedingung (iii) – ebenso wie die von (i) und (ii) – notwendig ist, so folgt daraus etwas Interessantes: Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen ist von sehr vielen für eine an sich nicht moralische Unterscheidung gehalten worden, die nichtsdestoweniger einen moralischen Unterschied macht. Wenn das Sterbenlassen voraussetzt, dass der Akteur das Freiheitsrecht hat, so zu handeln, wie er es tut, dann ist der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen nicht gänzlich nicht moralisch. Das scheint mir handeln, wie er es tut. Außerdem liegt es, wie mir scheint, gerade am Besitz dieses Freiheitsrechts, dass diese Fälle so eindeutig sind. Nicht alle Fälle sind jedoch so klar, und angesichts einiger dieser Fälle kann man behaupten, dass mein obiger Vorschlag abgeschwächt werden sollte. Worauf ich hinaus will, ist, dass Handeln und Unterlassen in dieser Hinsicht unterschiedlich wirken können: Vielleicht sollten wir sagen, dass die Erfüllung von (iii) in Fällen von Sterbenlassen erforderlich ist, bei denen es um Handeln geht, aber nicht in Fällen, bei denen es um Unterlassen geht. Es scheint mir daher offensichtlich, dass die Ärztin, die ich im Text beschrieben habe, die das Gerät ihres Patienten abschaltet, aufgrund des fehlenden Freiheitsrechts, dies zu tun, ihren Patienten nicht sterben lässt, sondern ihn vielmehr tötet. Was ist andererseits mit einer Ärztin, die ihren Patienten nicht anschließt, obwohl sie über kein Freiheitsrecht verfügt, ihn nicht anzuschließen? (Wenn z. B. der Patient wünscht, angeschlossen zu werden, und es keinen vernünftigen Grund für sie gibt, ihn nicht anzuschließen: unter anderem hat kein anderer Patient ein Vorrecht auf das Gerät.) Tötet die Ärztin, die den Patienten nicht anschließt, diesen? Oder lässt sie ihn stattdessen zu Unrecht sterben? Ich neige zu ersterer Einschätzung, doch ich wäre nicht überrascht, wenn andere zu letzterem Schluss neigten. Wenn sie recht haben, dann ist die Erfüllung von Bedingung (iii) keine Voraussetzung für Fälle von Sterbenlassen, bei denen es um Unterlassen geht. Hier ist ein weiteres Fallpaar: In dem einen ist die Stromversorgung der Stadt unterbrochen und die Eltern eines Babys haben es in warme Tücher gegen die Kälte gehüllt. Doch dann besinnen sie sich eines anderen: Sie entfernen vorsätzlich die Tücher, und das Baby stirbt daher an Unterkühlung. Als Verantwortliche für das Baby haben sie kein Freiheitsrecht, die Tücher zu entfernen. Es scheint mir offensichtlich, dass sie das Baby töten. In einem zweiten Fall hören die Eltern vorsätzlich damit auf, das Baby zu füttern, wodurch sie es verhungern lassen. Als Verantwortliche für es haben sie kein Freiheitsrecht, damit aufzuhören, es zu füttern. Töten sie das Baby? Oder lassen sie es stattdessen zu Unrecht sterben? Auch in diesem Fall neige ich zu ersterer Einschätzung, doch ich finde es nicht überraschend, dass einige Autoren zu letzterem Schluss tendiert haben – siehe z. B. die weiter oben in Fußnote 5 zitierten Beiträge von McMahan. Sollten sie recht haben, so ist (erneut) die Erfüllung von Bedingung (iii) nicht erforderlich in Fällen von Sterbenlassen, bei denen es um Unterlassung geht. Ich habe allerdings den Eindruck, dass jede Theorie zu diesen Dingen insofern einen Preis zu zahlen hat, als sie an einigen Stellen Grenzen ziehen wird, an denen die Intuitionen auseinandergehen werden. Eine gute Theorie wäre diesen Preis wert; die beste Theorie würde erklären, warum die Intuitionen an bestimmten Stellen auseinandergehen.

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

kein Einwand gegen die Vorstellung zu sein, dass für Sterbenlassen ein Freiheitsrecht erforderlich ist. Dass der Unterschied teilweise moralischer Natur ist, würde sogar passenderweise dazu beitragen, zu erklären, warum und wie er einen moralischen Unterschied macht. Wir sollten uns zudem in Erinnerung rufen, dass die Tatsache, dass ein Handelnder ein Freiheitsrecht hat, eine Sache zu tun, für sich allein genommen noch nicht festlegt, dass es ihm auch moralisch erlaubt ist, sie zu tun. Wie ich bereits in einer Bemerkung in Klammern weiter oben sagte, kann es auch moralisch falsch sein, ein Freiheitsrecht auszuüben: Ein Freiheitsrecht liefert nur eine widerlegbare Vermutung oder eine anfechtbare Begründung für die moralische Zulässigkeit der Handlung. Doch ich mache hier lediglich Vorschläge, denn all das ist strittig. Was sich eigentlich nur zeigt, ist Folgendes: Wenn das Abschalten des Geräts des Patienten durch seine Ärztin bedeutet, dass sie ihn sterben lässt, wovon uns die Anhänger des ersten Arguments (unter anderem) gern überzeugen würden, dann ist dennoch nicht klar, wie sich das ergibt, weil nicht klar ist, worin der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen liegt. Anhänger des ersten Arguments würden uns auch gern davon überzeugen, dass der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen einen moralischen Unterschied ausmacht, und zwar nicht nur einen moralischen Unterschied, sondern einen bedeutenden moralischen Unterschied. Insofern uns unklar ist, worin der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen liegt, sollten wir zumindest misstrauisch gegenüber der Behauptung sein, dass er einen solchen bedeutenden moralischen Unterschied macht. Ich kann jedoch nicht widerstehen, hinzuzufügen, dass ich davon überzeugt bin, dass einige, die sich vornehmlich mit der moralischen Beurteilung von ärztlichen Entscheidungen befassen, sich allzu sehr von der Frage haben faszinieren lassen, ob die Ärztin, die das Gerät ihres Patienten abschaltet, ihn tötet oder sterben lässt. Wir müssen nur davon ausgehen, dass sie ihn sterben lässt, wenn wir der Ansicht sind, dass sie, wenn sie ihn tötet, moralisch unzulässig handelt. Dass die Tötung eines Patienten durch seine Ärztin moralisch verboten ist, ist natürlich genau das, was das erste Argument besagt. Ich bin dabei, darzulegen, dass wir dieses erste Argument zurückweisen sollten, doch vielleicht lohnt es sich, auf diesem Weg die Aufmerksamkeit auf die vielen Dinge zu lenken, die sich zugunsten der These anführen lassen, dass die Ärztin moralisch erlaubt handelt, wenn sie die Geräte ihres Patienten abschaltet – auch wenn wir uns gezwungen 247 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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sehen sollten, zuzustimmen, dass ihre Handlung eine Tötung darstellt. Wenn sie ihn tötet, dann letztendlich nur insofern, als sie seine Geräte abschaltet. Und dann sind da noch all die Tatsachen in Bezug auf den massiven Eingriff der Geräte und den Zustand und die Wünsche des Patienten und zudem die Tatsache, dass die Ärztin eine Angestellte des Krankenhauses ist und das zuständige, angemessen gebildete Krankenhauskomitee das Abschalten der Geräte aus diesen und jenen Gründen ausdrücklich erlaubt hat. Sicherlich müssen wir nicht sagen, dass diese Tatsachen dazu führen, dass die Ärztin, die die Geräte abschaltet, den Patienten nicht tötet und deshalb moralisch zulässig handelt. Wir können stattdessen direkt von diesen Tatsachen zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Ärztin, die das Gerät abschaltet, moralisch zulässig handelt und es jenen, die eine Vorliebe für philosophische Analysen haben, überlassen, darüber nachzudenken, ob sie tötet, und wenn nicht, warum nicht. Das zumindest ist meine Ansicht. Und es würde meiner Ansicht nach in der Tat zur moralischen Klarheit beitragen, wenn man so vorginge. In den folgenden Abschnitten überspringe ich die Probleme, auf die ich die Aufmerksamkeit in diesem Abschnitt gelenkt habe. Ich werde mich ausschließlich mit Fällen befassen, in denen es völlig eindeutig ist, ob eine Ärztin ihren Patienten tötet oder nicht tötet. Ich werde behaupten, dass das erste Argument sein anvisiertes Ziel nicht in vollem Umfang erreicht und dass es zudem Dinge erfasst, die es nicht erfassen sollte.

III. Wenden wir uns nun der Bereitstellung und Injektion von Medikamenten zu. Zunächst zur Bereitstellung von Medikamenten. Als ich (in Abschnitt II) beschrieben habe, wie das erste Argument auf unsere vier Arten von Fällen angewandt wird, habe ich festgestellt: Die Ärztin, die das Gerät abschaltet oder nicht anschließt, lässt ihren Patienten lediglich sterben, doch im Gegensatz dazu gehen die Bereitstellung und die Injektion von Medikamenten mit der Tötung des Patienten einher und sind daher stets moralisch verboten. Ich musste dieses vage Wort »einhergehen« verwenden, da eines sicherlich klar ist: Die Ärztin, die ihren Patienten mit einem tödlichen Medikament ver248 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

sorgt, tötet ihren Patienten nicht selbst. Einerseits nimmt der Patient das Medikament vielleicht überhaupt nicht. (So mancher Patient möchte mit dem Medikament nur versorgt werden, um die tröstliche Gewissheit zu haben, dass er, falls sein Zustand unerträglich werden sollte und er deshalb sein Leben beenden möchte, dazu auch in der Lage ist. Ein solcher Patient nimmt am Ende des Tages das Medikament vielleicht gar nicht.) Andererseits ist es eben, selbst wenn der Patient das Medikament tatsächlich nimmt, der Patient (und nicht die Ärztin), der den Patienten tötet. Anhänger des ersten Arguments antworten darauf vielleicht, dass die Ärztin im Fall der Bereitstellung von Medikamenten zwar nicht selbst den Patienten tötet, dass aber mit einem solchen Fall trotzdem eine Tötung einhergeht, wenn der Patient das Medikament einnimmt, da dies impliziert, dass der Patient sich selbst tötet. Die Ärztin beteiligt sich dennoch an einer Tötung, wenn der Patient sich selbst tötet, und ob er es nun tut oder nicht: Sie ermöglicht ihm, sich selbst zu töten. Und sie fügen vielleicht noch hinzu, dass es nicht allein die Tötung des Patienten durch seine Ärztin ist, die immer moralisch verboten ist, sondern auch der Suizid selbst – und wann immer es moralisch verboten ist, dass eine Person eine bestimmte Sache tut, ist es ebenso moralisch verboten, ihr dabei zu helfen oder ihr zu ermöglichen, sie zu tun. 10 Es sollte uns jedoch klar sein, dass die Antwort, die ich hier ins Auge fasse, ein anderes Argument gegen die Bereitstellung von Medikamenten liefert. Es stützt sich nicht auf die Prämisse, dass die Tötung eines Patienten durch seine Ärztin stets moralisch verboten ist. Vielmehr stützt es sich auf die Prämisse, dass die Selbsttötung eines Patienten stets moralisch verboten ist. Ich werde mich daher diesbezüglich kurz halten. Die im Text beschriebene mögliche Antwort ist nur eine von zweien, die sich in diesem Zusammenhang aufdrängen. Die andere deutet sich in der Passage an, die ich aus Rehnquist in Fußnote 3 weiter oben zitiert habe. Das heißt, es könnte behauptet werden, dass die Bereitstellung von Medikamenten in folgender Weise mit einer Tötung einhergeht (wenn der Patient das Medikament einnimmt): Das Medikament tötet den Patienten. Schließt im Gegensatz dazu eine Ärztin den Patienten nicht an ein Gerät an oder schaltet es ab, stirbt der Patient lediglich »an der zugrunde liegenden tödlichen Krankheit oder dem tödlichen Krankheitsbild«, die sein Leben bedrohte. Somit tötet ihn im Grunde genommen nichts. Ich schlage vor, dass wir diese Vorstellung beiseite lassen, da die (vermeintliche) Tatsache, dass eine tödliche Krankheit eine Person, die an ihr stirbt, nicht tötet, zu schwach ist, um die moralische Last zu tragen, die sie tragen müsste.

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Viele Menschen sind tatsächlich davon überzeugt, dass Suizid stets moralisch verboten ist. Ich glaube, dass die meisten, die dieser Überzeugung sind, sich dabei auf religiöse Gründe stützen. Doch einige sind auch aus nicht religiös basierten, moralischen Gründen dieser Überzeugung. Kant war dieser Überzeugung unter Berufung auf den intrinsischen Wert vernünftiger Wesen. Viele andere (ich zähle mich selbst dazu) glauben dagegen nicht, dass Suizid stets moralisch verboten ist. Doch ich werde dieses Thema nicht weiter vertiefen. Wir sollten allerdings eine Frage beachten, die diese Vorstellung aufwirft. Angenommen, Sie sind davon überzeugt, dass Suizid stets moralisch verboten ist und dass daher auch die Hilfe bei einem Suizid stets moralisch verboten ist. Können Sie unter Berufung auf ihre moralische Unzulässigkeit in vernünftiger Weise für ein Verbot der Hilfe bei einem Suizid eintreten, ohne sich gleichzeitig dazu aufgefordert zu sehen, auch für ein Verbot des Suizids einzutreten? Schließlich sind Sie ja nur der Ansicht, dass die Hilfe bei einem Suizid moralisch verboten ist, weil Sie der Meinung sind, dass Suizid moralisch verboten ist. Suizid galt einst als ein Verbrechen. 11 Das ist heute nicht mehr der Fall, und ich nehme an, dass sich niemand eine Rekriminalisierung wünscht, auch diejenigen nicht, die ihn für moralisch verboten halten. Sollten Sie daher der Auffassung sein, dass die Hilfe bei einem Suizid ein Verbrechen bleiben sollte, dann sollten Sie besser einen überzeugenderen Grund dafür anführen als den, dass auch der Suizid selbst moralisch verboten ist. Es stehen sicherlich deutlich bessere Gründe zur Verfügung, um das Handeln von praktisch jedem zu kriminalisieren, der irgendwem dabei hilft, sich selbst zu töten. Dies gilt insbesondere für die ärztliche Beihilfe zum Suizid: Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass es keine Möglichkeit gibt, die Praxis so einzuschränken, dass die ArSuizid? Niemand war verfügbar, der dafür hätte belangt werden können! Doch der Grundbesitz des Verstorbenen stand durchaus für eine Pfändung bereit. Da Suizid ein Verbrechen war, galt dies auch für versuchten Suizid (vgl. Mord und versuchter Mord), und in dem Fall konnte derjenige, der ihn versucht hatte, strafrechtlich verfolgt werden. Wie Suizid ist auch versuchter Suizid heute kein Verbrechen mehr. Da Suizid ein Verbrechen war, galt dies zudem auch für die Beihilfe zum Suizid. (Beihilfe zu einem Verbrechen ist standardmäßig selbst ein Verbrechen.) Fraglich ist hier nur, wie man begründen kann, dass die Hilfe bei einem Suizid ein Verbrechen bleiben sollte, obwohl weder Suizid noch versuchter Suizid heute mehr ein Verbrechen darstellen.

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

men und Schwachen geschützt werden, dann wäre das ein sehr überzeugender Grund dafür, eine Legalisierung abzulehnen. Doch wie ich bereits eingangs festgestellt habe, lasse ich diesen Grund für eine Ablehnung der Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid beiseite. Lassen Sie uns trotzdem noch einmal zu dem Argument zurückkehren, das wir betrachtet haben und das sich auf die Prämisse stützt, dass die Tötung eines Patienten durch seine Ärztin stets moralisch verboten ist. Dieses Argument verfehlt deutlich denjenigen Teil seines anvisierten Ziels, der die Bereitstellung von Medikamenten betrifft. Erreicht es dann nicht zumindest den anderen Teil seines Ziels, der die Injektion von Medikamenten betrifft? Wenden wir uns dem Injektions-Fall zu. Die Ärztin, die ein tödliches Medikament injiziert, tötet jedenfalls ihren Patienten. Wenn also die Tötung eines Patienten durch seine Ärztin moralisch verboten ist, dann ist auch die Injektion von Medikamenten moralisch verboten. Folglich erreicht das Argument durchaus diesen Teil seines anvisierten Ziels. Eigentlich sollten die Gegner der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, die sich auf die moralische Unzulässigkeit der Tötung eines Patienten durch seine Ärztin stützen, gerade im Hinblick auf Injektions-Fälle sehr entschiedener Meinung sein. Man hätte erwarten können, dass die Gegner unmissverständlich erklären: Da die Ärztin, die das Medikament injiziert, ihren Patienten tötet und da zudem die Tötung eines Patienten durch seine Ärztin stets moralisch verboten ist, darf sie das Medikament nicht injizieren. Punkt. Doch de facto sagen die meisten Gegner der ärztlichen Beihilfe zum Suizid genau das nicht. Sie sind bereit, der Ärztin zu gestatten, auch Morphium in einer letztlich tödlichen Dosis zu geben, wenn nichts unterhalb dieser Dosis die Schmerzen des Patienten lindert oder sie auch nur erträglich macht. Sie betrachten die entsprechende Handlung einer Ärztin nicht als moralisch unzulässig. Und sie sind auch nicht der Auffassung, dass ein solches Handeln der Ärztin gesetzlich verboten sein sollte. Ist es tatsächlich gesetzlich verboten? Ich habe zuvor bereits erwähnt, dass nicht klar ist, dass es in dieser vierten Art von Fällen verboten ist, wenn die Ärztin dem Wunsch ihres Patienten nachkommt. Handelt die Ärztin im Einklang mit einer bestimmten Vorschrift, so nehme ich an, dass es in der Tat nicht verboten ist. Während der mündlichen Verhandlung zu den zwei Fällen von ärztlicher Beihilfe 251 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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zum Suizid vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten sagte der damalige Generalstaatsanwalt, Solicitor General Walter Dellinger, der gegen die ärztliche Beihilfe zum Suizid eintrat: »Wir sind uns einig, dass das einzelstaatliche Recht […] nicht nur den Ausstieg aus der ärztlichen Behandlung erlauben kann, sondern dass es auch Ärzten erlauben kann, Medikamente in ausreichenden Dosen zur Schmerzlinderung zu verschreiben, auch wenn die notwendige Dosis den Tod beschleunigt.« Er fügte einen Vorbehalt hinzu: Ärzte dürften dies, so Dellinger, tun, »solange die Absicht des Arztes darin besteht, die Schmerzen zu lindern und nicht den Tod zu bewirken« 12. Wir werden in Abschnitt IV weiter unten noch einen näheren Blick auf diesen Vorbehalt werfen. Zunächst sollten wir uns jedoch über Folgendes im Klaren sein: Angenommen, eine Ärztin könnte die Schmerzen ihres Patienten durch nichts außer einer tödlichen Dosis Morphium lindern und der Patient wüsste dies und bäte dennoch um Morphium. Angenommen ferner, die Ärztin würde das Medikament injizieren und dabei nur die Linderung der Schmerzen und nicht das Verursachen des Todes bezwecken. Angenommen schließlich, die Injektion des Medikaments würde tatsächlich den Tod des Patienten bewirken. Dann hätte die Ärztin den Tod des Patienten bewirkt. Tatsächlich hätte sie den Patienten getötet. Dass die Ärztin nicht beabsichtigt hätte, den Tod ihres Patienten zu bewirken oder ihn zu töten, wäre überhaupt kein Grund dafür, der Meinung zu sein, dass sie diese Dinge nicht getan hat. Sollte Dellinger jedoch recht im Hinblick auf das bestehende einzelstaatliche Recht haben, ist ihr Handeln nicht verboten. Das bedeutet, dass das erste Argument zwar durchaus den Teil In ihrer übereinstimmenden Urteilsbegründung im Fall Vacco v. Quill und dem mit ihm verbundenen Verfahren Washington v. Glucksberg, U.S. Reports 521 U.S. 702 (1996), schreibt Richterin O’Connor: »Die Parteien und amici sind sich darin einig, dass einem Patienten, der an einer tödlichen Krankheit im Endstadium leidet und der unter großen Schmerzen leidet, in diesen Bundesstaaten [New York und Washington] keine rechtlichen Schranken entgegenstehen, um Medikamente von qualifizierten Ärzten verabreicht zu bekommen, um dieses Leiden zu lindern, sogar bis hin zu dem Punkt, an dem dies zu Bewusstlosigkeit und einer Beschleunigung des Todes führt.« Sie fügt nicht ausdrücklich den Vorbehalt Dellingers hinzu, obwohl man durchaus der Meinung sein kann, dass er sich hinter dem Ausdruck »um dieses Leiden zu lindern« verbirgt (die Betonung wurde von mir hinzugefügt). Denn das impliziert, dass die Linderung des Leidens die zugrunde liegende Absicht für die Versorgung mit Medikamenten darstellt. Rehnquists Urteilsbegründung befürwortet demgegenüber ausdrücklich die Vernünftigkeit des Vorbehalts; siehe Fußnote 13 unten.

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seines anvisierten Ziels erreicht, der sich mit der Injektion von Medikamenten befasst, doch dass die Gegner der ärztlichen Suizidbeihilfe selbst nicht wirklich der Ansicht sind, dass das Argument diesen Teil seines Ziels erfassen sollte – oder dass es zumindest nicht alles, was zu diesem Teil seines Ziels gehört, erfassen sollte. Zusammengefasst sollten Gegner der ärztlichen Beihilfe zum Suizid besser auf das erste Argument gegen sie verzichten. Das Argument verfehlt den Teil seines anvisierten Ziels, der die Bereitstellung von Medikamenten betrifft. Und obwohl es durchaus den Teil, der sich mit der Injektion von Medikamenten befasst, erreicht, sollte dieser Teil (oder jedenfalls ein Teil dieses Teils) auch aus Sicht der Gegner selbst in diesem Punkt nicht erfasst werden.

IV. Die von mir zitierte Bemerkung aus Dellingers mündlicher Aussage führt uns zum zweiten der beiden Argumente gegen eine Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Dieses Argument, das ich im Folgenden diskutieren werde, besteht (wie bereits das erste) aus zwei Teilen. Erstens unterscheidet sich die Handlung einer Ärztin, mit der sie bezweckt, den Tod ihres Patienten zu bewirken, von der Handlung einer Ärztin, bei der sie absieht, dass sie den Tod des Patienten nach sich ziehen wird. Zweitens macht dieser Unterschied einen moralischen Unterschied. Tatsächlich macht er den folgenden, bedeutenden moralischen Unterschied: Die Handlung einer Ärztin, mit der sie bezweckt, den Tod ihres Patienten zu bewirken, ist stets moralisch verboten, wohingegen die Handlung einer Ärztin, bei der sie absieht, dass sie den Tod des Patienten nach sich ziehen wird, unter bestimmten Umständen moralisch erlaubt ist. Und wie lässt sich diese Vorstellung auf unsere vier Arten von Fällen anwenden? Betrachten wir die Abschalt- und NichtanschlussFälle. Zweifelsohne kann eine Ärztin wissen, dass es den Tod ihres Patienten nach sich zieht, wenn sie seine Geräte abschaltet oder ihn nicht anschließt. Doch wenn sie in den Wunsch des Patienten einwilligt, bezweckt sie nicht, seinen Tod zu bewirken: Sie bezweckt nur, ihn von einem ungewollten körperlichen Eingriff zu befreien oder ihm diesen zu ersparen, und sie sieht dabei lediglich voraus, dass dies seinen Tod nach sich ziehen wird. Damit steht fest, dass eine Einwilligung in Abschalt- und Nichtanschluss-Fällen moralisch erlaubt ist. 253 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Etwas anderes gilt (so fährt die Erklärung fort) für Bereitstellungs-Fälle. Hier beabsichtigt die einwilligende Ärztin, mit der Bereitstellung des Medikaments den Tod ihres Patienten zu bewirken. Damit steht fest, dass die Einwilligung im Bereitstellungs-Fall moralisch verboten ist. Im Gegensatz dazu (schließlich) kann die einwilligende Ärztin in einem Injektions-Fall wahlweise beabsichtigen oder nicht beabsichtigen, mit der Injektion den Tod ihres Patienten zu bewirken. Falls sie es beabsichtigt, steht fest, dass sie moralisch unzulässig handelt. Beabsichtigt sie es nicht – beabsichtigt sie lediglich, die Schmerzen ihres Patienten zu lindern und sieht dabei nur ab, dass das zum Tod ihres Patienten führen wird –, so steht damit fest, dass sie moralisch zulässig handelt. Daraus wird sodann gefolgert, dass dieser moralische Unterschied eine unterschiedliche rechtliche Behandlung rechtfertigt, nämlich die, dass man das Handeln in Abschalt- und Nichtanschluss-Fällen rechtlich erlaubt, das Handeln in Bereitstellungs-Fällen rechtlich verbietet und das Handeln in einigen Injektions-Fällen rechtlich erlaubt, und zwar in solchen Fällen, in denen die Ärztin nicht beabsichtigt, sondern lediglich voraussieht, dass ihr Handeln zum Tod des Patienten führt. Unterstützt wird dieses Argument von einem ziemlich allgemeinen Prinzip, das jedem vertraut ist, der sich mit der zeitgenössischen Literatur zur Medizinethik und zu der Frage, was als gerechte und ungerechte Militäraktion in Kriegszeiten zu gelten hat, befasst hat: dem Prinzip der Doppelwirkung (PDW). Die Befürworter dieses Prinzips weisen darauf hin, dass alle Handlungen sehr viele Wirkungen haben und dass es möglich wäre, dass eine bestimmte Handlung sowohl eine gute als auch eine schlechte Wirkung hat. Angenommen, das stimmt in Bezug auf eine bestimmte Handlung. PDW besagt: Wenn die gute Wirkung der Handlung im Verhältnis betrachtet gut genug ist, ist es einem Handelnden moralisch erlaubt, die Handlung vorzunehmen, wenn er, obwohl er die schlechte Wirkung voraussieht, nur die gute Wirkung und nicht die schlechte, sei es als Zweck (d. h. um ihrer selbst willen) oder als Mittel zur Erreichung der guten Wirkung, beabsichtigt. Insbesondere kann die gute Wirkung, die darin besteht, dass ein Patient von körperlichen Eingriffen oder Schmerzen befreit wird, trotz der schlechten Wirkung, die im Tod des Patienten besteht, im Verhältnis betrachtet durchaus gut genug sein, um es moralisch zu254 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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lässig zu machen, dass die Ärztin die Handlung, die beide Wirkungen nach sich zieht, vornimmt – aber natürlich nur, wenn sie ausschließlich die gute und nicht die schlechte Wirkung beabsichtigt. Dieses Prinzip ist offensichtlich in Leuten am Werk, die der Ansicht sind, dass die moralische Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der Einwilligung in unseren Fällen von den Absichten der Ärztin abhängt. Dellinger deutet an, dass es zudem tief im Recht verankert ist, das diese Fragen regelt. 13 Viele Philosophen sind der Ansicht, dass das Prinzip verworren ist. Ich teile diese Auffassung und werde ein wenig erläutern, warum. Das Einzige, was ich interessant an dem Prinzip finde, ist, dass es immer noch so ernst genommen wird, obwohl es schon so oft widerlegt wurde. 14 Zu den Gründen dafür werde ich in Abschnitt V eine Hypothese vorschlagen. Doch betrachten wir zunächst fünf Gründe dafür, sich Sorgen darüber zu machen, wie der vermeintliche moralische Unterschied zwischen Beabsichtigen und Voraussehen auf die vorliegenden Fälle angewendet wird. (1) Man kann durchaus Zweifel an den Annahmen haben, die die Absichten der Ärztinnen in unseren Fällen betreffen. Was wissen wir wirklich über die Absichten von Ärztinnen, wenn sie ihre Einwilligung in einer dieser Arten von Fällen geben? Denken Sie zudem an Bereitstellungs-Fälle (ich nehme an, dass es, ob erlaubt oder nicht, Ärztinnen gibt, die auch in solchen Fällen in die Bitte des Patienten einwilligen). Ich halte es für sehr plausibel, dass einige Ärztinnen, die Medikamente bereitstellen oder es täten,

In Fußnote 11 seiner Urteilsbegründung zitiert Rehnquist eine Stellungnahme, die ihrerseits folgendes Zitat enthielt: »Obgleich die Befürworter der ärztlichen Beihilfe zum Suizid und der Sterbehilfe behaupten, dass die terminale Sedierung eine verdeckte ärztliche Beihilfe zum Suizid oder zur Sterbehilfe darstellt, beruht das Konzept der sedierenden Pharmakotherapie auf einer Einwilligung nach erfolgter Aufklärung und dem Prinzip der Doppelwirkung.« Rehnquist fügt (in eigener Person) hinzu: »Genauso wie ein Bundesstaat die Hilfe beim Suizid verbieten kann, während er es Patienten erlaubt, unerwünschte lebenserhaltende Maßnahmen zu verweigern, kann er eine palliative Schmerztherapie erlauben, die mit dieser Weigerung in Verbindung steht und die die vorhergesehene, aber unbeabsichtigte ›Doppelwirkung‹ hat, dass sie den Tod des Patienten beschleunigt.« 14 Für ein aktuelles Beispiel vgl. Jonathan Bennett: The Act Itself, Oxford 1995, Kap. 11. 13

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wenn dies legal wäre, dies nur in der Absicht tun oder tun würden, dem Patienten damit die tröstliche Gewissheit zu geben, dass er, falls sein Zustand unerträglich wird und er daher sein Leben beenden möchte, dazu auch in der Lage sein wird. Somit ist die Annahme über die Absichten der Ärztinnen nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch sehr unplausibel. 15 Das bestehende Recht verbietet die Bereitstellung von Medikamenten. Möchten die Gegner der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, dass wir es korrigieren, um die Bereitstellung von Medikamenten in denjenigen Fällen zu erlauben, in denen die Ärztin nicht beabsichtigt, den Tod des Patienten zu bewirken? Die Antwort, dass es zu schwierig wäre herauszufinden, welche Absichten die Ärztin in Bereitstellungs-Fällen verfolgt, wird als Antwort nicht ausreichen. Es könnte durchaus schwierig sein, das herauszufinden. Doch wie kann man dann konsistent die Auffassung vertreten, dass die Absichten der Ärztin in Injektions-Fällen entscheidend sind? Kann irgendjemand plausiblerweise der Ansicht sein, dass es schwieriger wäre herauszufinden, welche Absichten die Ärztin in Bereitstellungs-Fällen verfolgt als in Injektions-Fällen? (2) Um PDW auf unsere Fällen anzuwenden, müssen wir davon ausgehen, dass die Handlung der Ärztin eine gute und eine schlechte Wirkung hat: In unseren Fällen besteht die schlechte Wirkung der Handlung der Ärztin im Tod des Patienten. Doch wir sollten uns fragen, warum diese Wirkung der Handlung der Ärztin schlecht ist? Ist es nicht wahrscheinlich, dass sich zumindest einige dieser Patienten in einem so schlechten Zustand befinden, dass es besser für sie wäre zu sterben? Ja sogar, dass es gut für sie wäre zu sterben? Angenommen, das verbleibende Leben eines In Fußnote 12 seiner Urteilsbegründung erklärt Rehnquist, dass die Urteilsbegründung nicht besage, dass der Arzt, der Medikamente zur Verfügung stellt, stets eine deutlich andere Absicht verfolgt als der Arzt, der das Gerät abschaltet oder ein Medikament injiziert. Laut Rehnquist besagt die Urteilsbegründung lediglich, dass der Arzt, der das Gerät abschaltet oder ein Medikament injiziert, tatsächlich oder möglicherweise nur beabsichtigt, die Wünsche des Patienten zu respektieren oder die Schmerzen des Patienten zu lindern. Die Fußnote kommt sodann zu dem Schluss: »Mangels Allwissenheit hat der Bundesstaat jedoch das Recht, gemäß der Vernünftigkeit der Unterscheidung zu handeln.« Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet. Bedeutet es, dass der Bundesstaat mangels Allwissenheit das Recht hat, nach der Vernünftigkeit jener Annahmen über die Absichten der Ärzte zu handeln? Was würde dem Staat das Recht dazu geben?

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Patienten wäre von extremen und anderweitig nicht linderbaren Schmerzen erfüllt. Es ist schwer einzusehen, wie irgendjemand plausiblerweise darauf beharren könnte, dass, egal wie fürchterlich das verbleibende Leben eines Patienten ansonsten sein wird, es dennoch nicht gut, sondern vielmehr schlecht für ihn wäre zu sterben. Schließlich hängt es vom Zustand der jeweiligen Person ab, was gut oder schlecht für sie ist (viel Aspirin zu nehmen ist gut für eine Person mit Arthritis und schlecht für eine Person mit Geschwüren). Und es ist sicherlich plausibel, der Ansicht zu sein, dass diese Person sich in einem so schlechten Zustand befindet, dass es gut für sie ist zu sterben. Ein Patient weiß vielleicht, wie fürchterlich sein verbleibendes Leben andernfalls sein wird und ist vielleicht dennoch der Auffassung, dass es nicht gut für ihn wäre zu sterben. (Wenn wir davon ausgehen, dass es ein Stück weit subjektiv ist, was gut für eine Person ist, können wir daher durchaus der Meinung sein, dass es für diesen Patienten nicht gut wäre zu sterben.) Oder er glaubt vielleicht, dass es gut für ihn wäre zu sterben, aber er will vielleicht nicht sterben. In beiden Fällen wird er vermutlich um kein tödliches Medikament bitten. Doch wir haben es hier nur mit Patienten zu tun, die tatsächlich darum bitten, dass die Ärztin handelt. Selbst diejenigen, die PDW akzeptieren, möchten nicht, dass die Ärztin in Fällen handelt, in denen der Patient (oder der Vormund, wenn der Patient nicht zurechnungsfähig ist) nicht darum bittet. Somit gehen wir von einem Patienten aus, der tatsächlich um eine Handlung bittet. Lassen Sie uns außerdem annehmen, dass er diese Bitte äußert, weil er meint, es sei gut für ihn zu sterben, und er sterben möchte. Warum sollten wir in so einem Fall der Ansicht sein, dass sein Tod eine schlechte Wirkung der Handlung der Ärztin wäre? Wenn er keine schlechte Wirkung der Handlung der Ärztin wäre, dann hat PDW für diesen Fall keine Bedeutung. Das lässt Spielraum für eine Antwort. Einige sind der Ansicht, dass die Frage, ob ein Ereignis gut für eine Person wäre, noch nicht abschließend klärt, ob es ein gutes Ereignis wäre. Ich habe hier nicht die Möglichkeit im Sinn, dass ein Ereignis für die eine Person gut und für die andere schlecht sein könnte. Das stimmt sicherlich. Worauf ich vielmehr hinaus möchte, ist die Vorstellung, dass ein Ereignis für eine Person gut und für niemanden schlecht sein könnte und dennoch kein gutes Ereignis sein könnte. Die Idee besteht in diesem Fall darin, dass es zusätzlich zu der möglichen oder fehlenden Eigenschaft eines Er257 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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eignisses, gut für eine Person zu sein, eine weitere Eigenschaft gibt, die darin besteht, an sich und unverfälscht gut zu sein. Diese Eigenschaft wiederum, so der Gedanke, kann einem Ereignis fehlen, das für jemanden gut und für niemanden schlecht ist. (Diese Eigenschaft wird standardmäßig als intrinsisches Gutsein bezeichnet. Wie ich bereits sagte: Ob ein Ereignis gut für eine Person wäre, hängt von ihrem Zustand ab; ob ein Ereignis intrinsisch gut wäre, hingegen nicht.) In gleicher Weise gibt es aus dieser Sicht eine Eigenschaft des reinen und unverfälschten Schlechtseins (intrinsisches Schlechtsein), die ein Ereignis selbst dann aufweisen kann, wenn es gut für jemanden und schlecht für niemanden ist. Anhänger dieser Idee könnten dann sagen, dass, auch wenn es für den Patienten selbst gut (und für niemanden schlecht) wäre zu sterben, es trotzdem ein schlechtes Ereignis ist. Sie könnten hinzufügen, dass die Linderung der Schmerzen des Patienten ein gutes Ereignis ist. Somit hätte die Einwilligung der Ärztin in seine Wünsche sowohl eine schlechte als auch eine gute Wirkung, und PDW ist schließlich doch für diesen Fall von Bedeutung. Ich erwähne diese Idee nur, weil sie in der Philosophie im Angebot ist, und nicht, weil ich sie in irgendeiner Weise für plausibel halte. Nach meiner eigenen Auffassung ist etwas nur dann gut, wenn es in der einen oder anderen Weise gut ist: Es ist ein gutes Buch oder ein schlechter Schachspieler, oder es sieht gut aus oder ist gut für Jones oder England oder für den Baum hinter meinem Haus. Die Vorstellung, dass es auch ein reines Gutsein gibt, das weit über Gutsein in der einen oder anderen Weise hinausgeht, scheint mir ein ernsthafter Irrtum zu sein. 16 Bestenfalls ist diese Idee undurchsichtig, und wenn die Anwendung von PDW auf unsere Fälle (oder auf andere Fälle) erfordert, dass wir uns auf sie verlassen, ist ihre Anwendbarkeit auf diese Fälle bestenfalls unklar. (3) Lassen Sie uns die Schwierigkeit, auf die ich in Unterpunkt (2) hingewiesen habe, beiseiteschieben und uns darauf konzentrieren, dass die Anwendung von PDW auf unsere Fälle die Annahme erfordert, dass die Ärztin nicht den Tod des Patienten beabsichtigen darf. Was genau schließt das aus? Laut PDW sind zwei Dinge ausgeschlossen: dass eine Ärztin den Tod als Zweck beabsichtigt und dass eine Dass es ein Fehler ist, habe ich an verschiedenen Orten dargelegt, zuletzt in »The Right and the Good«, Journal of Philosophy 94 (1997), S. 273–298.

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Ärztin den Tod als Mittel zu etwas anderem beabsichtigt, beispielsweise zur Befreiung des Patienten von Schmerzen. Diese beiden Dinge unterscheiden sich voneinander. Es ist üblich, davon auszugehen, dass, wenn eine Person X-t und damit ein Ereignis E beabsichtigt, dies bedeutet, dass sie X-t, weil sie der Ansicht ist, dass sie durch diese Handlung E bewirkt, und sie möchte E aus dem einen oder anderen Grund. So könnte etwa ein Junge einen Ball hart schlagen (X) und damit beabsichtigen, dass die Zuschauer ihn bewundern (E): Das heißt, dass er den Ball hart schlägt, weil er der Ansicht ist, dass er dadurch die Bewunderung der Zuschauer bewirkt, und er möchte, dass die Zuschauer ihn bewundern. Ich gehe davon aus, dass, wenn eine Person X-t und dabei E als Mittel beabsichtigt, dies bedeutet, dass sie X-t und damit ein Ereignis E beabsichtigt, wobei sie E möchte, weil sie der Ansicht ist, dass E ein Ereignis F bewirken oder beinhalten wird, das sie möchte. Unser Junge könnte so den Ball hart schlagen und dabei die Bewunderung durch die Zuschauer als Mittel beabsichtigen. Das ist dann der Fall, wenn er möchte, dass die Zuschauer ihn bewundern (E), weil er der Ansicht ist, dass die Bewunderung durch die Zuschauer einen Anstieg der Spenden für die Mannschaft bewirken wird (F), was er möchte. Gleiches gilt, wenn er die Bewunderung durch die Zuschauer möchte (E), weil er der Ansicht ist, dass die Bewunderung der Zuschauer automatisch auch die Bewunderung durch die Mitglieder des Geheimbunds der Schule einschließt (F), die er möchte. (Sie befinden sich verstreut in der Menge.) 17 Ich werde mich dem Fall, in dem E als Zweck beabsichtigt wird, erst weiter unten in Unterabschnitt (4) zuwenden. Denn wir müssen zunächst Ärztinnen betrachten, die den Tod ihrer Patienten als Mittel bezwecken. Angenommen, die Injektion des Medikaments M führt ursächlich zum sofortigen Tod eines Patienten und a fortiori zu seiner Befreiung von Schmerzen. Das sagt uns nur etwas über ein bestimmtes Medikament und nichts über die Absichten irgendeiner Person, wenn Das letztere Beispiel ist an ein Beispiel von Thomas Nagel angelehnt, in dem ein Militäroffizier eine Bombe auf ein Dorf abwirft und damit als Ereignis den Tod aller Dorfbewohner bezweckt. Er möchte das, weil er der Ansicht ist, dass der Tod aller Dorfbewohner den Tod einiger Guerrillakämpfer (zwar nicht bewirken, aber) beinhalten wird, die sich im Dorf versteckt halten, vgl. Thomas Nagel: »Massenmord und Krieg«, in: Ders.: Letzte Fragen, Hamburg 2012, S. 83–109, hier S. 93.

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sie es injiziert. Angenommen, Alice weiß von Medikament M und injiziert es. Ich halte es für durchaus denkbar, dass sie den Tod ihres Patienten tatsächlich als Mittel beabsichtigt, um ihn von seinen Schmerzen zu erlösen: Denn es kann wahr sein, dass sie M injiziert, weil sie der Ansicht ist, dass ihre Injektion von M den Tod des Patienten verursachen bzw. bewirken wird, und sie möchte den Tod ihres Patienten, weil sie der Ansicht ist, dass das bewirken wird, dass ihr Patient von seinen Schmerzen befreit wird – oder weil sie der Ansicht ist, dass der Tod beinhaltet, dass er von seinen Schmerzen befreit wird – und sie möchte, dass er von seinen Schmerzen befreit wird. (Ist der Tod ein Ereignis, das die Befreiung von Schmerzen bewirkt? Oder ist der Tod ein komplexes Ereignis, das neben anderen Ereignissen auch die Befreiung von Schmerzen beinhaltet? Das lasse ich offen. Genauer gesagt: Ich lasse offen, welche der beiden Möglichkeiten Alice sich denkt.) Wenn PDW richtig ist, handelt Alice moralisch unzulässig. Kann das richtig sein? Wir müssen zwei Folgen beachten, die sich ergeben, wenn wir akzeptieren, dass es moralisch unzulässig ist. Erstens handelt Alice selbst dann moralisch unzulässig, wenn M das einzige für sie verfügbare Medikament ist, das die Schmerzen ihres Patienten lindern kann, wie schlimm die Schmerzen des Patienten auch sein mögen. Ich bezweifle, dass die Anwälte, die sich auf PDW gestützt haben, genügend durchdacht haben, dass, wenn man das Recht auf dieses Prinzip gründet, dies unter den gegebenen Umständen auch ein Verbot ihrer Injektion von M verlangen würde. Angenommen, zweitens, dass Alice eine Alternative zum Medikament M zur Verfügung steht, ein Medikament C, das nicht auf der Stelle den Tod des Patienten bewirkt: Die Injektion von C bewirkt stattdessen, dass der Patient ins Koma fällt und einige Zeit später stirbt. Wenn sie C injiziert, wird der Tod ihres Patienten auf die Schmerzlinderung folgen und diese somit offensichtlich weder verursachen noch beinhalten; wenn sie sich also für C entscheidet, wird sie vermutlich nicht den Tod als Mittel beabsichtigen, sondern ihn lediglich voraussehen. Wenn PDW richtig ist, dann muss Alice sich für C entscheiden. Aber zählen die Wünsche des Patienten gar nicht? Nehmen wir einmal hypothetisch an: Wenn der Patient C injiziert bekommt, lebt er länger, als wenn er D injiziert bekommt. Nehmen wir jedoch außerdem hypothetisch an, dass er dieses Stück an zusätzlicher Lebenszeit bewusstlos verbringen wird und der Patient es vielleicht vorzieht, dieses zusätzliche Stück an Lebenszeit nicht zu leben. 260 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Verlangt die Moral von ihm, und sollte das Recht von ihm verlangen, dass er es verlebt? Das scheint mir überhaupt nicht klar zu sein. (4) Wenden wir uns nun der Ärztin zu, die den Tod als Zweck beabsichtigt. Ich gehe davon aus, dass, wenn eine Person X-t und damit E als Zweck beabsichtigt, dies bedeutet, dass sie X-t und damit E beabsichtigt, wobei sie E aufgrund einer bestimmten Eigenschaft möchte, von der sie glaubt, dass E sie selbst aufweist. Unser Junge etwa könnte den Ball hart schlagen und damit die Bewunderung der Zuschauer als Zweck beabsichtigen. Das ist der Fall, wenn er die Bewunderung der Zuschauer (E) möchte, weil er der Meinung ist, dass die Bewunderung der Zuschauer selbst angenehm für ihn sein wird. Ähnliches gilt für eine Ärztin, die den Tod ihres Patienten als Zweck beabsichtigt. Betrachten wir einmal Barbara, deren Patient seit einigen Jahren im Koma liegt und nur noch von Maschinen am Leben erhalten wird. Wir können annehmen, dass Barbara der Ansicht ist, dass sein Weiterleben eine sinnlose Erniedrigung darstellt und dass sein Tod gut für ihn wäre. Nachdem sie nun in den Krankenhausunterlagen ein bis dahin verloren geglaubtes Dokument von ihm gefunden hat, in dem er um die Abschaltung seiner Geräte bittet, falls er ins Koma fallen sollte, und nachdem sie die Erlaubnis vom Vormund des Patienten und dem zuständigen Verantwortlichen des Krankenhauses erhalten hat, schaltet sie seine Geräte ab. Wir können annehmen, dass Barbara den Tod ihres Patienten als Zweck beabsichtigt, denn wir können annehmen, dass sie seinen Tod möchte, weil sie der Ansicht ist, dass sein Tod gut für ihn wäre. Das lenkt den Blick darauf, dass man ohne jede Böswilligkeit einen Tod als Zweck beabsichtigen kann. Carol, die sich in einer ähnlichen Situation wie Barbara befindet, beabsichtigt vielleicht den Tod ihres Patienten als Zweck, allerdings nicht, weil sie der Ansicht ist, dass sein Tod gut für ihn wäre, sondern vielmehr, weil sie der Ansicht ist, dass sein Tod die geeignete Rache für die Dinge darstellt, die er ihr aus ihrer Sicht angetan hat. Carol handelt aus Böswilligkeit, Barbara hingegen nicht. Wenn PDW gleichwohl richtig ist, handelt Barbara moralisch unzulässig. Das kann nicht richtig sein. (5) Spielen die Absichten einer Ärztin eine Rolle für die moralische Zulässigkeit der Handlungen, die sie in unseren vier Arten von Fällen

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vornimmt? Und sollten sie für die rechtliche Zulässigkeit dessen, was sie tut, eine Rolle spielen? Beginnen wir mit dem Recht. Das Abschalten der Geräte ist rechtlich erlaubt. Sollte das Recht geändert werden? Angenommen, die Ärztin eines Patienten würde, wenn sie sein Gerät abschaltete, damit seinen Tod als Mittel oder als Zweck beabsichtigen. Würden wir wollen, dass der Verantwortliche des Krankenhauses, der für die Beaufsichtigung solcher Entscheidungen zuständig ist, zum Patienten (oder seinem Vormund, wenn er im Koma liegt) sagt: »Es wäre verboten, dass sie die Geräte abschaltet. Sie müssen eben warten, bis wir einen Arzt gefunden haben, der nicht mit dieser Absicht ihre Geräte abschaltet«. Betrachten wir nun die Injektion von Medikamenten und stellen uns folgende Situation vor: Sie sind eine Ärztin und ihr Patient steht kurz vor dem Tod und hat fürchterliche Schmerzen, die durch nichts außer einer tödlichen Dosis Morphium gelindert werden können. Aus diesem Grund bittet er sie um diese Injektion. Angenommen, Sie fragen mich (als zuständige Verantwortliche des Krankenhauses), den Krankenhausregeln entsprechend, ob es rechtlich zulässig ist, dass Sie ihm die tödliche Dosis injizieren. Ich antworte Ihnen: »Nun, ich weiß es nicht. Das kann ich erst sagen, wenn Sie mir sagen, welche Absichten Sie verfolgen würden, wenn Sie das Medikament injizierten. Wenn Sie es injizieren würden, um den Tod entweder als Mittel oder als Zweck zu bewirken, dann lautet die Antwort ›Nein‹. Aber wenn Sie das Mittel nur injizieren würden, um eine Schmerzlinderung zu bewirken, dann lautet die Antwort ›Ja‹.« Das ist absurd. Wie könnte man es wirklich für angemessen halten, dass die rechtliche Zulässigkeit einer Einwilligung davon abhängt, was die Ärztin mit ihrer Einwilligung zu erreichen beabsichtigt? Sicherlich sollte die Einwilligung vom Zustand und den Wünschen des Patienten abhängen. Das Gleiche gilt für den Fall des Abschaltens der Geräte. Es ist sicherlich richtig, dass das Recht die Absichten eines Handelnden ernst nimmt. 18 In manchen Fällen liegt das daran, dass ein Dazu Rehnquist: »Das Recht hat lange Zeit die Absichten oder Zwecke von Akteuren dazu verwendet, zwischen zwei Handlungen zu unterscheiden, die dasselbe Ergebnis aufweisen.« Er zitiert sodann zustimmend aus einem früheren Fall: »Das […] Common Law zu Mord unterscheidet häufig […] zwischen einer Person, die weiß, dass eine andere Person infolge ihrer Handlung getötet wird, und einer Person, die mit der gezielten Absicht handelt, eine andere Person zu töten.« Er fügt, in eigener Person, hinzu: »Das Gesetz unterscheidet zwischen Handlungen, die ›wegen‹ eines

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Ärztliche Beihilfe zum Suizid: Zwei moralische Argumente

Unterschied in der Absicht des Handelnden ihn als jemanden erweisen kann, der ein mehr oder minder schweres Verbrechen begangen hat: Man vergleiche den Unterschied zwischen Mord und Totschlag. (Die relative Schwere des Verbrechens spielt für uns eine Rolle, da wir möchten, dass der Akteur angemessen und nicht mehr als angemessen bestraft wird.) Gibt es Fälle, in denen das Gesetz die Absichten eines Handelnden ernst nimmt, weil das, was er tut, nur dann ein Verbrechen ist, wenn er diese oder jene Absicht verfolgt? Die Absicht des Handelnden kann von Belang sein, weil sie widerspiegelt, was er zum Tatzeitpunkt wusste. Wenn Sie daher mit meiner Uhr verschwinden und sich herausstellt, dass Sie eigentlich nur vorhatten, mit Ihrer eigenen Uhr fortzugehen, dann ist das von Belang, weil es zeigt, dass Sie nicht wussten, dass es meine Uhr war, und daher auch nicht wussten, dass Sie mit meiner Uhr weggehen. Wenn Sie das nicht wussten und es darüber hinaus auch keinen Grund für Sie gab, das zu wissen, dann war das, was Sie taten, auch kein Diebstahl. Was ist mit Fällen, in denen ein Handelnder über nichts Entscheidendes im Hinblick darauf, was er tut oder was er durch sein Handeln verursachen wird, in Unkenntnis ist? Betrachten wir Fälle, in denen ein Handelnder weiß, dass er X-t und weiß, dass sein X-en unter anderem zu den beiden Resultaten R1 und R2 führt. Gibt es irgendwelche Fälle, in denen er ein Verbrechen begeht, wenn er X-t und dabei F1 beabsichtigt, aber kein Verbrechen begeht, wenn er X-t und dabei F2 beabsichtigt, aber nicht F1? Wenn Dellinger in Bezug auf das Recht richtig liegt, dann gibt es zumindest eine solche Art von Fall, nämlich die Injektion von Medikamenten – denn die Ärztin in einem InjektionsFall weiß ganz genau, dass sie sowohl den Tod als auch die Linderung der Schmerzen bewirken wird. Dellinger zufolge stellt ihre Injektion des Medikaments, um den Tod des Patienten zu bewirken, ein Verbrechen dar, während ihre Injektion des Medikaments, nur um seine Schmerzen zu lindern, kein Verbrechen ist. Mir sind keine weiteren Fälle bekannt. gegebenen Zwecks vorgenommen werden und Handlungen, die ›trotz‹ ihrer unbeabsichtigten, aber vorausgesehenen Folgen vorgenommen werden.« Die Frage, die ich im Text stelle, lautet: In welchen Fällen grenzt dieser Unterschied allein Verbrechen von Nicht-Verbrechen ab? Ein Unterschied in der Absicht kann einen Unterschied im Hinblick darauf machen, was tatsächlich geschehen wird, und kann sich so auf die Zulässigkeit der Handlung auswirken. Für ein Beispiel siehe Fußnote 20 weiter unten. An dieser Stelle haben wir es jedoch mit einem Unterschied zu tun, der allein in der Absicht des Handelnden liegt.

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Ähnliches gilt für moralische Zulässigkeit und Unzulässigkeit. Gemäß PDW hängt die Antwort auf die Frage, ob es der Ärztin moralisch erlaubt ist, ein tödliches Medikament zu injizieren, davon ab, ob die Ärztin dabei den Tod oder nur die Schmerzlinderung beabsichtigt. Diese Vorstellung ist genauso absurd. Wenn die einzig verfügbare Ärztin ein Medikament injizieren würde, um den Tod des Patienten zu bewirken, oder nicht in der Lage ist, sich einigermaßen klar über ihre eigenen Absichten zu werden, um zu dem qualifizierten Schluss zu gelangen, dass sie ausschließlich beabsichtigt, die Schmerzen des Patienten zu lindern, dann darf sie – gemäß PDW – die Handlung nicht vornehmen, und der Patient muss daher weiter leiden. Das kann nicht richtig sein. 19 Wenn eine Ärztin ihrem Patienten ein tödliches Medikament injizieren will und damit seinen Tod als Zweck beabsichtigt und zudem seinen Tod nur aus Rache will, dann spielt das moralisch gesehen durchaus eine Rolle. Doch wir müssen vorsichtig mit der Beantwortung der Frage sein, in welcher Weise es eine Rolle spielt. Ich behaupte, dass es keine Bedeutung für die Frage hat, ob es ihr moralisch erlaubt ist, so zu handeln. Unabhängig davon, welche Absicht sie mit ihrem Handeln verfolgen mag, nehmen wir an, dass der Patient verzweifelt möchte, dass sie ihm das Medikament injiziert. Wenn wir den Patienten lieben, wollen wir ebenfalls, dass sie ihm das Medikament injiziert. Wir können konsistenterweise der Überzeugung sein, dass es ihr moralisch verboten wäre, so zu handeln, und dennoch wollen, dass sie es tut. Doch die Moral fordert uns auf, uns zu schämen, wenn wir das tun. Denn was moralisch verboten ist, ist schließlich genau das: Verlangt die Moral, dass der Handelnde eine bestimmte Sache nicht tut, darf der Handelnde sie nicht tun. Wenn wir somit wirklich der Überzeugung sind, dass es der Ärztin moralisch nicht erlaubt ist, das Medikament zu injizieren, dann ist es schlecht von uns zu wollen, dass sie es trotzdem tut, und auch, es um des Nutzens willen zu wollen, den der Patient daraus zieht, wenn sie es tut. (Vergleichen Sie damit Ihren Wunsch, dass Smith Ihren Onkel Ich behaupte hier lediglich, dass das, was ein Handelnder mit seinem Tun beabsichtigt (im Unterschied zu dem, was er lediglich voraussieht), irrelevant für die moralische Zulässigkeit oder Unzulässigkeit seiner Handlung ist. (James Rachels hat für diese Schlussfolgerung in seinem Buch The End of Life, Oxford 1986, Kap. 6, argumentiert.) Ich bin der Überzeugung, dass wir auch die stärkere Schlussfolgerung akzeptieren sollten, die darin besteht, dass die Überzeugungen des Handelnden ebenfalls ohne Bedeutung sind, doch ich werde hier nicht weiter dafür argumentieren. 19

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ermordet, und zwar, weil Sie nach seinem Tod sein Anwesen erben.) Ich bin mir jedoch sicher, dass wir uns weder schämen noch Schuldgefühle haben müssen, wenn wir möchten, dass die Ärztin das Medikament in diesem Fall injiziert. Niemand kommt zu Schaden, und dem Patienten kommt es zugute. Dass sie das Medikament aus dem oben genannten Grund injizieren wird, spielt in moralischer Hinsicht eine Rolle. Nicht in dem Sinne, dass damit feststeht, dass es ihr moralisch verboten ist, die Handlung vorzunehmen, sondern vielmehr in dem Sinne, dass sich dadurch zeigt, dass etwas an ihr moralisch schlecht ist. 20

V. Das führt uns zum ersten der beiden Gründe, die aus meiner Sicht hauptverantwortlich dafür sind, dass sich PDW so hartnäckig hält. Ich beziehe mich hier darauf, dass die Tatsache – ich halte es für eine eindeutige Tatsache – nicht ernst genug genommen wird, dass die Frage, ob es einer Person moralisch erlaubt ist, eine Sache zu tun, einfach nicht das Gleiche ist wie die Frage, ob die Person, die sie tut, sich dadurch als schlechter Mensch erweist. Die Ärztin, die aus Rache Rehnquist zitiert das folgende Beispiel, in welchem eine Handlung nicht »wegen«, sondern »trotz« ihrer unbeabsichtigten, aber vorausgesehenen Folgen vorgenommen wird (siehe Fußnote 18 weiter oben): »Als General Eisenhower amerikanische Soldaten an die Strände der Normandie beorderte, war ihm bewusst, dass er viele amerikanische Soldaten in den sicheren Tod schicken würde. […] Sein Ziel war jedoch, Europa von den Nazis zu befreien.« Angenommen, wir wären zu dem Zeitpunkt da, an dem Eisenhower den Befehl zum Beginn der Invasion gibt, und er würde uns zuraunen: »Um ehrlich zu sein: Alles, was ich mit diesem Befehl wirklich bezwecke, ist, dass möglichst viele amerikanische Soldaten sterben.« Und angenommen, wir glauben ihm. Vermutlich sollten wir dann Roosevelt anrufen und ihn bitten: »Verhindern Sie es!« Denn wenn das alles ist, was Eisenhower mit diesem Befehl beabsichtigt, dann gibt es echten Grund zur Sorge, was seine Planung der Invasion betrifft, und folglich auch, was währenddessen ablaufen wird: Es ist wahrscheinlich, dass es mehr Tote als nötig geben wird; natürlich nicht mehr, als er für die Erfüllung seines Zwecks benötigt, aber mehr, als für die Befreiung Europas nötig wären. Doch auch wenn sich diese Bedenken, obwohl dies möglicherweise unmöglich ist, als unbegründet erweisen ließen, d. h. wenn wir zu der Überzeugung gelangen könnten, dass alles genauso ablaufen wird, wie es ablaufen würde, wenn das nicht seine Absicht wäre, – selbst dann gäbe es keinen Grund dafür, den Befehl aufzuheben. Wenn es keinerlei Unterschied für das, was geschieht, macht, mit welcher Absicht er handelt, dann wirkt sich seine Absicht nicht darauf aus, ob er handeln darf, sondern nur auf ihn selbst.

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oder Hass ein tödliches Medikament injiziert, ist ein schlechter Mensch. Wir können noch hinzufügen, dass sie schlecht handelt, wenn sie aus diesem Beweggrund handelt. Das ist jedoch damit vereinbar, dass es ihr moralisch erlaubt ist, das Medikament zu injizieren. Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb manche Menschen diesen Umstand nicht ernst genug nehmen. Es mag an einem Verlangen nach Einfachheit liegen, d. h. an dem Wunsch, dass alle moralischen Begriffe einfach auf einen einzigen Begriff reduzierbar sein sollten. Alternativ dazu, und deutlich interessanter, könnte es selbst auch an dem liegen, was ich für den zweiten der beiden Gründe dafür halte, dass sich PDW so hartnäckig hält. Worauf ich hinaus will, ist, dass viele Menschen meinen, dass wir, wenn wir zustimmen, dass die Absichten des Handelnden bei der Handlung keine Bedeutung für die Beantwortung der Frage haben, ob er handeln darf, Konsequentialisten werden müssen. Viele sind der Meinung, dass, wenn Absichten für die moralische Zulässigkeit von Handlungen bedeutungslos sind, das Einzige, worauf sich die moralische Zulässigkeit von Handlungen noch stützen kann, die Frage ist, ob die Folgen der Handlung des Akteurs, unterm Strich gesehen, gut wären. 21 Doch meiner Ansicht nach zeugt das lediglich von einem Mangel an Vorstellungskraft. In einer bestimmten Weise zu handeln könnte beispielsweise die Verletzung eines Rechts darstellen, das, wie es Ronald Dworkin vor einigen Jahren ausdrückte, den Nutzen übertrumpft; und es sind nicht die Absichten des Handelnden, die festlegen, ob eine Handlung ein Recht verletzen würde, sondern vielmehr die Umstände des Handelnden, also das, was er, aufgrund seiner Umstände, tatsächlich seinem Opfer antun oder aber nicht für es tun würde. Rechte übertrumpfen Nutzenerwägungen in dem Sinne, dass sie eine Nutzenmaximierung unzulässig machen – oder zumindest machen strenge Rechte eine Nutzenmaximierung unzulässig. Andere G. E. M. Anscombe war die Erste, die PDW in die säkulare Moraltheorie eingeführt hat, und zwar mit ihrem Essay »Modern Moral Philosophy«, Philosophy 33 (1958), S. 1–19, der in ihren Collected Philosophical Papers, Bd. 3, Oxford 1981, wiederabgedruckt wurde. In diesem Essay tritt klar die Vorstellung zutage, dass wir Konsequentialisten werden müssen, wenn wir nicht die Unterscheidung zwischen Beabsichtigen und Voraussehen bemerken oder wenn wir die Tragweite dieser Unterscheidung für die moralische Zulässigkeit von Handlungen nicht erkennen.

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Arten von Überlegungen könnten wiederum einen Verzicht auf Nutzenmaximierung erlauben, auch wenn sie eine Nutzenmaximierung nicht verbieten. Sicherlich ist es erlaubt, sein Leben der Linderung menschlicher Nöte zu widmen, aber wir sind nicht moralisch dazu verpflichtet. Zweifellos zeigt die Weigerung einer Person, anderen zu helfen, nur weil sie möchte, dass sie leiden, dass sie ein schlechter Mensch ist. Doch die Weigerung an sich kann erlaubt sein: Die Person ist nicht dazu verpflichtet, nur deshalb Hilfe zu leisten, weil die Absicht, die hinter ihrer Weigerung stünde, schlecht wäre. Welche Rechte wir haben und wie verbindlich sie sind, sind natürlich schwierige Fragen. Genauso schwierig ist die Frage, wie viel die Moral von uns verlangt, für andere zu tun. Diese Fragen zählen zu den tiefsten Fragen der Moraltheorie. Der wichtige Punkt ist hier jedoch, dass es sich um reale Fragen handelt: Wir sind nicht gezwungen, nur deshalb Konsequentialisten zu werden, weil wir zwischen dem moralischen Wert einer Person, die etwas tut, und der moralischen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit ihrer Handlung unterscheiden müssen. Mit einem Wort: Dass sich PDW so hartnäckig hält, liegt an einer allzu vereinfachten Auffassung von den Ressourcen, die die Moral zu bieten hat. Ich behaupte daher, dass dieses zweite Argument gegen die ärztliche Beihilfe zum Suizid ebenfalls scheitert. So wenig unsere Schlussfolgerungen zu diesen vier Arten von Fällen von der Sorge getrieben sein sollten, ob die Ärztin ihren Patienten tötet oder lediglich sterben lässt, so wenig sollten sie sich auch darauf stützen, was die Ärztin beabsichtigen oder nicht beabsichtigen würde, wenn sie handelt. Daher ist es durchaus unglücklich, dass diese beiden Argumente das amerikanische Recht auf diesem Gebiet so stark beeinflusst haben. Übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

Literaturverzeichnis Anscombe, G. E. M.: Modern Moral Philosophy. In: Philosophy 33 (1958), S. 1–19. Wiederabgedruckt in: Dies.: The Collected Philosophical Papers of G. E. M. Anscombe. Bd. 3. Oxford 1981. Bennett, J.: The Act Itself. Oxford 1995.

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Judith Jarvis Thomson

Dworkin, R. u. a.: Hilfe zum Selbstmord: Das Resümee des Philosophen. In: Ethik in der Medizin. Hg. v. U. Wiesing. Stuttgart 2000, S. 225–227. Hopkins; P. D.: Why Does Removing Machines Count as »Passive« Euthanasia?. In: Hastings Center Report 27 (1997), S. 29–37. Kagan, S.: The Limits of Morality. Oxford 1989. Kamm, F. M.: Morality, Mortality. Bd. 2. Oxford 1996. McMahan, J.: Killing, Letting Die, and Withdrawing Aid. In: Ethics 103 (1993), S. 250–279. McMahan, J.: A Challenge to Common Sense Morality. In: Ethics 108 (1998), S. 394–418. Nagel, T.: »Massenmord und Krieg. In: Ders.: Letzte Fragen, Hamburg 2012, S. 83–109. Rachels, J.: The End of Life, Oxford 1986. Thomson, J. J.: Bennett’s »The Act Itself«. In: Noûs 30 (1996), S. 545–557. Thomson, J. J.: The Right and the Good. Journal of Philosophy 94 (1997), S. 273–298. Thomson, J. J.: Vortrag anlässlich der fünften jährlichen »McGill Lecture in Jurisprudence and Public Policy«. Juristische Fakultät der McGill Universität, Montreal. April 1997. Thomson, J. J.: Vorlesung im Rahmen der Vorlesungsreihe des »Program in Ethics and the Professions«. Harvard Kennedy School, Cambridge, MA. April 1998. U.S. Reports: Washington v. Glucksberg, 521 U.S. 702 (1996). U.S. Reports: Vacco v. Quill, 521 U.S. 793 (1997). Woozley, A.: A Duty to Rescue: Some Thoughts on Criminal Liability. In: Virginia Law Review 69 (1983), S. 1273–1300.

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Teil III: Schiefe-Ebene- und Missbrauchsargumente in der Diskussion

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Es gibt kein gutes Töten 1 Robert Spaemann

»Wer sagt, man dürfe auch die eigene Mutter schlagen«, so schreibt Aristoteles, »hat nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdient.« Der australische Tierschutzphilosoph und Ethikprofessor Peter Singer hat für den Fall der Demenz der Mutter zwar nicht gesagt, man dürfe sie schlagen, sondern man dürfe sie töten. Und er hat auch gesagt, das Leben eines erwachsenen Schweins ist mehr wert als das eines neugeborenen Kindes. Parteilichkeit für die eigene Spezies sei unmoralisch. Es gereicht Singer immerhin zur Ehre, dass er seine an Alzheimer erkrankte Mutter aufopferungsvoll pflegte. Die Inkonsequenz rechtfertigte er mit der Bemerkung: »Es ist eben meine Mutter.« Unparteilichkeit ist Hybris, ist der Versuch, den Gottesstandpunkt einzunehmen und das kreatürliche Band zu zerschneiden, das die Mitglieder der Menschheitsfamilie miteinander verbindet. Wenn in einer Zivilisation das Euthanasie-Tabu in Frage gestellt wird, werden wir genötigt, über gute Gründe für dieses Tabu nachzudenken.

Die zivilisatorische Situation Zunächst haben wir es zu tun mit der demographischen Situation der westlichen Industrieländer. Sie ist historisch beispiellos. Während der medizinische Fortschritt dazu geführt hat, dass immer mehr Menschen immer älter werden, propagieren seit drei Jahrzehnten alle relevanten öffentlichen Meinungsbildner einen Lebensstil, aufgrund dessen nun bald immer weniger junge Menschen diese älteren Menschen zu ernähren haben. Die »Pille«, wie immer man sonst über sie denken mag, begünstigte diese Entwicklung. Außerdem war der soDer Text ist eine überarbeitete Fassung aus: Robert Spaemann/Thomas Fuchs: Töten oder sterben lassen? – Worum es in der Euthanasiedebatte geht, Freiburg i. Br. 1997, S. 12–30.

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genannte Generationenvertrag nicht als Drei-Generationen-Vertrag, sondern leider als Zwei-Generationenvertrag konzipiert, also so, dass er diejenigen ökonomisch privilegiert, die es vorziehen, sich im Alter von den Kindern anderer Leute erhalten zu lassen. Dass diese Kinder davon einmal, wenn es so weit ist, nicht begeistert sein würden, war zu erwarten. Es ist nun bald so weit. Und es gehört schon ein hohes Maß an Naivität dazu, im Ernst an Zufall zu glauben, wenn ausgerechnet in diesem Augenblick und ausgerechnet in eben jenen westlichen Industrieländern die Tötung kranker oder alter Menschen legalisiert oder deren Legalisierung gefordert und ernsthaft diskutiert wird. Nicht, als ob die demographische Situation in diesem Zusammenhang als Argument auftauchte und Euthanasie als Lösung empfohlen würde. Das wäre kontraproduktiv. Der Zusammenhang entfaltet gerade als latenter erst seine volle Wirkung. Auch die Psychiater im Dritten Reich, die das mörderische Euthanasieprogramm exekutierten, argumentierten nicht sozialpolitisch, sondern vom »wohlverstandenen« Lebensinteresse des Einzelnen aus. »Lebensunwertes Leben« hieß auch im damaligen Sprachgebrauch jenes Leben, das für den, der es zu leben hat, nichts mehr wert ist. Und der Film »Ich klage an«, mit dem Joseph Goebbels Akzeptanz für das Vernichtungsprogramm zu erzeugen suchte, propagierte lediglich die Einstiegsdroge »Tötung auf Verlangen«. Die Tötung sollte als Tat der Liebe und des Mitleids, als Hilfe zu »menschenwürdigem Sterben« erscheinen. Der Film war von seiner Zielsetzung her hervorragend gemacht. Die Einwände des ärztlichen Ethos werden von einer sympathischen Figur mit großem Ernst vorgebracht, sodass deren Gesinnungswandel dann umso eindrucksvoller wird. Und natürlich darf der Pfarrer nicht fehlen, der sich von seiner traditionellen Rolle als Prediger der Leidensbereitschaft emanzipiert mit dem Argument, dass schließlich Gott den Menschen mit Vernunft ausgestattet hat, damit er diese Vernunft gebraucht. Wahrscheinlich gibt es heute noch keine Gruppe von Mächtigen, die das Mitleid im Dienst einer bevölkerungspolitischen Strategie bewusst instrumentalisiert. Aber es gibt objektive Interessenlagen. Es gibt Trends, die sich aus diesen Interessenlagen ergeben und Forderungen, deren Chance darin liegt, dass sie genau in diese Trends passen. Es gibt das, »was in der Luft liegt«. Zwei Faktoren verstärken die Plausibilität der Forderung, Euthanasie, den assistierten Suizid und die Tötung auf freiwilliges Verlan272 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Es gibt kein gutes Töten

gen zu legalisieren. Da ist zunächst die enorme Steigerung der Möglichkeit, Leben durch Apparate zu verlängern. Die alte berufsethische Regel, der Arzt müsse jederzeit alles tun, was er kann, um den Tod eines Menschen zu verhindern – und das kann ja immer nur heißen: hinauszuschieben –, wird problematisch, wenn dieses Können ein bestimmtes Maß überschreitet. Prothesen können inzwischen Lebensfunktionen eines Organismus substituieren und moribunde Menschen künstlich am Leben erhalten, mit oder ohne deren Einverständnis. Der Entschluss, von diesen Mitteln keinen Gebrauch zu machen oder den Gebrauch irgendwann zu beenden, scheint einer Tötung durch Unterlassung gleichzukommen, vor allem, wenn der Übergang vom Handeln zum Unterlassen nur durch ein erneutes Handeln zu bewerkstelligen ist, also z. B. durch das Abstellen einer Maschine. Weil aber ein solcher Entschluss oft plausibel und manchmal einfach unvermeidlich ist, liegt die Frage nahe, was denn ein solches Unterlassen von »aktiver Sterbehilfe« unterscheidet. Der andere und entscheidende Faktor liegt in einer Grundstimmung der westlichen Zivilisation, die es einerseits als höchstes Ziel des Menschen betrachtet, sich zu vergnügen oder wenigstens sich wohlzufühlen, und andererseits als höchste moralische Pflicht, die Welt durch Vermehrung der Menge angenehmer Gefühle zu optimieren. (Sogar Gottesdienste werden daran gemessen, ob sie »Spaß machen«, ohne dass man bedenkt, dass Geistliche, die sich als Spaßmacher verstehen, gegenüber jedem Clown oder professionellen TVUnterhalter unvermeidlich ins Hintertreffen geraten.) Heideggers Begriff der »Seinsvergessenheit« ist in diesem Zusammenhang hilfreich. Was die Welt in dieser Sicht kostbar macht, ist nicht das Sein von Menschen, Tieren oder Pflanzen, sondern es sind bestimmte Zustände und Erlebnisse, und Menschen nur insofern, als sie Träger solcher Zustände sind. Was vor allem nicht sein soll, sind unangenehme Zustände. Leiden muss um jeden Preis beseitigt werden. Und wo es nicht anders beseitigt werden kann als durch Beseitigung des Leidenden, da ist eben diese angezeigt.

»Wert des Lebens«? Schon die Rede von einem »Wert des Lebens«, von lebenswertem oder »lebensunwertem« Leben, beruht auf dem Vergessen, dass es so etwas wie Wert oder Unwert doch nur unter der Voraussetzung von 273 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Leben geben kann. Inzwischen hat Georg Meggle, ein deutscher Philosophieprofessor, doch tatsächlich einen Kalkül entwickelt, der es erlauben soll, den Wert des Lebens zu einem gegebenen Zeitpunkt in einen Geldbetrag umzurechnen, und zwar wohlgemerkt, den Wert des jeweils eigenen Lebens; denn wenn man davon absieht, dass Menschen Personen sind, kann der Wert meines Lebens für andere natürlich ebenso wie der des Lebens einer Kuh taxiert werden, das Leben kann wertvoll oder wertlos sein. Aber das setzt immer wieder das in sich selbst untaxierbare Leben anderer voraus. Das eigene Leben unter dem Begriff des Wertes denken, für den es eine objektive Berechnungsskala geben könnte, ist absurd. Der Fehler dieses Versuchs liegt darin, dass er von der Möglichkeit, den Wert eines Lebensabschnitts, z. B. eines einzelnen Tages im Verhältnis zum Ganzen des Lebens zu bestimmen, auf die Möglichkeit schließt, das Ganze des Lebens zu taxieren, weil dessen Wert nur der Wert der Summe der einzelnen Lebensabschnitte sei. Dieser Gedanke drückt einen beängstigenden Grad von Selbstentfremdung aus. Töten ist ja nicht deshalb verwerflich, weil es auf die Länge des Lebens ankäme, nach dem Motto: je länger, desto besser, sondern weil in jedem Abschnitt des Lebens das ganze Leben gegenwärtig ist. Einen Tag des Lebens vernichten heißt: an diesem Tag das Leben, also die Person selbst vernichten. Im Verhältnis wozu aber kann der Wert der Existenz der Person bestimmt werden? Nur im Verhältnis zu ihrer Nichtexistenz, also zum Tod. Die Frage, zu der sich Meggle bekennt, lautet denn auch: »Wie schlimm ist es tot zu sein?« Schlimm für wen? Wie kann für jemanden, der tot ist, etwas gut oder schlimm sein? Hier wird mit Worten gespielt. Im Übrigen aber erinnert der Kalkül eher an das alte Studentenlied »Ick wollt’ ick wär ’n Louis d’or / Da kooft’ ick mir ’n Bier dafor.« Wenn es nur auf bestimmte qualitative Zustände ankäme und diese Zustände nicht des Menschen wegen, sondern der Mensch dieser Zustände wegen existierte, würde in der Tat jenes Inkommensurable verschwinden, das wir meinen, wenn wir wie Kant sagen, der Mensch habe keinen Wert, also auch keinen Preis, sondern »Würde«. Nun ist es allerdings gerade der Begriff der Menschenwürde, der im Zusammenhang mit der Forderung nach legaler Tötung eine große Rolle spielt. Vom »Recht auf menschenwürdiges Sterben« war in dem genannten Film der Nationalsozialisten die Rede, und genau diesen Begriff interpretiert nun der katholische Theologe Hans Küng im 274 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Es gibt kein gutes Töten

gleichen Sinn wie der Pfarrer in diesem Film und gibt damit ein wesentliches Element jenes Ethos auf, welches alle großen Religionen miteinander verbindet. Menschenwürdig soll es sein, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu wählen: »Hat nicht Gott dem Menschen die Vernunft gegeben?«

Zur Beurteilung der Selbsttötung Aus dem Recht, sich selbst zu töten, wird nun sogleich das Recht, sich töten zu lassen, abgeleitet. Diese Ableitung ist irrig. Die Straflosigkeit der Selbsttötung ist ganz unabhängig von ihrer sittlichen Beurteilung und bedeutet auch nicht, dass sie »gesetzlich erlaubt« wäre, sondern sie bedeutet, dass sie sich der rechtlichen Normierung prinzipiell entzieht. Es gibt zwar auch einige Gesetze, die den Menschen »paternalistisch« gegen sich selbst schützen, aber dies geschieht immer in stellvertretender Wahrnehmung eines immer unterstellten Interesses an der eigenen Existenz. Die Handlung, mit welcher jemand dieses Interesse definitiv negiert und aus dem Beziehungsnetz auszuscheiden sucht, das alles Lebendige, insbesondere aber alle Menschen miteinander verbindet, kann nicht mit den Maßen gemessen werden, die innerhalb dieses Netzes gelten. Alle Handlungen und Unterlassungen anderer aber, die die Selbsttötung eines Mitmenschen verhindern, fördern oder stellvertretend exekutieren, finden innerhalb dieses Beziehungsnetzes statt und unterliegen also dessen Gesetzen. Selbsttötung ist nicht ein »Recht« sondern eine Handlung, die sich der Rechtssphäre entzieht. Von ihr führt kein Weg zu irgendeinem Recht, einen anderen zu töten, beziehungsweise von einem anderen getötet zu werden. Wenngleich sich auch die Selbsttötung einer rechtlichen Normierung entzieht, so ist es für ein Gemeinwesen doch von großer Bedeutung, wie sie sittlich beurteilt wird. Die Verurteilung der Selbsttötung in unserer Zivilisation ist keineswegs, wie immer wieder behauptet wird, nur jüdisch-christlichen Ursprungs. Sie entspricht vielmehr einer großen philosophischen Tradition, die von Sokrates über Spinoza und Kant bis zu Wittgenstein reicht. Der platonische Sokrates sieht im Leben eine Aufgabe, die wir uns nicht selbst gestellt haben und der wir uns nicht eigenmächtig entziehen dürfen. Der Sinn des Lebens ist offensichtlich so wenig von uns selbst gesetzt wie das Leben selbst, und er enthüllt sich uns deshalb auch nicht in 275 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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irgendeinem Augenblick des Lebens vollständig. »Wenn der Selbstmord erlaubt ist, ist alles erlaubt«, heißt es deshalb bei Wittgenstein. Warum, das lesen wir am ehesten bei Kant. Für Kant ist der Selbstmord nicht Ausdruck von, sondern Absage an Autonomie und Freiheit des Menschen, denn mit diesem Akt wird ja gerade das Subjekt von Freiheit und Sittlichkeit vernichtet. Die Selbsttötung ist deshalb jener Akt der Selbstvergessenheit, mit welchem ein Mensch dokumentiert, dass er sich selbst nur noch als Mittel zur Erreichung oder Erhaltung wünschenswerter Zustände versteht, als Mittel, das sich, wenn es versagt, selbst beiseite räumt. Wir stehen aber zu unserem eigenen Leben, das die Bedingung jedes instrumentellen, auf Zwecke gerichteten Handelns ist, nicht nur in einem rein instrumentellen Verhältnis. Der Versuch, sich vom Leiden zu befreien, hat immer befreites Leben zum Ziel. Aber wer ist das Subjekt einer »Befreiung vom Leben«? Niemand kann den Menschen daran hindern, sich als bloßes Mittel zu betrachten. Und in den meisten Fällen ist die Selbsttötung ja tatsächlich Ausdruck von extremer Schwäche und geminderter Zurechnungsfähigkeit. Wo sie als legitime Handlung, ja als Ausdruck der Menschenwürde gilt, da ergibt sich unweigerlich eine verhängnisvolle Folge, die durch die Legalisierung aktiver Sterbehilfe oder des assistierten Suizids noch verstärkt wird. Wo das Gesetz es erlaubt und die Sitte es billigt, sich zu töten oder sich töten zu lassen, da hat plötzlich der Alte, der Kranke, der Pflegebedürftige alle Mühen, Kosten und Entbehrungen zu verantworten, die seine Angehörigen, Pfleger und Mitbürger für ihn aufbringen müssen. Nicht Schicksal, Sitte und selbstverständliche Solidarität sind es mehr, die ihnen dieses Opfer abverlangen, sondern der Pflegebedürftige selbst ist es, der es ihnen auferlegt, da er sie ja leicht davon befreien könnte. Er lässt andere dafür zahlen, dass er zu egoistisch und zu feige ist, den Platz zu räumen. – Wer möchte unter solchen Umständen weiterleben? Aus dem Recht zur Selbsttötung wird so unvermeidlich eine Pflicht. Schon Stoiker haben, so berichtet Diogenes Laertius, diese Konsequenz gezogen und so noch eine moralische Prämie auf den Selbstmord gesetzt. Wer freiwillig aus dem Leben scheidet, kann das in dem Bewusstsein tun, dem Vaterland oder den Freunden gegenüber seine Pflicht zu erfüllen. Hinter dieser Sicht steht das Ideal des stoischen Weisen, der sich als reines Vernunftsubjekt begreift, frei von individuellen menschlichen Regungen, frei von Furcht und Hoffnung, von Liebe, Mitleid und Hass. Nicht von ungefähr berichtet Diogenes Laertius unmittel276 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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bar anschließend an die Selbstmordpassage, dass unter den stoischen Weisen Promiskuität herrsche, dass Eifersucht in Liebessachen unbekannt sei und dass die Weisen allen Kindern als ihren eigenen zugetan sind. Nähe und Ferne existieren für sie nicht, weil diese Kategorien dem Menschen als endlichem Lebewesen zugehören. Selbsttötung ist für den Weisen immer dann angeraten, wenn seine reine Vernunftautonomie durch biologische Beeinträchtigungen gefährdet ist. Die Stoiker wussten allerdings selbst nicht, ob es den Weisen in diesem Sinne überhaupt gibt. Er ist ein »Ideal«. Allerdings ein Ideal, dem man sich nicht schrittweise nähern kann. Denn die Weisheit, die alle Tugenden in sich schließt, hat man entweder ganz oder gar nicht. Augustinus hat auf die Unmenschlichkeit dieses Ideals hingewiesen. Der Weise »freut sich nicht mit den Fröhlichen und weint nicht mit den Weinenden«. Und er verzichtet auch auf den Wunsch oder die Erwartung, dass jemand mit ihm weint. Wenn etwas geeignet ist, dem Leidenden sein Leben als lebensunwert erscheinen zu lassen, dann ist es die Entsolidarisierung der Gesellschaft durch moralische Rehabilitierung der Selbsttötung und durch Legalisierung der Tötung auf Verlangen, also durch den stillen Hinweis: »Bitte, da ist der Ausgang.«

Die Einstiegsdroge Im Übrigen ist die Tötung auf Verlangen nur die Einstiegsdroge für die Enttabuisierung der Tötung »lebensunwerten Lebens« auch ohne Zustimmung. »Wissen Sie«, sagt der alte Father Smith in Walker Percys ›Thanatossyndrom‹, »wohin Sentimentalität führt? … In die Gaskammer. Sentimentalität ist die erste Maske des Mörders.« Im Gefolge der Prozesse gegen die Euthanasieärzte des Dritten Reiches schrieb der amerikanische Arzt Leo Alexander 1949, »dass allen, die mit der Frage nach dem Ursprung dieser Verbrechen zu tun hatten, klar wurde, dass diese Verbrechen aus kleinen Anfängen wuchsen. Am Anfang standen zunächst feine Akzentverschiebungen in der Grundhaltung. Es begann mit der Auffassung, die in der Euthanasiebewegung grundlegend ist, dass es Zustände gibt, die als nicht mehr lebenswert zu betrachten sind. In ihrem Frühstadium betraf diese Haltung nur die schwer und chronisch Kranken. Nach und nach wurde der Bereich jener, die unter diese Kategorie fallen, erweitert und auch die sozial Unproduktiven, die ideologisch Unerwünschten, 277 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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die rassisch Unerwünschten dazugerechnet. Entscheidend ist jedoch zu erkennen, dass die Haltung gegenüber den unheilbar Kranken der winzige Auslöser war, der diesen totalen Gesinnungswandel zur Folge hatte«. Dass es sich hier nicht um ein historisch zufälliges Zusammentreffen, sondern um einen gesetzmäßigen Zusammenhang handelt, zeigt das Beispiel der Niederlande, in denen ein Teil der jährlich legal Getöteten – es handelt sich um Hunderte – nicht mehr auf eigenes Verlangen getötet wird, sondern auf das Urteil von Angehörigen und Ärzten hin, die darüber befinden, dass es sich hier um lebensunwertes Leben handelt. Das Erschreckendste ist, dass angesichts dieser Tatsache nicht ein Schrei des Entsetzens durch die ganze zivilisierte Welt geht. C. S. Lewis trog sein Blick nicht, als er 1943 in »The Abolition of man« schrieb: »Der Prozess, der, falls man ihm nicht Einhalt gebietet, den Menschen zerstören wird, spielt sich unter Kommunisten und Demokraten ebenso augenfällig ab wie unter Faschisten. Die Methoden mögen sich zunächst in der Brutalität unterscheiden. Aber manch ein sanftäugiger Naturgelehrter mit Zwicker, manch ein erfolgreicher Dramatiker, manch ein Amateurphilosoph in unserer Mitte verfolgt auf die Länge genau dasselbe Ziel wie die herrschenden Nazis in Deutschland.« Dass sich die Katastrophe ausgerechnet in Holland, also in einem Land ereignet, das dem Nationalsozialismus so eindrucksvoll Widerstand geleistet hat, ist tragisch, aber nicht von ungefähr. Die Gewissheit, ohnehin auf der guten Seite zu stehen, kann leicht blind machen für die eigene Versuchbarkeit. Der Übergang von der Tötung auf Verlangen zur Tötung ohne Verlangen ist im Übrigen von der gleichen Konsequenz wie der Übergang von der gesellschaftlichen Akzeptanz der Selbsttötung zur Legalisierung der Tötung auf Verlangen. Die Tötung auf Verlangen wird mit dem unveräußerlichen Recht auf Selbstbestimmung begründet. Aber wäre das ernst gemeint, so müsste jeder Todeswunsch eines erwachsenen, zurechnungsfähigen und informierten Menschen erfüllt werden. Das verlangt aber tatsächlich niemand. Immer wird die Einschränkung gemacht, aktive Sterbehilfe und assistierter Suizid dürften nur gewährt werden, wenn die Gründe für den Todeswunsch »rational« seien, rational, d. h. nachvollziehbar von denjenigen, die diese Hilfe leisten sollen. Und als nachvollziehbar gilt für viele ausschließlich der Grund unheilbarer Krankheit. Eine solche Einschränkung hat nun aber mit dem Prinzip der Selbstbestimmung nichts zu tun, ja sie widerspricht ihr sogar. Warum sollte nicht jeder Mensch 278 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Es gibt kein gutes Töten

das Recht haben, die Kriterien für die Bewertung seines Lebens selbst zu bestimmen? Warum sollte der »Bilanzsuizid« benachteiligt werden? Warum der Suizid aus Liebeskummer? Man sagt, ein solcher Suizidkandidat sei später froh, wenn er an der Ausführung der Tat gehindert wurde. Aber wenn man ihm zum Zeitpunkt seiner Verzweiflung eben dies vor Augen stellt und er antwortet: »Ich weiß, dass die Zeit die Bewertung des eigenen Lebens ändert und auch bei mir ändern würde. Aber eben diese Abhängigkeit von der Zeit verabscheue ich. Ich will als der sterben, der ich jetzt bin«, – was will man ihm entgegnen? Er argumentiert wie manche Frauen, die das Angebot späterer Adoption ihres Kindes als Alternative zur Abtreibung ablehnen. Ihr Argument ist, dass sie bereits jetzt wissen, dass sie später an dem Kind hängen und es nicht zur Adoption hergeben werden. Und eben diese Liebe zu ihrem Kind wollen sie erst gar nicht entstehen lassen. Wer einmal grundsätzlich die Selbstbestimmung über die Möglichkeitsbedingung der Selbstbestimmung, also über das Leben stellt, wie kann der jemandem vorschreiben wollen, wie er das Verhältnis seines Lebens zur Zeit zu verstehen hat? Ist das nicht der Rückfall in einen illiberalen Paternalismus? Und wer will entscheiden, ob es irrational ist, die Glückssumme des Lebens prinzipiell für negativ zu halten und sich deshalb umzubringen? Wenn wir nicht davon ausgehen, dass die Selbsttötung immer irrational ist, wird jedes differenzierende Rationalitätskriterium zu einer unbegründbaren Bevormundung. Wenn es letzten Endes nicht auf die Selbstbestimmung als solche, sondern auf die Rationalität des Todeswunsches ankommt, und wenn Dritte über diese Rationalität entscheiden dürfen, dann können diese Dritten auch im Falle der Unfähigkeit des Todeskandidaten zur Selbstbestimmung in stellvertretender Wahrnehmung seines »wohlverstandenen Interesses« über sein Leben entscheiden. Der Übergang von der Tötung auf Verlangen zur Tötung ohne Verlangen ist damit geschaffen, und Gott gnade uns, wenn wir den Verstand verlieren oder zu schwach werden, uns zu wehren!

Die Entsolidarisierung Die Forderung, ungestraft töten zu dürfen, wird paradoxerweise mit zwei einander entgegengesetzten Argumenten begründet. Einmal damit, dass Menschen Personen und deshalb Subjekte unbedingter Selbstbestimmung sind, das andere Mal damit, dass bestimmte Men279 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert Spaemann

schen nicht Personen sind, keine Menschenwürde besitzen und es deshalb über sich ergehen lassen müssen, in ihrem eigenen Interesse oder im Interesse anderer getötet zu werden. Ja, auch im Interesse anderer. Peter Singer plädiert dafür, »missratene« Säuglinge beiseite zu räumen, um für besser geratene Platz zu schaffen, also für solche, die eine größere Kapazität haben, sich ihres Lebens zu freuen. Das nämlich optimiert den Zustand der Welt und allein darauf kommt es an. Personsein heißt in diesem Verständnis nicht, »jemand« sein, der seiner Natur nach dazu angelegt ist, sich zeitweise in bestimmten personspezifischen Zuständen zu befinden, also in Zuständen des Selbstbewusstseins, der Erinnerung und eines bewussten Interesses am eigenen Leben, sondern Personsein besteht nur in der Aktualisierung dieser Zustände. Babys sind danach keine Personen, geistig Behinderte sind es nicht und Schlafende sind es auch nicht. Diese Sicht geht übrigens auf John Locke zurück. Aber schon Leibniz, Kant und Thomas Reid haben auf den Widerspruch hingewiesen, in dem sich diese Sicht zu unseren fundamentalen Intuitionen und zu unserem Sprachgebrauch befindet. Jeder von uns sagt: »Ich wurde dann und dann geboren«, obgleich er das nach jener Ansicht nicht sagen dürfte, weil der, der damals geboren wurde, zwar ein Mensch, aber nicht die Person war, die jetzt spricht, ja überhaupt keine Person, weil er nämlich damals nicht »ich« sagte. Aber niemand von uns hätte gelernt, »ich« zu sagen, wenn seine Mutter zu ihm nicht wie zu einer Person gesprochen und ihn nicht wie eine Person behandelt hätte. Entweder sind Menschen immer Personen oder sie werden es nie. Aber auch wenn Menschen ihr Personsein ausdrücken und »ich« sagen können, sind sie nicht das, wofür die liberalen Individualisten sie halten: Wesen, die einsam, in souveräner Autonomie über ihr Leben und ihren Tod entscheiden und dabei auf professionelle Exekution dieser Entscheidung Anspruch erheben können. Personen existieren nur in der Mehrzahl, d. h. nur als Mitglieder einer universalen Personengemeinschaft. Was diese Gemeinschaft wesentlich konstituiert, ist die gegenseitige, vorbehaltlose und an keine Vorbedingung geknüpfte Bejahung der Existenz eines jeden anderen bis zu deren natürlichem Ende, ja die Mitverantwortung für diese Existenz. In der Geschichte von Kain und Abel fragt Gott den Brudermörder: »Wo ist dein Bruder?« Und Kain antwortet: »Bin ich denn der Hüter meines Bruders?« Die Entsolidarisierung, die in dieser Antwort liegt, wird in dieser Geschichte als die Gesinnung des Mörders geschildert. Die Frage Gottes beschränkt sich nicht auf die Forderung, 280 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Es gibt kein gutes Töten

den Bruder am Leben zu lassen, sondern sie enthält die weitergehende Pflicht, zu wissen, wo er ist. Die Frage appelliert an die fundamentale Solidarität, welche alle Menschen miteinander verbindet. Diese Sicht ist nicht schon deshalb in einer säkularen Gesellschaft irrelevant, weil sie in der Bibel steht. Eine säkulare Gesellschaft wird barbarisch, wenn sie auf alle Weisheitstradition der Menschheit verzichtet. Auch das Sterben ist noch ein Vorgang, der, wenngleich von der Natur verhängt, eingebettet ist in Riten menschlicher Solidarität. Wer sich eigenmächtig aus dieser Gemeinschaft entfernen will, muss das allein tun. Anderen – und gar Ärzten, deren Ethos sich definiert durch den Dienst am Leben – zuzumuten, bei dieser eigenmächtigen Entfernung behilflich zu sein, heißt, dieses Fundament aller Solidarität zu zerstören. Es heißt, dem anderen zumuten zu sagen: »Du sollst nicht mehr sein.« Diese Zumutung ist eine Ungeheuerlichkeit. Die damit verbundene Zerstörung des Ethos muss sich unvermeidlich in Kürze gegen die Leidenden selbst kehren. Wir wissen heute, dass der Suizidwunsch in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht die Folge körperlicher Beschwerden und extremer Schmerzen ist, sondern der Ausdruck einer Situation des Sich-verlassen-Fühlens. Die Palliativmedizin hat inzwischen solche Fortschritte gemacht, dass in jedem Stadium der Krankheit die Schmerzen kontrollierbar sind. Intensive Zuwendung verändert dann auch meistens den Suizidwunsch. Das Bewusstsein, dass jemandem daran liegt, dass ich noch da bin. Der Arzt repräsentiert dem Patienten gegenüber die Bejahung seiner Existenz durch die Solidargemeinschaft der Lebenden, auch wenn er ihn nicht zum Leben zwingt. Gerade in Situationen seelischer Labilität ist das Bewusstsein katastrophal, der Arzt oder auch der Psychiater könnten auf meinen Wunsch spekulieren, mich aus dem Weg räumen zu lassen und insgeheim darauf warten, diesen Wunsch exekutieren zu können. Katastrophal ist schon der Gedanke, ich könne ihn überhaupt dazu bringen zu finden, ich solle nicht mehr sein. Die Fiktion der souveränen Willensentscheidung ausgerechnet in der Situation extremer Schwäche ist zynisch, vor allem im Hinblick auf die ohnehin im Leben Benachteiligten wie Arme, Einsame, chronisch Kranke und weniger gut Versicherte. Das Angebot des assistierten Suizids wäre der infamste Ausweg, den die Gesellschaft sich ausdenken kann, um sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen – und der billigste. Der billigste Ausweg aber ist der, der in unserer durchökonomisierten Zivilisation mit Sicherheit am Ende 281 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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gewählt wird, wenn er nicht durch Gesetz und Sitte so fest verriegelt bleibt, dass diejenigen, die seine Öffnung fordern, vollständig entmutigt werden. Es gibt, wie schon Platon wusste, immer Grenzfälle, für die das Gesetz nicht gemacht ist und denen es nicht gerecht werden kann. Moraltheologen und Moralphilosophen stürzen sich heute mit einem verdächtigen Interesse auf solche Grenzfälle und konstruieren von ihnen ausgehend Forderungen für die Formulierung der Gesetze. Ausnahmen sollen nicht mehr als Bestätigung der Regel gelten, sondern die Regel aushebeln. So auch in diesem Fall. Aber wer wirklich einem Freund in einer Extremsituation auf eine Weise helfen möchte, die vom Gesetz nicht gedeckt ist, ohne damit die Schutzfunktion des Gesetzes zu zerstören, der wird bereit sein, für seinen Freundschaftsdienst die vom Gesetz vorgesehene Strafe auf sich zu nehmen, falls der Richter nicht in der Lage ist, seiner besonderen Situation Rechnung zu tragen. Er wird in dem Bewusstsein handeln, mit der Intention von Gesetz und Sitte im Tiefsten im Einklang zu stehen, und als Ausnahme die Regel zu bestätigen. Das heißt übrigens nicht, dass das deutsche Gesetz bleiben kann, wie es ist. Es muss geändert werden. Dazu sind verschiedene Vorschläge in der Diskussion, von denen einige letztlich doch den Weg zur aktiven Sterbehilfe offenhalten. Die direkte aktive Sterbehilfe, »Tötung auf Verlangen«, steht in Deutschland zwar – wie in fast allen Ländern der Welt – unter Strafe und so wird es wohl fürs Erste auch bleiben. Was das deutsche Gesetz für die Euthanasiebefürworter überall in der Welt attraktiv macht, ist die Tatsache, dass es die Beihilfe zur Selbsttötung nicht bestraft. Das war bisher ohne große Bedeutung, obgleich es in einem seltsamen Widerspruch zur Strafbestimmung für unterlassene Hilfeleistung steht. So ist es erlaubt, einem Menschen Gift zu geben, mit dem er sich umbringen kann. Hat er es aber genommen, und ist er inzwischen ohnmächtig, dann ist jeder Angehörige oder Arzt, also auch der, der ihm das Mittel gab, verpflichtet, für das Auspumpen seines Magens zu sorgen. Das ist offenbar nicht vernünftig. Ein Gesetz, das das Tötungsverbot ernst nimmt, muss Strafe für Suizidbeihilfe vorsehen und darf keine Ausnahme zulassen. Solange Selbsttötung eine tolerierte, aber gesellschaftlich geächtete Handlung ist, bleibt das Problem der Beihilfe marginal. Im Zusammenhang mit der Euthanasiebewegung wird die deutsche Rechtsbestimmung jedoch zu einer gefährlichen Einbruchsstelle. Schon hat das Europäische Patentamt ein Selbsttötungspräparat pa282 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Es gibt kein gutes Töten

tentiert. Dass Firmen an der Gesundheitsfürsorge verdienen, ist in Ordnung. Dass sie aus der Beihilfe zur Tötung kranker oder depressiver Menschen ein Geschäft machen, ist sittenwidrig.

Leben verlängern um jeden Preis? Unter den objektiven Gründen für die Renaissance des Euthanasiegedankens wurden die neuen Praktiken der Lebensverlängerung und die Explosion der Kosten des Gesundheitswesens genannt. Der Widerstand gegen die Euthanasieversuchung kann seine Entschiedenheit nur rechtfertigen und durchhalten, wenn er diesen objektiven Faktoren Rechnung trägt und auf sie eine alternative Antwort gibt. Es ist ja wahr, dass das Sterben in unserem Land seit Langem menschenunwürdig geworden ist. Es findet immer häufiger in Kliniken statt, also in Häusern, die eigentlich nicht fürs Sterben, sondern fürs Geheiltwerden da sind. In der Klinik wird naturgemäß ständig gegen den Tod gekämpft. Der Kampf endet zwar bei jedem Menschen schließlich mit Kapitulation, aber die Kapitulation geschieht oft viel zu spät. Nachdem kranke oder alte Menschen auf alle Art zum Leben gezwungen wurden, bleibt ihnen keine Zeit und kein angemessener Raum mehr, »das Zeitliche zu segnen«. Das Sterben degeneriert zum bloßen Verenden. Die Sterberituale verkümmern. Manche Angehörige verdrücken sich, wenn es ernst wird. Die Folge all dessen ist, dass immer mehr Menschen sterben müssen, die in ihrem Leben niemals einen Sterbenden gesehen haben. Das ist ein ganz unnatürlicher Zustand, und er fördert natürlich die stumme Angst vor dem Tod. Die »aktive Sterbehilfe« ist die Kehrseite jenes Aktivismus, der bis zum letzten Augenblick etwas »machen« muss. Wenn man das Leben nicht mehr machen kann, muss der Tod gemacht werden. Die Patienten, die im Herbst 1996 beim Obersten Bundesgericht der USA gegen den Staat New York auf Genehmigung der Euthanasie klagten, waren überhaupt nur noch am Leben, weil sie mit eigener Zustimmung apparativen Maßnahmen der Lebensverlängerung ausgesetzt waren. Die Medizin kann nicht mehr dem Prinzip folgen, jederzeit jedes menschliche Leben so lange zu erhalten, wie das technisch möglich ist. Sie kann es nicht aus Gründen der Menschenwürde, zu der auch das menschenwürdige Sterbenlassen gehört. Sie kann es auch nicht aus ökonomischen Gründen. Der Wert jedes menschlichen Lebens ist zwar inkommensurabel. Daher das unbedingte Tötungsverbot. Es 283 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert Spaemann

gibt aber in moralischer Hinsicht einen Unterschied zwischen Handlungsgeboten und Unterlassungsgeboten. Nur Unterlassungsgebote können unbedingt sein, Handlungsgebote nie. Handlungsgebote unterliegen immer einer Abwägung der Gesamtsituation, und dazu gehören auch die zur Verfügung stehenden Mittel. Sie sind nicht beliebig vermehrbar. Bei ihrer Verteilung müssen wir also das an sich selbst inkommensurable Leben des Menschen durch sekundäre Kriterien vergleichbar machen. Bei der Knappheit von Spenderorganen ist das evident. Aber es muss auch gelten für operativen und apparativen Aufwand. Ist es sinnvoll, dass der finanzielle Aufwand für die Gesundheit der Menschen in ihrem letzten Lebensjahr so unverhältnismäßig groß ist? Für den Pflegeaufwand leuchtet das ein. Aber auch für den medizinischen Aufwand? Muss eine 88-Jährige, die eine Hirnblutung bekommen hat und ohnmächtig ist, zwei Tage vor ihrem Tod eine aufwendige Hirnoperation über sich ergehen lassen? Und muss die Solidargemeinschaft der Versicherten damit belastet werden? Das ärztliche Berufsethos muss angesichts der ständig wachsenden Möglichkeiten der Medizin Kriterien der Normalität entwickeln, Kriterien für das, was wir jedem Menschen und gerade den kranken und alten, an Zuwendung, an Pflege, an medizinischer Grundversorgung schulden und was stattdessen abhängig gemacht werden muss von Alter, Heilungsaussicht und persönlichen Umständen. Wer jeden Verzicht auf den Einsatz der äußersten Mittel als Tötung durch Unterlassen brandmarkt, der bereitet – und zwar oft absichtlich – den Weg für das aktive Umbringen. Die Hospizbewegung, nicht die Euthanasiebewegung, ist die menschenwürdige Antwort auf unsere Situation. Wo Sterben nicht als Teil des Lebens verstanden und kultiviert wird, da beginnt die Zivilisation des Todes.

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Sterbehilfe Barbara Guckes

Eine besonders große Rolle spielt das SE-Argument 1 in den Diskussionen um die Legalisierung von Sterbehilfe. Da im Allgemeinen zugestanden wird, dass es keine primären Gründe gegen Sterbehilfe gibt, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht, und gegen Sterbehilfe bei Patienten, die nicht in der Lage sind, ihren Willen zu äußern, 2 stützen sich fast alle Argumente gegen die Legalisierung von Sterbehilfe auf sekundäre Gründe. Unter diesen Argumenten nun wird das SE-Argument am häufigsten vorgetragen. Die meisten-solcher SE-Argumente werden nicht gegen die Legalisierung jeder Art von Sterbehilfe angeführt, sondern bloß gegen die Legalisierung von Sterbehilfe der Art ST. 3 Fast immer nehmen die Autoren an, die Zulassung von Sterbehilfe der Art SSL führe nicht zum Abgleiten auf einer schiefen Ebene. So wird vorgeschlagen, Sterbehilfe der Art ST abzulehnen, Sterbehilfe der Art SSL jedoch zuzulassen. Selten wird die Meinung vertreten, Sterbehilfe sollte generell abgelehnt werden. So vertritt z. B. Lamb die Ansicht, gerade die unterschiedliche Beurteilung der beiden Arten von Sterbehilfe führe zum Abgleiten auf einer schiefen Ebene. 4 Niemand ist allerdings der Ansicht, es sollten alle Mittel zur Lebensverlängerung in allen Fällen ausgeschöpft werden. Vielmehr ist man sich einig, dass es eine Möglichkeit geben sollte, um eine unnötige Verlängerung des Leidens zu Die Abkürzung »SE-Argument« steht in dem Text von Barbara Guckes für »Argument der schiefen Ebene« [Anm. d. Herausg. der vorliegenden Anthologie]. 2 Es besteht ein Konsens darüber, dass Sterbehilfe, die gegen den Willen des Betroffenen geleistet wird und Sterbehilfe bei äußerungsfähigen Patienten, die sich aber weder für noch gegen Sterbehilfe ausgesprochen haben, als moralisch unzulässig zu beurteilen ist. 3 »S « bedeutet bei Guckes »Sterbehilfe durch Töten«, »S « hingegen »Sterbehilfe T SL durch Sterbenlassen« [Anm. d. Herausg.]. 4 David Lamb: Down the Slippery Slope. Arguing in Applied Ethics, London/New York/Sidney 1988, S. 84. 1

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vermeiden. Um dieses Ziel zu erreichen, ohne die Gefahr eines Abgleitens auf einer schiefen Ebene in Kauf nehmen zu müssen, sind unterschiedliche Strategien vorgeschlagen worden. Ich werde weiter unten untersuchen, ob diese Strategien erfolgreich sind, d. h. ob mit ihnen tatsächlich die Gefahr gebannt oder zumindest nennenswert verringert werden kann. In allen SE-Argumenten gegen die Legalisierung von Sterbehilfe wird die Befürchtung geäußert, dass schließlich eine Tötung von Individuen straffrei praktiziert wird, die nicht in deren Interesse, sondern im Interesse Dritter ist. Stets wird folgende Ereignisfolge prognostiziert, wobei manchmal der eine oder andere Schritt übersprungen oder weggelassen wird: 1. Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht, führt zu Sterbehilfe für Patienten, die nicht in der Lage sind, ihren Willen zu äußern. Die Begründung für diesen Schritt ist nachvollziehbar und gut: Aufgrund der Ähnlichkeit der Situation ist es wahrscheinlich, dass die Gerichte der Ansicht sind, es sei ungerecht, das Recht des schnellen und schmerzlosen Todes nur solchen Menschen zuzubilligen, die zu einer rationalen Entscheidung fähig sind. So wird Sterbehilfe auch für Menschen legalisiert werden, die erheblich leiden, die aber nicht imstande sind, einen Wunsch über Leben oder Tod zu äußern. In erster Linie ist hier an die Sterbehilfe für Neugeborene zu denken. Die Legalisierung von Sterbehilfe für Personen wird zum Präzedenzfall für die Legalisierung von Sterbehilfe für Menschen, die nicht in der Lage sind, ihren Willen zu äußern. 2. Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht, führt zu Handlungen des Tötens oder Sterbenlassens, die nur den Anschein haben, Handlungen der Sterbehilfe zu sein, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruhen. a) Es kann den Anschein haben, dass eine Handlung des Tötens oder Sterbenlassens im subjektiven und objektiven Interesse des Patienten ist, obwohl sie tatsächlich nicht in seinem objektiven Interesse ist. Es deutet aber alles darauf hin, dass die Handlung im Interesse des Patienten ist, und das Motiv der Handlung ist das Wohl des Betroffenen. Da die Handlung aber nicht tatsächlich im objektiven Interesse des Patienten ist, handelt es sich nicht um einen Akt der Sterbehilfe.

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Sterbehilfe

b) Auf Patienten mag psychischer Druck ausgeübt werden, doch um Sterbehilfe zu bitten. Da man häufig nicht ausmachen kann, ob die Entscheidung des Patienten autonom ist, kann Missbrauch nicht ausgeschlossen werden. In beiden Fällen ist die epistemische Situation dafür verantwortlich, dass es zu den unerwünschten Resultaten kommen kann. 3. Sterbehilfe für Menschen, die nicht fähig sind, ihren Willen zu äußern, führt zu Sterbehilfe, die gegen den Willen des Betroffenen verstößt. Hat man erst einmal die Hemmung überwunden, Menschen zu töten, die ihren Willen nicht äußern können, und ist man der Ansicht, dass es besser für manche Menschen sei zu sterben, dann ist man unter Umständen geneigt, ihnen auch gegen ihren ausdrücklichen Willen »Gutes« zu tun und sie zu ihrem Besten sterben zu lassen oder zu töten. Es kommt zu »Mitleidstötungen«. So wird Sterbehilfe für Menschen, die nicht äußerungsfähig sind, zum Präzedenzfall erhoben für Sterbehilfe, die gegen den Willen des Betroffenen vollzogen wird. 4. Sterbehilfe, die gegen den Willen des Betroffenen verstößt, führt zur Tötung bzw. zum Sterbenlassen von Menschen gegen ihr subjektives und objektives Interesse. Es kommt zur Interaktion zwischen der allgemeinen Akzeptanz, Menschen sterben zu lassen bzw. zu töten und bestimmten sozialen Faktoren. Wir haben die Hemmschwelle, Menschen sterben zu lassen bzw. zu töten, überschritten und sind nun auch bereit, Menschen um unserer eigenen Interessen willen umzubringen oder sterben zu lassen. Hier wird die Existenz einer bestimmten psycho-sozialen Situation vorausgesetzt, in der sich die Mitglieder der Gesellschaft befinden und die sie dazu veranlasst, das Lebensinteresse bestimmter Gruppen von Menschen zu missachten. Bei zunehmender Verschlechterung der ökonomischen Lage wird – so die Annahme – diese Gefahr wachsen. Im Folgenden werde ich die Voraussetzungen, die logische Korrektheit und die Plausibilität der verwendeten Argumente untersuchen und sie in die von mir entwickelte Taxonomie einordnen. Dabei wende ich mich zunächst den im anglo-amerikanischen Sprachraum verwendeten SE-Argumenten zu, bevor ich mich gesondert mit der Situation im deutschsprachigen Raum beschäftige. Die Diskussion um Sterbehilfe in Deutschland und Österreich ist mit be287 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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sonderen Problemen verbunden, die ihre Wurzeln in unserer NSVergangenheit haben.

1.

Die Verwendung des SE-Argumentes gegen die Legalisierung von Sterbehilfe in den anglo-amerikanischen Ländern

Meine Untersuchung der verschiedenen verwendeten SE-Argumente beginne ich mit einem vielzitierten Argument, das von Joseph Sullivan, einem katholischen Bischof, vorgetragen worden ist.

1.1

Sullivan

Sullivan formuliert das Argument folgendermaßen: Sobald es jemandem erlaubt ist, einen unschuldigen Menschen eigenmächtig auf direkte Weise zu töten, ist es unmöglich, das Vordringen dieses Keils zu stoppen. Es gibt dann keine vernünftigen Gründe mehr, die es erlauben würden zu sagen, dass der Keil nur bis zu dieser oder jener Stelle vordringen darf. Sobald die Ausnahme erlaubt wurde, ist es zu spät; daraus ergibt sich ein schwerwiegender Grund dafür, dass keine Ausnahme zugelassen werden darf. Deshalb muss Sterbehilfe unter allen Umständen verurteilt werden. […] Es gibt einen guten Grund für die Annahme, dass, falls die freiwillige Sterbehilfe rechtlich erlaubt würde, zu einem späteren Zeitpunkt ein weiteres Gesetz über die Pflicht, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen verabschiedet würde. 5 Sobald die Achtung vor dem menschlichen Leben so abgenommen hat, dass eine unschuldige Person auf direkte Weise getötet werden darf, wenn auch auf ihren Wunsch hin, wird die Pflicht zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe notwendigerweise sehr naheliegen. Dies könnte leicht dazu führen, dass alle unheilbaren Patienten im staatlich finanzierten Gesundheitswesen getötet würden, ebenso die alten Menschen, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind, verwundete Soldaten, missgebildete Kinder, geistig Behinderte und so fort. Binnen kurzer Zeit wären alle Bürger dieser Gefahr ausgesetzt. Die Politik würde sich ebenfalls mit dieser Angelegenheit befassen, und vielleicht würden sich politische Parteien des Sterbehilfegesetzes bedienen, um sich missliebiger Personen zu entledigen. 6 5 6

So auch J. Brown: »Taking Life Legally«, Magazine Digest (1937), S. 43. Joseph V. Sullivan: »The Immorality of Euthanasia«, in: M. Kohl (Hg.): Beneficent

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Sterbehilfe

Sullivan äußert in seinem Argument die Befürchtung, dass es zu folgender Ereignisfolge kommt: (1) Sterbehilfe auf Verlangen der Art ST wird legalisiert. (2) Sterbehilfe gegen den Willen des Betroffenen wird legalisiert. (3) Es wird sich die Praxis etablieren, dass alle unheilbaren »charity patients«, alte Menschen, »who are a public care«, verwundete Soldaten, geschädigte Kinder, Geisteskranke usw. getötet werden. (4) Über kurz oder lang ist jeder Bürger gefährdet. Um welche Art von SE-Argument handelt es sich? In der Literatur ist diese Frage unterschiedlich beantwortet worden. Lamb 7 subsumiert das Argument unter den Vagheitstypus und betont, es sei logischer Natur. Der letzteren Ansicht ist auch Rachels 8, der sich allerdings nicht zu einer genaueren Bestimmung des Argumentes äußert. So lässt er offen, um welche Art von SE-Argument es sich genau handelt. Rachels erklärt zunächst, wie die logische Version des SE-Argumentes seiner Ansicht nach funktioniert, um dann die Parallele des Argumentes von Sullivan zu diesem Argumenttypus aufzuzeigen: Die logische Form des Arguments lautet folgendermaßen. Sobald eine bestimmte Praxis akzeptiert worden ist, sind wir, vom logischen Standpunkt aus betrachtet, dazu verpflichtet, auch andere Praktiken zu akzeptieren, weil es keine guten Gründe dafür gibt, die zusätzlichen Praktiken nicht auch zu akzeptieren, sobald wir den alles entscheidenden ersten Schritt getan haben. Diese zusätzlichen Praktiken sind aber, so geht das Argument weiter, offensichtlich inakzeptabel; deshalb wäre es besser gewesen, wenn der erste Schritt nicht vollzogen worden wäre. 9

Bezogen auf Sterbehilfe werde in Sullivans Argument laut Rachels behauptet, man sei logisch gezwungen, Tötungshandlungen auch in bestimmten anderen Fällen zuzulassen, wenn Sterbehilfe im Interesse des Patienten erlaubt sei. Rachels verweist auf folgende Aussage Sullivans: Euthanasia, Buffalo/New York 1975, S. 12–33, hier S. 24 f. [Um der leichteren Lesbarkeit willen habe ich alle englischen Zitate, die Guckes im Original angeführt hat, ins Deutsche übersetzt. – Anm. d. Herausg.]. 7 David Lamb: Down the Slippery Slope. Arguing in Applied Ethics, London/New York/Sidney 1988, S. 2 f. 8 James Rachels: The End of Life, Oxford 1986, S. 172 f. 9 Ebd., S. 172.

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Sobald es jemandem erlaubt ist, einen unschuldigen Menschen eigenmächtig auf direkte Weise zu töten, […] [gibt es] keine vernünftigen Gründe mehr, die es erlauben würden zu sagen, dass der Keil nur bis zu dieser oder jener Stelle vordringen darf.

Rachels wirft Sullivan vor, sein Argument gehe fehl, weil es sehr wohl gute Gründe gebe, die eine Art von Tötung zuzulassen, die andere hingegen nicht. Es liege eben ein moralisch relevanter Unterschied vor zwischen der Tötung eines Individuums um dessen eigener Interessen willen und der Tötung eines Menschen um der Interessen Dritter willen. So zieht Rachels die Schlussfolgerung, dass die logische Version, wird sie auf Sterbehilfe bezogen, nicht funktioniert. Meiner Ansicht nach macht Rachels bei seiner Interpretation der oben zitierten Aussage von Sullivan zwei Fehler: (1) Sullivan sagt nicht, wie Rachels behauptet, es gäbe keine rationalen Gründe, die eine Art von Tötungshandlungen nicht zu gestatten, wenn man eine bestimmte andere Art gestattet hat; er sagt vielmehr, es gäbe keine rationalen Gründe, anzunehmen, das Abgleiten auf der schiefen Ebene stoppe, bevor sich die allgemeine Praxis der Tötung von Menschen gegen ihren Willen etabliert habe. (2) Dass es keine rationalen Gründe für eine solche Ansicht gibt, heißt nicht, wie Rachels meint, dass man logisch zu dieser Annahme gezwungen sei, sondern dass es irrational ist, anzunehmen, die Ereignisfolge ende früher. Rationale Gründe sind nicht mit logischen Gründen gleichzusetzen. Rachels’ Kritik an Sullivans Argument geht mithin fehl. Meiner Ansicht nach ist zwar wenig aus Sullivans Argument zu entnehmen, da es ein Beispiel für ein unspezifisches 10 SE-Argument ist, aber man kann gut begründen, warum es sich nicht um ein logisches Argument handelt. Obwohl Sullivan gelegentlich sehr starke Formulierungen wählt, wenn er die Verbindung zwischen den einzelnen Gliedern nennt, geht aus seinen Aussagen klar hervor, dass es sich um ein empirisches Argument handelt. So schreibt er: »there is good reason Solche unspezifischen SE-Argumente werden von vielen Autoren verwendet, so z. B. auch von Philippa Foot: »The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect«, The Oxford Review 5 (1967), S. 59–70 und Robert Spaemann: »Geleitwort«, in: T. Bastian (Hg.): Denken – Schreiben – Töten, Stuttgart 1990, S. 7–8.

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to believe« und »this could lead easily to«. Das aber kann sich nur auf empirische Gegebenheiten beziehen. Sullivan spricht nur bei einigen Folgen davon, sie träten notwendigerweise auf. Da aufgrund der vorhergehenden schwächeren Formulierungen klar ist, dass es sich um ein empirisches Argument handelt, kann er hier nur praktische Notwendigkeit meinen. Das wird umso klarer, als er zunächst davon spricht, es gäbe gute Gründe für die Annahme, dass auf die Legalisierung von Sterbehilfe auf Verlangen Sterbehilfe gegen den Willen des Betroffenen folgt, und ein wenig später davon, dass »die Pflicht zur Inanspruchnahme von Sterbehilfe notwendigerweise [Hervorh. v. mir – B. G.] sehr nahe sein wird«. Es handelt sich mithin sicher nicht um ein logisches Argument. Rachels vermischt die logische und die empirische Version miteinander. So ist es umso bemerkenswerter, dass Lamb betont, Rachels behaupte, dass Sullivan diese beiden Versionen miteinander vermische. Wie Lamb zu einer solchen Auffassung kommt, ist mir unklar, sagt Rachels doch nirgendwo etwas Derartiges und ist es doch gerade letzterer, der diese Versionen miteinander vermengt. Er interpretiert Sullivans Argument ja aufgrund der bestehenden Parallele zu seiner fehlerhaften Beschreibung eines logischen SE-Argumentes als logisches Argument. Wenn es sich nun nicht um ein logisches Argument handelt, unter welche Art von empirischem Argument sollte man es denn nun subsumieren? Bei einem empirischen Argument bestehen – gemäß meiner in Teil I, Kapitel 2 entwickelten Taxonomie 11 – folgende Möglichkeiten: • • • •

Vagheitsargument Kontinuumsargument Präzedenztypus Erweiterter Typus

Sullivan zählt zwar die Schritte der schiefen Ebene auf, erläutert aber nicht, wie es dazu kommt, dass man von einer zur anderen Stufe

Die Autorin bezieht sich hier auf das Buch, aus dem das hier wiederabgedruckte Kapitel stammt: Das Argument der schiefen Ebene. Schwangerschaftsabbruch, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe in der medizinethischen Diskussion, Stuttgart u. a. 1997 [Anm. d. Herausg.].

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abgleitet. Dies könnte vermuten lassen, dass man dieses Argument gar nicht näher bestimmen kann. Das ist jedoch nicht der Fall. Um zu einem Ergebnis zu kommen, untersuche ich der Reihe nach, ob man mit Hilfe der genannten Argumenttypen die Stufenfolge begründen kann. Da bei SterbehilfeFällen die kontinuierliche Entwicklung von Eigenschaften keine Rolle spielt, fällt das Kontinuumsargument als mögliches Argument gegen die Legalisierung von Sterbehilfe aus. Ist die Stufenfolge mit Hilfe des Vagheitsargument zu begründen? Der Ausgangspunkt ist die Legalisierung von Sterbehilfe auf Verlangen (voluntary euthanasia). Der nicht durchgängig bestimmte Begriff ist, so liegt nahe, der Begriff »auf Verlangen«. Unter ihn können alle Fälle subsumiert werden, in denen der Patient um Sterbehilfe bittet. Das umfasst sowohl Fälle, in denen das Urteilsvermögen des Erkrankten beeinträchtigt ist (z. B. durch Medikamente), als auch Fälle, in denen er zu seiner Entscheidung gedrängt worden ist (z. B. durch seine Verwandten). So könnte Sullivans Stufe 2 durch die Verwendung eines nicht hinreichend bestimmten Begriffs erreicht werden. Diese Stufe kann allerdings auch erreicht werden, obwohl die Begriffe hinreichend klar bestimmt sind. Auch wenn die Legalisierung von Sterbehilfe auf Fälle eingeschränkt wird, in denen der Betroffene aufgrund einer autonomen Entscheidung um Sterbehilfe bittet, kann es geschehen, dass es zu Sterbehilfe-Akten kommt, die nur den Anschein haben, auf einer freien Entscheidung des Patienten zu beruhen. Der Grund ist, dass man nicht immer ausmachen kann, ob eine Entscheidung tatsächlich autonom ist. So kann es zu einer durch psychischen Druck erzwungenen Bitte um Sterbehilfe kommen, bei der es nur den Anschein hat, dass der Betroffene aufgrund einer autonomen Entscheidung um sie bittet. 12 Dass man nicht immer beurteilen kann, ob es sich um eine autonome Entscheidung handelt, wenn jemand um Sterbehilfe bittet, ist ein epistemisches Problem. Auch dieses Problem kann allein verantwortlich dafür sein, dass es zu Stufe 2 kommt. Stufe 3 allerdings ist auf diese Weise nicht erreichbar. Wenn ein Patient Sterbehilfe ablehnt, ist klar, dass es sich, wird der Sterbehilfeakt dennoch vollzogen, nicht um Sterbehilfe gemäß dem Es ist zu erwähnen, dass Sullivan »Euthanasie« nicht im ursprünglichen Sinn verwendet. Er subsumiert darunter auch Akte des Sterbenlassens und Tötens, die weder im subjektiven noch im objektiven Interesse des Betroffenen sind, sodass er den Begriff »Sterbehilfe« zu weit fasst.

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Sterbehilfe

Willen des Patienten handelt, sondern um Sterbehilfe, die gegen seinen Willen vollzogen wird. Stufe 3 kann auch nicht mit Hilfe des Vagheitsargumentes erreicht werden, denn hier ist auch Tötung gegen den Willen des Betroffenen im Interesse Dritter eingeschlossen. Das geht aus den Begriffen »charity patients« 13 und »people who are a public care« hervor. Selbst der vagste Begriff schließt aber nicht kontradiktorische Merkmale ein. Allein mit Hilfe des Vagheitsargumentes kann man also Sullivans Prognose über die Ereignisfolge nicht begründen. Kann die Stufenfolge mit Hilfe des Präzedenztypus begründet werden? Auch mit Hilfe des Präzedenztypus kann man den Übergang von Stufe l zu Stufe 2 erklären (vorausgesetzt, dass der Autor mit Sterbehilfe gegen den Willen des Betroffenen [compulsory euthanasia] tatsächlich die Tötung im Patienteninteresse meint). In diesem Falle würde der Nutzen, der durch die Tötung entsteht, höher bewertet werden, als der Nutzen, der durch die Befolgung des Autonomieprinzips entsteht. So würden die Stufen l und 2 als in moralisch relevanter Hinsicht ähnlich beurteilt werden. Auch hier gilt, dass der Übergang zu Stufe 3 nicht begründet werden kann. Die Legalisierung einer Handlung H0 kann nur dann zum Präzedenzfall für die Legalisierung einer Handlung H1 werden, wenn sich H0 und H1 in moralisch relevanter Hinsicht ähneln oder sich zu ähneln scheinen. Da die Tötung eines Menschen im Interesse Dritter und die Tötung um der Interessen des Patienten willen aber moralisch klar voneinander zu unterscheiden sind, kann das eine nicht zum Präzedenzfall für das andere werden. Kein empirisches SE-Argument kann mithin als reines Argument begründen, wie es zu der Praxis kommen kann, dass Menschen im Interesse Dritter getötet werden. Da das Argument offensichtlich kein Willkürargument ist, kann ausgeschlossen werden, dass es sich um ein Argument des Vagheitstypus handelt. Dennoch kann die Verwendung von nicht hinreichend klar bestimmten Begriffen eine Rolle spielen. Somit kann es sich nur um ein Argument des erweiterten Präzedenztypus handeln. Wenn es um die Begründung des Übergangs von Stufe 1 zu Stufe 2 geht, können Faktoren, die dafür verLamb übrigens zitiert das Argument von Sullivan nicht richtig. Er schreibt statt »charity patients« »cancer patients« (S. 2). Dann würde aber nicht klar, dass befürchtet wird, dass es um der Interessen Dritter willen und nicht um des Interesses des Betroffenen selbst willen zu einer Tötung des Patienten kommt.

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antwortlich sein können, benannt werden. Damit aber der Übergang von Stufe 2 zu Stufe 3 stattfinden kann, muss ein weiterer Faktor eine Rolle spielen, der unbekannt ist. Sullivan benennt diesen Faktor nicht. Dies jedoch führt dazu, dass Sullivans Argument unüberprüfbar – und damit ein schlechtes Argument – wird. Dennoch ist jetzt klar, um welche Art von SE-Argument es sich handelt, nämlich um ein SE-Argument des erweiterten Präzedenztypus. Walton ordnet das Sullivan-Argument dem full slippery slope argument zu, ist also gemäß seiner Definition der Ansicht, dass neben einem sozialen Faktor sowohl das Vagheitsargument als auch der Präzedenztypus als auch der von ihm identifizierte Kausaltypus eine Rolle spielen. Da Sullivan sein Argument jedoch nicht als Willkürargument formuliert, ist klar, dass es sich nicht um ein solches full slippery slope argument handeln kann. Aus den Überlegungen geht hervor, dass Sullivans Argument dem erweiterten Präzedenztypus angehört, jedoch nicht weiter spezifiziert werden kann. Aus diesem Grunde wende ich mich im Folgenden einem spezifischen SE-Argument gegen die Legalisierung von Sterbehilfe zu. Ein solches Argument vertritt Lamb.

1.2

Lamb

Lamb ist ein Autor, der sich intensiver als andere mit dem SE-Argument auseinandergesetzt hat. Er sieht die Gefahr eines Abgleitens auf der schiefen Ebene in verschiedenen Bereichen. Das größte Gewicht misst er dem Argument jedoch in seiner Anwendung auf Sterbehilfe bei. Er befürchtet – wie so viele andere auch –, dass wir mit der Legalisierung von Sterbehilfe eine schiefe Ebene betreten, auf der wir immer weiter abgleiten, bis Zustände erreicht sind, die denen ähneln, die unter dem NS-Regime herrschten. Lamb prognostiziert folgende Ereignisfolge: (1) Legalisierung von Sterbehilfe auf Verlangen. (2) Es wird Sterbehilfe geleistet, deren Forderung nicht auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht. 14 Es ist anzumerken, dass auch Lamb den Begriff »Sterbehilfe« zu weit faßt. Er subsumiert auch solche Handlungen des Tötens oder Sterbenlassens darunter, die weder im subjektiven noch im objektiven Interesse des betroffenen Individuums sind.

14

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Sterbehilfe

(3) Es bildet sich eine Erwartungshaltung aus, der gemäß schwerkranke Pflegebedürftige im terminalen Stadium um Sterbehilfe bitten sollten. (4) Legalisierung von Tötung gegen den Willen des Betroffenen im Interesse Dritter. Lamb klassifiziert sein Argument als ein auf der Verwendung vager Begriffe beruhendes SE-Argument der logischen Version. Diese Einschätzung teilt auch Dyck 15, der dieselbe Art von Argument vertritt. Obgleich Lamb das Argument als der logischen Version zugehörig bezeichnet, betont er, es spielten neben der Benutzung vager Begriffe soziale Faktoren eine Rolle, die in bedeutendem Ausmaße dafür mitverantwortlich seien, dass es zu dem erschreckenden Resultat kommt. Als solche Faktoren nennt er die Verschlechterung der ökonomischen Situation und die damit einhergehende Anwendung des Kosten-Nutzen-Kriteriums auf die Bewertung von Leben. 16 Da Lamb kontingenten sozialen Umständen eine wesentliche Rolle einräumt, ist nicht leicht zu verstehen, wie diese Ansicht mit seiner Aussage kompatibel ist, der SE-Einwand gegen eine Legalisierung von Sterbehilfe basiere auf logischen Gründen. 17 Eine Ereignisfolge kann nicht logisch zwingend sein. Was nun macht nach Lambs und ebenso nach Dycks Ansicht dieses Argument zu einem logischen? Lamb betont, das logische Element bestehe darin, dass inhärent vage Begriffe benutzt werden. Was aber meint Lamb mit »an inherently loose concept« 18? Es liegt nahe, diese Aussage so zu interpretieren, dass in ihr die Auffassung ausgedrückt wird, es gäbe bestimmte Begriffe, deren wesentliches Merkmale es ist, nicht klar definierbar zu sein. Eine solche Ansicht kann allerdings nicht gut begründet werden. Wenn man den gegebenenfalls damit verbundenen Bedeutungsverlust in Kauf nimmt, kann jeder Begriff präzise bestimmt werden. Und dieser Ansicht ist offenbar auch Lamb. So schreibt er:

Arthur Dyck: »Beneficent Euthanasia and Benemortasia: Alternative Views of Mercy«, in: M. Kohl (Hg.): Beneficent Euthanasia, Buffalo/New York 1975, S. 118– 129. 16 David Lamb: Down the Slippery Slope. Arguing in Applied Ethics, London/New York/Sidney 1988, S. 30 17 Ebd., S. 94. 18 Ebd., S. 7. 15

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Barbara Guckes

Philosophen leben in einer Welt der klaren Unterscheidungen, wo sich begriffliche Grenzen leicht feststellen lassen. 19

Die Gefahr eines Abgleitens auf der schiefen Ebene besteht nach Lamb deshalb, weil theoretisch aufgefundene klare begriffliche Unterschiede häufig nicht auf die Praxis übertragen werden können. Lamb ist der Auffassung, die Kategorien »Sterbehilfe« und »Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht«, könnten nicht klar begrenzt werden. Zwar habe, so Lamb, diese Frage nach der Grenzbestimmung Ähnlichkeit mit dem Problem der empirischen Konfusion, der Punkt, um den es aber sowohl ihm als auch Dyck gehe, sei ein anderer. 20 Das logische SE-Argument enthülle, dass es keine klare Beschränkung einer Kategorie geben kann, wenn diese Kategorie in der Akzeptanz des Tötens einer Person durch eine andere besteht. Es ist schwierig zu verstehen, was Lamb und Dyck mit dem Ausdruck »logisch« meinen. Der Ausdruck ist auf jeden Fall nicht in seinem üblichen Sinne zu verstehen. Meiner Ansicht nach soll damit lediglich darauf hingewiesen werden, dass es keine praktische Möglichkeit gibt, auszuschließen, dass auch solche Handlungen des Tötens oder Sterbenlassens unter die Kategorien »Sterbehilfe« und »Sterbehilfe, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht«, subsumiert werden, die per definitionem darunter nicht zu subsumieren sind. Lamb und Dyck wollen meiner Ansicht nach lediglich ausdrücken, dass keine Garantie dafür gegeben werden kann, dass es nicht zu Missverständnissen und Missbräuchen kommt, es also nicht auch zu solchen Handlungen des Tötens und Sterbenlassens kommt, die keine Akte der Sterbehilfe sind oder die zwar Sterbehilfe-Handlungen sind, die aber nicht aufgrund einer autonomen Entscheidung des betroffenen Individuums vollzogen werden. Eine Ursache dafür, dass theoretisch aufgefundene klare begriffliche Unterschiede manchmal nicht auf die Praxis übertragen werden können, kann eine Begriffsverwirrung sein. Die Handelnden sind nicht imstande, die relevanten klar definierten Begriffe voneinander zu unterscheiden. Die Folge dieser Begriffsverwirrung ist, dass Handlungen vollzogen werden, die moralisch zu verurteilen sind. Die Kon-

19 20

Ebd., S. 120. Ebd., S. 94.

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Sterbehilfe

fusion über Begriffe kann ein Kausalfaktor einer empirischen Entwicklung sein. Eine andere Ursache kann darin liegen, dass man nicht mit Gewissheit entscheiden kann, ob die jeweiligen Eigenschaften, deren Existenz notwendig dafür sind, dass eine Handlung oder eine Entität mit einem bestimmten klar definierten Prädikat zu belegen ist, tatsächlich vorliegen (z. B. autonome Entscheidung, unheilbare Erkrankung, rationaler Wunsch etc.). Die Folge kann z. B. sein, dass man einen Patienten tötet oder sterben lässt, obwohl es sich entweder gar nicht um Sterbehilfe handelt oder obwohl es sich nicht um Sterbehilfe handelt, die auf einer autonomen Entscheidung des Betroffenen beruht. Man kann oftmals nicht mit letzter Sicherheit ausmachen, ob die Entscheidung eines Patienten, um Sterbehilfe zu bitten, autonom ist. Auf diese Schwierigkeit bezieht sich Lamb. Er macht mithin auf ein epistemisches Problem aufmerksam. Ein Argument, das sich auf ein solches Problem stützt, als logisches SE-Argument zu bezeichnen, ist sehr missverständlich. Keinesfalls darf es der von mir beschriebenen logischen Version des SE-Argumentes zugeordnet werden. Aber es wird verständlich, was Lamb mit der Vagheit von Begriffen meint. Er verwechselt die Situation, in der unpräzise Begriffe verwendet werden, mit der hier vorliegenden Situation: Zwar wird mit klar definierten Begriffen gearbeitet, aber man kann der entsprechenden Handlung des Tötens oder Sterbenlassens nicht zweifelsfrei ein bestimmtes Prädikat (das als solches begrifflich klar bestimmt ist) zuordnen. Der Grund ist, dass man nicht mit Sicherheit ausmachen kann, ob tatsächlich Umstände bestehen, die eine Handlung zu einer Handlung der Sterbehilfe machen, oder ob die Sterbehilfe-Handlung tatsächlich aufgrund einer autonomen Entscheidung des betroffenen Individuums vollzogen wurde. Statt um ein begriffliches handelt es sich in diesem Falle um ein epistemisches Problem. Auf die Gefahr, die damit verbunden ist, dass nicht mit Gewissheit festgestellt werden kann, ob bestimmte Eigenschaften vorliegen, haben auch andere Autoren hingewiesen. Unter anderem beruht ein Teil der Argumente von Foot, Beauchamp und Childress, Kamisar und Doertlinger darauf. Das epistemische Problem ist dafür verantwortlich, dass es zu zwei inakzeptablen Konsequenzen kommen kann: i.

Es kann nicht sichergestellt werden, dass nicht unabsichtlich eine Handlung des Tötens oder Sterbenlassens vorgenommen wird, 297 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Barbara Guckes

ii.

die entweder a) keine Sterbehilfe ist und/oder die b) nicht auf einer autonomen Entscheidung des betroffenen Patienten beruht. Der Grund für a) kann eine Fehldiagnose sein; der Grund für b) kann sein, dass die vorliegende Erkrankung und dass Medikamente das Urteilsvermögen so stark beeinträchtigt haben, dass es zu keiner rationalen Entscheidung kommen konnte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zum Missbrauch kommt. So ist es stets möglich, dass auf Patienten (z. B. vonseiten ihrer Verwandten) psychischer Druck ausgeübt wird, sodass sie schließlich um Sterbehilfe bitten, die nicht auf einer autonomen Entscheidung beruht.

Es kann also selbst dann nicht garantiert werden, dass tatsächlich im Patienteninteresse und gemäß dem freien Willen des Betroffenen gehandelt wird, wenn das Wohl des Patienten das einzige Handlungsmotiv ist. Erst recht kann nicht garantiert werden, dass es nicht zum Missbrauch kommt, also nicht im Interesse Dritter gehandelt wird. Der befürchtete Missbrauch setzt voraus, dass Dritte ein Interesse daran haben, dass der Tod eines bestimmten Schwerkranken im terminalen Stadium beschleunigt wird. Die Gründe dafür, dass ein solches Interesse besteht, können vielfältig sein. Lamb nennt die Verschlechterung der ökonomischen Situation und die damit einhergehende Anwendung des Kosten-Nutzen-Kriteriums auf die Bewertung von Leben. Mit seiner Beschreibung der momentanen Situation hat Lamb meiner Ansicht nach recht. In der Tat stehen weniger Ressourcen zur Verfügung als noch vor zehn Jahren, und es ist in jedem Einzelfall die Frage zu beantworten, ob die mit einer Behandlung verbundenen Kosten in einem angemessenen Verhältnis zum für den Patienten zu erzielenden Nutzen stehen. Diese Frage allerdings ist immer gestellt worden. Auch in einer Wohlstandsgesellschaft wird man an einem 80-jährigen keine Organtransplantation mehr vornehmen, selbst wenn er es noch so sehr wünscht. Aber die Beantwortung der Frage wird sich – je nach Ressourcenlage – verändern. In dieser Hinsicht scheint mir Lambs Einschätzung der Situation völlig richtig zu sein. Je schlechter die ökonomische Situation ist, d. h. je weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, desto eher kann es zu Sterbehilfeakten kommen, die nicht auf einer autonomen Entscheidung des Patienten beruhen, oder zu Akten des Tötens und Sterbenlassens, die keine Sterbehilfehandlungen sind. Es kann keineswegs geleugnet werden, dass sich einige Patienten bei entsprechend 298 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe

schlechter Lage unter Druck fühlen oder tatsächlich unter Druck gesetzt werden. Ein Arzt, der sich in der misslichen Lage befindet, mehr Anwärter auf ein Intensivbett zu haben, als er Intensivbetten zur Verfügung hat, mag auf einen Patienten, den er verloren gibt, entsprechend einwirken, bis dieser schließlich auf die intensivmedizinische Betreuung verzichtet. Allen Beteiligten ist klar, dass er in Folge davon sterben wird. Schließlich könnte sich tatsächlich eine Erwartungshaltung ausbilden, der gemäß um Sterbehilfe gebeten werden sollte, wenn sich jemand im terminalen Stadium befindet und der Aufwand an Kosten zu hoch wird. Bei weiterer Ressourcenverknappung könnte sich die Meinung ausbilden, dass Patienten im Endstadium, die eines hohen Aufwandes an Pflege bedürfen, geradezu dazu verpflichtet sind, um Sterbehilfe zu bitten. Wer will guten Gewissens leugnen, dass es zu einem solchen Ergebnis kommen kann? Nach Ansicht vieler Autoren bleibt man dabei aber nicht stehen. Sie befürchten vielmehr, dass die Legalisierung von Sterbehilfe auf Verlangen nur der erste Schritt auf die Legalisierung der Tötung von Menschen hin ist, die anderen zur Last fallen. 21 Diese Autoren machen folgende Faktoren dafür verantwortlich: (1) Da man in den meisten Fällen nicht nachweisen kann, ob die für die Legalisierung von Sterbehilfe geforderten Bedingungen erfüllt sind, kann Missbrauch nicht geahndet werden (2) Die bestehenden sozialen Umstände führen dazu, dass die Interessen der Gesellschaft unter bestimmten Bedingungen höher bewertet werden als das Lebensinteresse des Individuums. Mit der Legalisierung von Sterbehilfe auf Verlangen werde, so befürchten die Verfechter dieses Argumentes, eine noch bestehende Barriere gegen das Töten bzw. Sterbenlassen von Menschen beseitigt. Die allgemeine Akzeptanz, dass Menschen getötet werden dürfen bzw. dass man sie sterben lassen dürfe, interagiere mit bestimmten sozialen Faktoren, sodass es zu den genannten katastrophalen Konsequenzen komme. Dabei wird befürchtet, dass auf Patienten, die nicht um Sterbehilfe bitten, entsprechender Druck ausgeübt wird – So z. B. David Lamb: Down the Slippery Slope. Arguing in Applied Ethics, London/ New York/Sidney 1988; Yale Kamisar: »Euthanasia Legislation: Some Nonreligious Objections«, in: Th. A. Mappes/J. S. Zembaty (Hg.): Social Ethics. Morality and Social Policy, New York 1977, S. 44–55.

21

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Barbara Guckes

weigern sie sich dann immer noch, komme es (so wird prognostiziert) zu einer Tötung wider ihren Willen. Auch ich sehe diese Gefahr, wenn Sterbehilfe ohne jede Einschränkung gestattet würde. Aber allein die Vorschrift, einen unabhängigen Mediziner zu Rate zu ziehen, der zu überprüfen hat, ob eine Handlung des Tötens oder Sterbenlassens tatsächlich im Interesse des Patienten ist, und der den Patienten befragt, verringert das Risiko beträchtlich. Gar nicht nachvollziehen kann ich die von den Argumentierenden geäußerte Befürchtung, es komme als Folge der Legalisierung von Sterbehilfe zu einer Legalisierung des Sterbenlassens und Tötens von Menschen gegen ihren Willen im Interesse Dritter. Es mag Einzelfälle geben, in denen das Interesse besteht, jemanden zu töten oder sterben zu lassen, ohne dass das in dessen Interesse ist – eben weil nicht genügend Ressourcen zur Verfügung stehen oder weil zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist. Wie aber die Lücke zwischen einer Legalisierung von Sterbehilfe und einer Legalisierung des Tötens und Sterbenlassens im Interesse Dritter geschlossen werden soll, ist mir schlechterdings unbegreiflich. Eine Legalisierung von Sterbehilfe findet ausschließlich im Interesse der Patienten statt. Dass es zu Missbräuchen kommen kann, leugne ich keinesfalls; aber wie der Gesetzgeber allmählich sein Ziel ins Gegenteil verkehren soll, ist meiner Ansicht nach nicht zu erklären. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass es schon deshalb nicht zu einer solchen Regelung käme, weil das in niemandes Interesse sein kann. Wir alle sind potentielle Patienten im terminalen Stadium. Es geht nicht um die Frage, wie man sich einer Gruppe von Menschen gegenüber verhalten soll, der man selbst nicht angehört und nie angehören wird.

1.3

Bewertung

Die Legalisierung von Sterbehilfe ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung dafür, dass das Sterben von Patienten gegen ihren Willen beschleunigt wird. In verschiedenen Staaten ist bereits eine Methode entwickelt worden, mit deren Hilfe entschieden wird, wie die vorhandenen bewilligten Mittel zur Gesundheitsversorgung verteilt werden sollen. Danach werden bestimmte Patientengruppen nicht versorgt bzw. nur palliativ behandelt. Die Entwicklungen in Großbritannien und in den USA zeigen, dass es nicht eines Umwegs über die Legalisierung von Sterbehilfe bedarf, damit es zu 300 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe

Handlungen des Sterbenlassens gegen den Willen des Betroffenen kommt. In Großbritannien und den USA ist zwar Sterbehilfe nicht legalisiert, kostenintensive Behandlungen werden aber bei bestimmten Patientengruppen auch dann unterlassen, wenn sie das Leben für viele Jahre erhalten würden. In England sind sogenannte Qualys (quality adjusted life year) entwickelt worden: ein Qualy drückt aus, wie viele Lebensjahre einer bestimmten Lebensqualität durch medizinische Behandlung gewonnen werden können. 22 Wie aber soll mit Hilfe einer allgemeinen Formel entschieden werden, ob für ein Individuum durch die Behandlung eine an den Kosten gemessen hinreichende Lebensqualität erreicht wird? Einen solchen allgemeinen Maßstab kann es nicht geben, da Menschen unterschiedliche Ansprüche an ihr Leben stellen. Man kann nicht allgemeingültig entscheiden, unter welchen Bedingungen ein Leben für einen Menschen noch lebenswert ist und unter welchen Bedingungen die Lebensqualität allzu gering geworden ist. In Oregon wurde »für die Armenversicherung Medicaid eine Hitliste mit 709 Positionen aufgestellt, wobei ganz oben in dieser Hitliste präventive Maßnahmen stehen, weil diese für wenig Geld ein hohes Maß an Gesundheit erwirken. Die Grenze wurde bei der Position 587 gezogen, alles, was sich unterhalb dieser Position befindet, wurde nicht mehr angewandt, weil es bei hohen Kosten geringen Erfolg verspricht.« 23 So werden von Medicaid keine Organtransplantationen für Kinder mehr finanziert. Mithin kommt es bereits zu Fällen unterlassener Hilfeleistung aufgrund der Verknappung von Ressourcen. 24 Außerdem ist eine Regelung in der Diskussion, gemäß der von einem bestimmten Alter an nur noch palliativ behandelt werden soll. So schlägt z. B. Callahan 25 vor, auf jede Lebensverlängerung bei über 75-jährigen zu verzichten. In England wird bereits bei über 60-jährigen die Dialysebehandlung verweigert. Auch in Bezug auf eine solche Regelung ist meines Erachtens zu betonen, dass individuell zu S. z. B. Jost Bauch: »Fortschritt der Medizin: Das Ende der medizinischen Versorgung für alle?«, Zahnärztliche Mitteilungen 3 (1993), S. 39–41. 23 Ebd., hier S. 40. 24 S. dazu Dirk Kurbjuweit: »Tödliche Grenzen«, Die Zeit vom 9. Okt. 1992. Der Autor berichtete über konkrete Fälle unterlassener Hilfeleistung angesichts der Verknappung von Ressourcen. 25 Daniel Callahan: Setting Limits. Medical Goals in an Aging Society, New York/ London 1987. 22

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entscheiden ist, ob es sinnvoll ist, das Leben zu verlängern. Bloße Kosteneinsparungen dürfen kein hinreichender Grund dafür sein, das Lebensinteresse eines Menschen zu missachten. Die in England herrschende Praxis ist meines Erachtens als moralisch verwerflich zu verurteilen. Das Leben vieler Menschen, die ein Lebensinteresse haben und durchaus auch unter diesen ungünstigen Bedingungen leben möchten, könnte noch viele Jahre erhalten werden. Doch die Frage danach, wieviel wir für unser Gesundheitssystem zu zahlen bereit sind, und die Frage nach einer angemessenen Verteilung der Güter und Lasten bleibt bestehen und stellt sich immer dringlicher. 26 Ihre Beantwortung jedoch ist ein eigenes Thema und hat mit der Legalisierung von Sterbehilfe nicht das Geringste zu tun. Abschließend möchte ich betonen, dass es meiner Ansicht nach durch nichts gerechtfertigt ist, anzunehmen, dass es als Folge einer Legalisierung von Sterbehilfe zu einer Legalisierung der Tötung von Menschen gegen ihren Willen im Interesse Dritter kommt. Ich möchte aber die Gefahren nicht verharmlosen, die mit einer Legalisierung von Sterbehilfe verbunden sind. Schwerkranke und alte Menschen mögen sich unter Druck fühlen, um Sterbehilfe zu bitten, wenn der Pflegeaufwand hoch wird. Es mag Menschen sogar nahegelegt werden, um Sterbehilfe zu bitten – z. B. von den Verwandten oder vom Pflegepersonal. Viele Menschen werden wegen des Pflegenotstandes nicht optimal versorgt – einige von ihnen mögen es deshalb vorziehen, dass ihnen Sterbehilfe geleistet wird, um nicht weiterhin unter den schlechten Bedingungen leben zu müssen. So würden sicher auch Menschen aufgrund der äußeren Bedingungen um Sterbehilfe bitten, die unter besseren Bedingungen gern noch leben würden. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass das, was eigentlich um der Interessenbefriedigung schwerkranker Patienten willen eingeführt werden sollte, in Wirklichkeit in erster Linie der Interessenbefriedigung des überforderten Personals oder der überforderten Angehörigen dient. Selbst S. dazu: Bettina Schöne-Seifert: »Was sind ›gerechte‹ Verteilungskriterien?«, in: W. Wagner (Hg.): Arzneimittel und Verantwortung, Berlin/Heidelberg/New York 1993, S. 397–412; Günther Patzig: »Ist Lebensverlängerung ein höchstes Gut?«, Zeitschrift für Kardiologie 83 (1994), S. 135–138; Ronald Dworkin: »Will Clinton’s Plan Be Fair?«, The New York Review of Books 41 (1/2) (1994), S. 20–25; Eckhard Nagel/ Christoph Fuchs (Hg.): Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen. Ökonomische, ethische, rechtliche Fragen am Beispiel der Transplantationsmedizin, Berlin/Heidelberg/New York 1993; Norman Daniels: »Rationing Fairly: Programmatic Considerations«, Bioethics 7 (1993), S. 224–233.

26

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Sterbehilfe

bei strenger Kontrolle kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die Entscheidung eines Menschen für Sterbehilfe nicht autonom war. Trotz diesen erheblichen Gefahren bin ich nicht der Ansicht, dass eine Legalisierung von Sterbehilfe abgelehnt werden sollte, denn dann nimmt man erhebliches Leid schwerkranker Patienten in Kauf. Solch hohe Kosten dürfen meines Erachtens nicht gezahlt werden. Darüber hinaus ist es ganz unrealistisch anzunehmen, man könne Sterbehilfe absolut verbieten. Sterbehilfe findet in unseren Kliniken tagtäglich statt: Behandlungen werden abgebrochen, lebenserhaltende Systeme abgeschaltet, lebenserhaltende Medikamente abgesetzt und Schmerzmittel in so hohen Dosen verabreicht, dass der Tod die vorhersehbare Folge ist. Niemand ist willens, auf die Vermeidung oder Verringerung von Leid, wie sie dadurch erreicht wird, zu verzichten. Kann man den Interessen der betroffenen Patienten gerecht werden, ohne die oben genannten Risiken in Kauf zu nehmen? Ist es möglich, Alternativregelungen zu entwerfen, mit deren Hilfe man einen beschleunigten Tod ohne diese Risiken erreichen kann? Manche Autoren sind z. B. der Ansicht, es sollte Sterbehilfe der Art ST untersagt bleiben, während Sterbehilfe der Art SSL zugelassen werden sollte. Andere Autoren befürworten die Zulassung der Beihilfe zum Suizid, lehnen aber Sterbehilfe der Art ST ab. Wieder andere Autoren lehnen sowohl Sterbehilfe der Art ST als auch Sterbehilfe der Art SSL ab und meinen, das gewünschte Ziel könne auch durch das Recht auf Behandlungsverweigerung erreicht werden. 27 Zunächst beschäftige ich mich mit der Frage, ob die Legalisierung von Sterbehilfe der Art SSL mehr Risiken in sich birgt als die Legalisierung von Sterbehilfe der Art SSL. Ohne entsprechende Sicherheitsvorkehrungen kann es sicherlich dazu kommen, dass Patienten getötet werden, die es ablehnen, dass an ihnen ein Sterbehilfeakt der Art ST vollzogen wird. Es besteht aber auch die Gefahr, dass man sie gegen ihren Willen sterben lässt, d. h. dass man gegen ihren Willen die zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausschöpft und so das Leben nicht verlängert. Sieht jemand Gefahren bei der Legalisierung von Sterbehilfe der Art ST, gibt es meiner Meinung nach keinen Grund, die gleichen Gefahren, die mit einer Legalisierung von SSL verbunden sind, zu leugnen. Es kann genauso gut die Macht missbraucht werden, auf lebenserhaltende oder 27 So David Lamb: Down the Slippery Slope. Arguing in Applied Ethics, London/New York/Sidney 1988, Kapitel 6.

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-verlängernde Maßnahmen verzichten zu können. Auf Patienten kann auch dahingehend Druck ausgeübt werden, dass sie doch auf die Inanspruchnahme solcher teuren Maßnahmen verzichten sollen. Sicher, wäre ST legalisiert, würden vielleicht manche Menschen um Sterbehilfe bitten, die sich als Last für ihre Umgebung empfinden. Es kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass Menschen aus eben diesem Grunde auf eine Weiterbehandlung verzichten oder lebenserhaltende Medikamente absetzen. Ich möchte nicht ausschließen, dass das Risiko bei einer Legalisierung von ST noch etwas höher ist, weil pflegeaufwendige Kranke darin eine Möglichkeit sehen, ihren Angehörigen die Last schnell und leidfrei zu nehmen. Aus diesem Grunde ist auch nicht auszuschließen, dass Angehörige oder auch das Pflegepersonal entsprechenden Druck ausüben. Auf der anderen Seite darf aber nicht verkannt werden, dass das Risiko des Missbrauchs auch bei einer Legalisierung von SSL besteht. Das Gleiche gilt für das Recht, eine Behandlung zu verweigern. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass sowohl im Falle einer Legalisierung von SSL als auch im Falle einer Legalisierung von Sterbehilfe der Art ST die Gefahr des Missbrauchs besteht. Das Risiko, dass man Menschen tötet oder sterben lässt, in deren Interesse eine solche Handlung nicht ist, ist meines Erachtens erheblich. Dennoch ist es keine Lösung, so denke ich, Sterbehilfe strikt zu verbieten. Das hätte die Verletzung schwerwiegender Interessen zur Folge und kann in niemandes Interesse sein. Die ohnehin bereits vorhandene Angst, der Apparatemedizin und den Ärzten hilflos ausgeliefert zu sein, würde noch beträchtlich zunehmen. Nun wird von vielen Autoren vorgeschlagen, Sterbehilfe der Art ST zu verbieten (Sterbehilfe der Art der SSL wird sowieso schon praktiziert und wird erstaunlicherweise von fast allen toleriert), in Einzelfällen aber auf eine Bestrafung des Arztes zu verzichten oder nur eine niedrige Strafe zu verhängen. Eine solche Regelung halte ich für inkonsequent; darüber hinaus ist sie meiner Ansicht nach nicht im Interesse der Patienten, denn auf diese Weise wird den Interessen vieler Patienten nicht entsprochen werden. Welcher Arzt nimmt es schließlich auf sich, unter solchen Umständen einen Sterbehilfeakt der Art ST zu vollziehen? Er muss sich erheblichen Unannehmlichkeiten aussetzen, muss bei ungünstigem Ausgang mit Strafen rechnen und setzt durch eine solche Handlungsweise unter Umständen seine Karriere aufs Spiel. Keinem Arzt ist es zuzumuten, das Patienteninteresse trotz so hoher persönlicher Kosten zu verfolgen. 304 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Sterbehilfe

Wir befinden uns in einem Dilemma: Einerseits ist es geboten, den schwerwiegenden Interessen der Patienten zu entsprechen, weil eine prima facie-Verpflichtung besteht, einen Menschen, der ein rational begründetes Interesse hat, dass man ihn tötet oder sterben lässt, zu töten oder sterben zu lassen. Andererseits sind mit einer entsprechenden Legalisierung hohe Risiken verbunden, die wir nicht in Kauf nehmen wollen. Was aber sind die Ursachen dafür, dass so hohe Risiken bestehen? Verantwortlich ist nicht nur die verschlechterte ökonomische Situation, sondern auch die mangelnde Reaktion auf die veränderte Lage. Es ist durchaus möglich, eine verbesserte Versorgung alter und schwerkranker Menschen im terminalen Stadium zu erreichen, ohne dass zusätzliche Kosten entstehen. Im Gegenteil können durch eine angemessene palliative Pflege in entsprechenden Institutionen sogar Kosten gespart werden. Wäre aber eine gute Versorgung der genannten Gruppen gewährleistet, würde sich das Risiko des Missbrauchs erheblich verringern. »Erheblich verringern« heißt, dass das Risiko so gering würde, dass wir es um des hohen Nutzens willen ohne zu zögern eingehen würden. Viele Gegner einer Legalisierung von Sterbehilfe formulieren die Ansicht, dass Patienten bei entsprechender Pflege gar nicht oder nur in den seltensten Fällen um Sterbehilfe bitten würden, d. h. dass die Äußerung eines solchen Wunsches in vielen Fällen eher als ein Hilferuf zu bewerten ist, als dass sie einen tatsächlichen Wunsch darstellt, dass das Sterben beschleunigt wird. Solche Bedenken sollten ernst genommen werden, 28 denn es geht nicht darum, in Absehung vom Patienteninteresse Kosten möglichst gering zu halten, sondern das Ziel ist es, unter hinreichender Berücksichtigung der Patienteninteressen so viel wie möglich zu sparen. Zum Schluss dieses Kapitels werde ich auf den Zustand eingehen, in der sich die Sterbehilfedebatte im deutschsprachigen Raum befindet.

Wenn ich sie auch nicht uneingeschränkt teile. Es gibt durchaus rationale Gründe, seinem Leben ein Ende zu setzen.

28

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2.

Die Verwendung des SE-Argumentes gegen die Legalisierung von Sterbehilfe im deutschsprachigen Raum

Eine besonders große Rolle spielt das SE-Argument gegen die Legalisierung von Sterbehilfe im deutschsprachigen Raum. Hier wird es von zahlreichen Autoren propagiert. 29 Einer der wohl renommiertesten Philosophen, die das SE-Argument für stark genug halten, um mit seiner Hilfe Sterbehilfe – in diesem Falle Sterbehilfe der Art ST – abzulehnen, ist Spaemann. Ich untersuche im folgenden Spaemanns Argumentation auf ihre Korrektheit und Schlüssigkeit hin. Spaemann selbst verwendet das Argument bloß in kurzen Artikeln 30, und so bleiben nach dem Lesen viele Fragen offen. Da er jedoch Mitverfasser des Kinsauer Manifestes ist, wird seine Position klarer, wenn man zusätzlich dieses Dokument heranzieht. Bevor ich mich jedoch mit dem Kinsauer Manifest auseinandersetze, unterziehe ich die von Spaemann allein verfassten Artikel einer genaueren Analyse. Spaemann behauptet in den beiden Artikeln, auf die ich mich beziehe, es bestehe ein gleitender Übergang von der Bereitschaft zur Tötung auf Verlangen im Interesse des betroffenen Individuums zur Tötung von Menschen im Interesse Dritter. Er versucht, die Gefahr dieses Übergangs zu begründen, indem er auf die seiner Ansicht nach bestehende Parallele zwischen den Auffassungen hinweist, die heutige Philosophen der analytischen Ethik vertreten, und den Auffassungen der Nationalsozialisten. Spaemann betont, die Nationalsozialisten hätten ihre Mordkampagne mit dem Film »Ich klage an« eingeleitet – ihr Argument sei nicht gewesen, dass das Leben Schwerkranker für die Gesellschaft wertlos geworden sei: 31

Z. B. von Vertretern der sog. »Krüppelbewegung« wie Christoph, Sierck etc. Z. B. Robert Spaemann: »Geleitwort«, in: T. Bastian (Hg.): Denken – Schreiben – Töten, Stuttgart 1990, S. 7–8; ders.: »Wenn Tötung auf Verlangen rechtlich anerkannt würde«, Süddeutsche Zeitung vom 21. April 1990, S. IX. 31 Bereits an dieser Stelle ist darauf aufmerksam zu machen, dass hinter diesem Film nicht das Bedürfnis stand, den Interessen Kranker in ihrer letzten Lebensphase zu entsprechen, um ihnen unerträgliches Leid zu ersparen, sondern eine Ideologie der Rassenhygiene und Volksgesundheit. Alle anderen Behauptungen, die Nationalsozialisten hätten zu Beginn ihrer Kampagne durchaus ehrenhafte Motive gehabt, sind historisch schlicht falsch. Hitler hatte in seiner programmatischen Schrift »Mein Kampf« diese Ideologie bereits entwickelt. 29 30

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Sterbehilfe

Ihr Argument war: wann soll die Gesellschaft Opfer bringen für das Leben von Menschen, die selbst von ihrem Leben nichts haben? 32

Und gleich im Anschluss daran behauptet er: Und dies ist exakt das Argument unserer Euthanasisten! 33

Mit dieser Behauptung verwischt Spaemann den fundamentalen Unterschied, der zwischen den beiden Positionen besteht. Das Ziel derjenigen, die für die Legalisierung von Sterbehilfe der Art ST eintreten, ist die Entsprechung schwerwiegender Interessen des betroffenen Individuums, dessen dringender und rational begründeter Wunsch es ist, dass sein schweres und nicht behebbares Leiden beendet wird. Ihnen geht es gerade nicht um die weniger gewichtigen Interessen anderer an der Senkung von Kosten, die der Gesellschaft durch die Versorgung Schwerkranker entstehen. Sie maßen sich gerade nicht an, beurteilen zu können, dass das Leben eines Menschen nicht lebenswert ist. Niemand will dem Betroffenen suggerieren, dass es für ihn und die Gesellschaft besser wäre, wenn er endlich in seine Tötung einwilligen würde. Wer Medizinethikern eine solche Ansicht unterstellt, kehrt das Ziel dieser Menschen in sein Gegenteil um. Spaemann betont, es sei nicht das Argument der Nationalsozialisten gewesen, dass das Leben für die Gesellschaft sinnlos geworden sei. Das von ihm genannte Argument jedoch geht von den Opfern aus, die die Gesellschaft für Menschen erbringt, die unheilbar krank sind und deren Lebensqualität sehr gering ist, und eben nicht von den Interessen des Individuums. Gerade dies ist aber doch der wesentliche Unterschied, der zwischen der »Euthanasie«-Kampagne der Nationalsozialisten und der heutigen Diskussion um Sterbehilfe besteht. Spaemann verwischt diese wesentlichen Unterschiede. Nachdem der Leser die Befürchtung Spaemanns zur Kenntnis genommen hat, dass der Übergang von Sterbehilfe der Art ST auf Verlangen zur Tötung im Interesse Dritter gleitend ist, erwartet er in der folgenden Schilderung der Konsequenzen das Ausmalen eines Horrorszenariums, das die Zustände vor unserem Auge erstehen lässt, die während der nationalsozialistischen Epoche herrschten. Ganz so weit geht Spaemann in diesen Artikeln denn aber doch nicht, sondern erklärt, er befürchte die Entstehung eines psycho-sozialen 32 Robert Spaemann: »Geleitwort«, in: T. Bastian (Hg.): Denken – Schreiben – Töten, Stuttgart 1990, S. 7–8, hier S. 8. 33 Ebd.

307 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Klimas, in dem von unheilbar Kranken, die auf Pflege angewiesen sind, erwartet wird, dass sie um Sterbehilfe bitten. Er befürchtet mithin keineswegs, dass Sterbehilfe gegen den Willen des Betroffenen geleistet wird, sondern lediglich, dass Sterbehilfe geleistet wird, deren Forderung nicht auf einer autonomen Entscheidung der betroffenen Person beruht. Daraufhin nimmt Spaemann dann aber noch mehr zurück und sagt, als hinreichender Grund für ein Verbot von Sterbehilfe der Art ST reiche aus, dass sensible Menschen sich einbilden könnten, von ihnen würde die Forderung nach Sterbehilfe erwartet. Während Spaemann mit der Parallele zu den Nationalsozialisten beginnt, schildert er Schritt für Schritt weniger drastische Folgen, die aber jede für sich noch so gravierend ist, dass sie ein Verbot von Sterbehilfe begründen kann. Die unterschiedlichen Folgen, die Spaemann nennt, haben Hegselmann 34 veranlasst auszuführen, Spaemann verwende zwei SE-Argumente – nämlich die beiden folgenden: (1) Ein Argument, das sich auf einen gleitenden Übergang zwischen Sterbehilfe aufgrund der Existenz von Eigeninteressen des Erkrankten und Tötung aufgrund von Fremdinteressen stütze, und (2) ein Argument, das sich auf die Prognose der Entstehung eines psycho-sozialen Klimas stütze, in dem die Erwartungshaltung existiere, dass um Sterbehilfe gebeten wird. Hegselmann muss entgegengehalten werden, dass es sich nicht um zwei unterschiedliche SE-Argumente handelt, sondern dass ein Argument der Art 1 ein Argument der Art 2 einschließt. Wenn von einem Patienten erwartet wird, dass er um Sterbehilfe bittet, geht es bereits um Fremdinteressen. Spaemann nennt in der unter 2. formulierten Prognose nur eine der befürchteten Folgen. Aus seinen Äußerungen in den beiden Artikeln geht nicht hervor, ob er der Ansicht ist, das Abgleiten auf der schiefen Ebene ende bei dieser Erwartungshaltung und dem dadurch entstehenden psychischen Druck, oder ob er weitergehende Maßnahmen befürchtet, nämlich die Tötung auch von solchen Patienten, die trotz diesem Druck verlangen, weiterhin gepflegt zu werden. Die Vermutung, es könne bloß der Eindruck ent-

Rainer Hegselmann: »Moralische Aufklärung, moralische Integrität und die schiefe Bahn«, in: R. Merkel/Ders. (Hg.): Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt 1991, S. 197–226, hier S. 210 f.

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stehen, als werde die Forderung nach Sterbehilfe erwartet, kann nicht als Endpunkt des befürchteten Prozesses aufgefasst werden, da Spaemann annimmt, die Interessen Dritter spielten tatsächlich eine Rolle. Nebenbei bemerkt würde es sich bei einem solchen Argument auch nicht um ein SE-Argument, sondern um ein einfaches konsequentialistisches Argument handeln. Spaemanns Befürchtung, es komme zu einem gleitenden Übergang von Sterbehilfe, die im Eigeninteresse des Erkrankten ist, zur Tötung im Fremdinteresse, ist übrigens nicht leicht nachvollziehbar. Spaemann geht bereits implizit von einer Existenz von Fremdinteressen als Grund für die Forderung nach einer Legalisierung von Sterbehilfe aus. So muss er nicht erklären, wie es möglich ist, dass es zu einem solchen Übergang kommen kann. Er setzt voraus, dass bereits Zustände wie im Dritten Reich herrschen, dass nämlich das Motiv der Legalisierung von Sterbehilfe der Art ST bereits die Kostensenkung, mithin das Interesse der Gesellschaft, ist. Er nimmt aber nicht an, dass erst eine langsame Entwicklung darauf hin einsetzt. Vielmehr geht bereits in seine Voraussetzungen ein, dass die Legalisierung von Sterbehilfe vorgeschlagen wird, um eine Kostensenkung zu erreichen. Aus dem Kinsauer Manifest kann man entnehmen, was der von Spaemann und anderen befürchtete Endpunkt des prognostizierten Prozesses ist. Auch hier findet eine Paralellisierung mit der NS-Zeit statt, und hier werden dann auch die Befürchtungen klar formuliert: Wo Leid nicht beseitigt werden kann, wird der Leidende beseitigt. […] Das »Recht zu töten« – und zwar auch diejenigen, die dieser Pflicht nicht nachkommen [der Pflicht, um den Tod zu bitten (BG)], ist der absehbare dritte Schritt. 35

Das Kinsauer Manifest beruht auf zahlreichen falschen Annahmen und Unterstellungen, ohne die die Aussagen gehaltlos sind. Ich werde sie der Reihe nach durchgehen und mich exemplarisch mit ihnen auseinandersetzen. Sie tauchen in vielen Texten auf, in denen gegen die Legalisierung von Sterbehilfe Stellung genommen wird. Ich kann mich nicht enthalten, meinen Verdacht zu äußern, dass viele dieser Autoren mit Absicht ihre Argumentationsgegner moralisch diskreditieren und ihnen nie vertretene Ansichten unterstellen, um ein Ver»Kinsauer Manifest« (= KM), in: F. Rest: Das kontrollierte Töten, Gütersloh 1992, S. 171–176, hier S. 172.

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bot von Sterbehilfe durchzusetzen, das sie aus ganz anderen Gründen – die allerdings nicht rationaler Natur sind – intendieren. Ich kann mir derart gravierende Missverständnisse nicht anders erklären, erst recht nicht, wenn sie aufseiten namhafter Wissenschaftler existieren, die sich durch differenziertes Argumentieren und subtile Unterscheidungsfähigkeit bereits hervorgetan haben. Dieser Verdacht jedoch mag falsch sein, die Vertreter des SE-Argumentes mögen tatsächlich die formulierten Befürchtungen haben, weil sie sich vielleicht durch eine bestimmte Begrifflichkeit alarmiert fühlen, die bei ihnen eine Assoziationskette auslöst, die an Erinnerungen an die NS-Vergangenheit gekoppelt ist. Aus diesem Grunde werde ich exemplarisch die fehlerhaften Annahmen der Reihe nach durchgehen. Gleich zu Beginn des Kinsauer Manifestes wird behauptet, Behinderte, Sterbende und Ungeborene würden von den Vertretern der analytischen Ethik auf eine Stufe gestellt werden. In dem Zusammenhang wird ausgemalt, wie es wohl sein wird, wenn sich diese Ansicht gesetzlich durchsetzt: Werden die Kirchen Konfliktberatungsstellen nach dem Muster der bereits bestehenden einrichten, deren Konsultationsbescheinigung straffreie Tötung ermöglicht? 36

Sofort wird denn auch explizit die Parallele zum Euthanasie-Programm Hitlers gezogen, für das in unserem Lande die Kampagne wieder begonnen habe. Schon der Ausgangspunkt der Verfasser des Manifestes 37 ist jedoch falsch. Kein Ethiker, auch nicht der vielgescholtene Singer, stellt Behinderte, Sterbende und Ungeborene auf eine Stufe. Ganz im Gegenteil ist rational begründet worden, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen ungeborenen Lebewesen, die noch keine Personen sind, und geborenen Menschen, die Personen sind, existiert. Diesen Personenstatus will niemand einem äußerungsfähigen Menschen absprechen. Während begründet worden ist, dass es moralisch indifferent ist, Embryonen zu töten, weil sie über kein aktuales Lebensinteresse verfügen und ihr potentielles Lebensinteresse moralisch nicht relevant ist, ist die Ansicht formuliert und ebenso gut begründet worden, dass das Lebensinteresse von Personen als höchstes bestehendes Interesse nicht verletzt werden darf. Ein

36 37

KM, S. 171. Michael v. Cranach, Michael Schmidt, Robert Spaemann.

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Grundsatz von Philosophen, die hier angegriffen werden, ist ja gerade, dass den jeweils schwerwiegenderen Interessen entsprochen werden sollte, ganz gleich, wer ihr Träger ist. So wird also schon zu Beginn des Manifestes eine grundlegende Unterscheidung ignoriert. Vor dem Hintergrund dieses Missverständnisses lässt sich dann auch behaupten: Die Einstiegsdroge auf dem Weg in die Euthanasiegesellschaft 38 ist die sogenannte »Tötung auf Verlangen«. 39

In diesem Zitat wird »Tötung auf Verlangen« mit »Sterbehilfe auf Verlangen« gleichgesetzt. Es liegt jedoch auf der Hand, dass es sich keineswegs um Sterbehilfe handelt, wenn ich einen Depressiven töte, der mich darum bittet. Die Tötung ist nicht in seinem objektiven Interesse. Im Übrigen unterscheidet auch die Strafrechtsdogmatik nicht zwischen Tötung auf Verlangen und Sterbehilfe auf Verlangen. 40 Niemand jedoch tritt für ein Recht auf Tötung auf Verlangen ein. Die Tatsache, dass jemand um seine Tötung bittet, kann allein nicht ausschlaggebend dafür sein, dass man ihn töten darf. Es muss auch deutlich sein, dass das in seinem objektiven Interesse ist; auch der Arzt muss davon überzeugt sein, dass es das Beste für den Patienten ist, wenn ihm Sterbehilfe geleistet wird. Die Verfasser des Manifestes vertreten die Ansicht, die Forderung nach Sterbehilfe auf Verlangen – ebenso wie bei den Nationalsozialisten – sei in Wirklichkeit nichts anderes als ein psychologischer Trick, der benutzt wird, um die Öffentlichkeit langsam an die Tötung von Personen zu gewöhnen, sodass schließlich auch akzeptiert wird, dass Behinderte gegen ihren Willen getötet werden. Diese Behauptung setzt wiederum die Unterstellung voraus, es bestehe die Absicht, Personen gegen ihren Willen zu töten und der Weg dahin sei wie bei den Nationalsozialisten geplant. In anderen öffentlichen Äußerungen gegen eine Legalisierung von Sterbehilfe wird diese Parallele zur NS-Vergangenheit auch noch terminologisch unterstützt. Dort wird dann nicht von der Tötung er-

Womit eine Gesellschaft gemeint ist, in der Menschen gegen ihren Willen um der Interessen Dritter willen getötet werden. 39 KM, S. 171. 40 S. dazu Reinhard Merkel: »Teilnahme am Suizid – Tötung auf Verlangen – Euthanasie. Fragen an die Strafrechtsdogmatik«, in: ders./R. Hegselmann (Hg.): Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt 1991, S. 71–127. 38

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krankter Menschen, sondern von deren »Auslöschung« 41 oder »Beseitigung« 42 gesprochen. Im Kinsauer Manifest wird nicht nur Philosophen unterstellt, sie formulierten Gedanken, die den Lebenswert Behinderter und Kranker in Frage stellten, und forderten deren Tod, sondern es wird auch behauptet, wir würden bereits in einer Gesellschaft leben, »in der das Töten nicht brauchbar erscheinender oder kranker Menschen zur Tagesordnung geworden ist« 43: Die Forderung, freien Bürgern die freie Entscheidung der Tötung auf Verlangen, z. B. bei schwerer Krankheit, einzuräumen, war und ist in dieser Gesellschaft immer untrennbar verbunden mit der gleichzeitigen Forderung der Tötung nicht äußerungsfähiger, behinderter Menschen. Für diese bringen dann Dritte und damit die Gesellschaft dieses Verlangen vor. 44

Wenn ich solche Äußerungen lese, dann frage ich mich immer, was Menschen wohl dazu veranlassen mag, zwei so unterschiedliche Dinge miteinander zu verbinden. Die Ursache kann auf jeden Fall nicht sein, dass sie philosophische Abhandlungen lesen, in denen die Legalisierung von Sterbehilfe auf Verlangen gefordert wird. Niemand will nicht äußerungsfähige Menschen umbringen, weil Kosten gespart werden sollen. Fordert ein Philosoph die Legalisierung von Sterbehilfe für Patienten, die nicht in der Lage sind, ihren Willen zu äußern, dann ist das Motiv immer, dass diesen Menschen erhebliche Leiden erspart bleiben sollen. Es werden also immer die Interessen der Betroffenen zugrunde gelegt. 45 Es wird nicht gefordert, die Mitglieder der Gesellschaft sollten entscheiden, ob das Leben eines Menschen lebenswert ist, sondern es geht darum, der Tatsache gerecht zu werden, dass das Leben für den Betroffenen nicht wert zu leben ist, weil es allzu große Leiden mit sich bringt, die nicht beseitigt werden können. Nur in solchen Fällen oder in Fällen, in denen einem Menschen Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.): Memorandum gegen die neue Lebensunwert-Diskussion, Hamburg/Gütersloh 1992. 42 S. Jürgen-Peter Stössel: »Töten aus guten Gründen?«, Süddeutsche Zeitung vom 17./18. März 1990. 43 KM, S. 161. 44 KM, S. 162. 45 Die einzigen Ausnahmen, die bestehen, beziehen sich auf den Umgang mit Embryonen, Neugeborenen und irreversibel Komatösen, also auf Menschen, die entweder noch über kein Lebensinteresse verfügen oder nie wieder über ein Lebensinteresse verfügen werden. 41

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unwiderruflich kein Lebensinteresse zuzuschreiben ist, wird die Legalisierung des Sterbenlassens oder Tötens des Erkrankten gefordert. Der Fehler, der immer wieder gemacht wird, besteht darin, dass unterstellt wird, es würde der moralische Status von Embryonen und Personen für gleich gehalten werden. Zwischen Nicht-Personen und Personen gibt es jedoch einen moralisch relevanten Unterschied. Während es bei Embryonen und allen Nicht-Personen moralisch nicht problematisch ist, sie im Interesse Dritter leidfrei zu töten, weil kein Lebensinteresse vorliegt und die Tötung mithin moralisch indifferent ist, ist es bei Personen stets moralisch geboten, gemäß ihren subjektiven und objektiven Interessen zu urteilen und niemals gegen das Lebensinteresse (das geäußert worden ist oder das beim Fehlen gegenteiliger Äußerungen unterstellt wird) zu handeln. So ist das Ziel auch nicht die Schaffung einer leidensfreien Gesellschaft 46, wie immer wieder unterstellt wird, und es werden nicht »die Opfer der ›Euthanasie‹ herabgewürdigt, ihr Lebensrecht in Frage gestellt« 47. Bemerkenswert ist, dass die Gegner der Legalisierung von Sterbehilfe das Wort »Euthanasie« in Anführungszeichen setzen. Offensichtlich sind sie der Ansicht, dass das, was damals und heute gefordert wird, nur als Euthanasie getarnt ist, in Wirklichkeit aber keine Euthanasie ist, weil es nicht im Interesse des Betroffenen ist. Was aber ist Euthanasie, wenn nicht die Erfüllung eines rational begründeten Todeswunsches? Es wird befürchtet, dass bestimmte Menschen zur »Euthanasie« gezwungen werden, und so wird betont, man benötige eine Ethik, die die »Lebensmöglichkeiten [Hervorhebung: BG] unangetastet garantiert« 48. Dem kann nur zugestimmt werden; allerdings existiert eine solche Ethik bereits. Gemäß jeder analytischen Moraltheorie hat derjenige, der über ein subjektives Interesse verfügt, das moralische und juridische Recht auf Leben, das durch kein anderes Recht außer Kraft gesetzt werden kann. Allzu häufig werden Zusammenhänge behauptet, die nicht existieren. So behauptet z. B. Stössel, das Recht auf den eigenen Tod räume der Gesellschaft zugleich »das Recht ein, sich von denjenigen Mitgliedern zu befreien, die auf Grund ihrer nicht zu behebenden Minderwertigkeit den Anspruch auf die

Was ja auch eine ganz abstruse Forderung wäre. Klaus Dörner: »Zur Professionalisierung der ›Sozialen Frage‹«, in: T. Bastian (Hg.): Denken – Schreiben – Töten, Stuttgart 1990, S. 23–35. 48 Ebd. 46 47

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Gleichheit aller Menschen verwirkt haben« 49. Eine solche Behauptung stellt eine Verbindung her, die nicht existiert, und sie wird in dem Artikel auch nicht begründet. Stössel behauptet, die Diskussion um Sterbehilfe sei von Anfang an mit der ökonomischen Misere des Gesundheitssystems verquickt gewesen, sodass wirtschaftlich brauchbare von wirtschaftlich unbrauchbaren Menschen unterschieden würden. Er meint, die analytische Ethik wolle begründen, 50 dass wirtschaftlich unbrauchbare Menschen »beseitigt« werden dürften. Solche falschen Voraussetzungen macht auch Dörner, der in den letzten Jahren viel Energie darauf verwendet hat, zu zeigen, dass wir bereits eine schiefe Ebene betreten haben, die wir Schritt für Schritt unaufhaltsam weiter hinabgleiten, bis wir eine Gesellschaft entwickelt haben, in der es zu Greueltaten kommt, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft an der Tagesordnung waren. 51 Auch Dörner geht fälschlicherweise davon aus, dass die Entwicklung der analytischen angewandten Ethik ökonomisch motiviert ist und allein dem Leistungsfähigen ein Lebensrecht zugesteht. So schreibt er: »Eine derartige Sozialphilosophie und Sozialpolitik, die das Motto ›Freie Bahn dem Tüchtigen‹ zum alleinseligmachenden Dogma erhebt, hat unter dem Namen ›Sozialdarwinismus‹ zu ihren Hoch-Zeiten traurige Berühmtheit erlangt. Nietzsche, stets prophetisch, hat es drastisch formuliert: ›Was fällt, das soll man auch noch stoßen!‹« 52 Eine solche Verbindung aufzubauen ist nicht nur unrichtig, sondern bewusst irreführend. Solche Aussagen zeugen von einer falschen Einschätzung der Situation. Zwar leben wir in einer leistungsorientierten Gesellschaft, das impliziert aber keineswegs, dass hilfsbedürftige Mitglieder Jürgen-Peter Stössel: »Töten aus guten Gründen?«, Süddeutsche Zeitung vom 17./18. März 1990. 50 Offenbar stellen sich viele Menschen die analytische Ethik als eine einzige Moraltheorie vor. Manche beziehen auch noch die analytische Philosophie als solche mit ein. Dass in Wirklichkeit viele sehr unterschiedliche Moraltheorien existieren, scheinen sie nicht zu wissen oder zu ignorieren. Diese Gleichsetzung – und ebenso die Gleichsetzung zwischen analytischer Ethik und analytischer Philosophie – zeugt von tiefer philosophischer Unkenntnis. Das Gleiche gilt für die Auffassung, der utilitaristische Ansatz vieler heutiger Philosophen (die ihn im Übrigen nicht mehr in Reinform vertreten) stimme mit dem von Bentham entwickelten Utilitarismus überein, oder für die Ansicht, im Utilitarismus werde nur nach dem Nutzen gefragt, den die Menschen für die Gesellschaft haben. 51 So z. B. in seiner Monographie Tödliches Mitleid, Gütersloh 31993. 52 Klaus Dörner: »Zur Professionalisierung der ›Sozialen Frage‹«, in: T. Bastian (Hg.): Denken – Schreiben – Töten, Stuttgart 1990, S. 23–35, hier S. 24. 49

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unserer Gesellschaft nicht unterstützt werden. Es besteht vielmehr ein Konsens, dass behinderte Menschen so gut wie möglich integriert und gefördert werden sollten. Tatsache ist, dass für Behinderte noch nie so viel getan wurde wie heute, und Tatsache ist auch, dass die Bundesrepublik im internationalen Vergleich an einer der ersten Positionen liegt, was die Versorgung Behinderter angeht. Das spiegelt die Einstellung der meisten Menschen gegenüber Behinderten wider; die Interessen Behinderter werden keineswegs außer Acht gelassen und zugunsten der Interessen leistungsfähigerer Gesellschaftsmitglieder geopfert. Und auch in der Ethikdiskussion geht es um die Interessen der erkrankten Individuen und gerade nicht um die Interessen Dritter. Dörner ignoriert diesen wesentlichen Unterschied und behauptet: »Auf die Frage: ›Tötung auf wessen Verlangen?‹ lautet die Antwort: ›auf Verlangen der meinungsbildenden Mehrheiten in unserer Gesellschaft.‹« 53 Eine solche Aussage zeugt von böswilliger Ignoranz gegenüber der Fachliteratur. Auch die Parallelisierung zur NS-Zeit, die Dörner immer wieder bemüht, ist nicht haltbar. Unter den Nationalsozialisten wurde tatsächlich Schritt für Schritt immer Schrecklicheres durchgesetzt, aber eine schiefe Ebene war das nicht. Das Ergebnis war vielmehr von vornherein intendiert, da es als Verwirklichung der Rassenpolitik erwünscht war und angestrebt wurde. Hitler argumentierte nicht aus der Innenperspektive der betroffenen Individuen heraus, ordnete »Euthanasie« nicht aus Menschenliebe an und glitt nicht, ohne Halt finden zu können, immer weiter ab. Er lehnte auch zu Beginn seiner Vernichtungspolitik die Tötung Tausender von Menschen nicht ab. Dieses Ergebnis strebte er vielmehr von Anfang an an. Hitler ist nicht als Opfer guter Intentionen zu betrachten: Weder wollte er das Beste für die Betroffenen, noch wurde er nach und nach in schlechte Handlungen verstrickt. Er ist von Anfang an der Täter, der ein klares Konzept hatte, wie er sein Ziel, nämlich die Vernichtung unerwünschten Lebens, verwirklichen kann. Wollen diejenigen, die ein SE-Argument verwenden, ernst genommen werden, müssen sie von richtigen Voraussetzungen ausgehen und plausible Gründe für ihre Befürchtungen angeben. Dies bedeutet unter anderem, dass sie sich auf entsprechende empirische Daten stützen können müssen, denn sie tragen die Beweislast. Keinesfalls reicht es aus, nur Behauptungen und Befürchtungen aneinanderzureihen. Es sind gute Gründe für die Legalisierung von Sterbehilfe vorgetragen 53

Klaus Dörner: Tödliches Mitleid, Gütersloh 31993, hier S. 78.

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worden. Von den Gegnern einer Legalisierung von Sterbehilfe müssen nun ebenso gute Gründe vorgelegt werden, wenn das Verbot von Sterbehilfe aufrechterhalten werden soll. Mein Ziel war es nicht, empirische Einschätzungen oder Daten in Zweifel zu ziehen, sondern ich wollte lediglich die Schwächen in der Argumentation aufzeigen und deutlich machen, dass viele SE-Argumente und zahlreiche Vorwürfe auf Missverständnissen und falschen Beurteilungen der philosophischen Aussagen beruhen.

3.

Fazit

Das Ende meiner Untersuchungen ist erreicht und macht eine kurze, rückblickende Betrachtung der Ergebnisse der Arbeit erforderlich. Im Zentrum des ersten Teils stand die Frage, wie ein SE-Argument funktioniert, sowie die Frage, welche notwendigen Bedingungen ein SEArgument erfüllen muss, um ein gutes Argument zu sein. Die Ergebnisse dieser Überlegungen dienten als Basis für die Entwicklung einer Taxonomie der verschiedenen Argumentarten. Es wurde deutlich, dass in der Fachliteratur auch solche Argumente als SE-Argumente klassifiziert werden, die nicht die wesentlichen Charakteristika dieser besonderen Argumentform aufweisen. Darüber hinaus hatte sich herausgestellt, dass eine der zentralen Fragen, die bei der Beurteilung der Güte eines SE-Argumentes beantwortet werden müssen, lautet: Wie sollte in dem konkreten Fall mit dem jeweils bestehenden Risiko umgegangen werden? Somit bestand das Erfordernis einer allgemeinen Auseinandersetzung mit der Risiko-Thematik, der ich mich im letzten Kapitel des ersten Teils meiner Arbeit gewidmet habe. Entgegen dem allgemeineren ersten Teil hat der konkretere zweite Teil meiner Arbeit die Analyse einzelner SE-Argumente zum Inhalt, die gegen die Legalisierung von Abtreibung, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe vorgetragen werden. Eine Voraussetzung für eine sinnvolle Verwendung von SE-Argumenten und eine Voraussetzung dafür, dass es sich dabei um gute Argumente handelt, ist die richtige moralische Beurteilung der in Frage stehenden Handlungen auf der primären Ebene. Aus diesem Grunde beschäftigte ich mich in Abschnitt A) des zweiten Teils mit den primären Gründen für bzw. gegen Abtreibung, die Tötung Neugeborener und Sterbehilfe. Dabei haben meine Überlegungen ergeben, dass es keine solche primären Gründe gegen Abtreibung und die Tötung von Neugeborenen gibt, 316 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dass es aber solche für Abtreibung und für die Tötung Neugeborener geben kann. Ähnliches gilt auch im Falle der Sterbehilfe, gegen die keine primären Gründe geltend gemacht werden können, sofern die Sterbehilfe-Handlung nicht gegen den Willen oder ohne ausdrückliche Willenskundgabe der betroffenen Person vollzogen wird. Die Isolierung der wesentlichen Bedingungen für ein gutes SE-Argument gegen eine Legalisierung von Abtreibung, der Tötung Neugeborener und Sterbehilfe war die Voraussetzung für die dann in Abschnitt B) erfolgte Analyse der konkreten SE-Argumente. Als Ergebnis dieser Analyse stellte sich heraus, dass im Falle der Abtreibung keines der untersuchten SE-Argumente den Anforderungen genügt, wohingegen gegen eine Legalisierung der Tötung Neugeborener ein gutes SE-Argument vorgetragen werden kann. Dieses Argument kann meines Erachtens allerdings nicht gegen eine Legalisierung von Früheuthanasie (im engen Sinne verstanden) geltend gemacht werden. Im Falle der Sterbehilfe kann bedingt ein gutes SE-Argument angeführt werden, nämlich dann, wenn es gegen die Legalisierung von Sterbehilfe vorgetragen wird, die nicht an bestimmte Veränderungen der äußeren Verhältnisse geknüpft ist. Diese Ergebnisse zeigen, dass SEArgumente keineswegs zwangsläufig schlechte Argumente sind, wie von einigen Seiten nachdrücklich behauptet wird, sondern dass sie in einigen Fällen durchaus ihre Funktion erfüllen können. Die Beschäftigung mit einzelnen SE-Argumenten hat aber auch gezeigt, dass in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Themen Abtreibung, Tötung von Neugeborenen und Sterbehilfe Polemik vorherrscht. Das verweist auf tieferliegende Probleme bei der Verständigung der Diskursteilnehmer und auf ideologische Barrieren, die eine solche Verständigung unmöglich scheinen lassen. So werden von der einen Seite Ängste geschürt, die von der anderen Seite nicht hinreichend ernst genommen, ja zum Teil sogar ignoriert und belächelt werden. Wenn in Teilen der Öffentlichkeit durch die wissenschaftliche Diskussion existentielle Besorgnisse hervorgerufen werden, so sind wir meiner Ansicht nach zu einer ernsthaften und behutsamen Auseinandersetzung mit denjenigen, die sich bedroht fühlen, verpflichtet. Keinesfalls darf sich die Philosophie vor diesen realen Umständen in ihrem »Elfenbeinturm« philosophischer Extremansichten verschließen und überzogene Befürchtungen mit der Verkennung aller Gefahren beantworten. Zwar sind solche Ängste nicht rational, doch ist es ebenso wenig rational, die Auseinandersetzung mit den mit solchen Ängsten verbundenen Interessen in Selbst317 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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anmaßung zu verweigern. Auch Interessen, die auf irrationalen Überzeugungen beruhen, verdienen Beachtung und müssen berücksichtigt werden. Es kann nicht angehen, dass Menschen, die eine interessenorientierte Ethik vertreten, einige Interessen willkürlich ausklammern. Will man seine Glaubwürdigkeit wahren, darf man sich der Verpflichtung zu einer in allgemeinverständlicher Sprache geführten Auseinandersetzung mit denjenigen, die sich bedroht fühlen, nicht entziehen.

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Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe? Robert L. Holmes

In den Entscheidungen des Obersten Gerichts der USA über die Verfassungsbeschwerde des Staates Washington gegen Glucksberg et al. und über die Verfassungsbeschwerde des New Yorker Generalstaatsanwalts Vacco gegen Quill et al. (1997) schrieb der Vorsitzende Richter Rehnquist, »die Ablehnung und Verurteilung des Suizids und daher auch der Beihilfe zum Suizid« seien »durchgängige und unangefochtene Auffassung unserer philosophischen, rechtlichen und kulturellen Überlieferung«. 1 Was unsere philosophische Überlieferung angeht, könnte man dies durchaus in Zweifel ziehen, doch Rehnquist hat sicherlich recht mit der Annahme, dass die Ablehnung des Suizids die Ablehnung der Beihilfe zum Suizid impliziert. Ich möchte im Folgenden die Kehrseite dieser Medaille diskutieren und der Frage nachgehen, ob die Annahme eines Rechts zum Suizid einen dazu verpflichtet, auch die Beihilfe zum Suizid für erlaubt zu halten. 2 Zudem möchte ich erörtern, ob die Annahme der Rechtmäßigkeit der Suizidbeihilfe einen dazu verpflichtet, auch die direkte aktive Sterbehilfe zu erlauben. 3 Denn viele fürchten, dass wir es hier mit einer schiefen Ebene zu tun haben. Sie haben Sorge, dass die Gesellschaft – wenn Suizidbeihilfe einmal zugelassen wird – unaufhaltsam dahin kommen werde, auch die Sterbehilfe zuzulassen. Für diejenigen, die Sterbehilfe ablehnen, wäre das etwas Schlechtes. Für diejenigen, die Sterbehilfe wünschenswert finden, wäre genau das etwas Gutes. Unabhängig davon, ob diese U.S. Reports: Washington v. Glucksberg, 521 U.S. 702 (1996); s. a. U.S. Reports: Vacco v. Quill, 521 U.S. 793 (1997). 2 Im Brennpunkt der gegenwärtigen Auseinandersetzung steht die ärztliche Beihilfe zum Suizid. Doch es gibt keinen Grund, warum nur Ärzte für Hilfeleistungen bei einem Suizid in Frage kommen sollten, sofern solche Hilfe als zulässig angesehen wird. 3 Wenn im Folgenden von Sterbehilfe die Rede ist, ist dabei stets das Einverständnis des Sterbewilligen und des Hilfswilligen vorausgesetzt. 1

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Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

Parteien zu einer Einigung in der Sache finden können, dürften sie doch grundsätzlich darin übereinstimmen, ob wir es in dieser Frage mit einer schiefen Ebene zu tun haben. 4 Eine Bemerkung scheint angebracht über die Frage, was die Metapher der schiefen Ebene bedeuten mag. Man könnte der Ansicht sein, dass – ungeachtet der moralischen und rechtlichen Gesichtspunkte der einen oder anderen Seite – die Annahme der Rechtmäßigkeit der Suizidbeihilfe schließlich auch zur Akzeptanz der direkten aktiven Sterbehilfe führen würde. Ob es eine schiefe Ebene in diesem Sinn gibt, ist im Wesentlichen eine empirische Frage. So wichtig diese Frage ist (in rein praktischer Hinsicht handelt es sich um eine der wichtigsten Grundsatzfragen überhaupt), wirft sie keine besonderen philosophischen Probleme auf. Andererseits könnte man durchaus der Ansicht sein, dass es logische und vielleicht auch moralische Gründe gibt, weshalb, wenn der Suizid generell als zulässig angesehen wird, auch die Beihilfe zum Suizid und die Sterbehilfe erlaubt sein sollten, und zwar unabhängig davon, wie wahrscheinlich es sein mag, dass diese Auffassung gesellschaftlich geteilt wird. Offenkundig kann es eine schiefe Ebene in dem zuerst angesprochenen Sinn geben, auch wenn es keine in der als zweite angesprochenen Hinsicht gibt, und umgekehrt. Die Leute könnten tatsächlich dahin kommen, Suizidbeihilfe und auch direkte aktive Sterbehilfe zunehmend zu akzeptieren, wenn ein Recht zum Suizid einmal allgemein anerkannt würde, selbst wenn es keine zwingenden logischen oder moralischen Gründe dafür geben sollte. Ebenso könnte es allerdings auch überwiegende logische oder moralische Gründe geben, weshalb Suizidbeihilfe und Sterbehilfe zugelassen werden sollten, selbst wenn die Leute es nicht so sehen. Mich interessiert dieser zweite Gesichtspunkt. Er wirft wichtige philosophische Fragen auf. Erfordert die Folgerichtigkeit, dass man, wenn man Suizid für zulässig hält, auch Suizidbeihilfe und Sterbehilfe gutheißen muss? Oder gibt es in moralischer Hinsicht relevante Unterschiede zwischen diesen drei Typen von Handlungen, sodass es durchaus folgerichtig sein kann, einerseits den Suizid für moralisch erlaubt zu halten und andererseits die Zulässigkeit der Suizidbeihilfe oder der aktiven Sterbehilfe zu bestreiten oder zumindest in Frage zu In einem formal gültigen Argument kann die Konklusion nicht falsch sein, sofern die Prämissen wahr sind. Ein gültiges Argument ist korrekt, wenn seine Prämissen wahr sind.

4

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stellen? Ich werde im Folgenden dafür argumentieren, dass es in der Tat solche Unterschiede gibt. Sofern das zutrifft, gibt es in der hier diskutierten zweiten Hinsicht keine schiefe Ebene – unabhängig davon, ob es in der ersten eine gibt oder nicht.

1. Beginnen wir mit einem Argument, von dem man zumindest meinen kann, dass es auf die angesprochene schiefe Ebene führt: A.

1. 2.

Daher: 3. 4.

Daher: 5.

Man darf sich selbst das Leben nehmen. 5 Bei allem, was man tun darf, darf man auch andere um Unterstützung bitten. Man darf andere um Unterstützung dabei bitten, wenn man sich selbst das Leben nehmen will. Bei allem, wofür man andere um Unterstützung bitten darf, darf man auch andere bitten, die Sache für einen auszuführen. Man darf andere darum bitten, einem das Leben zu nehmen.

Prämisse (1) ist nicht so zu verstehen, als sollte der Suizid schlechthin, d. h. unter allen denkbaren Umständen, für zulässig erklärt werden. Kaum jemand – außer vielleicht Terroristen – würde es zum Beispiel für zulässig halten, sich mit Sprengstoff zu umwickeln und diesen auf einem dicht bevölkerten Marktplatz zur Explosion zu bringen. Freilich mögen manche einwenden, dass es sich bei sogenannten »SelbstmordAnschlägen« eigentlich nicht um Suizid handelt, denn die Absicht der Attentäter richtet sich weniger darauf, sich selbst das Leben zu nehmen, als vielmehr auf irgendwelche religiösen und/oder politischen Ziele, wobei es lediglich vorherzusehen ist, dass sie in Verfolgung ihres Plans ums Leben kommen werden. Um diesem Einwand gerecht zu werden, wäre eine Erörterung der Feinheiten des Prinzips der Doppelwirkung erforderlich. Ich werde im Folgenden, gestützt auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch, davon ausgehen, dass es sich bei diesen Taten um Suizide handelt. Diejenigen, die glauben, dass Suizid zulässig ist, denken in der Regel (wenn auch nicht ausnahmslos), dass es bestimmte Bedingungen gibt, unter denen es erlaubt sein sollte, sich selbst zu töten, zum Beispiel falls das Weiterleben nur noch eine Verlängerung ihres Leidens bringen könnte, doch nicht, dass es jedem frei stehen sollte, seinem Leben aus welchem Grund auch immer ein Ende zu machen.

5

322 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

Auch wenn das Argument auf den ersten Blick plausibel erscheinen mag, ist zumindest Prämisse (2) fragwürdig. Denn es gibt einige Sachen, die ich zwar selbst tun darf, bei denen es jedoch nicht erlaubt wäre, wenn ich andere um Unterstützung bitten wollte. Wenn meine ältere Nachbarin mir die Erlaubnis erteilt, Äpfel von ihrem Baum zu ernten, berechtigt mich das nicht, dich um Hilfe beim Pflücken zu bitten. Denn sie hat nur mir persönlich erlaubt, die Äpfel zu ernten. Falls sie den meisten Leuten misstraut und nur mir vertrauen mag, könnte es sein, dass es nicht in ihrer Absicht lag, einer dritten Person Zutritt zu ihrem Garten zu verschaffen, dass sie sich überrumpelt fühlt und daran stört. Ähnlich verhält es sich auch bei manchen Intimitäten, die unter Ehepartnern oder Liebenden zulässig sein mögen, doch bei denen es verfehlt wäre, einen Dritten um Beihilfe zu ersuchen. Freilich könnte man einwenden, dass Prämisse (2) sich nur darauf bezieht, wofür ich andere um Unterstützung bitten darf. Sie sagt nichts darüber, ob der andere seinerseits berechtigt wäre, dieser Bitte zu entsprechen. Daher könnte man argumentieren, dass die Einschränkungen nicht hinreichen, um Prämisse (2) als falsch zu erweisen. Dieser Einwand mag etwas spitzfindig erscheinen, doch er ist nicht belanglos. Wenn wir annehmen, dass in den Sätzen (2) bis (5) tatsächlich nur von Bitten die Rede ist und nicht davon, dass diesen Bitten auch entsprochen wird, dann könnte es sich in der Tat um ein schlüssiges und gültiges Argument handeln. Allerdings scheitert das so verstandene Argument aus anderen Gründen. Denn die Zulässigkeit lediglich der Bitte um Beihilfe zum Suizid ist nicht hinreichend, um die Zulässigkeit der Beihilfe zum Suizid zu begründen. Genauso wenig folgt daraus, dass ich jemanden darum bitten darf, mir zu einem sanften Tod zu verhelfen, die Zulässigkeit der direkten aktiven Sterbehilfe. Die Zulässigkeit von Suizidbeihilfe und Sterbehilfe erfordert – anders als die Zulässigkeit des Suizids – die Zulässigkeit der Handlungen sowohl des primären Handlungssubjekts (der Person, um deren Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen es geht) als auch des anderen Beteiligten (der Person, die Beihilfe zum Suizid oder direkte aktive Sterbehilfe leistet). Selbst wenn das Argument schlüssig sein sollte, kann es bestenfalls die Zulässigkeit lediglich eines Teiles dessen begründen, was zur Rechtfertigung der Suizidbeihilfe oder der Sterbehilfe erforderlich wäre. Dieser Einwand bezieht sich auf die Bedeutung dessen, was unter Beihilfe zum Suizid und unter direkter aktiver Sterbehilfe verstanden wird. 323 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert L. Holmes

Mit einer Modifikation des Arguments könnten wir Prämisse (3) verstärken und damit die Konklusion (5) so stützen, dass das Argument hinreichen würde, um die Zulässigkeit der Beihilfe zum Suizid und der Sterbehilfe zu beweisen, sofern die Prämissen ihrerseits als gut begründet angenommen werden dürfen. B.

1. 2.

Daher: 3. 4.

Daher: 5.

Man darf sich selbst das Leben nehmen. Bei allem, was man tun darf, darf man auch andere um Unterstützung bitten. Man darf die Unterstützung eines anderen in Anspruch nehmen, wenn man sich selbst das Leben nehmen will. Bei allem, wofür man die Unterstützung anderer in Anspruch nehmen darf, darf man auch andere bevollmächtigen, die Sache für einen auszuführen. Man darf andere bevollmächtigen, einem das Leben zu nehmen.

Doch diese Lösung hat einen Preis. Während Argument A schlüssig und auch gültig zu sein scheint, sofern man es so versteht wie zuletzt dargestellt, ist Argument B nicht schlüssig. Es enthält einen Fehlschluss im Übergang von (2) zu (3). Indem es die Lücke zwischen dem Erbitten der Unterstützung eines anderen für seinen Suizid und dem Akt des anderen, dieser Bitte nachzukommen, explizit macht, zeigt das Argument deutlicher, dass diese Lücke geschlossen werden müsste. Die einfache Voraussetzung, dass es jemandem erlaubt sein mag, etwas Bestimmtes zu tun, genügt nicht, um zu begründen, dass es irgendjemandem sonst erlaubt sein sollte, dem ersten bei seiner Tat zu helfen, während genau dies vorausgesetzt werden müsste, sofern die Zulässigkeit der Inanspruchnahme der Unterstützung anderer bei einer bestimmten Handlung die Zulässigkeit des Gewährens der in Anspruch genommenen Unterstützung implizieren sollte. Gleichwohl erscheint in den Kontexten, mit denen wir es bei Fällen der Beihilfe zum Suizid realistischerweise meist zu tun haben werden (wo in der Regel, vielleicht zu Unrecht, davon ausgegangen wird, dass die Beihilfe durch einen Arzt geleistet würde), die Annahme immerhin ein Stück weit einleuchtend, dass die Zulässigkeit des Suizids zumindest auch die Zulässigkeit der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe bei der Ausführung einschließen dürfte. Deshalb sollten wir (2) und (3) 324 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

zumindest provisorisch akzeptieren. Wir werden später noch andere Gründe erörtern, weshalb diese Annahmen zurückgewiesen werden sollten. Wenden wir uns nun Prämisse (4) zu, die den Übergang von (3) zu (5) ermöglicht: Darf ich für alles, wofür ich die Unterstützung eines anderen in Anspruch nehmen dürfte, diese Person bevollmächtigen, die Sache für mich auszuführen? In der Tat gibt es geläufige gesellschaftliche und politische Denkweisen, die dafür zu sprechen scheinen, dass dies zulässig sein sollte. Sie stützen sich im Wesentlichen auf die unterstellte Übertragbarkeit moralischer Bevollmächtigungen. Im Sinne Hobbes’ und Lockes wird angenommen, dass ich ein Recht, das mir zusteht, unter entsprechenden Umständen auf jemand anderen oder ggf. auch auf eine abstrakte Körperschaft übertragen kann. Da Rechte Erlaubnisse einschließen, darf man, wenn man Rechte übertragen darf, zumindest auch einige Erlaubnisse übertragen. So argumentiert zum Beispiel Robert Nozick für die Rechtfertigung des Staates. Er geht davon aus, dass alle Einzelnen ein Recht zur Selbstverteidigung haben und dass sie dieses Recht anderen (im Rahmen von Schutzinstitutionen) übertragen dürfen, damit diese es in ihrem Interesse ausüben. Auf diesem Weg entsteht schließlich – ohne Verletzung der ursprünglichen Rechte – eine vorherrschende Schutzinstitution mit einem Gewaltmonopol, mithin ein rudimentärer Staat. 6 Michael Walzer geht in seiner Erörterung des gerechten Krieges ganz ähnlich vor, indem er annimmt, dass Staaten ein Recht zur Kriegführung schlicht aus der Kollektivierung des ursprünglichen Selbstverteidigungsrechts der Einzelnen haben. 7 So ehrwürdig diese Tradition auch sein mag, meine ich doch, dass diese Übertragung nicht erfolgen kann. Selbst wenn wir (3) vorläufig akzeptieren, scheint es doch klar, dass die Prämissen (3) und (4) zusammen nicht hinreichen, um die Konklusion (5) zu begründen. Das liegt vor allem daran, dass (4) falsch ist oder zumindest sehr fragwürdig erscheint. Wir können keineswegs jederzeit andere bevollmächtigen, all das für uns auszuführen, wobei sie uns andernfalls auch helfen dürften. Wenn ich ein Neurochirurg bin und du eine examinierte OP-Schwester, darf ich deine Hilfe bei einer Operation in Anspruch nehmen, aber ich bin nicht berechtigt, dich zu bevollmächtigen, die Operation an meiner Stelle durchzuführen. Auch wenn ich 6 7

Vgl. Robert Nozick: Anarchie, Staat, Utopia, München 1976, Teil I. Vgl. Michael Walzer: Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982, S. 92–94.

325 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert L. Holmes

jemandem Dank schulde, kann ich wohl zum Abtragen der Dankesschuld fremde Hilfe in Anspruch nehmen. Doch es würde nicht genügen – zumindest würde es nicht in allen Fällen als ausreichend angesehen werden –, wenn ich diese dritte Person beauftragen und bevollmächtigen wollte, an meiner Stelle die Handlung auszuführen, durch die meine Dankesschuld abgetragen würde, wenn ich sie selbst ausführte. Zum Begriff der Dankesschuld gehört wesentlich die Vorstellung, dass es sich um etwas handelt, was ich persönlich dem anderen schuldig bin. Gefordert ist in solchen Fällen nicht nur, dass ein bestimmtes Ergebnis zustande kommt, sondern dass ich es bin, der dieses Ergebnis herbeiführt. 8 Und in dem Fall, dass ich dich schuldhaft verletzt habe, obliegt es mir, den Schaden, den ich dir zugefügt habe, wiedergutzumachen, soweit das möglich ist; es wird nicht genügen, dass ich dafür sorge, dass er ausgeglichen wird. Der Grundgedanke der wiedergutmachenden Gerechtigkeit ist, dass der Täter persönlich das Unrecht, das er begangen hat, wiedergutmachen muss; es genügt nicht, wenn er einen anderen schickt, der das ersetzen, reparieren oder wiederherstellen soll, was er selbst gestohlen oder beschädigt hat, und es genügt ebenso wenig, eine Entschuldigung durch einen Boten übermitteln zu lassen. Ich darf dich um Hilfe beim Abwasch bitten oder beim Schneeschippen oder beim Reifenwechsel, und mit etwas Glück mag es mir sogar gelingen, dich dazu zu bewegen, dass du diese Aufgaben für mich übernimmst. In solchen Fällen geht es nur darum, dass der Abwasch erledigt, die Straße geräumt oder der Reifen gewechselt wird; wie das im Einzelnen erreicht wird, ist in der Regel nicht von Bedeutung. Doch Dankesschulden oder Wiedergutmachungspflichten erfordern nicht nur, dass bestimmte Ziele erreicht werden, sondern auch, dass sie in einer bestimmten Weise erreicht werden – durch den persönlichen Einsatz desjenigen, der die betreffende Pflicht hat.

Nehmen wir an, du hast mir unter großer Gefahr für dich selbst und erheblichen Opfern das Leben gerettet. Daraus erwächst für mich eine Dankesschuld dir gegenüber. Nun nehmen wir an, dass eines schönen Tages, während ich am Schwimmbeckenrand im Liegestuhl sitze und Zeitung lese, du von der Mitte des Schwimmbeckens aus um Hilfe rufst; statt meine Lektüre zu unterbrechen, fordere ich jemand anderen auf, dir doch bitte das Rettungsseil zuzuwerfen. Selbst wenn dadurch dein Leben gerettet werden könnte, habe ich meine Dankesschuld dir gegenüber so nicht abgetragen noch mich auch nur im mindesten anständig verhalten. Es gibt Pflichten, die wir persönlich erfüllen müssen und nicht anderen übertragen können.

8

326 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

2. Gravierender ist, dass das hier betrachtete Argument ein zu anspruchsvolles Beweisziel verfolgt, insofern Prämisse (2), statt zu behaupten, dass man bei allem, was man tun darf, auch andere um Unterstützung bitten dürfe, lediglich die Feststellung hätte enthalten müssen, dass man bei allem, was man mit sich selbst machen darf, auch andere um Unterstützung bitten darf. Dies passt deutlich besser zur Fallkonstellation der Beihilfe zum Suizid, denn es gehört zur Bedeutung von »Suizid« – gleichviel ob mit oder ohne Beihilfe Dritter –, dass es dabei um Selbsttötung geht, und sich selbst zu töten ist zweifellos ein paradigmatischer Fall des etwas mit sich selbst Machens. 9 Prämisse (4) könnte ebenfalls geändert werden, mutatis mutandis. Doch wir könnten Prämisse (2) so modifizieren, dass der Fehlschluss in B eliminiert wird. Indem wir (2) dahingehend reformulieren, dass man bei allem, was man mit sich selbst machen darf, auch die Unterstützung eines anderen in Anspruch nehmen darf, wobei als ausgemacht gilt, dass der betreffende andere auch berechtigt ist, die erbetene Unterstützung zu leisten, erreichen wir ein gültiges Argument. Durch diese Veränderungen bekommen wir ein sehr ähnliches, doch von dem zuletzt diskutierten verschiedenes Argument: C.

1. 2.

Daher: 3. 4.

Daher: 5.

9

Man darf sich selbst das Leben nehmen. Bei allem, was man mit sich selbst machen darf, darf man auch die Unterstützung eines anderen in Anspruch nehmen. Man darf die Unterstützung eines anderen in Anspruch nehmen, wenn man sich selbst das Leben nehmen will. Bei allem, was man mit sich selbst macht und wofür man die Unterstützung anderer in Anspruch nehmen darf, darf man auch andere bevollmächtigen, die Sache für einen auszuführen. Man darf andere bevollmächtigen, einem das Leben zu nehmen.

Darauf machte mich Scott De Vito aufmerksam.

327 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert L. Holmes

Erinnern wir uns daran, dass wir (2) und (3) vorläufig akzeptiert haben. Da (3) nun aus (1) und (2) logisch folgt und wir im Hinblick auf die hier interessierende Diskussion (1) nicht in Frage stellen wollen, hängt der Wahrheitswert von (3) davon ab, ob (2) wahr ist. Doch selbst wenn man (2) so reformuliert, wie wir es nun getan haben, scheitert diese Prämisse an denselben Einwänden, die den Übergang von A (2) zu (3) betrafen. (1) bezieht sich ausschließlich auf die Zulässigkeit der Ausführung einer Handlung durch den primären Akteur selbst. Doch in (2) und (3) sowie in (4) und (5) geht es zentral um die Handlung einer anderen Person oder ggf. mehrerer weiterer Personen. In (3) ist dies die Handlung, einem anderen dabei zu helfen, dass dieser sich selbst töten kann. In (5) ist es die Handlung, einen anderen Menschen zu töten. Die Handlung, jemanden um Hilfe zu bitten, damit du dich selbst töten kannst, ist klarerweise eine andere Handlung als die Handlung des anderen, dieser Bitte zu entsprechen. Ebenso ist die Handlung, einem anderen die Vollmacht zu erteilen, dich an deiner Stelle zu töten, eine andere Handlung als die dadurch gestattete und erbetene Tötungshandlung. Schließlich ist das Töten eines anderen Menschen eine andere Handlung – und wohl grundsätzlicher eine andere Art von Handlung – als sich selbst zu töten oder Hilfe in Anspruch zu nehmen, um sich selbst töten zu können, oder einem anderen eine Vollmacht zu erteilen, einen an seiner Stelle zu töten. Somit bleibt die argumentative Lücke zwischen dem, was der primäre Akteur tun darf, und dem, was ein sekundärer Akteur tun darf, bestehen. Statt im Aufbau des Arguments offen zutage zu treten (wodurch Argument B als ungültig erkennbar wurde), ist sie nun versteckt in den Prämissen (2) und (4). Dadurch werden aber die Prämissen (2) und (4) falsch und das Argument, mag es auch gültig sein, inkorrekt. Bisher habe ich mich vor allem auf moralische Gesichtspunkte konzentriert, die den primären Akteur betreffen und als moralische Bedingungen bei der Erfüllung bestimmter Pflichten zu beachten sind. Doch wie sieht es auf Seiten des anderen Beteiligten, des sekundären Akteurs aus? Sind auch hier moralische Gesichtspunkte zu beachten, die dem einfachen Übergang von dem, was zu tun dem primären Akteur gegebenenfalls erlaubt ist, zu dem, was ein sekundär Mitwirkender tun dürfte, Grenzen setzen? Es dürfte ein konstitutives Moment des Moralbegriffs darstellen, dass jede Handlung (jede freie, ungezwungene, freiwillige Handlung) einer moralischen Bewertung unterliegt. Mit anderen Worten: Jede 328 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

Handlung ist entweder richtig oder falsch, und wenn sie richtig ist, entweder erlaubt oder geboten. Nicht jede einzelne Handlung muss tatsächlich unter diesen Kategorien beurteilt werden, doch in jedem Fall stellt sich zumindest die Frage nach einer solchen Beurteilung. Bei allem, was wir tun oder zu tun vorhaben, kommt es darauf an, ob das, was wir vorhaben, richtig ist, und falls es richtig ist, aus welchen Gründen. Nun ist die bloße Tatsache, dass ich (wie in der Konklusion des oben dargestellten Arguments festgestellt) moralisch berechtigt sein mag, darin einzuwilligen, dass du mich töten darfst, oder auch dazu, dir eine Vollmacht dazu zu erteilen, die so weit reicht, wie es mir selbst freisteht, mir das Leben zu nehmen, keineswegs hinreichend, um zu begründen, dass es auch für dich richtig wäre, mich zu töten. Meine Handlung, dir eine Vollmacht zu erteilen, ist eine Handlung (von der wir um des Arguments willen annehmen, dass sie erlaubt ist); doch deine Handlung, mich zu töten, wäre gegebenenfalls eine eigene Handlung. Und diese Handlung muss für sich moralisch beurteilt werden. Aus der Tatsache, dass ich eingewilligt habe, dass du etwas mit mir machen darfst, oder es dir gestattet habe oder dich sogar beauftragt habe, es zu tun, folgt an und für sich noch nicht, dass es dir moralisch erlaubt wäre, es zu tun. Wenn man einmal einsieht, dass es sich hier um zwei verschiedene Handlungen handelt, muss man auch die Möglichkeit gelten lassen, dass diese Handlungen unter Umständen ganz unterschiedliche Konsequenzen haben können. Eine Konsequenz daraus, dass du meiner Bitte nachkommst oder von der dir erteilten Vollmacht Gebrauch machst, ist mein Tod. Er folgt nicht unmittelbar aus meiner Bitte oder aus meiner dir erteilten Vollmacht allein. Eine weitere Konsequenz deiner Handlung könnte sein, dass du verhaftet und wegen Totschlags oder Tötung auf Verlangen verurteilt wirst. Das wäre allerdings keine Konsequenz meiner Handlung. Eine dritte Konsequenz für dich könnte sein, dass du Schuldgefühle entwickelst, weil du mich umgebracht hast, dem Alkohol verfällst und dir dein Leben entgleitet. Mit ein wenig Phantasie könnte man sich auch glückliche Konsequenzen ausmalen, die aus der einen Handlung folgen, aber nicht aus der anderen. Das bedeutet, dass die moralische Beurteilung der beiden Handlungen sich zumindest unter solchen Moralauffassungen stark unterscheiden dürfte, die den Konsequenzen einzelner Handlungen erhebliches Gewicht in der Bestimmung des Richtigen und des Falschen beimessen. Doch auch für nicht-konsequentialistische Moralauffassungen 329 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert L. Holmes

könnte die moralische Bewertung der betreffenden Handlungen sehr unterschiedlich ausfallen. Die Beurteilung der Richtigkeit oder Falschheit deiner Handlung, meiner Bitte zu entsprechen oder von der dir erteilten Vollmacht Gebrauch zu machen, kann – selbst wenn meine Bitte oder die Erteilung der Vollmacht als zulässig angesehen werden – nicht ohne Berücksichtigung der dich betreffenden Umstände und sonstigen Pflichten, allfälliger, von dir eingegangener Verpflichtungen oder von dir übernommener Verantwortung erfolgen, das heißt, nicht unabhängig von dem weiteren Kontext, in dem die betreffende Handlung gegebenenfalls stattfinden mag. Zumindest die durch das geltende Recht gesetzten Grenzen stellen in jedem Fall, selbst wenn sie moralisch nicht allein ausschlaggebend sein mögen, moralisch relevante Gesichtspunkte dar. Und wenn – wie in unserem Land und den allermeisten Ländern gegenwärtig – Sterbehilfe verboten ist, dann handelt es sich um einen moralisch relevanten Gesichtspunkt, mag er auch nicht unbedingt der allein ausschlaggebende sein. Falls du tief verwurzelte Widerstände gegen das Töten eines anderen Menschen haben solltest, wäre auch das ein moralisch relevanter Gesichtspunkt. Dementsprechend würde das auch für Verbote gelten, die sich aus einer berufsständischen Ethik wie dem Hippokratischen Eid, sofern du Arzt sein solltest, oder aus anderen Pflichten ergeben, die mit einer bestimmten sozialen Rolle verbunden sind, die du übernommen hast. Worauf es mir ankommt, ist, dass die Moral erfordert, dass wir den weiteren Kontext einbeziehen, in dem wir handeln und in dem das moralische Entscheiden erfolgt. Moralische Erlaubnisse und Vollmachten sind keine Schlüsselkarten, durch die sich uns die Zugänge zu dem, was wir wollen, automatisch auftun. Sie können auch nicht verliehen oder auf andere übertragen werden. Mit ihnen so umzugehen – oder, weniger unfreundlich ausgedrückt, so, als handelte es sich um Rechte, die übertragen und gehandelt werden können wie Waren – ist der Fehler der oben angesprochenen traditionellen Gesellschaftstheorien und politischen Philosophien. Sie versuchen, den Staat zu rechtfertigen oder Kriege zu rationalisieren, als wären die Menschenrechte (und die damit verbundenen Erlaubnisse), von denen angenommen wird, dass Personen sie haben und dadurch berechtigt wären, bestimmte Dinge zu tun, ohne weiteres auf Dritte oder auch auf Körperschaften wie Staaten übertragbar. Bei den Falltypen, um die es hier geht – das Töten eines anderen Menschen auf sein oder ihr Geheiß, sofern (so die Annahme) diese Person zu dem wohlerwo330 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

genen Urteil gelangt ist, dass ihr Leben für sie nicht länger lebenswert sei –, lässt die zu beurteilende Tötungshandlung sich nicht aus ihren kontextuellen Zusammenhängen lösen. Denn genau darin liegt der Lebensnerv der Moral. Die beiden Tötungshandlungen – einerseits die Selbsttötung des primären Handlungssubjekts, mit oder ohne fremde Hilfe, andererseits die Tötung des primären Handlungssubjekts durch ein sekundäres – können demnach unter Umständen moralisch unterschiedlich bewertet werden. Daher scheitert das hier erörterte Argument. Nun könnte freilich eingewandt werden, dass es – selbst wenn manche Tötungshandlungen sich von anderen Tötungshandlungen in moralischer Hinsicht erheblich unterscheiden – keinen grundsätzlichen moralischen Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen gibt und dass in etlichen der hier relevantesten Fälle der primäre Akteur Hilfe beim Suizid oder Sterbehilfe gerade deshalb sucht, weil er ohnehin bald sterben muss und nur das erhebliche Leid zu verkürzen sucht, das damit verbunden ist. Die Alternative, vor die der sekundäre Akteur sich in solchen Fällen gestellt sieht, reduziert sich demnach darauf, den primären Akteur entweder (auf dessen Verlangen und so, dass es sich um aktive Sterbehilfe handelt) zu töten oder ihn gegen seinen Willen einen langwierigen und qualvollen Tod sterben zu lassen. Wenn es keinen moralisch relevanten Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen gibt und wenn man in einem gegebenen Fall tatsächlich nur die Wahl hat, den anderen entweder zu töten oder ihn qualvoll sterben zu lassen, dann könnte unter Umständen argumentiert werden, dass es zulässig sein sollte, die Sterbehilfe zu leisten, um die der Sterbende gebeten hat und zu der er die dazu bereite Person ermächtigt hat. Allerdings sollte festgehalten werden, dass es sich hier um ein ganz anderes Argument für die Zulässigkeit der Sterbehilfe handelt als das zuvor erörterte. Wenn es korrekt ist, dann gilt dies unabhängig davon, ob der Suizid oder die Beihilfe zum Suizid als erlaubt gelten dürfen. Deshalb trägt dieses Argument auch nichts bei zur Klärung der Frage, ob es in dem moralischen Terrain, mit dem wir uns beschäftigt haben, die von manchen befürchtete schiefe Ebene gibt. Zudem würde es, falls moralisch zwischen Töten und Sterbenlassen, wie der Einwand annimmt, wirklich kein Unterschied bestehen sollte, eine meiner zentralen Behauptungen sogar eher stützen, statt sie zu schwächen. Denn dann bliebe in der Tat keine andere Wahl, als je im Einzelfall den weiteren Kontext der Lebensumstände der beteiligten 331 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Robert L. Holmes

Personen und weitere moralisch relevante Gesichtspunkte einzubeziehen um eine Entscheidung zu treffen – oder aber einfach eine Münze zu werfen. Im Übrigen ist es wohl nur in einem äußerst begrenzten Sinn wahr, dass zwischen Töten und Sterbenlassen kein moralischer Unterschied besteht. Abstrakt betrachtet, das heißt unabhängig von Überzeugungen, Praktiken, Gewohnheiten, geltendem Recht, Verantwortlichkeiten und eingegangenen Verpflichtungen oder gar Motiven und Absichten der handelnden Personen, gibt es keinen Unterschied. Doch so gesehen gibt es überhaupt keinen moralischen Unterschied zwischen irgendwelchen Handlungen. Wenn man Handlungen von ihrem Kontext abstrahiert und sie in mikroskopischer Detailliertheit beschreibt – als reine Körperbewegungen oder noch mikroskopischer, als Bewegungen von Atomen und Molekülen –, ist alles entfernt, was ihnen moralische Bedeutsamkeit verleihen könnte. Das gilt auch für ihre Folgen. Wenn man sie hingegen in den Lebenszusammenhängen erfasst, in denen wir mit ihnen zu tun bekommen, dann erscheinen sie voller moralischer Bedeutsamkeit. So lässt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Töten und Sterbenlassen lösen: Abstrakt betrachtet gibt es keinen moralischen Unterschied und kann es keinen geben. Doch im jeweiligen Lebenszusammenhang gibt es in manchen Fällen einen moralischen Unterschied, in anderen nicht; und wenn es einen Unterschied ausmacht, dann ist manchmal das eine richtig, das andere falsch, in anderen Fällen jedoch umgekehrt. Etwas anderes gibt es hier nicht. Aus dem Obigen folgt nicht, dass Sterbehilfe moralisch nicht gerechtfertigt sein kann; nichts, was ich gesagt habe, beantwortet diese Frage in der einen oder anderen Richtung. Das Einzige, was sich daraus ergibt, ist, dass es nicht möglich ist, einfach durch direkte Folgerungen aus der unterstellten Zulässigkeit des Suizids oder auch der Beihilfe zum Suizid zu beweisen, dass Sterbehilfe erlaubt sein sollte. In Erweiterung der im Zusammenhang mit Argument C entwickelten Überlegungen folgt, wie ich allerdings nicht detailliert ausgeführt habe, dass die Zulässigkeit der Sterbehilfe jedenfalls nicht aus der unterstellten Zulässigkeit ärztlicher Beihilfe zum Suizid allein abgeleitet werden kann. Dies sollte genügen, um zu zeigen, dass es hier in der Tat keine schiefe Ebene gibt. Falls dies richtig ist, bedeutet es, dass Fürsprecher der Sterbehilfe mehr tun müssten als bloß für die Zulässigkeit des Suizids oder der Beihilfe zum Suizid zu argumentieren, während Gegner der Sterbehilfe, um uns zu überzeugen, ihrerseits 332 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Führt eine schiefe Ebene vom Suizid zur Beihilfe zum Suizid und zur Sterbehilfe?

mehr tun müssten, als bloß für die Unzulässigkeit dieser fraglichen Praktiken zu argumentieren. Übersetzt von Eberhard Ortland

Literaturverzeichnis Nozick, R.: Anarchie, Staat, Utopia. München 1976. U.S. Reports: Washington v. Glucksberg, 521 U.S. 702 (1996). U.S. Reports: Vacco v. Quill, 521 U.S. 793 (1997). Walzer, M.: Gibt es den gerechten Krieg?, Stuttgart 1982.

333 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen? – Eine Beurteilung aus seelsorgerlicher und ethischer Sicht 1 Ulrich Eibach

1.

Zum weltanschaulichen Hintergrund

1.1

Selbstbestimmung und Todeszeitpunkt

Zu keiner Zeit mussten Menschen so wenig an schweren Krankheiten leiden wie in der Gegenwart 2, nicht zuletzt dank der Fortschritte der Palliativmedizin. Im Antoniter-Hospital zu Isenheim, für das Matthias Grünewald das bekannte Altarbild malte, wurden im Mittelalter die an Mutterkornvergiftung schwer leidenden, gleichsam bei lebendigem Leibe »verfaulenden« Menschen palliativmedizinisch behandelt, gepflegt und seelsorglich begleitet. Vor dem Altar wurden z. B. Amputationen ohne wirksame Narkotika durchgeführt. So gesehen gibt es keine Notwendigkeit, gerade heute die Geltung des Tötungsverbots aufzuheben, um Menschen durch eine Beihilfe zur Selbsttötung oder eine Tötung auf Verlangen von schwerem Leiden zu »erlösen«. Der wesentliche Grund für die gegenwärtige Debatte über »Beihilfe zur Selbsttötung« liegt also nicht darin, dass Menschen heute notwendig besonders schwer leiden müssen, sondern in der Individualisierung und Säkularisierung der Lebens- und Wertvorstellungen. Im Zuge dieses Wertewandels wurde die Selbstbestimmung, die Autonomie des Menschen, zum alles entscheidenden Wert. Weil der säkulare Mensch nicht mehr glaubt, dass er sein Leben Gott verdankt, betrachtet er sein Leben als seinen Besitz, über den er nach seinem Ermessen verfügen darf. Und der Mensch, der an kein »JenDer Verfasser dankt Prof. Dr. Klaus Zwirner (Ärztlicher Direktor i. R. der Kliniken Saarbrücken), Prof. Dr. Santiago Ewig (Chefarzt, Bochum) und Prof. Dr. Friedemann Nauck (Direktor der Klinik für Palliativmedizin, Göttingen) für die Durchsicht des Entwurfs dieses Beitrags und kritische Anregungen. 2 Das gilt zumindest für die meisten schweren Krankheiten. Damit soll nicht bestritten werden, dass es auch heute noch Krankheiten gibt, an denen Menschen trotz der Fortschritte der Medizin schwer zu leiden haben. 1

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Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

seits« dieses »Diesseits« mehr glaubt, sieht nicht mehr ein, warum er das Leben bis zum bitteren Ende erleiden soll, wenn er »mit allen Tieren stirbt« und »nichts danach« kommt (B. Brecht). Das Verbot der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen erscheint daher der Mehrheit der Menschen als eines der letzten religiös begründeten Tabus, von denen sich der postmoderne Mensch endgültig befreien solle. Der amerikanische Ethiker Joseph Fletcher 3 brachte diese Forderung schon 1969 auf die prägnante Formulierung: »Die Kontrolle des Sterbens (sc. selbstbestimmter Todeszeitpunkt) ist wie die Geburtenkontrolle eine Angelegenheit menschlicher Würde. Ohne sie wird der Mensch zur Marionette der Natur«, und das sei des Menschen »unwürdig«. Er folgte dabei F. Nietzsche 4, der aus dem von ihm verkündigten Tod Gottes und der Behauptung, dass der Mensch deshalb sein eigener Schöpfer und Gott sein müsse, folgerte, dass man die »dumme physiologische Tatsache« des naturbedingten Todes zur Tat der Freiheit werden lassen solle: »Ich lobe mir den freien Tod, der kommt, weil ich will«, und nicht, weil die »Natur« oder »ein Gott« es will. Der naturbedingte Tod widerspreche letztlich der Würde des Menschen, da er ihn seiner Autonomie beraube. Das »Schicksal« wollte es, dass Nietzsche den Zeitpunkt verpasste, zu dem er dem »naturbedingten« Tod durch den »freien« Tod hätte zuvorkommen können. So war er in geistiger Umnachtung fast 10 Jahre auf die Pflege durch andere angewiesen, ehe der »naturbedingte« Tod seinem Leben ein Ende setzte. Im Zuge des angedeuteten Wertewandels wurde die empirisch feststellbare Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Autonomie) zum maßgeblichen Inhalt der Menschenwürde nach Artikel 1 des Grundgesetzes. Daher sei ihre Achtung oberstes verfassungsrechtliches Gebot, dem der Schutz des Lebens eindeutig unterzuordnen sei. Daraus leiten viele ab, dass der Mensch ein uneingeschränktes Verfügungsrecht über sein Leben habe und dass sich aus der Menschenwürde ein positives Recht auf Selbsttötung, Beihilfe zur Selbsttötung oder gar ein Recht auf Tötung auf Verlangen ergebe, sofern der, der diese Hil-

Joseph Fletcher: »The Patient’s Right to Die«, in: A. B. Downing (Hg.): Euthanasia and the Right to Death. The Case of Voluntary Euthanasia, London 1969, S. 61–74, hier S. 61 ff. 4 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Werke in 3 Bde., hg. von K. Schlechta, Bd. II, München 1964, hier S. 333 f. 3

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Ulrich Eibach

fen zum Tode leistet, dies aus freien Stücken tut. Das »natürliche« Sterben an Krankheiten einerseits und die Selbsttötung (einschließlich der Beihilfe zur Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen) andererseits seien ethisch betrachtet zumindest gleichrangige Möglichkeiten. Um der Würde des Menschen gerecht zu werden, sei ihm daher wenigstens die Wahlmöglichkeit zwischen einem »naturbedingten« und einem »selbstbestimmten« Todeszeitpunkt einzuräumen, wie es z. B. in den Benelux-Staaten der Fall ist, in denen die Tötung auf Verlangen bei Einhaltung bestimmter Kriterien straffrei gestellt ist. 5

1.2

Planbarkeit des Lebens und »menschenunwürdiges« Leben und Sterben

Dieser Auffassung von Selbstbestimmung entspricht die Vorstellung, dass das Leben möglichst durchgehend gemäß den eigenen Wünschen planbar sein muss, also einer Fiktion von der »Abschaffung des Schicksals«. 6 Dem entspricht wiederum eine abnehmende Bereitschaft, ein unerwünschtes schweres Lebensgeschick auch bis zum »natürlichen« Lebensende zu ertragen. Der Tod ist aber das Ende aller menschlichen Möglichkeiten. Und der in das Leben hineinragende Tod »entmächtigt« die autonome Persönlichkeit meist zunehmend; sie erleidet den Tod. Die Vorstellung vom selbstbestimmten Leben und Tod, also auch einem Sterben, in dem der Mensch seine Autonomie im Sinne eines »Herrseins« über sein Leben bis zuletzt bewährt, erweist sich überwiegend als eine realitätsfremde Fiktion. Deshalb drängt sich die Meinung auf: Wenn die Medizin schon keine Besserung mehr »machen« kann, der Abbau der Lebenskräfte und das Sterben unausweichlich sind und das Leben deshalb angeblich »sinnlos« wird, dann soll es wenigstens schnell zu Ende gehen, wenn Seit der rechtlichen Ermöglichung (Straffreiheit) der Tötung auf Verlangen in den Niederlanden im Jahre 2001 ist die Zahl der gemeldeten Tötungen auf Verlangen stetig angestiegen. Sie hat sich von 2009 bis 2013 auf knapp 5000 Fälle verdoppelt. Der Anstieg von 2012 zu 2013 liegt bei 15 %, die nicht gemeldeten Fälle nicht eingerechnet. Angaben nach Idea spektrum vom 06. 10. 2014; vgl. dazu Gerbert Van Loenen: Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zur Fremdbestimmung führt, Frankfurt a. M. 2014. 6 Vgl. Giovanni Maio (Hg.): Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheit des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit, Freiburg 2011. 5

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nötig durch Menschenhand. Die Vorstellung von der Planbarkeit des Lebens paart sich also mit der Forderung nach einem Recht auf ein leidfreies Leben, das das Recht auf »Erlösung« vom Leiden durch Selbsttötung einschließt, wenn das Leben nicht mehr selbsttätig gestaltbar und mit vielen Leiden verbunden ist. Der Glaube, dass die Zeiten des Leidens, des Abbaus der Lebenskräfte und nicht zuletzt das Sterben die Phasen des Lebens sind, in denen sich die Würde des Menschen, der christliche Glaube und die Hoffnung auf die Vollendung des Lebens im »Ewigen Leben Gottes« nicht zuletzt zu bewähren haben, wird immer mehr Menschen fremd. 7 Das Sterben wird dann zu einem »sinnlosen« Widerfahrnis, weil es den Menschen zunehmend seiner Autonomie beraubt und der Verfügung der »Natur« bzw. des »Schicksals« unterwirft und weil es mit der endgültigen Vernichtung des Lebens verbunden ist. Fast alle Befürworter eines Rechts auf Selbsttötung rechtfertigen diese Forderung damit, dass infolge von Krankheit Zustände eintreten können, aufgrund derer das eigene Leben nicht mehr zumutbar und nicht mehr wert ist, gelebt zu werden, es also »menschenunwürdig« werde. Nicht nur dürfe man solche Zustände des Lebens durch eine Tötung beenden, sondern sie auch, wenn sie mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, vorsorglich durch rechtzeitige Tötung vermeiden. Das wird damit begründet, dass der Mensch ein Recht habe zu beurteilen, ob und wann sein Leben »menschenunwürdig« und »lebensunwert« sei. Zwar sollen andere Menschen nicht das Recht haben, ein solches Urteil zu fällen, aber es ist doch zu bedenken, dass dann, wenn es subjektiv gesehen »menschenunwürdiges« Leben« gibt, es auch objektiv gesehen solche Zustände geben muss. Dies wird auch vorausgesetzt, wenn solche subjektiven Urteile rechtlich als Grundlage einer Tötungshandlung gebilligt werden, insbesondere dann, wenn diese Tötung bzw. Beihilfe zur Selbsttötung objektiv überprüfbaren Einschränkungen (wie z. B. unheilbare somatische Krankheit, unerträgliche Leiden) unterworfen wird. Die Tragweite einer rechtlichen Anerkennung eines solchen negativen Lebenswerturteils kann überhaupt nicht überschätzt werden. Wenn beides, die Selbstbestimmung und das Vorliegen von angeblich »menschenunwürdigen« Lebenszuständen, Bedingung einer rechtlichen Vgl. Ulrich Eibach: »Umgang mit schwerer Krankheit: Widerstand, Ergebung, Annahme«, in: G. Thomas/I. Karle (Hg.): Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft, Stuttgart 2009, S. 339–353, hier S. 339 ff.

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Zulässigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung sein soll, dann können diese Begriffe und Kriterien nicht nur subjektiv gefüllt werden, sondern müssen auch objektivierbar sein, es sei denn, der Wunsch eines Menschen, von seinem Dasein durch Tötung erlöst zu werden, ist allein ausschlaggebend für seine Erfüllung durch andere. Dies wäre, wenn man den Inhalt des Begriffs »Menschenwürde« im Grundgesetz primär mit »Autonomie« füllt, ein konsequenter Standpunkt, aber zugleich ein ethisch wie rechtlich problematischer Schluss, der bedrohliche Folgen für den Schutz des Lebens kranker und pflegebedürftiger Menschen haben kann. Unausweichlich stellt sich daher die Frage, ob es Lebenszustände gibt, die »menschenunwürdig« sind und die den Menschen seiner Würde berauben. Dies ist nur möglich, wenn man die Würde als eine empirisch fassbare Lebensqualität (z. B. Selbstbewusstsein, Autonomie) versteht, die durch Krankheiten und Abbau der Lebenskräfte in Verlust geraten kann. Mit dieser empiristischen Wende wird eine Abkehr vom bisherigen Verständnis von Menschenwürde in der christlichen wie der deutschen philosophischen Tradition (vor allem I. Kants) vollzogen, nach der Würde eine »transzendente« Größe ist, die dem ganzen leiblichen Leben von Beginn bis zum Ende des Lebens unverlierbar zukommt, ja zugeeignet ist, christlich gesehen, von Gott her zugeeignet ist. 8 Der Mensch ist und bleibt eine Person, der Würde eignet, wie versehrt auch immer das Leben hinsichtlich seiner körperlichen wie seelisch-geistigen Fähigkeiten sein mag. Das, wozu der Mensch durch Umstände der Natur, durch sich selbst und andere Menschen wird, können wir im Unterschied zur Person und ihrer unverlierbaren Würde als Persönlichkeit bezeichnen, die in der Tat eine empirische Größe ist und die durch Krankheiten, Altern und andere Umstände »abgebaut« werden, ja in Verlust geraten kann. Aber auch dann haben wir in und hinter der zerbrochenen Persönlichkeit die – christlich gesprochen: von Gott geliebte – Person in ihrer unzerstörbaren Würde zu sehen und sie entsprechend dieser Würde zu behandeln. Es gibt mithin kein »menschenunwürdiges« und »lebensunwertes« Leben, sondern nur naturbedingte menschen-

Vgl. Ulrich Eibach: Sterbehilfe – Tötung aus Mitleid. Euthanasie und »lebensunwertes Leben«, Wuppertal 1998, hier S. 55 ff.; ders.: »Das Leben als Gabe und Aufgabe«, in: G. Maio (Hg.): Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen, Freiburg i. Br. 2014, S. 232–270, hier S. 232 ff.

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unwürdige Lebensumstände und unwürdige Behandlungen durch Menschen. Die Menschen sind aufgerufen, diese möglichst zu beheben oder so zu lindern, dass sie erträglich werden. Dass der Mensch beim Abbau der Lebenskräfte im Alter, in schwerer Krankheit u. a. zunehmend seiner körperlichen und oft auch geistigen Fähigkeiten (nicht zuletzt der Autonomie) beraubt wird und auf die Hilfe anderer angewiesen ist, dass sein Leben auch mit Leiden verbunden ist, das zumindest ist des Menschen nicht unwürdig, das gehört unvermeidbar zur Endlichkeit des Menschseins. Dass sich immer mehr Menschen nicht nur vor schweren Leiden, sondern auch vor dem Angewiesensein auf und der Abhängigkeit von anderen fürchten, das hat vielfältige, auch berechtigte Gründe, vor allem den, dass sie daran zweifeln, dass sie in menschenwürdiger Weise behandelt und gepflegt werden, wenn sie unabdingbar auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Die Antwort darauf kann aber nicht das Recht auf Selbsttötung und Beihilfe zum Suizid sein, durch die menschenunwürdige Behandlungen vorsorglich vermieden werden sollen, sondern nur das Recht auf medizinische, pflegerische, mitmenschliche und seelsorgerliche Hilfen, durch die der leidende Mensch sich in würdiger Weise behandelt wissen kann. Ein leidfreies Leben und Sterben kann dadurch freilich nicht garantiert werden.

2.

Selbstbestimmung, Todeswunsch und Tötungswunsch

Bei meinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass kein grundsätzlicher ethischer Unterschied zwischen einer Beihilfe zur Selbsttötung und einer Tötung auf Verlangen besteht. Dieser Unterschied ergibt sich primär aufgrund juristischer Konstruktionen. In Deutschland ist, weil der Suizid straffrei ist, auch die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei (anders Österreich, England u. a.), sofern die »Tatherrschaft«, also die Letzthandlung, die in einer Kette von zum Tode führenden Entscheidungen und Handlungen den Tod letztendlich verursacht, beim Suizidenten liegt. Dabei orientiert sich das Recht nur an dem Willen des lebensmüden Menschen und an seiner den Tod verursachenden Tat. Es kommen nicht einmal die tieferen Motive des Suizidenten und des »Helfers zum Tode« in den Blick. Dagegen lassen sich viele Einwände geltend machen. Warum sollte z. B. einem Menschen, der die Beihilfe zur Selbsttötung als Wunsch in einer Patientenverfügung niedergelegt hat, der dann aber plötzlich in einen Zustand gerät, in 339 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dem er die Tatherrschaft nicht mehr selbst ausüben kann, die Tötung durch andere verweigert werden? Entscheidend ist doch, dass ich dem Wunsch eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, zustimme und ihm aktiv die Mittel zugänglich mache, durch die der Tod verursacht wird. Je mehr ich für den Suizidenten alles für eine Selbsttötung vorbereite und je weniger er selbst tun muss, umso mehr nähere ich mich einer Tötung auf Verlangen. Wenn ich eine Infusion mit tödlichem Gift so anlege, dass der Suizident nur noch einen Hebel umlegen muss, damit die tödliche Flüssigkeit in den Körper fließen kann, dann wird deutlich, dass die ganze Vorbereitung dieses Geschehens durch einen »Helfer zum Tode« die eigentlich »aktive« Handlung ist und nicht allein das Umlegen des Hebels. Damit soll nicht bestritten werden, dass es in dieser Hinsicht zwischen dem Suizidenten und dem, der seinen Tötungswunsch erfüllt (Täter) und der den Tod letztendlich verursacht, Unterschiede gibt, dass der Täter die direkte Verursachung des Todes seelisch belastender empfindet als die bloße Beschaffung und Bereitstellung von tödlichen Mitteln, doch ist dieser Unterschied weniger grundsätzlich ethischer als vielmehr psychologischer Art. 1. Fallbeispiel: Frau K. liegt mit weit fortgeschrittenem Krebs auf einer onkologischen Station. Sie klagt über unerträgliche Schmerzen. Wiederholt äußert sie, sie möchte tot sein. Nachdem eine vertrauensvolle Beziehung entstanden ist, sagt sie eines Abends: »Herr Pfarrer, ich kann und will nicht mehr. Es soll eine Organisation geben, die einem hilft zu sterben. Da kann man Mittel bekommen. Können Sie mir die besorgen?« Ich schweige. Beim nächsten Besuch sagt sie: »Können Sie mir denn wenigstens die Adresse der Organisation besorgen?« Nach einer Weile sage ich: »Frau K., was ist denn das Schlimmste, das sind doch nicht nur die Schmerzen?!« Sie beginnt laut zu weinen. Als sie sich beruhigt hat, sagt sie: »Herr Pfarrer, ich habe 4 Kinder, die wohnen alle in der Umgebung, aber in dieser Woche (es ist Freitag) hat mich nur eins besucht.« Ich sage: »Das ist das Schlimmste?« Sie nickt. Wir sprechen über diese Enttäuschung, über ihre Angst vor dem Tod, die insbesondere abends ihre Seele massiv erfasst, und über die dadurch gesteigerten Schmerzen. Beim Abschied sagt sie: »Jetzt sind meine Schmerzen fast weg.« Nach diesem Abend hat sie die Thematik »Tötung« nicht mehr erwähnt und ihre Schmerzen immer als »erträglich« bezeichnet.

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Todeswünsche, bis hin zu Wünschen, getötet zu werden, sind bei der Mehrzahl der Menschen Durchgangsstadien im Prozess einer tödlichen somatischen Krankheit. Bei ganz wenigen verfestigen sie sich zu Suizid- oder Tötungswünschen, die sie angekündigt oder unangekündigt in die Tat umsetzen. Die Gründe für solche Wünsche, getötet zu werden, sind vielfältig und den Kranken oft auf der Bewusstseinsebene nicht klar. Mit einer rational-kognitiven Befragung kommt man an sie meist nicht heran. Es sind nicht nur physische Schmerzen und Ängste vor Schmerzen, sondern – wie bei Frau K. – auch Enttäuschungen über das eigene Leben und andere Menschen und Konflikte mit Menschen, also häufig seelische Probleme, die nicht mehr aushaltbar erscheinen und die sich auch in verstärkten physischen Schmerzen manifestieren können. Es sind – wie bei Frau K. – nicht zuletzt Ängste vor Verlassenheit im Sterben und mit dem drohenden Tod oft verbundene Vernichtungsängste, die zu den tiefsten Ängsten gehören, die der Mensch erleben kann. Aufgrund solcher Ängste klammern sich viele Menschen ans Leben und nehmen sehr belastende, die Leidenszeit nur verlängernde, letztlich aber erfolglose medizinische Behandlungen in Kauf, oder aber sie nehmen sich, weil sie die Ängste nicht mehr aushalten können, das Leben oder bitten um Beihilfe zum Suizid. Solche diffusen Auflösungs- und Vernichtungsängste sind sprachlich schwer zu fassen und auszudrücken. Sie werden auch im seelsorgerlichen Gespräch oft nur indirekt angedeutet und müssen behutsam aufgegriffen und bearbeitet werden, wenn sie nicht durch Rationalisierungen schnell wieder verdrängt werden sollen. So wie sich bei Frau K. hinter den physischen Schmerzen seelische Schmerzen (Enttäuschungen, Ängste) zeigen, so können sich hinter physischen Schmerzen, Todeswünschen und Wünschen, getötet zu werden, auch die »Seele« in den Abgrund des »Nichts« reißende Ängste vor absoluter Verlassenheit und Vernichtung auftun, die nicht mehr aushaltbar erscheinen. Dennoch wäre eine Beihilfe zur Selbsttötung in solchen Fällen keine angemessene, ja eine falsche Lösung. Festzuhalten ist, dass es nicht leicht ist, die wahren und oft hinter vordergründigen Motiven und Schmerzen verborgenen tieferen Gründe für Selbsttötungsabsichten bis hin zur Tötung auf Verlangen zu ermitteln. 2. Fallbeispiel: Herr M., ein über 80jähriger General a. D., ist mit einem metastasierten Karzinom in die Klinik eingewiesen worden. Bald nach Beginn des Gesprächs sagt er: »Herr Pfarrer, machen Sie 341 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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sich keine Mühe, ehe es so weit ist, werde ich in Ehren abtreten!« Ich sage: »Sie wollen nicht auf die Hilfe anderer angewiesen sein?« Er: »Genau, das sehen sie richtig. Man darf nicht von anderen abhängig werden!« Nach einer Weile greife ich zu einer konfrontativen Intervention und sage: »Und ihre Frau, wenn die Krebs hat, die soll auch in Ehren abtreten, bevor sie auf ihre Hilfe angewiesen ist?« Der General ist sichtlich verunsichert, ringt minutenlang mit sich und antwortet dann: »Ich würde sie schon gerne pflegen!« Die Antwort macht die Widersprüchlichkeit des Ideals vom selbstbestimmten Tod deutlich. Es ergab sich ein Gespräch, in dem ich zu vermitteln suchte, dass die Angst vor Hilfsbedürftigkeit zwar berechtigt ist, der Ausweg einer »Selbsttötung« aber nicht Ausdruck von Freiheit, sondern von Angst, mithin von Unfreiheit ist, und dass er erst frei sei, wenn er von dieser Angst befreit sei. Ferner verdeutlichte ich ihm, dass das Angewiesensein auf andere Menschen das Leben nicht entwürdigt, zumal er ja selbst seine Frau gerne pflegen wolle. Deshalb könne auch sein Angewiesensein auf die Liebe und Fürsorge seiner Frau und anderer sein Leben nicht entwürdigen, sondern lasse seine Würde durch die liebevolle Pflege geradezu aufscheinen. Wahre Freiheit bewähre sich gerade darin, dass der Mensch von der Angst, seine Würde zu verlieren, befreit wird dazu, sein Leben in die Hand Gottes und auch die Hand anderer Menschen loszulassen, sich der liebenden Fürsorge Gottes und von Menschen anzuvertrauen. Die Herausforderung des Sterbens könne für ihn gerade darin bestehen, diese Liebe anzunehmen, die Autonomie ihr unterzuordnen und so die Angst vor dem Verlust der Würde zu überwinden. Eine Woche nach seiner Entlassung teilte er telefonisch mit, dass er sich vom Gedanken, »rechtzeitig in Ehren abzutreten«, verabschiedet habe. Angst vor Hilfsbedürftigkeit und die Sorge, Angehörigen zur Last zu werden, sind häufige Gründe für Selbsttötungsabsichten bei schwer kranken Menschen. Sie sind insbesondere bei Menschen anzutreffen, die sehr selbstbestimmt gelebt und sich nie auf andere wirklich angewiesen empfunden haben. Das ist vor allem bei Männern der Fall. Hätte Herr M. sich selbst getötet, so wäre das vordergründig eine selbstbestimmte, aber immer noch primär eine von Ängsten und damit von Unfreiheit bestimmte Tat gewesen. Und wäre diese Tat verantwortbar, genauer: vor wem verantwortbar? Vor seinen persönlichen Lebensanschauungen »ja«, aber nicht vor seiner Familie. Das hat er selbst eingesehen, das wollte er daraufhin seiner 342 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Familie nicht antun. Die Frage, inwiefern es sich bei Frau K. und Herrn M. um im juristischen Sinne »freie« Willensentscheidungen handelt, drängt sich auf. Von Selbstbestimmung kann man eigentlich nur sprechen, wenn der Mensch seine Ängste vor dem Tod durchgearbeitet hat und das Sterben annehmen, über sein Leben verfügen lassen und es loslassen kann. Dann schwindet aber fast immer auch der Tötungswunsch. 3. Fallbeispiel: Nach einem Vortrag bittet mich eine holländische Krankenschwester, die in Deutschland ein Pflegeheim leitet, um ein persönliches Gespräch. Sie berichtet, dass ihr Vater vor gut einem Jahr durch »Euthanasie« in Holland gestorben sei. Er sei krebskrank gewesen, hätte in der letzten Zeit stark abgenommen, aber keine schweren Schmerzen, wohl aber Angst gehabt, die verbleibende Lebenszeit könne »unwürdig« und er eine Last für die Familie werden. Er bat den Hausarzt um »Sterbehilfe«. Die Familie versammelte sich am Krankenbett. Der Hausarzt gab dem Vater ein Zäpfchen, das ihn langsam bewusstlos werden ließ. Nach sieben Stunden kam er wieder und setzte eine tödliche Spritze. Die Frau sagte, dass sie den Schritt bis heute nicht billigen könne. »Aber ich hatte doch nicht das Recht, meinen Vater davon abzuhalten, es war doch sein Leben und seine Entscheidung!« Auf die Frage, warum der Hausarzt dieses Verfahren gewählt habe, sagte sie: »Damit die Familie den Vater im Sterben begleiten konnte.« Meine Frage, ob es auch den Grund hatte, dass der Schein eines natürlichen Sterbens gewahrt wurde, bejahte sie. Sie bewegte jetzt die Frage, ob nicht viele der Bewohner ihres Heims in einem viel schlechteren und »unwürdigeren« Zustand sind, als ihr Vater es war, ob sie noch leben wollten, wenn man ihnen die Möglichkeit der Tötung auf Verlangen eröffnete. Ich wies darauf hin, dass es bei einer gesetzlichen Billigung der aktiven Lebensbeendigung fast selbstverständlich sei, dass sich Menschen in ihrer Krankheit irgendwann sehr bewusst mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen und sich fragen: Warum nicht einem möglicherweise »unwürdigen« Leben durch eine Tötung zuvorkommen? Irgendwann werde die Beschäftigung damit zum Entschluss und zur Tat. Auf die Frage, was wäre, wenn ihr Vater rechtlich nicht die Wahl zwischen einem »natürlichen« Tod und der Euthanasie gehabt hätte, antwortete die Frau: »Dann hätte mein Vater irgendwie sein Leben anders beendet. Wahrscheinlich wäre es überhaupt nicht so schlimm geworden, wie er dachte. Bei uns im Heim müssen die Menschen ja auch damit klar kommen!« 343 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Das Gespräch macht auf die auch für die Beihilfe zum Suizid wichtigen Aspekte aufmerksam: (1) Der Mensch soll die Freiheit haben, über sein Leben ein Letzturteil, gleichsam ein »Lebensunwerturteil« zu fällen. (2) Dieses Urteil ist angeblich von anderen zu respektieren, weil es sich nur um sein eigenes Leben handelt. (3) Es soll der entscheidende rechtfertigende Grund für die Hilfen zum Tode durch andere sein. Es gibt neben der Perspektive des Vaters aber auch noch die der Tochter. Sie konnte dessen Schritt nicht billigen, begriff erst nach dem Geschehen die ganze Tragweite der auch ihr zugemuteten Tötungshandlung und trägt noch über ein Jahr später schwer daran. Sie kann diesen Schritt nicht mit ihrem Berufsethos vereinbaren. In ihrem Altenheim sieht sie sich vor die Frage gestellt: »Warum erhalten wir das Leben dieser Menschen, die objektiv zu einem erheblichen Teil ein ›unwürdigeres‹ Leben als mein Vater führen?« Diese Perspektive macht darauf aufmerksam, dass der alleinige Blick auf den Willen des Patienten eine verkürzte individualistische Sicht darstellt, der ein individualistisches, allein an der Autonomie orientiertes Menschenbild zugrunde liegt. Auch die berufsethische Perspektive muss berücksichtigt werden. Seit der Euthanasie des Vaters ist die Krankenschwester in ihrem Berufsethos sehr verunsichert. Kann der Wunsch eines Menschen, getötet zu werden, für einen Berufsstand, der sich ethisch zur Heilung und Linderung von Krankheiten und zur Pflege von Menschen verpflichtet hat, ein hinreichender Grund sein, ihm bei einer Selbsttötung zu helfen oder gar eine Tötung auf Verlangen durchzuführen?

3.

Autonomie, Angewiesensein und Selbsttötung

Die ethische Bewertung der Beihilfe zum Suizid und der Tötung auf Verlangen hängt maßgeblich von der des Suizids ab. Dass der Mensch seinem Leben selbst ein Ende setzen kann, ist unbestreitbar, und dass man Menschen, die Selbsttötungsversuche überleben, danach nicht noch bestraft, entspricht schon M. Luthers aus der Botschaft Jesu gewonnener Einsicht, dass Menschen nicht letzte Richter über verzweifelte Menschen sein sollen. Umstritten bleibt, ob er ein Recht dazu hat. In der christlichen Tradition wird dies einhellig bestritten, hauptsächlich mit dem Argument, dass der Mensch das Leben von Gott als »Leihgabe« empfangen hat, es deshalb jedoch noch nicht zum Besitz 344 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

des Menschen wird, über den er nach Belieben verfügen darf. 9 Diese religiös begründete Ablehnung bestimmte auch noch I. Kant 10 und ihm folgend bis in die Gegenwart die deutsche Rechtsprechung und das ihr entsprechende ärztliche Handeln. Wenn allerdings das Leben seine Rückbindung an Gott oder – nach Kant – an das Sittengesetz verliert, dann ist der Mensch nur noch auf sich selbst bezogen, dann wähnt er sich autonom im Sinne von Herr und Besitzer seines Lebens, der über es in jeder Hinsicht nach seinem Ermessen verfügen darf. Die Forderung nach einem Recht auf Selbsttötung ist dann ein deutlicher Ausdruck dessen, dass der säkulare Mensch sein eigener Gott sein will und muss (vgl. 1.1). Diejenigen, die den Inhalt der Menschenwürde primär in einer empirisch nachweisbaren Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Autonomie) gegeben sehen und aus ihr ein verfassungsrechtlich legitimiertes Recht auf Selbsttötung ableiten, werden nicht müde zu betonen, dass ein weltanschaulich neutraler Staat die Interpretation des Grundgesetzes nicht von religiösen Vorgaben abhängig machen dürfe, die von vielen Bürgern nicht mehr geteilt werden, dass die Verfassung vielmehr rechtspositivistisch im Horizont der jeweils herrschenden und angeblich rein rational begründbaren Lebensanschauungen zu interpretieren sei. 11 Es stellt sich daher die Frage, ob es auch gute Gründe nicht religiöser Art gegen ein Recht auf Selbsttötung gibt. Das Menschenbild der Aufklärung rückt in einseitiger Weise das autonome Individuum in den Mittelpunkt, sodass des Menschen höchste Vollkommenheit letztlich darin besteht, dass er des Mitmenschen und Gottes nicht mehr bedarf, er aus sich selbst lebt. Aber der Mensch begründet sich weder in seinem Dasein noch in seiner Würde durch sein Entscheiden und Handeln. Er wird ohne sein Zutun ins Dasein »geworfen«, ob er es will oder nicht. Er empfängt sein Leben von seinen Eltern, letztlich aber aus dem schöpferischen Handeln Gottes. Leben gründet daher primär im Angewiesensein auf andere. 12 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Ethik, München 71966, hier S. 179 ff.; Ulrich Eibach: Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie, Münster 2005, hier S. 65 ff. 10 Vgl. Héctor Wittwer: »Über Kants Verbot der Selbsttötung«, Kant-Studien 92 (2001), S. 180–209, hier S. 180 ff. 11 Vgl: z. B. Norbert Hoerster: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998, hier S. 13 ff. und 61 ff. 12 Vgl. Alasdair McIntyre: Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche 9

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Der Mensch ist, um überhaupt leben zu können – nicht nur im Kindesalter und am Lebensende, sondern bleibend das ganze Leben hindurch –, auf Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen. Er lebt in und aus ihnen, er verdankt in erster Linie anderen sein Leben. Daher ist das »Mit-Sein« Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins, hat seinsmäßigen Vorrang vor dem Selbstsein. Dem Angewiesensein entspricht das »Für-Sein« der Anderen, ohne das Leben nicht sein, wenigstens aber nicht wirklich gelingen kann. Leben gründet in der aller selbsttätigen Lebensgestaltung als Bedingung der Möglichkeit vorausgehenden Leben und Würde schenkenden Liebe und Fürsorge Gottes und anderer Menschen. Der Mensch wird in erster Linie in solchen Beziehungen der Liebe in seiner ihm von Gott geschenkten Würde geachtet. Der autonome Mensch, der selbst in schweren Lebenskrisen wie dem Sterben sich primär selbst bestimmt und aus sich selber leben kann, ist weitgehend ein lebensfernes theoretisches Konstrukt. Wer von einem personal-relationalen Menschenbild ausgeht, der wird auch in der Beurteilung des Suizids zu anderen Auffassungen kommen. Der sich autonom wähnende Mensch vergisst oft, dass er auf andere Menschen angewiesen ist, er deshalb den in Liebe verbundenen Menschen gegenüber Verantwortung trägt (vgl. 2. Fallbeispiel). Er sollte sich daher immer bewusst bleiben, was er anderen Menschen mit einem Suizid und auch einer Beihilfe zum Suizid antut, welche seelische Last, nicht zuletzt Schuldgefühle, er ihnen damit auferlegt. Eine Selbsttötung ist eben kein »natürlicher« Tod und wird von Angehörigen auch allermeist als seelisch viel belastender erlebt als ein schweres natürliches Sterben. Sie sind bei ihnen viel häufiger mit schweren posttraumatischen Belastungsstörungen verbunden als »natürliche« Todesfälle. Dies belegt eine Schweizer Studie an Menschen, die Angehörige bei einer Beihilfe zur Selbsttötung (durch die Sterbehilfeorganisationen »Dignitas« und »Exit«) begleiteten (vgl. 3. Fallbeispiel). Auch der Suizidwunsch von somatisch schwer kranken Menschen ist ein Schrei nach mitmenschlicher Zuwendung, ja letztlich nach dem grundlegenden »Lebensmittel«, von dem und aus dem alle Menschen leben, den von Liebe bestimmten und Geborgenheit verTugenden, Hamburg 2001; Ulrich Eibach: »Das Leben als Gabe und Aufgabe«, in: G. Maio (Hg.): Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen, Freiburg i. Br. 2014, S. 232–270, hier S. 242 ff.

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mittelnden Beziehungen. Die Menschen, die sich das Leben meinen nehmen zu müssen, wollen meist nicht erweisen, wie autonom sie sind, sondern sie tun viel mehr kund, was ihnen fehlt, um leben zu können. Die hohe Suizidrate bei vereinsamten alten und hilfsbedürftigen Menschen bestätigt, wie sehr Menschen auf die Hilfe anderer angewiesen sind. 13 Immer mehr betagte Menschen haben Angst, anderen zur Last zu fallen. Und seit einiger Zeit äußern alte Menschen immer häufiger die Sorge, dass die Gesellschaft chronisch kranke, betagte, demente und sonst wie hilfsbedürftige Menschen in Zukunft hauptsächlich als eine kaum noch tragbare Belastung betrachten wird. Das könnte in die Auffassung umschlagen, dass der Suizid solcher Menschen gesellschaftlich wünschenswert ist, dass es auf keinen Fall zu verhindern ist, wenn Menschen sich den »Gnadentod« geben oder geben lassen wollen. Es könnte sich mit wachsendem sozialökonomischen Druck und daraus resultierender gesellschaftlicher Billigung des Suizids und der Beihilfe zum Suizid und gleichzeitiger Behauptung, es gebe ein verfassungsrechtlich garantiertes Recht auf Selbsttötung, ein gesellschaftlicher Druck zum »Frühableben« durch verborgene oder auch offene Formen der Selbsttötung und der Beihilfe zur Selbsttötung und irgendwann auch der Tötung auf und dann wohl auch ohne Verlangen ergeben. Die eindeutige Überordnung des Schutzes der Autonomie über den Schutz des Lebens vermag dagegen keinen wirksamen Schutzdamm aufzurichten. Die Bestreitung eines Rechts auf Selbsttötung widerspricht nicht der Achtung der Würde des Menschen, denn diese besteht nicht in erster Linie darin, dass der Mensch eine rationale Entscheidungsund Handlungsautonomie hat, die zu achten für andere immer geboten ist. Ein Menschenbild, in dem der Mensch primär von seiner empirisch nachweisbaren Autonomie her betrachtet wird, verfehlt den Menschen sowohl in seinen mitmenschlichen Beziehungen wie auch als leib-seelisches Subjekt, das in erster Linie von Gefühlen und vielen anderen inneren und äußeren Umständen bestimmt und oft hinund hergerissen wird. 14 Der Mensch ist insbesondere in Lebenskrisen wie dem Sterben immer nur mehr oder weniger frei, die Umstände

13 Vgl. Rolf D. Hirsch u. a. (Hg.): Suizidalität im Alter. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Bd. 4, Bonn 2002, hier S. 59 ff. 14 Vgl. Daniel Hell: Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben, Bern 2003, hier S. 111 ff.

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seines Lebens durch seine »rationalen Fähigkeiten« zu bestimmen. Der mehr oder weniger freie Wille kann daher nicht primär den Ausschlag geben, wie ein suizidaler Mensch zu behandeln ist. Vielmehr wird die Würde des Menschen dadurch geachtet, dass man eine Beziehung zu ihm aufbaut, in der er als bedürftiges Subjekt geachtet und ihm das angeboten wird, was er zum Leben im Sterben braucht, eine gute palliativmedizinische und pflegerische Betreuung und nicht zuletzt von der Liebe bestimmte und Geborgenheit vermittelnde Beziehungen. 4. Fallbeispiel: Eine ärztliche Leiterin (Onkologin) eines großen häuslichen palliativmedizinischen Dienstes (SAPV) mit langjähriger Erfahrung im Umgang mit todkranken Menschen antwortet mir auf die Frage, wie viele Menschen sie schon um Beihilfe zur Selbsttötung oder Tötung auf Verlangen gebeten haben: »Kein Mensch!«. Auf die Frage, wie sie sich das erkläre, da ich als Klinikseelsorger durchaus schon oft mit dieser Frage konfrontiert wurde, sagt sie: »Entweder wenden sich Menschen, die diesen Weg für sich ernsthaft erwägen, nicht an uns oder sie nehmen, wenn sie unseren Dienst in Anspruch nehmen, von diesem Gedanken in dem Maße Abstand, wie sie unsere Hilfe erfahren und unserer Zusage vertrauen, dass wir wirklich bis zum Tod für sie da sind.« Aufgabe derjenigen, die sich um Menschen sorgen, die Wünsche äußern, aktive Sterbehilfe zu erhalten, ist es nicht, derartige Wünsche zur Leitlinie ihres eigenen Handelns werden zu lassen. Vielmehr sind sie herausgefordert, diesen Wünschen als Anwälte des Lebens zu begegnen, nicht primär dadurch, dass man das Urteil mit rationalen Mitteln widerlegt, sondern dadurch, dass man dem Menschen das anbietet, was ihm fehlt, um das Leben auch in schweren Krisen wie dem Sterben bestehen zu können (vgl. 1. Fallbeispiel). Mehr können Menschen nicht tun, denn wie einem Menschen kein »Letzturteil« und uneingeschränktes Verfügungsrecht über das eigene Leben zusteht, so erst recht nicht über das Leben anderer Menschen. Es kann also kein Recht auf Selbsttötung geben, das von anderen Menschen zu respektieren wäre und an deren Ausführung sie mitwirken dürfen oder gar sollen. Es kann aber auch keine Pflicht geben, einen Menschen dauerhaft zum Leben zu zwingen, wenn ihm nicht wirklich zum Leben geholfen werden kann. Der Suizid ist und bleibt eine ethisch nicht zu billigende menschliche Möglichkeit und Wirklich348 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

keit, aber auch eine »Tragödie«, die immer zu verhindern die Grenzen menschlicher Möglichkeiten übersteigt und deren letzte Beurteilung dem Menschen entzogen bleibt, die allein Gott zu überlassen ist. 15 Es gibt jedoch kein Recht auf Selbsttötung, sondern nur eine Pflicht, diese möglichst zu verhindern, aber auch nur mit Mitteln, die nicht mehr schaden als helfen, die also zu einem Ja zum Leben verhelfen. Und dazu gehört nicht nur eine gute palliative medizinische und pflegerische Versorgung, sondern auch eine Einbettung in Geborgenheit vermittelnde mitmenschliche Beziehungen und nicht zuletzt auch die seelsorgerliche Begleitung, deren Ziel darin besteht, den Menschen im Glauben an Gott so zu bestärken, dass er im Glauben die tägliche Kraft geschenkt bekommt, ein schweres Leidensgeschick zu tragen und sein Leben in »Gottes Hand« loszulassen, sodass er über sein Geschick nicht verzweifeln muss und einer Selbsttötung nicht bedarf. 16

4.

Normativ ethische und rechtliche Regelungen für »tragische Grenzfälle«?

Obwohl viele Philosophen und Juristen aus der Menschenwürde (Grundgesetz Art. 1.1) ein Recht auf Selbsttötung ableiten (vgl. 1.1.), geht man in der derzeitigen Diskussion in Deutschland aus unterschiedlichen Gründen meist noch nicht so weit, dass man ein explizites Recht auf Selbsttötung 17 und ein daraus abgeleitetes Recht auf Beihilfe zur Selbsttötung ohne jede Einschränkung und eine Tötung auf Verlangen fordert, sondern man verlangt nur, dass die Beihilfe zur Selbsttötung unter bestimmten Voraussetzungen (Notlagen wie unheilbare Krankheit, schwere Schmerzen) ausdrücklich rechtlich Vgl. Ulrich Eibach: Seelische Krankheit und christlicher Glaube. Theologische, humanwissenschaftliche und seelsorgerliche Aspekte, Neukirchen-Vluyn 1992, hier S. 252 ff. 16 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Wenn Menschen sterben wollen – Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung, EKDTexte 97, Hannover 2008; Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE): Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit. Eine Orientierungshilfe des Rates der GEKE zu lebensverkürzenden Maßnahmen und zur Sorge um Sterbende, Wien 2011. 17 Der BGH hat zuletzt 2001 den Suizid als »grundsätzlich ›rechtswidrig‹ bezeichnet« (Gunnar Duttge: »Der assistierte Suizid. Ein Dilemma nicht nur der Ärzteschaft«, in: Medizinrecht (32) 2014b, S. 621–625, hier S. 625) und diese Auffassung bisher nicht geändert. 15

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Ulrich Eibach

straffrei gestellt wird. Aber damit sind doch die Türen zu einem expliziten Recht auf Selbsttötung bis hin zur Tötung auf Verlangen geöffnet. Die Parallelen zur Straffreiheit für den Schwangerschaftsabbruch in »Notlagen« sind unverkennbar. Nicht nur in der »öffentlichen Meinung« wird das Absehen von Strafe meist mit einem Recht auf Schwangerschaftsabbruch gleichgesetzt. Es ist sicher nicht nur eine Vermutung, dass das auch bei einer ausdrücklichen Straffreiheit für die Beihilfe zur Selbsttötung in »Notlagen« der Fall sein wird. Dies wird auch durch die Entwicklung der Praxis der straffreien Tötung auf Verlangen in Holland bestätigt. 18

4.1.

Hilfe zur Selbsttötung: Eine Gewissensentscheidung?

Die Hilfe zum Sterben wird oft als letzter Akt der Barmherzigkeit und Nächstenliebe bezeichnet, den man keinem Menschen verweigern dürfe. Dabei wird allerdings eine Verkehrung des Begriffs Nächstenliebe vollzogen, denn die Liebe ermöglicht, erhält, fördert, aber tötet nicht Leben. Nur die Hilfen zum Leben und damit auch das Tötungsverbot sind die sachgemäßen Konkretisierungen des Liebesgebots. Die Tötung in Grenzfällen des Lebens ist Ausdruck der Ohnmacht des Menschen, die daraus entsteht, dass ein Mensch sich durch das Leiden eines anderen Menschen zur Hilfe herausfordert sieht, er der Übermacht des zerstörerischen Leidens aber hilflos gegenübersteht und keinen anderen Ausweg sieht, das Leiden wirksam zu lindern, als das Leben des Menschen mithilfe seiner oder durch seine Hand und Tat zu beenden. Vordergründig betrachtet kann man die Selbsttötung, die Beihilfe zur Selbsttötung und die Tötung auf Verlangen als Ausdruck dessen verstehen, dass der Mensch autonom ist und die Macht hat, über sein Leben uneingeschränkt, also auch zum Tode zu verfügen. Im Grunde aber sind die Tötungen Ausdruck dessen, dass die Übermacht des Todes den Menschen seiner Autonomie beraubt und ihn zu einer Tat der Verzweiflung nötigt. Es muss nicht bestritten werden, dass es wirklich seltene »tragische Grenzfälle« gibt, in denen die Leiden von Patienten auch durch die Mittel der Palliativmedizin nur schwer erträglich gestaltet werden können. In solchen Fällen ist der palliativen Sedierung immer der Vorzug zu geben vor einer Beihilfe zur Selbsttötung. Sollte auch da18

Vgl. Fußnote 5.

350 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

mit keine »zumutbare« Lösung gefunden werden, so kann eine grundsätzliche ethische Entscheidung gegen jede Form der Hilfe zum Sterben zu einem Gewissenskonflikt für in Liebe verbundene und zur Hilfe herausgeforderte (z. B. Angehörige) oder verpflichtete Menschen (Ärzte, Pflegekräfte, Seelsorger u. a.) führen. Solche »tragischen Grenzfälle« setzen die unbedingte Geltung des Tötungsverbots nicht außer Kraft. Aber es stellt sich die Frage, ob sie mit normativ ethischen und rechtlichen Regeln überhaupt hinreichend erfasst und gelöst werden können. Man sieht sich herausgefordert zu helfen, ohne andere Mittel als die Hilfe zum Tode anbieten (von der Beschleunigung des Sterbens bis zur eindeutigen Verursachung des Todes) zu können. Wenn diese dann erwogen wird, dann ist der, der sie erbringen soll, auf sein eigenes Gewissen zurückgeworfen. 19 Das schließt die Möglichkeit des Schuldigwerdens und die Bereitschaft zur Schuldübernahme vor Gott und auch vor Menschen ein. 20 Weder der Wunsch des Patienten nach Hilfe zum Sterben noch seine schwere Lebenssituation oder eine wie auch immer geartete rechtliche Erlaubnis entlasten einen Menschen von einer solchen Gewissensentscheidung und der Verantwortung für sie. Ärzte haben auch in der Vergangenheit in solchen Konfliktsituationen immer wieder diese Möglichkeit als letzten Ausweg ergriffen, ohne dass sie deshalb eine ausdrückliche rechtliche Billigung für ihr Handeln gefordert haben. Die entscheidenden Fragen, die sich daraus ergeben, sind folgende: Wem kann ein solches Handeln zugemutet werden? Und: Kann und sollte es für solche Grenzfälle, die normativ ethisch und rechtlich nicht allgemeingültig erfasst werden können, trotzdem rechtliche Regelungen geben?

19 Vgl. Ulrich Eibach: Sterbehilfe – Tötung aus Mitleid. Euthanasie und »lebensunwertes Leben«, Wuppertal 1998, hier S. 207 ff. 20 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Ethik, München 71966, hier S. 255 ff.; Wilfried Härle.: »Das Gewissen und seine Bedeutung für die medizinethische Urteilsbildung aus evangelischer Sicht«, in: F.-J. Bormann/V. Wetzstein (Hg.): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik, Berlin/Boston 2014, S. 327–346, hier S. 337 ff. Zur rechtlichen Problematik einer Berufung auf das »Gewissen« vgl. Gunar Duttge: »Gewissen im Kontext des modernen Arztrechts«, in: F.-J. Bormann/V. Wetzstein (Hg.) 2014a, hier S. 543 ff.; Stephan Rixen: »Die Gewissensfreiheit der Gesundheitsberufe aus verfassungsrechtlicher Sicht«, in: F.-J. Bormann/V. Wetzstein (Hg.) 2014a, hier S. 65 ff.

351 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Ulrich Eibach

4.2.

Von der Hilfe zur Selbsttötung zur Tötung auf Verlangen!?

Die eigentlich »tragischen Grenzfälle« ergeben sich bei Menschen, die nicht mehr handlungsfähig sind, vor allem im Bereich der Neurologie, Neurochirurgie, Geriatrie und insbesondere in Pflegeheimen. Begrenzt man die Beihilfe zur Selbsttötung auf Menschen, die die tödliche Letzthandlung noch wirklich selbsttätig ausführen können, so lässt man Menschen, die das nicht mehr können, die dies aber für sich erbitten, letztlich ohne diese »Hilfe zum Tode«. Diese Hilfe auf »Beihilfe zur Selbsttötung« zu begrenzen, erweist sich an diesen Fällen als besonders inkonsequent. Nur die Tötung auf Verlangen durch andere könnte ihnen Hilfe bringen. Wenn man die Beihilfe zur Selbsttötung rechtlich ausdrücklich erlaubt, so wäre der Übergang zur Tötung auf Verlangen in diesen Fällen konsequent. In wirklich »tragischen Grenzfällen« leben aber noch viel mehr Menschen, die nicht mehr oder sehr eingeschränkt entscheidungsund handlungsfähig sind und die vielleicht auch nicht mehr leben wollen. Bei rechtlicher Billigung der Hilfe zur Selbsttötung könnten Menschen eine Patientenverfügung verfassen, in der sie darlegen, dass sie unter solchen Umständen von ihrem Leben durch Menschenhand »erlöst« werden möchten. Wenn sie sich in der aktuellen Situation nicht mehr zu diesem schriftlich niedergelegten Willen äußern und ihn auch nicht mehr selbst in die Tat umsetzen können, sollen andere das dann tun, auch wenn man den aktuellen Willen nicht ermitteln, sondern bestenfalls nur »mutmaßen« kann? Vermittelt über den »mutmaßlichen Willen« tun sich hier die Übergänge zu den verschiedenen Formen der Tötung ohne Verlangen, ja zur Tötung aufgrund von Lebensunwerturteilen anderer Menschen auf. Das Paradoxe dabei ist, dass durch eine rechtliche Regelung der Hilfe zur Selbsttötung mit guten Gründen (z. B. Barmherzigkeit, Mitleid) die Tür zu dem eröffnet wird, was man angeblich vermeiden will, nämlich die Tötung auf und ohne Verlangen. Das zeigt, dass sich »tragische Grenzfälle« nicht normativ ethisch und rechtlich lösen lassen, ohne dass man neue Grenzfälle erzeugt, die wiederum zu neuen rechtlichen Regelungen herausfordern. Daraus kann man folgern, dass das Sterben zu den Bereichen des Lebens gehört, denen man durch normativ ethische und rechtliche Regelungen häufig nicht gerecht werden kann, ja dass dadurch mitunter mehr Probleme geschaffen als gelöst werden. Die rechtliche Billigung der Selbsttötung und der Beihilfe zu ihr 352 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

fordert schwer kranke, auch psychiatrisch kranke Menschen geradezu heraus, sich mit dieser gleichsam »normal« wählbaren Option des Todes zu beschäftigen (vgl. 3. Fallbeispiel) und Angehörige sowie Ärzte, Pflegekräfte u. a. dazu, den Kranken diese Möglichkeit unbewusst oder bewusst nahe zu legen oder gar einen dahingehenden Druck auf sie auszuüben. Zugleich könnte damit eine Tür geöffnet werden, dass ein entsprechender gesellschaftlicher Druck zur Inanspruchnahme der rechtlich ermöglichten Beihilfe zur Selbsttötung entsteht und offen zum Ausdruck gebracht wird. Es kann (wie beim Schwangerschaftsabbruch) kaum vermieden werden, dass die ausdrückliche Straffreiheit als rechtliche Billigung verstanden und dahingehend gedeutet wird, dass der Staat dem Menschen ausdrücklich die Wahlmöglichkeit zwischen einem »natürlichen« und einem Tod durch Menschenhand anbietet. Aus den Grenzfällen würden dann Regelfälle, zunächst nur bei der Beihilfe zum Suizid, dann aber irgendwann auch in Deutschland bei der Tötung auf Verlangen.

4.3.

Wer dürfte Hilfe zur Selbsttötung in Grenzfällen erbringen?

Eine wesentliche Frage ist die, wem die Hilfe zur Selbsttötung erlaubt sein soll. Es gibt überzeugende Gründe dafür, dass diese Möglichkeit keiner Organisation und auch keiner einzelnen Person (z. B. Ärzten) eröffnet werden sollte, die diese Beihilfe bewusst als Dienstleistung anbieten. Dann bleibt nur derjenige Personenkreis übrig, der eine sogenannte »Garantenpflicht«, eine Pflicht zur Hilfe in Not (insbesondere Lebensgefahr) hat, also Angehörige, Ärzte, Pflegekräfte, Betreuer. Um diesem Personenkreis eine Beihilfe zum Suizid rechtlich zu ermöglichen, müsste die Garantenpflicht für diese Personen unter bestimmten objektivierbaren Bedingungen ausdrücklich außer Kraft gesetzt werden. 21 Das käme allerdings einer rechtlichen Billigung des Suizids und der Beihilfe zu Selbsttötung sehr nahe. Die Ärzteschaft kann viele gute Gründe dafür anführen, dass ihre Mitwirkung an der Tötung nicht zum rechtlich erlaubten und geregelten Gegenstand ärztlicher Aufgaben und Fürsorgepflichten

Dies ist nach Angaben von Duttge (Gunnar Duttge: »Der assistierte Suizid. Ein Dilemma nicht nur der Ärzteschaft«, in: Medizinrecht (32) 2014b, S. 621–625, hier S. 625) bisher in Urteilen der Justiz nicht geschehen.

21

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gehören darf. 22 Sonst würde das ärztliche Berufsethos in seinem wesentlichen Kern, dem Schutz des Lebens, ausgehöhlt, und das Vertrauen der Menschen in die Heilberufe könnte untergraben werden. Ärzte, die sich der Beihilfe zur Selbsttötung dann trotzdem verweigern, könnten in den Geruch der »Unbarmherzigkeit« geraten und sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass sie ihre Patienten in großer Not im Stich lassen. Zudem würden Ärzte dann häufig in konflikthafte ethische Entscheidungen hineingezogen, bei denen sie nur schwer entscheiden können, in welchen Fällen sie dem Wunsch eines Patienten nach Beihilfe zur Selbsttötung Vorrang vor der Verpflichtung geben, das Leben zu schützen. Ärzte handeln nicht primär als Privatpersonen, sondern als Angehörige einer Berufsgruppe. Der Wunsch von Patienten ist für ihr aktives Handeln nicht primär ausschlaggebend, sondern die medizinische Indikation. Sie müssen sich daher immer fragen, ob und wie ihr Entscheiden und Handeln für alle anvertrauten Patienten zur Maxime ihres Handelns werden kann, ob es also verallgemeinerungsfähig ist und mit dem Berufsethos in Einklang steht. Ethisch noch problematischer ist die Absicht, Angehörigen bzw. Freunden die Beihilfe zur Selbsttötung rechtlich ausdrücklich zu ermöglichen. An sich liegt es nahe, dass gut vertraute Personen diese Hilfe leisten. Aber sind in das Geschehen des Sterbens eingebundene Angehörige wirklich die Personen, die man solchen Erwartungen seitens der todkranken Menschen aussetzen darf (vgl. 3. Fallbeispiel)? Nicht auszuschließen ist, dass die Angehörigen in diesen auch sie In den »Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung« wurde in den Fassungen von 1998 und 2004 (Deutsches Ärzteblatt 95 (1998), A 2365–67; Deutsches Ärzteblatt 101 (2004), A 1297–99) noch betont, dass die Beihilfe zum Suizid dem »ärztlichen Ethos widerspricht«: In der Fassung von 2011 wird nur noch gesagt, dass sie »keine ärztliche Aufgabe« sei« (Deutsches Ärzteblatt 108 (2011), A 346–348). Als »Privatperson« könnte ein Arzt demnach Beihilfe zum Suizid leisten. Der Ärztetag 2011 hat jedoch mit deutlicher Mehrheit eine Änderung der Musterberufsordnung beschlossen, nach der es Ärzten verboten ist, »Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.« Einige Landesärztekammern haben die Formulierung der Musterberufsordnung jedoch nicht übernommen, sodass die für den jeweiligen Arzt allein verbindlichen Landesberufsordnungen nicht in allen Bundesländern die ärztliche Hilfe zur Selbsttötung verbieten. Nach einer Stellungnahme der »Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin« (Friedemann Nauck/Christoph Ostgathe/Lukas Radbruch.: »Ärztlich assistierter Suizid. Stellungnahme der ›Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin‹«, in: Deutsches Ärzteblatt 111(2014), A 67–71) widerspricht die Beihilfe zum Suizid den ärztlichen Aufgaben.

22

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Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

belastenden Situationen solche Gedanken von sich aus unterschwellig oder offen bei den schwer kranken und pflegedürftigen Menschen verstärken oder auch auslösen. Das sensible Verhältnis von schwer Kranken und Angehörigen sollte durch eine explizite rechtliche Billigung bzw. eine ausdrücklich rechtlich zugesicherte Straffreiheit der Beihilfe zur Selbsttötung nicht solchen Erwartungen ausgesetzt und durch sie zusätzlich verunsichert werden. Die Angehörigen sind meist schon mit von ihnen erwarteten Entscheidungen über den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen überfordert und oft langfristig seelisch belastet, insbesondere, weil sie empfinden, dass sie damit über Leben und Tod mitentscheiden. Wenn Klarheit besteht, dass es kein Recht auf Selbsttötung und Beihilfe zur Selbsttötung gibt und auch die Garantenpflicht für sie nicht grundsätzlich außer Kraft gesetzt ist, so schützt diese Klarheit sowohl die Angehörigen vor dementsprechenden Ansinnen von Patienten wie auch die Patienten vor dem Ansinnen anderer und vielleicht bei zunehmender sozial-ökonomischer Belastung auch vor dem Druck der Gesellschaft, doch die Möglichkeit der Selbsttötung und Beihilfe zur Selbsttötung zu wählen. 23 Wenn für die seltenen wirklich »tragischen Grenzfälle«, die keine »objektivierbaren Regelfälle« sind, ein »rechtsfreier Raum« bleibt, so ermöglicht das, dass Menschen aufgrund von Gewissensentscheidungen »Hilfe zum Tode« erbringen. Es ist verständlich, dass sie dann zugleich die Gewissheit haben wollen, dass sie dafür nicht strafrechtlich und bzw. oder berufsrechtlich verfolgt werden. Unsere Rechtsprechung kennt die »Rechtsfigur« des »übergesetzlichen Notstands«, bei dem von Strafe abgesehen werden kann und bei dem Staatsanwälte und Richter eine Verurteilung meist gar nicht erwägen. Die Frage ist, ob diese »Rechtsfigur« auch auf die tragischen Grenzfälle übertragen werden kann, die zur Beihilfe zur Selbsttötung und vielleicht auch zur Tötung auf und ohne aktuell geäußertes Verlangen herausfordern. Dann bedürfte es auch keiner normativ ethischen und erst recht nicht einer rechtlichen Regelung und Billigung solcher ganz seltenen Grenzfälle, dann blieben sie – wie bisher – wirklich der Gewissensentscheidung einzelner Menschen überlassen. Bedingung dafür ist jedoch einmal, dass der, der diese Handlung Ca. 25 % derjenigen, die in der Schweiz die Beihilfe zur Selbsttötung durch die Sterbehilfeorganisationen »Dignitas« und »Exit« in Anspruch nehmen, tun dies schon heute aus ökonomischen Gründen.

23

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durchführt, über genügend Erfahrung in diesen Bereichen des Lebens verfügt, er in einer längerfristigen Beziehung zu dem schwer leidenden Menschen steht, er ihn wirklich gut kennt und dass dieser Schritt nur den unmittelbar beteiligten Personen bekannt wird und bleibt. Und zum anderen ist Bedingung, dass man eine möglichst deutlich objektivierbare Grenze ziehen kann, bis wohin dieser rechtliche Freiraum gehen darf. 24 Besondere Zurückhaltung ist bei den tragischen Grenzfällen geboten, bei denen eine aktuelle eindeutige Willensäußerung des todkranken Menschen nicht mehr einholbar ist und nur auf frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen Bezug genommen werden kann und insbesondere dann, wenn gar keine eindeutige Willensäußerung bekannt ist und wenn der Betroffene die den Tod verursachende Letzthandlung nicht mehr wirklich selbstständig durchführen kann. In diesen Fällen sollte immer dem strikten Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen (einschließlich der natürlichen und künstlichen Ernährung) und einer »palliativen Sedierung« der eindeutige Vorrang gegeben werden. 25

5.

Schlussfolgerungen für eine mögliche Gesetzgebung

Unsere Überlegungen führten zu der Einsicht, dass es kein Recht auf Selbsttötung und auf Beihilfe zur Selbsttötung gibt, dass aber schon mit einer ausdrücklichen Straffreiheit bei Beihilfe zur Selbsttötung unter näher zu definierenden Bedingungen die Tür zu äußerst problematischen Entwicklungen aufgestoßen wird. Solche Wege sollten in der Gesetzgebung nicht beschritten werden. Dazu gehört, dass in Patientenverfügungen kein Passus aufgenommen werden darf, in dem verfügt wird, dass und unter welchen Umständen eine Beihilfe Zur rechtlichen Problematik eines solchen »Freiraums« vgl. Gunnar Duttge: »Gewissen im Kontext des modernen Arztrechts«, in: F.-J. Bormann/V. Wetzstein (Hg.): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik, Berlin/Boston 2014, S. 543–560, hier S. 543 ff.; Stephan Rixen: »Die Gewissensfreiheit der Gesundheitsberufe aus verfassungsrechtlicher Sicht«, in: F.-J. Bormann/V. Wetzstein (Hg.) 2014, hier S. 65 ff.; zur theologischen Sicht vgl. Wilfried Härle.: »Das Gewissen und seine Bedeutung für die medizinethische Urteilsbildung aus evangelischer Sicht«, in: F.-J. Bormann/V. Wetzstein (Hg.) 2014, hier S. 341 ff. 25 Vgl. Friedemann Nauck/Christoph Ostgathe/Lukas Radbruch: »Ärztlich assistierter Suizid. Stellungnahme der ›Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin‹«, in: Deutsches Ärzteblatt 111(2014), A 67–71, hier A 68 f. 24

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Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

zur Selbsttötung erbeten wird. Die rechtliche Billigung solcher Patientenverfügungen käme einer rechtlichen Anerkennung von Lebensunwerturteilen gleich. Wenn der Gesetzgeber nicht den eigentlich konsequenten Weg gehen will, die Beihilfe zur Selbsttötung nicht mehr straffrei zu belassen, so sollte man nur eine dahingehende Änderung des Strafrechts vornehmen, dass keiner Organisation und auch keiner einzelnen Person die Beihilfe zur Selbsttötung eröffnet werden darf, die diese Beihilfe offen oder verborgen als Dienstleistungen anbieten, auch dann nicht, wenn sie nur eine Aufwandsentschädigung und kein Honorar verlangen. 26 Der Gesetzgeber sollte Wert auf die Klarstellung legen, dass es kein Recht auf Selbsttötung und Beihilfe zur Selbsttötung gibt. Nur damit kann eine weitere Verunsicherung in den Beziehungen der todkranken Menschen zu ihren Angehörigen, Freunden, aber auch zu Pflegekräften und Ärzt/innen verhindert werden. Und zugleich sollte eine eindeutige Verpflichtung des Staates bestehen, für eine flächendeckende qualifizierte palliative Fürsorge für alle betroffenen Menschen im häuslichen Bereich, in Krankenhäusern und nicht zuletzt in den bisher vernachlässigten Pflegeheimen Sorge zu tragen. Man könnte sagen: Es gibt kein Recht auf Selbsttötung und Beihilfe zur Selbsttötung, aber es gibt ein Menschenrecht auf palliative Fürsorge, deren Grundlage die palliativmedizinische Versorgung ist, die aber auch die pflegerische, mitmenschliche, seelische und seelsorgerlichgeistliche Fürsorge einschließt. Nur dadurch können den Menschen die Ängste vor einem menschenunwürdigen Leben und Sterben genommen und der Ruf nach Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen überflüssig werden (vgl. 3, 4. Fallbeispiel).

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26

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BÄK: Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, In: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011), A 346–348. Duttge, Gunnar: Gewissen im Kontext des modernen Arztrechts. In: F.-J. Bormann/ V. Wetzstein (Hg.): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik. Berlin/Boston 2014, S. 543–560. Duttge, Gunnar: Der assistierte Suizid. Ein Dilemma nicht nur der Ärzteschaft. In: Medizinrecht (32), 2014, S. 621–625 Eibach, Ulrich: Seelische Krankheit und christlicher Glaube. Theologische, humanwissenschaftliche und seelsorgerliche Aspekte. Neukirchen-Vluyn 1992. Eibach, Ulrich: Sterbehilfe – Tötung aus Mitleid. Euthanasie und »lebensunwertes Leben«. Wuppertal 1998. Eibach, Ulrich: Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie. Münster 2005. Eibach, Ulrich: Umgang mit schwerer Krankheit: Widerstand, Ergebung, Annahme. In: G. Thomas/ I. Karle (Hg.): Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Stuttgart 2009, S. 339–353. Eibach, Ulrich: Das Leben als Gabe und Aufgabe. In: G. Maio (Hg.): Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen. Freiburg i. Br. 2014, S. 232–270. Fletcher, Joseph: The Patient’s Right to Die. In: A. B. Downing (Hg.): Euthanasia and the Right to Death. The Case of Voluntary Euthanasia. London 1969, 61–74. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Wenn Menschen sterben wollen – Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihilfe zur Selbsttötung. EKD-Texte 97. Hannover 2008. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE): Leben hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit. Eine Orientierungshilfe des Rates der GEKE zu lebensverkürzenden Maßnahmen und zur Sorge um Sterbende. Wien 2011. Härle, Wilfried: Das Gewissen und seine Bedeutung für die medizinethische Urteilsbildung aus evangelischer Sicht. In: F.-J. Bormann/ V. Wetzstein (Hg.): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik. Berlin/Boston 2014, S. 327–346. Hell, Daniel: Seelenhunger. Der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben. Bern 2003. Hirsch, Rolf D. u. a. (Hg.): Suizidalität im Alter. Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie. Bd. 4. Bonn 2002. Hoerster, Norbert: Sterbehilfe im säkularen Staat. Frankfurt a. M. 1998. Maio, Giovanni (Hg.): Abschaffung des Schicksals? Menschsein zwischen Gegebenheit des Lebens und medizin-technischer Gestaltbarkeit. Freiburg 2011. MacIntyre, Alasdair: Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden. Hamburg 2001.

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Von der Beihilfe zum Suizid zur Tötung auf Verlangen?

Nauck, Friedemann/Ostgathe, Christoph/Radbruch, Lukas: Ärztlich assistierter Suizid. Stellungnahme der »Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin«. In: Deutsches Ärzteblatt 111(2014), A 67–71. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Werke in 3 Bde., hg. von K. Schlechta. Bd. II. München 1964. Rixen, Stephan: Die Gewissensfreiheit der Gesundheitsberufe aus verfassungsrechtlicher Sicht. In: F.-J. Bormann/ V. Wetzstein (Hg.): Gewissen. Dimensionen eines Grundbegriffs medizinischer Ethik. Berlin/Boston 2014, S. 65–88. Rosenau, Henning /Sorge. Igor: Gewerbsmäßige Suizidförderung als strafwürdiges Unrecht? In: Neue Kriminalpolitik 25 (2013), S. 108–119. Van Loenen, Gerbert: Das ist doch kein Leben mehr! Warum aktive Sterbehilfe zur Fremdbestimmung führt. Frankfurt a. M. 2014. Wittwer, Héctor.: Über Kants Verbot der Selbsttötung. In: Kant-Studien 92 (2001), S. 180–209.

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Teil IV: Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid aus Sicht der ärztlichen Berufsethik

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Ist ärztliche Suizidbeihilfe ethisch verantwortbar? Bettina Schöne-Seifert

1.

Einleitung

In den gegenwärtigen Debatten um die ethische Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der ärztlichen Suizidbeihilfe, wie sie in der Schweiz, in Deutschland und in anderen westlichen Ländern intensiv geführt werden, geht es in erster Linie um Grundsatzfragen, in zweiter dann, gegebenenfalls, um Regelungsdetails. Auf der grundsätzlichen Ebene spielt das Argument der »Unärztlichkeit« von Suizidbeihilfe eine prominente Rolle. Ich werde im Folgenden die Gegenposition vertreten, dass das ärztliche Ethos, recht verstanden, sehr wohl zulässt, einem unheilbar schwerstkranken Patienten bei der Durchführung eines ernsthaft gewollten Suizids behilflich zu sein. Meine Ausführungen werden zunächst (unter Punkt 2.) die Systematik der ethischen Einwände gegen Suizidbeihilfe kursorisch diskutieren, um anschließend (unter Punkt 3.) das Argument von der spezifischen Unärztlichkeit solcher Hilfe herauszuheben und kritisch zu beleuchten. Sodann wird es mir (unter Punkt 4.) darum gehen, ob und warum Suizidassistenz, wenn sie denn zulässig gemacht wird, bevorzugt von Ärzten statt von professionellen Sterbehelfern oder Angehörigen geleistet werden sollte. Rechtsfragen, wie sie sich mit Blick auf eine rechtspolitische Ausgestaltung natürlich – und für einzelne Länder unterschiedlich – stellen, werde ich in dieser Abhandlung unbehandelt lassen. 1

Zur Rechtslage in Deutschland mit dem Spannungsverhältnis zwischen straffreier Suizidbeihilfe einerseits und ärztlicher Garantenpflicht zur Rettung nach Suizid vgl. etwa Heinz Schöch/Torsten Verrel et al.: »Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AEStB)«, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 152 (2005), S. 553–586, hier S. 579–582. Zur Rechtslage in den Niederlanden, Oregon und der Schweiz siehe den Übersichtsartikel von Georg Bosshard/Walter Bär: »Open Regulation and Practice in Assisted Dying«, Swiss Medical Weekly 132 (2002), S. 527–534.

1

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Bettina Schöne-Seifert

1.1

Eingrenzungen

Das Für und Wider (ärztlicher) Suizidbeihilfe wird in aller Regel – so auch hier – für den besonderen Kontext unheilbar kranker Patienten diskutiert, die eine Selbsttötung begehen wollen, um sich ein qualvolles oder in ihren Augen würdeloses Lebensende zu ersparen. In allen mir bekannten Regelungen, Regelungsvorschlägen oder Argumentationen zur Suizidbeihilfe werden pathologische oder unüberlegt spontane Suizidwünsche ausgeschlossen, indem sinngemäß die Wohlüberlegtheit oder Ernsthaftigkeit des Todeswunsches und die Urteilsfähigkeit des betreffenden Individuums vorausgesetzt werden. Darüber hinaus wird ganz überwiegend als weitere notwendige Bedingung gefordert, dass der Suizident an einer nach ärztlichem Ermessen unheilbaren und irreversiblen Krankheit leidet (so etwa in den Niederlanden). Eine noch verschärfende Bedingung, die etwa im US-Bundesstaat Oregon oder nach den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) 2 erfüllt sein muss, ist die des nahen Lebensendes. So legt das Suizidhilfe-Gesetz von Oregon 3 fest, ärztliche Suizidbeihilfe dürfe nur bei Patienten geleistet werden, die nach Mediziner-Einschätzung noch höchstens sechs Lebensmonate vor sich hätten. Auch der kürzlich publizierte Alternativentwurf Sterbebegleitung schlägt vor, die Straflosigkeit der Suizidassistenz auf tödlich Kranke zu beschränken. 4 Nicht nur von radikal liberaler Seite, sondern gerade auch von denen, die jegliche Suizidbeihilfe aus ethischen Gründen ablehnen, werden alle solche Restriktionen gelegentlich als inkonsequent bezeichnet: Wenn man tatsächlich die Selbstbestimmung eines Sterbewilligen zu respektieren und ihm behilflich zu sein richtig fände, sei es widersprüchlich, diese Hilfe an einschränkende Bedingungen zu knüpfen. Der nahe liegende – und mir plausibel erscheinende – Gegeneinwand verweist auf die kombinierte Rechtfertigung der SuizidSchweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: »Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende. Medizinisch-ethische Richtlinien der SAMW«, Basel 2004. 3 Oregon Death with Dignity Act (1997) [https://www.oregon.gov/oha/PH/PRO VIDERPARTNERRESOURCES/EVALUATIONRESEARCH/DEATHWITHDIGNI TYACT/Documents/statute.pdf], hier 127.805, § 2.0 (letzter Zugriff am 23. 01. 2020). 4 Heinz Schöch/Torsten Verrel et al.: »Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AEStB)«, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 152 (2005), S. 553–586, hier § 215, Abs. 3 de lege ferrenda. 2

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Ist ärztliche Suizidbeihilfe ethisch verantwortbar?

beihilfe durch den geforderten Respekt vor Selbstbestimmung plus die Verpflichtungen zu Fürsorge und Schadensvermeidung. Eine solche Doppelbegründung scheint uns auch außerhalb der Medizin in vielen Fällen angemessen für aktive Hilfeleistungen gegenüber Dritten, während die reine Selbstbestimmungs-Norm lediglich deren Abwehr-Ansprüche zu rechtfertigen vermag. Suizidbeihilfe nur für tödlich Kranke zulässig zu finden und zu machen, halte ich allerdings grundsätzlich für zu restriktiv – sind es doch gerade aussichtslose chronische Verläufe irreversibler Erkrankungen, die manche Patienten sterbewillig werden lassen: Patienten etwa mit der Aussicht auf weitere unbewegliche Jahre im Bett ohne Zugang zu den Tätigkeiten und Lebensaspekten, die ihnen wichtig waren, oder mit der Perspektive einer unaufhaltsam zunehmenden Demenz. Warum sollte die Verzweiflung solcher Kranker grundsätzlich weniger verständlich sein als der Horror vor zwei oder sechs letzten Lebensmonaten des Siechtums? Und warum sollte diese Restriktion missbrauchssicherer sein als jene? Unter dem Aspekt der Missbrauchs-Besorgnis mag eine Zulassungsbeschränkung auf »terminale Suizidbeihilfe« im engeren Sinne (also bei terminal Kranken) allenfalls ein vernünftiger erster Schritt sein, dem später eine Ausweitung auf Fälle nicht-terminaler schwerster Krankheit folgen müsste. Da jedoch solche nachträglichen Lockerungen umstrittener Regelungen leicht als Dammbrüche missdeutet werden, schiene mir eine von vornherein erfolgende Begrenzung der Suizidbeihilfe auf Fälle schweren irreversiblen, aber nicht notwendigerweise bereits terminalen Leidens angemessener. Warum dann allerdings nicht in einem weiteren Schritt auch hoch betagten Menschen, die nicht unheilbar krank, sondern bloß lebensmüde geworden sind, Suizidbeihilfe gewährleistet werden dürfte, bliebe genauer zu begründen. Ich meine, dass Überlegungen zum sozialen Missbrauch die Begrenzung aller Suizidbeihilfe auf schwer leidende Patienten begründen können, muss dies hier aber einfach voraussetzen. Wenn im Folgenden von Suizidbeihilfe (SH) die Rede ist, so ist also immer an den Kontext von schwerster und irreversibler Krankheit gedacht.

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2.

Standardargumente 5 gegen (helfer-unspezifische) Suizidbeihilfe

Unter den Einwänden gegen Suizidbeihilfe gibt es zum einen solche, die unabhängig davon vertreten werden, wer diese Hilfe leistet und aus welcher Beziehung zum Suizidenten heraus sie erfolgt. Hiernach wäre SH generell unethisch, ohne dass man dazu noch die Besonderheiten der Arzt-Patienten-Beziehung in diesem Kontext argumentativ anführen müsste. Wer SH generell als ethisch unzulässig beurteilt, erstreckt dieses Urteil a fortiori auf aktive Sterbehilfe auf Verlangen. Beide nämlich erfüllen gleichermaßen diejenigen Aspekte, gegen welche die typischen kategorischen Einwände sich richten: den Tatbestand der gezielten Tötung, das Motiv der Hilfe zur tödlichen Leidminderung und die vermeintliche Anmaßung der Herrschaft über Leben und Tod. Aktive Sterbehilfe weist darüber hinaus noch das zusätzliche und für viele aggravierende Merkmal fremder Tatherrschaft auf. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass viele (kategorische) Kritiker zwischen Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe kaum unterscheiden. Umgekehrt jedoch muss sich eine konsequente ethische Ablehnung aktiver Sterbehilfe aber keineswegs auch auf SH erstrecken. Gerade wer die Übergriffigkeit aktiver Sterbehilfe auf Verlangen anrüchig findet oder wer Missbrauchspotential oder Medikalisierung einer Tötung durch Dritte – insbesondere durch Ärzte – fürchtet, mag dennoch sehr wohl den Suizid Schwerstkranker samt Beihilfe für ethisch akzeptabel halten.

2.1

Kategorische Einwände

Fundamentale Argumente gegen die Zulässigkeit von Suizidbeihilfe – und a fortiori von aktiver Sterbehilfe – können sich deswegen nicht naiv auf die absolute Schutzwürdigkeit des Menschenlebens berufen, weil sie zugleich eine Differenzierung gegenüber der passiven und der indirekten Sterbehilfe einbauen müssen, die beide unter be-

Einen Überblick über Pro und Contra in der US-amerikanischen Diskussion gibt Susan Wolf: »Physician-Assisted Suicide«, Clinics in Geriatric Medicine 21 (2005), 179–192.

5

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stimmten Umständen als ethisch akzeptabel gelten. Insofern sind es im Wesentlichen zwei Argumente, die hier formuliert werden: (1) Selbst auf dessen ernsthaftes und verständliches Verlangen hin dürfe niemand – außerhalb von Krieg und Notwehr – den Tod eines anderen gezielt beabsichtigen. (2) Selbst auf dessen ernsthaftes und verständliches Verlangen hin dürfe niemand – außerhalb von Krieg und Notwehr – den Tod eines anderen aktiv verursachen. Beide Argumente sind aus meiner Sicht ungeeignet, eine plausible generelle Wertungsdifferenz zwischen (vermeintlich verbotswürdiger) Suizidbeihilfe oder aktiver Sterbehilfe einerseits und der nach allgemeinem Urteil zulässigen passiven oder indirekten Sterbehilfe andererseits zu unterfüttern. Dazu hier nur in aller Kürze: Argument (1) unterstellt den verschiedenen Varianten von Sterbehilfe definitiv unterschiedliche Absichten: einmal werde der Tod unzulässigerweise direkt intendiert; das andere Mal werde er zulässigerweise nur in Kauf genommen, um Schmerzen zu lindern (indirekte Sterbehilfe) oder um eine belastende Therapie abzubrechen (passive Sterbehilfe). Nun ist schon keineswegs unstrittig, 6 an genau welcher Stelle in der Ethik die Absichten des Handelnden normativ relevant sind: gewiss für den Charakter dieses Menschen und für die Sympathie, die man seinem Tun entgegenbringt – aber auch für die Verbotswürdigkeit bzw. Zulässigkeit der Handlung? Doch selbst wenn man von diesen vieldiskutierten Bedenken ganz absieht, leuchtet das Argument von der Absichts-Differenz nicht ein. Unter den paradigmatischen Randbedingungen, unter denen die Zulässigkeit aller Sterbehilfevarianten diskutiert wird – nämlich: Sterbewunsch des schwerstkranken Patienten, humane Motivation des Sterbehelfers, subjektive Alternativlosigkeit der Situation – richtet sich die Absicht des Handelnden potentiell immer darauf, dass der Tod des Patienten eintreten möge, weil dieser Patient das Sterben unter den bestehenden Umständen nachvollziehbar als das kleinere Übel beurteilt. Dabei gehen in diese ausschlaggebende terminale Güterabwägung einmal die Schmerzen etc. ein, die nur durch indirekte Sterbehilfe gelindert werden können, ein anderes Mal die Belastungen einer lebenserhaltenden Therapie (bei manchen Konstellationen passiver 6

Vgl. zu dieser Problematik Dieter Birnbacher: Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995.

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Sterbehilfe) und in anderen Fällen die Qual, Eingeschränktheit oder subjektive (d. h. vom Patienten empfundene) Würdelosigkeit des verbleibenden Restlebens (bei passiver wie aktiver Sterbehilfe). Mit anderen Worten: Eine kategorische normative Unterschiedenheit der verschiedenen Varianten von Sterbehilfe, einschließlich der Suizidbeihilfe, lässt sich nicht über Absichtsdifferenzen plausibel machen. Argument (2) zielt darauf ab, dass die Kausalrollen des Sterbebzw. Suizidhelfers jeweils entscheidend unterschiedlich seien: Wer aktiv töte oder bei der Selbsttötung des Patienten aktiv helfe, werde auf eine andere Weise ursächlich schuldig als derjenige, der nur Schmerzmittel in therapeutischer Dosis verabreiche oder eine lebenserhaltende Behandlung einstelle bzw. unterlasse. Der aktive Verursacher werde schuldhaft verantwortlich für den Tod des Patienten, nicht aber derjenige, dessen Handeln nur eine indirekte oder negative Kausalrolle spiele. Auch diese viel diskutierte normative These leuchtet nicht ein. Die skizzierte Unterscheidung trifft sicher in vielen Handlungszusammenhängen zu, weil deren Randbedingungen unterschiedlich sind. Sie verweist überdies auf einen einleuchtenden psychologischen Unterschied zwischen aktiver Verursachung und passivem Geschehenlassen. Als ein kategorisches Argument bleibt sie nach meinem Dafürhalten unplausibel. 7

2.2

Missbrauchsargumente

Auf einer ganz anderen Ebene liegen diejenigen Einwände, die SH, und ebenso aktive Sterbehilfe auf Verlangen, mit Blick auf drohenden Missbrauch (weiterhin) rechtlich verbieten möchten. Unter der Voraussetzung, dass Einigkeit darüber besteht, was genau als Missbrauch aufzufassen wäre, muss jeder Befürworter einer SH-Liberalisierung hellhörig werden, wenn es empirische Hinweise für solche Entwicklungen gibt. Eindeutig und unstrittig missbräuchlich wären Suizidbeihilfen, die gar nicht auf einen wirklichen Wunsch des Betreffenden zurückgehen, aber auch Suizidwünsche, die deshalb ent-

So etwa auch Dan W. Brock: »A Critique of Three Objections to Physician-Assisted Suicide«, Ethics 109 (1999), S. 519–547, hier S. 531–537 oder Judith Jarvis Thomson: »Physician-Assited Suicide: Two Moral Arguments«, Ethics 109 (1999), S. 497–518, hier S. 500–509 [dt. Übers. in dem vorliegenden Band, S. 235–268].

7

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stehen, weil Angehörige, Ärzte, betreuende Institutionen oder das gesellschaftliche Klima einen entsprechenden Erwartungsdruck entstehen ließen. Natürlich sind solche Entwicklungen nicht undenkbar, und natürlich sind wachsame Blicke auf die Länder, die eine liberale Regelung faktisch realisieren, wichtig und richtig. Wichtig sind aber auch angemessene Interpretationen der Fakten, die sich erheben lassen. Dazu lässt sich einiges sagen: In den Niederlanden wird die dort eingeführte rechtliche Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen von einer regelmäßigen empirischen Datenerhebung begleitet. Seit Jahren fördert sie zutage, was in anderen Ländern gar nicht Gegenstand systematischer Untersuchung ist: nämlich dass pro Jahr etwa 900 terminal kranke Patienten durch aktive Sterbehilfe zu Tode kommen, ohne dass sie das rechtlich vorgeschriebene Kriterium eines expliziten Verlangens nach Sterbehilfe erfüllen. Dieser beunruhigende Befund dient Kritikern als Beweis eines bereits eingetretenen Dammbruchs, während andere Autoren behaupten, dass entsprechende Daten wahrscheinlich auch in Ländern ohne zulässige aktive Sterbehilfe erhoben werden könnten und dass es keinerlei Beweis für einen kausalen Zusammenhang mit der niederländischen Sterbehilfe-Liberalisierung gebe. So viel zur Wichtigkeit eindeutiger Interpretationen. Seit der Bundesstaat Oregon 1997 den ärztlich assistierten Suizid für tödlich Kranke gesetzlich zugelassen hat, werden dort sorgfältig und obligatorisch Daten zur Inanspruchnahme dieser Möglichkeit erhoben. Bisher sind sie dazu geeignet, jegliche Befürchtungen zu konterkarieren, dass Suizidbeihilfe sich lawinenartig ausweiten und vor allem den Schlechtergestellten als Ausweg aus finanziellen Nöten, schlechter Palliativmedizin oder fehlender mitmenschlicher Versorgung dienen werde. 8 Die Zahl der praktizierten Patientensuizide bleibt klein (35 im Jahr 2004) und erfüllt offenkundig die rechtlichen Kriterien. Wenig überzeugend ist im Übrigen die übliche Fixierung der Missbrauchsbefürchtungen allein auf die aktiven Varianten der SterVgl. dazu Arthur E. Chin/Katrina Hedberg/Grant K. Higginson/David W. Fleming: »Legalized Physician-Assisted Suicide in Oregon — The First Year’s Experience«, The New England Journal of Medicine 340 (1999), S. 577–583, sowie den Bericht des Oregon Department of Human Services: »Seventh Annual Report on Oregon’s Death with Dignity Act« (2005) [https://www.oregon.gov/oha/PH/PROVIDERPARTNER RESOURCES/EVALUATIONRESEARCH/DEATHWITHDIGNITYACT/Docu ments/year8.pdf] (letzter Zugriff am 23. 01. 2020).

8

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behilfe. 9 Zwar trifft es offenkundig zu, dass eine aktive Tötung oder eine Verleitung zum Suizid grundsätzlich bei jedermann erfolgen kann, während die passive Sterbehilfe die Abhängigkeit des Betroffenen von lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen voraussetzt. Doch während eine Ausweitung von Sterbe- und Suizidbeihilfen auf Gesunde oder Fast-Gesunde alles andere als wahrscheinlich ist, wächst die Zahl der Patienten, die am Lebensende etwa der künstlichen Ernährung bedürfen, ebenso stetig an wie die therapeutischen Optionen, mit deren Hilfe man Schwerstkranken potentiell noch eine weitere Lebensverlängerung ermöglichen könnte. Missbräuchlicher Verzicht auf solche Optionen ist mitnichten ausgeschlossen, ja sogar viel wahrscheinlicher 10 – ohne dass daraus ein Argument gegen die grundsätzliche Zulässigkeit passiver Sterbehilfe würde.

2.3

Verrohungsargumente

Ein von Missbrauchsbefürchtungen nicht messerscharf zu trennender Einwand gegen SH – und wiederum ebenso gegen aktive Sterbehilfe – prognostiziert eine Aufweichung der Lebensschutz-Haltung im Gefolge entsprechender Liberalisierungen. Da unsere Gesellschaft ein fundamentales Interesse am Erhalt der Lebensschutz-Norm haben wäre eine solche Entwicklung in der Tat besorgniserregend. Niemand kann wünschen, dass der Respekt vor dem Lebensrecht jedes Mitbürgers an irgendeiner Stelle löchrig wird. Aber wiederum liegt hier ein – psychologisches – Argument vor, das sich empirisch erhärten lassen muss. Testen lässt es sich bisher am ehesten im Kontext von Abtreibungen – wo die von Kritikern ganz analog befürchteten Lebensschutzaufweichungen keineswegs eingetreten sind. 11 Testen lässt es sich – in bisher begrenztem Umfange – auch anhand der Daten aus Oregon, die sich allerdings gezielt auf Ärzte beziehen (vgl.

So auch David J. Mayo/Martin Gunderson: »Vitalism Revitalized: Vulnerable Populations, Prejudice, and Physician-Assisted Death«, The Hastings Center Report 4/32 (2002), S. 14–21, hier S. 18–19. 10 So auch Dan W. Brock: »A Critique of Three Objections to Physician-Assisted Suicide«, Ethics 109 (1999), S. 519–547, hier S. 537–546. 11 Siehe Wolfgang van den Daele: »Die Praxis der vorgeburtlichen Selektion und die Anerkennung von Menschen mit Behinderungen«, in: A. Leonhardt (Hg.): Wie perfekt muss der Mensch sein?, München 2004, S. 177–200. 9

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unten Punkt 3.2.). Auch hier gibt es keinerlei Anzeichen für solche Fehlentwicklungen.

3.

Das Argument von der Unärztlichkeit aller Suizidbeihilfe

Wer kategorische Argumente der vorstehend skizzierten Art gegen SH befürwortet, wird die vermeintliche Unärztlichkeit solchen Beistandes vielleicht als ein a fortiori Argument verstehen und betonen: Gerade Ärzte mit der ihrem Beruf zukommenden hohen ethischen Verpflichtung dürften nichts Verbotenes tun. Häufiger wohl und jedenfalls interessanter ist das Unärztlichkeits-Argument als ein spezifischer Einwand gegen SH. Exemplarisch seien hier die aktuell geltenden Empfehlungen der Deutschen Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung zitiert, die apodiktisch und ohne weitere Erläuterung konstatieren: »Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein.« 12 Dieses Diktum setzt nicht nur standesethische Maßstäbe, sondern hat, so muss man vermuten, eine hohe Suggestivkraft in der Öffentlichkeit. Das ärztliche Ethos und die es schützenden und interpretierenden Experten, die ja zugleich Experten im Umgang mit Tod und Sterben sind, sollten doch eigentlich verlässliche Auskunft darüber geben, ob ärztliche Suizidbeihilfe ethisch zulässig und ihre Tolerierung rechtspolitisch wünschenswert ist.

3.1

Unvereinbarkeit mit dem ärztlichen Ethos?

Zunächst einmal ist es korrekt, dass faktisch die Unterstützung eines Schwerstkranken bei dessen Selbsttötung, wenn man das Phänomen kultur- und zeitübergreifend betrachtet, nicht zu den ärztlichen Aufgaben gehörte. Von einigen bekannten Ausnahmen in der Antike und einer gewiss beachtlichen Dunkelziffer in der Moderne abgesehen, waren Ärzte als Suizidhelfer offenbar weder tätig noch gefragt. Dass Bundesärztekammer: »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, Deutsches Ärzteblatt (2004), A1298, siehe dazu auch Leon Kass: »Why Doctors must not kill«, Commonweal Suppl. 14/ 118 (1991), S. 472–476, hier S. 472– 476 [dt. Übers. eines Wiederabdrucks dieses Aufsatzes in diesem Band, S. 405–428]; Fuat S. Oduncu: »Euthanasia: Killing as Due Care?«, Wiener Medizinische Wochenschrift 153 (2003), S. 387–391, hier S. 389–391.

12

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sich diese Sicht in vielen westlichen Kulturen ändert oder zu ändern im Begriff ist, hat bekanntlich mehrere Ursachen: •







Suizidalität wird, anders als früher, heute von vielen ethisch differenziert betrachtet. Unter den hier diskutierten Umständen, also bei schwerem unheilbarem Leiden, wird eine Selbsttötungsabsicht verbreitet als eine ethisch zu respektierende Option angesehen. Patienten können durch die Möglichkeiten moderner Medizin immer häufiger trotz schwerer Krankheiten oder Verletzungen am Leben erhalten werden. So segensreich dies im Ganzen ist, resultieren daraus für manche Patienten aber auch Zustände so erheblicher Beeinträchtigung oder Funktionseinbuße, dass sie den Tod vergleichsweise vorziehen. Früher hätte sich diese Frage in dieser Konstellation gar nicht gestellt, weil diese Patienten ohnehin keine Überlebenschance hatten. Die moderne Medizin hat mit ihren Fortschritten in der Anästhesie zugleich auch sicherere, verträglichere und wirksamere Tötungsmittel hervorgebracht, als es sie früher gab – man denke an den Schierlingsbecher oder an Rattengift. Es erscheint vielen Menschen unsinnig heroisch, einen Suizid, wenn er denn als ultima ratio akzeptabel ist, nicht auf die humanste Weise durchzuführen, die es dazu praktisch gibt. Sich mit einer Plastiktüte über dem Kopf, auf Bahngleisen oder in tiefen Gewässern zu töten sind aus dieser Sicht, die ich sehr wohl teile, indiskutable (und für Schwerstkranke außerdem oft nicht praktikable) Alternativen geworden, wenn man sich doch mithilfe von Barbituraten den Tod schnell, sicher und schmerzlos geben kann. Barbiturate aber sind Patienten unter den bestehenden gesetzlichen Regelungen nur mit ärztlicher Verschreibung zugänglich. Wenn aber der Suizid mithilfe von Medikamenten gewünscht und durchgeführt werden soll, bevorzugen manche Suizidenten und ihre Angehörigen die Anwesenheit eines Arztes, um sicher zu gehen, dass der gewählte Weg auch gangbar bleibt (vgl. unten Punkt 4.).

Diese Fakten erklären, warum man (erst) heutzutage zunehmend auf die Idee kommt, Ärzten eine Suizidbegleitung zuzumuten – eine Zumutung, die sich aber dem Verdikt der »Unärztlichkeit« ausgesetzt sieht. Was ist dazu zu sagen? Die Ziele des medizinischen Unter372 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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suchens, Behandelns und Forschens richten sich, darüber kann es wenig Streit geben, von Alters her in allererster Linie auf die Bekämpfung von Krankheiten, das Lindern von Beschwerden und das Erhalten des Lebens eines Patienten, wenn es durch Krankheiten oder Unfälle bedroht ist. Die Formel vom »Arzt als Retter und Heiler« bringt diese aus Patientensicht hoch geschätzte Grund- und Hauptmotivation ärztlichen Handelns korrekt zum Ausdruck. Und in diesem deskriptiven Sinne kann man auch der SAMW zustimmen, die in ihren SterbeRL-2004 zunächst betont, Hilfe zur Selbsttötung gehöre nicht zu den ärztlichen Aufgaben – um diese Hilfe dann anschließend dennoch als Gewissensentscheidung im Einzelfall respektieren zu wollen. Das nun lässt sich kaum anders interpretieren denn als Absage an die Unärztlichkeitsthese im normativen Sinn. Diese also ist strittig und soll nachfolgend näher betrachtet werden. Fragt man Ärzte nach ihrer eigenen Auffassung zu dieser Frage, ergibt sich – soweit Daten vorliegen – für Deutschland ein deutlich ablehnenderes Bild als für andere westliche Länder. Beispielsweise sprechen sich 75 % von 400 (davon 251 antwortenden) befragten Palliativmedizinern dezidiert gegen ärztliche Suizidbeihilfe aus, 13 während das ärztliche Meinungsbild in anderen westlichen Ländern deutlich liberaler ausfällt: im groben Trend etwa 50:50, 14 dabei in Ländern wie Oregon oder den Niederlanden, welche bereits ärztliche Suizidbeihilfe praktizieren, noch deutlich liberaler. Solche Ergebnisse spiegeln mit Sicherheit auch das öffentliche Klima wider, welches zumindest in Deutschland von einem »Elitenkonsens« 15 gegen ärztliche Suizidbeihilfe geprägt ist, während der »Mann auf der Straße« viel liberaler optiert. Ärztemeinungen in dieser Frage ein besonders großes Gewicht beizumessen leuchtet nur auf den ersten Blick ein – genauer besehen sind Mediziner, zumal ohne Erfahrung in ärztlicher Suizidbeihilfe, nicht privilegiert, in dieser Frage kompetentere Urteile zu fällen als jeder andere. Häufig zitierte ärztliche Erfahrungen des Christoph H. Müller-Busch et al.: »Attitudes on Euthanasia, Physician-Assisted Suicide and Terminal Sedation – A Survey of the Members of the German Association for Palliative Care«, Medicine, Health Care and Philosophy 7 (2004), S. 333–339, hier S. 335–337. 14 Vgl. dazu Jochen Vollmann/Eva Herrmann: »Einstellungen von Psychiatern zur ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Eine Übersicht empirischer Untersuchungen«, Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie 70 (2002), S. 601–608. 15 Wolfgang van den Daele: »Am Ende. Sterbehilfe ist längst akzeptiert, das Verbot lässt sich nicht halten«, Die Zeit Nr. 44 vom 27. Okt. 2005, S. 4. 13

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Inhalts, dass viele Patienten vom Suizid reden, die meisten aber Zuwendung suchen, 16 sind hier nur bedingt relevant – soll es bei der ärztlichen Suizidbeihilfe doch ohnehin nur um die wenigen Patienten gehen, die ernsthaft und endgültig suizidwillig bleiben – allen Palliativ- und Zuwendungsangeboten zum Trotz. Ärzte können und sollen Experten für den Umgang mit Sterbenden sein, in medizinischer wie psychologischer Hinsicht, aber, wie Bagaric und Amarasekara es pointiert formulieren, »there is no reason to think that doctors have a higher level of moral insight than the rest of the community« 17. Verstöße gegen das ärztliche Ethos 18 sind solche Verhaltensweisen oder Grundhaltungen, die gegen den Inbegriff dessen verstoßen, was ein anständiger Arzt tun darf. Manches davon wäre auch bei Nichtärzten ethisch unzulässig oder sogar kriminell, mutet aber bei Medizinern als besonders anstößig an. Anderes ist nur in der Arztrolle verwerflich. Welche Handlungen darunter fallen und welche nicht, ist zum Teil – gewissermaßen den Kern des Ethos berührend – sonnenklar und zum Teil auslegungs- und begründungsbedürftig (und umstritten!), so wie ethische Regeln dies generell sind. Fraglos unärztlich sind beispielsweise finanzieller Eigennutz bei der Indikationsstellung, Verletzungen der Schweigepflicht, fachliche Inkompetenz, Täuschung des Patienten oder die ärztliche Vernachlässigung anvertrauter Kranker. Und natürlich wären Sterbehilfe gegen den Willen des Patienten oder absichtlich unterbleibende Suizidinterventionen bei pathologischen Selbsttötungsversuchen ungeheuerliche Exempel von Unärztlichkeit – aber auch ärztliche Suizidbeihilfe bei kompetenten Schwerstkranken? Anders als alle zuvor aufgeführten Beispiele verstößt dieses Verhalten nicht gegen den tatsächlichen oder zu unterstellenden Willen des Patienten, sondern entspricht diesem ja gerade. Anders als etwa ein im Komplott mit dem Patienten erfolgender Abrechnungsbetrug, der natürlich gleichfalls in höchstem Maße unärztlich (und kriminell) wäre, verstößt ärztliche Suizidbeihilfe auch nicht direkt gegen die Interessen Dritter. Ethos-verletzend kann sie wohl nur dann sein, wenn sie entweder als solche, als Handlungstyp, nicht Vgl. dazu bspw. das Thesenpapier der SGP, Pt. 3. Mirko Bagaric/Kumar Amarasekara: »Euthanasia: Why It Doesn’t Matter (Much) What the Doctor Thinks and Why There is No Suggestion that Doctors Should Have a Duty to Kill«, Journal of Law and Medicine 110 (2002), S. 221–231, hier S. 227. 18 Vgl. allgemein: Tom F. Beauchamp/James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics, New York 52001, Kap. 7. 16 17

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von Ärzten begangen werden darf oder wenn sie zu einer schleichenden und am Ende ungewollten Veränderung von Arztrolle oder Arztbild führte. Das Argument vom verbotswürdigen Handlungstyp leuchtet mir nicht ein, wie ich zumindest teilweise in Punkt 2.1. zu zeigen versucht habe, und in den beiden nächsten Abschnitten werde ich etwas zu den möglichen oder befürchteten Auswirkungen von ärztlicher Suizidbeihilfe auf die medizinische Praxis sagen. Zuvor jedoch möchte ich, die bisherige defensive Argumentationsstrategie verlassend, vertreten, dass ärztliche Suizidbeihilfe dem recht verstandenen ärztlichen Ethos nicht nur nicht zuwider ist, sondern ihm in positiver Weise entspricht. Den positiven Kern des Arztethos könnte man auch auf folgende Formel bringen: Ärzte sind verpflichtet, medizinische Kompetenzen zu erwerben und zu pflegen, sie zum Besten ihres Patienten einzusetzen und diesem dabei mit Empathie zu begegnen, bei alledem jedoch dessen Selbstbestimmung zu respektieren. In aller Regel übersetzt sich diese Grundnorm in Vorbeugung, Heilung, Lebensrettung und Leidlinderung. In der Krisensituation unheilbar gewordener Krankheit jedoch kann neben menschlichem Beistand auch Suizidbeihilfe bei einem dazu entschlossenen verzweifelten Kranken dazugehören. Ärzte sind die verantwortlichen Akteure in einem außerordentlich potent gewordenen Medizinbetrieb, der neben segensreicher Heilung und Rettung auch leidvolle, quälende und aussichtslose Lebenszustände herbeiführt und erhält. Wenn diese für den Patienten unerträglich werden, sollten Ärzte sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Dieses Plädoyer läuft, das sei ausdrücklich betont, nicht auf die Anerkennung einer moralischen Verpflichtung zu ärztlicher Suizidbeihilfe hinaus. Vielmehr muss es hier – wie bei Abtreibungen – eine unbedingte Gewissensfreiheit für den Arzt geben. Als potentieller Helfer muss seine Grundeinstellung zu Patientensuizid und Arztrolle hier ebenso ausschlaggebend sein wie die seines Patienten, des Hauptakteurs.

3.2

Brutalisierung der Ärzte?

Kritiker der ärztlichen Suizidbeihilfe stellen immer wieder in Aussicht, Ärzte, die Tötungshandlungen ausführten und unterstützten, würden in ihrer am Lebensschutz orientierten Grundhaltung beschädigt oder abgestumpft. Mediziner, die gelegentlich als »Todesengel« 375 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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fungierten, seien keine wirklich verlässlichen Kämpfer mehr, wenn es um Heilung und Rettung ihrer Patienten gehe. Diese Befürchtung lässt sich zwar schwer völlig widerlegen, erweist sich aber doch als wenig plausibel. Empirisch kann man, zum einen, die in mancher Hinsicht analogen Erfahrungen mit ärztlichen Abtreibungen heranziehen. Auch wenn es sich dabei um die, nach meiner Auffassung kategorial unterschiedliche Tötung ungeborenen Lebens handelt, ist die Beteiligung von Ärzten an Schwangerschaftsabbrüchen häufig mit ähnlichen Argumenten kritisiert worden. Eine tatsächliche Verrohung der an der längst etablierten Abtreibungspraxis beteiligten Mediziner ist meines Wissens nirgends behauptet worden. Zum anderen unterstellt der Einwand eine unrealistische Naivität und Undifferenziertheit bei Ärzten, die doch sehr wohl in der Lage sein sollten, zwischen den wohlüberlegten Suizidwünschen einiger weniger Schwerstkranker und den auf Heilung und Überleben gerichteten Wünschen ihrer unzähligen anderen Patienten zu unterscheiden. Und schließlich müsste dasselbe Abstumpfungsphänomen, wenn es bei ärztlicher Suizidbeihilfe zu erwarten wäre, auch – oder gar erst recht – im Gefolge der sehr viel häufigeren ärztlichen Entscheidungen zum Therapieverzicht bei Schwerstkranken, also bei der passiven Sterbehilfe eintreten. Aber käme jemand im Ernst auf die Idee, die Weiterbehandlung aller Patienten zu fordern, damit Ärzten nicht ihr ungebrochener Behandlungswille abhanden komme? Besorgnisse, dass Ärzte, die zur ärztlichen Suizidbeihilfe nicht bereit seien, von ihren Patienten oder durch gesellschaftliche Erwartungen unter Druck geraten könnten, gegen ihr Gewissen zu handeln, entbehren gleichfalls der Überzeugungskraft. Nicht nur zeigen auch hier die Erfahrungen mit einer liberalen Abtreibungsregelung ein nach wie vor differenziertes Meinungsbild der Ärzte zur ethischen Zulässigkeit von Abtreibung und zu ihrer eigenen Bereitschaft, daran mitzuwirken. Vielmehr belegen auch die Daten aus Oregon, dass dort die Praxis der ärztlichen Suizidbeihilfe zur allseitigen Zufriedenheit funktioniert, obgleich etwa 30 % der Ärzte angeben, ärztliche Suizidbeihilfe kategorisch abzulehnen. 19

Linda Ganzini et al.: »Physicians’ Experiences with the Oregon Death with Dignity Act«, The New England Journal of Medicine 342 (2000), S. 557–563, hier S. 557.

19

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3.3

Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient?

Mit den Verrohungs-Befürchtungen hängt die fast stereotyp formulierte Prophezeiung von Kritikern der ärztlichen Suizidbeihilfe zusammen, diese werde das für ein gedeihliches Arzt-Patienten-Verhältnis unerlässliche Vertrauen erschüttern. Patienten, die damit rechnen müssten, dass Mediziner Barbiturat-Rezepte für Todkranke ausschrieben, würden sich diesen nicht mehr mit ihren Krankheiten bedingungslos anvertrauen können. Schon vor aller Datenerhebung fragt man sich, ob das wirklich ernst gemeint sein könne. Würde irgendein (psychisch gesunder) Patient auch nur für möglich halten können, dass sein Arzt ihm ein todbringendes Medikament unterjubelte oder ihn zu dessen Annahme überredete? Würde irgendein vernünftiger Arzt sich auf solche Weise um Kopf und Kragen bringen? Abgesehen davon, dass man hier unschwer Kontrollmechanismen einrichten könnte (wie Oregon das vormacht), steht diesen Sorgen ein Arzt- und Patientenbild Pate, das mit dem mündigen und vernünftigen Bürger, den Philosophen und Politiker sonst vor Augen haben, nichts, aber auch gar nichts gemein hat. Überdies belegen Daten aus der inzwischen siebenjährigen Erfahrung Oregons mit ärztlicher Suizidbeihilfe, dass dort allgemein eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen Ärzten und schwerstkranken Patienten bescheinigt wird. 20 Gerade weil diese Patienten sich auch mit ihren Ängsten und Suizidüberlegungen an ihre Ärzte wenden könnten, gerade weil diese Thematik enttabuisiert worden ist, sei der Umgang miteinander für beide Seiten offener und vertrauter geworden. 21 Die Zahlen aus Oregon zeigen nicht nur, dass keineswegs jeder Arzt zur ärztlichen Suizidbeihilfe bereit ist, sondern auch, dass prinzipiell dazu bereite Ärzte keineswegs jedem Suizidwunsch nachkommen und dass ausgehändigte Barbiturat-Rezepte nicht in allen Fällen benutzt werden – fast die Hälfte der so versorgten Patienten (35 von 60 im Jahr 2004) stirbt am Ende dennoch eines natürlichen Todes. Dieser letzte Punkt verdient Beachtung: Nicht nur den wenigen Steven K. Dobscha et al.: »Oregon Physicians’ Responses to Requests for Assisted Suicide: A Qualitative Study«, Journal of Palliative Medicine 7 (2004), S. 451–461, hier S. 456–457. 21 Vgl. dazu die empirische Studie von Anthony L. Back et. al.: »Clinician-patient interactions about requests for physician-assisted suicide. A patient and family view«, Archives of Internal Medicine 162 (2002), S. 1257–1265. 20

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Patienten, die am Ende tatsächlich von der ärztlichen Suizidbeihilfe Gebrauch machen, hilft deren Zulassung als einer kontrollierten ultima ratio für Schwerstkranke. Vielmehr beruhigt das Wissen um diese Möglichkeit auch das Leben und Sterben vieler weiterer Patienten, die doch schließlich keinen Suizid erbitten, vorbereiten lassen oder ausführen. Aber bereits die Aussicht darauf, im schlimmsten Falle solche Hilfe erhalten zu können, kann ihnen das Leben und Sterben unter Umständen deutlich erleichtern. Man darf nicht vergessen, dass auch unter Todkranken die Entscheidung zum Suizid ein seltenes Phänomen bleibt – auch das zeigt Oregon (wo sich, nach den vorliegenden Daten, in den Jahren 2002 bis 2004 jeweils etwa 60 Patienten mit ärztlicher Assistenz suizidierten). 22 Ärztliche Suizidbeihilfe, so das Ergebnis der vorstehenden Überlegungen, verstößt nicht nur nicht gegen das wohlverstandene ärztliche Ethos, sondern ist mit diesem positiv vereinbar. 23

4.

Ärzte als bestgeeignete Suizidhelfer?

Vieles spricht aus meiner Sicht dafür, ärztliche Suizidbeihilfe als ultima ratio nicht nur ethisch und rechtlich zuzulassen, sondern Ärzte auch für die bestgeeigneten Suizidhelfer zu halten. Erstens braucht man ohnehin ärztliche Expertise, wenn es um die Überprüfung der Zulässigkeitsbedingungen geht: Um den Nachweis der Entscheidungsfähigkeit des Patienten, der Ernsthaftigkeit seines Sterbewunsches, der Unheilbarkeit seiner Erkrankung und der subjektiven Ausgeschöpftheit anderer Behandlungsmöglichkeiten (einschließlich der Palliativmedizin). Zweitens sind Ärzte nach bisherigen Gesetzen als Einzige verschreibungsbefugt für Medikamente, die in einer Überdosierung tödlich sind. Natürlich könnte man dies ändern, allerdings mit einigem Aufwand. Drittens sind Mediziner diejenigen, die am besten über die sachgemäße Durchführung eines Suizids wachen könnten. Patienten, die Oregon Department of Human Services: »Seventh Annual Report on Oregon’s Death with Dignity Act« (2005), hier S. 4 [https://www.oregon.gov/oha/PH/PRO VIDERPARTNERRESOURCES/EVALUATIONRESEARCH/DEATHWITHDIGNI TYACT/Documents/year8.pdf] (letzter Zugriff am 23. 01. 2020). 23 So auch bereits 1995: Frank G. Miller/Howard Brody: »Professional Integrity and Physician-Assisted Death«, The Hastings Center Report 3/25, (1995), S. 8–17. 22

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Ist ärztliche Suizidbeihilfe ethisch verantwortbar?

sich zu diesem letzten Schritt einmal entschließen, werden Weniges so fürchten, wie dass ihr Selbsttötungsversuch schiefgehen könnte. Und auch ihre Angehörigen, soweit involviert und vielleicht bei der Selbsttötung anwesend, werden beruhigt sein, wenn jemand Sorge dafür trägt, dass ihr Suizident sich nicht quält, sich nicht übergibt und gar am Ende verzweifelt und beschädigt überlebt. Viertens haben Ärzte die vergleichsweise größte Erfahrung im Umgang mit Sterben und Tod, mit den Ängsten und Bedürfnissen derer, deren Leben zu Ende geht und derer, die zurückbleiben. Diese Kompetenz sollte auch bei der Beratung und Begleitung von suizidwilligen Schwerstkranken zum Tragen kommen. Fünftens schließlich ist der helfende und seinen Patienten gegebenenfalls begleitende Arzt im Idealfall ein Vertrauter desselben und seiner Familie. Seine Hilfe und Anwesenheit in den Stunden existentieller Entscheidungen und letzter Schritte scheint allemal viel angemessener als die Beteiligung fremder oder auch seit Längerem zugezogener nicht ärztlicher Suizidbegleiter. Deren Rolle allerdings bleibt so lange unersetzlich, wie ärztliche Suizidbeihilfe tabuisiert ist.

5.

Schlussfolgerungen

Ich habe keinen Hehl daraus gemacht, dass ärztliche Suizidbeihilfe nach meiner festen Überzeugung eine ethisch zulässige, ja richtige Option sein kann und gesellschaftlich, standesethisch und rechtlich – unter geeigneten Auflagen – akzeptiert werden sollte. Nicht nur gibt es nach meinem Dafürhalten keine kategorischen Gegenargumente, sondern das wohlverstandene ärztliche Ethos rechtfertigt ärztliche Suizidbeihilfe als eine ultima ratio für verzweifelte, suizidwillige Schwerstkranke. Wenn Ärzte selbst, nach entsprechenden Meinungsumfragen, anderer Auffassung sind, steht dies einer Liberalisierung der ärztlichen Suizidbeihilfe nicht im Weg: Erstens haben sie nicht das Recht und die Aufgabe, eine ärztliche Spezialmoral zu entwickeln, die sich von den plausiblen Vorstellungen der Gesellschaft unterscheidet, ohne dass dafür überzeugende Gründe anzugeben wären. Zweitens sollten Meinungsumfragen unter Ärzten nicht überschätzt werden, sind sie doch notwendigerweise auch Ausdruck dessen, was für politisch korrekt gehalten wird, nicht aber Ergebnis eines privilegierten normativen Wissens. Gerade in Deutschland gibt es einen »Elitenkonsens« der Meinungsführer gegen ärztliche Suizidbeihilfe 379 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Bettina Schöne-Seifert

(und aktive Sterbehilfe auf Verlangen), dem wohl auch Ärzte »gehorchen« – zumal dann, wenn ärztliche Suizidbeihilfe nach geltendem Standesrecht als unärztlich gebrandmarkt ist. In anderen westlichen Ländern ist man hier deutlich liberaler. Dass ärztliche Suizidbeihilfe nicht ohne hierzu bereite Ärzte praktiziert werden kann, versteht sich von selbst, wird aber so lange nicht zu einem praktischen Problem, wie hinreichend viele Mediziner diese Möglichkeit gutheißen – was offenbar in allen Gesellschaften der Fall ist. Und dass Ärzte in dieser Frage ihrem eigenen Gewissen folgen müssen, wurde bereits als zweite Selbstverständlichkeit betont. Ablehnung oder Befürwortung ärztlicher Suizidbeihilfe scheint in vielen Fällen weniger von vernünftigen Daten und Argumenten gespeist zu sein als von intuitiven Bildern und Weltanschauungen: hier vom Arzt als kaltblütigem Verschreiber von Giftpillen, dort vom Mediziner als warmherzigem Begleiter seines Patienten in existentiellen Situationen. Dafür, das letztgenannte Bild real zu machen, gibt es gute Gründe und vernünftige Wege. Einer davon ist die Akzeptanz von ärztlich assistiertem Suizid.

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381 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik Dieter Birnbacher

1.

Die (nahezu) einhellige Ablehnung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist eine Reihe von Überzeugungen, die keineswegs allgemein geteilt werden, für die ich hier aber nicht mehr eigens argumentieren möchte: 1.

2.

dass ein Medizinsystem mit einer etablierten, aber streng kontrollierten Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in Situationen, in denen ein Patient Sterbehilfe verlangt, einer Praxis der aktiven Sterbehilfe ethisch vorzuziehen ist; dass eine etablierte, aber streng kontrollierte Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid ethisch einem Medizinsystem vorzuziehen ist, das für eine ärztliche Beihilfe zum Suizid keinen Raum lässt oder diese verbietet.

Ein Patient, der sich in einer Lage befindet, in der er unerträglich und ohne Aussicht auf Besserung leidet, sollte eine Wahl haben. Er sollte die Chance haben, in der letzten Phase seines Lebens die Option zu wählen, die seinen persönlichen Überzeugungen und Einstellungen entspricht, anstatt auf die Option beschränkt zu bleiben, die ihm seitens der Medizin am ehesten zur Verfügung gestellt wird: die Option einer terminalen Sedierung. Obwohl die terminale Sedierung, ein zeitlich länger ausgedehnter Sterbeprozess in einem Zustand reduzierten Bewusstseins oder vollständiger Bewusstlosigkeit, einem Patienten die Möglichkeit gibt, ohne schweres Leiden zu sterben, bleibt dennoch zu berücksichtigen, dass eine große Zahl von Patienten, die sich in einer entsprechenden Situation befinden, dieses Angebot ausschlagen oder es lediglich als zweitbeste Wahl akzeptieren. Aus der Sicht dieser Patienten hat die terminale Sedierung vor allem den Nachteil, sehr viel weniger als ein Patientensuizid den autonomen 382 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

Willen des Patienten zum Ausdruck zu bringen. Außerdem bedeutet eine terminale Sedierung vielfach, den Verwandten und Freunden die Aussicht auf einen länger andauernden Sterbeprozess zuzumuten. Die Aussichten darauf, dass eine Praxis der kontrollierten ärztlichen Beihilfe zum Suizid in Sterbehilfefällen Wirklichkeit wird, sind allerdings alles andere als gut. Gegenwärtig ist die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der weit überwiegenden Zahl der Länder ausdrücklich verboten, entweder durch strafrechtliche Normen oder durch die milderen, aber in ihrer Wirkung den strafrechtlichen in nichts nachstehenden Sanktionen des Berufsrechts und der Berufsethik. In einer Dissertation aus dem Jahre 1990 hat der deutsche Jurist Karl Michael von Lutterotti die Standeskodizes der wichtigsten Länder durchforstet und keinen gefunden, der die ärztliche Beihilfe zum Suizid duldet, mit Ausnahme der Niederlande, wo zu jener Zeit das rechtliche Verbot der ärztlichen Beihilfe zum Suizid allerdings weiter in Kraft war. 1 Auf der anderen Seite zeigen sich beträchtliche Unterschiede nicht nur in der Strenge, mit der die ärztliche Beihilfe zum Suizid in verschiedenen Gesellschaften geahndet wird, sondern auch in den Sanktionsmechanismen. Interessanterweise findet man die auffälligsten Unterschiede zwischen benachbarten europäischen Ländern. Während die ärztliche Beihilfe zum Suizid in Sterbehilfesituationen in den Niederlanden und in Belgien inzwischen nicht mehr strafrechtlich sanktioniert ist und in der Schweiz nur dann unter Strafandrohung steht, wenn sie aus eigennützigen Motiven erfolgt, ist sogar die versuchte Beihilfe in Österreich strafbar, mit der Folge, dass der Tätigkeit von Sterbehilfegesellschaften in Österreich engere Grenzen gezogen sind als in den meisten anderen europäischen Ländern. In Deutschland ist die Beihilfe zum Suizid nicht strafbedroht, infolge einer Rechtstradition, nach der die Teilnahme an einer Handlung nur dann strafbar ist, wenn die Handlung selbst strafbar ist. Niedergelegt ist dies in dem Grundsatz: Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat. 2

1 Karl Michael von Lutterotti: Ärztliche Handlungsanleitungen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod in strafrechtlicher Sicht, Diss., Freiburg i. Br. 1990. 2 § 27 Abs. 1 StGB.

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Diese allgemeine Erlaubnis gilt im Prinzip auch für Ärzte. In der Praxis ist die rechtliche Situation allerdings komplizierter. Obwohl die Beihilfe als solche rechtlich zulässig ist, ist nach einer verbreiteten, aber zunehmend bestrittenen Rechtsmeinung der Arzt verpflichtet, den Tod eines Patienten zu verhindern, sobald der Patient nach der Begehung des Suizids bewusstlos geworden ist. Dieser sogenannte »Wechsel der Tatherrschaft« läuft allerdings auf das Paradox hinaus, dass der Arzt sich zwar nicht mit der Beihilfe zum Suizid, wohl aber eventuell damit strafbar macht, dass er den Patienten, an dessen Suizid er mitgewirkt hat, nach Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht reanimiert. Sie führt auch zu dem psychologischen Paradox, dass der Arzt gut beraten ist, den Patienten in seinem selbst auferlegten Sterben zur Vermeidung rechtlicher Komplikationen unbegleitet zu lassen, mit der Folge, dass der Patient in einer Situation allein bleibt, in der er mehr als in jeder anderen auf menschliche Teilnahme angewiesen ist. In der Geschichte der einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer ist das Verdikt über die ärztliche Beihilfe zum Suizid ein sich durchhaltendes Thema. Die Richtlinien für die Sterbehilfe aus dem Jahre 1993 stellen ausdrücklich fest, dass die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung eines Patienten »unärztlich« sei. Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung von 1998 und 2004 haben diese Wertung übernommen, wenn auch in leicht abgewandelten Formulierungen. Der entsprechende Satz der Präambel der Grundsätze von 2004 lautet: Aktive Sterbehilfe ist unzulässig und mit Strafe bedroht, auch dann, wenn sie auf Verlangen des Patienten geschieht. Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein. 3

Inhaltlich stimmen diese Grundsätze mit der Erklärung des Weltärztebundes über die ärztliche Beihilfe zum Suizid von 1992 überein: Physician-assisted suicide, like euthanasia, is unethical and must be condemned by the medical profession. Where the assistance of the physician is intentionally and deliberately directed at enabling an individual to end his or her own life, the physician acts unethically. 4 Bundesärztekammer: »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, Deutsches Ärzteblatt 101 (2004), A 1298–1299. 4 World Medical Association: »WMA Statement on Physician-Assisted Suicide. Adopted by the 44th World Medical Assembly Marbella, Spain, September 1992, editorially revised by the 70th WMA General Assembly, Tbilisi, October 2019« hhttps:// 3

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Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

Die beiden Dokumente haben jedoch eine sehr unterschiedliche Funktion. Anders als die Deklaration des Weltärztebundes, die eine Deklaration ist und nichts weiter, ziehen die Grundsätze der Bundesärztekammer ähnlich wie die anderer nationaler Ärzteverbände Sanktionen nach sich. Auch wenn die Grundsätze keine Sanktionen direkt rechtfertigen, spielen sie eine wichtige indirekte Rolle. Indem sie bestimmen, was als »ethisch« und was als »unethisch« für einen Arzt gilt, dienen sie der semantischen Auffüllung der Generalklauseln der Berufskodizes, nach der Ärzte Sanktionen zu erwarten haben, wenn sie in »unethischer« oder »unwürdiger« Weise handeln. Die Bezugnahme auf die mögliche Strafbarkeit der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in den Grundsätzen ist also mehrdeutig. Der Satz »Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein« lässt offen, ob er sich auf das Faktum bezieht, dass die ärztliche Beihilfe zum Suizid ein Strafbarkeitsrisiko beinhaltet, oder ob er dieses Risiko selbst erst setzt, indem er selbst diese Sanktionen androht. Auch wenn der normative Status der »Grundsätze« niedriger zu veranschlagen ist als der Status von Richtlinien, ist diese letztere Interpretation nicht ausgeschlossen. Indem die Grundsätze die ärztliche Beihilfe zum Suizid als »unethisch« kennzeichnen, bedrohen sie deutsche Ärzte nicht nur mit einem Verlust ihrer beruflichen Reputation, sondern auch mit dem Risiko, sich vor einem Berufsgericht verantworten zu müssen und mit einer abgestuften Skala von Strafsanktionen belegt zu werden, mit dem Verlust der Approbation als höchster Eskalationsstufe. Dass diese Drohung nicht nur symbolisch ist, hat u. a. der Fall von Julius Hackethal im Jahr 1988 gezeigt. Hackethal hatte nicht nur bei einer seiner Patientinnen ärztliche Beihilfe zum Suizid geleistet, sondern hatte dies auch in mehr oder weniger demonstrativer Absicht öffentlich gemacht. Hackethal musste sich daraufhin wegen »unärztlichen Verhaltens« vor dem Standesgericht der Bayerischen Ärztekammer verantworten, mit dem Ergebnis, dass das Gericht den einschlägigen Behörden empfahl, Hackethal die Approbation zu entziehen. (Nach deutschem Recht kann die Ärztekammer nicht selbst die Approbation entziehen.) Allerdings folgten die bayerischen Behörden der Empfehlung nicht, wohl auch deshalb, weil Hackethal schriftlich zusicherte, sich zukünftig nicht mehr an gegen die berufswww.wma.net/policies-post/wma-statement-on-physician-assisted-suicide/i (letzter Zugriff 6. 11. 2019).

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rechtlichen Richtlinien verstoßenden Sterbehilfehandlungen zu beteiligen. 5 Infolge des Verdikts über die ärztliche Beihilfe zum Suizid in den Grundsätzen (früher: den Richtlinien) der Bundesärztekammer und insbesondere seit dem 2011 eingeführten ausdrücklichen berufsrechtlichen Verbot in § 16 der Musterberufsordnung 6 unterscheidet sich die Situation der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in Deutschland von der Situation in Ländern, in denen die ärztliche Suizidbeihilfe strafrechtlich verboten ist, nur unwesentlich. Dagegen herrscht in der Schweiz eine liberalere Auffassung vor. Obwohl Deutschland und die Schweiz in der rechtlichen Normierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid ähnliche Wege gehen, unterscheiden sich beide Länder in dem Umfang, in dem eine ärztliche Beihilfe zum Suizid in der Praxis toleriert wird. Der Grund dafür besteht nicht darin, dass – wie man zunächst denken könnte – die ärztliche Beihilfe zum Suizid in den Kodizes dieser Länder unterschiedlich behandelt wird, sondern darin, dass die Normen dieser Kodizes unterschiedlich interpretiert werden. Während die Normen des deutschen ärztlichen Kodex im Sinne einer kategorischen Ablehnung gedeutet werden, sind die dem Wortlaut nach ähnlichen Passagen des schweizerischen Kodexes in den vergangenen Jahren »liberal« interpretiert worden, d. h. in einem Sinne, der die Entscheidung zur Beihilfe der Gewissensentscheidung des individuellen Arztes überlässt. Einer der Berater der Gruppe, die die 2004 veröffentlichten Richtlinien der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften verfasste, der Zürcher Theologe Johannes Fischer, argumentiert, dass die Akademie Ärzten u. a. deshalb nicht verbieten kann, ärztliche Beihilfe zum Suizid zu leisten, weil diese Praxis für jeden schweizerischen Bürger straffrei sei. 7 Dieses Argument scheint auch die Grundlage der großzügigen Art und Weise gewesen zu sein, in der die Schweizerische Akademie bisher die Kooperation von Ärzten mit EXIT und anderen schweizeVgl. Hans-Georg Koch: »Länderbericht Bundesrepublik Deutschland«. in: A. Eser/ ders. (Hg.), Materialien zur Sterbehilfe. Eine internationale Dokumentation, Freiburg i. Br. 1991, S. 31–194, hier S. 49. 6 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte in der Fassung der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt, geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14. 12. 2018. Deutsches Ärzteblatt 1. 2. 2019, A 1- A 9, hier A 5. 7 Johannes Fischer: »Die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften zur Suizidbeihilfe«, Ethik in der Medizin 16 (2004), S. 165–169, hier S. 168. 5

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Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

rischen Sterbehilfegesellschaften geduldet hat, trotz der Bestimmung der einschlägigen Richtlinien, dass die ärztliche Beihilfe zum Suizid »kein Teil der ärztlichen Tätigkeit« sei. 8 Diese liberale Interpretation wird auch durch die Empfehlungen zur Suizidbeihilfe der schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin vom April 2005 bestätigt: Würde die Suizidbeihilfe zum ärztlichen Auftrag gehören, so wäre jeder Arzt dazu verpflichtet, wenn ein urteilsfähiger Patient ihn darum bittet. 9

D. h. der Arzt ist zur Unterlassung einer Beihilfe zum Suizid nicht verpflichtet. Diese Empfehlungen gehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern, dass Ärzte und andere im Gesundheitswesen Beschäftigte keine moralische Missbilligung durch ihren Berufsstand erfahren sollten. 10 Was noch beachtlicher ist: Diese Kommission hat dankenswerterweise anerkannt, dass Suizidwünsche auch von psychisch Kranken nicht in jedem Fall als unbeachtlich gelten können, etwa dann nicht, wenn sie in einem »symptomfreien Intervall einer bisher chronisch verlaufenden Krankheit auftreten« und der Suizidwunsch nicht mehr nur als direkter Ausdruck der Krankheit gelten kann. 11

2.

Uneindeutigkeiten

Es ist auffällig, dass die Formulierungen, mit denen die ärztliche Beihilfe zum Suizid in einigen Richtlinien als standeswidrig verurteilt wird, nicht nur im Fall der Schweiz mehr Spielräume für Interpretationen lassen als die Formulierungen, mit denen die aktive Sterbehilfe ausgeschlossen wird. Viele dieser Deklarationen vermitteln den Eindruck, mehr oder weniger gezielt zweideutig formuliert zu sein. 12 Typische Beispiele sind neben der Aussage der schweizerischen RichtSchweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: »Medizinisch-ethische Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerstgeschädigter Patienten«, Schweizerische Ärztezeitung 76 (1995), S. 1223–1225, hier S. 1224. 9 Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE), Schweiz: »Beihilfe zum Suizid. Empfehlungen zum Thema Suizidbeihilfe«, Jahrbuch für Ethik und Wissenschaft 11 (2006), S. 491–497, hier S. 495. 10 Ebd., S. 496. 11 Ebd., S. 494. 12 Vgl. Carlo Foppa: Svizzera: »il tabù della morte tra suicido assistito ed eutanasia«, Bioetica 12 (2004), S. 588–608, hier S. 599 ff. 8

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linien von 1995 und 2004, die ärztliche Beihilfe zum Suizid sei »kein Teil der ärztlichen Tätigkeit«, die Aussage der Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie von 1996: Wenngleich Selbsttötung in unserem Land nicht im Gegensatz zu geltendem Recht steht und damit diesbezügliche Beratung nicht strafbar ist, gehört [die Herausgabe oder Verbreitung von Anleitungen zur Selbsttötung] nicht zu dem ärztlichen Behandlungsauftrag. 13

Beide Aussagen sind zweideutig, insofern sie einerseits so verstanden werden können, dass sie dem Arzt eine Beihilfe zum Suizid verbieten, andererseits so, dass sie eine Verpflichtung des Arztes, einer entsprechenden Bitte eines Patienten nachzukommen, verneinen. Der ersten Interpretation nach ist es dem Arzt verboten, einem solchen Wunsch nachzukommen; der zweiten Interpretation nach hat der Arzt einen Ermessensspielraum. Für beide Interpretationen finden sich Parallelen in anderen relevanten deutschen Richtlinien. Der restriktiven Interpretation entspricht es, wenn die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie in ihren Richtlinien von 1979 schreibt: Dem ärztlichen Auftrag widerspricht auch die aktive Mitwirkung bei der Selbsttötung, z. B. durch Überlassen von Tötungsmitteln. Eine grundsätzliche sittliche Wertung der Selbsttötung soll damit nicht verbunden sein. 14

Dagegen entspricht der liberaleren Interpretation die Resolution des Deutschen Ärztetags von 1981: Nach Auffassung des Deutschen Ärztetages kann kein Arzt dazu verpflichtet werden, einem Menschen den Wunsch auf Gnadentod zu erfüllen. 15

Die liberale Interpretation der Aussage, nach der die ärztliche Beihilfe zum Suizid »kein Teil der ärztlichen Tätigkeit« ist, ist, wie gesagt, charakteristisch für die Schweiz. Es überrascht nicht, dass sie auch in Deutsche Gesellschaft für Chirurgie: »Leitlinie zum Umfang und zur Begrenzung der ärztlichen Behandlungspflicht in der Chirurgie«, in: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (Hg.): Mitteilungen 5 (1996), S. 364–371. 14 Deutsche Gesellschaft für Chirurgie: »Resolution zur Behandlung Todkranker und Sterbender«, Anästhesist 28 (1979), S. 357. 15 Vorstand der Bundesärztekammer/Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer/Zentrale Kommission der Bundesärztekammer zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Reproduktionsmedizin, Forschung an menschlichen Embryonen und Gentherapie (Hg.): Weißbuch Anfang und Ende menschlichen Lebens – Medizinischer Fortschritt und ärztliche Ethik. Köln 1988, hier S. 164 13

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Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

den neuesten Schweizer Richtlinien wiederaufgenommen worden ist. Diese Richtlinien betreten allerdings insofern Neuland, als sie die Entscheidung über eine ärztliche Beihilfe zum Suizid ausdrücklich dem einzelnen Arzt überlassen und damit die tatsächliche Schweizer Praxis in gewisser Weise legitimieren. Der Text lautet im Einzelnen: Gemäss Art. 115 des Strafgesetzbuches ist die Beihilfe zum Suizid straflos, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe erfolgt. Dies gilt für alle Personen. […] Die Rolle des Arztes besteht bei Patienten am Lebensende darin, Symptome zu lindern und den Patienten zu begleiten. Es ist nicht seine Aufgabe, von sich aus Suizidbeihilfe anzubieten, sondern er ist im Gegenteil dazu verpflichtet, allfälligen Suizidwünschen zugrundeliegende Leiden nach Möglichkeit zu lindern. Trotzdem kann am Lebensende in einer für den Betroffenen unerträglichen Situation der Wunsch nach Suizidbeihilfe entstehen und dauerhaft bestehen bleiben. In dieser Grenzsituation kann für den Arzt ein schwer lösbarer Konflikt entstehen. Auf der einen Seite ist die Beihilfe zum Suizid nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit, weil sie den Zielen der Medizin widerspricht. Auf der anderen Seite ist die Achtung des Patientenwillens grundlegend für die Arzt-Patienten-Beziehung. Diese Dilemmasituation erfordert eine persönliche Gewissensentscheidung des Arztes. Die Entscheidung, im Einzelfall Beihilfe zum Suizid zu leisten, ist als solche zu respektieren. In jedem Fall hat der Arzt das Recht, Suizidbeihilfe abzulehnen. Entschliesst er sich zu einer Beihilfe zum Suizid, trägt er die Verantwortung für die Prüfung der folgenden Voraussetzungen: • Die Erkrankung des Patienten rechtfertigt die Annahme, dass das Lebensende nahe ist. • Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. • Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äusseren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer unabhängigen Drittperson überprüft, wobei diese nicht zwingend ein Arzt sein muss. • Der letzte Akt der zum Tode führenden Handlung muss in jedem Fall durch den Patienten selbst durchgeführt werden. 16

Das Neue an diesen Richtlinien ist, dass zum ersten Mal anerkannt wird, dass die Beihilfe zum Suizid de facto Teil der ärztlichen TätigSchweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) (Hg.): »Medizinisch-ethische Richtlinien Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende«, 6. Aufl. Basel 2014, hhttps://www.samw.ch/dam/jcr:8b392d08-568d-4d 1e-a8ba-55cbddf5bcc3/richtlinien_samw_lebensende.pdfi (letzter Zugriff 6. 11. 2019).

16

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keit ist. Auch wenn die Entscheidung, an einer Beihilfe zum Suizid teilzunehmen, dem Gewissen des einzelnen Arztes überlassen wird, lässt sich doch die Tatsache, dass diese Tätigkeit explizit reguliert wird, als Anerkenntnis dieser Praxis verstehen. Gleichzeitig sind die neuen Richtlinien aber ebenfalls nicht ohne Zweideutigkeiten. Auf der einen Seite stellen die Richtlinien klar, dass die Aussage, dass die Beihilfe zum Suizid »nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit« sei, nicht als ein Verbot der ärztlichen Beihilfe zum Suizid verstanden werden darf, sondern lediglich als eine Verneinung einer entsprechenden Verpflichtung. Andererseits gehen sie weiterhin davon aus, dass die ärztliche Beihilfe zum Suizid mit »den Zielen der Medizin« im Konflikt liegt. Der einen Seite der Zweideutigkeit entspricht, dass die Richtlinien ausdrücklich eine Anzahl von Tätigkeiten aufzählen, die nicht nur Teil der typischen ärztlichen Tätigkeiten sind, sondern auch Teil der ärztlichen Pflichten am Lebensende, nämlich Therapie, Leidensminderung und Sterbebegleitung. Damit soll offensichtlich impliziert werden, dass die ärztliche Beihilfe zum Suizid auch dann, wenn sie in den Bereich ärztlicher Kompetenz fällt, nicht in den Bereich ärztlicher Pflichten fällt. Andererseits scheinen die Richtlinien aber davon auszugehen, dass der Arzt, der mit einer Patientenbitte um Beihilfe zum Suizid konfrontiert ist, sich notwendiger- oder typischerweise in einem »schwer lösbaren Konflikt« befindet. Da es die Richtlinien sorgfältig vermeiden, die Beihilfe zum Suizid geradewegs zu verbieten, kann dieser Konflikt kein Konflikt sein, der zwischen den Normen des Berufskodexes selbst besteht. Um was für einen Konflikt handelt es sich dann? Offensichtlich um den Konflikt zwischen einem Prinzip der Respektierung der Patientenautonomie – diese Pflicht wird in den Richtlinien durchweg vorausgesetzt – und Prinzipien der persönlichen Moral des Arztes, die mit einer solchen Respektierung im besonderen Fall unvereinbar sind. Zu einem Konflikt kann es auf zwei Weisen kommen: erstens indem persönliche Normen, die eine aktive Mitwirkung an einer Sterbehilfehandlung verbieten, mit einem moralischen Recht in Konflikt kommen, einen Patientensuizid im Falle eines irreversiblen Leidenszustands zu unterstützen; zweitens indem persönliche Normen, die eine aktive Mitwirkung an einer Sterbehilfehandlung verbieten, mit einer moralischen Pflicht in Konflikt kommen, einen Patientensuizid im Fall eines irreversiblen Leidenszustands zu unterstützen. Die Richtlinien geben nicht an, welche Art von Konflikt gemeint ist. Die Formulierungen der Richtlinien legen allerdings die zweite Lesart 390 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

nahe, also die eines Konflikts zwischen einem moralischen Verbot und einer moralischen Pflicht: als ein Konflikt zwischen einem Prinzip der persönlichen Moral, das eine Beihilfe zum Suizid ausschließt, und einem Prinzip der Berufsmoral, das eine solche Beihilfe nicht nur zulässt, sondern fordert. Implizit wird damit angenommen, dass eine berufliche Verpflichtung zur Respektierung der Autonomie des Patienten nicht nur in dem negativen Sinne besteht, den Patienten nicht gegen seinen erklärten oder mutmaßlichen Willen zu behandeln, sondern auch in dem positiven Sinn, den Patienten aktiv darin zu unterstützen, seine autonome Entscheidung zu verwirklichen. Nur dies kann mit der Feststellung der Richtlinien gemeint sein, dass der Arzt »den Willen des Patienten zu achten« hat. Trifft diese Interpretation zu, stellen die Schweizer Richtlinien – möglicherweise ohne es zu beabsichtigen – einen entscheidenden medizinethischen Fortschritt dar. Denn das zugrunde liegende Prinzip scheint außerordentlich vernünftig. Es scheint in der Tat überzeugend, für die Situation des Sterbehilfeverlangens nicht nur ein moralisches Recht, sondern eine moralische Pflicht des Arztes zu postulieren, den Patienten in der Verwirklichung seiner autonomen Entscheidung zu unterstützen, sofern der Patient auf diese Unterstützung zur Verwirklichung seines Willens angewiesen ist. Diese letztere Bedingung ist jedoch in vielen Situationen am Lebensende erfüllt. Sobald der Patient nicht mehr in der Lage ist, seine Autonomie effektiv zu verwirklichen, läuft das Zugeständnis der Patientenautonomie leer. Dem Patienten würde zwar Autonomie zugestanden, er hätte jedoch mangels realistischer Möglichkeiten ihrer Verwirklichung wenig davon. Auf der anderen Seite kann eine solche Verpflichtung zur Effektivierung der Patientenautonomie immer dann nicht gelten, wenn der Patient seine Autonomie zum eigenen Schaden geltend macht. Auch dieser in den Richtlinien implizite Gedanke wird durch die Empfehlungen der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission bestätigt: Der wohl erwogene persönliche Entschluss zum Suizid soll nicht an Regeln einer Institution, dem persönlichen Gewissensentscheid eines einzelnen Arztes oder einer einzelnen Betreuungsgruppe scheitern müssen. Es sollte die Möglichkeit gewährt werden, auf Wunsch einem anderen Arzt zugewiesen oder in eine andere Institution verlegt zu werden. 17 17

Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE), Schweiz:

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Die vorgenommene Einschränkung bedeutet allerdings, dass die Verpflichtung, die Wünsche des Patienten in einer Situation zu respektieren, in denen eine Beihilfe zum Suizid zur Debatte steht, nicht schlicht aus einer allgemeinen Pflicht des Arztes folgt, die Wünsche seines Patienten zu respektieren. In diesem Punkt sind die Formulierungen der Richtlinien zumindest missverständlich. Eine derartige pauschale Verpflichtung wird weder von der ärztlichen Berufsmoral noch in der allgemeinen Moral anerkannt. Der Arzt ist nicht verpflichtet, den Wünschen des Patienten unabhängig davon nachzukommen, wie vernünftig diese sind, wie weit eine Erfüllung dieser Wünsche im Interesse des Patienten ist und wie weit davon möglicherweise Dritte negativ betroffen sind. Das ist nicht die einzige Zweideutigkeit, die in den einschlägigen Richtlinien auffällt. Eine andere ist die, dass die ärztliche Beihilfe zum Suizid zwar abgelehnt wird, dass diese Ablehnung aber durch Kautelen und Einschränkungen gleichzeitig beträchtlich relativiert wird. Einige Richtlinien geben an, dass das Thema unter Ärzten zu kontrovers beurteilt wird, um ein endgültiges Urteil abzugeben oder dass, obwohl die Richtlinien die ärztliche Beihilfe zum Suizid ablehnen, diese Ablehnung in der nahen Zukunft möglicherweise zur Revision ansteht. Eine Zweideutigkeit dieser Art ist charakteristisch z. B. für die Richtlinien der American Medical Association von 1992: While in highly sympathetic cases physician assisted suicide may seem to constitute beneficent care, due to the potential for grave harm the medical profession cannot condone physician-assisted suicide at this time. … Physicians must not perform euthanasia or participate in assisted suicide. A more careful examination of the issue is necessary. 18

Obwohl die ärztliche Beihilfe zum Suizid kategorisch abgelehnt wird, wird die Ablehnung durch modifizierende Zusätze gleichzeitig geschwächt.

»Beihilfe zum Suizid. Empfehlungen zum Thema Suizidbeihilfe«, Jahrbuch für Ethik und Wissenschaft 11 (2006), S. 491–497, hier S. 495. 18 Council on Ethical and Judicial Affairs/American Medical Association: »Decisions near the end of life«, JAMA 267 (1992), S. 2229–2233, hier S. 2233.

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Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

3.

Rechtfertigungen

Sucht man Rechtfertigungen für die Beurteilungen der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in den jeweiligen Richtlinien, wird man nur selten fündig. Ganz offensichtlich sind die Autoren dieser Richtlinien überwiegend der Meinung, dass die Angabe von Gründen in diesem speziellen Fall unnötig ist, insbesondere auf dem Hintergrund des Verbots der Beihilfe zum Suizid in der herkömmlichen medizinischen Deontologie, in der hippokratischen Tradition und der herkömmlichen christlichen Moral. In Deutschland findet man in den Richtlinien keinerlei Begründungen, und auch die Äußerungen der für die Richtlinien Verantwortlichen sind in diesem Punkt denkbar lakonisch. In einer Publikation von Eggert Beleites, dem Vorsitzenden der Kommission der Bundesärztekammer, die die entsprechenden Richtlinien erarbeitet hat, heißt es: Eine gesetzliche Regelung der Sterbebegleitung und die Freigabe des ärztlich assistierten Suizids ist […] aus Sicht der verfaßten Ärzteschaft nicht sinnvoll. 19

In anderen Fällen werden hochgradig unspezifische konsequenzialistische Argumente angegeben, etwa in dem erklärenden Kommentar zu den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften von 1995: Die Befürchtung, am Lebensende schweren Schmerzzuständen preisgegeben zu sein und der Umgebung zur Last zu fallen, verführt zuweilen zum Wunsch, sich für eine solche Situation die Selbstmordhilfe Dritter zu sichern. Kompetent angewandte palliative und analgetische Maßnahmen können indessen in der Regel vor unnötigem Leiden bewahren und diese Angst mindern. Obwohl Suizidhilfe, wenn sie ohne selbstsüchtige Beweggründe geleistet wird, nicht strafbar ist (vgl. Art. 115 des Strafgesetzbuches), sind aus ärztlicher Sicht entschiedene Vorbehalte angebracht. Neben einer religiös oder weltanschaulich begründeten Ablehnung des Suizids, die in den persönlichen Gewissensentscheid des verantwortlichen Arztes einfliessen mag, sind die Missbrauchsgefahren augenfällig, die aus der generellen Akzeptanz ärztlicher Suizidhilfe resultieren müssten. 20

Eggert Beleites: »Über die Diskussion in der deutschen Ärzteschaft zum Thema ›Aktive Sterbehilfe‹«, in: K.-M. Kodalle (Hg.): Das Recht auf ein Sterben in Würde. Würzburg 2003. 20 Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: »Medizinisch-ethi19

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Diese Begründung muss allerdings eher als die Verweigerung einer Begründung denn als eine echte Begründung gelten. Es ist keineswegs augenfällig, was die »augenfälligen« Missbrauchsgefahren im Einzelnen sind. Man darf vermuten, dass hier vor allem an das Risiko gedacht wird, dass eine ärztliche Beihilfe zum Suizid in anderen Fällen als denen eines unerträglichen und irreversiblen Leidens geleistet wird und dass eine Lockerung des Verbots den Einstieg in eine Praxis bedeuten könnte, in der Ärzte suizidale Patienten bei der Ausführung ihres Vorhabens in Fällen unterstützen, in denen eher Suizidprävention indiziert wäre. Spezifischere konsequenzialistische Argumente werden in den Richtlinien des Council on Ethical and Judicial Affairs der American Medical Association von 1992 angegeben. Diese Argumente beziehen sich vor allem auf drei Arten von Risiken: erstens das Risiko, dass der Patient unter Druck gesetzt werden könnte, eine ärztliche Beihilfe zum Suizid in Anspruch zu nehmen: Physician assisted suicide […] has many of the same societal risks as euthanasia, including the potential for coercive financial and societal pressures on patients to choose suicide. 21

Zweitens das Risiko, dass eine Beihilfe zum Suizid in Fällen ausgeführt wird, die nicht den in potenziellen Richtlinien niedergelegten Kriterien genügen und in denen schwierig festzustellen ist, ob die jeweiligen Kriterien erfüllt sind: Determining the criteria for assisting a patient’s suicide and determining whether a particular patient meets the criteria are as problematic as deciding who may receive euthanasia. 22

Beide Argumente sind aus der öffentlichen Diskussion wohl bekannt, nicht nur in den Vereinigen Staaten. 23 Sind diese konsequenzialistischen Argumente gute Argumente? sche Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerstgeschädigter Patienten«, Schweizerische Ärztezeitung 76 (1995), S. 1223–1225, hier S. 1225. 21 Council on Ethical and Judicial Affairs/American Medical Association: »Decisions near the end of life«, JAMA 267 (1992), S. 2229–2233, hier S. 2233. 22 Ebd. 23 Siehe dazu z. B. Jochen Vollmann: »Die deutsche Diskussion über ärztliche Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid. Eine Übersicht medizinethischer und rechtlicher Aspekte«, in: B. Gordijn/H. ten Have (Hg.): Medizinethik und Kultur. Grenzen medizinischen Handelns in Deutschland und den Niederlanden, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, S. 31–70, hier S. 54 ff.

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Es ist zunächst einzuräumen, dass eine Lockerung des Verbots der ärztlichen Beihilfe zum Suizid zwangsläufig mit einer Absenkung der Schwelle und einem gewissen Missbrauchsrisiko verbunden ist, speziell dem Risiko, dass eine Suizidbeihilfe auch in anderen als der ursprünglich angezielten Art von Situation geleistet wird. Die Ärzte könnten bei einer entsprechenden Erlaubnis versucht sein, Suizidbeihilfe auch etwa bei Lebensmüden ohne terminale Erkrankung oder bei neurotisch oder psychotisch bedingter Suizidalität zu leisten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die ärztliche Beihilfe zum Suizid deutlich von ärztlicherseits weitgehend akzeptierten Praktiken wie der terminalen Sedierung. Obwohl bei der ärztlichen Beihilfe zum Suizid die Selbstbestimmung des Patienten sehr viel eher gesichert scheint als bei der terminalen Sedierung, da die »Tatherrschaft« am point of no return beim Patienten und nicht beim Arzt liegt, ist bei dieser eine entsprechende Ausweitung weniger zu befürchten. Auch wenn es theoretisch bei der terminalen Sedierung weitergehende Missbrauchsmöglichkeiten gibt als bei der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, ist doch die Erwartung, dass es wirklich dazu kommt, sehr viel weniger realistisch. Es ist z. B. nicht zu erwarten, dass ein Arzt auf die Idee kommen könnte, einen physisch ganz und gar Gesunden zu sedieren, um ihm einen Tod durch Verdursten oder Verhungern zu ermöglichen. Es ist viel weniger ausgeschlossen, dass ein Arzt einem Gesunden ein Mittel verschafft, um ihm einen sicheren und schnellen Suizid – etwa aus Lebensmüdigkeit – zu ermöglichen. Diese Risikoargumente scheinen allerdings nicht durchschlagend. Sie sind nur genau so weit plausibel, als 1.

2.

es unmöglich ist, eine potenzielle Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid zu kontrollieren und sie auf klare Fälle eines irreversiblen Leidenszustands zu begrenzen und die möglicherweise dann noch verbleibenden Risiken einer missbräuchlichen Anwendung als so gravierend gelten müssen, dass sie den durch die Erlaubnis des ärztlichen assistierten Suizids gestifteten Nutzen für sterbewillige Patienten überwiegen.

Ich halte es für fraglich, ob diese Bedingungen erfüllt sind. Die bisherige Praxis in Oregon hat gezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, eine Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid zu kontrollieren und zu begrenzen. Das Oregon-Experiment zeigt auch, dass das Risiko, 395 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dass Patienten dazu gedrängt werden, assistierten Suizid zu verlangen, nicht größer ist als bei weithin anerkannten Praktiken am Ende des Lebens wie dem Behandlungsabbruch. Darüber hinaus ist es alles andere als evident, dass der durch eine begrenzte Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid gestiftete Nutzen durch unvermeidliche Fälle von Missbrauch in Frage gestellt wird. Dass der Nutzen in der Tat substanziell ist, wird – ironischerweise – in dem erklärenden Kommentar zu den Schweizer Richtlinien von 1995 durchaus zugestanden. Denn es wird festgestellt, dass Schmerzzustände jeglicher Art am Lebensende, die viele Patienten befürchten, […] in nahezu allen Fällen erfolgreich bekämpft werden (können). 24

Wenn diese Maßnahmen in »nahezu allen Fällen erfolgreich« sind, was ist mit den Fällen, in denen sie nicht erfolgreich sind? Wie können die Autoren der Richtlinie sicher sein, dass die Nichtverfügbarkeit von Sterbehilfe und assistiertem Suizid in diesen Fällen – gängige Zahlen sind 5–10 % aller Krebskranken – ethisch akzeptabler ist als ein begrenztes Missbrauchsrisiko? Bei der gebotenen Güterabwägung kann es darüber hinaus nicht nur auf den unmittelbaren Nutzen der geübten Praxis ankommen. Auch der indirekte Nutzen muss berücksichtigt werden, insbesondere auch der Nutzen der Beruhigung darüber, ggf. auf eine ärztliche Beihilfe zum Suizid zurückgreifen zu können. Der Nutzen aus dieser Beruhigung muss gegen die Furcht abgewogen werden, diese Beihilfe ggf. missbräuchlicherweise bei einem irrationalen Suizid angeboten zu bekommen und diesem Angebot nicht widerstehen zu können – eine Abwägung, die in der Regel zugunsten der Beruhigung ausfallen dürfte. Wenn aber die in den Richtlinien erwähnten konsequenzialistischen Argumente am Ende unzureichend sind, das Verdikt über die ärztliche Beihilfe zum Suizid zu begründen, stehen dem möglicherweise überzeugendere deontologische Argumente gegenüber? In den offiziellen Verlautbarungen wird nur selten auf deontologische Argumente Bezug genommen, aber eins spielt eine gewisse Rolle in den Richtlinien der American Medical Association:

Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften: »Medizinisch-ethische Richtlinien für die ärztliche Betreuung sterbender und zerebral schwerstgeschädigter Patienten«, Schweizerische Ärztezeitung 76 (1995), S. 1223–1225, hier S. 1225.

24

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Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

Physician assisted suicide, like euthanasia, is contrary to the prohibition against using the tools of medicine to cause a patient’s death. 25

Dieses Argument – das nachhallt in der Passage der jüngsten schweizerischen Richtlinien, der zufolge »eine Beihilfe zum Suizid […] den Zielen der Medizin widerspricht« – ist unabhängig von Folgenüberlegungen und kann deshalb auch nicht mit Folgenüberlegungen in Frage gestellt werden. Aber es kann ihm entgegengehalten werden, dass es eines der legitimen Ziele der Medizin einseitig absolut setzt. Auch die Ermöglichung eines friedlichen und würdigen Todes gehört zu den Zielen der Medizin und zu den Inhalten des ärztlichen Ethos. Das wird auch in der ärztlichen Berufsordnung anerkannt, die in der Fassung von 1997 in § 1, Abs. 2 besagt: Aufgabe des Arztes ist es, das Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten […]

Die Berufsordnung erlaubt also durchaus eine Abwägung der Verpflichtung zur Lebenserhaltung mit der Verpflichtung zur Leidenslinderung. Dass die Verpflichtung zur Lebenserhaltung und die Verpflichtung zur Leidenslinderung als gegeneinander abwägbar betrachtet werden, zeigt auch die standesethische Legitimation des Behandlungsabbruchs bzw. der Umstellung der Behandlung auf Palliativbehandlung bei unheilbarem Leiden. Hier wird eine Lebensverkürzung zugunsten der Leidensminderung durchaus in Kauf genommen. Insofern muss man sich fragen: Was ist so Besonderes an der ärztlichen Beihilfe zum Suizid, dass sie als ultima ratio in Fällen eines irreversiblen Leidens ausgeschlossen werden muss, während ein Behandlungsabbruch unter denselben Umständen weithin akzeptiert ist? Ist es die aktive Rolle, die der Arzt spielt? Dies kann nicht der entscheidende Faktor sein, da der Arzt auch beim »passiven« Behandlungsabbruch oftmals eine aktive Rolle spielt, z. B. indem er ein Beatmungsgerät abstellt. Zudem ist die aktive Rolle des Arztes beim ärztlich assistierten Suizid wesentlich indirekt. Der Schritt über den point of no return hinaus wird vom Patienten selbst getan. Ist es die Tatsache, dass bei der ärztlichen Beihilfe zum Suizid der Tod des Patienten direkt intendiert ist und nicht nur als eine unausweichliche, Council on Ethical and Judicial Affairs/American Medical Association: »Decisions near the end of life«, JAMA 267 (1992), S. 2229–2233, hier S. 2233.

25

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aber unbeabsichtigte Folge in Kauf genommen wird? Auch dies kann nicht der entscheidende Grund sein, da auch ein Behandlungsabbruch in Sterbehilfefällen gewöhnlich mit intentio recta unternommen wird. Der Tod wird herbeigeführt als ein Mittel zur Leidensminderung, nicht als eine unbeabsichtigte Folge des Behandlungsabbruchs, und es ist schwer vorstellbar, dass ein Mittel, das gezielt zu einem bestimmten Zweck eingesetzt wird, nicht auch, solange der Zweck beabsichtigt wird, ebenfalls beabsichtigt wird. Insgesamt sprechen also keine guten Gründe für eine Aufrechterhaltung des Verbots der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Eine Beteiligung von Ärzten an Patientensuiziden kann weder als mit der Integrität des Arztes unvereinbar gelten, 26 noch ist zu erwarten, dass eine Integration der ärztlichen Beihilfe zum Suizid in den Bereich der ärztlichen Aufgaben das Arzt-Patient-Verhältnis gefährden würde. Das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis würde durch eine Weigerung des Arztes, einen suizidwilligen Patienten in Sterbehilfesituationen zu unterstützen, eher gefährdet als durch eine tätige Mitwirkung. 27 Dies scheint auch den Sichtweisen der (potenziellen) Patienten zu entsprechen. Bei einer Forsa-Umfrage im November 2003 haben 84 % der deutschen Bevölkerung der Aussagen zugestimmt: »Wenn mein Hausarzt einem unheilbar kranken Patienten bei der Selbsttötung hilft, würde ich das Vertrauen zu ihm nicht verlieren.« 28 Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass es, wenn es um das Mittel der letzten Wahl in Sterbehilfesituationen geht, gute Gründe gibt, dem ärztlich unterstützten Suizid nicht die erste Priorität zu geben, sondern diese stattdessen der palliativen Sedierung zuzuerkennen. Diese Priorisierung lässt sich allerdings nur aus gesellschaftlicher und nicht aus Patientensicht begründen. Aus der Perspektive eines Patienten, der sich in einem als unerträglich empfundenen Leidenszustand befindet, der um Sterbehilfe bittet und bei dem andere palliative Maßnahmen nicht anschlagen, lässt sich eine klare ethische Präferenz für das eine oder das andere Verfahren nur mit Vgl. Richard Momeyer: »Does physician assisted suicide violate the integrity of medicine?«, Journal of Medicine and Philosophy 20 (1995), S. 13–24; Bettina SchöneSeifert: »Ist Assistenz zum Sterben unärztlich?«, in: A. Holderegger (Hg.): Das medizinisch assistierte Sterben, Freiburg/Schweiz 1999, S. 98–119. 27 Vgl. Franklin G. Miller/Howard Brody: »Professional integrity and PhysicianAssisted Death«, Hastings Center Report 25 (1995), No. 3, S. 8–17. 28 DGHS (Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben): »Aktuelle forsa-Umfrage«, Press release November 2003. 26

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großen Schwierigkeiten formulieren. Welches Verfahren sich als vorzugswürdig darstellt, hängt in hohem Maße von individuellen Einstellungen und Wünschen ab. Zunächst erscheint es als eindeutiger Vorzug der palliativen Sedierung, dass diese nicht in jedem Fall einen point of no return bedeutet, sondern dass sie auch reversibel gestaltet werden kann, so dass der Patient nach dem Aufwachen jeweils neu entscheiden kann, ob die abgebrochene Behandlung erneut aufgenommen werden soll. Dass bei der palliativen Sedierung diese Möglichkeit besteht, fällt besonders dann ins Gewicht, wenn die Sedierung zunächst in einer Situation gegeben wird, in der der Patient nicht einwilligungsfähig ist und er erst aufgrund der Sedierung die Einwilligungsfähigkeit wiedererlangt, so dass er erst dann in der Lage ist, sein Selbstbestimmungsrecht wahrzunehmen und über die Option des endgültigen Behandlungsabbruchs zu entscheiden. Wenn, wie ich oben – in Übereinstimmung mit Richard Momeyer 29 – argumentiert habe, die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten nicht nur darin besteht, seinen Willen zu achten, sondern auch darin, ihm allererst die Gelegenheit zu geben, diesen Willen zu äußern und auszuführen, ist die Möglichkeit der Wiedererlangung der Entscheidungsfähigkeit ein nicht gering zu schätzender ethischer Vorzug. Dieser Vorzug entfällt allerdings, wenn der Patient fest entschlossen ist, unter den gegebenen Bedingungen auf ein Weiterleben unter Erhalt des Bewusstseins zu verzichten. In diesem Fall gibt es für ihn möglicherweise zwei Gründe, einen assistierten Suizid vorzuziehen. Erstens unterstreicht ein Suizid für ihn selbst und andere die Autonomie seiner Entscheidung. Zweitens erspart er, da der Tod nach kürzerer Frist eintritt, den Angehörigen einen möglicherweise als Zumutung empfundenen längeren Sterbeprozess. Der erste Umstand wird vor allem für diejenigen Patienten von Bedeutung sein, die Wert darauf legen, den Zeitpunkt ihres Todes so weit wie möglich selbst zu bestimmen. Auch wenn eine palliative Sedierung in der Regel nicht ohne die Einwilligung des Patienten eingeleitet wird, fehlt ihr doch die dem Suizid eigentümliche symbolische Bekräftigung des Willens, das Lebensende in die eigene Hand zu nehmen. Für viele Patienten wird es ebenfalls wichtig sein, ihren Angehörigen einen zeitlich ausgedehnteren Sterbeprozess zu ersparen. Auch wenn die Behandlung zeitlich unmittelbar nach der Sedierung abgebrochen wird, können 29

Richard Momeyer: Confronting death, Bloomington, Ind. 1988, hier S. 81.

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bis zum Todeseintritt Tage vergehen. Einer Mitteilung des Nimwegener Medizinethikers Rien Janssens zufolge zeigen die Erfahrungen in der dortigen Universitätsklinik, dass viele Familien, wenn ihre sterbenden Angehörigen länger als drei Tage vor Todeseintritt im künstlichen Koma verbringen, Burn-out-Symptome entwickeln und dann gelegentlich so entnervt sind, dass sie aktive Sterbehilfe verlangen. Was zugunsten einer Priorisierung der palliativen Sedierung spricht, sind die gegenüber dem assistierten Suizid geringer zu veranschlagenden Missbrauchsgefahren. Obwohl zunächst beim assistierten Suizid die Selbstbestimmung des Patienten sehr viel eher gesichert scheint als bei der palliativen Sedierung, ist bei diesem ein »Ausufern« über Sterbehilfefälle hinaus sehr viel eher zu befürchten. Zwar muss man Kritikern der palliativen Sedierung wie David Orentlicher zugestehen, dass bei einer palliativen Sedierung mit Behandlungsabbruch theoretisch weitergehende Missbrauchsmöglichkeiten bestehen als beim assistierten Suizid, da die entscheidenden Kausalfaktoren nicht beim Patienten, sondern beim Arzt liegen. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Patient, der nicht sterben will oder zu einer entsprechenden Willensbildung gar nicht in der Lage ist, zu einem Suizid gezwungen werden könnte, während es durchaus vorstellbar ist, dass ein hochgradig dementer Patient unabhängig von seinem aktuell oder antizipatorisch geäußerten Willen sediert und sterben gelassen wird. Aber selbst Orentlicher kommt nicht umhin zuzugestehen, dass diese theoretisch denkbaren Risiken unter realistischen Bedingungen weniger zu erwarten sind als die Missbrauchsrisiken des assistierten Suizids. 30 Es ist z. B. nicht damit zu rechnen, dass es einem Arzt einfallen könnte, einen Gesunden zu sedieren, um ihm einen Tod durch anschließendes Verdursten zu ermöglichen. Es scheint viel weniger ausgeschlossen, dass ein Arzt einem Gesunden ein Mittel verschafft, um ihm einen sicheren und schnellen Suizid – etwa aus Lebensmüdigkeit – zu ermöglichen.

David Orentlicher: »The Supreme Court and Terminal Sedation. An ethically inferior alternative to Physician Assisted Suicide«, in: M. P. Battin/R. Rhodes/A. Silvers (Hg.): Physician Assisted Suicide. Expanding the debate, New York 1988, S. 301–311, hier S. 307 u 309.

30

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4.

Ein konstruktiver Vorschlag

Wie könnte eine befriedigende berufsrechtliche Regelung der Suizidbeihilfe aussehen? Wichtig wäre zunächst eine Begrenzung der Zulässigkeit der ärztlichen Beihilfe zum Suizid auf Sterbehilfesituationen, d. h. auf Situationen, in denen ein Patient – gemessen an seinen jeweils eigenen Maßstäben – unerträglich und irreversibel leidet und alternative Mittel der Leidensbegrenzung nicht in Sicht sind oder vom Patienten abgelehnt werden. Dabei sollte jedoch – im Unterschied zu den Schweizerischen Richtlinien – nicht von einem engen, sondern einem weiten Verständnis von »Sterbehilfe« ausgegangen werden, d. h. es sollte nicht zur Bedingung gemacht werden, dass, wie es in den Schweizer Richtlinien heißt, »die Erkrankung des Patienten […] die Annahme (rechtfertigt), dass das Lebensende nahe ist«. Mit einem engen Verständnis würde gerade Patienten, die noch ein langes Weiterleben unter für sie inakzeptablen Bedingungen vor sich haben, die also insofern in besonderem Maße benachteiligt sind, die Möglichkeit eines assistierten Suizids vorenthalten. Unerlässlich wären allerdings auch die Berücksichtigung von zwei weiteren in dem Schweizer Richtlinienentwurf aufgeführten Bedingungen: 1. 2.

Alternative Möglichkeiten der Hilfestellung wurden erörtert und soweit gewünscht auch eingesetzt. Der Patient ist urteilsfähig, sein Wunsch ist wohlerwogen, ohne äußeren Druck entstanden und dauerhaft. Dies wurde von einer Drittperson überprüft.

Diese Drittperson sollte m. E. ein Psychiater oder ein psychiatrisch erfahrener Arzt sein. Allein dieser ist in der Lage, die entscheidende Bedingung, den Bilanzcharakter des Suizidwunsches, zu beurteilen. Darüber hinaus könnte man daran denken, eine ursprünglich von dem amerikanischen Psychiater Quill vorgeschlagene Bedingung aufzunehmen, die dieser insbesondere in Abgrenzung gegen Jack Kevorkians Praxis der ärztlichen Beihilfe zum Suizid entwickelt hat,

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nämlich dass »eine ärztlich unterstützte Selbsttötung auf einer echten Beziehung zwischen Arzt und Patient basieren sollte« 31. Eine solche Bestimmung ist in der Tat Teil der Empfehlungen der schweizerischen Nationalen Ethikkommission geworden: Gerade weil die Entscheidung zum assistierten Suizid eine an der Person und Situation des Suizidwilligen orientierte Einzelfallentscheidung sein muss, bedarf es hier sorgfältiger Abklärungen. […] Das ist nur im Rahmen einer eingehenden und länger andauernden Beziehung möglich und nicht auf Grund eines kurzen oder einmaligen Kontaktes mit dem suizidwilligen Menschen. 32

Zusammen mit der Verpflichtung zur detaillierten Dokumentation der einzelnen Schritte ergibt sich damit insgesamt die folgende Kriterienliste: 1.

2. 3. 4. 5. 6. 7.

Der Patient muss aus eigenem freien Willen und ohne äußeren Druck wiederholt den klaren Wunsch äußern, lieber zu sterben als weiterzuleben. Das Urteilsvermögen des Patienten darf nicht beeinträchtigt sein. Die Krankheit des Patienten muss unheilbar und mit ständigen schweren, (subjektiv) unerträglichen Leiden verbunden sein. Alternative Mittel der Leidensbegrenzung wurden erörtert und soweit gewünscht eingesetzt. Der Beihilfe leistende Arzt soll sich mit einem anderen, psychiatrisch erfahrenen Arzt beraten. Voraussetzung für eine ärztlich unterstützte Selbsttötung sollte eine echte Beziehung zwischen Arzt und Patient sein. Alle Schritte sollten sorgfältig dokumentiert werden.

Timothy Quill: Das Sterben erleichtern. Plädoyer für einen würdevollen Tod, München 1994, hier S. 209 f. 32 Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK-CNE), Schweiz: »Beihilfe zum Suizid. Empfehlungen zum Thema Suizidbeihilfe«, Jahrbuch für Ethik und Wissenschaft 11 (2006), S. 491–497, hier S. 497. 31

402 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Die ärztliche Beihilfe zum Suizid in der ärztlichen Standesethik

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Dieter Birnbacher

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«: Warum Ärzte nicht töten dürfen. Leon R. Kass

Ist der Beruf der Medizin ethisch neutral? Wenn ja, wovon sollen wir dann die moralischen Normen oder Grundsätze ableiten, die seine Ausübung regeln? Wenn nicht, in welchem Verhältnis stehen dann die Normen des professionellen Verhaltens zu dem Rest dessen, was die Medizin zu einem Beruf macht? Diese schwierigen Fragen, die derzeit stark diskutiert werden, sind tatsächlich sehr alt, genau genommen so alt wie die Anfänge der westlichen Medizin selbst. Einem antiken griechischen Mythos zufolge stellte die Göttin Athene den Menschen zwei wirkmächtige Arzneien zur Verfügung, und zwar in der Form von Blut, das von der Gorgone Medusa stammte; das Blut, das aus deren linker Seite kam, schützte gegen den Tod, das aus der rechten Seite war hingegen ein tödliches Gift. Gemäß der einen Version dieses Mythos gab Athene Asklepios, dem verehrten Begründer der Medizin, Glasfläschchen mit beiden Arzneien; der anderen Fassung zufolge gab sie ihm nur die lebensrettende Medizin, während sie die Macht der Zerstörung sich selbst vorbehielt. Beide Versionen haben etwas für sich: Die erste bezeugt die moralische Neutralität der medizinischen Mittel und allen technischen Könnens überhaupt; die zweite zeigt, dass man, wenn man Weisheit walten ließe, die Medizin als eine uneingeschränkt wohlwollende – d. h. intrinsisch moralische – Kunst konzipieren würde. Heutzutage bezweifeln wir, dass die Medizin eine intrinsisch moralische Tätigkeit ist, aber wir sind uns ziemlich sicher, dass sie sowohl helfen als auch schaden kann. Heute können die Hilfe und der Schaden sogar aus derselben Flasche kommen. Dieselbe Beatmungsmaschine, die einen Mann vom Rand des Grabs zurückholt, verlängert auch auf sinnlose Weise das Leben einer jungen Frau, die sich im irreversiblen Koma befindet. Dasselbe Morphium, das die durch ein Lungenödem verursachte Atemnot beseitigt, kann in einer höheren Dosis dazu führen, dass die Atmung überhaupt aufhört. 405 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Leon R. Kass

Ärzte sind, ob sie es nun wollen oder nicht, imstande zu töten – schnell, auf effiziente und sichere Weise. Mehr noch, wie es scheint, könnten sie bald dazu ermächtigt und ermutigt werden. Im vorigen Jahr wurden in den Niederlanden fünf- bis zehntausend Patienten von ihren Ärzten absichtlich getötet, während die Behörden, die dafür zuständig sind, dem Tötungsverbot zur Durchsetzung zu verhelfen, offenbar beschlossen hatten, das Gesetz in diesen Fällen nicht anzuwenden. Da ihnen diese Scheinheiligkeit nicht weit genug geht und sie erpicht darauf sind, Ärzte vor einer möglichen Strafverfolgung zu schützen, streben amerikanische Befürworter der aktiven Sterbehilfe in mehreren Bundesstaaten Gesetzesänderungen an, durch welche die sogenannte Tötung aus Mitleid durch Ärzte legalisiert würde. Und die US-amerikanische Medizin zeigt immer stärkere Anzeichen dafür, dass sie bereit sein könnte, sich daran zu beteiligen. Vor vier Jahren veröffentlichte der Herausgeber des Journal of the American Medical Association eine ungeheuerliche (und möglicherweise fiktive) Fallgeschichte mit dem Ziel, die professionelle und öffentliche Debatte über die direkte medizinische Tötung anzuregen – vielleicht, wie einige damals sagten, als eine Art von Versuchsballon. 1 Seitdem haben wir von Dr. Kevorkians Selbsttötungsmaschine gehört und von Dr. Quills Bericht über die von ihm geleistete Beihilfe zum Suizid, wobei Letzterer beachtliche Unterstützung vonseiten der Medizin erfuhr. Die sogenannte aktive Sterbehilfe, die von Ärzten durchgeführt würde, scheint eine Idee zu sein, deren Zeit gekommen ist. Meiner Meinung nach ist dies jedoch eine schlechte Idee, deren Zeit nicht kommen darf – nicht jetzt und niemals. Der vorliegende Artikel ist teilweise ein Versuch, diese Behauptung zu stützen. Er stellt jedoch auch einen Versuch dar, den ethischen Charakter des medizinischen Berufs dadurch zu erkunden, dass die Frage der Tötungen durch Ärzte als Prüfstein verwendet wird. Dementsprechend werde ich die folgenden miteinander zusammenhängenden Fragen erörtern: Welchen Normen sollten sich alle Ärzte nur als Ärzte freiwillig unterwerfen, welche persönlichen Meinungen sie auch immer haben mögen? Worin besteht die Grundlage einer solchen Ethik der Medizin? Was sagt diese Ethik über Ärzte, die absichtlich töten, und was sollten wir über sie denken? 1 Anonymus: »It’s over, Debbie«, Journal of the American Medical Association 259/2 (1988), S. 272.

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

I.

Zeitgenössische ethische Ansätze

Die Frage, ob Ärzte töten dürfen, ist ein Anwendungsfall dieser allgemeinen Frage: Darf oder soll man Menschen töten, die darum bitten, getötet zu werden? Von denjenigen, welche diese allgemeine Frage positiv beantworten, werden dafür gewöhnlich zwei Gründe angeführt. Der erste Grund ist der der Freiheit oder der Autonomie. Jede Person habe das Recht, die Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben einschließlich dessen Ende auszuüben. Gemäß dieser Sichtweise sind Ärzte (oder andere) verpflichtet, sich nicht nur dem Wunsch nach einem Behandlungsabbruch zu fügen, sondern auch dem Wunsch, absichtlich durch Gift getötet zu werden, weil das Recht zu wählen – die Freiheit – respektiert werden muss, und zwar mehr als das Leben selbst und selbst dann, wenn der Arzt das, was von den Patienten gewünscht wird, niemals empfehlen oder ihrer Entscheidung nicht zustimmen würde. Als Hüter der lebensrettenden und der tödlichen Medizin sind Ärzte aufgrund der gebotenen Achtung für autonome, persönliche Entscheidungen moralisch verpflichtet, die verkörperte Person aktiv zu beseitigen. Der zweite Grund dafür, Patienten zu töten, die um den Tod bitten, hat wenig mit Entscheidungen zu tun. Stattdessen solle der Tod direkt und schnell herbeigeführt werden, weil man meint, dass das Leben des Patienten in Bezug auf einen gehaltvollen oder objektiven Maßstab nicht länger lebenswert sei. Außergewöhnlich starke Schmerzen oder eine unheilbare, tödliche Krankheit oder das irreversible Koma oder fortgeschrittene Demenz oder eine extreme Schwächung des Organismus stellen dabei die untaugliche Qualität des Lebens dar, das – Entscheidung hin oder her – geradezu danach fleht, aus Barmherzigkeit beendet zu werden. Es ist nicht seine oder ihre Autonomie, sondern vielmehr die elende und mitleiderregende Verfassung des Körpers oder Geistes, welche das Abmurksen des Patienten [doing the patient in] rechtfertigt. Ohne solche substantiellen Verschlechterungen des Gesundheitszustands würden Forderungen nach einer Hilfe zum Sterben nicht respektiert. In diesem Fall ist es der Körper, der stört und deshalb ausgelöscht werden muss, und zwar aus Mitgefühl oder Mitleid. Nicht der autonome Wille des Patienten, sondern die gütige und mitleidsvolle Liebe des Arztes für die leidende Menschheit rechtfertigt hier den humanen Akt der barmherzigen Tötung.

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Leon R. Kass

Wie ich bereits angedeutet habe, entsprechen diese beiden Gründe, die für die Tötung von Patienten angeführt werden, den beiden Herangehensweisen an die Medizinethik, die gegenwärtig auf diesem Gebiet am prominentesten sind: der Lehre von der Autonomie und der Lehre vom allgemeinen Wohlwollen und Mitleid (oder von der Liebe). Ungeachtet der Unterschiede, die zwischen ihnen bestehen, werden diese beiden Lehren durch den Widerstand gegen die Überzeugung geeint, dass die Medizin intrinsisch ein moralischer Beruf ist, der über seine eigenen immanenten Grundsätze und Standards verfügt, die dem, was Ärzte im Rahmen ihrer Zuständigkeit tun dürfen, Grenzen setzen. Für die erste ethische Schule wird eine moralisch neutrale Technik nur dann auf moralische Weise angewendet, wenn sie gemäß den Wünschen des Patienten als eines Kunden oder Verbrauchers eingesetzt wird. Das Modell der Beziehung zwischen Arzt und Patient ist hier der Vertrag: Der Arzt – sozusagen eine hoch kompetente, angeheuerte Injektionsspritze – verkauft seine Dienstleistungen entsprechend der Nachfrage, und dabei wird er nur durch das Gesetz eingeschränkt. So sieht der Vertrag aus: für den Patienten Autonomie und Dienstleistung; für den Arzt Geld, das durch das Vergnügen verziert wird, dem Patienten das zu geben, was dieser will. Wenn eine Patientin ihre Nase richten oder ihr Geschlecht umwandeln lassen will, wenn sie das Geschlecht ihres noch ungeborenen Kindes ändern oder nur um des Vergnügens willen euphorisierende Medikamente einnehmen möchte, dann wird sich der Arzt an die Arbeit machen – vorausgesetzt, dass der Preis stimmt. 2 Für die zweite ethische Schule wird eine moralisch neutrale Technik nur dann moralisch angewendet, wenn ihre Anwendung durch das Prinzip des allgemeinen Wohlwollens und der liebenden Barmherzigkeit geleitet wird. Nicht der Wille des Patienten, sondern die menschlichen und von Mitgefühl getragenen Motive des Arztes – nichts als eines Arztes, sondern als eines Menschen – verleihen den Handlungen des Arztes ihre Moralität. Auch hier kann es seltsame Anfragen und noch seltsamere Handlungen geben, aber wenn sie aus Liebe ausgeführt werden, dann können sie nicht falsch sein – wiederum vorausgesetzt, dass das Gesetz nichts über diese Handlungsweise Selbstverständlich kann jeder Arzt und jede Ärztin, der oder die persönliche Skrupel gegenüber einer der genannten Praktiken hat, eine entsprechende Klausel in den Dienstleistungsvertrag »schreiben«, den er oder sie den Kunden anbietet.

2

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

sagt. Alle Handlungen – Tötungen von Patienten eingeschlossen –, die aus Liebe getan werden, sind erlaubt, ja sogar lobenswert. Gute und menschliche Absichten können jede Tat heiligen. Meiner Meinung nach sollte jeder dieser beider Ansätze als Grundlage der Medizinethik abgelehnt werden. Erstens kann keiner von beiden eine plausible Erklärung für einige spezifische Pflichten und Beschränkungen geben, die im Rahmen der traditionellen medizinischen Moral seit Langem als absolut unverletzlich gelten – zum Beispiel das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Patienten. Müssen wir nun sagen, dass Sex mit Patienten dann erlaubt ist, wenn es die Patientin will und der Preis stimmt, oder umgekehrt, wenn der Arzt sanft und liebevoll ist und am Krankenbett ein gutes Benehmen hat? Oder erfassen wir in diesem ausnahmslosen Verbot ein tieferes Verständnis der medizinischen Berufung, welches durch das Verbot sowohl verkörpert als auch geschützt wird? Wie ich nun unter Verweis auf das Tabu gegen die Tötung von Patienten durch Ärzte zu zeigen versuchen werde, hat der medizinische Beruf tatsächlich sein eigenes inhärentes Ethos, das ein Arzt, der seinem Beruf gegenüber treu ist, nicht verletzen wird, weder für Geld noch für Liebe.

II.

Freie Berufe: intrinsisch moralisch

Lassen Sie mich eine andere Weise des Nachdenkens über die Medizin als einen freien Beruf vorschlagen. Betrachten Sie die Medizin nicht als eine Mischehe zwischen ihrer eigenen, wertneutralen Technik und einigen externen moralischen Prinzipien, sondern als eine inhärent ethische Tätigkeit, in welcher die Technik und das Verhalten durch ihr Verhältnis zu einem allumfassenden Gut geordnet werden, das von Natur aus gegebene Ziel der Gesundheit. Diese Auffassung, die einmal Tradition war, habe ich andernorts ausführlich verteidigt. An dieser Stelle werde ich die Ergebnisse ohne die Argumente vorstellen. Für den Augenblick wird es ausreichen, wenn es mir gelingt, diese Sicht plausibel zu machen. Wie die Etymologie nahelegt, ist ein freier Beruf (profession) eine Tätigkeit oder Beschäftigung, bei welcher der Ausübende öffentlich seine Hingabe an diese Tätigkeit bekennt (professes). 3 Selbstverständlich ist es möglich, dass der den Beruf Ausübende für seine Tä3

Die etymologisch begründete Verbindung zwischen profession (»Beruf« oder

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tigkeit Wissen erwerben muss und dass er durch sie Ansehen gewinnt, aber es ist das Ziel des freien Berufes, das ihn in Anspruch nimmt, dem das Wissen dient und das durch das Ansehen geehrt wird. Jede der Lebensweisen, welchen gegenüber die verschiedenen freien Berufe ihre Hingabe bekennen, muss eine Lebensweise sein, die eine solche Hingabe wert ist – und tatsächlich sind sie es alle. Der Lehrer widmet sich der Aufgabe, das Lernen der jungen Menschen zu unterstützen, und dabei orientiert er sich an Wahrheit und Weisheit; der Anwalt (oder der Richter) widmet sich der Aufgabe, für seinen Klienten (oder für die Parteien, die vor Gericht auftreten) Ungerechtigkeiten zu beseitigen; und dabei lässt er sich von dem leiten, was rechtmäßig und richtig ist; der Geistliche widmet sich der Aufgabe, die Seelen seiner Gemeindemitglieder zu behüten, und dabei orientiert er sich am Heiligen und Göttlichen; und der Arzt widmet sich der Heilung der Kranken, und dabei lässt er sich von den Ideen der Gesundheit und der Ganzheit leiten. Angehöriger eines freien Berufes zu sein ist somit mehr als ein Techniker zu sein. Es ist in unserer menschlichen Natur verwurzelt; es ist nicht nur eine Sache des Kopfes und der Hand, sondern auch des Herzens, nicht nur eine Sache des Intellekts und der Fertigkeiten, sondern auch des Charakters. Denn nur als ein Wesen, das bereit und imstande ist, sich anderen Menschen zu widmen und einem hohen Gut zu dienen, kann eine Person einen freien Beruf zu ihrer Lebensweise machen. Das Gut, welchem der medizinische Beruf gewidmet ist, ist die Gesundheit, ein von Natur aus gegebener, wenn auch prekärer Standard oder eine Norm, die durch »Ganzheitlichkeit« und Funktionsfähigkeit charakterisiert ist und nach deren Einhaltung ein lebendiger Körper von sich aus strebt. Selbst der moderne Arzt ist trotz seiner großartigen technischen Fähigkeiten nichts weiter als ein Helfer im Dienst der natürlichen Fähigkeit zur Selbstheilung. Doch obwohl Gesundheit ein Ziel ist, das stillschweigend erstrebt und ausdrücklich erwünscht wird, ist es schwer, sie zu erlangen und zu erhalten. Sie kann uns nur vorläufig und zeitweise zukommen, weil wir alle endlich und gebrechlich sind. Deshalb befindet sich die Medizin in der Mitte zwischen zwei Polen: Der Arzt ist dazu berufen, dem hohen und universellen Gut der Gesundheit zu dienen, während er gleich»freier Beruf«) und to profess (»bekennen«, »bekunden«) lässt sich im Deutschen nicht wörtlich wiedergeben (Anm. d. Übers.).

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

zeitig den Bedürfnissen des gebrechlichen und besonderen Patienten dienen und dessen Leiden lindern soll. Darüber hinaus muss er nicht nur auf die Krankheit eingehen, sondern auch auf deren Bedeutung für jeden einzelnen Menschen, der möglicherweise nicht nur an seiner Krankheit leidet, sondern auch darunter, dass er sich Sorgen macht über seine Schwäche und Verletzlichkeit, seine Bedürftigkeit und Abhängigkeit, seinen Verlust an Selbstbewusstsein und die Zerbrechlichkeit alles dessen, was ihm am Herzen liegt – und der all dies oft fürchtet oder sich dafür schämt. Somit ist die innere Bedeutung der Heilkunst von dem Streben nach Gesundheit und der Sorge für die Kranken und Leidenden abgeleitet. Geleitet werden dieses Streben und diese Sorge von der reflektierten Aufmerksamkeit für die heikle und dialektische Spannung zwischen Ganzheitlichkeit und unvermeidlichem Verfall, die (wenn auch nur stillschweigend) von Arzt und Patient gleichermaßen geteilt wird. Wenn die Tätigkeit der Heilung der Kranken auf diese Weise verstanden wird, dann können wir bestimmte Tugenden angeben, die erforderlich sind, um die Kunst der Medizin auszuüben – darunter Mäßigung und Selbstbeherrschung, Ernsthaftigkeit, Geduld, Einfühlungsvermögen, Diskretion und Klugheit. Außerdem können wir spezifische positive Pflichten ausmachen, die vor allem die Verletzlichkeit und Selbstbezogenheit des Patienten betreffen – dazu gehören die Forderungen der Wahrhaftigkeit, der Patientenaufklärung und der Ermutigung. Ferner kann man die Auffassung vertreten, dass wir dann auf die Bedeutung bestimmter negativer Pflichten schließen können, die sich als absolute und ausnahmslose Regeln formulieren lassen. Zu ihnen zählt, so schlage ich vor, die Regel: Ärzte dürfen nicht töten. In dem verbleibenden Teil dieses Artikels soll der Versuch unternommen werden, diese Regel zu verteidigen und ihren Zusammenhang mit dem medizinischen Ethos aufzuzeigen, wobei dieses Ethos so verstanden wird, dass es aus der inneren Bedeutung des medizinischen Berufs erwächst. Ich beschränke meine Erörterung auf das Problem der direkten, absichtlichen Tötung von Patienten durch Ärzte – die sogenannte Tötung auf Verlangen. Obwohl ich bekenne, dass ich diese Form der Tötung auch dann ablehne, wenn sie von Menschen verübt wird, die keine Ärzte sind, geht es mir hier nicht darum, gegen die Sterbehilfe als solche zu argumentieren. Noch wichtiger ist, dass ich nicht gegen den Abbruch einer medizinischen Behandlung argumentiere, falls eine solche Behandlung nur ein schmerzvolles oder schlimmer wer411 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dendes Sterben verlängert. Ebenso wenig spreche ich mich gegen die Anwendung von Maßnahmen zur Leidensminderung aus, die als unvermeidbare Nebenfolge ein erhöhtes Sterberisiko bewirken. Ärzte dürfen und müssen Patienten erlauben zu sterben, auch wenn sie diese nicht absichtlich töten dürfen.

III. Schlechte Folgen Obwohl sich der Großteil meiner Argumentation um mein Verständnis der besonderen Bedeutung der Ausübung des Heilberufs drehen wird, beginne ich mit einer vertrauteren Art der ethischen Analyse: der Abschätzung von Bedürfnissen und Nutzen auf der einen Seite und Gefahren und Schädigungen auf der anderen Seite. Die beste Diskussion dieses Themas ist immer noch ein mittlerweile klassischer Aufsatz von Yale Kamisar, der vor mehr als 30 Jahren geschrieben wurde. 4 Kamisar führt die Schwierigkeiten anschaulich vor Augen, die mit dem Versuch verbunden sein würden, sicherzustellen, dass die Entscheidung für den Tod aus freien Stücken und auf der Grundlage hinreichender Informationen getroffen wird; er schildert das Problem ärztlicher Irrtümer und ärztlichen Missbrauchs, die Beeinträchtigungen der zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familien und zwischen Ärzten und Patienten, die Schwierigkeit, die Grenze zwischen freiwilliger und nicht freiwilliger Sterbehilfe aufrechtzuerhalten, und die Risiken für die gesamte soziale Ordnung, die sich aus der Abschwächung des absoluten Verbots der Tötung unschuldigen Lebens ergeben würden. Meiner Meinung reichen diese Überlegungen schon, für sich allein genommen, dafür aus, alle Versuche zurückzuweisen, das Tabu gegenüber dem medizinischen Töten zu schwächen; ihre Bedeutung für die öffentliche Politik übersteigt bei Weitem die Bedeutung, die ihnen im Rahmen dieses Essays zukommt. Aber hier dienen sie dazu, auf tieferliegende Gründe dafür, dass Ärzte nicht töten dürfen, hinzudeuten. Es besteht kein Zweifel daran, dass das Schicksal vielen Menschen übel mitspielt, nicht zuletzt am Ende des Lebens. Ich bin mir sicher, dass wir alle einzelne Menschen kennen oder gekannt haben, deren letzte Wochen, Monate oder sogar Jahre, in denen sie durch Vgl. Yale Kamisar: »Some Non-Religious Views against Proposed ›Mercy-Killing‹ Legislation«, Minnesota Law Review 42/6 (1958), S. 969–1042.

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ihre Abhängigkeit und den Verlust an Selbstkontrolle herabgesetzt wurden, überschattet waren von Schmerzen und Beschwerden, oder die in einem Zustand so stark verminderter Menschlichkeit lebten, dass dies einen dunklen Schatten auf ihr ganzes Leben warf, vor allem auf ihr Leben, wie es den Überlebenden in Erinnerung bleibt. Alle, die diese Menschen lieben, würden ihnen solch ein Ende gern ersparen, und es steht außer Zweifel, dass ein verfrühter Tod dafür sorgen könnte. Es ist schwer, etwas gegen diesen klar erkennbaren Nutzen zu sagen, der durch zahlreiche berührende und herzergreifende wahre Geschichten bestätigt wird, vor allem dann, wenn die Argumente notwendigerweise allgemein und scheinbar abstrakt sind. Dennoch ist es möglich, dass die entgegengesetzten Folgen – einschließlich echten Leidens –, die sich einstellen würden, wenn man sich nur von Mitleid und Mitgefühl leiten ließe, den Gesamtnutzen aus der Linderung agonaler und terminaler Schmerzen bei Weitem überwiegen. Die erste Schwierigkeit ergibt sich, sobald wir versuchen, das Ausmaß des sogenannten Bedürfnisses oder der Nachfrage nach einem medizinisch unterstützten Sterben einzuschätzen. Sicherlich ist diese Frage teilweise eine empirische. Aber Anzeichen dafür, dass ein Mensch in Frage kommt, können nur dann gesammelt werden, wenn die einschlägigen Gruppen »sterbehilfefähiger« Menschen klar definiert sind. Eine solche Definition ist mit notorischen Schwierigkeiten verbunden – und wird im Übrigen nicht immer aufrichtig angestrebt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Bedarf an Sterbehilfe einerseits stark übertrieben erscheint, wenn die Gruppe präzise definiert wird, und dass andererseits die Giftmischer Überstunden machen müssten, wenn sie nur lose definiert wird. Die Kategorie, die immer zuerst erwähnt wird, um die Tötung aus Mitleid zu rechtfertigen, ist die Gruppe der Personen, die unter einer unheilbaren und tödlichen Krankheit leiden, welche mit nicht therapierbaren Schmerzen verbunden ist; denen nur noch eine kurze Lebenszeit verbleibt, die noch bei vollem Bewusstsein sind und die aus freien Stücken darum bitten, sie von ihrer Qual zu erlösen – z. B. Menschen, die schnell an einer Krebserkrankung versterben, die sich über den Körper ausgebreitet hat und Knochenmetastasen einschließt, die durch Chemotherapie nicht geheilt werden können. Wie uns jedoch die Spezialisten für Schmerzkontrolle versichern, ist die Anzahl solcher Menschen mit Schmerzen, die wirklich nicht behandelt werden können, ziemlich gering. In der überwiegenden Zahl der Fälle ist es anscheinend möglich, eine angemessene Schmerzfrei413 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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heit zu bewirken, vorausgesetzt, dass der Arzt und der Patient gewillt sind, zum richtigem Zeitpunkt hinreichend starke Medikamente in passenden Dosen zu verwenden. 5 Aber, so wird man einwenden, völlige Schmerzlosigkeit führt zu Benommenheit und stumpft das Bewusstsein ab oder verzerrt es. Wie könnte das ein wünschenswertes Ergebnis der Behandlung sein? Das ist ein guter Punkt. Aber dann verschiebt sich die Begründung für den Wunsch zu sterben von der Linderung erlebten Leidens dazu, dass ein Leben von seinem Träger oder, seien wir offen: von den Beistehenden, nicht mehr wertgeschätzt wird. Wenn das eine hinreichende Grundlage für die Ermöglichung der Sterbehilfe wird, dann kann die Gruppe der sterbehilfefähigen Menschen nicht auf diejenigen beschränkt werden, die an einer unheilbaren oder tödlichen Krankheit leiden und denen nur noch eine kurze Lebensspanne verbleibt. Denn jetzt können Personen, die an irgendeiner Art von erheblicher Einschränkung leiden, den gleichen Anspruch darauf haben, dass ihr Leiden aus Mitleid beendet wird – vom Wachkoma bis zur Querschnittslähmung, von der Depression bis zu dem Zustand, der heute den größten Schrecken einflößt, der Alzheimerkrankheit. Das Problem besteht natürlich darin, dass die meisten dieser Menschen das Gift nicht mehr selbst beantragen können. Darüber hinaus dürfte es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, den erforderlichen Maßstab für den Grad der Verschlechterung des Befindens zu entwickeln oder einen Schwellenwert für die Beendigung des Lebens festzulegen. In Anbetracht der Tatsache, dass es offenbar schwierig ist, genau und »objektiv« anzugeben, welche Arten und welche Grade von Schmerz, Leid oder körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung eine Sterbehilfe rechtfertigen könnte, suchen die Befürworter (zumindest vorläufig) ihre Zuflucht beim Grundsatz des Wollens: Die Bitte um Unterstützung beim Sterben muss respektiert werden, weil diese Bitte aus freien Stücken von dem geäußert wird, um dessen Leben es geht und der aus dem einen oder anderen Grund nicht imstande ist, sein Leben allein zu beenden. Aber auch dieser Vorschlag ist voller Schwierigkeiten: Wie frei oder informiert ist eine Entscheidung, die im Zustand der Entkräftung getroffen wurde? Kann eine ZustimDas unerklärliche Unvermögen vieler Ärzte, ihre Patienten mit der passenden und verfügbaren Schmerzlinderung zu versorgen, ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass manche Menschen jetzt darauf bestehen, dass die Ärzte ihnen (stattdessen) den Tod geben sollen.

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mung, die lange im Voraus gegeben wurde, hinreichend über alle besonderen Umstände informiert gewesen sein, die sie prospektiv abdecken soll? Und können solche Entschlüsse nicht in jedem Fall leicht und auf subtile Weise manipuliert werden, insbesondere bei wehrlosen Menschen? Kamisar ist im Hinblick auf dieses Thema sehr scharfsichtig: Ist das die Art von Entscheidung […], die wir einer schwerkranken Person anbieten wollen? Werden wir dabei nicht einige mit aufkehren, die selbst nicht wirklich lebensmüde sind, die aber glauben, dass andere ihrer überdrüssig sind; einige, die nicht wirklich sterben wollen, die aber das Gefühl haben, dass sie nicht weiterleben sollten, weil dies selbstsüchtig und feige wäre, sobald sich die legale Alternative der Sterbehilfe abzeichnet? Werden nicht einige das Gefühl der Verpflichtung haben, sich ›eliminieren‹ zu lassen, damit die Gelder, die für ihre Betreuung am Lebensende aufgewendet werden müssen, von ihrer Familie auf bessere Weise genutzt werden können, oder, wenn man die finanziellen Sorgen beiseite lässt, damit ihre Familien von der damit verbundenen emotionalen Belastung befreit werden? 6

Selbst wenn sich diese Probleme lösen ließen, könnte man nicht an der Freiwilligkeit als Rechtfertigungsgrund festhalten. Die Inkraftsetzung des Gesetzes, das freiwillige Sterbehilfe erlaubte, würde man sicherlich vor Gericht unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot im 14. Zusatz zur Verfassung anfechten. Letztlich wird das Gesetz nicht die Beihilfe zum Suizid im Allgemeinen legalisieren, sondern nur die Sterbehilfe. Es ist so gut wie sicher, dass sich diese Veränderung nicht in der Form einer Ausnahme vom strafrechtlichen Tötungsverbot vollziehen wird, sondern als eine neue »Behandlungsoption«, als Teil eines Rechts auf einen »humanen und würdevollen Tod«. Warum, so wird man argumentieren, sollte dem Komapatienten oder der Demenzkranken solch ein Recht oder solch eine »Behandlung« vorenthalten werden, nur weil sie es für sich selbst nicht einfordern können? Auf dem Wege dieser Argumentation haben Gerichte bereits in Fällen, welche den Behandlungsabbruch betrafen, den mutmaßlichen Willen und die Zustimmung des rechtlichen Vormundes gelten lassen. Wenn Bevollmächtigte ihre Zustimmung geben, dann werden sie dies nicht auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Patienten tun, sondern aufgrund eines eigenständigen Yale Kamisar, »Some Non-Religious Views against Proposed ›Mercy-Killing‹ Legislation«, in: Minnesota Law Review 42 (1958), S. 969–1042, hier S. 990 [Übers. von H. Wittwer].

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Urteils, nämlich dass das Leben, um welches es geht, aus diesen oder jenen Gründen nicht mehr lebenswert ist. Genau deshalb, weil die Mehrzahl der Fälle, die für eine Sterbehilfe in Betracht kommen, so beschaffen sind, lässt sich die Grenze zwischen freiwilliger und nicht freiwilliger Sterbehilfe nicht aufrechterhalten. Den Übergang zur Auslöschung dieser Grenze werden die geistig Behinderten oder die Komapatienten bilden, von denen man erklären wird, dass sie nicht mehr leben wollen, weil ein anderer Mensch sich dieses Ergebnis für sie wünscht. Tatsächlich gestehen die ehrlicheren Befürworter der Sterbehilfe offen ein, dass sie vor allem hoffen, sich dieser nicht freiwilligen Fälle zu entledigen, und dass ihr Plädoyer für die freiwillige Sterbehilfe nur der erste Schritt ist. Die Reihe von Missbrauchsfällen, welche wahrscheinlich auf die harmlosesten Fälle folgen werden, ist leicht abzusehen, vor allem deshalb, weil sich die harmlosen Fälle definitorisch nicht genau und feinsäuberlich von den übrigen Fällen abgrenzen lassen. 7

Das ist keine bloße Panikmache. Die neuesten Berichte über die Praxis der Sterbehilfe in den Niederlanden beweisen das zur Genüge. In einer 1989 veröffentlichen Untersuchung mit 300 Ärzten fand F. C. B. van Wijmen (ein Befürworter der Sterbehilfe) heraus, dass mehr als 40 der Ärzte zugaben, bereits mindestens einmal nicht freiwillige Sterbehilfe geleistet zu haben. Mehr als zehn Prozent gaben sogar an, dies fünf Mal oder öfter getan zu haben (vgl. ders.: Artsen en Het Zelfgekozen Levenseinde: Verslag Van Een Onderzoek Onder Artsen Naar Opvattingen en Gedragingen Ten Aanzien Van Euthanasie en Hulp Bij Zelfdoding, Maastricht 1989). Der Bericht der niederländischen Regierung (Commissie Onderzoek Medische Praktijk inzake Euthanasie: »Rapport Medische Belissingen rond het Levenseinde«, Den Haag, SDU–uitgeverij) vom September 1991 enthält trotz seines auf Beruhigung abzielenden Fazits noch alarmierendere Zahlen: Neben den 2.300 Fällen (pro Jahr) freiwilliger Sterbehilfe und den 400 Fällen ärztlicher Beihilfe zum Suizid, gab es mehr als 1.000 Fälle nicht freiwilliger aktiver Sterbehilfe, in denen die Patienten nicht informiert waren oder zugestimmt hatten. Darunter waren mehr als 100 Fälle, in denen die Patienten zurechnungsfähig waren. Darüber hinaus wurde in 61 % der 8.100 Fälle, in denen eine Überdosis Morphium mit dem Ziel der Lebensbeendigung verabreicht wurde, ohne Wissen und Zustimmung der Patienten gehandelt. Als Gründe dafür, Patienten zu töten, die nicht darum gebeten hatten, gaben die Ärzte u. a. an: »niedrige Lebensqualität«, »Die Familie hielt es nicht mehr aus« und »geringe Aussicht auf Besserung«. Übrigens zeigt das ausgezeichnete Buch Regulating Death: Euthanasia and the Case of the Netherlands von Carlos Gomez (New York 1991), wie erheblich die Praxis in den Niederlanden von den Richtlinien abweicht, die vom Niederländischen Ärztebund aufgestellt worden sind. Außerdem verdeutlicht das Buch, warum die Praxis der Sterbehilfe nahezu unregulierbar ist.

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

Abgesehen von der Gefahr des Missbrauchs, ist es so gut wie sicher, dass die Legalisierung der Sterbehilfe das Verhältnis zwischen Arzt und Patient beeinträchtigen wird. Sobald Ärzte das Recht haben zu töten, wird sich das Vertrauen der Patienten darauf, dass die Ärzte sich ohne alle Einschränkungen ihren Interessen widmen, nur noch schwer aufrechterhalten lassen. Stellen wir uns die Szene vor: Sie sind alt, arm, in einem sich verschlechternden Gesundheitszustand und allein auf der ganzen Welt; Sie werden mit Rippenbrüchen und einer Lungenentzündung in das städtische Krankenhaus eingeliefert. Spät in der Nacht betritt eine Krankenschwester Ihr Zimmer. In der Hand hält sie eine Spritze. Sie enthält etwas Gelbes, das für Ihre Tropfinfusion bestimmt ist. Wie ruhig werden Sie schlafen? Es wird keine Rolle spielen, dass Ihr Arzt noch niemals einen Patienten getötet hat; allein die Tatsache, dass es ihm rechtlich erlaubt sein wird, dies zu tun, wird einen himmelweiten Unterschied ausmachen. Auch für die Psyche der gewissenhaften Ärzte wird es einen himmelweiten Unterschied ausmachen. Wie leicht wird es ihnen fallen, sich rückhaltlos um die Belange der Patienten zu kümmern, wenn es ihnen immer möglich ist, deren Tötung als eine »therapeutische Option« in Erwägung zu ziehen? Sollen es noch einmal Penizillin und das Beatmungsgerät sein oder diesmal vielleicht eine Überdosis Morphium? Ärzte bekommen nach und nach genug davon, Patienten zu behandeln, die schwer geheilt werden können, die ihren besten Bemühungen widerstehen, die ›auf dem absteigenden Ast sind‹ – »Gurken«, »Gomers« 8 und »Gemüse« sind nur einige der wenig liebevollen Bezeichnungen, die ihnen vom Krankenhauspersonal gegeben werden. Wird es nicht eine Versuchung sein, daran zu denken, dass der Tod die beste »Behandlung« für die kleine alte Dame sein könnte, die vom nahe gelegenen Altersheim wieder einmal in der Notaufnahme abgeliefert wurde? Selbst der menschlichste und gewissenhafteste Arzt benötigt einen psychologischen Schutz vor sich selbst und seinen Schwächen, wenn es ihm möglich sein soll, sich gänzlich um die zu kümmern, die sich ihm überantworten. Ein mit mir befreundeter Arzt, der jahrelang in einem Hospiz arbeitete und sich dort um sterbende Patienten kümmerte, hat mir dies am überzeugendsten erklärt: »Nur weil ich wussDas englische Wort »gomer« ist unübersetzbar. Es handelt sich um eine abwertende Bezeichnung, die durch Zusammenziehung aus dem Ausdruck »go out of my emergency room« (Hinaus aus meiner Notaufnahme!) entstanden ist (Anm. d. Übers.).

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te, dass ich die Patienten weder töten konnte noch durfte, war es mir möglich, mich gänzlich und persönlich darauf einzulassen, mich um sie zu kümmern, als sie im Sterben lagen.« Die seelische Last, die mit der Berechtigung zu töten einhergehen würde, könnte ein unzumutbar hoher Preis für die Sterbehilfe durch Ärtze sein (ganz zu schweigen von der Brutalisierung der Mörderärzte). Der Punkt, um den es geht, ist jedoch nicht nur psychologischer Natur: Er ist auch ein moralischer und wesentlicher. Das Grauen, das meinen Freund bei dem Gedanken erfasste, dass er versucht sein könnte, seine Patienten zu töten, wenn ihm das nicht gesetzlich verboten wäre, beruht auf einem tiefen Verständnis der medizinischen Ethik und ihrer intrinsischen Grenzen.

IV. Die äußeren Grenzen der Medizin Jede Tätigkeit kann mehr oder weniger leicht von anderen Tätigkeiten abgegrenzt werden. Manchmal sind die Grenzen unscharf: Es ist nicht immer leicht, vor allem heutzutage, Musik von Lärm zu unterscheiden oder Kunst von Schund oder eine Art des Unterrichtens von Indoktrination. Medizin und Heilkunst sind darin keine Ausnahmen: Manchmal ist es schwierig, ihre Grenzen zu bestimmen, und zwar sowohl in Bezug auf ihre Ziele als auch im Hinblick auf die Mittel. Sind alle Formen der kosmetischen Chirurgie Heilbehandlungen? Sind Placebos – oder Nahrung und Wasser – Medikamente? Aber natürlich besteht die Versuchung, diese definitorischen Fragen zu umgehen oder zu bestreiten, dass es überhaupt Grenzen gibt: Medizin ist das, was Ärzte tun, und Ärzte tun all das, was sie tun können. Die Technik und die Handlungsmacht definieren die Heilkunst. Wenn man es so betrachtet, erkennen wir die Notwendigkeit von Grenzen: Technik und Handlungsmacht sind bekanntermaßen ethisch neutral; sie können sowohl für Gutes als auch für Schlechtes benutzt werden. Die Notwendigkeit, für den Gebrauch der Handlungsmacht Grenzen zu finden oder festzusetzen, ist dann besonders wichtig, wenn diese Handlungsmöglichkeiten gefährlich sind: Es ist wichtiger, dass wir die Grenzen des richtigen Gebrauchs der medizinischen – oder militärischen – Handlungsmacht kennen als beispielsweise die angemessenen Grenzen für die Verwendung des Pinselstrichs oder der Geige. Der Beginn des ethischen Nachdenkens über den Gebrauch der 418 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

Macht liegt im Allgemeinen im Nein-Sagen. Die vernünftige Begrenzung des Machtgebrauchs beruht darauf, dass man die Exzesse erkennt, für welche die Macht anfällig ist, wenn sie nicht beschränkt wird. Auf die freien Berufe bezogen, würde aus diesem Prinzip folgen, dass man ihnen strikte äußere Grenzen – ja, sogar unverletzliche Tabus – auferlegen muss gegen die »beruflichen Gefährdungen«, für die jeder der Berufe jeweils auf seine Weise anfällig ist. Innerhalb dieser äußeren Grenzen gelten keine starren Verhaltensregeln; stattdessen wird die beste Vorgehensweise mittels der Klugheit, des vernünftigen Urteil des Mannes vor Ort, im Hinblick auf die Umstände gefunden und angewendet. Aber die äußeren Grenzen sind feststehend, beständig und nicht verhandelbar. Worin bestehen diese Grenzen für die Medizin? In dem altehrwürdigen Eid des Hippokrates werden mindestens drei genannt: kein Bruch des Vertrauens, keine sexuellen Beziehungen mit Patienten und keine Verabreichung tödlicher Mittel. Diese ausnahmslos gültigen, selbst auferlegten Beschränkungen sind ohne Weiteres verständlich, wenn man von den Versuchungen ausgeht, für welche der Arzt am anfälligsten ist, Versuchungen, die in jedem Fall einen Bereich der Verletzlichkeit und des Ausgeliefertseins betreffen, welche die Praxis der Medizin von den Patienten verlangt. Patienten müssen notwendigerweise private und intime Details ihres persönlichen Lebens preisgeben und enthüllen; Patienten müssen ihre nackten Körper notwendigerweise dem objektivierenden Blick des Arztes und seinen untersuchenden Händen aussetzen; Patienten müssen die Sorge um ihr Leben preisgeben und sie den Fähigkeiten des Arztes überlassen, seinem technischen Können und seiner Urteilskraft. In allen diesen Fällen ist die Entblößung einseitig und asymmetrisch: Der Artz gibt seine intimen Details nicht preis, er stellt seine Nacktheit nicht zur Schau, er legt sein verkörpertes Leben nicht in die Hände des Patienten. Eingedenk der Bedeutung solcher nicht wechselseitiger Entblößungen setzt der Arzt seinem eigenen Verhalten freiwillig Grenzen. Er schwört, die Intima des Patienten, seine nackte Sexualität oder sein Leben nicht auszunutzen oder sie zu verletzen. Das Verbot der Tötung von Patienten, das erste negative Versprechen der Selbstbeschränkung, das im Hippokratischen Eid gegeben wird, bildet das erste und strikteste Tabu der Medizin: »Auch werde ich niemandem ein tödliches Mittel geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und werde auch niemanden dabei beraten […]. Rein und fromm werde ich mein Leben und meine Kunst 419 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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bewahren.« 9 Indem er der Möglichkeit, Gift zu verabreichen, abschwört, erkennt der Arzt die gottgleiche Macht, die er über die Patienten ausübt, an und beschränkt sie gleichzeitig eingedenk der Tatsache, dass seine Medikamente sowohl heilen als auch töten können. Doch indem er auch dann der Möglichkeit, Gift zu verabreichen, abschwört, wenn er darum gebeten wird, weist der Hippokratische Arzt die Ansicht zurück, dass die Entscheidung des Patienten für den Tod seiner Tötung oder der Beihilfe zu seiner Selbsttötung Rechtmäßigkeit verleihen könnte. Zumindest dem Arzt flößt die Anwesenheit menschlichen Lebens in lebenden Körpern Achtung und Ehrfurcht ein. Da die Achtungswürdigkeit eines lebenden Körpers nicht von menschlicher Übereinkunft oder der Einwilligung des Patienten abhängt, kann der Verzicht eines Menschen auf das Leben nicht dazu führen, dass sein lebender Körper seine Achtungswürdigkeit verliert. Das grundlegendste ethische Prinzip, durch welches die Handlungsmacht des Arztes eingeschränkt wird, ist nicht die Autonomie oder die Freiheit des Patienten; ebenso wenig ist es sein eigenes Mitgefühl oder seine gute Absicht. Vielmehr ist es die Würde und die geheimnisvolle Macht des menschlichen Lebens selbst und daher auch dessen, was in dem Eid als Reinheit und Heiligkeit des Lebens und der Kunst bezeichnet wird, welcher er sich verschrieben hat. Ein Mensch kann sich dazu entscheiden, Mediziner zu werden, aber er kann nicht einfach darüber entscheiden, was es bedeutet, Mediziner zu sein.

V.

Der Kern der Sache

Der wesentliche Sinn des Arztseins ist nicht von den Möglichkeiten der Medizin abgeleitet, sondern von ihrem Ziel, nicht von ihren Mitteln, sondern von ihrem Zweck, der darin besteht, den Kranken durch die Tätigkeit des Heilens Gutes zu erweisen. Der Arzt dient als Arzt nur den Kranken. In dieser Rolle dient er nicht den Verwandten oder dem Krankenhaus oder den Staatsschulden, die durch die Kosten für die medizinische Betreuung in die Höhe getrieben werden. Deshalb wird er das Wohlergehen der Kranken niemals der Bequemlichkeit oder dem Geldbeutel oder den Gefühlen der Verwandten oder der Gesellschaft opfern. Außerdem dient der Arzt den Kranken nicht desHippokrates: »Der Eid«, in: ders., Ausgewählte Schriften, aus dem Griech. übers. u. hg. v. Hans Diller, Stuttgart 1994, S. 7–10, hier S. 9.

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

halb, weil sie Rechte oder Wünsche oder Ansprüche haben, sondern weil sie krank sind. Der Heilkundige arbeitet mit denjenigen und für diejenigen, die geheilt werden müssen, um deren Ganzheitlichkeit wiederherzustellen. Trotz der enormen Veränderungen der medizinischen Techniken und der institutionellen Praxis, trotz der enormen Veränderungen in der Krankheitslehre und der Therapeutik hat sich der Kern der Medizin nicht verändert: Es ist heutzutage noch immer genauso wahr wie in den Tagen des Hippokrates, dass die Kranken den Wunsch haben, dass ihre Ganzheitlichkeit wiederhergestellt wird; dass Ganzheitlichkeit eine Art des ungestörten Wirkens des belebten Körpers bezeichnet sowie dessen unbeeinträchtigte Fähigkeiten, wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, etwas zu wünschen, sich zu bewegen und sich zu erhalten; dass die Beziehung zwischen dem Heilenden und dem Kranken im Wesentlichen, wenn auch stillschweigend dadurch hergestellt wird, durch beider Wunsch begründet wird, die Ganzheitlichkeit desjenigen, der krank ist, zu fördern. Allerdings sind die Ganzheitlichkeit und das ungestörte Wirken eines menschlichen Wesens eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, viel schwieriger, als es bei unseren Haustierfreunden und Beziehungen der Fall ist. Wie es scheint, verstehen verschiedene Menschen unter Gesundheit und Fitness Verschiedenes; möglicherweise kann sogar ein und dieselbe Person zu verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens Verschiedenes darunter verstehen. Jedoch ist in diesem Zusammenhang nicht alles relativ und kontextabhängig; unter dem Veränderlichen und kulturell Bedingten liegt das unveränderliche und organische, das wohl regulierte, sich im Gleichgewicht und Vollbesitz seiner Kräfte befindende menschliche Wesen. Die Existenz dieses natürlichen und universellen Subjekts ermöglicht erst das Studium der Medizin. Aber menschliche Ganzheitlichkeit reicht über die Art von körperlicher Ganzheit hinaus, die auf abstrakte und reduktionistische Weise von der modernen medizinischen Wissenschaft untersucht wird. Mögen Ärtze aufgrund ihrer Ausbildung in hinreichendem Maße darauf vorbereitet sein, dies anzuerkennen, oder nicht: Diejenigen, die auf ihrer Suche nach Ganzheitlichkeit um ärztliche Hilfe bitten, sind für sich selbst nicht nur Körper oder organische Maschinen. Jeder Mensch erkennt sich selbst auf intuitive Weise als ein Zentrum von Gedanken und Wünschen, Handlungen und sprachlichen Äußerungen, Liebe und Hass, angenehmen Empfindungen 421 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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und Schmerzen, als ein Zentrum, dessen Tätigkeiten keine anderen sind als diejenigen seines belebten und aufmerksamen Körpers. Der Patient präsentiert sich dem Arzt, wenn auch stillschweigend, als eine psychophysische Einheit, als Eines, nicht nur als Körper, aber auch nicht nur als eine getrennte, körperlose Person, die ihren Körper nur hat oder besitzt. Die Person und ihr Körper sind miteinander identisch. Freilich kann Krankheit als etwas erlebt werden, das nur zu dem Körper als einem Anderen gehört; aber die Heilung, nach der man verlangt, bezieht sich auf die Ganzheit des gesamten verkörperten Wesens. Nicht die Ganzheit des soma, nicht die Ganzheit der psyche, sondern das Ganzsein des anthropos als einer (rätselhaften) Konkretion von soma-psyche ist die Wohltat, nach der die Kranken verlangen. Letztlich geht es in der Medizin um nichts anderes als um dieses menschliche Ganzsein. Können Ganzheitlichkeit und Heilkunst, wenn man sie so wie eben beschrieben versteht, jemals mit der absichtlichen Tötung eines Patienten vereinbar sein? Kann man dem Patienten als einem Ganzen etwas Gutes tun, indem man ihn tötet? Offensichtlich gibt es hier eine logische Schwierigkeit: Wie kann es irgendetwas Gutes für ein Wesen geben, das nicht existiert? »Als Toter besser dran zu sein« ist logischer Unsinn – es sei denn, dass der Tod nicht wirklich der Tod ist, sondern der Durchgang zu einem neuen und besseren Leben im Jenseits. Allerdings handelt es sich hier nicht nur um einen logischen Fehler: Tatsächlich setzen die Absicht, Menschen etwas Gutes zu tun, und ihre Umsetzung in die Tat die fortgesetzte Existenz dieser Menschen voraus, damit sie die Wohltat empfangen können. Zwar können bestimmte Versuche, jemandem Gutes zu tun, auf nicht beabsichtigte Weise tödlich enden. Die Verabreichung einer angemessenen Menge von Morphium zum Zweck der Schmerzkontrolle kann eine Atemdepression bewirken, die zum Tod führt. Aber die Absicht, die Schmerzen eines Lebenden zu lindern, setzt voraus, dass der Lebende weiterlebt, damit er von seinen Schmerzen befreit werden kann. Diese Feststellung muss den Ausgangspunkt aller Diskussionen über den durch die Medizin bewirkten Nutzen bilden: Es kann keinen Nutzen ohne einen Nutznießer geben. Gegen diese Ansicht werden einige sicherlich den Verweis auf Grenzfälle vorbringen: Patienten, die von ihrem Körper so im Stich gelassen werden, dass sie ihr Leben nicht mehr ertragen können; Körper, die vom Krebs zerfressen sind und von Schmerzen geplagt werden – Körper, gegen welche ihre »Besitzer« voller Schrecken 422 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

aufbegehren und von denen diese um jeden Preis erlöst werden wollen. Ist es nicht möglich, dass die Person »in dem Körper« ihre Stimme gegen den Rest erhebt und den Tod aus »persönlichen« Gründen einfordert? Mit welch großem Wohlwollen wir solche Forderungen auch immer anhören mögen, wir müssen sie als inkohärent ansehen. Ein solcher Dualismus von Person und Körper ist unhaltbar. Hier auf Erden manifestiert sich »Personalität« nur in lebenden Körpern; unsere höchsten geistigen Funktionen werden durch den Stoffwechsel, die Atmung, den Blutkreislauf und die Ausscheidung von Exkrementen aufrechterhalten und können von diesen nicht getrennt werden. Es mag Blut ohne Bewusstsein geben, aber Bewusstsein existiert niemals ohne Blut. Deshalb verhält sich derjenige, der für den Dienst an seiner Personalität den Tod verlangt, wie ein Baum, der versucht, sich seine Wurzen abzuschneiden, damit seine höchsten Früchte gedeihen können. Kein Arzt, der dem Nutzen der Kranken verpflichtet ist, kann dem Patienten als einer Person dadurch dienen, dass er dessen personale Verkörperung verneint und hintertreibt. Die Grenzbestimmung, »kein tödliches Mittel«, ergibt sich direkt aus dem Zentrum des medizinischen Ethos: »stelle die Ganzheitlichkeit wieder her«. Um es einfach zu sagen: Vernichtung ist unvereinbar mit der Aufgabe, der Ganzheitlichkeit zu dienen; man kann jemanden nicht heilen oder trösten, indem man ihn zu nichts macht. Wenn der Heilende wirklich ein Heilender sein soll, dann kann er den Patienten nicht vernichten. Der Sterbehelfer-Arzt ist ein tödlicher Selbstwiderspruch.

V.

Wenn die Medizin versagt

Wir müssen jedoch eine Schwierigkeit anerkennen. Das wesentliche Ziel der Medizin – die Gesundheit – ist immer ein zerbrechliches Gut: Es lässt sich nicht vermeiden, dass Patienten unheilbar krank werden, dass sie verfallen und sterben. Die Kranken zu heilen ist ein Projekt, das prinzipiell an einem bestimmten Punkt scheitern muss. Und genau darin liegt der Ursprung aller Probleme: Wie soll man mit dem »Versagen der Medizin« umgehen? Wonach soll man streben, wenn die Wiederherstellung der Ganzheitlichkeit – oder eines »Großteils« der Ganzheitlichkeit – im Großen und Ganzen nicht mehr möglich ist? 423 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Anders als die Propaganda der Sterbehilfebewegung suggeriert, gibt es vieles, was man tun kann. Dadurch dass wir die Endlichkeit des Menschen anerkennen und gleichzeitig wissen, dass wir nicht töten werden, können wir uns darauf konzentrieren, das Leben der Sterbenden zu erleichtern und zu verbessern. Erstens kann die Medizin dem Beispiel der Hospizbewegung folgen und sich von einer jahrzehntelangen beschämenden Misswirtschaft abwenden, um wirklich angemessene (und nun auch technisch mögliche) Mittel für die Linderung von Schmerzen und Beschwerden bereitzustellen. Zweitens können die Ärzte (sowie die Patienten und ihre Familien) weiterhin lernen, diejenigen technischen Eingriffe zurückzuhalten oder abzubrechen, die letztlich nur belastende und erniedrigende Zusätze zu einem ohnehin schon unglücklichen Lebensende darstellen – wozu in vielen Fällen die Einlieferung ins Krankenhaus zählt. Wenn dies mit dem Respekt vereinbar ist, den das Leben für sich selbst einfordert, dann kann man die Behandlung einstellen und den Eintritt des Todes zulassen. Man kann dem Leben nicht nur dadurch die Ehre erweisen, dass man es erhält, sondern auch durch die Art und Weise, wie man einem bestimmten Leben erlaubt, seinen Endpunkt zu erreichen. Um es zu wiederholen: Ärzte dürfen und müssen das Sterben erlauben, auch wenn sie niemals absichtlich töten dürfen. Der Abbruch einer medizinischen Behandlungsmaßnahme, durch den man der Natur erlaubt, ihren Lauf zu nehmen, unterscheidet sich grundsätzlich von der Sterbehilfe, denn zum einen folgt auf die Einstellung einer Behandlung nicht notwendigerweise der Tod. Karen Ann Quinlan lebte noch etwa zehn Jahre weiter, nachdem das Gericht die Entfernung des »lebenserhaltenden« Beatmungsgeräts erlaubt hatte. In solchen Fällen ist nicht der Arzt, sondern die zugrunde liegende tödliche Krankheit die wahre Todesursache. Moralisch noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass der Arzt mit dem Behandlungsabbruch nicht beabsichtigen muss, den Tod des Patienten herbeizuführen, und zwar selbst dann nicht, wenn sich der Tod infolge seiner Unterlassung einstellt. Seine Absicht sollte darin bestehen, einem ohnehin schon traurigen Lebensende nicht noch nutzlose und erniedrigende medizinische Zusätze hinzuzufügen. Im Gegensatz dazu muss der Artz bei der aktiven, direkten Sterbehilfe notwendigerweise und zweifelsfrei in erster Linie den Tod des Patienten beabsichtigen. Und er muss sich selbst wissentlich und ohne Zweifel an der Sache in die Rolle des Handlangers des Todes begeben. Dies gilt selbst dann, wenn er nur der Beihelfer zur Selbsttötung ist. 424 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

Ein Arzt, der die tödlichen Tabletten besorgt oder der dem Patienten die Möglichkeit gibt, die tödliche Spritze aufzuziehen, nachdem er den Raum verlassen hat, unterscheidet sich moralisch in keiner Weise von demjenigen, der die Tat selbst vollzieht. »Auch werde ich niemandem ein tödliches Mittel geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und werde auch niemanden dabei beraten; […].«

VII. Menschlich-Sein und Ein-Mensch-Sein Sobald wir uns weigern, dem Druck durch die Technik nachzugeben, können Ärzte und alle anderen unter uns lernen, den schwierigen Situationen am Lebensende gewachsen zu sein: Wir können lernen, uns im Angesicht der Endlichkeit menschlich zu verhalten. Weit mehr als eine ausreichende Dosis Morphium und die Einstellung einer belastenden Chemotherapie benötigen die Sterbenden unsere Anwesenheit und unsere Ermutigung. Es kommt allzu leicht vor, dass Sterbende zu einem verfrühten Zeitpunkt von denen, die es nicht ertragen, mit dem Leiden oder den Gebrechen derjenigen, die sie lieben, konfrontiert zu sein, auf etwas »Dinghaftes« reduziert werden. Die wichtigste einzelne Ursache für die Entmenschlichung der Sterbenden ist das Einstellen des Kontaktes sowie das Zurückziehen der Zuneigung und der Pflege. Nicht die vermeintliche Menschlichkeit eines Todestranks, sondern das Menschliche, das darin liegt, dass Menschen leben, während sie sterben, ist es, was die Medizin und wir Laien den Sterbenden schuldig sind. Die Behandlungsmethode besteht darin, für die Sterbenden da zu sein und sie zu pflegen. Die Sterbehilfebewegung will uns glauben machen, dass die Weigerung eines Arztes, Beihilfe zur Selbsttötung oder Sterbehilfe zu leisten, einen Angriff auf die menschliche Würde darstellt. Allerdings scheint mir eines ihrer Lieblingsargumente genau das Gegenteil zu beweisen. Warum, so sagt man, befreien wir einerseits Tiere von ihrem Elend und zwingen andererseits unsere Mitmenschen dazu, bis zum bitteren Ende zu leiden? Wenn die Tötung eines Tiers für den Tierarzt keinen Widerspruch zu seiner Berufsethik darstellt – warum schließt die medizinische Ethik die Sterbehilfe dann kategorisch aus? Ist das nicht einfach unmenschlich? Vielleicht ist es unmenschlich, aber dadurch wird es nicht zu etwas Nichtmenschlichem. Im Gegenteil: Gerade weil Tiere nicht menschlich sind, müssen wir sie auf humane Weise behandeln. Wir 425 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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schläfern sprachlose Tiere ein, weil sie nicht wissen, dass sie sterben, weil sie aus ihrem Elend und ihrer Sterblichkeit nichts machen können, weil sie im Angesicht ihres eigenen Leidens und Sterbens ihr Leben nicht auf überlegte (menschliche) Weise führen können. Es ist ihnen nicht möglich, bis zu einem passenden Ende zu leben. Mitgefühl für ihre Schwäche und Sprachlosigkeit ist für uns die einzige angemessene emotionale Reaktion darauf; und, da wir für ihre Pflege und ihr Wohlergehen verantwortlich sind, tun wir das einzige Menschliche, was wir tun können. Wenn uns jedoch ein mit Bewusstsein begabter Mensch um den Tod bittet, dann zeigt er allein schon durch diese Handlung an, dass er über eine Eigenschaft verfügt, die es ausschließt, ihn als ein sprachloses Tier anzusehen. Humanität schulden wir dem Menschsein, nicht der Menschlichkeit. Das Menschsein hat Anspruch auf Unterstützung, sogar oder vor allem in den Augenblicken des Sterbens, wenn es darauf ankommt, der Versuchung zu widerstehen, beim Anblick des Leidenden die Anwesenheit des Menschlichen zu ignorieren. Was die Menschheit im Angesicht der Übel am meisten benötigt, ist Mut, die Fähigkeit, sich der Furcht und dem Schmerz und den Gedanken an das Nichts zu widersetzen. Die Tode, die wir am meisten bewundern, sind diejenigen von Menschen, die im Wissen darum, dass sie sterben, dieser Tatsache die Stirn bieten und entsprechend handeln: Sie regeln ihre Angelegenheiten, sie bereiten die möglicherweise letzten Treffen mit denen von ihnen geliebten Menschen vor, und gleichzeitig fahren sie mit Seelenstärke und einem letzten Rest von Hoffnung damit fort, so sehr sie können und so lange sie können, zu leben und zu arbeiten und zu lieben. Weil für solche Lebensabschlüsse Mut nötig ist, erfordern sie unsere Ermutigung und die vielen kleinen Worte und Taten, die den menschlichen Geist vor der Verzweiflung und der Niederlage schützen. Leider verstehen sich viele Ärzte eher schlecht auf diese Art der Ermutigung. Sie neigen dazu, jeden sterbenden oder unheilbaren Patienten als Ergebnis ihres Versagens anzusehen, so als ob eine frühere Diagnose oder ein energischeres Eingreifen das hätten verhindern können, was tatsächlich ein unvermeidbarer Zusammenbruch ist. Die enormen Erfolge der Medizin in den letzten 50 Jahren haben dazu geführt, dass sowohl Ärtze als auch Laien weniger als je zuvor darauf vorbereitet sind, die Tatsache unserer Endlichkeit zu akzeptieren. Heutzutage ist es unwahrscheinlich, dass Mediziner versuchen wer-

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»Ich werde niemandem ein tödliches Mittel geben«

den, ihre Patienten zu ermutigen, sobald ihre Technik an ihre Grenzen gerät. Es ist offensichtlich, dass Ärtze genau aus diesen Gründen dazu gedrängt werden zu töten – und leider werden viele von ihnen dazu bereit sein. Da die Ärzte sich eine überwiegend technische Herangehensweise an die Heilkunst zueigen gemacht haben, werden sie, oft mit kaum verhüllter Verärgerung, gebeten, eine endgültige technische Lösung für das Übel der menschlichen Endlichkeit und für ihr eigenes technisches Scheitern zu finden: Wenn Sie mich nicht heilen können, dann töten Sie mich! Das letzte Aufbäumen ihrer Selbstbestimmung und der letzte Schrei nach Würde werden gegen die Medikalisierung und Institutionalisierung des Lebensendes ins Feld geführt, welche die alten und unheilbaren Menschen ihrer Selbstbestimmung und Würde weitgehend berauben: an Schläuche und elektrische Kontakte angeschlossen und umgeben von bizarr anmutenden mechanischen Begleitern finden sich Menschen, die einst stolz und unabhängig waren, in die Rolle von passiven, gehorsamen und hochgradig disziplinierten Kindern versetzt. Menschen, denen an der Selbstbestimmung und der Würde der Patienten gelegen ist, sollten versuchen, diese Entmenschlichung in den letzten Lebensabschnitten rückgängig zu machen, anstatt der Entmenschlichung dadurch zu ihrem letzten Triumph zu verhelfen, dass sie den verzweifelten Abschiedsgruß an all das annehmen, der in der letzten Bitte um das Gift enthalten ist. Die gegenwärtige Krise, die einige dazu bringt, um aktive Sterbehilfe zu bitten, bietet die Gelegenheit, etwas über die Grenzen der Medikalisierung des Lebens und des Todes zu lernen und die Wertschätzung für ein Leben mit der Sterblichkeit und gegen sie wiederzugewinnen. Es ist eine Gelegenheit für Ärzte, ein Verständnis dafür wiederzuerlangen, dass es immer einen verbleibenden Rest von menschlicher Ganzheitlichkeit gibt, mag er auch noch so gefährdet sein, für den man selbst noch im Angesicht einer unheilbaren und tödlichen Krankheit Sorge tragen kann. Falls die Ärzte klein beigeben sollten, falls sie zu technischen Erfüllungsgehilfen des Todes werden sollten, werden sie nicht nur ihren Posten und ihre Patienten verlassen und ihre Fürsorgepflicht verletzen. Sie werden auch der Gemeinschaft im Großen das schlechtestmögliche Beispiel geben – indem sie Technikergebenheit und sogenannte Humanität lehren, wo Ermutigung und Menschlichsein einerseits benötigt werden und andererseits schmerzlich vermisst werden. Wenn die Mediziner jedoch stand427 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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halten sollten, sollten sie lernen, dass Endlichkeit keine Schmach ist und dass man für die menschliche Ganzheitlichkeit bis zum letzten Ende Sorge tragen kann, dann könnte die Medizin nicht nur dem Wohl der Patienten dienen, sondern auch durch das gute Beispiel, das sie gäbe, der schwächelnden moralischen Gesundheit der Moderne etwas Gutes tun. Übersetzt von Héctor Wittwer

Literaturverzeichnis Commissie Onderzoek Medische Praktijk inzake Euthanasie: Rapport Medische Belissingen rond het Levenseinde. Den Haag 1991. Gomez, C.: Regulating Death: Euthanasia and the Case of the Netherlands. New York 1991. Hippokrates: Der Eid. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Aus dem Griech. übers. u. hg. v. Hans Diller. Stuttgart 1994, S. 7–10. o. A.: It’s over, Debbie. Journal of the American Medical Association 259/2 (1988), S. 272. Van Wijmen, F. C. B.: Artsen en Het Zelfgekozen Levenseinde: Verslag Van Een Onderzoek Onder Artsen Naar Opvattingen en Gedragingen Ten Aanzien Van Euthanasie en Hulp Bij Zelfdoding. Maastricht: Vakgroep Gezondheidsrecht, Rijksuniversiteit Limburg.1989. Yale Kamisar: Some Non-Religious Views against Proposed »Mercy-Killing« Legislation. In: Minnesota Law Review 42/6 (1958), S. 969–1042.

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Selbstauslöschung: Zur moralischen Bewertung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid Daniel Callahan

Was lässt sich über menschliches Leiden sagen? Zumindest so viel: Niemand möchte leiden. Niemand möchte einen von Leiden geprägten Tod. Nur Tyrannen und pathologisch grausame Menschen möchten, dass andere leiden. Ziel der Medizin ist es, Leiden zu lindern, und wir erklären uns zu einer Gesellschaft, die kein linderbares Leid irgendeiner Gruppe wissentlich tolerieren wird. Leiden bewirkt nicht nur körperlichen und seelischen Schmerz (so wie auch Schmerz Leiden bewirken kann); in seinen extremen Formen kann es so scheinen, als beraube es Menschen vollständig ihres Menschseins. Angesichts so vieler gemeinsamer Überzeugungen – unser wechselseitiges Einvernehmen darüber, dass menschliches Leiden möglichst vermieden und im Falle seines Auftretens gelindert werden sollte – stellt sich die Frage, wie man ärztliche Beihilfe zum Suizid (im Folgenden: ÄBS), die doch jemanden gerade vor einem solchen Leiden bewahren soll, moralisch ablehnen kann? Wie kann man sie, selbst wenn man sie persönlich ablehnt, in einer freien und pluralistischen Gesellschaft berechtigterweise anderen verweigern, die eine andere ethische Auffassung vertreten? Was könnte es Privateres geben als unser eigenes Leben und Schicksal? Wer bin ich schließlich, dass ich moralisch beurteilen könnte, was bei Anderen erträgliches oder unerträgliches Leiden darstellt, oder dass ich bewerten könnte, was andere tun können, um ihr Leiden zu lindern? Scheint nicht überdies der gesunde Menschenverstand nahezulegen, dass in Fällen, wo jemand ohnehin sterben wird und dies mit unnötig unerträglichen Leiden verbunden ist, die ÄBS eine barmherzige Möglichkeit bietet, um dieses Leid zu verhindern? Vielen erscheinen die Antworten auf diese mittlerweile geläufigen Fragen nahezu selbstverständlich. Die moralischen Argumente zugunsten der ÄBS scheinen sich so offensichtlich auf einen Fundus gemeinsamer Werte, einen überzeugenden Konsens über Freiheit und die Linderung von Leiden zu stützen, dass es manchmal schwer429 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

Daniel Callahan

fällt zu verstehen, warum dieses Thema anderen solche Schwierigkeiten bereitet. Geht es dabei um Vorurteile und Irrationalität? Oder um mangelnde moralische Sensibilität? Oder religiösen Dogmatismus? Nein. Es geht um nichts dergleichen, obwohl diese Dinge sicherlich bei einigen Gegnern der ÄBS zu finden sein mögen. Im Gegenteil beruht das seit langer Zeit bestehende – kulturelle, ärztliche und religiöse – historische Verbot der ÄBS auf einer fundierten und bleibenden Einsicht: nämlich dass es gefährlich und falsch ist, Suizid als Möglichkeit, Leiden zu lindern, zu billigen und zu unterstützen und dass es ebenso riskant ist, Ärzte zu Helfern einer solchen Handlung zu machen. Ich behaupte, dass es kein Recht auf ÄBS gibt und dass, selbst wenn einige der Meinung sind, sie hätten ein solches Recht, sie aufgrund der damit verbundenen Gefahren für andere freiwillig auf seinen Gebrauch verzichten sollten (so wie wir auch nicht unser gesetzliches Recht auf Redefreiheit dazu verwenden sollten, gemeine und herabsetzende rassistische Äußerungen zu tätigen). Traditionell gibt es zwei allgemeine philosophische Ansätze zur moralischen Bewertung von Sterbehilfe und ÄBS. Der eine versucht zu zeigen, dass diese Handlungen intrinsisch falsch sind, d. h. dass sie selbst dann falsch sind, wenn einige oder alle ihre Folgen nützlich sein könnten. Der andere Ansatz versucht zu zeigen, dass die Folgen der ÄBS, ihre tatsächlichen Folgen, entweder in direkter und unmittelbarer Weise schädlich sind, oder deshalb, weil sie uns auf die berühmt-berüchtigte schiefe Ebene führen würden. Diese saubere Dichotomie in der Moraltheorie ist wenig hilfreich. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie man bei der Bestimmung dessen, was intrinsisch falsch ist, die Folgen ausblenden kann, und ebenso schwierig ist es, ohne eine gewisse Vorstellung davon, was intrinsisch richtig und falsch ist, zu bestimmen, was als gute und schlechte Folgen zählt. Jede Theorie scheint in der Praxis die andere zu benötigen, um überhaupt einen Sinn zu ergeben. Es ist hier nicht der Ort dafür, diese seit langer Zeit bestehende Debatte in der Moralphilosophie weiter zu vertiefen. Im Rahmen dieses Essays werde ich einen Ansatz verfolgen, den ich als ökologische Herangehensweise an die moralischen Fragen bezeichnen möchte. Stellen Sie sich ÄBS als eine scheinbar attraktive Blume vor, die wir erwägen, auf die Wiese zu pflanzen, die unsere Gesellschaft darstellt. Sollten wir dies tun oder nicht? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erstens fragen, ob die Pflanze Wurzeln schlagen und aus ei430 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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gener Kraft gedeihen wird. Wird sie wie erwartet wachsen? Zweitens müssen wir fragen, wie sie sich auf die anderen Pflanzen auf der Wiese auswirken wird. Wie wird sie deren Gedeihen beeinflussen? Wir müssen also eine zweifache Frage stellen: Ist ÄBS an sich gut, und welche Bedeutung und Folgen wird sie für die Gesellschaft haben, in die sie eingeführt wird? Alles in allem ist es diese letztere Frage, die mich hier am meisten interessieren wird, doch ich möchte etwas über die intrinsische Richtigkeit oder Falschheit der ÄBS vorwegschicken. Um welche Art von Pflanze, die wir da auf unserer gesellschaftlichen Wiese einführen wollen, handelt es sich: Ist sie gut oder schlecht, nützlich oder schädlich? Ich bin der Auffassung, dass ÄBS per se schädlich ist. Wenngleich ich durchaus bereit bin einzuräumen, dass einige Menschen sich aus Verzweiflung über ihr Schicksal oder ihr Leiden vielleicht selbst töten möchten, und nicht weniger bereit bin, ein moralisches Urteil über ihre spezielle Handlung zurückzustellen, ist es etwas vollkommen anderes, Suizid gesellschaftlich zu billigen und als eine akzeptable und regelmäßig, wenn auch relativ selten vorkommende Art und Weise, mit dem Problem eines unglücklichen Lebens umzugehen, zu legitimieren. Unsere übliche moralische Intuition, dass Suizid normalerweise einen Akt der Verzweiflung darstellt, dass er für gewöhnlich auf einen gewissen Grad einer behandelbaren Depression hindeutet und man nicht zu ihm ermuntern sollte, erscheint mir vollkommen berechtigt. Sie ermöglicht uns, uns vor der Verzweiflung, die das Leben uns bescheren kann, selbst zu schützen und anderen dabei zu helfen, uns davor zu schützen. Und es besteht allgemein Konsens darüber, dass wir einander helfen müssen, mit dieser Verzweiflung fertig zu werden, nicht ihr zu erliegen. Einem Arzt zudem die Macht zu verleihen, eine andere Person, selbst mit deren Erlaubnis, zu töten, oder einer Person dabei behilflich zu sein, sich selbst zu töten, heißt, zu viel Macht in seine Hände zu legen, nämlich das Recht zu töten, um die Verzweiflung zu beseitigen.

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Gibt es einen moralischen Unterschied zwischen Sterbehilfe und ärztlicher Beihilfe zum Suizid?

Doch verwechsle und verschmelze ich hier nicht, ganz unabhängig von jenem Argument, Sterbehilfe und ÄBS miteinander? Schließlich nimmt der Arzt bei der ÄBS überhaupt keine Tötung vor: Vielmehr 431 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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stellt der Patient selbst die direkte Ursache für den Tod dar, und er ist auch der für ihn direkt verantwortliche Akteur. Die Unterscheidung zwischen Sterbehilfe und ÄBS ist moralisch nicht bedeutsam. Ein Arzt, der einem Patienten ein tödliches Medikament besorgt und ihm Anweisungen gibt, wie man es einnehmen muss, um den Tod herbeizuführen, trägt genauso viel Verantwortung für den Tod des Patienten wie dieser selbst. Der Arzt ist wissentlich ein Teil, und zwar ein notwendiger Teil der Kausalkette, die zum Tod des Patienten führt. In den meisten Rechtsprechungen macht das Gesetz jene, die »Beihilfe« zu Kapitalverbrechen leisten, ebenso verantwortlich: Wenn ich einer Person die Waffe gebe, mit der sie, wie ich weiß, eine andere Person töten will, und ihr dann untätig dabei zusehe, wird das Gesetz mich genauso verantwortlich für den Tod machen wie die Person, die den Abzug betätigt hat. Hier gilt die gleiche Argumentation: Ärzte, die durch Injektionen in direkter Weise töten oder anderen die Tabletten geben, die sie benötigen, um sich selbst zu töten, sind in vollem Umfang für das, was passiert, zu verurteilen (oder zu loben, wenn man solche Handlungen als ethisch akzeptabel anerkennt). Ich behaupte somit, dass es falsch ist, einer Person absolute Macht über das Leben einer anderen Person zu verleihen, gleich ob diese Macht nun gewaltsam oder durch freiwillige Mittel erworben wird, und gleich ob sie direkt oder durch zusätzliche Mittel erreicht wird. Die einvernehmliche Tötung Erwachsener (consenting adult killing 1), bei der die Parteien eine freiwillige Vereinbarung treffen, ist moralisch falsch und wird weder durch die Freiwilligkeit der Tötung abgeschwächt noch aufgrund ihrer möglicherweise nützlichen Folgen entschuldbar. Ich räume eine Ausnahme von der allgemeinen Regel ein, Personen nicht die gesetzliche Macht zu geben, einander zu töten oder einander beim Sterben behilflich zu sein: Wenn es die einzige Möglichkeit darstellt, das Leben anderer zu retten oder zu schützen. Doch selbst diese Ausnahme muss sorgfältig und genau geprüft werden. Westliche Gesellschaften haben es in drei allgemeinen Fällen erlaubt, dass eine Person eine andere tötet: bei Notwehr, wenn es die einzige Möglichkeit darstellt, das eigene Leben zu schützen; in einem

Callahan versteht darunter »die Tötung einer Person durch eine andere im Namen ihres wechselseitigen Rechts, Tötender zu sein und getötet zu werden, wenn sie ihre freiwillige Einwilligung geben, diese Rollen zu spielen«, vgl. ders.: »When Self-Determination Runs Amok«, Hastings Center Report, 22/2 (1992), S. 52–55, hier S. 1 (Anm. d. Übers.).

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432 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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gerechten Krieg, wenn es die einzige Möglichkeit darstellt, das eigene Land oder die eigene Gemeinschaft zu verteidigen; und im Fall der Todesstrafe, wenn sie für die einzige Möglichkeit gehalten wird, das Leben anderer zu schützen. Jeder dieser Fälle wird bekanntlich heute sehr kontrovers diskutiert. Das bewusste wie unabsichtliche Leid, das im Namen der Todesstrafe (ungerechte Exekutionen), gerechter Kriege (Massaker an der Zivilbevölkerung und andere Gräueltaten) und der Notwehr (fahrlässige Tötungen) zugefügt wurde, ist hinlänglich bekannt. Aus eben diesem Grunde haben viele Staaten die Todesstrafe abgeschafft, ihren Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf eigene Handfeuerwaffen (sogar zur Selbstverteidigung) verwehrt und Skepsis gegenüber der Idee eines »gerechten« Krieges entwickelt (wenn auch nicht so sehr, dass es wirklich einen Unterschied machen würde). Sterbehilfe und ÄBS hätten den zweifelhaften Nutzen, dass es mit ihnen einen weiteren gesellschaftlich tolerierten Grund dafür gäbe, dass eine Person eine andere töten oder einer anderen dabei behilflich sein darf, sich selbst zu töten. Angesichts der hinlänglich bekannten und traditionellen Fehlschläge und der Korrumpierung der anderen akzeptierten Gründe, weshalb es einer Person erlaubt sein könnte, eine andere zu töten, sind erhebliche Zweifel daran angebracht, dass dieser jüngste Eintrag in das Repertoire an zulässigen Tötungen unser gemeinsames Schicksal verbessern wird. Mit einem Wort: Ich bin der Meinung, dass ÄBS per se falsch ist, und zwar wegen der übermäßigen Macht, die sie in die Hände von Ärzten legt; und diese Wahrnehmung, dass die ÄBS falsch ist, wird durch die gleichzeitigen Erfahrungen in vielen Gesellschaften verstärkt, dass Missbrauch ein natürlicher und unvermeidlicher Bestandteil der Ausübung vergleichbarer Befugnisse über das Leben anderer in verschiedenen Kontexten zu sein scheint. Selbst wenn man zugesteht, dass das Potential für Missbrauch erheblich ist, sind zwei Antworten möglich. Die eine besagt, dass ein gewisser Grad von Missbrauch eine logische Folge jeder Rechtsprechung zu jedwedem Zweck sei. Eine missbrauchsfreie Rechtsprechung sei nicht möglich und könne somit nicht als Grund dafür vorgebracht werden, den Beschluss von Gesetzen zu verhindern, deren Zweck ansonsten für moralisch akzeptabel gehalten wird. Als allgemeine Behauptung ist dies zweifelsohne richtig, doch wir müssen uns fragen, was es denn genau in diesem Kontext bedeuten würde, einen gewissen Grad von Missbrauch zu tolerieren. Es würde Folgendes bedeuten: Es würde bedeuten, dass wir die vorsätzliche Tötung 433 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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einer Person (Sterbehilfe) oder die vorsätzliche Manipulation einer Person, damit sie sich selbst tötet (ÄBS), tolerieren, um die Freiheit anderer zu unterstützen, getötet zu werden oder Beihilfe zur Selbsttötung zu erhalten. Kurzum, wir würden erlauben, dass einige zu Unrecht getötet werden, damit andere sich selbst töten können. Das wäre eine höchst befremdliche und ungerechte Art, Selbstbestimmung voranzubringen oder zu unterstützen: meine Autonomie würde um den Preis der ungerechtfertigten Tötung eines anderen gefördert. Die andere Antwort besagt, dass die Bedeutung unseres individuellen Rechts auf Leben in Wirklichkeit nicht in einem positiven Recht auf Leben bestehe, sondern vielmehr in dem Recht, nicht von anderen gegen unseren Willen getötet zu werden. Es handele sich gleichsam um ein negatives Recht, auf das wir verzichten dürfen sollten, wenn wir der Überzeugung seien, dass dies in unserem eigenen Interesse und im Sinne unseres Wohls sei. Aus dieser Perspektive wird dann dafür plädiert, dass wir einem Arzt erlauben dürfen sollten, uns zu töten, wenn wir auf unser Recht, nicht getötet zu werden, verzichten, oder dass wir einen Arzt bitten dürfen sollten, uns bei einem Suizid behilflich zu sein, bei dem wir uns dafür entscheiden, unser Leben eigenhändig zu beenden. Es ist schwer zu sagen, was man von dieser scheinbar willkürlichen Festlegung der Bedeutung eines Rechts auf Leben halten soll. Die Grundlage der gesamten neuzeitlichen Bewegung für allgemeine Wohlfahrtsrechte, ob es nun um das Recht auf Arbeit oder auf Nahrung oder Gesundheitsversorgung geht, beruhte auf der Annahme, dass wir einander mehr schulden als den bloßen Verzicht darauf, uns gegenseitig zu töten oder Schaden zuzufügen. Es ging um das Bemühen, einen Rahmen positiver Rechte zu schaffen, der sich auf die allgemein geteilte Überzeugung stützt, dass wir untereinander ebenso positive Verpflichtungen haben wie negative Verpflichtungen der Nichteinmischung. Ist das Recht von Frauen, nicht vergewaltigt zu werden, bloß ein negatives Recht, auf das sie verzichten können, wenn sie sich dafür entscheiden? Ist auch das Recht, nicht versklavt zu werden, ein Recht, auf das verzichtet werden kann, wenn man uns nur ein ausreichend attraktives Angebot für den Kauf unserer Körper macht? Kurzum, der Preis, den wir zahlen, wenn wir unser Recht auf Leben bloß als Recht auf Nichteinmischung, als Recht darauf, nicht getötet zu werden, verstehen, besteht in einer Verarmung des Begriffs des Rechts und einer Gefährdung des erweiterten Umfangs der 434 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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wechselseitigen menschlichen Verpflichtungen, die in der Neuzeit vorangebracht wurden.

2.

Ein Wendepunkt?

Kommen wir zur gesellschaftlichen Bedeutung und Wirkung der ÄBS. Ich halte den Wunsch einiger, wenn nicht gar vieler Menschen nach einer Legalisierung und gesellschaftlichen Legitimation der ÄBS für zutiefst sinnbildlich für drei wichtige Wendepunkte im westlichen Denken. Den ersten habe ich bereits skizziert und werde ihn daher nicht weiter vertiefen: Mit der Akzeptanz der ÄBS würde moralisch gebilligt, was man nur als einvernehmliche Tötung Erwachsener bezeichnen kann, gleich ob es sich dabei um die Tötung einer anderen Person (Sterbehilfe) oder um die Beihilfe zur Selbsttötung handelt (ÄBS). Der zweite Wendepunkt liegt in der Bedeutung und den Grenzen der Selbstbestimmung. Mit der Akzeptanz der Sterbehilfe würde eine Auffassung von Autonomie gebilligt, nach der Individuen im Namen ihrer eigenen privaten Vorstellung vom guten Leben und der Linderung von Leiden, andere – Ärzte – dazu auffordern könnten, ihnen bei der Verfolgung eines solchen Lebens zu helfen, selbst auf die Gefahr hin, dass dadurch das Gemeinwohl Schaden leidet. Dies läuft der Vorstellung zuwider, dass die Bedeutung und die Reichweite unseres Rechts, unser eigenes Leben zu leben, durch das Gemeinwohl bedingt und mit ihm vereinbar sein muss. Und dieses Gemeinwohl ist mehr als eine Summe sich selbst lenkender Individuen. Der dritte Wendepunkt findet sich in dem Anspruch, der gegenüber der Institution der Medizin erhoben wird, dass sie bereit sein sollte, ihre Fähigkeiten Individuen verfügbar zu machen, um ihnen zu helfen, ihre private Vorstellung vom guten Leben zu verwirklichen. Damit käme der Medizin die Aufgabe zu, das individualistische Streben nach allgemeinem, menschlichem Glück zu fördern. Es würde mit der traditionellen Überzeugung brechen, dass die Medizin sich darauf beschränken sollte, die Gesundheit und das Leben von Menschen zu fördern und zu erhalten, und würde sie stattdessen auf die Linderung desjenigen Leidens lenken, das dem Leben selbst und nicht nur einem kranken Körper oder Geist geschuldet ist. An jedem dieser drei Wendepunkte drängen uns Befürworter der ÄBS in die falsche Richtung. Die Argumente zugunsten der ÄBS 435 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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lassen sich in vier Kategorien unterteilen, die ich nacheinander aufgreifen werde. Diese sind: (1) der moralische Anspruch auf individuelle Selbstbestimmung und Wohlergehen; (2) die unterstellte moralische Bedeutungslosigkeit des Unterschieds zwischen Töten und Sterbenlassen; (3) der vermeintliche Mangel an Beweisen für die wahrscheinlichen schädlichen Folgen einer legalisierten Sterbehilfe und (4) die Vereinbarkeit von Sterbehilfe und ärztlicher Tätigkeit.

3.

Selbstbestimmung

Von zentraler Bedeutung für die meisten Argumente zugunsten der ÄBS ist das Prinzip der Selbstbestimmung. Es wird angenommen, dass Menschen das Recht haben, entsprechend ihren eigenen Überzeugungen hinsichtlich dessen, was das Leben gut macht, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Leben führen wollen. Das ist ein wichtiger Wert, der zu Recht hochgeschätzt wird. Doch die Frage im Zusammenhang mit der ÄBS lautet: Was bedeutet er und wie weit sollte er reichen? Ginge es um einen Suizid, bei dem eine Person sich selbst ohne fremde Hilfe das Leben nimmt, könnte dieses Prinzip einschlägig sein, zumindest um darüber zu diskutieren. Doch Beihilfe zum Suizid ist keine derart eingeschränkte Angelegenheit. In diesem Fall kann die Selbstbestimmung nur mit der moralischen und physischen Unterstützung einer anderen Person erfolgen. Beihilfe zum Suizid ist dadurch nicht länger nur eine Sache der Selbstbestimmung, sondern eine Sache der wechselseitigen, gesellschaftlichen Entscheidung zwischen zwei Personen: der einen, den Suizid vorzunehmen und der anderen, ihn technisch zu ermöglichen. Da sie zudem derzeit in den meisten Rechtsprechungen illegal ist, wird jede Gesetzesänderung die gesellschaftliche Billigung durch einen Gesetzgeber oder Gerichte erfordern; das wäre ein starker Akt der Legitimation – der ein traditionsreiches Gefüge von Überzeugungen und Gesetzen verändern würde – und nicht bloß ein neutraler Akt der Zulässigkeit. Doch mit welcher Berechtigung sollten wir den moralischen Schritt tun von meinem Recht auf Selbstbestimmung hin zu irgendeinem Recht des Arztes, mir dabei behilflich zu sein – den Schritt von meinem Recht hin zu seinem Recht? Woher stammt die moralische Erlaubnis des Arztes, jemandem dabei zu helfen, sich selbst zu töten? Sollten Ärzte in der Lage sein, Menschen dabei zu helfen, sich selbst zu töten, solange die diesbezügliche Bitte von Menschen kommt, die 436 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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geistig zurechnungsfähig sind? Ist unser Recht auf Leben einfach mit einem Stück Eigentum vergleichbar, das man hergeben oder veräußern kann, wenn nur der Preis (Glück, Linderung der Leiden) stimmt? Und das dann mit unserer Erlaubnis zerstört werden kann, sobald es veräußert wurde? Als Antwort auf all diese Fragen werde ich Folgendes sagen: Mir ist noch kein plausibles Argument zu Ohren gekommen, warum es uns erlaubt sein sollte, diese Art von Macht in die Hände eines anderen zu legen, gleich ob es sich dabei um einen Arzt oder jemand anderen handelt. Die Vorstellung, dass wir auf unser Recht auf Leben verzichten könnten, um dann jemand anderem die Macht zu geben, uns zu töten oder uns dabei zu helfen, uns zu töten, bedarf einer Rechtfertigung, die noch geliefert werden muss. Einfach zu behaupten, wir hätten das Recht, die Herrschaft über unser Leben jemand anderem zu übertragen, geht an der eigentlichen Frage vorbei. Diese Frage lautet, ob jemand das Recht haben sollte, einen anderen zu töten oder bei seiner Tötung behilflich zu sein, nur weil jemand bereit ist, seine Souveränität in dieser Weise abzutreten oder auszuüben. Anders formuliert: Kann man von einem anderen ein solches übertragenes Recht erhalten? Für eine solche Übertragung gibt es zwei mögliche Begründungen. Die eine besteht darin, dass (a) schon der Begriff der Souveränität in Bezug auf die eigene Person, der umfassenden Selbstbestimmung, uns erlaubt, mit unserer eigenen Person zu tun, was wir wollen, einschließlich der Übertragung dieses Rechts auf einen anderen, damit dieser es in unserem Namen wahrnimmt. Die andere Begründung besteht darin, dass es (b) unter gewissen Umständen physisch unmöglich sein kann, unser Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen, sodass wir die Unterstützung anderer benötigen, damit es wirksam werden kann. (a) Die Souveränität in Bezug auf die eigene Person: Ich werde die erste Begründung, nämlich die, dass wir das Recht haben, unser Recht auf Selbstbestimmung auf einen anderen zu übertragen, prüfen, indem ich zwei Analogien anbiete: Fälle, in denen zivilisierte Gesellschaften eine uneingeschränkte Souveränität der eigenen Person verweigert haben. Die Sklaverei wurde vor langer Zeit mit der Begründung verboten, dass eine Person nicht das Recht haben sollte, eine andere zu besitzen, selbst wenn die andere Person es erlaubt. Warum? Weil es von Grund auf moralisch falsch ist, wenn eine Per437 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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son ihr Leben und Schicksal einer anderen überantwortet, gleich welche guten Folgen sich daraus ergeben mögen; und es ist ebenso falsch, wenn eine andere Person eine solch totale, finale Macht besitzt. Auch das Duellieren wurde aus ähnlichen Gründen wie die Sklaverei schon vor langer Zeit verboten: Selbst freie, zurechnungsfähige Individuen sollten nicht die Macht haben, sich aus welchen Motiven und unter welchen Umständen auch immer gegenseitig zu töten. Die einvernehmliche Tötung Erwachsener ist ebenso wie die einvernehmliche Sklaverei oder die einvernehmliche Erniedrigung Erwachsener ein seltsamer Weg zur Realisierung der Menschenwürde. Es gibt noch ein weiteres Problem. Sollen Ärzte, sobald sie die Erlaubnis haben, Sterbehilfe oder ÄBS vorzunehmen, selbst verantwortliche moralische Akteure sein – und nicht einfach nur Lohnarbeiter mit griffbereiten tödlichen Injektionen oder tödlichen Tabletten –, dann müssen sie ihre eigenen, unabhängigen moralischen Gründe dafür haben, jene zu töten oder ihnen Hilfestellung zu leisten, die um solche Dienste bitten. Was meine ich damit? Wie einige Befürworter der Sterbehilfe offen zugeben, wünschen einige Menschen sie, weil ihr Leben so beschwerlich geworden ist, dass es ihnen nicht länger lebenswert erscheint. Der Arzt wird an dieser Stelle vor einem Problem stehen. Der Schweregrad und die Intensität, mit der Menschen an ihren Krankheiten und ihrem Sterben leiden, ob sie das Leben eher als Last denn als Nutzen erleben, hat wenig unmittelbar mit der Art oder dem Ausmaß ihres tatsächlichen Gesundheitszustandes zu tun. Körperliche und seelische Leiden sind, für sich genommen, völlig unzureichende Anzeichen für einen Suizidwunsch. Drei Personen können überdies denselben ernsthaften Gesundheitszustand aufweisen, doch nur einer von ihnen hält das Leiden für unerträglich. Menschen leiden, doch Leiden ist genauso sehr eine Funktion der Werte der Individuen, wie es eine Funktion der physischen und psychischen Ursachen dieses Leidens ist. Zwangsläufig werden Ärzte unter diesen Umständen faktisch mit den Werten des Patienten umgehen müssen. Um verantwortlich zu handeln, müssten sie diese Werte teilen. Sie müssten selbstständig entscheiden, ob das Leben des Patienten »nicht mehr länger lebenswert« wäre. Doch wie könnte ein Arzt das überhaupt wissen oder ein solches Urteil fällen? Nur weil der Patient es gesagt hat? Ich werfe diese Frage auf, weil sich bei einer Konferenz über Sterbehilfe in den Niederlanden die anwesenden holländischen Ärzte darin einig waren, dass es keinen objektiven Weg gibt, um die Behauptungen von Patienten, 438 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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dass ihr Leiden unerträglich sei, abzuschätzen oder zu beurteilen. Und wenn es schon schwierig ist, Leiden abzuschätzen bzw. zu messen, um wie viel schwieriger wird es erst sein, den Wert der Aussage einer Patientin zu bestimmen, dass ihr Leben nicht lebenswert sei? Wie auch immer man solche Fragen beantworten möchte: Die Notwendigkeit, sie zu stellen, die Verantwortung und die Gründe des Arztes für ärztliche und moralische Urteile zu untersuchen, verweist auf den gesellschaftlichen Charakter dieser Entscheidung. Sterbehilfe und ÄBS sind keine privaten Angelegenheiten der Selbstbestimmung. Für beide Handlungen sind zwei Personen erforderlich, um sie zu ermöglichen, und eine als Komplizin auftretende Gesellschaft, um sie annehmbar zu machen. (b) Unfähigkeit zur Ausübung der Selbstbestimmung: Ich wende mich nun der zweiten Begründung für ein Recht von Ärzten zu, einem anderen beim Suizid zu helfen, nämlich der, dass einige Patienten physisch nicht dazu in der Lage sind, ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen, wie dies beispielsweise bei ALS oder Tetraplegie der Fall ist. Hier ist das Problem etwas anders gelagert. Kann man erstens sagen, dass wir ein Recht auf Suizid haben, derart, dass eine physische Unfähigkeit, ihn vorzunehmen, ein Hindernis für die Wahrnehmung dieses Rechts darstellt? Folgt zweitens, wenn wir ein solches Recht zugestehen, daraus ein entsprechendes Recht aufseiten der Ärzteschaft, uns beim Suizid behilflich zu sein? Suizid ist in den Vereinigten Staaten legal in dem Sinne, dass es kein Gesetz gibt, das ihn verbieten würde. Folgt daraus, dass es ein Recht auf Suizid gibt? Nicht notwendig. Viele Handlungen sind erlaubt, die nicht als Rechte aufgefasst werden; das heißt, wir haben keinen besonderen Anspruch darauf, diese Handlungen vorzunehmen, sondern nur die Erlaubnis der Gesellschaft dazu. Es steht uns frei, unsere Seh- und Hörkraft zu verwenden, doch es gibt kein Grundrecht oder sonstiges Recht auf diese. Es steht uns frei, in Restaurants zu speisen statt zu Hause, doch niemand behauptet, es gebe ein Recht darauf, dies zu tun. Der Suizid scheint in diese Kategorie zu fallen. Die Permissivität der Gesellschaft, die sich darin zeigt, dass sie mir nicht verbietet, mich selbst zu töten, führt nicht zu einem positiven Recht auf Suizid. Das heißt, wir können nicht die Macht des Staates anrufen, damit er uns beim Suizid hilft oder damit er von anderen verlangt, unserem Entschluss nachzukommen. Diese Schlussfolgerung ergibt sich unabhängig davon, ob die Person, die 439 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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den Suizid vornimmt, physisch dazu in der Lage ist oder nicht; das ist irrelevant. Der Suizid fällt somit in jene Grauzone von Handlungen, die vom Staat erlaubt sind, doch denen die privilegierte Stellung eines akzeptierten Rechts verwehrt bleibt. Angesichts dieser Situation komme ich zu dem Schluss, dass niemand behaupten kann, eine andere Person habe eine Pflicht dazu, ihr beim Suizid zu helfen. Das heißt, niemand kann behaupten, es gebe ein Recht auf Suizid und somit eine Pflicht aufseiten irgendeiner anderen Person, uns dabei behilflich zu sein. Doch was, wenn ein Arzt bereit ist, dabei behilflich zu sein, selbst wenn er nicht dazu verpflichtet ist? Sollte eine solche Hilfestellung erlaubt sein, wenn eine Person, die sich selbst töten möchte, physisch nicht allein dazu in der Lage ist? Diese Frage kann freilich nicht losgelöst von unserer moralischen Gesamtbewertung der Beihilfe zum Suizid beantwortet werden. Ich habe behauptet, dass Selbstbestimmung als moralisches Prinzip für eine Prima-facie-Begründung für ärztliche Beihilfe zum Suizid nicht ausreicht. Wie der Fall der freiwilligen Sklaverei (oder rechtliche Verbote des Verkaufs von Organen) verdeutlicht, gestehen wir Menschen keine uneingeschränkten Rechte darauf zu, mit ihren Körpern zu machen, was sie wollen, nur weil es ihre Körper sind. Das heißt, ein Recht auf Selbstbestimmung hat nicht zur Folge, dass jede Art, dieses Recht wahrzunehmen, gleichermaßen geschützt, geschweige denn unterstützt werden müsste. Zu behaupten, Menschen, die physisch nicht dazu in der Lage sind, sich selbst zu töten, hätten einen Anspruch auf Hilfe gegenüber Ärzten, oder Ärzte hätten eine Verpflichtung dazu, ihnen zu helfen oder dürften ihnen helfen – jede dieser Behauptungen geht an der eigentlichen Frage vorbei; und diese Frage lautet, ob wir (a) das Recht auf Selbstbestimmung so ausdehnen sollten, dass es ärztliche Beihilfe zum Suizid umfasst, oder ob wir (b) Beihilfe zum Suizid zumindest im Falle von Personen erlauben sollten, die physisch nicht dazu in der Lage sind, sich selbst zu töten. Wir können keine dieser Fragen ausschließlich in Bezug auf ein Recht auf Selbstbestimmung beantworten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Wenn es kein Prima-Facie-Recht auf Basis der Selbstbestimmung gibt, sich selbst zu töten, kann es auch kein Recht auf die Hilfe einer anderen Person dabei geben; und das würde selbst dann gelten, wenn wir nicht in der Lage sind, uns allein zu töten. Die vorliegende Frage für uns lautet nicht, ob es ein Recht auf ÄBS gibt, sondern ob wir sie als gesellschaftliche Vorgehensweise erlauben 440 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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wollen. Selbstbestimmung als Prinzip führt nicht automatisch zu diesem Schluss.

4.

Töten und Sterbenlassen

Ich habe die Auffassung vertreten, dass es keinen grundlegenden moralischen Unterschied zwischen der direkten Tötung eines Patienten, i. e. Sterbehilfe, und der direkten Beihilfe zur Selbsttötung eines Patienten (d. h., indem ihm die Mittel hierfür zur Verfügung gestellt werden) gibt. Nun haben einige die Ansicht vertreten, dass es keinen moralischen Unterschied zwischen dem Töten und dem Sterbenlassen einer Person durch die Beendigung der lebenserhaltenden Behandlung gibt. Lässt sich daher behaupten, dass es auch keinen moralischen Unterschied zwischen (a) der direkten Tötung eines Patienten (Sterbehilfe), (b) der Beendigung der lebenserhaltenden Behandlung bei einem sterbenden Patienten (Sterbenlassen) und (c) der Unterstützung einer sterbenden Person bei der Selbsttötung (ÄBS) gibt? Betrachten wir den Fall einer von ALS betroffenen Person, die auf ein Beatmungsgerät angewiesen ist, aber in der Lage ist, einige Handbewegungen zu kontrollieren, und die die folgenden Möglichkeiten erwägt: (a) dass sie durch eine ärztliche Injektion getötet wird; (b) dass ihr Beatmungsgerät abgeschaltet wird; (c) dass ihr eine Tablette gegeben wird, damit sie sich selbst töten kann. Handelt es sich hierbei um äquivalente moralische Handlungen, so dass es moralisch irrelevant wäre, ob man sich für (a), (b) oder (c) entscheidet? Ich möchte die Auffassung vertreten, dass (a) und (c) moralisch äquivalent sind, (b) hingegen nicht. Das heißt, ich möchte behaupten, dass Sterbehilfe und ÄBS sich zwar moralisch entsprechen – denn die konkrete Todesursache wird die Handlung einer anderen Person (eines Arztes) oder die eigene Handlung sein, die von einer anderen Person unterstützt wird (ÄBS) –, doch dass die Abschaltung des Beatmungsgerätes anders gelagert ist. In letzterem Fall wird die zugrundeliegende ALS die Todesursache darstellen. Wir möchten vielleicht das moralische Urteil fällen, dass es falsch ist, das Beatmungsgerät von jemandem abzustellen, der an ALS leidet, selbst wenn dieser Patient im Sterben liegt. Doch es wäre ein Fehler, moralisch das Handeln des Arztes, wenn er dies tut, mit dem Wirken der Natur, wenn sie Leben beendet, gleichzusetzen. Da es nur allzu üblich geworden ist, Sterbehilfe, Beihilfe zum 441 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Suizid und Sterbenlassen miteinander zu verschmelzen, ist es wichtig zu verstehen, warum es einen moralischen Unterschied zwischen der Tötung und der Hilfe bei der Tötung einer Person einerseits und dem Sterbenlassen einer Person andererseits gibt. Betrachten wir eine weitreichende Folge der Einebnung des Unterschieds zwischen diesen beiden Kategorien: nämlich dass der krankheitsbedingte Tod ausgeschlossen wird, sodass nur noch die Handlungen der Ärzte, wenn sie die Behandlung beenden, als Todesursache übrigbleiben. Die Biologie, die für gewöhnlich den Tod herbeiführte, ist offenbar durch menschliches Handeln verdrängt worden; Ärzte beenden Leben, nicht die Natur. Worin liegt hier der Fehler? Er liegt darin, dass Ursächlichkeit und Schuld verwechselt werden und dass nicht bemerkt wird, wie menschliche Gesellschaften natürliche Ursachen mit moralischen Regeln und Deutungen belegt haben. Ursächlichkeit (womit ich die direkten physischen Todesursachen meine) und Schuld (womit ich unsere Zuschreibung der moralischen Verantwortung zu menschlichen Handlungen meine) werden unter drei Umständen verwechselt. Sie werden erstens verwechselt, wenn die Handlung eines Arztes, bei der er die Behandlung eines Patienten mit einer zugrundeliegenden tödlichen Krankheit stoppt, so gedeutet wird, als würde sie den Tod verursachen. Tatsächlich kann die Unterlassung des Arztes jedoch im Gegensatz zu dieser Annahme nur unter der Voraussetzung den Tod herbeiführen, dass die Krankheit des Patienten ihn ohne Behandlung töten wird. Wir können den Arzt für den Tod moralisch verantwortlich machen, wenn wir solche Handlungen moralisch als unerlaubte Unterlassungen beurteilt haben. Doch man verwechselt Realität und moralisches Urteil, wenn man eine unterlassene Handlung so begreift, als habe sie denselben kausalen Status wie eine Handlung, die in direkter Weise tötet. Eine tödliche Injektion wird eine gesunde Person genauso töten wie eine kranke. Die unterlassene Behandlung eines Arztes wird demgegenüber keine Auswirkung auf eine gesunde Person haben. Schalten Sie bei mir als gesunder Person die Geräte ab, passiert überhaupt nichts. Dieselbe Handlung wird das Leben einer kranken Person nur aufgrund ihrer zugrunde liegenden tödlichen Krankheit beenden. Ursächlichkeit und Schuld werden zweitens verwechselt, wenn wir nicht bemerken, dass Urteile über moralische Verantwortung und Schuld menschliche Konstrukte darstellen. Damit meine ich, dass wir als Menschen nach moralischer Reflexion entschieden haben, einige 442 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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Handlungen als richtig oder falsch zu bezeichnen und moralische Regeln zu entwickeln, um mit ihnen umzugehen. Konnten Ärzte früher nichts tun, um den Tod zu stoppen, wurden sie auch nicht für ihn verantwortlich gemacht. Als sie mit wachsendem medizinischen Fortschritt langsam eine gewisse Macht über den Tod gewannen – jedoch nur über seinen zeitlichen Ablauf und seine Umstände, nicht über seine letztendliche Unvermeidlichkeit –, wurden moralische Regeln entwickelt, um ihre Verpflichtungen darzulegen. Natürliche Todesursachen wurden dadurch nicht verbannt. Stattdessen wurden sie mit einem medizinischen Ethos belegt, das die moralische Schuld beim Einsatz medizinischer Macht bestimmen sollte. Bringt man die Urteile dieses Ethos mit den physischen Todesursachen durcheinander – was die Konnotation des Wortes »töten« ist –, kommt dies einer Verwechslung von Natur und menschlichem Handeln gleich. Menschen werden auf die eine oder andere Art an irgendeiner Krankheit sterben; der Tod wird am Ende die Oberhand über uns alle gewinnen. Wenn gesagt wird, ein Arzt »töte« einen Patienten dadurch, dass er dies zulasse, so sollte dies nur als ein moralisches Urteil über die Erlaubtheit seiner Unterlassung verstanden werden, mehr nicht. Wir können, freilich ausschließlich in lockerer Redensweise, über einen Arzt sagen, er habe einen Patienten getötet, indem er eine Behandlung unterlassen habe, die er hätte bereitstellen sollen. Es handelt sich jedoch nur um eine Redensweise, weil es eben die zugrunde liegende Krankheit ist, die zum Tod führt, wenn die Behandlung unterlassen wird; sie ist die Ursache für ihn, nicht die Unterlassung des Arztes. Das Wort »Töten« bzw. »Tötung« wird falsch verwendet, wenn man es gebraucht, wenn ein Arzt die Behandlung stoppt, die dem Patienten aus seiner Sicht nicht mehr länger nutzen wird – das heißt, wenn er beiseitetritt, um zuzulassen, dass ein schlussendlich unausweichlicher Tod nun statt später eintritt. Die einzigen von Menschen erfundenen Tode sind jene, die aus einer direkten Tötung hervorgehen – wenn wir mit einer tödlichen Injektion sowohl den Tod verursachen als auch moralisch verantwortlich für ihn sind. Im Falle von Unterlassungen verursachen wir nicht den Tod, auch wenn man uns moralisch verantwortlich für ihn halten kann. Dieser Unterschied zwischen Kausalität und Schuld hilft uns auch zu verstehen, warum ein Arzt, der bei einer Patientin eine Behandlung unterlassen hat, die er hätte bereitstellen sollen, diese »getötet« hat, während ein anderer Arzt – der bei einer anderen Patientin 443 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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in einer anderen Situation genau dieselbe Unterlassungshandlung vollzieht – diese nicht tötet, sondern nur zulässt, dass sie stirbt. Der Unterschied besteht darin, dass wir aufgrund moralischer Konventionen und Überzeugungen unbefugte oder gesetzwidrige Unterlassungen als »Tötungs«handlungen einstufen. Wir bezeichnen sie als »Tötung« in dem erweiterten Sinne des Begriffs: eine schuldhafte Handlung, die es ermöglicht, dass die wahre Ursache des Todes, nämlich die zugrundeliegende Krankheit, zu ihrem tödlichen Ende gelangt. Im Gegensatz dazu tötet der Arzt, der auf Bitten der Patientin hin eine unerwünschte Behandlung unterlässt oder beendet, keineswegs. Ihre zugrundeliegende Krankheit, nicht seine Handlung, stellt die natürliche Todesursache dar; und es besteht Einigkeit darüber, Handlungen dieser Art als moralisch erlaubt zu betrachten. Somit kann man wirklich sagen, dass der Arzt sie hat sterben »lassen«. Wenn wir die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen nicht aufrechterhalten, ergeben sich zudem einige beunruhigende Möglichkeiten. Die erste bestünde darin, dass viele Ärzte in ihrer bereits allzu starken Überzeugung bestätigt würden, dass, wenn Patienten sterben oder wenn Ärzte die Behandlung aufgrund der Sinnlosigkeit ihrer Fortsetzung stoppen, sie irgendwie moralisch und physisch verantwortlich für die in der Folge auftretenden Todesfälle seien. Diese Vorstellung sollte verworfen, nicht bestärkt werden. Sie belastet den Arzt, dem man nicht die Macht der Götter zuschreiben sollte, unnötig und zu Unrecht. Die zweite Möglichkeit wäre die, dass jedes Mal, wenn ein Arzt urteilt, dass die ärztliche Behandlung nicht länger effektiv ist, um das Leben des Patienten zu verlängern, eine schnelle und direkte Tötung desselben oder eine Beihilfe zum Suizid des Patienten als nächster, vernünftigster Schritt sowohl aufgrund der Humanität als auch der Wirtschaftlichkeit betrachtet würde. Ich sehe nicht, wie sich diese Logik leicht zurückweisen ließe.

5.

Zur Berechnung der Folgen

Ich habe versucht zu zeigen, dass ärztliche Beihilfe zum Suizid und Sterbehilfe aufgrund der übermäßigen Macht, die sie in die Hände von Ärzten legen würden, intrinsisch falsch sind. Dass sie falsch sind, gilt unabhängig vom freiwilligen Wunsch eines Patienten, ihnen eine solche Macht zu verleihen. Es gibt zudem eine Reihe wichtiger konsequentialistischer Gründe für die Auffassung, dass ÄBS moralisch 444 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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falsch ist. Wie alle derartigen Gründe hängen sie von den unerwünschten Ereignissen ab, die tatsächlich eintreten; in diesem Sinne stützen sich konsequentialistische Argumente auf Wahrscheinlichkeiten. Wenn es unwahrscheinlich ist, dass sie auftreten, dann verlieren sie ihre moralische Überzeugungskraft als Argumente. Ich muss daher zeigen (a), dass eine Legalisierung der ÄBS und eine gesellschaftliche Legitimierung der Praxis schlechte Folgen haben könnte und (b) dass diese Folgen mit großer Sicherheit auftreten werden. Im vorliegenden Fall wird es einfacher sein, die Möglichkeit schlechter Folgen als die Gewissheit ihres Auftretens aufzuzeigen. Es gibt kaum irgendwo Erfahrungen mit der ÄBS, sodass kaum etwas unmittelbar zur Hand ist, auf das man sich stützen könnte, um die Wahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Folgen direkt zu kalkulieren. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass es uns nicht schwerfallen dürfte, uns vorzustellen, worin einige der schädlichen Folgen bestehen könnten, und wir können außerdem durchaus aus der holländischen Erfahrung mit Sterbehilfe extrapolieren, um indirekt einige Wahrscheinlichkeiten dafür zu berechnen, was wahrscheinlich passieren wird, wenn die ÄBS akzeptiert wird. Drei Folgen scheinen vollkommen plausibel: Die Unvermeidlichkeit eines erheblichen Missbrauchs jedes Gesetzes; die Schwierigkeit, irgendein Gesetz genau zu formulieren und dann durchzusetzen; und die inhärente Gefahr, die in den moralischen Gründen für die Legalisierung der ÄBS liegt, dass sie uns auf eine schiefen Ebene führen und uns in gefährliche Richtungen drängen. Warum ist ein Missbrauch unvermeidlich? Ein Grund dafür liegt darin, dass fast alle Gesetze zu heiklen, umstrittenen Themen in gewissem Maße missbraucht werden. Dies geschieht, weil nicht alle mit dem Gesetz, so wie es geschrieben ist, einverstanden sein und es beugen oder ignorieren werden, wenn sie damit ungestraft davonkommen können. Doch wenngleich es wahrscheinlich ist, dass alle oder die meisten Gesetze in gewissem Maße missbraucht werden, gibt es gute Gründe, der Auffassung zu sein, dass Gesetze, die versuchen, die ÄBS zu regeln, in besonderem Maße zu Missbrauch einladen werden. Diesbezüglich können wir uns auf ein großes soziales Experiment stützen, nämlich das der Wirkung der Bemühungen in den Niederlanden, Sterbehilfe und ÄBS zu regeln. Was können wir über den Erfolg der Regulierungsbestrebungen in den Niederlanden sagen, wo Sterbehilfe und ÄBS von den Gerichten erlaubt worden ist, wenn bestimmte Kriterien – eine freie Entscheidung, ein wohlüberlegter 445 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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und andauernder Wunsch, unerträgliche Leiden, die Konsultation eines weiteren Arztes und eine genaue Berichterstattung über die Todesursache – erfüllt sind? Welche Erfahrungen wurden in den Niederlanden mit diesem Experiment gemacht? Die besten Informationen zu diesem Thema gehen aus einer Studie hervor, die von der im Januar 1990 eingesetzten holländischen Regierungskommission zur Sterbehilfe in Auftrag gegeben wurde. Die von Professor P. J. van der Maas geleitete Studie umfasste eine Stichprobe von 406 Ärzten sowie zwei weitere Untersuchungen, die zusammengenommen folgende Schätzung ergaben. Die offiziellen Ergebnisse zeigten, dass auf Basis dieser Stichprobe von insgesamt 129.000 Todesfällen etwa 2.300 Fälle auf freiwillige (»frei gewählte«) Sterbehilfe (voluntary euthanasia) und 400 Fälle auf Beihilfe zum Suizid entfielen. Zusätzlich und bemerkenswerterweise gab es ungefähr 1.000 Fälle von absichtlichen Lebensbeendigungen ohne ausdrückliches Verlangen, was die Holländer »nicht freiwillige Sterbehilfe« (non-voluntary euthanasia) nennen. Kurzum: von 3.300 Todesfällen durch Sterbehilfe war fast ein Drittel nicht freiwillig. Unglücklicherweise gibt es keine Analyse oder Diskussion zu den 400 Todesfällen durch ÄBS, doch wenn es zutrifft, dass ein so großer Teil aller Todesfälle durch Sterbehilfe nicht freiwillig ist, können wir daraus durchaus schließen, dass zumindest einige der ÄBSFälle wahrscheinlich ebenfalls mit einem gewissen Missbrauch der ärztlichen Macht einhergingen, höchstwahrscheinlich mit wohlplatzierten Hinweisen und Andeutungen oder mit einer laxen Haltung gegenüber der Zurechnungsfähigkeit und dem psychischen Zustand der Patienten. Wäre dasselbe Ergebnis in den Vereinigten Staaten wahrscheinlich? Darüber lässt sich natürlich nur spekulieren, doch es gibt keinen guten Grund zu der Annahme, dass sich hier eine andere, weniger schädliche Struktur herausbilden würde. Die Gründe, die für die holländischen, nicht freiwilligen Fälle vorgebracht wurden, die der »Notwendigkeit« oder der höheren Gewalt – dass also die Sterbehilfe die einzige ethisch mögliche Entscheidung in einigen herzzerreißenden Fällen dargestellt habe, was immer das Gesetz auch vielleicht sage – könnten genauso gut in diesem Land vorgebracht werden. Genauso wenig wäre es für Ärzte schwierig, so wie ihre holländischen Kollegen zu behaupten, dass die Patienten irgendwann in der Vergangenheit Dinge gesagt hätten, um zu signalisieren, dass sie Sterbehilfe wollten und dass solche Aussagen ausreichen sollten. Diese Behauptung hat 446 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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einige Plausibilität, genauso wie es meiner Meinung nach plausibel ist, die Behandlung bei einem sterbenden Patienten zu beenden, der irgendwann einmal in der Vergangenheit anderen oder einem Arzt informell erzählt hat, dass er unter bestimmten Bedingungen keine weitere Behandlung wünsche. Unglücklicherweise waren unter den 1.000 geschätzten nicht freiwilligen Fällen in den Niederlanden einige, bei denen der Patient zurechnungsfähig war und hätte gefragt werden können, ohne dass dies geschah. Hier gilt offensichtlich, dass die Ärzte die Entscheidung übernehmen, wann die Fortsetzung des Lebens unerträglich ist, wobei sie gelegentlich vergangene Aussagen heranziehen, doch wenn diese fehlen, einfach eine einseitige Entscheidung fällen, selbst wenn eine Einwilligung (oder Nichteinwilligung) möglich wäre. Könnte das auch in den Vereinigten Staaten passieren? Warum nicht? Abgesehen von diesen Problemen des Missbrauchs gibt es auch eine tiefergreifende Sorge. Es gibt nicht einmal im Prinzip die Möglichkeit, ein sinnvolles Gesetz zu verfassen oder durchzusetzen, das wirksame Verfahrensgarantien gewährleisten kann. Der Grund ist offensichtlich, wird jedoch fast immer übersehen: Sterbehilfe- oder ÄBS-Vorgänge finden normalerweise im Rahmen des privaten und vertraulichen Arzt-Patienten-Verhältnisses statt. Es ist unmöglich zu wissen, was in diesem Rahmen passiert, wenn nicht der Arzt oder der Patient sich dazu entscheiden, es offenzulegen. In Holland melden weniger als 50 Prozent der Ärzte ihre Handlungen in Bezug auf Sterbehilfe, und diejenigen, die es nicht tun, genießen fast völlige rechtliche Straflosigkeit. Es gibt keinen Grund, warum die Situation andernorts besser sein sollte. Die Ärzte werden ihre eigenen Gründe dafür haben, dass sie Sterbehilfe geheim halten, und einige Patienten werden nicht weniger ein Motiv dafür haben, dass sie es verborgen halten möchten. Ich möchte schließlich noch erwähnen, dass die moralische Logik der Motive für Sterbehilfe und ÄBS die Zutaten für Missbrauch bereits in sich tragen. Als die beiden Standardmotive für Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid werden unser Recht auf Selbstbestimmung und unser Anspruch darauf, dass andere, besonders Ärzte, sich unserer annehmen, um unser Leiden zu lindern, angesehen. Diese beiden Motive werden typischerweise miteinander verbunden und als eine einzige Rechtfertigung präsentiert. Werden sie jedoch unabhängig voneinander betrachtet – und es gibt keinen inhärenten Grund dafür, warum sie miteinander verbunden sein müssten –, zeigen sich jeweils 447 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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ernsthafte Probleme. Es wird behauptet, dass eine zurechnungsfähige, erwachsene Person ein Recht auf Sterbehilfe zur Linderung ihrer Leiden haben sollte. Doch warum muss die Person überhaupt leiden? Kompromittiert nicht bereits diese Bedingung das Prinzip der Selbstbestimmung? Wie kann Selbstbestimmung irgendwelche Grenzen haben? Welche Motive die Person auch immer haben mag, warum reichen sie nicht aus? Gesetze, die ÄBS auf unheilbare oder unerträgliche chronische Krankheiten begrenzen würden, schränken bereits die Selbstbestimmung willkürlich ein. Es wäre ein Leichtes, diese willkürliche Einschränkung in Frage zu stellen, wenn wir in der Unterstützung der Selbstbestimmung konsequent sein wollen. Und es wäre sicherlich vernünftig, wenn Menschen, die behindert oder anderweitig körperlich nicht dazu in der Lage sind, sich selbst zu töten, Sterbehilfe mit der Begründung verlangen würden, dass das Gesetz ihnen keine gleichen Rechte und keinen gleichen Schutz geboten habe. Das heißt, eine rechtliche Akzeptanz der ÄBS würde sicherlich einer rechtlichen Akzeptanz der Sterbehilfe den Weg ebnen. Betrachten wir als nächstes die Person, die leidet, aber nicht zurechnungsfähig ist, weil sie vielleicht dement oder geistig behindert ist. Das Standardargument würde dieser Person Sterbehilfe verweigern, da es ihr an der Fähigkeit zur Selbstbestimmung mangelt. Doch warum? Wenn eine Person leidet, aber nicht zurechnungsfähig ist, dann wäre es höchst unfair, ihr einzig aufgrund ihrer mangelnden Zurechnungsfähigkeit eine Linderung zu verweigern. Haben nicht zurechnungsfähige Menschen weniger Anspruch auf eine Linderung ihrer Leiden als zurechnungsfähige Menschen? Kommen dafür nur wohlhabende Bürger aus der Mittelschicht, die geistig gesund sind und sich mit dem medizinischen System genügend auskennen, in Frage? Leiden nicht zurechnungsfähige Menschen aufgrund ihrer fehlenden Zurechnungsfähigkeit weniger? Genau diese Art der Argumentation hat holländische Ärzte im Namen der »Notwendigkeit« dazu veranlasst, ohne jede Erlaubnis Sterbehilfe bei nicht zurechnungsfähigen Menschen vorzunehmen. Aus diesen Blickwinkeln betrachtet, gibt es keine guten moralischen Gründe dafür, Sterbehilfe oder ÄBS einzuschränken, sobald das Prinzip der Tötung anderer Personen oder der Hilfe zur Selbsttötung erst einmal für rechtmäßig erklärt worden ist. Wenn wir wirklich an Selbstbestimmung glauben, dann sollte jede zurechnungsfähige Person ein Recht darauf haben, aus jedem Grund, der ihr gerade gelegen kommt, von einem Arzt getötet zu werden und ebenso Bei448 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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hilfe zum Suizid zu erhalten. Wenn wir an die Linderung von Leiden glauben, dann erscheint es grausam und willkürlich, sie Menschen, die nicht zurechnungsfähig sind, zu verweigern. Kurzum, es gibt keinen vernünftigen oder logischen Punkt, an dem man stoppen könnte, sobald die Wende in Richtung von Sterbehilfe und ÄBS erst einmal vollzogen ist – und dieser Weg könnte sich schnell in eine bequeme und breite Schnellstraße verwandeln.

6.

Sterbehilfe und die Zwecke der Medizin

Eine vierte Argumentationsfigur, die man sowohl in den Niederlanden als auch in diesem Land häufig hört, lautet, dass Sterbehilfe und Beihilfe zum Suizid vollkommen mit den Zielen der Medizin vereinbar seien. Ich möchte gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass ein Arzt, der sich am Suizid einer anderen Person beteiligt, die Medizin bereits missbraucht. Abgesehen von Depressionen (der statistischen Hauptursache für Suizide) begehen Menschen Suizid, weil sie das Leben als leer, bedrückend oder sinnlos empfinden. Ihr Urteil ist ein Urteil über den Wert des Weiterlebens, nicht allein über Gesundheit (selbst wenn sie krank sind). Sollte man nun Ärzten das Recht geben, darüber zu entscheiden, welche Arten von Leben lebenswert sind, und zudem das Recht, einen Suizid für solche Arten von Leben abzusegnen, die sie als mangelhaft bewerten? Welche denkbaren technischen oder moralischen Kompetenzen könnten Ärzte geltend machen, um eine solche Rolle einzunehmen? Sollten wir Suizid medikalisieren und damit Urteile über seinen Nutzen und Wert in ein weiteres klinisches Problem verwandeln? Ja, dies sind rhetorische Fragen, doch sie führen uns zum Kern des Problems der Sterbehilfe, der ÄBS und der Medizin. Die große Versuchung der modernen Medizin, der nicht immer widerstanden wird, besteht darin, sich über die Förderung und den Erhalt der Gesundheit hinauszubegeben ins grenzenlose Reich des allgemeinen menschlichen Glücks und Wohlergehens. Die Wurzel des Problems von Krankheit und Sterblichkeit ist sowohl medizinischer als auch philosophischer oder religiöser Natur. »Warum muss ich sterben?« kann als technische, als biologische oder als Frage nach dem Sinn des Lebens gestellt werden. Wenn die Medizin versucht, letztere Frage zu beantworten – und sie steht stets unter dem Druck, dies zu tun –, überschreitet sie ihre eigentliche Rolle. Die Medizin verfügt über kei449 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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ne besondere Einsicht in den Sinn des Lebens oder den Sinn eines durch Leid und Tod geprägten Lebens. Es steht der Medizin nicht zu, uns von der Last jenes Leidens zu befreien, das von der Bedeutung abhängt, die wir dem Verfall des Körpers und schließlich seinem Tod beimessen. Es steht der Medizin nicht zu, zu bestimmen, wann das Leben von Menschen nicht mehr lebenswert ist oder wann die Last des Lebens unerträglich ist. Ärzte haben keine ersichtliche Möglichkeit, solche Behauptungen vonseiten der Patienten zu bewerten, und sie sollten kein Recht haben, als Reaktion auf sie tätig zu werden. Die Medizin sollte versuchen, menschliches Leiden zu lindern, jedoch nur jenes Leiden, das durch Krankheit und Sterben als biologische Phänomene verursacht wird, nicht jenes Leiden, das aus dem Schmerz oder der Verzweiflung über die conditio humana herrührt. Ärzte sollten solche Formen von Leiden lindern, die medizinisch betrachtet schwere Krankheiten und drohenden Tod begleiten. Sie sollten Schmerzen lindern, alles tun, was in ihrer Macht steht, um Ängste und Unsicherheiten zu verringern, und eine trostreiche Präsenz zeigen. Als einfühlsame Menschen sollten Ärzte darauf vorbereitet sein, auf Patienten zu reagieren, die fragen, warum sie sterben oder qualvoll sterben müssen. Doch hier begegnen sich Arzt und Patient auf Augenhöhe. Der Arzt hat vielleicht keine bessere Antwort auf diese alten Fragen als jeder andere und sicherlich keine besondere Einsicht durch seine ärztliche Ausbildung. Es wäre schrecklich, wenn Ärzte dies vergessen würden und der Meinung wären, die Medizin habe mit einer schnellen, tödlichen Injektion oder mit der Bereitstellung von Tabletten für einen Suizid ihre eigene technische Antwort auf das Rätsel des Lebens gefunden. Ärzte sollten ihre schwer kranken, leidenden Patienten nicht alleinlassen. Sie sollten sie bis zum Ende begleiten. Doch es ist kein Alleinlassen, wenn ein Arzt sich weigert, jene Grenze zu überschreiten, die den medizinischen Kampf gegen Schmerzen, Leiden und Tod von einem aktiven Verfolgen des Todes trennt, um den Tod als Antwort auf das Problem des Lebens aktiv anzustreben. Damit stellt man das Wesen der Medizin grundsätzlich in Frage und missversteht ihren geschickten Umgang mit den Instrumenten des Todes als Berechtigung, den Tod herbeizuführen, um Patienten von der Last des Lebens zu befreien. Doch würde dies selbst für jene Fälle gelten, in denen die vorangegangenen Handlungen des Arztes vielleicht erst zu den Schmerzen und Leiden einer kritischen oder tödlichen Krankheit ge450 https://doi.org/10.5771/9783495823927 .

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führt haben? Haben nicht Ärzte eine Pflicht, jene Leiden zu lindern, die durch ihre Behandlung hervorgerufen wurden? Dieser Schluss erscheint falsch. Wenn Patienten verstehen, dass Ärzte keine moralische Berechtigung haben, Sterbehilfe oder ÄBS zu leisten, und wenn sie außerdem nach erfolgter Aufklärung ihre Einwilligung in die Behandlung geben, dann können sie kaum dem Arzt die Schuld dafür geben, wenn trotz guten Willens die Behandlung missglückt. Aus dem Umstand, dass ein Arzt Schmerzen und Leid verursacht hat, folgt auch nicht, dass Ärzte in der Lage sein sollten, Patienten als Wiedergutmachung direkt zu töten oder ihnen zu helfen, sich selbst zu töten. Die Medizin ist eine unsichere Kunst und keine perfekte Wissenschaft. Es gibt keinen Grund für eine Wiedergutmachung, wenn sie versagt, und unvermeidliche Schmerzen und Leiden sollten auch nicht als ein Versagen der Medizin verstanden werden. Menschliche Körper müssen versagen und schließlich sterben. Man kann der Medizin kaum die Verpflichtung aufbürden, Verantwortung für diesen biologischen Sachverhalt zu übernehmen. Und Patienten können auch kein Recht darauf haben, zu verlangen, dass Ärzte die Welt wieder geradebiegen müssen, wenn etwas schiefläuft. Ein letztes Wort: Es liegt nicht in der Macht der Medizin – und wird vermutlich nie in ihrer Macht liegen – Leben und Tod zu beherrschen und die Natur zu lenken. Es sollte niemals in der moralischen Macht der Medizin liegen, ihre Fertigkeiten dafür zu verwenden, den Tod, ob direkt oder indirekt, herbeizuführen. Eine Medizin, die diese Rolle einnähme, würde sich alsbald selbst korrumpieren und unweigerlich in Missbrauch verfallen und eine Art von Macht übernehmen, die sie nicht haben sollte; und sie würde unweigerlich auch den Rest von uns korrumpieren, indem wir uns an die Medizin wenden würden, um uns von der Last und dem Sinn des Lebens zu befreien. Die Medizin verfügt nicht über diese Art von Weisheit und kann auch nicht darüber verfügen; und sie würde sie sicherlich nicht dadurch erlangen, dass sie im Tod als unser Erfüllungsgehilfe auftritt. Übersetzt von Ute Kruse-Ebeling

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